* ae HERREN ee n rl 1788 N Hr 1 RER 1 — 2 * 8 Rn um, er — wen N un Fe RIEF NY Wirts 7 It PER Eu 0 2 | : 7 rat Ne Pas RN, e HRBE d u! Nan: Fe ALLAN. KIN: Wien in N Ae art ken RN Art ach ! 1 7 64 ei Her * ; 1 DR, 1 . Kir ln 4 Bu ey Er Ne wege N RR IN 5 nd 5; ; 17 Kosmos, Zeilſchriſſ für einheitliche Wleltanfehauung auf Grund der Entwicklungslehre in Verbindung — — mit 85 3 Charles Darwin und Ernst Häckel | | ſowie einer Reihe hervorragender Forſcher auf den Gebieten des Dare herausgegeben | Dr. Olla Caspari prof. (Heidelberg) Dr. Eruſt Krauſe (Carus Sterne) (Berlin). J. Hahrgang, 1877. Leipzig, * Ernſt Günther's Verlag (Karl Alberts.) u Be Die „ im Bunde mit er Ratunforehing, von Otto N f Darwins Werk: „Ueber die Wirkungen der Kreuzungen 0 Sept | im i Pflanzenreich“ z. von Dr. Heri Mülll e Kleinere Mittheilungen Ä - N 5 = 5 Zur kritieiſtiſchen a affaſſong S. 68 — Die Steppe 55 Uesergangegtien . in der Erdgeſchichte (S. 74). — Größeſchwankungen nordamerikaniſcher Sänger, mit den Breitegraden (S. 77). — Märtyrer der Darwin' ſchen ae (S. 780. Schutzmittel der Blüthen gegen unberufene Gäſte (S. 80). | Vrofpekt. 5 1 . ür die Naturkunde, welche, gegenüber den ſogenannten humanitären Wiſſenſchaften, noch bis vor Kurzem nur ein geduldetes Daſein, ein Ne der großen Menge faſt verborgenes Leben geführt hat, brach mit dem reformatoriſchen Auftreten der Schule, die ſich unter dem Banner Darwin's ſchaart, ein neuer Tag an, ſofern erſt jetzt jene harmoniſche Gliederung der Theile des Kosmos, welche Humboldt und ſo viele Denker vergangener Zeiten geahnt und bewundert haben, ihrem urſächlichen Zuſammenhange nach verſtändlich wurde. Unerſchütterlich hat ſich ſeitdem die Ueberzeugung befeſtigt, daß man auch in der Natur das Seiende nur als ein Gewordenes auffaſſen dürfe, um * zu einer einheitlichen, widerſpruchsloſen Weltanſchauung zu gelangen. En an DEN und e alt 1 r Uebe ertragung der ee . ER zu ſtehen ſchien, ne oh ſeiner Sr 1 ner: zu werden, als 0 * . Theil des Ganzen, mitten in die Natur hineinverſetzt und feiner Aus- 7 f nahmeſtellung enthoben wurde. Damit zog die neue einheitliche Weltanſchauung ſogleich 2 auch alle jene humanitären Wiſſenſchaften in ihre Kreiſe, und es begann eine nie erhörte 85 IB Wechſelwirkung zwiſchen den ſubjectiven und objectiven Wiſſenſchaften; denn das Vorrecht der ſubjectiven, willkürlichen Weltbetrachtung wird zwar nicht aufgehoben, aber nothwendig eingeſchränkt, ſobald ſich der Menſch als Theil der Natur erkennt is 1 und fühlt. Die Wiſſenſchaften, welche ſich mit dem Menſchen beſchäftigen, von der "un . Anthropologie, Ethnologie und Völker-Pſychologie an, bis zur Sprach— Beil: forſchung, Cultur— und Staaten-Geſchichte, National-Oekonomie, Rechts-, Geſchichts- und Religions-Philoſophie, Moral und Diätetik eentpuppten ſich ſo gut als Naturwiſſenſchaften, wie die Disciplinen, die ſich mit 4 j | 8 £ 2 N EL are: „ 77 1 | 3 — : 2 Proſpekt. der Erdgeſchichte, Mineralogie, Biologie und mit der praktiſchen Men— ſchen-Erziehung, Pflanzen- und Thier-Züchtung befaſſen. Das Ergebniß dieſer allſeitigen Begegnung iſt eine fortgeſetzte, ermuthigende Feſtigung des in den Abſtammungs- und Entwicklungslehren gegebenen Einheits⸗ prinzips geweſen, aber die Literatur, welche dieſes Contakt-Verhältniß erzeugte, iſt nicht nur in ihrem ſelbſtſtändigen Theile kaum mehr überſehbar, ſondern ſie zerſplittert ſich auch in die zahlloſen Fachblätter aller in Mitgenuß gezogenen Wiſſenſchaften, ja ſelbſt in die Tageszeitungen hinein. So erhebt ſich immer mächtiger bei allen, welche dieſe Zielgemeinſamkeit für ein befruchtendes und weſent⸗ liches Moment der fortſchreitenden geiſtigen Entwicklung halten, das Bedürfniß nach Sammlung und Concentration. Dieſem offenbaren Bedürfniſſe kann nur eine Zeitſchrift dienen, welche in einer allen Intereſſenten verſtändlichen Form das Zerſtreute ſammelt, und auf demſelben Gebiete, auf welchem das Bündniß der Wiſſenſchaften zu Stande kam, zugleich ein Forum für den Verkehr und Austauſch derſelben eröffnet, zum Zwecke einer gegenſeitigen Unterſtützung und Förderung. Allen dieſen Bedürfniſſen will unſere Zeitſchrift Rechnung tragen und zwar theils durch Original-Arbeiten, theils durch Referate aus ſämmtlichen einſchlägigen Gebieten, und dabei die Aufgabe im Auge behalten, bisher noch Unverbundenes mit einander in Berührung zu bringen, die überall noch vorhandenen Lücken aufzudecken, nicht zu vertuſchen, ſondern zu ihrer Ausfüllung anzuſpornen, Mittel und Wege dazu anzuzeigen, Widerſprüche und Gegenſätze auf ihre wahre Natur zurückzuführen und dem hem— menden, verwirrenden und entwicklungsſchädlichen Dogmatismus überall ſoweit entgegenzutreten, als mit dem Recht des Einzelnen auf eine freie Ueberzeugung vereinbar iſt. Daß dieſe Aufgabe, welche nichts Anderes iſt, als die Ermittlung der Wahrheit, ohne Reibung der Geiſter nicht zu erfüllen iſt, wird Niemandem zweifelhaft erſcheinen. Schroffer als jemals ſtehen die beiden Lager ſich gegenüber, von denen das eine ſtarr feſthält an den Ueberlieferungen der Vorzeit, wie ſie in geheiligten Schriften der Völker, in uralten Sagen aus der Kindheitsperiode der Menſchheit niedergelegt wurden. Mit den Anhängern dieſer in ſchriftloſen Zeiten fußenden Weltanſchauungen werden wir nur ſoweit zu rechnen haben, als ſie der Forſchung Schranken ziehen wollen, ihre Mythen ſelbſt können wir na- türlich nur im Sinne der Entwicklungslehre würdigen. Weniger werden wir den Kampf ſcheuen dürfen auf dem inneren Gebiete der Naturwiſſenſchaft, und in dieſer Beziehung wird die Zeitſchrift einen kritiſchen und polemiſchen Charakter nach innen wie nach außen entfalten, denn auch die geiſtigen Errungenſchaften beſitzt nur, wer ſie vertheidigen kann, und auch die Wiſſenſchaft entwickelt ſich am ſchnellſten im ſelbſtbewußten Kampfe ums Daſein. Aber ſo viel als es möglich —— 2 Proſpekt. 3 iſt, werden wir es vermeiden, den Boden des Sachlichen zu verlaſſen und überall mehr aufbauend als niederreißend zu wirken ſuchen. Mit dieſer Zeitſchrift wenden wir uns jedoch nicht blos an die gelehrte Welt. Der Darwinismus hat nicht nur einen Bund aller Wiſſenſchaften, ſondern auch einen in dieſer Ausdehnung vorher noch nie dageweſenen Verkehr zwiſchen den ſchaffenden Fachgelehrten und dem Aufklärung erwartenden gebildeten Publikum zu Wege gebracht. Die Aufgabe, dieſen Bund zu hegen und zu pflegen, wird die Zeitſchrift dadurch zu erfüllen ſuchen, daß ſie alle Fragen in allgemein verſtänd— licher Sprache behandelt, um zugleich durch faßliche Darſtellung das Intereſſe des Laien zu feſſeln. Ihre Mitwirkung in den näher bezeichneten Richtungen haben uns bisher zugeſagt: Dr. F. Brüggemann (London), Dr. B. Carneri (Wildhaus), Prof. Dr. Th. Eimer (Tübingen), Dr. W. O. Focke (Bremen), Prof. Dr. S. Günther (Ansbach), Friedrich v. Hellwald (Cannſtatt), J. H. v. Kirchmann (Berlin), Dr. Arn. Lang (Bern), Prof. Dr. Fr. Müller (Wien), Dr. Fritz Müller (Rio Janeiro), Dr. Herm. Müller (Lippſtadt), Prof. Dr. Ludw. Noire (Mainz), Dr. Ludw. Overzier (Köln), Prof. Dr. L. Pfaundler (Innsbruck), Dr. Carl du Prel (Straßburg), Prof. Dr. W. Preyer (Jena), Prof. Dr. Osec. Schmidt (Straßburg), Prof. Dr. Fritz Schultze (Dresden), Dr. Martin Schultze (Küſtrin), Prof. Dr. Franz Eilhard Schulze (Graz), Dr. G. Seidlitz (Dorpat), Prof. Dr. Ed. Strasburger (Jena), Dr. H. Vaihinger (Straßburg), Prof. Dr. Mor. Wagner (München), Dr. David Wein⸗ land, (Eßlingen), Prof. Dr. Paul v. Zech (Stuttgart), u. A. Im Vertrauen auf die Unterſtützung ſo hervorragender Fachmänner haben ſich die Vorgenannten zur Uebernahme der Redactionsgeſchäfte entſchloſſen. Die: ſelben wenden ſich nun an Alle, die für den geiſtigen Fortſchritt der e heit eintreten, mit der Aufforderung, ſich, ſei es als Leſer und Heede f es als Mitarbeiter, unſeren Beſtrebungen anzuſchließen. Die Philofophie im Bunde mit der Naturforschung. Von 8 iſt wohl eines der erfreulichſten = Erzeugniſſe der gegenwärtigen Bewegungen der heutigen wiſſen— ſchaftlichen Epoche, daß die Philo— 1 % von neuem ſich der Naturforſchung nähern konnte, und die Forſcher, welche ihre Blicke den Erſcheinungen des Ma⸗ krokosmus und Mikrokosmus zugewandt haben, das dringende Bedürfniß fühlen, ihre Studien nicht mehr zu unternehmen ohne alle Rückſicht auf diejenige Wiſſenſchaft, die ſich zum Ziele geſetzt hat, die Grund— principien alles Wiſſens und die funda— mentalen Hülfsmittel alles Denkens und Forſchens überhaupt zu prüfen und zu unterſuchen. Im Hinblick auf dieſe neue Wiedervereinigung von Philoſophie und Naturforſchung iſt es indeſſen von hoher Wichtigkeit, genauer zuzuſehen: von welcher Art das geſchloſſene Bündniß ſein muß und vor welchen Fehlern gewarnt werden muß, wenn nicht ein neuer Bruch ſtattfinden ſoll, der alsdann beide zu einander gehörige Wiſſenſchaften ohne allen Zweifel neuen Abwegen entgegenführen würde. — Es iſt leicht zu überſehen, daß jeder Naturforſcher, der es verſucht, aus einem größeren Umfange von mühſam conſtatirten Otto Caspari. Thatſachen ein erklärendes Facit zu ziehen, ſich unwillkürlich genöthigt findet, Anlehne— punkte zu ſuchen in irgend einer allgemei- neren Weltanſchauung, die uns aufgenöthigt wird durch unſere innere menſchliche Geiſtes— organiſation. Die Philosophen find feit Jahrtauſenden bemüht, auf Grund der— ſelben, d. h. logiſch und erkenntnißtheoretiſch, die Grundzüge zu entwickeln, die ſich dem menſchlichen Denken aufdrängen, wenn es bemüht iſt, das Gemälde des Kosmos möglichſt klar und unbeeinträchtigt durch Fehler in der richtigen Licht- und Schatten⸗ vertheilung, d. h. möglichſt rein von allen Widerſprüchen vor ſich aufzurollen. In dieſem Sinne gleichen die Philoſophen dem Künſtler, der ſich getrieben fühlt, ſeine inneren Anſchauungen ſo zu geſtalten, daß ſie deutlich den Eindruck des Vollendeten hervorrufen. Allein nicht allen Künſtlern und nicht allen Zeiten war es gegeben, hierin das Richtige zu treffen, und wie es vielfach wechſelnde Kunſtſchulen gab, die ſich in ihren Ausführungen in geſchmackloſer Weiſe bald dieſem, bald jenem Style über- ließen, ſo auch bei den Philoſophen; ſie wurden oft genug völlig irre geleitet und conſtruirten trotz aller vermeintlichen Kitd- / A „ > 15 Caspari, Die Philoſophie im Bunde mit de ſichtnahme auf Logik und Erkenntnißlehre alsdann falſche Syſteme, und nicht ſelten war es ſogar der Fall, daß gerade das unrichtigſte dieſer Syſteme ſich eine gewiſſe Herrſchaft unter den Zeitgenoſſen eroberte. entziehen, gelingt unter den Mitforſchern oft nur den weit über die Zeit Hinaus— blickenden. Herrſchaft, eines beſtimmten philoſophiſchen Syſtems mit ſeinen einſeitigen Dogmen hat beinahe zu allen Zeiten die Specialforſchung aller Zweige, ſomit auch die Naturforſchung weſentlich gelitten. Es verhält ſich hiermit im Kleinen kaum anders wie mit der Kirche im Großen. Wie dieſe auf alle Wifjens- zweige mit der Summe ihrer metaphyſiſchen Dogmen eine oft ſchwer überwindliche Herr— ſchaft ausübt, der ſich nur freimüthige und unbefangene Geiſter zu entziehen willen, jo auch mit der Philoſophie; herr— ſchende Syſteme, die den Zeitgeiſt charak— teriſiren, üben bewußt oder unbewußt ihre Macht nach allen Seiten hin aus und die— ſelbe äußert ſich jedesmal auch in der allerprägnanteſten Weiſe im Gebiete der Naturforſchung. — Will der Spezialforſcher irgend eines Wiſſenszweiges, ſomit auch der Naturforſcher, aus einem Umfange von ex— perimentell gewonnenen Thatſachen ſichere Schlüſſe ziehen, um ſich hiermit in das Gebiet der Naturphiloſophie zu er— heben, ſo iſt es vor allem daher wichtig, daß er nicht einer durch den Zeitgeiſt ſachen im Gebiete der Mechanik entwickelt haben. eingegebenen Sympathie nach irgend einer Richtung hin, welche augenblicklich die herr— ſchende iſt, Folge giebt, ſondern er iſt ver— pflichtet, ſich möglichſt ſelbſtſtändig und durch vorbereitende Studien geleitet, dem Kampf der philoſophiſchen Partheien gegenüber zu ſtellen. Einer ſolchen Herrſchaft fih zu | Unter dem Druck einer ſolchen ſich hieran Studium ſeiner Fachwiſſenſchaft dem Special— forſcher, insbeſondere dem Naturforſcher, die Hand bieten will, ſieht ſich hiermit der Verpflichtung unterzogen, ihn über die gegen- wärtige Situation feiner Wiſſenſchaft auf- zuklären, um zugleich die Intereſſen zu be rückſichtigen, an welche eben jener Forſcher durch das Weſen ſeines Fachs gebunden iſt. Sehen wir zunächſt zu, um dem Natur⸗ forſcher hinſichtlich einer ſolchen Aufklärung entgegen zu kommen: an welche Intereſſen ihn die Grundverhältniſſe feines Special⸗ ſtudiums zunächſt binden, und wovon er nicht ablaſſen darf, will er nicht in ſein eigenes Fleiſch ſchneiden. Alle Naturforſchung richtet ſich bei dem Sammeln einer Reihe von Thatſachen auf die Erforſchung urſächlicher Kräfte, wie ſie die unumſtößlichen empiriſchen Daten an die Hand geben. So iſt es denn von vorn— herein ein beſtimmter Kreis von That- ſachen, die ihn nöthigen, eine logiſch— empiriſche Auffaſſung über das Daſein der Kräfte zu entwickeln, die er beim Weiter- forſchen in Einklang mit einer philoſophiſchen Geſammtanſchauung zu bringen hat. Die Unterſuchung aller empiriſchen Forſcher iſt gebunden und hingewieſen auf das Studium des Spiels der Kräfte, d. h. auf die Ein- ſicht in das Grundverhältuiß von Kraft und Widerſtand, ſomit auf die anſchließenden mathematiſchen Grundprincipien, wie ſie ſich mit der Zeit empiriſch an der Hand unumſtößlicher That— | Es ift ein grobes Vorurtheil, das ſich | bei Philoſophen aus der älteren Schule, | namentlich auch bei Theologen, die in | ſcholaſtiſchen Anſichten ſich philojophiih ger bildet haben, ſehr häufig vorfindet, nämlich | Der Philoſoph aber, der neben dem | die Anſicht: daß die empiriſchen Geſetze ö r Naturforſchung. 5 6 Caspari, Die Philoſophie im und Principien der Mechanik nothwendig hinleiten müßten zu jener Weltanſchauung, die man den Materialismus nennt. Nach dieſer allerdings in ſich unklaren Anſchauung wird das Weltall zu einer todten, völlig geiftlofen Maſchine gemacht, ja mehr als das, dieſe heute glücklicherweiſe überwundene kindliche Betrachtung macht im Grunde den Kosmos zu einem todten Klotz, den die Kräfte, welche nicht das Weſen der Materie, ſondern nur die Prädicate derſelben ſind, vor ſich herwälzen, wie der deus ex machina feine Welt. — Alle Extreme berühren ſich, und in der That iſt es dem geübten Denker unſchwierig den Nachweis zu führen, daß der ſog. Materia- lismus in den Myſticismus verfällt. Der myſtiſche Spiritualismus kann, wie wir im Folgenden noch ſehen werden, die natür— liche Mechanik der Welt, d. h. die wechſel— ſeitige und thatſächliche Reibung ihrer Factoren und Kräfte und die ſich daran knüpfende Erſcheinung der Form von Körperlichkeit und Maſſe, mit einem Worte das Daſein und die Thatſache der Materie nicht begreifen und erklären. Dem Materialismus ergeht es umgekehrt, er nimmt die Stoffe und Körper, findet ihr Weſen aber nicht in den mechaniſch wirken— den Kräften, die, indem ſie ſich reiben und berühren, ſich gegeneinander verkörpern, ſondern im ſog. Stoff ſelbſt, der, wenn man alle Kräfte abſcheidet, im Grunde doch nicht eine Subſtanz und ein Körper an ſich, ſondern nur ein Nichts wäre. So auch machen es die Myſtiker: Dieſe wiſſen recht wohl, daß der liebe Herrgott nichts iſt ohne die Welt und den Kosmos, — aber ſie verſuchen ſich, um das Ueber— weſen und die Allmacht Gottes zu retten, doch für einen kleinen Augenblick, Gott an ſich, abſolut, d. h. ohne den Kosmos zu Bunde mit der Naturforſchung. denken. In denſelben Fehler nun ver— fallen die Materialiſten. Auch dieſe wiſſen recht wohl aus Erfahrung, daß der Stoff nichts iſt ohne die Summe der Kräfte, in welche ſich derſelbe auflöſt, aber um das fälſchlich behauptete abſolute Weſen deſſen zu retten, was fie unter Stoff ver— ſtehen, verſuchen ſie dennoch für einen kleinen, dem unklaren Myſticismus hingegebenen Augenblick, den Stoff als das an ſich (folglich auch ohne Kräfte) Beſt eh ende und unzerſtörliche Abſolute hinzuſtellen. Damit meinen ſie, das Weſen des Stoffes erſt klar zu erfaſſen, während doch unſchwer zu erkennen iſt, daß durch den myſtiſchen Eingriff eben dieſer Vorſtellungsweiſe die ſtoffliche Unzerſtörlichkeit (ohne die voraus— geſetzten Kräfte) zu einem Phantom zerrinnt. Beſeitigen wir dieſen Phantasmus und ſtellen wir die Stoffe niemals geſondert und ohne Kräfte vor, ſo zeigt ſich alsdann ſehr bald, daß vielmehr die Kräfte das Dauernde und Bleibende, ſomit das Weſen der Dinge ſind, während die ſog. Stoffe als Maſſe, Ausdehnung, Wägbarkeit und Körperlichkeit unter Umſtänden bedeutend wechſeln können, um ſich zu verflüchtigen und zu reduziren, bis zum Unwägbaren und ſtofflich Minimalen. Zur Erklärung ſchwierig aufzulöſender phyſikaliſcher Phänomene haben mathematiſch ſcharfſinnige Phyſiker ſich dieſer Stoff— Minimalität gegenüber ſogar nicht geſcheut, eine Art tiefer Durchdringung und Ver— ſchmelzbarkeit der Krafttheilchen untereinander anzunehmen, welche dem an der abſoluten Stofflichkeit der Atome und Theilchen feſt— haltenden Beobachter unmöglich erſcheinen müßte, da er ſich gewöhnt hat, die Stoff— Atome wie kleine, ſtets getrennte, abſolut harte und undurchdringliche Billardkugeln zu betrachten. Von dieſer letzteren groben * 7 TT rn 3 1 em N WED AB LA 2 N N Caspari, Die Philoſophie im Bunde mit der Naturforſchung. Vorſtellung muß daher der tiefer forſchende Phyſiker völlig ablaſſen. Bedenken wir nun aber weiter, daß alle die uns gegen— überſtehenden Körperbilder zunächſt nur Eindrücke unſeres Bewußtſeins ſind, und daß wir hiermit nur Vorſtellungen unſeres menſchlichen Denkens vor uns haben, die ſich in den Augen eines Be— wohners vom Sirius vielleicht, was die Jog. ſtoffartige Körperlichkeit anbelangt, ganz anders ausnehmen und ſpiegeln ſog. Körperlichkeit (das Stoffliche) nur eine ganz relative, wechſelnde Eigenſchaft der Dinge ſind, um ſo annehmbarer finden. Um das beſſer noch einzuſehen, laſſe man eine Hypotheſe gelten. Denken wir uns jenen Bewohner des Sirius mit ſolchen Sinnen begabt, daß nur Aetheratome und deren Wellenbewegungen ſich in ſeinem Be— wußtſein ſpiegeln, die Bewegungen ponderabler Theilchen hingegen keinen taſtbaren Eindruck die ſogenannten Grundverhältniſſe von Durchdringlichkeit, Ausdehnung, Wägbarkeit, Maſſivität, ſowie von Stofflichkeit ſich auf- heben zu einer ap Relativität, 8 was wir als wägbar und unwägbar, als N ichtspunk hervorrufen, ſo muß ſich offenbar für dieſen Siriusbewohner die Anſchauung aller irdiſchen Dinge derartig ändern, daß die Relativität alles desjenigen an den Körpern, taſtbar oder unfühlbar, als durchdringlich und undurchdringlich, als maſſiv und ſtofflich ie en Mate⸗ ; | rioltsmus, elle den ſog. Stoff ats 58 | durchſichtig, bezeichnen, ganz von ſelbſt ein- leuchtet. Denn eine Gasflamme erſchiene einem ſolchen Weſen vielleicht als völlig | ſchichte des Materialismus“, die hierüber maſſiv, während feine feinfühlenden aether- artigen Sinne die undurchdringlichſten Felſen wie Luft und Aether durchbohrten. Derartige | Vorſtellungen find als Hypotheſen nicht überflüſſig, dieſelben gleichen vielmehr den Experimenten, durch welche der Phyſiker, indem er beſtimmte Gebilde in die ver- ſchiedenſten Lagen zu bringen verſucht, nur anſtellt, um das Weſen der Dinge richtig zu erkennen. Auch in der Philoſophie er— heben wir uns durch derartige Hypotheſen in ein höheres philoſophiſches Gebiet, und treten hiermit derjenigen modernen philo— ſophiſchen Lehre näher, welche man ſeit Kant, von dem dieſelbe vornehmlich begründet wurde, den Kriticismus nennt. Von der Höhe dieſer tief eingreifenden Lehre herab aber geſtaltet ſich alles, was da iſt und wirkt, zu bloßen wechſelnden Phänonemen im Be— wußtſein; alle Dinge ſind hiernach im Grunde nur Complexe von relativen Spiegelbildern würden, ſo werden wir den Satz, daß die (Phänomenen), die in ihrer Strahlung von andern irgend wie aufgefangen, zugleich als ſolche jedesmal um jo mehr modificirt werden, als die auffangenden Atome oder die auf— faſſenden Weſen ſelbſt mit ihren Kräften rück— ſtrahlend ſind. Wie ſehr aber unter dem Einfluſſe aller dieſer wechſelſeitigen phänome— nalen Spiegelungen der Kräfte, und unter der Durchkreuzung von zugeſtrahlten und ſich untereinander wieder verändernden Ein— drücken, an den Dingen, Atomen und Weſen, Anſichſeiendes, denſelben ſomit für abſolut hält, unbarmherzig zerriſſen, und ſeine „Ge— Auskunft giebt, wird allen denen zu em— pfehlen ſein, welche für das ſog. Abſolute, nachdem der ſog. liebe Herrgott durch die Wiſſenſchaft aus dieſer Poſition vertrieben wurde, immer wieder einen neuen Inhalt zur Unterſtellung derſelben ſuchen. Hatte man den lieben Herrgott als das ſog. Ab- ſolute aus der Welt ausgetrieben, ſo wollten die Materialiſten an ſeiner Stelle den ſog. 8 Caspari, Die Philoſophie im Bunde mit der Naturforſchung. Stoff einlogiren; dies konnte wegen der völligen Relativität aller Erſcheinungen überhaupt, ſowie auch des Stoffphänomens freilich nicht gelingen. Die Naturphiloſophie des Materialismus und die naive Anſchau— ung des Demokrit und ſeiner modernen An— hänger, nach welcher man mit Büchner, Moleſchott und Anderen den Kosmos für ein Gefäß von leerem Raum anſchaut, in welchem ſich die Atome wie Billardkugeln herumtummeln, ſieht der Philoſoph heute als eine ſonderbare Hypotheſe an, die Wahres mit noch mehr Unwahrem gemiſcht enthält, nach genauem Ermeſſen ein kindliches Hirnge— ſpinſt mit dem man ſich im glücklichſten Falle ein Weltbild ausmalt, das in der beſten Form vorgebracht, mindeſtens von der Wahr— heit ebenſoweit entfernt iſt, wie die ptole— mäiſche Weltanſchauung von dem wahren aſtronomiſchen Sachverhalt der Bewegung zwiſchen Sonne und Erde. Vielleicht iſt es nun aber ſehr tröſtlich für alle diejenigen Forſcher, welche ſich dem kindlichen Dogmatismus der materialiſti— ſchen Lehre nur ungern entziehen, ſchon im Voraus zu erfahren, daß die Naturphilo— ſophie aller derjenigen Lehren, welche dem Materialismus extrem gegenüberſtehen, nicht nur in die gleichen Fehler verfällt, ſon— dern das Bild über das Naturleben außer- dem ſogar völlig verwirrt. Ehe wir da— rauf eingehen, Folgendes: Man darf bei obigem Abweis des Materialismus nicht vergeſſen, daß die Kraft- und Stofflehre richtig gewendet dem empiriſchen Forſcher, der am Experimentirtiſch ſteht und im Sec— tionsſaal wie im Laboratorium arbeitet, doch in mancher Hinſicht auch viel Nützliches leiſtet. Der Phyſiker, der ſich die com— plicirteſten Schwingungserſcheinungen zu— rechtzulegen und zu deuten hat, ſieht ſich bei der erſten Hypotheſe, die er macht, bereits gezwungen, kleine mechaniſch gegeneinander⸗ wirkende Theilchen als Molecule und Atome anzunehmen, die bis zum gewiſſen Grade zweifelsohne conſtant erſcheinen und als ſtoffliche Kraftträger angeſehen werden müſ— ſen. Will er reſervirt und vorſichtig ur— theilen, ſo muß er freilich bekennen, daß der Grad, das Maß und die Dauer der Conſtanz und das Stoffliche dieſer Träger nicht für alle Conſtellationen berechenbar und alſo relativ und problematiſch iſt. Aber abgeſehen von dieſem Problem, das ſich zugleich herleitet aus der Unvollzählig⸗ keit der experimentalen Fälle, über welche menſchliche Empirie hinſichtlich der In— duction durch die Begrenztheit der Mittel nicht hinauskommt, bietet die Annahme ſol— cher ſtofflichen ſubſtanziellen Träger doch wenigſtens einen vorläufigen hypothetiſchen Anhaltepunkt. Mit ihm gelingt es ein annäherndes Bild eines Vorgangs zu ent— wickeln, der zu fein iſt, um von unſeren Sinnen erkannt und geſehen zu werden. Der Forſcher iſt mit Hülfe der von ihm angenommenen kleinen Billardkugeln (Mo- lecule), mögen dieſe nun in der That gerade ſo exiſtiren wie man ſie vorzuſtellen verſucht oder nicht, doch im Stande, den chemiſch— phyſikaliſchen Vorgang wenigſtens per ana- logiam ſeinem Verſtändniß näher zu bringen. Was er im Groben unter dem Eindruck ſeiner Sinne beobachtet, überträgt er ver— mittelſt einer Aehnlichkeitsregel bis in ein hintermikroskopiſches Gebiet. Den Grad der Berechtigung und das Maß für dieſe Analogie zu ſuchen, iſt zunächſt nicht mehr Sache des Phyſikers, ſondern des kritiſchen Philoſophen. Wie dem auch ſei, wir müſſen zugeſtehen, daß der Naturforſcher zur Ver⸗ deutlichung bis zu einem gewiſſen Grade ein Recht hat, ſo zu verfahren. 5 unter dieſer Beſchränkung die materialiſti— So können Re N Be ſchen Phantaſien nützlich werden, und es konnte ſich die richtig gewendete Kraft— Stofflehre hie und da fruchtbar erweiſen. Faßt man z. B. die Kraftcentra, in welche ſich die Stofftheilchen auflöſen, etwa mit Leibniz und Lotze zugleich ſo, daß man ihnen auch Leben, endlich auch auf gewiſſen Stufen Seelenleben und Geiſt zuſprechen darf, ſo läßt ſich die ſo zu entwickelnde Art einer tieferen Naturphiloſophie (Hermann Lotze hat uns in ſeinem Mikrokosmus hierzu ein ſchönes Vorbild gegeben) in Einklang ſetzen mit den Ergebniſſen der experimentellen Forſchung. Und dies um ſo eher, je mehr der Forſcher zugleich bemüht iſt, die von ihm entwickelte Atomtheorie in richtiger Weiſe mit den ſelbſtevidenten Prineipien der em— piriſchen Mechauik zu verſchmelzen. Was in gewiſſer Weiſe Lotze und Fechner in Deutſchland verſuchten, unternahm bekannt— lich in England Herbert Spencer, und wir würden ungerecht ſein, wenn wir unſere Leſer auf die hochentwickelte Naturphiloſo— phie aller dieſer Forſcher nicht ausdrücklich hinwieſen. wiſſen Feſtſtellungen aus in ihrer Meta— phyſik doch noch zurückleiten auf die ato— miſtiſche Grundlehre des Demokrit. Was aber zur Anlehnung an die atomiſtiſche Vielheitslehre zwang, war die mathema— tiſche Anſchaulichkeit und das Thatſäch— liche. Die Thatſache von Kraft und Wider— ſtand nöthigte von der Vielheit beſtimmter Kraftträger (Atome) auszugehen, man war darauf hingewieſen ſich an die mathemathiſchen Grundregeln der Mechanik anzulehnen. Die Grundprincipien der Mechanik konnte man in der That naturphiloſophiſch nicht auf- geben, auf ſie leitete eben jede Kraftlehre zurück. Hier lag der eiſerne Beſtand aller Alle Lehren der genannten her- vorragenden Naturphiloſophen, ſo verfeinert fie find, im Grunde lafjen fie ſich von ge | Caspari, Die Philoſophie im Bunde mit der Naturforſchung. | und jeder Naturlehre. Wie weit auch der Naturforſcher beſtrebt war, ſich über ſein engeres Gebiet zu erheben, um ſeine ge— wonnenen Reſultate mit einer allgemeineren Weltanſchauung, wie ſie in großen genialen Zügen Philoſophen zu bieten wagten, in Zuſammenhang zu bringen; ſein höher— ſtrebender Flug konnte nicht weiter reichen als die Thatſachen das zuließen, und die klare Deutung derſelben vor der Vernunft zwang hier ſtets bei den Grundprincipien der mechaniſchen Kraftlehre ſtehen zu bleiben. Machen wir uns in kurzen Worten zugleich klar, was dieſe Principien zunächſt forderten. Der Begriff der Kraft ſetzt eine Relation voraus zu einer anderen fremden Gegenkraft, die man den Widerſtand nennt. Eine Kraft ohne allen und jeden Wider— ſtand wäre eine kraftloſe Kraft, ſomit ein undenkbares Unding. Wer von Kraft redet, muß daher ihren mechaniſchen Wider— ſtand gleichzeitig miteinbegreifen oder er widerſpricht ſich. Daher ſah jeder philoſo— phiſche Forſcher, der ſich an der Naturlehre gebildet und Mechanik getrieben hatte, ein, daß man ſtets eine urſprüngliche Mehr— heit discreter Kraftträger (Kraftcentra, Kraft- atome (Democrit) oder Monaden (Leib: niz), Realen (Herbart), Dynamiden | (Redtenbacher) u. ſ. w.) zu ſetzen hatte. | Völlig gleich und einander abſolut identiſch konnten Kraft und Widerſtand alſo nicht ſein; denn wären beide nicht einander bis zum ge— wiſſen Grade ausſchließend, ſo könnten ſie nicht gegeneinander mechaniſch wirkſam gegenübertreten. So hatte man urſprünglich discrete Theile, man ſah einen Zuſammen— hang (Nexus) von vielfachen Factoren, innerhalb deſſen dieſelben als mechaniſche Kräfte ſpielten, um einander Widerſtand zu leiſten und ſich unter demſelben gegeneinander gleichſam zu verkörpern. Mochte dieſe wechſel— ſeitige Verkörperung auch nur ein relatives wechſelndes Phänomen au ihnen ſein, immer— hin war dieſelbe eine Thatſache, die auf eine beſtimmte Erklärung zurückwies. Wollte man nicht alle empiriſchen Grundregeln der Mechanik verletzen, wollte man nicht gegen alle Thatſachen einen Unſinn behaupten, ſo mußte man ſich daher bis zum gewiſſen Grade an die cauſal-mechaniſche Naturlehre, welche die poſitiven Thatſachen lehrte, anlehnen. Ueber die Thatſachen hinaus durfte man nicht philoſophiren, ihre Logik konnte man nicht umgehen; ſich in philoſophiſchen An— ſchauungen zu ergehen, um ſich hiervon völlig abzuwenden, war bewußte oder unbewußte Phantaſterei und in dieſem Sinne Myſti— cismus. Aber es gab eine Zeit, wo die Völker bereits über Welt und Natur philoſophirten, ohne daß ſie ſchon ſo viele empiriſche Er— keuntniſſe geſammelt hatten, um hinreichend die Thatſachen zu durchdringen. Es gab eine Zeit, wo man die Logik der Thatſachen noch nicht zu würdigen verſtand und die Philoſophen mit Verſtößen über dieſelbe hinwegeilten. In dieſer Zeit ſchuf man ſich mit Rückſicht auf noch ganz kindliche Anſchauungen ein Weltbild, mit welchem man zunächſt nur beſtrebt war, alle Er- ſcheinungen aus einem einzigen Urquell, der Erklärungsbequemlichkeit und der Einfach— heit halber, abzuleiten. Schon die Prieſter der Vorzeit hatten über Natur und Schöpfung nachgedacht; ſie hatten ſich viel mit den Elementen von Wärme, Licht und Feuer beſchäftigt, der Seher und Prieſter zündete und ſchuf durch Reibung das geheiligte Opferfeuer. In kindlicher Naivetät, ausgerüſtet mit dem Drange, raſch alles um ſich her zu erklären, am ihnen alsbald die Vorſtellung, daß alles, was da iſt und wirkt, aus Licht und \ 5 Caspari, Die Philoſophie im Bunde mit der Naturforſchung. | Feuer herſtamme. Die Geſtirne ſchienen brennende Feuer zu ſein, die auf der Erde Leben und Wachsthum hervorriefen, — da ſchien es denn nahe zu liegen, alles was da iſt, aus der einen Feuerkraft herzuleiten, die Dinge und Weſen ſchienen nur Metamorphoſen des Feuers zu ſein. Die Prieſter bedachten noch nicht, daß das Feuer keine omnipotente Grund- kraft ſein konnte; denn es fand ja (um in dieſer kindlichen Weiſe zu reden) ſeinen gleichzeitigen Widerſtand am Elemente des Waſſers, welches eben dieſem Elemente Einhalt gebot. Dennoch war einigen der früheſten Naturphiloſophen, die noch durch vorhiſtoriſche Anſchauungen der Prieſterwelt geleitet waren, auch das Waſſer nur ge— bildet durch Metamorphoſe des Feuers. Vom Geſichtspunkte der Mechanik betrachtet hatte man daher im Grunde den ſog. Wider- ſtand, d. i. die relativ fremde Gegenkraft, verſucht, aus der Kraft heraus herzuleiten. Aus naiver Bequemlichkeit und Unbehülf— lichkeit hatte man alle Elemente unter einen Hut bringen wollen, man war beſtrebt geweſen, einen einzigen Rahmen für alle Erſcheinungen zu finden. Indeſſen hier lag ein Fehler vor gegen die Logik der Thatſachen. Man hatte nicht beachtet, daß die Urkraft urſprünglich bereits auf ihren mechaniſchen Widerſtand hinwies, der ſich aus der erſteren nicht künſtlich heraus- ſpinnen ließ. In der That, wollen wir ein ſinnliches Beiſpiel gebrauchen, ſo dürfen wir darauf verweiſen, daß die früheſten Naturphiloſophen dies Weſen der Kraft anſchauten wie die Spinne, welche alles Uebrige, ſomit auch die mechaniſchen Wider- ſtände, ähnlich wie die Faſern des Netzwerkes erſt peu-à-peu aus ſich herausſpann. So aber ſpann freilich dieſe wunderſame Spinne offenbar uranfänglich in der undenkbaren Leere (d. h. ohne Kraftwiderſtände), und es fehlte chr von vornherein jeder Befeſtigungs— punkt für ihr geſponnenes Netzwerk, ja ſie ſelbſt entbehrte hiermit, vom Geſichtspunkte der mechaniſchen Kraftlehre betrachtet, jeder haltbaren Unterlage. So war ſchon ſehr früh in der Natur- philoſophie ein kindlicher und falſcher Kraftbegriff zur Geltung gekommen, der myſtiſch concipirt war und in der Natur— lehre heilloſe Verwirrung angeſtiftet hat, die Jahrtauſende hindurch fortwirkte und in ihren unabſehbaren Folgen heute noch keineswegs in der Wiſſenſchaft überwun— den iſt. Das Charakteriſtiſche dieſer Naturlehre alſo war ſtets dies: daß man einen Kraft— begriff aufnahm, der alle Widerſtände gleichſam übermechaniſch und myſtiſch aus ſich herauszog. Dieſe concipirte Urkraft (mechaniſch betrachtet eine ganz widerſtandsloſe, kraftloſe Kraft) wurde von Philoſophen dieſer Richtung zur ſchöpferiſchen Urpotenz gemacht, Kräfte ſetzte, die alle Elemente und dieſe Kräfte aber gleichſam innerlich gleichzeitig hiermit durchbohrte und durchdrang. Da dieſe Urkraft aber an ſich omnipotent und abſolut war, fo konnte fie alle Setzungen ebenſo raſch wieder aufheben und negiren. Schöpfer die Welt und Alles was da lebt und webt, incluſive den Teufel und ſeine Heerſchaaren, aus ſich heraus ſchuf, ſo ſollte auch dieſe Urkraft ſchöpferiſch ſein. So war dieſe Wunderkraft eine myſtiſche vis formativa, die über alle ſog. Widerftände | (die ihr doch als Gegenkräfte mechaniſch urſprünglich gegenübertreten mußten, um fie von vornherein einzuſchränken) ſich my⸗ ſtiſch hinaushob. Bei ihrer Omnipotenz geſchah es eben, daß ſie alle Widerſtände künſtlich übergriff und ſie gleichſam Wie der abſolut gedachte Caspari, Die Philoſophie im Bunde mit der Naturforſchung. 11 über⸗mechaniſirte, wenn man ſich dieſes Ausdruckes bedienen darf. Es ſtand im Grunde dieſe vis formativa ihren Wider— ſtänden hiermit ebenſo gegenüber, wie der Bildhauer dem todten paſſiven Marmor— block. Wie der Bildhauer nur den rein paſſiven Marmor bearbeitet als ein deus ex machina, um ſich deſſelben künſtlich zu bedienen, ihn völlig zu zerſtückeln und völlig rückſtandslos ſeiner Idee einzuverleiben, ſomit endlich auch den letzten Reſt von paſſiver Widerſtandskraft an ihm aufzuheben, ſo auch dieſe Art von myſtiſcher Kraft. Sie wirkt, ſchafft und bedient ſich ihrer Widerſtände, zehrt ſie ſchließlich rückſtands— los auf und ſtrebt ſchließlich im Leeren. So tritt dieſe Urkraft anfänglich zwar ſchein— bar omnipotent auf, im Grunde aber iſt fie doch nur eine völlig widerſtandsloſe, kraftloſe Kraft. Wir haben alſo unter dieſer Conceptions⸗ form eine ſog. „Kraft an ſich“ vor uns, eine, Art von deus ex machina, Nicht genug kann der Naturphiloſoph gewarnt werden, dieſe Art von Pſeudokraftbe— griff zu adoptiren, um mit ſeiner Hülfe weiter reichende Erklärungen vorzunehmen. Um deswillen iſt es daher doppelt wichtig, th recht genau alle die Verkleidungen und 42 Ausdrucksformen anzuſehen, in welchen uns die zumeiſt mit der Grundlehre der Me— chanik und der Logik der Thatſachen unkun⸗ digen Philoſophen dieſen Pſeudokraftbegriff vorführen. Die Geſchichte der Philoſophie weiß in dieſer Hinſicht von den allerſonderbarſten Wandlungen zu erzählen. liche Herkunft dieſes hypermechaniſchen Kraft- begriffs und deus ex machina ſtammt ohne Zweifel, wie wir oben anführten, von den früheſten Prieſtern, die in dieſer Form die Götter oder auch eine ganze Reihe von ER * . y * 8 * 4 ei Die urſprüng⸗ 12 Gottheiten myſtiſch über das All erhoben und perſonicifirten. Später, als die Philo— ſophen dieſe kindlichen Anthropomorphismen abſtreiften, ließen ſie hiermit im Grunde doch nur das äußere Kleid fallen, genau genommen blieb das Weſen dieſes Pſeudobe⸗ griffs beſtehen. Wurde unter der ſchöpfe— riſchen Urkraft ſpäter keine mythiſche Perſon mehr gedacht, die über oder hinter den Couliſſen des Univerſums lebt, um wie ein Regiſſeur das Theater des Weltalls zu leiten, ſo war die neue Einführung einer kosmiſchen Urkraft, die aus ſich heraus das ganze Univerſum erzeugte und wieder in ſich verſchlang, doch nur im Grunde ebendieſelbe in den Kosmos hinein verſetzte hypermechaniſche vis formativa. Mochte Heraklit hiermit das kosmiſche Feuer, Thales das Waſſer, Anaximenes die Luft oder Anaxagoras den vors meinen, es war in dieſen Formen immer der nämliche myſtiſche deus ex machina. Ja, ſelbſt die großen Heroen der Philoſophie, Plato und Ariſtoteles ſtreiften an dieſer Urkraft nur das Gewand ab, ohne das Weſen der Sache hiermit zu verändern. Die platoniſche Weltſeele und der ariſtoteliſche unbewegliche Beweger ſind nur andere Ausdrücke für dieſe myſtiſche vis forma- tiva und für Handhabung eines falſchen Kraftbegriffs. Die Kraft wurde hier ohne Rückſicht auf die Grundregeln der Me— chanik concipirt, es mangelte ihr der voll- gültige Grad von Beziehung auf den ihr relativ äquivalenten, ebenbürtigen, und urſprünglich ihr gegenübergeſetzten Wider— ſtand. So beſaß dieſe Urkraft von vorn- herein ein hypermechaniſches Uebergewicht, durch welches ſie den ihr untergeordneten (paſſiven) Widerſtand ſehr bald aufzehrte, um ſich ſchließlich als widerſtandsloſe Kraft zu enthüllen. Während des ganzen Mittel- Caspari, Die Philoſophie im Bunde mit der Naturforſchung. alters haben die ſcholaſtiſchen Naturphiloſo⸗ phen dieſem unklaren Kraftbegriff gehuldigt und ihre naturphiloſophiſchen Syſteme darauf errichtet. Erſt mit der Zeit der Aufklärung haben die Bacon, Hobbes und ihre Schüler vom Gebiete der Naturforſchung laut ihre Stimmen hiergegen erhoben. Die Philoſo— phie hat leider wenig die Einwände dieſer Forſcher beachtet, ſelbſt ein jo klarer mathe mathiſcher Kopf wie Descartes baute über die reale mechaniſche Körperwelt eine darüber— geſtülpte, höhere, geiſtige auf, in welcher nur noch der hypermechaniſche myſtiſche Kraftbegriff ſeine unklaren Funktionen aus⸗ übt. An den deus ex machina der Descar- tes'ſchen Gottesſubſtanz lehnte ſich bekannt⸗ lich Spinoza an, und wiederum gründete ſich der weitgehende Pantheismus dieſes geiſtvollen Denkers eben nur auf die Con- ception jenes völlig untauglichen, hyperme— chaniſchen Kraftbegriffs, deſſen Pſeudofunk— tionen wir oben genauer ſchilderten. Trotz der inzwiſchen anfgeblühten experimen⸗ tellen Wiſſenſchaft haben die Philoſophen mit Zähigkeit an dem Pſeudokraftbegriff in der Naturphiloſophie feſtgehalten, und ſo feſt gewurzelt war die Scholaſtik nach dieſer Seite, daß ſelbſt Kant in theologiſch-philo⸗ ſophiſchen Anwandlungen dem Dualismus Rechnung trug, ſodaß nach ihm der perſönliche überirdiſche Weltſchöpfer (als deus ex machina), ebenſo wie der abjolute (intelli- gibele) Freiheitsbegriff auf der einen Seite Glauben finden ſollten, während er recht wohl bekennt, daß die Logik der empiriſchen That⸗ ſachen ſich andererſeits auf's unzweideutigſte fortwährend hiergegen empören. Als nach Kant in unſerem Vaterlande die poetiſche Zeit der Romantik heraufgedämmert war, hatte ſich der Geiſt von neuem hinreichend mit ſchola— ſtiſcher Myſtik geſättigt. Ein nachſcholaſti⸗ ſches Zeitalter ſollte in Deutſchland erblühen, nd die Philoſophen, die zumeiſt Theologen und Philologen waren, griffen während dieſer wunderſamen Geiſtesepoche der Roman— tik mit Vorliebe auf Plato, Ariſtoteles und den Neuplatonismus zurück. Durch dieſe Anlehnung concipirte man von neuem kritik— los den antiken Pſeudobegriff der Kraft, und nun mußte ſich folgerichtig eine Natur— philoſophie entwickeln, . Ergebniſſen der inzwiſchen reifer gewordenen > Naturwiſſenſchaft nicht mehr vertrug. Als dies von klar denkenden Naturforſchern Naturwiſſenſchaft principiell von jener 1 Art von Naturphiloſophie, die man mit RRgReecht die ſcholaſtiſche nennt. wollen gegen die Reihe von tieferen An— 5 ſtößen, welche die philoſophiſchen Geiſtes— = heroen der romantischen Zeit, vornehmlich Fichte, Schelling, Hegel, Schleier— = macher u. ſ. w., auf die Entwicklung einer Reihe von wichtigen Disciplinen geäußert haben, weit entfernt davon, zu überſehen, wie durch das Nachdenken jener philoſophiſch geſchulten theologiſchen Kräfte“) namentlich die tieferen Geiſteswiſſenſchaften, wie Er— kenntnißtheorie und Ethik recht wohl 0 Daß Männer eben jener Geiſtesepoche, wie namentlich Herbart, Hegel und Fichte, ihre große philoſophiſche Bedeutung haben, und die Anſtöße, welche jene Forſcher insbe— ſondere der ſog. Erkenntnißlehre methodologiſch Bl ertheilten, unberechenbar und nicht zu unter- ſchätzen find, hat, abgeſehen von oben Ge— ſagtem, wohl keiner mehr behauptet, wie der Verfaſſer dieſes Artikels. Vergl. hierüber Caspari, Die Grundprobleme der Erkennt— nißthatigteit Berlin 1876 bei Theobald Grieben, Bibliothek für Wiſſenſchaft und Li— teratur. In genanntem Werke verſucht der Verfaſſer die Grundfehler oben genannter Autoren neben ihren Verdienſten zu be— leuchten. — gefördert, tiefer begriffen wurde, trennte ſich die Caspari, Die Philoſophie im Bunde mit der Naturforſchung. 13 befruchtet wurden — das müſſen wir in- deſſen als hiſtoriſches Reſultat jener Epoche feſthalten: die Naturwiſſenſchaft (d. h. die Naturphiloſophie) wurde von ihnen nicht wohl aber in die allergrößte Verwirrung geſetzt. Der Hauptgrund hierbei lag in der Wendung bezüglich des Kraftbegriffs, und daran ſich anſchließend die ſich mit den an der falſchen Conception des philoſophiſchen Grundprincips. Die auf ihren Wider— ſtand nothwendig bezogene und von letz— terem bedingte Kraft macht evident deutlich, daß der Kraftbegriff ein ſog. Re— lationsbegriff iſt, die oben genannten Philoſophen hingegen machten zur Grund— f lage aller ihrer Weltconſtructionen das ſog. Weit entfernt davon, ungerecht ſein zu | Abſolute. Die Anlehnung des mit Rück— ſicht auf die Thatſachen richtig gedachten Kraftbegriffs (als Relationsbegriff) an den Hintergrund eines über hinausliegenden (ſomit transcendenten) Abſoluten, ruft eben dieſe Verwirrung und myſtiſche Unklarheit hervor; denn leicht iſt zu erkennen, daß ein über alle Kräfte (Relationen) hinausliegendes (trams- cendentes) ſog. Abſolute keine Kraft, leerer deus ex 88 machina ift, ein modernes asylum igno- 1 rantiae, mit dem man die von empiriſcher wohl aber ein in ſich Seite klar aufgebaute Naturlehre über den Haufen wirft, und an die Stelle des in ſich klar gegliederten Kosmos jenes über— natürliche, unlogiſche Wiſchiwaſchi ſetzt, über welches noch heute philoſophiſch halb ge— ſchulte Philologen, Theologen und mit den Anforderungen einer klaren Naturlehre nicht genau bekannte philoſophiſche Dilettanten nicht hinauskommen. So geſchah es, daß die Naturlehre der Fichte-Schelling-Hegel nothwendig verworfen werden mußte; denn das abſolute Welt-Ich Fichte's, das ab- ſolute Subjekt-Objekt und die abſolute alle Kräfte ud 9 — 1 Ke rr 14 Indifferenz Schelling's, ſowie die abſolute Idee Hegel's ſind nichts anderes als Con— ceptionen, die darauf hinführen: die anti— quirte ariſtoteliſche über-mechaniſche abſolute vis formativa (den deus ex machiua) durch eine fein verdeckte Hinterthür in die Betrachtung des Kosmos wieder aufzu— nehmen. Hiervon macht ſelbſt die ſonder— bare Conception Herbart's über die „ab— ſolute“ Poſition ſeines Seinsbegriffs (als ein. Sein ex machina) und die abſolute Setzung ſeiner abſoluten „Realen“ (als dii ex machina) nicht die geringſte Aus— nahme. Die Setzung und Beifügung des Wörtchens „abſolut“ iſt hier entſcheidend. Was man im modernen, praktiſchen Staats- und Rechtsleben der Individuen längſt erkannt und eingeſehen hat, nämlich die Unbrauchbarkeit des Abſoluten, das auf theoretiſchem Gebiete völlig klar zu machen, iſt leider noch heute eine ſchwierige Aufgabe der Wiſſenſchaft. Aber dieſe Ar- beit, zu der ſich recht viele wiſſenſchaftliche Köpfe mit uns vereinigen mögen, iſt viel— leicht ebenſo ſehr auch hier gewinnbringend und ſegensreich. Wie unter der Form des Abſoluten im Grunde nur der Mittel- punkt des Syſtems wahrhaft lebt, während die übrigen Glieder einem todten Cadaver gleichen, ſodaß im praktiſchen, ge— ſellſchaftlichen Leben hierdurch tauſend Uebel und Conflicte hervorgerufen werden, ſo auch im Gebiete der theoretiſchen Wiſſenſchaft. Was dort die unerträglichen Conflicte, ſind hier die Summe der Widerſprüche und Unklarheiten, die durch die Conception des Pſeudobegriffs des Abſoluten in allen Wiſſenſchaftsgebieten, jo auch in der Natur- lehre, erzeugt werden. Je mehr die Ein— ſicht hierüber im Gebiete der Naturforſchung höher ſtieg, je mehr ſträubten ſich die Scholaſtiker unter den modernen Philoſophen Caspari, Die Philoſophie im Bunde mit der Naturforſchung. dieſer Evidenz ſich zu unterziehen. Moderne Philologen und Theologen, mit Philoſophen im Bunde, ſuchten im Gegentheil alle Mittel und Wege, um dieſer Conſequenz zu ent— gehen. Wie eine geſcheuchte Heerde flüch— teten die modernen Scholaſtiker und ſuchten nach Syſtemen und Formeln, um ſich den Conſequenzen rationaler Klarheit zu ent— winden. Man wurde eingeſchüchtert durch die mächtigen Fortſchritte der em— piriſchen Wiſſenſchaften, welche ſen— timentalen Gemüthern zu dem Glauben Veranlaſſung gaben, daß ſie dazu dienen konnten, dem materialiſtiſchen Democritismus in die Hände zu arbeiten; man wurde ein— geſchüchtert ferner durch die unlogiſchen, ober flächlichen Doktrinen der Büchner-Mole— ſchott, die wir oben bereits abwieſen, weil ſich die Annahmen derſelben, daß der ſog. Stoff (als Ausgedehntes, Wägbares und Taſtbares) etwas Abſolutes ſei, von ſelbſt widerlegten. Denn die Anſichten über Stoff und Materie kommen nach den Ausführungen aller conſequenten Anhänger dieſer Lehre eben nur zu Stande mit Hülfe der Kraft— lehre. Wenn daher der Stoff nicht ohne Kraft gedacht werden kann, ſo iſt er auch nichts mehr an ſich und ſomit auch niemals etwas Abſolutes, ſondern etwas völlig Re— latives und in ſich phänomenal Flüſſiges wie viele andere Erſcheinungen. Indem man aber, wie erſichtlich iſt, ſich genöthigt findet, ſich abzuwenden von jenem craſſen Materialismus, der den Stoff als das Ab— ſolute (ſomit als das alles erklärende Grund— weſen) des Alls betrachtet: was zwingt uns, um dieſer Scylla zu entgehen, nun in die Cha- rybdis zu ſtürzen, nämlich in jene Lehre, welche die Kraft ſelbſt wieder hinaus— hebt aus der Sphäre der mechaniſchen Relation in das Gebiet des über-mecha— niſchen Abſoluten, um ſo den Begriff einer abſoluten, einer widerſtands— loſen, ſomit kraftloſen myſtiſchen Pſeudo— kraft zu bilden? Wenn die vom extremen Materialismus geängſtigten Philoſophen, und ſogar viele Naturforſcher, ſich neuerdings wieder einem Schopenhauer oder gar einem Hartmann zugewandt haben, um mit ihnen als Grund— princip den ſog. abſoluten Ur- Willen oder das abſolut Unbewußte anzuerkennen, ſo liefert dieſe Zurückwendung nur Zeugniß worum es ſich ſtets einen völlig klaren Kraftbegriff zum operiren nöthig hat) handelt. Caspari, Die Philoſophie im Bunde mit der Naturforſchung. davon, daß ſie nicht erfaßt hatten, in der Naturlehre (die Der philo⸗ als Abſolutes und an ſich Selbſtverſtänd— liches hinſtellen darf wie die craſſen Ma— terialiſten, doch immerhin die Thatſache der gegenſeitigen Verkörperung der Kräfte als Erſcheinung zu erklären. Nach den conſequenten Annahmen der Materialiſten iſt der Stoff das Weſen des Kosmos. Kraft, Geiſt und Bewußtſein hingegen find nur zufällige, “) im Grunde unerklärbare Erſcheinungen. Umgekehrt verhält es ſich mit allen jenen ſpiritualiſtiſch— ſcholaſtiſchen Lehren, welche Kraft, Geiſt und Bewußtſein zum über⸗-mechaniſchen Abſoluten machen. Nach den Ausführungen dieſer Philoſophen wird die Thatſache von Kraft und Widerſtand nicht erklärt und der Wider— ) Vom conjequenten Standpunkte der ab— ſoluten Stofflehre iſt die Folgerung Du Bois— Reymond's daher ganz richtig, daß man der Erſcheinung des Geiſtes und Bewußtſeins rathlos mit einem ignorabimus gegenüber— ſteht. Dieſes testimonium paupertatis gilt eben für den eraſſen Materialismus und mit Hinblick auf dieſes Zugeſtändniß iſt er philo— ſophiſch gerichtet. | ſophiſche Naturforſcher aber hat, wenn man das Materiale und Körperliche auch nicht | ſtand zum Pſeudowiderſtande degradirt, ſomit eine Pſeudomechanik des Kosmos geſchaffen. Angeſichts dieſer Pſeudomechanik iſt es alsdann unmöglich, die Grundfac— toren der phyſikaliſchen Erſcheinungen: die gegenſeitigen Verkörperungen der Kräfte und die ſich daran anlehnenden Thatſachen des relativ undurchdringlichen Widerſtehens, die Reibung und die cauſale Aufeinauder— wirkung der Kräfte im materialen Sinne zu begreifen. Blieb dort die Thatſache des Geiſtes unerklärt, ſo hier die Thatſache der Materie in ihren Erſcheinungen. Um aus dieſem Dilemma herauszukommen, iſt die Naturphiloſophie gezwungen, ſich über jenen Materialismus ebenſoſehr wie über den charakteriſirten Spiritualismus hinauszu— ſetzen. Eine neue Naturlehre hat Platz zu greifen, eine Naturlehre, innerhalb deren uns die Thatſachen zwingen, das Weſen des Kosmos nicht unter der Herrſchaft irgend eines Abſolutums zu denken, (ſei darunter jener abſolute Pſeudoſtoff der Materialiſten, oder die abſolute Pſeudokraft der ſpiritug⸗ liſtiſchen Idealiſten vorgeſtellt). Dieſen Irr— lehren gegenüber ſei hervorgehoben, daß wir den Kosmos nach ſeiner natürlichen Couſtruc⸗ tion nur als ein Conſtitutionalismus zu 12 denken haben. Hinter der cauſal-mechaniſchen n Conſtitution der Kräfte (welche alle | Erſcheinungen ſowohl die des Stoffs wie des Geiſtes erzeugt) und deren Arbeit, kaun keine myſtiſch übergreifende, ſie wieder aufhebende abſolute Pſeudokraft irgend— wie gedacht werden. Nur in dieſer An- | ſchauung, die wir mit Hinblick auf die Pſeu⸗ dokraftlehre der ſpiritualiſtiſchen Myſtiker (die neuerdings als Hartmanianer wieder hervortreten und in der Annahme einer ſog. abſoluten Urkraft verharren) die Lehre des Krafteonſtitutionalismus oder die cauſal-mechaniſche Grundanſchauung nennen, > l 1 € 5 16 N kann die klare Naturphiloſophie ſich zukünftig fortbilden. Nur in Anerkennung dieſer cauſal-mechaniſchen Grundanſchauung kann, geeint durch die Logik der Thatſachen, Philoſophie und Naturforſchung zuſammen⸗ gehen, jeder Rückfall aber in die oben ſcharf gekennzeichnete Pſeudoſtofflehre oder in die übermechaniſche Pſeudokraftlehre würde von neuem einen Bruch zwiſchen Philoſophie und Naturforſchung herbeiführen müſſen. Alle diejenigen Philoſophen der Gegenwart aber, welche mit der beſchriebenen Pſeudo— kraftlehre liebäugeln, oder aus veligtös-fen- timentalen und theologiſchen Herzensbedürf— niſſen auf ein hyper-mechaniſches Trans- cendentes als Grundprincip in dieſer Hin— ſicht recurriren und feſtzuhalten verſuchen, haben im Grunde das Tuch zwiſchen Philo— ſophie und Naturforſchung zerſchnitten. Wie ſchon eingangs dies Artikels erwähnt, giebt es keinen wahren Naturforſcher, der nicht, wenn auch oft nur aphoriſtiſch, ſein philoſophiſches Glaubensbekenntniß vorträgt. Um ſo wichtiger daher iſt es, daß er ſich aufklärt über diejenigen Weltanſchauungen und Syſteme in der Philoſophie, die klar genug ſind, um einladend zu erſcheinen, die Reſultate der experimentellen Forſchung mit ihnen zu verknüpfen. — Nach den Ver- irrungen der neuſcholaſtiſchen Richtung, zu der bekanntlich neuerdings auch E. von Hartmann, der Philoſoph des Unbewuß⸗ . a d i ismus d ten, gehört, haben ſich die Philoſophen ge em ehemaligen Senſualismus Seele un ſammelt und ſind, geführt von Albert Lange und Anderen, muthig auf Kant's Kritik der — — 2 — — Caspari, Die Philoſophie im Bunde mit der Naturforſchung. reinen Vernunft zurückgegangen. An die feſtſtehenden Reſultate dieſes epochemachenden Werkes verſuchen die modernen philoſo— phiſchen Forſcher anzuknüpfen, und im Bunde mit den Naturwiſſenſchaften begründet ſich gegenwärtig mehr und mehr, wenn uns der Blick in die Zukunft nicht trügt, gegen- über dem ehemals ſtreng feſtgehaltenen Apriorismus und Nativismus, deſſen aprio- riſtiſches Grundprincip ein Abſolutes, Ueber— mechaniſches, Transcendentes (Undenkbares) war, ein kritiſcher Empirismus, “) der ſich anlehnt an die folgerichtig gedachte cauſal-mechaniſche Kraftlehre. Von dieſer rationalen Grundlage aus ſucht der Philo— ſoph einzudringen in den Zuſammenhang der Dinge — in den Kosmos. Lehren ihn die Empirie und die Thatſachen den Kosmos als ein Syſtem von Kräften und deren Relationen auffaſſen, ſo zwingen ihn weitere Folgerungen einer in ſich klaren mathematiſchen Kraftlehre, dieſes Syſtem nicht beherrſcht zu denken von irgend einem Abſolutum (als myſtiſche Pſeudokraft), ſon⸗ dern eben dieſes Kraftſyſtem ſieht er ſich vielmehr genöthigt anzuſchauen als einen Con— ſtitutionalismus auf einander bezogener Glie— der, geeint durch die Verfaſſung der Natur- geſetze. ) Das iſt, wohlverſtanden, kein vorfant'- ſcher dogmatiſcher Empirismus, der ähnlich Geiſt zur tabula rasa machte, um ſo alles von außen und nichts aus dem Innern ab— zuleiten. N ſchaftliche Zoologie Bd. XXVII Se habe ich unter dem Titel „Über = die Bedeutung der Ge— ſchmack- und Geruchſtoffe“ eine Erörterung der chemiſchen Seite der Vererbungsfrage gegeben, nachdem ich ſchon vorher in meinen „Zoologiſchen Briefen“ der phyſikaliſchen Seite einige Betrachtungen gewidmet hatte. Ich will es im Folgenden verſuchen, dieſer Frage einige neue Anhalts— punkte abzugewinnen und das dort Geſagte zu ergänzen. Meine früheren Auseinanderſetzungen gingen dahin: Das Fundament der Ver— erbung beſteht darin, daß durch große Reihen von Generationen hindurch das Keim— protoplasma eines Thieres eine ſich ſtets gleichbleibende ſpezifiſche Beſchaffenheit allen Anfechtungen von außen zum Trotz bewahre. Ich ſagte: Bei der jedesmaligen Ontogeneſe ſcheide ſich das verfügbare Keimprotoplasma in zwei Gruppen, die ontogenetiſche, aus welcher das jeweilige Individuum auf- gebaut wird, und die phylogenetiſche, 1 A Phyſiologiſche Briefe Prof. Dr. Guſtav Jäger. J. Ueber Vererbung. bilden. Dieſe Reſervirung des phylogene⸗ tiſchen Materials bezeichnete ich als Conti— nuität des Keimprotoplasmas. Ich fand den Grund ſeiner Beharrung in unverändertem Zuſtand, während das ontogenetiſche Ma— terial der Gewebsdifferenzirung unter— worfen wird und ſeine embryonalen Eigen— ſchaften verliert, darin, daß das phylogene— tiſche Material von dem ontsgenetiſchen eingekapſelt und ſo vor der Einwirkung der in den umgehenden Medien vorhandenen Differenzirungsurſachen geſchützt werde. Auf Grund dieſes Schutzes bewahre das einge- kapſelte Keimprotoplasma 1) ſeine embry⸗ onale Beſchaffenheit, 2) ſeine Spezifität. 3 Im folgenden möchte ich mich nun mit den Vererbungserſcheinungen an dem onto— genetiſchen Protoplasma-Material befaſſen und unterſuchen, worin ſeine Spezifität in che— miſcher Richtung beſteht, und wieſo es kommt, daß auch das ontogenetiſche Protoplasma bei den Wachsthums- und Anpaſſungsvor⸗ gängen während der Ontogeneſe ſeine Spe— zifität trotz fortwährender Berührung mit andern ſpezifiſchen Protoplasmaſtoffen und welche reſervirt werde, um zur Zeit der Produkten hartnäckig bewahrt. Bei dieſer Geſchlechtsreife die Fortpflanzungsſtoffe zu Unterſuchung werden wir dann auch einen 18 Jäger, Phyſiologiſche Briefe. intereſſanten Einblick in die Thatſache ge— winnen, daß die verſchiedenen Organismen in ſtets ſich gleichbleibenden, auf vererbten Qualitäten ihres Protoplasmas beruhenden biologiſchen Beziehungen zu einander ſtehen, und daß die Träger dieſer Beziehungen gerade die ſpezifiſchen Protoplasmabeſtand⸗ theile, ſpeziell die von mir als ſolche bezeichneten Geſchmack- und Geruchſtoffe ſind. Der Auseinanderſetzung ſende ich die Bemerkung voraus, daß ich bei einem Thiere ſtets zweierlei Funktionen bezw. Qualitä⸗ ten unterſcheide: 1) Die elementaren, d. h. die, welche jedem Protoplasmaſtück oder, kurz, jeder einzelnen Zelle zukommen; 2) die ſociologiſchen, die bei den Mul- ticellulaten damit gegeben ſind, daß ihr Leib ein nach dem Prinzip der Arbeitstheilung organiſirter Staat aus different gewordenen Protoplasmaſtücken iſt. Allerdings werde ich ſehr häufig genöthigt ſein, aus den ſo— ciologiſchen Eigenſchaften auf elementare zu ſchließen und damit iſt die Gefahr zu Fehlſchlüſſen ſtets vorhanden. Ich lege deßhalb auch meinen Erörterungen nur den Werth einer anregenden Orien— tirung bei. Der intereſſanteſte Vorgang bei der ontogenetiſchen Seite der Vererbung iſt die Thatſache, welche die Phyſiologie kurzweg als Aſſimilation bezeichnet, ohne bis jetzt dieſen merkwürdigen Vorgang näher analyſirt und noch weniger ſeine Bedeutung für die Vererbungsfrage genügend gewür⸗ digt zu haben. Eine Hauptfrage iſt ja doch: Wie kommt es, daß das Fleiſch des fiſchfreſſenden Vogels ſich nicht in Fiſchfleiſch, das des wurmfreſſenden Fiſches nicht in Wurmfleiſch, das des diatomeenfreſſenden Protiſten ſich nicht in Diatomeenprotoplasma verwandelt? Die erſte Frage iſt die: An welchem chemiſchen Beſtandtheil der Nahrung iſt die Aſſimilationsarbeit zu vollziehen? Die Antwort iſt natürlich zunächſt die: An dem ſpezifiſchen Beſtandtheile der Nahrung. Wir haben lediglich keine Andeutung dafür, daß die in der Nahrung enthaltenen Salze und Kohlenhydrate Gegenſtand der betref— fenden Aſſimilation ſind und auch für die Fette iſt die Veränderung geringfügig. Ich habe in meiner eingangs erwähnten Abhandlung die Frage offen gelaſſen, welche der bekannten Protoplasmabeſtandtheile der Träger bezw. Erzeuger der ſpezifiſchen Ge— ſchmack- und Geruchſtoffe ſei. Jetzt, nach näherer Ueberlegung ſtehe ich keinen Augen— blick an, zu behaupten, daß es die Albu⸗ minate entweder ganz allein oder höchſtens neben ihnen noch die Lecithi n-Verbindun⸗ gen ſind. In den Lehrbüchern der Zoochemie wird angegeben, daß die Albuminate geſchmack- und geruchlos ſind, daß ſie aber bei Zerſetzung durch Säuren oder Alkalien die ſpezifiſchen Fäcalgerüche ihrer Träger entwickeln. Dieſe Thatſache muß nun einerſeits für uns der Ausgangs- punkt weiterer Unterſuchungen ſein, und ich bin ſehr erfreut darüber, daß mein College Dr. O. Schmidt, Profeſſor der Chemie an der Thierarzneiſchule in Stuttgart, mir zuge— ſagt hat, einſchlägige Verſuche in Verbindung mit mir zu machen, da die vorliegenden Angaben uns durchaus noch keine ſichere Baſis geben. Andererſeits muß aber, ge rade um ſolchen Verſuchen ihr. Ziel zu ſtecken und die Wichtigkeit derſelben ins Licht zu ſetzen, ein Räſonnement an dieſe Thatſache angeknüpft, d. h. eine Hypotheſe aufgeſtellt werden, deren Erhärtung oder Verwerfung oder Richtigſtellung das Ziel der empiriſchen Forſchung fein fol. Dieſe Hypotheſe formulire ich jo: Die Albuminate, welche wir in den ver— ſchiedenen Thieren antreffen, find nicht völ— lig einander gleich, ſondern beſtehen aus einem, wahrſcheinlich bei allen Albumina⸗ ten gleichen Kern, mit welchem Atom- gruppen verbunden ſind, die bei ihrer Los— löſung aus dem Eiweißmolekül als die ſpezifiſchen Geſchmack- und Geruchſtoffe ent— weichen und dann durch andere zwar ähn⸗ liche, aber doch verſchiedene Atomgruppen erſetzt werden können. Der Prozeß der Aſſimilation beſtünde ſomit darin: 1) Daß bei der Verdauung die Albuminate ihrer Spezifität ent— kleidet werden, indem ſich ihr Molekül in zwei Atomgruppen hydrolytiſch ſpaltet; die eine bei allen Albuminaten gleiche Atom— gruppe wäre das Eiweißpepton, die andere Atomgruppe wären die ſpezifiſchen Geruch- und Geſchmackſtoffe. 2) Während die letzteren ausgeſtoßen werden und unter den Fäcalſtoffen ſich, wenn auch vielleicht in etwas veränderter Form, als Fäcalgeruch (und Geſchmack) finden müſſen, tritt das Pepton in das lebendige Protoplasma ein, trifft dort auf die ſpezifiſchen Geſchmack— und Geruchſtoffe des Nahrungsnehmers, die bei den Krafterzeugungsvorgängen die begleitende Eiweißzerſetzung gebildet haben, und tritt mit ihnen unter Waſſerabgabe zuſammen, um wieder Eiweiß zu bilden, aber das ſpezifiſche des Nahrungs- nehmers. Der Phyſiologe Hermann nennt die Albuminate die Anhydrite des Pep— tons und hat ſomit die Anſchauung, als handle es ſich bei der Verdauung und Aſſimilation nur um Ein- oder Austritt von Waſſermolekülen, während meine Auſchauung dahin geht, daß es ſich außer dem Eintritt und Austritt von Waſſermo— Jäger, Phyſiologiſche Briefe. 19 lekülen auch noch um die der ſpezifiſchen Geſchmack- und Geruchſtoffe, d. h. flüchti— ger Fettſäuren oder deren Aether und ſonſtiger Abkömmlinge handelt. Die Aufgabe des experimentellen Che— mikers iſt nun, zu prüfen, ob bei der Pep⸗ tonbildung aus einem möglichſt rein dar— geſtellten Albuminat der ſpezifiſche Geruch des Thieres, von welchem das Albuminat ſtammt, oder wenigſtens ein verwandter ſpezifiſcher Geruch auftritt, und ob die Pep⸗ tone, welche man aus den Albuminaten verſchiedener Thiere bereitet, wirklich gleich ſind, oder ob in ihnen doch noch eine ſpe⸗ zifiſche Atomgruppe ſteckt. Das iſt die Aufgabe, welche Hr. Prof. Dr. O. Schmidt und ich uns geſtellt haben. Iſt dieſe Anſicht von Verdauung und Aſſi⸗ milation richtig, ſo beſteht die Zähigkeit der Vererbung bei der Ontogenefe darin, 1) daß alles fremdartige Albuminat nicht als ſolches. in das Protoplasma des Nahrungsnehmers aufgenommen, ſondern zuvor ent] pezifi⸗ zirt und dann aſſimilirt wird; 2) darin, daß das eigene Albuminat des Nahrungs- nehmers bei den Umwandlungen, die mit ihm während der Ontogeneſe zweifellos 6 ftatt finden (bei der Bildung von Globu⸗ lin, Fibrin, Caſein, Haemoglobin, Nuclein t.), ſeine Spezifität bewahrt, d. h. daß hierbei ſeine ſpezifiſchen Atomgruppen nicht abgeſchieden werden, ſondern daß die ein⸗ ſchlägigen Aus- und Eintritte anderer Atomgruppen an anderen Punkten der Mo⸗ lekularſtruktur ſtattfinden. Damit erweitert ſich unſere Vorſtellung von dem Bau des Eiweißmoleküls dahin, daß daſſelbe jedenfalls zweierlei Punkte beſitzt: 1) Punkte, an welchen die ſpezifiſchen Atomgruppen angefügt ſind, d. h. die⸗ jenigen, welche bei der Verdauung abge⸗ a Ei 20 Verwandte erſetzt und bei allen denjenigen Veränderungen, welche das Protoplasma erleiden, ohne abzuſterben, nicht tangirt, ſon— dern feſtgehalten werden, worauf die Zähig- keit der Vererbung beruht. Ich möchte dieſe Punkte des Kerns des Eiweißmole— küls die Aſſimilations- und Ver⸗ erbungspunkte nennen. 2) Punkte, an welchen bei der Synto— ninbildung das Säureradikal, bei der Ca— ſeinbildung das Kali, bei der Hämoglobin— bildung das Hämatin, bei der Nucleinbildung das Lecithin dem Peptonkern ſich anfügen. Da dieſe chemiſchen Vorgänge die ontoge— netiſche (elementare) Anpaſſung begleiten, ſo nenne ich dieſe Punkte die Anpaſſungspunkte. Vergleicht man dieſe beiderlei Punkte des Molekularbaues, ſo findet man als characte— riſtiſch Folgendes: Die erſteren halten ihre Atomgruppen mit viel größerer Feſtigkeit zu— rück als die letzteren, und Veränderungen an den Anpaſſungspunkten rauben, trotz der Ver⸗ ſchiedenheit der an ihnen aus- und eintre— tenden Atomgruppen dem Molekül ſeinen ſchieden, bei der Aſſimilation durch andere Jäger, Phyſiologiſche Briefe. Charakter als Albuminat, und namentlich ſeine Fähigkeit, eine lebendige Membran zu bilden, nicht. Dagegen ſind Verände— rungen an den Vererbungspunkten mit ein- ſchneidenden Folgen verbunden, indem mit Ablöſung der betreffendenden Atom gruppen das Eiweißmolekül ſeine Fähigkeit, eine lebendige Membran zu bilden, ver— liert und ſein Atomgewicht bedeutend redu— zirt wird, kurz, der Charakter des Albumi⸗ nats verloren geht und erſt wieder herge— ſtellt wird, wenn eine verwandte Atom— gruppe eintritt. ö Damit haben wir eine ganz beſtimmte, an die Anſchauungen der theoretiſchen Che— mie möglichſt eng ſich anſchließende Vor⸗ ftellung von den merkwürdigen, wie es ſcheint ſich widerſprechenden Eigenſchaften des Albuminats, nämlich der Vererbungs— fähigkeit und der Anpaſſungsfäh— igkeit, d. h. daß es gewiſſe Qualitäten mit außerordentlicher Zähigkeit feſthält, an— dere Qualitäten leicht ändert. Verknüpfen wir mit dem Geſagten noch eine Vorſtellung über das, was bei der von der Descendenztheorie geforderten Trans mutation an dem Eiweißmokül vor ſich gehen muß. Wenn die Grundan— ſchauung, von der ich ausgehe, richtig iſt, daß die Spezifität des Eiweißmoleküls in dem Beſitz der eigenartigen, bei ihrer Be— freiung ſchmeckenden und riechenden Atom— gruppen liegt, die an den Aſſimilations— und Vererbungspunkten des Molekülkerns hängen, fo handelt es ſich bei der Trans— mutation um einen ähnlichen Vorgang wie bei der Aſſimilation, d. h. um einen Wech— ſel der an den Aſſimilations- und Berer- bungspunkten hängenden ſpezifiſchen Atom— gruppen. Wenn wir deshalb die Transmu— tation nach Darwins Vorſchlag Anpaſ⸗ ſung nennen, ſo müſſen wir, wie das auch ſchon andere gethan haben, ganz genau zwiſchen der ontogenetiſchen Anpaſ⸗ fung und der phylogenetiſchen An— paſſung, wie man dann die Transmu— tation zu nennen hätte, unterſcheiden. Auf der anderen Seite iſt aber klar, daß für das Verſtändniß der die wiſſenſchaftlichen Zoologen ſo tief intereſſirenden Vererbungs— und Transmutationserſcheinungen ein mög— lichſt genaues Studium der Molefularvor- gänge bei der Verdauung und der Aſſi⸗ milation grundlegend ſein muß, und des— halb erlaube ich mir den Vorgang noch nach einer anderen Seite hin zu beſprechen. Oben ſagte ich, die Zähigkeit des onto- genetiſchen Theils der Vererbung beruhe \ * ) f ! 1 f Jäger, Phyſiologiſche Briefe. 21 darauf, daß bei der Ernährung das frem⸗ | ſich ſelbſt nicht. Die eine Seite der Les de Albuminat nicht als ſolches in das Pro- benserſcheinungen, die von den Albuminaten | ausgehen, iſt mithin zu verſtehen als die ſich alſo nicht mit ihm miſchen kön toplasma des Nahrungnehmers eintreten, ne, daß es vorher entſpezifizirt d. h. pep— toniſirt werde und erſt dann eintreten könne. Es erheben ſich nun zwei Fragen: 1) Warum kann es nicht als ſolches ein— treten; 2) wodurch wird es peptoniſirt? Die erſte Frage iſt durch Traube's glänzende und kapitale Verſuche über künſt⸗ liche Zellbildung beantwortet und dadurch zugleich die höchſt merkwürdige domini— rende Stellung erklärt worden, welche die Albuminate unter allen organiſchen Ver- bindungen einnehmen und die wir uns etwas näher beſehen müſſen, weil ſie für das Verſtändniß aller Lebenserſcheinungen, mithin auch für das der Vererbung von größter Wichtigkeit ſind. Traube hat uns gelehrt, daß ein membranbildender Stoff auch dann, wenn er in Löſung ſich befindet, durch ſeine eigene Membran nicht dif— fundiren kann, was er ſo deutet: Wenn ein Stoff eine Membran for- mirt, ſo lagern ſich ſeine Moleküle ſo, daß die zwiſchen ihnen bleibenden Lücken kleiner ſind als die Moleküle ſelbſt, was auch augenſcheinlich eine phyſikaliſche Nothwendig— keit iſt. Die eigenthümliche beherrſchende Stel— lung, welche die Albuminate unter allen übrigen einnehmen, beruht zunächſt darauf, daß ſie das größte Molekül beſitzen. Kraft dieſer Eigenſchaft können Eiweiß— membranen allen übrigen chemiſchen Verbindungen, ſofern dieſe überhaupt in dem umſpülenden Medium löslich ſind und das Eiweißmolekül nicht gänzlich zerſtören, den endosmotiſchen Eintritt geſtatten, nur membran den niederatomigen oxydablen Kohlenhydraten und Fetten ſouverain gegen⸗ ſtimmten membranbildenden Verbindungen Verbindungen umwandeln. die Albuminate Herrſchaft des größten Moleküls über alle kleineren und der phyſikaliſchen Unmöglichkeit der Autophagie eines Membranbildners. Eine zweite Seite iſt, daß nur die Albuminate im Stande ſind, eine lebendige Membran zu bilden, d. h. eine Membran, die nach dem Princip einer voltaiſchen Säule, d. h. aus zwei in elektromotoriſchem Span— nungsverhältniß ſtehenden, zu ellektriſch— dipolaren und Peripolaren Molekülen ſich gruppirenden Beſtandtheilen aufgebaut iſt, wodurch fie in den Beſitz einer auslöſen— den Kraft gelangt, mit der ſie allen in fie eintretenden Stoffen, die leicht oxydir— bar ſind, den Anſtoß zur Zerſetzung geben kann. Die dritte Seite iſt die Fähigkeit der Albuminate zur Aufſpeicherung und Ozoniſirung des Sauerſtoffs. Im Beſitze des Ozons, der zur Auslöſung nöthi— gen elektriſchen Kraft und des größten Moleküls, tritt die lebendige Albuminat⸗ über; fie läßt fie durch ihre großen Lücken, herein (das Fett allerdings nur unter be— Vorausſetzungen) und mordet ſie, ſo daß ſie ihm nichts anhaben können. Dazu kommt nun noch, daß die lebendige Eiweißmembran hydrolytiſche Fermente ab— ſondert, die auf die unlöslichen Kohlenhydrate per Diſtanz wirken und ſie in diffuſible Dadurch ſind vor Veränderungen, die von dieſen Stoffen, mit denen fie fort- während in Berührung kommen, ausgehen könnten, in hohem Grade ſicher geſtellt. Wenden wir uns jetzt noch einmal zu N. 22 dem Prozeß der Eiweiß verdauung, um ihn von einer andern Seite zu be— trachten, bei der ſich die merkwürdige Rolle der Geſchmack- und Geruchſtoffe als Träger des Nahrungsinſtinktes, als auf ele— mentaren Verhältniſſen beruhend, ergeben wird. Ich muß aber hier eine Be— merkung vorausſenden. Unſer Einblick in die Beziehungen zweier ſpezifiſch verſchiedenen Albuminate bei den Ernährungsvorgängen wird dadurch ſo ſehr getrübt und erſchwert, daß wir dieſe Vor— gänge immer nur bei den höchſten, einen äußerſt complizirten Zellſtaat bildenden Organismen ſtudiren. Wir haben uns deshalb daran gewöhnt, bei dem Wort „Verdauung“ an die ganze Maſchinerie von Darmdrüſen, Verdauungsfäften, niſche Verdauungsarbeit ꝛc. zu denken und vergeſſen ganz, daß ein Protiſt, der nichts anderes iſt als eine lebendige Eiweißmembran, ebenſogut eine andere, Eiweißmembran d. h. eine Diatomee oder ein Geißel- oder Flimmerinfuſorium frißt und verdaut, daß alſo die Verdauungsfähigkeit eine elementare Eigenſchaft des Proto— plasmas d. h. wahrſcheinlich jeder leben— digen Eiweißmembran iſt. Wir finden es völlig begreiflich und eigentlich gar nicht des Beſprechens werth, daß die Katze die Maus frißt und ver— daut, und belächeln die Frage, warum frißt nicht umgekehrt die Maus die Katze? Es iſt zu augenſcheinlich, daß der Proto- plasmaſtaat, den wir „Katze“ nennen, dem Protoplasmaſtaat „Maus“ ſo ſehr über— legen iſt wie ein Großſtaat einem Klein- allein neben dieſem ſociologi-⸗ ſtaat; ſchen Mißverhältniß iſt denn doch noch zu unterſuchen, ob die Katze über die Maus auch noch eine elementare d. h. in der ſpe⸗ Jäger, Phyſiologiſche Briefe. mecha- ebenfalls lebendige zifiſchen Qualität ihres Protoplasmas lie— gende Ueberlegenheit beſitzt. Dieſe Frage wird uns nicht nur durch das Verhältniß nahe gelegt, in welchem die Protiſten und Unicellulaten zu ein- ander ſtehen, ſondern auch durch die bio— logiſchen Beziehungen und durch die Rolle, welche hierbei gerade die ſpezifiſchen Stoffe d. h. die ſchmeckenden und riechen— den ſpielen. Wir wiſſen daß ein Thier für's erſte nur ſolche Gegenſtände frißt, die riechen und ſchmecken (die Aus— nahme, daß die körnerfreſſenden Vögel auch Quarzkörner verſchlucken, ſtößt dieſe Regel nicht um), und fürs zweite nur ſolche Gegen— ſtände, welche einen beſtimmten d. h. ſpe— zifiſchen Geſchmack und Geruch beſitzen, der wiederum eine ganz beſtimmte Qualität, nämlich die des Angenehmen haben muß; eine Qualität, welche nichts dem ſchmeckenden und riechenden Stoff abſolut Zukommendes, ſondern nur der Aus— druck für ein Gegenſeitigkeits ver— hältniß iſt. Die Kehrſeite zu der Thatſache, daß ein Thier nur frißt, was gut ſchmeckt und gut riecht, iſt die bisher faſt gar nicht er— örterte, aber ebenſo feſtſtehende Thatſache, daß die Geſchmack- und Geruchſtoffe, die ein Raubthier produzirt, auf ſein Beute— thier den gerade entgegengeſetzten Eindruck machen: ſie wirken auf daſſelbe un— angenehm, abſtoßend, ekelerregend. Wenn die Biologen ſagen: Das Thier flieht ſeinen Feind inſtinktmäßig, ſo ſage ich beſtimmter: es flieht ihn, weil er „ſtinkt“. Daraus ergiebt ſich nun, daß die ſpezifiſchen Geſchmack- und Geruchſtoffe in ganz beſtimmte Beziehungen treten, wenn zwei verſchiedene auf einander treffen: Die einen wirken als Ekelſtoff, die andern entgegengeſetzt als Lüſtern⸗ 188 RT heitsſtoff. Damit iſt jedoch nur die eine Beziehungsart zwiſchen den ſpezifiſchen Stoffen gekennzeichnet, die zweite Beziehungs— art iſt die der Indifferenz d. h. die Stoffe wirken gar nicht auf ihre Erzeuger, ſind alſo befreundete oder Freund— ſchaftsſtoffe. Suchen wir dieſe Beziehungsart in die chemiſche Sprache zu überſetzen, ſo können wir etwa ſo ſagen: Wenn zwei verſchiedene Albuminate auf einander treffen, ſo hängt das Ergebniß (abgeſehen von der Lebens— frage) davon ab, wie ſich die ſpezifiſchen Atomgruppen zu einander verhalten; ſind ſie gleich, ſo wirken ſie gar nicht auf ein— ander ſchemiſcher Horror gegen Auto— phagie, Freundſchaftsverhältniß); ſind ſie verſchieden, ſo iſt die mächtigere Atomgruppe der Ekelſtoff, die ſchwächere der Lüſtern— heitsſtoff; die erſtere verdrängt zunächſt die letztere (Verdauung und Pepton— bildung) und ſetzt ſich an ſeine Stelle (Aſſimilation), ähnlich, aber uicht ſo direkt wie eine ſchwächere Säure durch eine | ſtärkere verdrängt wird. Dabei muß aber bemerkt werden, daß es durchaus nicht gleichgültig iſt, ob die beiden in Kampf tretenden Albuminate todt oder lebendig ſind. mechaniſche Kraft. Greifen wir aus dieſer Caſuiſtik einige Verhältniſſe heraus: 1) Beide Albuminate find todt. In dieſem Fall wird nichts geſchehen, was uns für unſere Frage intereſſirt. 2) Das eine iſt todt, das andere lebendig. Hier ſind wieder zwei Fälle zu unterſcheiden: a) Iſt der Träger des Lü weil es durch Erſtickung getödtet wird und ſternheitsſtoffes todt, der Ekelſtoffträger lebendig, ſo wird der erſtere natürlich ohne weiteres verdaut und reſorbirt; b) iſt der Ekelſtoffträger todt und der Lüſternheits— ſtoffträger lebendig, ſo kann dreierlei ein— treten: der erſtere kann, wenn der Efelftoff, Jäger, Phyſiologiſche Briefe. 23 der ja auch ſchon jetzt frei im Albuminat liegt und auch bei der Peptonbildung ab— geſchieden wird, den Lüſternheitsſtoffträger noch im Tode überwältigen, in dieſem Falle nennen wir den Ekelſtoffträger ein Gift. Die zweite Möglichkeit iſt, daß der Lüſtern— heitsſtoff nicht kräftig genug iſt, um den Ekelſtoff auch im todten Zuſtande auszu⸗ treiben, dann läge das Verhältniß der Unverdaulichkeit vor; der dritte Fall iſt, daß die Verdauung doch gelingt, weil bei dem Lüſternheitsträger der Faktor des Lebendigſeins gegenüber dem todten Ekelſtoffträger zur Geltung kommt und zwar durch elektrolytiſche Austreibung und Zerſtörung des Ekelſtoffes. 3) Sind beide Albuminate lebendig, ſo handelt es ſich um einen Albuminat— kampf, der mit zweierlei Waffen, nämlich mit chemiſchen und phyſikaliſchen geführt wird. Es wird nicht blos Ekelſtoff gegen Lüſtern- heitsſtoff ins Feld geführt, ſondern auch elek— trolytiſche Kraft gegen elektrolytiſche Kraft, und mechaniſche Kraft (Contraktilität) gegen Das Reſultat iſt wie bei jedem Kampf, daß der ſchwächere Theil unterliegt und in dieſem Falle wird er auch noch gefreſſen. Alſo hier entſcheidet die chemiſche Differenz nicht immer unbedingt direkt, ſondern auch indirekt da- durch, daß ſie die Grundlage phyſikaliſcher Differenzen iſt. Wenn z. B. das hochamöboide Protoplasma eines Protiſten eine Diatomee oder ein Infuſorium umfließt und einkapſelt, ſo nützt letzterem auch eine allenfallſige chemiſche Ueberlegenheit ſchließlich nichts, jetzt eine ſeiner Waffen d. h. feine phyſika— liſche, verloren hat. Hier ſoll eine, wie mir ſcheint, unter obigen Geſichtspunkt fallende Beobachtung angeführt werden. £ 7 {a 9 u W ER n ur 24 Jäger, Phyſiologiſche Briefe. Die Ophthalmologen haben wiederholt die Bindehaut eines lebenden Kaninchens auf das Auge eines lebenden Menſchen transplantirt. Sie wächſt an, bleibt leben— dig und wird zum Schluß doch regel— mäßig verzehrt. Es wäre nun von höchſtem Intereſſe für die Theorie der all— gemeinen Zoologie, zu wiſſen, wie die Sache zu erklären iſt und zu dieſem Zweck kom— parative Transplantationsverſuche, nament— lich zwiſchen Raubthieren und ihren Beute— thieren übers Kreuz zu machen, um zu ſehen, ob es ſich hier um den Fall einer elementaren Ueberlegenheit des einen Albuminats über das andere, alſo um den Fall, den ich oben unter Nr. 3 beſprochen habe, handelt. Jedenfalls begründet das Gegenſtück zu obigem Transplantationser— gebniß, die erfolgreiche und dauerhafte Trans— plantation, wenn man den aufs oder ein- zuheilenden Theil dem gleichen Thiere oder wenigſtens der gleichen Thierart entnimmt, den Verdacht, daß nicht etwa eine mit der Operation nothwendig verbundene Schä— digung der Lebensenergie die Reſorption der aufgepflanzten Kaninchenbindehaut ver— ſchuldet, ſondern wahrſcheinlich die ange— borene chemiſche Differenz zwiſchen Meuſchen— eiweiß und Kanincheneiweiß. Sollte dieſe meine Auffaſſung ſich be— ſtätigen, was ja durch Experimente ge— ſchehen kann, ſo wäre das ein nicht zu unterſchätzender Fortſchritt zu Gunſten einer mechaniſchen Anſchauung der Lebenser— ſcheinungen und zunächſt ein Verſtändniß der Vererbung. Denn wir hätten jetzt eine völlige Erklärung des Nahrungsin— ſtinktes, alſo einer der merkwürdigſten der ererbten Eigenſchaften. Das unendlich komplizirte biologiſche Getriebe, das von den ſpezifiſchen Nahrungsinſtinkten ausgeht, würde ſich in das merkwürdig einfache und dem chemiſchen Verſtändniß ſehr nahe ge— rückte Geſetz auflöſen, daß das ſtärkere Albuminat ſtets Jagd auf das ſchwächere macht, letzteres das erſte ſtets flieht und daß gleichſtarke Albu— minate ſich indifferent gegen einander verhalten. Wir müſſen nun aber die vorgelegte Anſchauung in einem Punkte noch etwas genauer präciſiren. Die Phyſiologie lehrt uns, daß zur Eiweißverdauung ein be ſtimmtes Ferment, das Pepfſin gehört, daß dieſes von gewiſſen Drüſen des Darm— ſchlauches abgeſondert wird und daß dieſes durchaus nicht identiſch mit den ſpezifiſchen Geſchmack- und Geruchſtoffen iſt. Dadurch erweitert ſich unſere Vor— ſtellung von dem Eiweißmolekül dahin, daß es außer ſeinem Peptonkern und den rie— chenden und ſchmeckenden Atomgruppen noch eine dritte Atomgruppe beſitzt, die bei ihrer Loslöſung aus dem Molekül als eiweiß— zerlegendes Ferment (Pepſin) wirkt. Iſt nun meine Lehre vou der Spezi— fität der Albuminate und dem elementaren Albuminatkampfe richtig, jo muß die Fähig⸗ keit der Pepſinbildung eine elementare Eigenſchaft aller Protoplasma— arten ſein und nicht eine ſpezifiſche ge— wiſſer Drüſenprotoplasmen. In der That hat man auch bereits in den Muskeln Pepſin nachweiſen können, und die Angabe der Phyſiologie, daß alle Albuminate die Rolle von Fermenten ſpielen können, wäre dahin zu erweitern, daß jedes Albuminat pepſigen iſt. Jetzt würde ſich der oben beſprochene Kampf zweier ungleich ſtarken Albuminate ſo ausnehmen: SP Das ſchwache Albuminat erregt durch die bei ſeiner Zerſetzung frei werdenden Lüſternheitsſtoffe das ſtärkere zu ver— Zunahme eines Jäger, Phyſiologiſche Briefe. mehrter phyſiologiſcher Thätigkeit (Be— ſchleunigungs reiz). Die Folge dieſer Thätigkeit im ſtärkeren Protoplasma iſt eine Zerſetzung eines Bruchtheils ſeiner Eiweißmoleküle (Albuminatabnutzung). Hier— bei ſpaltet ſich das Albuminat in dreierlei Atomgruppen, die Ekelſtoffe, das pepſinartige Ferment und einen Kern (Peptonkern), der durch weitere Zer— ſetzung die bekannten Amidoſäuren, Amide und verwandte Stoffe der rückſchreitenden Metamorphoſe liefert, die den Körper ver— laſſen. Der Ekelſtoff wirkt zuerſt als Läh⸗ mungsreiz auf das ſchwächere Protoplas— ma und erſt, wenn das geſchehen iſt, thut das Pepſin ſeine Schuldigkeit als eiweiß— zerſetzendes Ferment und verwandelt das ſchwächere Albuminat in Pepton, wobei es entſpezialiſirt wird. Bei der Aſſimila— tion bemächtigt ſich dann der freigewordene Ekelſtoff direkt oder auf Umwegen des gebildeten Peptons. Hier iſt nun die Thatſache beizufügen, daß niemals alles Pepton zur Aſſimilation gelangt, denn die wachſenden Thieres an Albuminatgewicht bleibt ſtets weit hinter der Maſſe des in der Nahrung aufge— nommenen Albuminates zurück. Es ergiebt ſich die Nothwendigkeit dieſer Thatſache auch einfach aus folgendem: Wenn meine Anſchauung richtig iſt, daß die Aſſimilation gleichbedeutend iſt mit einer Syntheſe von Pepton und den Ekelſtoffen, ſo können letztere nur ſo viel Pepton ſättigen, als ſie geſättigt hatten, ſo lange ſie im Eiweißmolekül des Nahrungsnehmers ſich befanden. Sonach könnte die Menge des durch Aſſimilation gewonnenen Eiweißes nie mehr betragen, als die zur Verdauungs- arbeit nöthige Albuminatabnutzung des ſtär⸗ keren Albuminates betrug; ja nicht einmal jo viel, weil bei der flüchtigen und diffu- ſibeln Natur der Efelftoffe jedenfalls ſtets ein Theil verloren geht. Dem ſteht die Thatſache entgegen, daß das Ergebniß der Aſſimilation wenigſtens in der Wachsthumsperiode eine Maſſezu— nahme iſt. Hieraus erhellt, daß es außer der Freimachung der Efelftoffe bei der Al— buminatzerſetzung noch eine Quelle für ihre Neubildung geben muß. So wie die Sache liegt, können wir nur vermuthen, daß dieſe Quelle die Lüſternheitsſtoffe des ſchwächeren Albuminats ſind, die bei der Peptonbildung freigemacht wurden. Somit würde dann in letzter Juſtanz es ſich auch noch um eine der Eiweißaſſi— milation vorausgehende Aſſimilation der ſpezifiſchen Schmeck- und Riechſtoffe handeln, ein Vorgang, der jedenfalls chemiſch nicht undenkbar iſt, allein bei unſerer Unkenntniß von der Natur der ſpezifiſchen Geſchmack— und Geruchſtoffe uns vorläufig ein Räthſel bleibt. Es erübrigt jetzt noch die nähere Prä— ziſirung eines zweiten Ausſpruchs, den ich über die ſpezifiſchen Geſchmack- und Ge— ruchſtoffe gethan habe, daß ſie nämlich auch die Träger des Fortpflanzungs in- ſtinktes ſeien. Ich will jedoch dieſe Erör— terung für einen folgenden Brief aufſparen. Die Urkunden der Atammesgelchichte. Von Ernſt Haeckel. or auf Die 10 0 . der Wiſſenſchaft, und vor allen der Naturgeſchichte ausübt, hat auf keinem derſelben raſcher gewirkt und reichere Früchte hervorgerufen, als auf dem Gebiete der organiſchen Morphologie, der Formenlehre der Thiere und Pflanzen. Hier ſind zu— nächſt in Folge der neu begründeten Ab- ſtammungslehre verſchiedene wichtige Zweige der Forſchung, welche bis dahin mehr oder minder getrennt neben einander liefen, in die innigſte Verbindung und Wechſelwir— kung getreten. Innere und äußere Form— betrachtung, vergleichende Anatomie und Syſtematik, Embryologie und Paläontologie haben ſich in dem erklärenden Lichte der Deſcendenz-Theorie als innig verbundene Wiſſenſchaftsfächer erkannt, welche auf ver— ſchiedenen Wegen nach einem und demſelben Ziele hinſtreben, nach dem Verſtändniß der organiſchen Formen durch die Erkenntniß ihrer hiſtoriſchen Entſtehung. Daraus aber hat ſich eine neue Wiſſenſchaft entwickelt, welche unmittelbar die Erkenntniß dieſer urſprünglichen Entſtehung im genealogi— ſchen Zuſammenhange der blutsverwandten Thiere und Pflanzen anſtrebt, und welche in dem Stammbaum derſelben das wahre „natürliche Syſtem“ der Formen zu entdecken trachtet; dieſe neue Wiſſen— ſchaft iſt die Stam mesgeſchichte oder Phylogenie. Jede neue Wiſſenſchaft hat zunächſt mit der Mißgunſt und Eiferſucht ihrer älteren Schweſtern zu kämpfen, welche von ihr eine Beeinträchtigung ihrer älteren, wohl— erworbenen Rechte fürchten, und zwar um ſo mehr, je höher die Aufgaben ſind, welche ſich der neue Ankömmling ſtellt, je weiter der Wirkungskreis, den er für ſich zu gewinnen ſtrebt. Da gilt es denn, die junge Kraft im harten Kampfe um's Daſein zu bewähren und gleich der jungen Keim— pflanze im dichtbeſäten Felde, Bodenraum, Licht und Luft den neidiſchen Schweſtern abzuringen. So hat eine der jüngſten und hoffnungsvollſten Wiſſenſchaften, die ver— gleichende Sprachforſchung, erſt in heißem Kampfe mit den älteren Disciplinen der Philologie ſich ihre Geltung erringen müſ— ſen. Und ſo iſt auch der Stammesgeſchichte, deren Ziele und Wege denen der ver— gleichenden Sprachforſchung nahe verwandt ſind, jener nothwendige Kampf um's Da- ſein nicht erſpart geblieben. Als wir vor zehn Jahren in der „ge— nerellen Morphologie“ den erſten Verſuch wagten, Begriff und Aufgabe der Stam— mesgeſchichte feſtzuſtellen, Ziele und Wege der Phylogenie abzuſtecken, da begegnete dieſer Verſuch faſt überall nur Mißtrauen und Achſelzucken, vielfach Hohn und An— feindung. Wie will dieſe anſpruchsvolle Stammesgeſchichte die Geheimniſſe der or— ganiſchen Schöpfung enthüllen? Wie will ſie die Abſtammung der zahlloſen Thier— und Pflanzen-Geſtalten von einfachſten ge— meinſamen Stammformen nachweiſen? Wie will ſie den hypothetiſchen Stammbaum der Organismen begründen? Und welche Urkunden ſtehen ihr bei dieſer praehiſtori— ſchen Geſchichtsforſchung zu Gebote? Solche und ähnliche Zweifel an der Möglichkeit, geſchweige denn am Erfolge der phylogene— tiſchen Forſchung wurden überall laut, und wer nicht näher mit dem Gebiete der or— ganiſchen Morphologie und mit dem un— geheuren Metall-Vorrath ihres noch unge— prägten Wiſſensſchatzes vertraut war, der konnte unſer Beginnen gleich von vornhe— rein für hoffnungslos und verfehlt er— klären. Und wie liegt die Sache heute, nach— dem kaum zehn Jahre verfloſſen ſind? Nun, wir dürfen wohl mit den Erfolgen dieſes erſten Decenniums der Phylogenie recht zufrieden ſein und uns das Gefühl des entſcheidenden Sieges über unſere Geg— ner wohl gönnen! Nicht allein iſt die Stammesgeſchichte allgemein in der „Na— turgeſchichte“, in der Biologie zu ſelbſtſtän— diger Geltung und Anerkennung gelangt, nicht allein bilden phylogenetiſche Vorſtel— lungen und Grundſätze bereits einen weſent— lichen Beſtandtheil der beſten Lehr- und m T— Häckel, Urkunden der Stammesgeſchichte. 27 | Handbücher, ſondern auch zahlreiche werth— volle Special-Forſchungen über einzelne Auf— gaben der Phylogenie ſind bereits begonnen und haben theilweiſe ſchon die glänzendſten Reſultate zu Tage gefördert. Ja, wir er— leben ſchon heute den Triumph, daß viele unſerer Gegner ſich völlig bekehrt haben und den ſchwierigen, von uns zuerſt betrete— nen, von ihnen für ungangbar erklärten Pfad nunmehr ſelbſt verfolgen. Die tüch— tigſten Zoologen und Botaniker aber haben die phylogenetiſche Methode einſtimmig an— genommen und durch Anwendung derſelben bereits Erfolge erlangt, deren ſie ohne die— ſelbe nimmermehr theilhaftig geworden wä— ren. Ja ſogar die „berüchtigten“ Stamm⸗ bäume, deren ſich die phylogenetiſche Spe— cialforſchung mit großem Nutzen als des einfachſten, klarſten und überſichtlichſten Ausdrucks ihrer heuriſtiſchen Hypotheſen bedient, find zu unerwartet raſcher Aner- kennung gelangt und werden allgemein in der Morphologie verwerthet. Zwar fehlt es auch heute noch nicht an Stimmen, welche alle dieſe phylogenetiſchen Beſtrebungen für leere Spielereien halten, und noch kürzlich konnten wir aus dem Munde angeſehener Phyſiologen hören, daß unſere „Stamm— bäume etwa jo viel werth find, wie in den Augen der hiſtoriſchen Kritik die Stamm— bäume homeriſcher Helden.“ Allein dieſe und ähnliche wegwerfende Aeußerungen be— weiſen nur, daß die betreffenden Phyſiolo— gen mit dem gegenwärtigen Zuſtande der Morphologie völlig unbekannt ſind, und von deren Inhalt und Bedeutung gar keine Vorſtellung haben. Auch iſt zwiſchen den Zeilen der ſtille Kummer zu leſen, daß die Phyſiologie in ihrer heutigen einſeitigen Richtung die Abſtammungslehre nicht zu ge— brauchen verſteht, während die Morphologie mittelſt derſelben die größten Reſultate er— A zielt hat. So wenig aber ſolche Ignoranten— Urtheile die Bedeutung der vergleichenden Anatomie ſchmälern, die ſeit 70 Jahren, oder der Syſtematik, die ſeit 140 Jahren feſte Wurzel gefaßt und Tauſende fleißiger Arbei— ter beſchäftigt hat, ſo wenig wird dadurch der Werth der Phylogenie beeinträchtigt, welche zugleich das jüngſte und das hoff— nungsvollſte Kind der wiſſenſchaftlichen Mor— phologie iſt. Immerhin iſt auch heute noch die Werthſchätzung der Stammesgeſchichte, ſo— wohl in den engeren Kreiſen der morpho— logiſchen Fachgenoſſen, als auch in den weiteren Kreiſen der gebildeten Laien ſehr verſchieden, und namentlich gehen die An— ſichten darüber weit auseinander, welchen Werth die empiriſchen Urkunden der Phy- logenie, und welche Sicherheit demgemäß die darauf gegründeten Hypotheſen und Stammbäume beſitzen. Daher erſcheint es wohl angemeſſen, an dieſem Orte einen prüfenden Blick auf die Urkunden der Stammesgeſchichte zu werfen und zu fragen, wie weit wir uns beim Ausbau unſerer phylogenetiſchen Hypotheſen auf „handgreifliche Thatſachen“ ſtützen können. Zwar haben wir unſere Anſichten über Werth und Bedeutung der verſchiedenen „Schöpfungs-Urkunden“ ſchon in unſerer „natürlichen Schöpfungsgeſchichte“ (VI. Auflge., 15. Vortrag) und „Anthropogenie“ (UI. Auflge., 15. Vortrag) ausgeſprochen. Allein gerade in neueſter Zeit gehen die Anſichten anderer Naturforſcher darüber noch ſehr auseinander und iſt es daher nicht überflüſſig, die einſeitige Ueberſchätz— ung oder Unterſchätzung der wichtigſten Ur— kunden auf ihren wahren Werth zurückzu⸗ führen. Im Grunde genommen, giebt es eigent— lich kein Gebiet der „Naturgeſchichte“, wel— 28 Häckel, Urkunden der Stammesgeſchichte. ches uns nicht mehr oder minder werth- volle Urkunden für unſere Stammesge— ſchichte lieferte. Nicht allein alle Zweige der Morphologie, ſondern auch verſchiedene Zweige der Phyſiologie — z. B. die Cho⸗ rologie, die Lehre von der geographiſchen und topographiſchen Verbreitung der Or— ganismen — liefern uns Thatſachen, welche wir mittelbar oder unmittelbar für die Phylogenie verwerthen können. Aber vor allen anderen Wiſſenſchafts-Zweigen treten doch drei als die vornehmſten und wichtig— ſten Stammesurkunden in den Vordergrund: Die vergleichende Anatomie, Onto— genie, und Paläontologie. Als die zuverläſſigſte und nächſtliegende aller Schöpfungs-Urkunden gilt noch heute vielfach die Paläontologie, die Ver— ſteinerungslehre. Denn die „Verſteine— rungen oder Petrefacten“ von Thieren und Pflanzen, die wir in den Sedimentgeſteinen, d. h. in den aus dem Waſſer abgelagerten Schichten unſerer Erdrinde vorfinden, ſind ja wirklich die verſteinerten Reſte oder Ab- drücke von jenen längſt ausgeſtorbenen Organismen, die vor Hunderttauſenden und vor vielen Millionen von Jahren unſeren Erdball bevölkerten. Unter dieſen müſſen ſich alſo, der Entwicklungslehre entſprechend, theils die wirklichen Vorfahren der heute noch lebenden Thier- und Pflanzen⸗ Arten, theils nähere oder entferntere Ver— wandte jener ausgeſtorbenen Vorfahren be— funden haben. Daher ſetzen denn auch viele Naturforſcher, und namentlich ſolche, welche gern möglichſt ſicher und exact gehen wollen, aber auch ſolche, welche der Paläontologie ferner ſtehen, auf ſie die größten Hoffnungen und betrachten fie als die einzige zuver— läſſige Urkunde der Stammesgeſchichte. Wie höchſt bedeutungsvoll und wichtig die Verſteinerungen als die wirklichen „Denk— ER A, ab Schritt für geſchichte vieler münzen der Schöpfung“ ſind, das iſt heute allgemein anerkannt. Sie allein belehren uns unmittelbar über das Auftreten und den hiſtoriſchen Formenwechſel der ver— ſchiedenen Thier- und Pflanzen-Klaſſen in der langen Reihenfolge der Schöpfungs— Perioden, die ſich auf Millionen von Jahren beziffern. Sie allein zeigen uns handgreif— lich, welchen Reichthum verſchiedener Arten die einzelnen Gruppen des Thier- und Pflanzenreichs in den verſchiedenen Ab— ſchnitten der Erdgeſchichte enthalten. Sie allein ſetzen uns in den Stand, uns ein allgemeines Bild von der charakteriſtiſchen Phyſiogonomie der Thier- und Pflanzen— Bevölkerung in den verſchiedenen Geſchichts— Epochen unſeres Planeten zu entwerfen. End- lich werden wir auch allein durch die Ver— ſteinerungen darüber belehrt, wie die ſpecielle Stammesgeſchichte einzelner Arten und Gat— tungen, der detaillirte Stammbaum der Species und Genera, Stufe für Stufe und - Zweig für Zweig zu verfolgen iſt. So find wir z. B. neuerdings durch überraſchende | paläontologiſche Entdeckungen in den Stand Pferdes bis zu tapirartigen Vorfahren hin— Schritt Ebenſo können wir auch die Ahnen Reihe unſres Rindes und unſres Schweines mit zu erkennen. geſetzt worden, den Stammbaum unſeres | Häckel, Urkunden der Stammesgeſchichte. 29 überſchätzt wird. Denn ſo werthvoll und unerſetzlich dieſe nächſte und ſicherſte aller Schöpfungs-Urkunden einerſeits an ſich auch iſt, ſo ſehr verliert ſie andrerſeits an Werth durch ihre außerordentliche Unvoll— ſtändigkeit. Dieſe beruht theils auf der Beſchaffenheit der Organismen, theils auf derjenigen der Geſteine, in denen ſie uns ihre verſteinerten Reſte und Abdrücke hinterlaſſen, theils auf der Natur des Ver— ſteinerungs-Proceſſes ſelbſt. Die große Mehrzahl aller organiſchen Formen iſt fo weich und zart, oder lebt unter ſolchen Verhältniſſen, daß fie nur ſelten oder nie eine brauchbare Verſteinerung hinterlaſſen kann. Ueber zahlreiche Claſſen von Thieren und Pflanzen, über die weichen Keime und Jugendzuſtände aller Organismen erfahren wir daher durch die Palä— ontologie Nichts oder faſt Nichts. Aber auch die harten und feſten Theile, welche allein der Verſteinerung fähig ſind, die Skelettheile, ſind in den verſchiedenen Thier⸗ gruppen von ſehr verſchiedenem Werthe. Daher ſind uns z. B. die Verſteinerungen der Wirbelthiere, Weichthiere und Stern- thiere ſehr werthvoll, während die ver— ſteinerten Ueberbleibſel und Abdrücke der meiſten Inſecten, Würmer und Pflanzen- I | thiere (die Korallen ausgenommen) von mehr oder minder Sicherheit eine Strecke ſehr geringer Bedeutung find. weit ſpeciell verfolgen. kalkſchaligen Mollusken, Auch die Stammes namentlichen der Ammoniten, iſt ſo bis zu einem befriedigenden Grade der Sicherheit im Einzelnen erkannt worden. Aber ſolche glänzende und handgreifliche phylogenetiſche Reſultate der Paläontologie | | | find leider nur ſehr feltene Ausnahmen, phylogenetiſche Urkunden— und im Allgemeinen können wir ſagen, daß der Zu dieſen großen Mängeln der palä⸗ ontologiſcen Stammes-Urkunde kommt ferner noch der Umſtand, daß alle älteren Sedimentgeſteine, alle vor der ſiluriſchen und cambriſchen Zeit abgelagerten Forma⸗ tionen, ganz oder größtentheils durch den Einfluß des glühendflüſſigen Erdinnern in einen kryſtalliniſchen Zuſtand verſetzt oder „metamorphoſirt“ ſind, ſo daß ſie nur ſehr wenige (oder gar keine) erkennbaren Ver⸗ Werth der Paläontologie weit ſteinerungen mehr enthalten. Daher dürfen PP, 5 30 Häckel, Urkunden der Stammesgeſchichte. wir von allen Ablagerungen der lauren— tiſchen Periode, jener ungeheuer langen Geſchichts-Periode, in der die organiſche Welt ſich zu entwickeln begann und bis zur Sonderung der größeren Hauptgruppen des Thier- und Pflanzen-Reichs vorſchritt, überhaupt keinen Aufſchluß von den Ver— ſteinerungen erwarten, und ſolche lauren— tiſchen Petrefacten, wie das bedeutungsvolle und vielbeſprochene Eozoon, find leider nur ſeltene Ausnahmen. Uebrigens finden ſich auch in vielen anderen Formationen, welche zahlreiche Petrefacten enthalten, die letzteren in fo ſchlechtem und unkenntlichem Erhaltungs- Zuſtande, daß ſie für unſere Stammes— geſchichte ohne Werth ſind. Dieſe und andere Verhältniſſe, welche in der Natur der Organismen und des Verſteinerungs-Proceſſes, ſowie in den Be— dingungen der Geſteinbildung ſelbſt begründet find, drücken die Bedeutung der paläonto— logiſchen Schöpfungs-Urkunde außerordent— lich herab und nöthigen uns zu der Ueber— zeugung, daß wir über die große Mehr— zahl der Thier- und Pflanzen-Arten, die auf unſerem Erdball gelebt haben, niemals etwas durch die Verſteinerungen erfahren werden. Freilich iſt bis jetzt kaum der größere Theil von Europa und Nord-Amerika ge— nauer in Bezug auf ſeine Petrefacten un— terſucht; die übrigen Erdtheile ſind größ— tentheils noch unerforſcht, und wir dürfen erwarten, daß deren genauere paläontolo— giſche Unterſuchung uns noch mit ſehr vie— len und wichtigen foſſilen Reſten bekannt machen wird. Aber in keinem Falle werden dieſelben je im Stande ſein, alle jene be— dauerlichen Lücken auszufüllen und die ganze Stammesgeſchichte auf ununterbrochene Reihen von Verſteinerungen unerſchütterlich feſt zu begründen. Dazu bedürfen wir ganz anderer und überzeugenderer Stammes⸗ Urkunden, und dieſe finden wir theils in der vergleichenden Anatomie, theils in der Ontogenie. Die vergleichende Anatomie der Thiere und Pflanzen erkennt im in— nern Bau derſelben gewiſſe charakteriſtiſche Verhältniſſe, namentlich in der relativen Lagerung und Anordnung der Organ-Sy— ſteme, welche allen Angehörigen einer na— türlichen Hauptgruppe, eines „Typus“, ge— meinſam ſind, trotz der größten äußeren Formverſchiedenheit. Die Zahl dieſer Haupt— gruppen oder „Typen“ iſt im Thierreich wie im Pflanzenreich nur ſehr gering; hier wer— den gewöhnlich nur drei bis vier, dort ſechs bis acht Typen unterſchieden. Nur innerhalb jedes Typus gilt eine ſtrengere morphologiſche Vergleichung aller Körpertheile als zuläſſig; nur innerhalb jedes Typus ſpricht man von wahrer „Formverwandtſchaft“. Dieſe innere und weſentliche Gemeinſamkeit des Körperbaues, welche in merkwürdigem Gegenſatze zur Mannigfaltigkeit der äuße— ren Geſtaltung ſteht, erklärte die ältere ver— gleichende Anatomie durch die myſtiſche An— nahme einer „Einheit des Bauplanes“ oder des Schöpfungsplanes. Seit der Reform der Abſtammungslehre hingegen erklären wir dieſelbe ganz einfach und naturgemäß durch die gemeinſame Abſtammung von einer Stammform. Dieſe Stammform übertrug alle weſentlichen Characterzüge ihres inneren Körperbaues durch Verer— bung mehr oder minder getreu auf ſämmt— liche Nachkommen, während dieſe durch fortgeſetzte Anpaſſung die mannigfaltig- ſten Verſchiedenheiten in der äußeren Ge— ſtalt und in den unweſentlichen Structur— Verhältniſſen erwarben. Jeder „Typus“ wird dadurch zu einem „Stamm oder Phylum“. Die typiſche Formverwandt— ſchaft wird zur realen (durch Vererbung bedingten) Blutsverwandtſchaft. Der ver- gleichenden Anatomie aber fällt die Auf— gabe zu, die wahre Formverwandtſchaft von der ſcheinbaren zu unterſcheiden, und nachzuweiſen, wieviel von der Aehnlichkeit verwandter Formen durch Vererbung von gemeinſamen Stammformen, wieviel durch Anpaſſung an gleiche Lebens- Bedingungen zu erklären iſt. Die morphologiſche Ver— gleichung ſondert ſich dadurch ſtrenger in Homologie und Analogie. Homolog ſind ähnliche Organe, welche aus einer und der— ſelben gemeinſamen Stammform durch Um— bildung zu verſchiedenen Functionen entſtanden ſind; analog ſind ähnliche Organe, wel che aus verſchiedenen Stammformen durch Anpaſſung an gleiche Funktionen entſtanden ſind. Homolog ſind die Bruſtfloſſen der Fiſche, die Flügel der Vögel, die Vorder— beine der Säugethiere und die Arme des Menſchen; der Fiſche, der Krebſe und der Floſſen— ſchnecken, oder die Vorderbeine der Säuge— thiere und Inſecten. Nun wiſſen wir ſchon lange, daß in— nerhalb jedes Typus oder Phylum (3. B. innerhalb des Wirbelthier-Stammes) lange Stufen⸗Reihen von niederen zu höheren, von unvollkommenen zu vollkommenen, von einfachen zu zuſammengeſetzten Formen hinführen. Welche lange Reihe fortſchrei— tender Entwickelung aller Organe, z. B. vom niederſten bis zum höchſten Wirbel— thiere, vom Amphioxus bis zum Menſchen! Dieſe Stufenreihen find aber nicht einfach, leiterförmig, ſondern verzweigt, baumför— mig, indem von den einfachen gemeinſamen Urformen aus ſich die fortſchreitende Ver— vollkommnung nach verſchiedenen Richtun— gen hin in verſchiedener Weiſe vollzieht. Dieſe baumförmige Anordnung der Häckel, Urkunden der Stammesgeſchichte. analog ſind die Flügel der Vögel und der Inſecten, oder die Floſſen verwandten Formen, welche das Syſtem der Thier- und Planzen-Gruppen unter der ordnenden Hand der vergleichenden Anatomie gewinnt, deutet nun die Ent- wicklungslehre in realer Weiſe als den Stammbaum derſelben. Freilich iſt die— ſer Stammbaum, der das natürliche Syſtem der Organismen darſtellt, nie— mals mit abſoluter Sicherheit, ſondern im— mer nur annähernd feſtzuſtellen; das liegt jedoch in der Natur der Sache und vermin— dert den Werth deſſelben nicht. Darüber gehen nun aber die Anſichten der verſchiedenen Morphologen auch noch heutzutage ſehr weit auseinander, welchen Werth die vergleichende Anatomie für den Aufbau des natürlichen Syſtems beſitzt und wie weit ſie berechtigt iſt, daſſelbe wirklich als hypothetiſchen Stammbaum zu geſtalten. Einige ſchreiben ihr hier die höchſte, andere die geringſte Bedeutung zu, und noch andere, in der Mitte ſtehend, wollen ihr einen mittleren Grad von Glaub— würdigkeit beimeſſen. Das liegt weſent— lich in der verſchiedenen Begabung und Faſſungskraft der betreffenden Morpholo- gen. Beſchränkte Köpfe und kurzſichtige Bes obachter, die ſich immer nur an die nächſt— liegenden und greifbaren Thatſachen halten, ſind nicht im Stande größere Maſſen von verwandten Form-Erſcheinungen fo zu über- blicken, wie es die vergleichende Anatomie erfordert; ſie können auch nicht das We— ſentliche vom Unweſentlichen, das Bedeu— tende vom Zufälligen unterſcheiden. Solche enge und kleine Geiſter (die dabei vortreff— liche Special-Arbeiter und Handlanger der Wiſſenſchaft ſein können), werden die Be— deutung der vergleichenden Anatomie niemals würdigen und ihr die phylogenetiſche Bedeu— tung mehr oder minder abſprechen. Hingegen wird dieſe voll und ganz gewürdigt werden 8 32 von philoſophiſchen Köpfen und von groß angelegten Naturen, welche jenes ganze un— geheure Erſcheinungs-Gebiet zu überſehen und dabei das Weſentliche vom Zufälligen zu ſcheiden im Stande ſind. Dieſe werden die vergleichende Anatomie für die wichtig— ſte von allen Urkunden der Stammesge— ſchichte halten und ihr beim Aufbau des natürlichen Syſtems die erſte Stelle an— weiſen. Aber auch dieſe Schöpfungs-Urkunde, ſo werthvoll ſie unſtreitig iſt, hat ihre Mängel, und dieſe ſind wieder zunächſt in der Un vollſtändigkeit des Materials begründet; dann aber auch in der Schwie— rigkeit, überall klar Homologie und Analo— gie zu unterſcheiden. Sehr viele wichtige Verbindungs⸗Glieder zwiſchen heutigen Le— bensformen ſind längſt ausgeſtorben und wir müſſen die beſtehende Lücke durch Ver- muthungen ausfüllen. Sehr viele anatomi— ſche Form-Verhältniſſe ſind ſo verwickelt, daß ſie überhaupt ſehr ſchwer phylogene— tiſch zu erklären ſind. So ſehr wir daher auch die Bedeutung der vergleichenden Ana— tomie als wichtigſter Stammes-Urkunde würdigen, und ſo ſehr wir ſelbſt der An— ſicht ſind, daß dieſelbe kaum überſchätzt werden kann, ſo ſehr müſſen wir doch an— dererſeits vor einer ganz ausſchließlichen und einſeitigen Verwendung derſelben war— nen. Und wenn neuerdings behauptet wor— den iſt, daß der vergleichenden Anatomie in phylogenetiſchen Fragen überall das erſte Wort und die entſcheidende Stimme zukomme, ſo können wir dieſe Anſicht nicht theilen. Vielmehr ſind wir der Anſicht, daß in vielen — und gerade in vielen der wich— tigſten — Fragen von noch höherer Be— deutung und von entſcheidendem Werthe die dritte unſerer drei Haupt-Urkunden iſt, die Ontogenie. Häckel, Urkunden der Stammesgeſchichte. Die Ontogenie oder Keimesge— ſchichte, wie wir kurz die „individuelle Entwicklungsgeſchichte“ nennen, wird in ihrem Werthe als Schöpfungs-Urkunde heute ſehr oft in ähnlichem Maße unter— ſchätzt, wie die Paläontologie überſchätzt wird. Ja wir erleben ſogar das ſonderbare Schauſpiel, daß viele „Embryologen“, viele Special-Forſcher, welche das Studium der Keimesgeſchichte zu ihrer Hauptaufgabe ge— macht haben, derſelben jeden phylogeneti— ſchen Werth abſprechen. Und doch wird derjenige, welcher dieſe Wiſſenſchaft mit Verſtändniß betreibt, und welcher ſich nicht mit der unterhaltenden Beobachtung der ontogenetiſchen Thatſachen begnügt, ſondern nach ihren phylogenetiſchen Urſa— chen fragt, ſicher zu der Ueberzeugung ge— langen, daß die Ontogenie zu den wichtig— ſten und bedeutungsvollſten Urkunden der Stammesgeſchichte gehört. Aber freilich iſt hier ebenſo, wie bei der vergleichenden Ana- tomie, unerläßlich, die empiriſchen For— ſchungen mit philoſophiſchem Geiſte zu be⸗ treiben und inmitten der bunten Erſchei— nungs⸗Welt nach den gemeinſamen Grund⸗ zügen der mannigfaltigen Entwickelungs— formen zu ſuchen. Hier wie dort iſt es vor Allem erforderlich, das Weſentliche vom Unweſentlichen, das Bedeutende vom Zu— fälligen ſcharf und klar zu trennen. Die phylogenetiſche Bedeutung der On— togenie — der Werth der Keimesgeſchichte als Stammesurkunde — iſt zunächſt darin begründet, daß jeder Organismus bei ſei— ner Entwickelung aus dem Ei eine Reihe von Formen durchläuft, welche in ähnlicher Reihenfolge ſeine Vorfahren im langen Verlaufe der Erdgeſchichte durchlaufen ha— ben. Die Keimesgeſchichte geſtaltet ſich da— her zum Miniaturbilde oder zum Auszuge der Stammesgeſchichte. Dieſe Vorſtellung 3 — — nennen —ͤ—⸗ — — Häckel, Urkunden der Stammesgeſchichte. 33 bildet den Inhalt unſeres bio genetiſchen Grundgeſetzes, welches wir als das wahre „Grundgeſetz der organiſchen Ent— wicklung“ an die Spitze der Entwicklungs— geſchichte ſtellen müſſen und welches wir als das höchſte Erklärungs-Princip für de— ren Verſtändniß für unentbehrlich halten. Jeder Fortſchritt in der Stammesgeſchichte, den unſere Vorfahren durch Anpaſſung an neue Lebensbedingungen bewirkten, und der eine neue Ahnenform in's Daſein rief, wird durch Vererbung in der entſpre— chenden Keimesgeſchichte noch heute wieder— holt; und wie noch heute jedes organiſche Individuum aus einer einfachen Eizelle ſei— nen Urſprung nimmt, ſo iſt auch die ge— meinſame Stammform aller Arten eines Stammes urſprünglich eine einfache Zelle geweſen. Nun iſt freilich nur in ſeltenen Fällen, nur bei wenigen niederen Organismen, die Wiederholung (oder Recapitulation) der Stammesgeſchichte, die wir in der Keimes- geſchichte mit Augen ſehen, ganz vollſtändig. In der großen Mehrzahl der Fälle iſt dieſe Wiederholung ſtark abgekürzt, oft auch abgeändert und ſehr häufig ganz ver— unſtaltet. Das liegt daran, daß die jugend— lichen Keime ſelbſt von Anbeginn der Ent— wicklung an dem umgeſtaltenden Einfluſſe der äußeren Exiſtenz-Bedingungen unterlie— gen und dieſen ſich anpaſſen. Durch dieſe „embryonalen Anpaſſungen“ werden ganz neue Bildungs⸗Elemente in den individuel- len Entwicklungs-Lauf eingeführt, welche den urſprünglichen Entwicklungsgang mehr oder weniger abändern. Insbeſondere fin— det ſehr häufig — um ſo mehr, je höher ſich der Organismus entwickelt — eine Abkürz ung der urſprünglichen Wieder— holung ſtatt, indem einzelne oder viele Ent- wicklungsſtufen ausfallen; anderemale frei- lich können auch umgekehrt ganz neue Ge— ſtaltungen in die ererbte Geſtalten-Kette eingeſchaltet werden. Wir können alle dieſe ſpäteren Abänderungen des urſprünglichen, palingenetiſchen Entwicklungsganges mit einem Worte kurz als „Fälſchungen“, als cenogenetiſche Modificationen des— ſelben bezeichnen. Demnach zerfallen alle Erſcheinungen, welche wir im Laufe der individuellen Ent- wicklung der Thiere und Pflanzen, von der Eizelle an bis zur vollendeten Aus— bildung der Geſtalt, wahrnehmen, in zwei große Gruppen, in palingenetiſche (oder auszugsgeſchichtliche) und incenogenetiſche (oder fälſchungsgeſchichtliche) Thatſachen. Nur die ontogenetiſchen Thatſachen der Palin— genie oder der „Auszugsgeſchichte“ ſind unmittelbar als Urkunden der Stammes— geſchichte zu verwerthen und auf entſprechende — Vorgänge in der Phylogenie zu beziehen. Hingegen haben die ontogenetiſchen Er— ſcheinungen der Ceno genie oder der „Fälſchungsgeſchichte“ nicht nur keine ſolche phylogenetiſche Bedeutung, ſondern ſind ge— rade umgekehrt Irrlichter, deren falſchem Scheine zu folgen wir uns wohl hüten müſſen. Das biogenetiſche Grundgeſetz müſ— ſen wir daher jetzt ſchärfer mit folgenden Worten formuliren: „Die Keimesge— ſchichte iſt ein Auszug der Stam— mesgeſchichte; um ſo vollſtändi— ger, je mehr durch Vererbung die Auszugsentwicklung beibehalten wird, um ſo weniger vollſtändig, je mehr durch Anpaſſung die Fälſchungsentwicklung eingeführt wird.“ Wie das fo formulirte Grund— geſetz der organiſchen Entwicklung ſeine Verwendung findet, und wie wir mit ſei— ner Hülfe aus den unmittelbar zu beob— achtenden Erſcheinungen der Keimesgeſchichte TEE u RER, Filet ar 3 1 nn . Häckel, Urkunden der die wichtigſten Schlüſſe auf die hypotheti— ſchen Vorgänge der Stammesgeſchichte zie— hen können, das haben wir uns bemüht an dem Beiſpiele des Menſchen in unſerer „Anthropogenie“ nachzuweiſen. Wenn wir nun auch demgemäß die Ontogenie oder die Keimesgeſchichte für die wichtigſte und unentbehrlichſte von allen Urkunden der Stammesgeſchichte halten, ſo wollen wir damit doch keineswegs den ho— hen Werth ſchmälern, welchen auch die an— deren Urkunden und vor allen die ver— gleichende Anatomie beſitzen. Ohne die Hülfe der letzteren würden wir die Er— ſcheinungen der Keimesgeſchichte nicht ent— fernt ſo klar zu verſtehen und ſo ſicher zu verwerthen im Stande ſein, wie es that— ſächlich der Fall iſt. Vergleichende Anatomie und Ontogenie ergän— zen ſich gegenſeitig in der glücklichſten Weiſe und füllen ihre Lücken wechſelſeitig aus. Wenn daher neuerdings einige Mor— phologen ausſchließlich die vergleichende Anatomie und andere die vergleichende Keimesgeſchichte als einzige ſichere Urkun— de der Stammesgeſchichte betrachten, ſo müſſen wir beide Standpunkte für gleich einſeitig und mangelhaft halten. Nur durch volle und gleichmäßige Berückſichtigung bei— der Haupturkunden werden wir in den Stand geſetzt, die Stammesgeſchichte der Organismen zu erkennen. Freilich ſetzt das aber voraus, daß man mit den reichen empiriſchen Schätzen beider Wiſſenſchaf— ten gleichmäßig vertraut iſt, und das iſt eben bei jenen einſeitigen Naturforſchern nicht der Fall. Soviel ſteht gegenwärtig unzweifelhaft feſt, daß uns für den Ausbau der Stam— mesgeſchichte ein äußerſt reichhaltiger Schatz von empiriſchen Urkunden, von ſicheren Er- fahrungs-Kenntniſſen zu Gebote ſteht, der Stammesgeſchichte. nur gehoben und verwerthet zu werden braucht, um in ſeiner vollen Bedeutung erkannt zu werden. Nicht darum handelt es ſich, neue und unbekannte Quellen für die Stammesgeſchichte der Organismen — und alſo auch des Menſchen — zu ent- decken, ſondern darum, die vorhandenen Quellen zu verſtehen und auszubeuten. Reichere und bedeutungsvollere Quellen als die vergleichende Anatomie und Ontogenie werden niemals entdeckt werden, und mit ihrer Hülfe allein ſchon find wir im Stan— de, die neue Wiſſenſchaft der Phylogenie zu begründen, ſelbſt wenn wir ganz auf die weniger bedeutenden Quellen verzichten, welche uns aus der Palaeontologie, aus der Chorologie und anderen Hülfswiſſen⸗ ſchaften fließen. Wenn aber Manche — und darunter ſelbſt einzelne namhafte Na⸗ turforſcher — meinen, daß die ganze Stammesgeſchichte ein Luftſchloß und die Stammbäume leere Phantaſie-Spiele ſeien, ſo bekunden ſie damit nur ihre Unkenntniß jener reichen empiriſchen Erkenntniß-Quel⸗ len. Ziele und Wege der Phylogenie ſind dieſelben, wie die der Geologie. Und wie ſich die „hypothetiſche“ Ent— wickelungsgeſchichte der Erde auf Grund ihrer empiriſchen Urkunden zu einem eben jo feſten als glänzenden wiſſenſchaftlichen Hypotheſen-Bau geſtaltet hat, fo wird das— ſelbe auch ihrer jüngeren Schweſter, der Stammesgeſchichte der Organismen gelingen. So wenig als die letztere, ſo wenig kann und wird ſich auch jemals die erſtere zu einer wirklich „exacten“ Naturwiſſenſchaft geſtalten. Denn die hiſtoriſchen Vorgänge, deren Zuſammenhang beide Wiſſenſchaften zu ergründen ſtreben, haben ſich viele Millionen von Jahren hindurch vollzogen und ſind unſerer unmittelbaren Beobachtung Kr fe, naunden der Siammesgesißte > 95 1 Er entrückt. Daher find. ſowohl die | gie als die erden der Natur Henker heute 1 5 anerkannt und für die Entwickelungsgeſchichte des Erdballs be⸗ nutzt wird, ſo vollzieht ſich auch täglich s die Anerkennung des unſchätzbaren Werthes, welchen unſere morphologiſchen Urkunden für die Stammesgeſchichte der 1 Organismen beſitzen. aum ein andrer Gegenſtand des „T emenſchlichen Sinnens iſt beſſer I dazu geeignet, den Werth einer einheitlichen Weltanſchauung und die Fortſchritte der letzten Jahre! in derſelben lebendig vor unſer Auge zu führen, als eine Betrachtung der wiſſen— ſchaftlichen Behandlung obengenannter Grund— probleme vor einigen hundert Jahren. Ich meine nicht die rein theologiſche Behandlung dieſes Gegenſtandes, denn der Buchſtaben— glaube hat für derlei ſchwierige Fragen zu allen Zeiten mit gleicher Leichtigkeit die Antwort ge— funden, ich denke vielmehr an das redliche Ueberlieferung, Verſtand und Befund mit ein— ander in Harmonie zu bringen. In dieſer Bes ziehung ſcheint mir ein Buch von Abraham Milius, welches unter dem Titel: de origine animalium et migratione popu- lorum, d. i. Merckwür diger Diskurß von dem Urſprung der Thier und Außzug der Völcker im Jahre 1670 zu Salzburg und zwar mit hoher Appro- bation des dortigen Erzbiſchofs erſchienen iſt, eine eingehende Betrachtung zu ver— dienen, einmal, weil es, wie kein andres Se Bemühen und geiſtige Ringen ehrlicher Leute, Achöpfungsgeſchichte und Chorologie vor zweihundert Jahren. Von Carus Sterne. Buch, zeigt, zu welchem Flickwerk die Welt⸗ anſchauung herabſinkt, wenn Vernunft und Ueberlieferung einander Complimente und Zugeſtändniſſe machen, beſonders aber, weil es den mächtigen Eindruck ſpiegelt, welchen die Entdeckung Amerika's und Auſtraliens mit ihrem Reichthum unbekannter Thiere und Pflanzen auf die herkömmliche Welt— anſchauung übte, die ſelbſt durch die Ent— deckungen des Kopernikus und Kepler nicht aus ihrem mehrtauſendjährigen Schlum—⸗ mer geſchreckt worden war. Ich bemerke, daß das urſprünglich in lateiniſcher Sprache geſchriebene Buch mir nur in der deutſchen Ueberſetzung des öſter— reichiſchen Kreisphyſikus Chriſtoph Bitter— kraut, die grade vierhundert Druckſeiten umfaßt, zugänglich war, wobei in Anbe— tracht des damaligen, überaus freien, ja willkürlichen Ueberſetzer-Verfahrens vielleicht mancher Widerſpruch des Textes auf den Collaborator geworfen werden darf. Ueber Stand und Leben des Autors, ſowie über das Erſcheinungsjahr des Originals habe ich leider nichts in Erfahrung bringen kön⸗ nen. Zunächſt überraſcht es uns ebenſo unvermuthet als angenehm, in einem von der kirchlichen Behörde gebilligten Buche des ſiebenzehnten Jahrhunderts einer viel freieren Bibelauslegung zu begegnen, als ſie heute in denſelben Kreiſen für erlaubt gelten würde. Der Verfaſſer beginnt viel— verſprechend mit einer Lobrede auf die menſchliche Vernunft, die ſich weder treiben, noch anfeſſeln laſſe, ſondern unbeirrt ihrem Ziele „das Verborgene herfür und an den Tag zu bringen, das Unbekannte zu er— forſchen“ nachgehe. Von denen, welche ſich „dieſes ſo köſtlichen, ihnen ertheilten, ja gleichſam angeerbten Vorzugs über alle andere Thier“ nicht bedienen, wird ge— ſagt, ſie ſchlöſſen „ſich freiwillig ein, in die Enge der Unfähigkeit und Unwiſſenheit der groben unvernünftigen Thiere, von welchen ſie wenig oder gar nichts unterſchieden ſein.“ Unter den Gegenſtänden, deren Erforſchung der menſchlichen Vernunft nahe liegen, wird als eine der vornehmſten bezeichnet: „Wie nemblichen, auf was Weiß und Manier, ſowohl die Menſchen als auch alle andern Thier, anfänglich entſprungen und hernach in die ganze Welt, auch alle dero— Auffenthalt darinnen zu nehmen, kommen ſeyen?“ faſſer an einer andern Stelle, dergleichen Fragen etwas fürwitzig, wie wohlen ſie nicht gar ohne Grund zu ſeyn ſcheinen.“ In obigen Worten fällt als für ſeine Zeit unerhört auf, daß der Verfaſſer von „Men- ſchen und andern Thieren“ redet, alſo den REG, * 5 5 zwiſchen beiden ein ſcharfer Unterſchied ge = macht. * Wir ſind leicht geneigt anzunehmen, % daß die Anſchauung eines Linné, Cuvier we = Carus Sterne, Schöpfungsgefchichte und Chorologie vor zweihundert Jahren. ſelben Theil, ſolche zu bewohnen und ihren „Es ſeynd aber,“ ſagt der Ver- Menſchen zu den Thieren rechnet, denn grade hinſichtlich der Schöpfungsfrage wurde | und A gaſſiz, nach welcher der Schöpfer jedes lebende Weſen, Pflanze wie Thier 37 und Menſch mit eigenen Händen gebildet habe, die urſprüngliche Lehre der Kirche geweſen wäre. Dieſe Anſicht wäre aber vollkommen falſch. Die chriſtliche Kirche hat ſeit dem Beginne der Dogmatik den Vorzug, unmittelbar aus den Händen des Schöpfers hervorgegangen zu ſein, aus— ſchließlich dem Menſchen vorbehalten, und die Annahme eines ähnlichen Urſprungs der Pflanzen und Thiere im Gegentheil als falſch und der Bibel widerſprechend bezeich— net. Der heilige Ambroſius und Baſi— lius der Große kamen in ihren, dem Sechstagewerk (Hexasmeron) gewidmeten Betrachtungen bereits zu dem Schluſſe, die Bibel⸗Worte: „Es laſſe die Erde aufgehen Gras und Kraut“ und „es errege ſich das Meer, und die Erde bringe hervor leben— dige Thiere aller Art,“ habe man ſo zu verſtehen, Waſſer und Erde ſeien ſeitdem und Pflanzen aller Art zu erzeugen, und dieſe Kraft dauere ſeitdem fort, ſo daß noch jetzt immerfort neue Pflanzen und Thiere ohne Eltern entftehen könnten. Ja man ging jo weit, zu jagen, daß die Schöpf⸗ ung am ſechſten Tage noch lange nicht voll— zählig geweſen ſei, und daß insbeſondere die Juſekten und alle kleineren Thiere, welche aus dem „Schweiße, der Ausdünſtung und der Fäulniß“ entſtehen, erſt viel ſpäter hin— zugekommen ſeien. Cornelius a Lapide rechnete ſogar die Mäuſe zu dieſen Epigonen der Schöpfung. Bei dieſer äußerlichen Uebereinſtimmung der chriſtlichen mit den heidniſchen Philo- ſophen kann es uns nicht verwundern, in dem erwähnten Buche Beweiſen dieſer fort⸗ dauernden Schöpfung zu begegnen; es wird uns gelehrt, wie man aus mit Mai Thau befruchteten Raſen Aale ziehen könne, um ſeine Teiche zu beſetzen; wie man aus mit der Fähigkeit begabt geweſen, Thiere | 38 Carus Sterne, Schöpfungsgeſchichte und Chorologie vor zweihundert Jahren. Krebsſcheeren Skorpione ziehen könne, der aus verweſenden Körpern entſtehenden Inſekten— ſchwärme nicht zu gedenken. war vollkommen mit dieſer Auffaſſung ein⸗ verſtanden, ja ihre Parteinahme für die Selbſtzeugungshypotheſe ging ſo weit, daß fie, als der engliſche Prieſter Jean Tur berville Needham 1743 die Ent⸗ wicklung der ſogenannten Weizenälchen be— obachtete, nichts dagegen hatte, daß dieſer die Bibel dahin deutete, auch Adam ſei in ähnlicher Weiſe von der ſchöpferiſchen Erde hervorgebracht worden, und Eva aus ſeinem Körper wie die Knospe eines Polypen her- vorgeſproßt. Ja, noch mehr, als Francis— cus Redi um's Jahr 1674 in Florenz im faulen Fleiſche ausſprach, da er beob— achtet hatte, daß dieſelben in Form von Eiern in daſſelbe gelangt ſeien, ſchrie die Geiſtlichkeit über Ketzerei, da ja im Buche der Richter von der Eutſtehung eines Bienen— ſchwarms aus dem Aaſe eines Löwen die Rede ſei. So ändern ſich die Standpunkte! Unſer Autor wäre ganz einverſtanden mit der Lehre des heilige Baſilius, daß die Pflanzen und wilden Thiere nicht nur erſtmals durch die der Erde eingepflanzte Kraft „herfür kommen ſeien, ſondern daß ſolche auch heutigen Tages auf gleiche Weiß, annoch von der Erden ihren Urſprung nehmen und haben,“ aber dem Manne, der ſeine Vernunft auch auf Glaubensſätze an— wenden zu müſſen glaubte, fiel es ſchwer auf's Herz, wie nun dieſe orthodoxe Lehre von der Selbſtentſtehung der Thiere mit der Noahſage in Einklang zu bringen wäre. „Wann deme alſo, daß nemblichen die wil— den Thier, wie auch das zahme Viehe, auß angebohrner und eingepflanzter Kraft der Erden, für ſich hätten herfür kommen kön⸗ So würde der Allmächtige Gott dem nen. Die Kirche Nos nicht anbefohlen haben, die Thier zu ſich in die Archen zu nehmen,“ ruft er mit wohlberechtigten Gewiſſenszweifeln. Es iſt ſehr lehrreich zu ſehen, wie in der Mitte des ſiebenzehnten Jahrhunderts ein ſonſt durchaus ſtrenggläubiger Chriſt, der die Frage, zu welcher Jahreszeit die Welt eigentlich erſchaffen ſei, einer einge— henden Unterſuchung werth hält und dem ] | holden Frühling dieſen Vorzug ertheilt, zwiſchen Buchſtabenglauben und Vernunft entſcheidet. Er verwirft unbedenklich den erſteren und folgt der letzteren. Man könne, ſagt er ungefähr, doch nicht glauben, daß Noah mit ſeiner Familie ſich alles Ungeziefers angenommen habe, nur damit Zweifel an der Selbſtzeugung der Maden es in der Fluth nicht umkomme, ſondern ihn und die Menſchen weiterplage. Es ſei auch gar nicht abzuſehen, wie er während der langen Dauer der „Sündfluth“ die reißen- den Thiere hätte ernähren und ſie abhalten können, die zahmen und nützlichen zu ver— zehren. Der heilige Origines ſei zwar zu dem Schluſſe gekommen, daß man die wilden Thiere hübſch abgeſondert habe, und der heilige Auguſtin habe gejagt, die Wildheit ſei ihnen für dieſe Zeit benommen worden, aber, meint der Autor, ohne weiteres Mi— rakul und Wunderwerk könne das doch nicht zugegangen ſein, denn die wilden Thiere hätten doch Lebensunterhalt haben müſſen. „An dieſem iſt ſehr ſtarck zu zweiffeln; denn ſo dieſem alſo wäre, hätte man nicht par und par von den unreinen, auch ſieben und ſieben von dem reinen Vieh, wie der heilige Text ſaget; ſondern deren eine große Menig, in die Archen auff und einnemben müſſen“, es ſei denn, ſetzt er zur Beruhigung der Gemüther hinzu, daß ſie durch ein Mirakul faſten gelernt oder Speiſe erhalten hätten. Sein beſondres Dafürhalten ſpricht er wiederholt dahin aus, daß „der fromme 1 8 f 1 Ex 0 1 Noé nur allein das einheimiſche zahme Vieh zu ſich in die Archen genommen habe“, damit die Mühe der Zähmung nicht verloren gehe, und der Schaden der Sünd— fluth noch größer werde, „die ſchädlichen und grimmigen Thiere aber ſeien auß der Erden auffs new wieder herfürgekommen“. Daß aber Thiere neu entſtehen könnten, ſchließt der Verfaſſer auch daraus, daß wir ja häufig Thieren begegnen, die ganz ſicher nicht von Gott erſchaffen ſeien, und doch beſondre Form und Leben hätten, nämlich die Baſtarde, wie Maulthier, Luchs und Leopard, die aber darum auch das Gebot des Schöp— fers: Seid fruchtbar und mehret euch! nicht erfüllen könnten. Man hielt bekannt— lich ehemals den Luchs für einen Baſtard von Wildkatze und Wolf, den Leoparden für einen ſolchen vom Löwen und Panther. Der Verfaſſer nimmt das Vorkommen der Baſtarde für einen ſo wichtigen Beweis dafür, daß die Schöpfung nicht inumediate geſchehen ſein könne, daß er eine Unterſuchung darüber anſtellt, wer zuerſt Maulthiere ge— züchtet habe und zu dem Schluſſe kommt, es ſei Ana, des Sibon Sohn, ein Idumeer geweſen, der zu den Zeiten Jacobs und Eſau's die Hausthiere um dieſes zweideutige Weſen vermehrt habe. Das Hauptbedenken unſeres freiſinnigen Bibelauslegers gegen die Noah-Sage ent— ſprang aber der Unmöglichkeit: „daß zu Nos, alle Thier, von den äußerſten Gräntzen und Orten Americae, wie auch auß Magella- nica, hätten können gebracht, und in die Archen genommen werden; da doch deren Arten und Geſchlechte vorhero, weder in Aſien, Armenien, noch andern, dieſen nächſt angelegnen Ländern zu ſehen, noch zu finden waren.“ Dieſe Betrachtung führt den Verehrer der Vernunft weiter zu einem heftigen Kopfſchütteln zu der Sage von dem Carus Sterne, Schöpfungsgeſchichte und Chorologie vor zweihundert Jahren. 39 Paradieſe als Schöpfungsmittelpunkte, in welchem Adam allen Thieren ihren Namen gegeben haben ſollte. Eine Menge nie ge— ſehener Pflanzen und Thiere war damals aus Amerika herübergebracht worden, und erregten den Bibelgläubigen ſchwere Zwei— fel. Nicht alle waren ſo gefällig wie die Maler, die alsbald Truthahn und Sonnen— blume in den Paradiesgarten Adam's auf- nahmen, als wären ſie dort von Anbeginn gepflegt worden. Den großen Eindruck jener Bereicherung der Paradiesgärten (wie man ehemals bekanntlich die zoologiſchen und bota— niſchen Gärten nannte) ſchildern Milius— Bitterkraut unter Andern mit folgenden Worten: „Mein Gott! Wie verwundern wir uns nicht darob, wann wir dergleichen ſeltzame Thier, auß ſo fern entlegenen Or— ten zu ſehen bekommen? Wie genau be— trachten wir alle ihre Lineamenten, Geſtalt, Haarfarben, ja gantze Leiber! Als ob ſie vom Himmel herabgefallen wären? — — — — Was wollen wir überdas, von ſo vielen unterſchiedlichen Gewächſen, Bäumen, Wurtzen und Saamen ſagen?“ Die Strenggläubigen machten es ſich wie immer bequem; ſie erklärten ohne Weiteres den kanadiſchen Lebensbaum, weil er die merkwürdige Eigenſchaft hat, ſchein⸗ bar in jedem Frühjahr neu aufzuleben, für den lange geſuchten, in Europa ausgegange— nen Lebensbaum des Paradieſes; in dem braſilianiſchen Guajakbaume wollten noch kühnere Combinatoren ſogar den Baum der Erkenntniß erkennen, aus deſſen heiligem Holze das Kreuz Chriſti gefertigt wurde; die auf Südamerika beſchränkten Paſſions— blumen ſollten urſprünglich auf Golgatha entſproſſen fein u. ſ. w. Von den Fiſchen und Vögeln wie von den Pflanzenſamen lag es nahe, zu ſagen, ſie ſeien durch Luft oder Waſſerſtrömungen aus der alten Welt 40 nach der neuen hingeführt worden, reſp. hingeſchwommen und hingeflogen. „Aber fein ſachte,“ ruft der beſonnene Kritiker den orthodoxen Heißſpornen zu, „man erwege dieſes ein Wenig beſſer, und übereile ſich diß Orts nicht allzuſehr. Dann, Lieber! gibet es nicht viel unter Gevögel, welche ſehr grobe, dike, harte und ſchwere Federn haben, auch im fliegen ſehr langſamb und träg ſeynd? Ja, was noch mehrerſt iſt, die vor dem Waſſer ein Abſcheuen tragen, daß ſie ſich auch nicht getrawen, einen von zwölf Schritten breiten Waſſerfluß, oder auff das meiſte eine kurze viertl Meil zu überfliegen? Ich geſchweige anjetzo derjenigen, die gar nicht fliegen können, als da ſeynd Straußen, Trappen und derley Geflügel mehr? Wie ſollten ſie dann erſt, das Meer Aniam und andre, etliche Meilen breite Ström' und Flüſſe, haben überwan— dern können?“ Daß man bei Seefiſchen, die ſich aus- ruhen können, die Möglichkeit ſo weiter Wanderungen zugeben müßte, empfindet der Verfaſſer und greift hier zu einem andern Gegenbeweiſe: „Es laſſen überdieß die Fiſche, (wie auch alle andern Thier) nicht gern von ihrem Orth, oder gewöhnlichen Wäſſern, allwo ſie ihren Stand, Weſen und Auffent— halt haben; ſondern es bleibet eine jedwe— dere Art derſelben am allerliebſten in ſeinem eigenen Waſſer oder Bach. Wie dann ge— meiniglich ein jeder Fluß, ja ſogar die kleinen Bächlein, ihr eigene abſonderliche Fiſch haben, worinnen ſie friſch und geſund bleiben, herentgegen aber in andern nicht gut thun, ſondern bald abſtehen.“ Natür- lich machen die Landreptile und Landſäuge— thiere, denen er vergeſſen hat, die Süß— waſſerthiere anzureihen, die Stärke dieſer Gruppe von Argumenten aus. „Zu deme ſo giebet es auch viel Thier auff Erden,“ Carus Sterue, Schöpfungsgeſchichte und Chorologie vor zweihundert Jahren hebt er an, „welche ihnen zu ſchwimmen gar nicht getrawen. Es möchte aber viel— leicht einer einwerffen und ſagen, daß man dergleichen vierfüſſige Thiere, auß unſern Landſchaften, in die Occidentaliſche Indien mit Schiffen übergebracht habe; Aber wie ungereimbt und unbedachtſamb iſt dieſes, auch wie ſchwer zu glauben? Dann wer hätte doch wollen ſo unbehutſamb, ja ganz aber⸗ witzig ſeyn, daß er Löwen. Beeren, Tiger, Panterthier, und dergleichen grauſame Beſtien mehr, hätte neben ſich gedulden, dero grau— ſamen Natur und Eigenſchafft ſich anver— trawen, und ſolche zu Schiff überbringen wollen? Welches fürwahr nichts anderes wäre, als gifftige Schlangen und Nattern, in ſeinem eigenen Buſen auffziehen wöllen.“ Der umſichtige Kritiker, dem bereits eine klare Ahnung von der Thier- und Pflan⸗ zengeographie aufgegangen war, belehrt uns ſodann, daß dieſer Verſuch, wenn man ihn machen wolle, wahrſcheinlich fehlſchlagen würde. Er verweist auf die negativen Er- fahrungen, die man gemacht, als man ver- ſuchte „unterſchiedliche Arten von zahmen Viehe über See nach Neu-Franckreich, ſonſten Canada genannt“ zu bringen. Sie hielten theils die Seereiſe nicht aus, theils ſchlug der mit gutem Vertrauen gemachte Verſuch, die Thiere an das fremde Klima zu ge— wöhnen, ſchon bei den Hausthieren fehl, die doch viel mehr Kosmopoliten ſind, als wilde Thiere. „Aber,“ ſo unterbricht der Verfaſſer dieſe Annahmen von Möglichkeiten, die faſt unmöglich erſcheinen, „wir wollen derley blinde Einfäll beyſeits ſetzen; auch nur bloß allein diſes allen Gelehrten zu betrachten überlaſſen, und ſolche wohlmeinend befragen: Ob ſich nicht in dieſen Oceidentalischen In⸗ dien, viel und mancherley Arten, ſo wohl grauſammer, frecher und wilder, als auch zahmer Thier befinden, dergleichen weder in Asia, Europa und Africa von dem es ſonſten heißet: Africa semper aliquid novi, jemahlen geſehen noch von den Alten Ge— ſchichtsſchreibern, darvon etwas Schrifftliches hinterlaſſen worden?“ Daſſelbe gilt von den Vögeln, Fiſchen und Pflanzen jener Länder: „Zudem ſo gibt es auch in America, Mexiko, Perü und Magellanica derley Arten Gevögels, die weder in Aſien oder Europa jemahlen geſehen worden ſeynd, ehe und bevor ſolche von dort auß mit Schiffen zu uns gebracht worden.“ „Allhier aber möchte einer wiederum fragen und ſagen: Weilen dann auß Asien als einer und zwar der erſten Zeuge-Mutter, ſo wol der Menſchen als auch aller andern Thier und Gewächſen, nichts in die andre Theil der Welt, als Akricam, Europam und Americam gebracht worden, warumben iſt dann von allen dieſen Sachen, ſelbiger Orten ein ſo großer Ueberfluß? Hierauff aber gibe ich dieſe Antwort, ſo villeicht, andern etwas ſeltzam vorkommen möchte, und ſage; Daß eben der jenige, welcher alle Thier, auch allerhand Gewächſe erſchaffen, und in Aſien, umb die Gegene Eden ge— pflantzet hat; Auch dergleichen in America gewürket, und alldorten allerley Sorten der Kräuter, Blumen, Bäume, Saamen, Wur— tzen und Thier mit gleicher Macht herfür gebracht, und mit eben dem Seegen und Benedeyung, ſich zu vermehren, begnadet habe.“ So hat ſich nun unſer freimüthiger Ausleger der moſaiſchen Tradition für die Annahme zahlreicher Schöpfungsmittelpunkte ausgeſprochen, und ſelbſt die ausdrückliche Angabe der Bibel, daß alle Thiere zu Adam gebracht worden ſeien, daß er jedem ſeinen Namen beilege, kann ihn in ſeiner Ueberzeugung nicht irre machen, daß die Carus Sterne, Schöpfungsgeſchichte und Chorologie vor zweihundert Jahren. 41 amerikaniſchen Thiere auf dem amerikaniſchen Boden, und die Bewohner der oceaniſchen Inſeln eben auf dieſen „großen und kleinen Inſuln des Meeres“ heimiſch ſeien, auch niemals nach Aſien gekommen ſein könnten. Dieſe ſeine Ueberzeugung, ruft er mit Virgil, ſtehe ſo unerſchütterlich: „wie das harte Geſtein, und wie marpeſiſcher Marmor!“ Man erkennt, wie tief der Eindruck jener unerſchöpflichen Mannigfaltigkeit des Thier— und Pflanzenlebens der neuen Welt ge— gangen war. Der Irrthum der ehemaligen Zoologen und Botaniker, daß die Pflanzen und Thiere im Allgemeinen überall dieſelben ſeien, ſo daß ſie z. B. die Pflanzen des Theophraſt und Dioskorides am Rheine und in Belgien ſuchten, dieſer Irrthum, der eine unendliche Literatur und eine unglaub— liche Verwirrung in die Nomenklatur gebracht hat, war endlich auf den Ausſterbe-Etat geſetzt worden. Mit den menſchlichen Bewohnern Ame— rikas macht Milius, wie es die heutige Wiſſenſchaft ja auch thut, eine Ausnahme. Er hält ſie nicht „wie die alten Egypter und Athenienſier von ſich rühmten, für Au- thochtones und Aborigines, die den Pilzen und denen Heuſchrecken gleich, ohne Vat— ter und Mutter, auß Kott und Letten ihren Urſprung überkommen.“ Leider können wir nicht ſagen, daß der ſcharfſichtige Mann, wie die Forſcher unſerer Zeit, durch ethno— logiſche und anatomiſche Gründe zu dieſer Erkenntniß gelangt war; es waren vielmehr verzwickte theologiſche Gründe, welche das von Zweifeln gepeinigte Gemüth zu dem Schluſſe trieben, hierin den Menfchen „von den andern Thieren“ getrennt ſeinen Weg ſuchen zu laſſen. Milius konnte ſich ebenſowenig wie die meiſten andern Ge— lehrten der Zeit, vorſtellen, daß dem Moſe und andern Propheten des alten und neuen ni, * „r eee en ra et 7845 Carus Sterne, Schöpfungsgeſchichte und Chorologie vor zweihundert Jahren. Teſtamentes das Daſein der halben Welt unbekannt geweſen ſein ſollte; ſie ſuchten alſo Anführungen in der Bibel, die ſie auf die neue Welt beziehen könnten, und fanden, wie man immer findet was man ſucht, ſolche Beweiſe in genügender Auswahl. Aber keiner derſelben reicht vor die „Sünd⸗ fluth“ zurück, und man meinte deshalb, die alte Welt ſei vorher nicht ſo übervölkert geweſen, um zu einer Auswanderung nach der neuen zu zwingen. auf andern Inſeln geweſen, ſo wird un— fehlbar gefolgert, daß dort auch keine Sünder geweſen ſein können: „Muß alſo wahrhaftig dafür gehalten werden, daß die Sündfluth nit alle Orth der Welt, abſonderlich aber America, Magellanica und etliche andre Inſuln, keineswegs getroffen habe.“ Dies wird auch daraus geſchloſſen, daß die dieſen Ländern eigenthümliche, von der altweltlichen durchaus verſchiedene Flora und Fauna ſonſt keine Erneuerung gefunden haben würde, da der Schöpfer ſeit dem ſiebenten Tage ruhe. Dieſes Argument ſteht der— maßen im Widerſpruch mit den früher an— geführten Meinungen des Milius über den Urſprung der Pflanzen und Thiere, daß man es wohl vorläufig für ein Ein— ſchiebſel des Ueberſetzers halten darf. Es iſt nicht unintereſſant, zu ſehen, daß man damals ſogleich den Weg über Japan in's Auge faßte, der auch jetzt noch als der wahrſcheinlichſte gelten muß, obwohl man ſeit dem Jahre 1728 durch Behrings Entdeckung weiß, daß beide Welttheile durch eine ziemlich breite Waſſerſtraße getrennt ſind, während man früher einen Zuſam— menhang im Norden annahm. Schon Joſeph a Coſta einer der älteſten Ge— ſchichtsſchreiber Amerikas ließ ſeiner Phantafie auf dieſem Wege die Zügel ſchießen, indem 0 Da nun vor der Sündfluth keine Menſchen in Amerika und er die Straße verfolgte, auf welcher die Urmenſchen vom Indus und Ganges aus über China und Japan nach Amerika ge— kommen und dort bis nach den Anden hin— unter gewandert wären, woſelbſt fie zuerſt von ihrem unendlichen Wege ausgeruhet haben ſollten. „Es hält“ ſchreibt Milius, „Montanus vor gewiß, daß noch heutigen Tages in Perü, bei denen von den Span- niern ſo genannten Bergen Andes, eine ſehr alte Stadt, Nahmens Jucktam zu finden, und noch übrig ſeye. Worauß er ſchließet, daß dieſes Juektam oder Jecktam (welcher deß Heber dritter Sohn geweſen) Enickel (Enkel) und diejenige, ſo hernach auß ihren Lenden erzeuget worden, die Landſchaft Perü eingenommen, völlig bezogen, auch darinnen die erſte Stadt, nach dero erſtem Stiffter und Erbawer Juekta genennet haben.“ In der Bibel heißt es nämlich von Noahs Urenkel Eber (Geneſis 10, 25 —30): „Eber zeugte zween Söhne. Einer hieß Peleg, darum daß zu ſeiner Zeit die Welt zertheilet ward; deß Bruder hieß Jaketan Und ihre (der Söhne Jaketans) Wohnung war von Meſa an, bis man kommt gen Sephar, an den Berg gegen den Morgen.“ Die weitere geographiſche Beſtimmung außer Acht laſſend, deducirte man nun, mit dem Berge gegen Morgen könnten nur die Anden gemeint ſein, denn nur dieſes Gebirge dürfe „Billig und recht propter Excellentiam,“ d. h. wegen ſeiner alle andern Berge übertreffenden Höhe und Ausdehnung ſchlechthin „der Berg im Oſten“ genannt werden, und die Bewohner Baby— lons, von wo aus der Auszug der Völker — gerechnet wird, konnten, nach Meinung der Anhänger dieſer Conjektur, Amerika recht wohl das Land des Oſtens nennen. Der kühnen Hypotheſe des Aria Montanus ſtimmten nicht nur Joſeph a Coſta und. Carus Sterne, Schöpfungsgeſchichte und Chorologie vor zweihundert Jahren. 43 Georg Horn, der Verfaſſer eines 1652 erſchienenen Werkes über die Herkunft der Amerikaner (de originis Americanis) bei, ſondern alle Diejenigen, denen ein Stein aufs Herz gefallen war, darüber, wie ſie die Entdeckung Amerikas mit der Bibel zu— ſammenreimen ſollten. Die Sache war in der That des Fleißes der Theologen werth. Die Bibel hatte bekanntlich Sem, Ham und Japhet zu den Stamm-Ahnen der Aſiaten, Afrikaner und Europäer erhoben, alſo anſcheinend Amerika vergeſſen, nun war der Stammvater der Amerikaner im Jaketan glücklich gefunden und nachgewieſen. Die Entdeckung Amerikas mußte freilich der orthodoxen Kirche recht unangenehm fein Hatte doch der heilige Auguſtin, dieſer zu allen Zeiten überſchätzte chriſtliche Sophiſt und Schönredner, in dem bekannten Anti— podenſtreite geſagt: „Unmöglich kann die entgegengeſetzte Seite der Erde Bewohner haben, denn in der heiligen Schrift kommt unter Adams Nachkommen keine derartige Sippſchaft vor.“ Dem heiligen Lactantius hatten ſchier die Worte gefehlt, um die Thorheit der Mathematiker und Aſtronomen ſeiner Zeit (im dritten Jahrhundert), welche das Vorhandenſein der Antipoden als offne Frage und Möglichkeit, ja als Wahrſcheinlichkeit hingeſtellt hatten, parla— mentariſch zu bezeichnen. „Iſt es möglich“, rief er aus, „daß Menſchen thöricht genug ſein können, zu glauben, die Bäume kehrten ſich auf der andern Seite der Erde nach unten und der Bewohner Füße ſtänden höher oben als ihre Köpfe! Fragt man nach Gründen für jene Ungeheuerlichkeit, daß die Gegenſtäude auf der andern Seite nicht abwärts von der Erde fallen, ſo hat man darauf die Antwort, es ſei eine phy— ſiſche Eigenſchaft, daß ſchwere Körper gleich den Speichen eines Rades, nach dem Centrum ſtreben, wogegen leichte Körper, wie etwa Gewölk, Rauch, Feuer, v Zentrum aus nach dem Himmelsraume ſtreben. Ich weiß aber wahrhaftig nicht, wie ich mich über jene ausſprechen ſoll, die auf verkehrtem Wege ſind, und noch widerſpenſtig auf ihrer falſchen Fährte verharren, und die eine thörichte Annahme durch eine noch thörichtere zu vertheidigen ſuchen.“ Nichts zeigt uns deutlicher, wie hart der Schlag war, den die myſtiſche Welt— anſchauung durch die Entdeckung Amerikas empfing, als eben die emſige Mühe, die man ſich gab, nunmehr auch Amerika in der Schrift zu entdecken. Ebenſo kühn wie man vordem aus der Schrift bewieſen hatte, daß jene weſtliche Halbkugel nicht bewohnt ſein könne, ſo ſuchte man nunmehr aus ebenderſelben Quelle zu beweiſen, daß jener Welttheil den Juden wohlbekannt geweſen ja daß ſie ſeit undenklichen Zeiten mit den Amerikanern in Handelsverkehr geſtanden hätten. Der Name des Landes, aus wel— chem Salomo ſeine Goldſchätze holte, das Ophir der Alten, war ja nur ein Anagramm Peru, des Goldreichen: Phiro — Peru, das war ja ganz einfach. Denen Mer— curius, Poſtellus, Goropius, Be— canus, Montanus und anderen Gelehrten des ſechszehnten und ſiebenzehnten Jahrhun— derts ging plötzlich ein Licht auf, und ſie bemühten ſich um die Wette, das Verdienſt dieſes Columbus, der ihnen einen ſo häßlichen Streich geſpielt hatte, herabzuſetzen, indem ſie ſagten, Salomo und alle Völker der alten Welt hätten ihre Schiffe allbereits nach Ophir, ſo man jetzt Peru nenne, ge— ſendet, und von einer neuen Entdeckung könne hier gar nicht die Rede ſein. Sogar der ehrliche Milius gibt dieſen Angriffen auf Columbus in einer deſſen Verdienſt herabſetzenden Weiſe Raum; über I ME ee, ui, ost Ar BD lol 44 Carus Sterne, Schöpfungsgeſchichte und Chorologie v das amerikaniſche Ophir läßt er ſich folgen— dermaßen aus: „So kann man auch gar wohl muthmaſſen, Ja gleichſam vor gewiß ſchlieſſen, daß diſes Goldreiche Land Ophir, köſtliches verſchiedenes Holtzwerck, Helfenbein, Affen, Pfawen und Papageyen gebracht wor— den, eben dieſe unſer Peruanische Provinz ſey; alldieweilen auß ſolcher noch auf dieſe einem andern Orte der Orientaliſchen Indien, eine ſo weite und ferne Reiß von dreyen Jahren ſollte erfordert werden u. ſ. w.“ Der Verfaſſer hält es für ſehr wahrſchein⸗ auß welchem dem König Salomon, neben dem beſten und feinſtem Golde, auch viel | Welt⸗bekanntem Port Thir in Peru“ und Stund, auch zu uns, ein große Anzahl dergleichen wunderbahrlicher Thier, allerhand köſtliches Holtz, als Eben, Paradeyß, roht gelb, weiß Braſilien, item das heilige Holtz, Guajacum genand, Sassafras und dergleichen mehr gebracht wird. So hat man auch von dem rohten Meer auß, allwo der Allerglückſeligſte auß allen Königen, der allerweiſeſte Salomon, ſeine Schiffsflotten verfertigen und außrüſten laſſen, gar füglich in Americam ſchiffen können; Weilen dahin (ſo man Asien vorbeiſegelt) der geradeſte Curs, Lauff und Strich iſt. Auß welchem dann allem gantz klar erhellet, eben die Landſchaft America ſeye; welches der Bibliſche Text noch mehrers bekräftiget, in deme er andeutet, man habe mit dieſer Schiffart drey Jahr zugebracht; worauß abzunehmen, daß dieſes Land Ophir ſehr weit müſſe entlegen geweſen ſeyn. wollte ihme aber traumen laſſen, daß von den arabiſchen Küſten Juſul Japan und Malaca oder auch zu Wer auß, biß in die lich, daß die unvollkommne Schiffahrt jener Zeiten „von dem rothen Meere und deſſen zurück drei Jahre gebraucht haben werde, und findet auch dadurch den beruhigenden Schluß, daß der weiſe Salomo keinen geo— graphiſch beſchränkten Geſichtskreis beſeſſen habe, beſtätigt. Wahrhaftig, die freie Forſchung wurde von den Rückſichten, die ſie nach allen Seiten nehmen zu müſſen glaubte, faſt im Keime erſtickt; nur äußerſt langſam vermochte ſie ſich die Freiheit zu erkämpfen, in welcher ſie allein athmen und gedeihen kann. Wir haben den alten wahrheitsſuchenden Forſcher in dieſem Rückblick, der wie ein Janusbild auch auf die Zukunft deutet, möglichſt viel- fach ſelbſtredend auftreten laſſen, damit der dumpfe Gefängnißduft nicht verfliege, der daß deß Königs Salomon Ophir und Peruayno bei dem erſten Ausfluge des Geiſtes aus langer Kerkerhaft noch ſpürſam blieb. Auch wir arbeiten noch an der Aufgabe, die nach aufreibenden theologiſchen Studien zurück— | gebliebene Schwäche und krankhafte Bläſſe des Menſchheitgenius durch den unmittel— baren Verkehr mit der Natur, deren Hauch kräftigend wie Gebirgsluft und Seebäder wirkt, zu beſeitigen, und der freien Ent— faltung der geiſtigen Errungenſchaften Herzen und Thüren zu öffnen. or zweihundert Jahren. n Er 1 u NDR Bedeutung und Aufgaben der Völkerkunde. Von Friedr. von Hellwald. aß die Anthropologie, d. h. die Wiſſenſchaft vom Menſchen als Menſch, nämlich als einheitliches, ſinnlich-wer— nünftiges Natur-Individuum, reine Naturwiſſenſchaf ſei, ſtößt gegenwärtig wohl kaum mehr auf Widerſpruch. Unter Ethnographie, zu deutſch Völkerkunde, verſtehen wir dagegen die Wiſſ enſchaft von Men- ſchen als Volksindividuum betrachtet. Der Wiener Linguiſt, Profeſſor Friedrich Mäller definirt beide Wiſſenszweige ſehr ſcharf und klar dahin, daß der Unterſchied zwi— ſchen beiden nicht in der Verſchiedenheit des Objectes, ſondern in der Verſchiedenheit der Auffaſſung dieſes Objectes liege. Während die Anthropologie den Menſchen als Exem— plar der zoologiſchen Species homo nach ſeinen phyſiſchen und pſychiſchen na— türlichen Anlagen betrachtet, faßt die Ethnographie den Menſchen als ein zu einer beſtimmten, auf Sitte und Her- kommen, beruhenden durch gemeinſame Sprache geeinten Geſellſchaft gehörendes Indivi⸗ duum. Der nämliche Gelehrte ſetzt auch überzeugend aus einander, daß Race, womit bei Feſthaltung des Allgemeinen und Ab- 4 \ » ſehen von dem Beſonderen, innerhalb des Meuſchen feſtgeſtellte Grundtypen bezeich— net werden, ein ſtreng anthropologiſcher, Volk dagegen ein ſtrengethnographiſcher Begriff ſei. Damit iſt zugleich ausgeſprochen, daß das Studium der Nace eine Natur- wiſſenſchaft ſei, während von der, die Völker behandelnden Ethnographie ein Gleiches nicht allgemein angenommen wird. Gleich— wohl werden wir auch die Völkerkunde den Naturwiſſenſchaften beizählen müſſen, in ſo ferne das deutſche Wort „Völker— kunde“ mehr beſagt als der oben definirte Begriff „Ethnographie“. Gewiſſermaßen faßt unſere Bezeichnung „Völkerkunde“ beide Disciplinen in einen einzigen Begriff zuſammen, indem fie, wie natürlich, in erſter Inſtanz auf Claſſification der verſchiedenen Völker Rückſicht nimmt, dabei aber auf das anthro- pologiſche Racenmoment zurückgreifen muß. Die reine Ethnographie, welche ſich lediglich mit der Beſchreibung der Sitten, Gebräuche, Anſchauungen, Sprachen u. dergl. der einzelnen Völker beſchäftigt, braucht ſich um die Stellung jedes einzelnen dieſer Völker eigent— lich gar nicht zu bekümmern. Sie kaun uns über Chineſen und Indianer, über 46 Malayen und Botocuden, Papuas und Kaffern eben ſo gut unterrichten, wie wir die Lebensweiſe des Elephanten und des Kameeles, des Straußen und der Klapper⸗ ſchlange, der Biene und der Seeſterne er— örtern können, ohne nach der zoologiſchen Stellung dieſer Thiere weiter zu fragen? Wer aber dieſe Selbſtbeſchränkung übt, verzichtet auch naturgemäß auf jeden Einblick in den Cauſalzuſammenhang der Erſchei— nungen; ja, er vermag nicht einmal Ordnung in dieſelben zu bringen, oder, wenn er es dennoch unternimmt, ſo gelangt er von ſelbſt dahin, Verwandtes zu Verwandtem zu ſtellen, d. h. zu claſſificiren. Welches Syſtem man nun immer einer Claſſificirung zu Grund lege, ſtets überſchreitet man damit die Grenzen, welche, beim Menſchen, der reinen Ethnographie gezogen ſind, und greift ſomit unwillkürlich in das Gebiet der naturwiſſenſchaftlichen Anthropologie hinüber. Es iſt auch leicht einzuſehen, daß die Ethno— graphie in ihrem beſchränkten Sinne bei weitem das Intereſſe entbehrt, welches der „Völkerkunde“ innewohnt, wie ſie Peſchel's bekanntes Werk in ihren Umriſſen ange— deutet hat. Denn ſo unermeßlich iſt das vor dem Forſcher ſich ausbreitende Gebiet, daß auch Peſchel's „Völkerkunde“ uns nur zunehmender Kenntniß einſt werden kann, wer— vergängliches bahnbrechendes Verdienſt — die Pfade der künftigen Forſchung weiſt. Auch Peſchel, ſo ſehr er Gewicht legt auf jene Momente des geiſtigen Lebens der Völker, welche vor allem das Jutereſſe gefangen nehmen, erkannte die Nothwendigkeit, den Menſchen zuerſt als Naturindividuum, alſo anthropologiſch, und dann erſt als geſell— ſchaftliches Weſen, nämlich ethnographiſch zu betrachten. So finden wir denn in ſeinem zeigt, was aus dieſem Wiſſenszweige bei den muß, und — darin liegt Peſchel's un- Hellwald, Bedeutung und Aufgaben der Völkerkunde. Buche Anthropologie und Ethnographie innig verſchmolzen, letztere gleichſam aus erſterer hervorſprießend, wie der Aſt aus dem Stamme des Baumes; dies iſt die „Völkerkunde“, wie wir ſie heute verſtehen und wie ſie für das Verſtändniß der menſchlichen Entwicke⸗ lungsgeſchichte allein von Werth iſt. Un⸗ nöthig hinzuzuſetzen, daß ſie auch ſtets eine „vergleichende“ ſein müſſe, weil aus dem Vergleiche allein die Zuſammengehörigkeit der Phänomene ſich ergiebt und Geſetze, welche denſelben urſächlich zu Grunde liegen, ſich ableiten laſſen. Die Völkerkunde iſt alſo, ſagte ich, in gewiſſem Sinne auch Naturwiſſenſchaft. In der That regt ſich beim Nennen eines Völkernamens ſofort die läſtige Frage, in welchen Grundtypus des menſchlichen Ge— ſchlechtes, in welche Race er einzureihen fer. _ Nenne ich dem Leſer kurzweg einen unbe— kannten Völkernamen, fo kann er mit dem— ſelben eben jo wenig eine beſtimmte Vor- ſtellung verknüpfen, als mit jenem einer Thierſpecies ohne jedwede Angabe der Claſſe oder Ordnung. Mit den Diggdr weiß der Unkundige ſo wenig anzufangen, wie mit den Clavicornia (Keulenhörnern); orientirt iſt er aber ſofort, wenn ich ſage, daß die erſteren ein Indianerſtamm, die letzteren eine Käferart ſind. Dieſe Ausführungen mögen Manchen recht banal dünken, ſind aber doch ſehr geeignet darzuthun, wie wenig wir der Claſſification in naturhiſtoriſchem Sinne entrathen können. Der Umſtand, daß die Ethnologen ſich über eine beſtimmte Eintheilung des Menſchengeſchlechtes noch nicht geeinigt haben und vorausſichtlich noch ſehr lange nicht einigen werden, ändert daran nicht das Geringſte. Große allgemeine Gruppen laſſen ſich in der Anthropologie gerade ſo feſthalten wie im Thier- und Pflanzenreiche, und damit iſt, wenn auch nicht der Wiſſenſchaft, fo doch dem allge- meinen Bedürfniſſe Genüge geleiſtet. Gegen— ſtand eines etwaigen Streites unter den Fachgelehrten kann höchſtens die Stellung untergeordneterer Glieder ſein, wie dies auch in der Zoologie und Phytologie bei der zunehmenden Verflüchtigung des Artbegriffes eingetreten iſt. Der anthropologiſche Racen— begriff erleidet durch ſolche Schwankungen keine größern Einflüſſe als jener der zoo— logiſchen oder botaniſchen Claſſen. Damit ſoll beileibe nicht etwa eine Stabilität der Race a priori behauptet werden; nichts liegt uns im Gegentheil ferner, und ich füge ſchleunigſt hinzu, daß zwiſchen den verſchiedenen Typen allmählige Uebergänge von dem einen zum anderen ſich nachweiſen laſſen, welche gerade die Urſache der er— wähnten Schwankungen ſind. Sie machen es oft fraglich, ob dieſes oder jenes extreme Glied dieſem oder jenem Typus beigezählt werden ſolle. Allein, wie ſchon Humboldt ſagt, „das Sein wird in ſeinem Umfang und inneren Sein vollſtändig erſt als ein Gewordenes erkannt.“ Die menschlichen Grundtypen oder Racen treten uns als die Ergebniſſe unberechenbar langer Differen— zirungsproceſſe, als ein Gewordenes entgegen, und die relativ kurze Zeit, welche die Ge— ſchichte rückwärts zu ſchauen vermag, zeigt ſie uns eben ſo unverändert, wie die Thier— und Pflanzengeſtalten unſerer Erde. Wir dürfen demnach, ſo weit es ſich lediglich um geſchichtliche Betrachtung handelt, auch die Racen als etwas Stabiles, richtiger als etwas ſo langſam ſich Entwickelndes anſehen, daß die Veränderung unſeren forſchenden Blicken ſich entzieht. Innerhalb der hiſto— riſchen Zeiträume können wir an den großen Grundtypen der Menſchheit keine Veränder— ung in Körperbau, phyſiſchen und pſychiſchen Anlagen conſtatiren. Desgleichen find, fo Hellwald, Bedeutung und Aufgaben der Völkerkunde. lange wir denken können, Vögel ſtets Vögel, Fiſche ſtets Fiſche geblieben. Wenn Kurz— ſichtige dieſen Umſtand als Einwand gegen die Evolutionstheorie benützen, fo vergeſſen ſie, daß auf die Menſchheit übertragen der nämliche Umſtand mit logiſch unerbitt— licher Conſequenz zur aprioriſtiſchen Vielheit der Racen führen müßte. Nun ſind aber jene Gegner der Entwicklungslehre meiſt lebhafte Vertheidiger der Einheit des Menſchen— geſchlechts, welche gerade die auf zoologiſchem Felde angefeindete Transmutationstheorie in den Augen ihrer Anhänger über allen Zweifel erhoben hat. Alle Völkerkunde, will ſie die einzelnen Volksindividuen begreifen, muß alſo zuvör— derſt auf das anthropologiſche Racenmoment zurückgreifen; denn aus den Racen haben ſich erſt ſpäter die Völker herausgeſondert. Jedes Volk muß nothwendig irgend einer Race angehören, ſtreitig kann höchſtens ſein, welcher? Daß es gar keiner Race angehöre iſt platte Unmöglichkeit. Wenn dennoch die heutige Völkerkunde Stämme wie z. B. die Basken verzeichnet, welche iſolirt, ohne jegliche Anverwandtſchaft ſtehen, und die ſie demnach nicht zu claſſificiren weiß, ſo iſt dieſe ſeltſame Stellung doch nur ſcheinbar, inſofern die Basken nachweisbar die letzten Ueberbleibſel einer ausgeſtorbenen, einſt weit— verbreiteten Völkerfamilie ſind. Racentod kann aber, wie die in der Südſee unter unſern Augen ſich vollziehenden Vorgänge beweiſen, genau ſo eintreten wie der in der Ge— ſchichte häufige Völkertod, und es liegt auf flacher Hand, daß wir von den vor Beginn unſerer geſchichtlichen Kenntniſſe dahingeſchwundenen Racen nichts Näheres wiſſen können, wenig— ſtens nicht genug, um ihnen eine beſtimmte Stellung anzuweiſen. Die ſcheinbaren Aus— nahmen heben ſomit das allgemein gültige Geſetz nicht auf, wonach jedes Volk in zu 48 irgend eine Race einzureihen ſein müſſe. Dieſer Satz iſt für die Völkerkunde und deren Bedeutung in der ſpäteren Entwickelung der Menſchheit von fundamentaler Wichtigkeit. Wir wiſſen nämlich, daß Race als anthro— pologiſcher Begriff einen beſtimmten Bruch— theil der Menſchheit nach ſeinen phyſiſchen und pſychiſchen natürlichen Anlagen umfaßt. Friedrich Müller hat nun in bisher unwiderlegter Weiſe auseinandergeſetzt, wie die Racenbildung der mit dem Entſtehen der Sprache zuſammenfallenden Völkerbildung vorangegangen ſei. Es hat eine Zeit ge— geben, in welcher zwar Racen, aber keine Völker exiſtirten. Es gab alſo damals noch kein Volksthum, mithin auch noch nicht die daſſelbe begründenden Factoren: Sprache und Sitten. Als nun ſpäter, nach dieſer ſprachloſen Urzeit, aus den Racen, unter dem Einfluſſe der verſchiedenſten Verhältniſſe, die Völker ſich entwickelten, umſchlang die Glieder einer und der näm— lichen Race ſtets auch das gemeinſame Band der ererbten phyſiſchen und pſychi— ſchen natürlichen Anlagen, und dieſes Band hat ſich, wo nicht äußere Stö— rungen eintraten, wo die Race rein geblieben, ungeſchwächt erhalten bis zur heutigen Stun— de. Wir nennen es kurzweg die Racen— anlagen der Völker, und ſie ſind es einzig und allein, welche die Blutsverwandtſchaft der einzelnen Stämme beweiſen, nicht die Sprache, welche gar manchem Ethnologen mit Unrecht als alleiniger Leitſtern dient. Die Sprache iſt ein ausſchließliches Merk— mal des Volksthums, niemals eine Racen— eigenſchaft; nicht nur kann die Sprache von einem Volke, wie von einem Individuum willkürlich vertauſcht werden, wovon die Geſchichte zahlreiche Beiſpiele aufbewahrt hat, ſondern die verſchiedenen Sprachſtämme, auf welche die Wiſſenſchaft die Sprachen | Hellwald, Beben und Aufgaben der Völkerkunde. zurückzuführen im Stande iſt, ſetzen theils bei den verſchiedenen Racen mehrere von einander unabhängige Urſprünge voraus, theils weiſen ſie ſelbſt innerhalb einer und derſelben Race auf mehrere von einander unabhängige Urſprünge hin. Da es alſo erſter Linie die oben erwähnten Racen— anlagen ſind, welche die Stammverwandt— ſchaft der Völker und Nationen begründen, ſo iſt, wie ſich jeder Denkende ſelbſt ſagen wird, deren genaue Erforſchung eine der wichtigſten Aufgaben der vergleichenden Völkerkunde. Das Betonen der hervorragenden Wich— tigkeit des Racenmoments ſchien mir deshalb nicht überflüſſig, theils, weil daſſelbe noch lange nicht nach Gebühr gewürdigt wird, theils, weil ſich gegen eine ſolche Würdigung, wo man derſelben, ſelten genug, begegnet, ſogar eine auffallende Oppoſition von oft hochachtbarer Seite erhebt. So ſchreibt z. B. Profeſſor A. Sprenger, ein Orien— taliſt erſten Ranges: „Zu allen Zeiten haben ſich's die Gelehrten ſehr leicht gemacht, auffallende Erſcheinungen zu erklären: ſie ſtellen Schablonen auf, in welcher fie ſelbe hineinzwängen In neueſter Zeit hat man eine recht bequeme Schablone er— funden, alle Erſcheinungen im politiſchen und ſocialen Leben ſofort zu erklären, es iſt dies der Racenunterſchied.“?) Gewiß hätte der hochverdiente und gelehrte Forſcher zu der in dieſen Zeilen ausgedrückten Anſicht ſich nicht verleiten laſſen, wenn er die Tragweite des von ihm angezweifelten naturhiſtoriſchen Momentes genau erwogen hätte Ich will deshalb verſuchen, dieſen Punkt noch kräftiger zu beleuchten. Da ſogar ſchon der fromme Linné den homo sapiens als eine Species des Ba wenn auch als deſſen höchſte, LTE NE RE ) Ausland 1877. Nr. 3. S. 55. — — — — Hellwald, Bedeutung und Aufgaben der Völkerkunde. 49 g aufnahm, keinen Anſtoß erregen, daß die Wiſſenſchaft ſo wird die Behauptung wohl von dieſer Species, die Anthropologie, ſtrenge genommen, nur ein Zweig der Zoologie ſei, ein Zweig, der freilich in Anbetracht der Wichtigkeit, welche ſein Object für uns beſitzt, eine enorme Ausdehnung gewonnen und ſich zu einer beſonderen Disciplin empor— gearbeitet hat. 1 gemeinen Hauskatze Charakterzüge bemerkt welche dem geſammten Katzengeſchlechte eigen ſind? Dieſe Bemerkung iſt ſchon ſo trivial, daß daran zu erinnern füglich gar nicht nöthig ſein ſollte. Ebenſo ſcharf bewahrt aber jede Varietät jene Unterſchiede, welche ſie eben zur Varietät ſtempeln, ſie von den übrigen Varietäten der gemeinſamen Art Dies hindert nicht, daß als phyſiſches Individuum der Menſch denſelben unterſcheiden, und daſſelbe geſchieht bei den meiſt künſtlich hervorgerufenen Spielarten, Geſetzen unterworfen iſt wie das Thier. ſo lange die Momente andauern, welche ihr „Gleich dem Thiere zerfällt der Menſch in mehrere Varietäten. Gleichwie jeder thie— riſchen iſt auch jeder menſchlichen Varietät ein eigener Verbreitungsbezirk, innerhalb deſſen ſie gedeiht, angewieſen. Gleich dem Thiere, das gezähmt in mehrere Spielarten zerfällt, Weſen xar EEoyav, verſchiedener Typen dar.“ bietet der Menſch, ein ſociales eine große Menge die Racen, und die Paralleliſirung beider wird der naturwiſſenſchaftlich Gebildete als ſelbſtverſtändlich betrachten. Greifen wir nun eine beliebige Thierſpecies heraus, jo erkennen wir ſchon, daß alle ihre Varietäten fi nicht nur durch einen im Weſentlichen übereinſtimmenden Körperbau, ſondern auch durch eine beſtimmte Reihe gemeinſamer Erſcheinungen in ihren Lebensgewohnheiten, Sitten und, wenn man ſo ſagen darf, auch in ihren geiſtigen Anlagen charakteriſiren. Zerſplittert ſich die Varietät in Spielarten, ſo wird das Band ſolcher gemeinſamen Phänomene zwar loſer, iſt aber immerhin noch vorhanden und weiſt deutlich die all— gemeinen Racenmerkmale auf. Unſere Haus— thiere, die wohl insgeſammt von wilden Arten abſtammen und mitunter in zahlreiche Spielarten zerfallen, find hierfür ein deut⸗ licher Beweis. Wer hätte nicht an der Dies die Worte Friedrich Müller's. Was in einer Thier- | ſpecies die Varietäten, find in der Menſchheit Entſtehen veranlaßten. Im Allgemeinen können wir es getroſt ausſprechen, daß die Merkmale deſto feſter und unver— wiſchbarer haften, je größer die Kategorie iſt, welche ſie charak— teriſiren. So kann eine Spielart weit leichter jene Merkmale, welche ſie von der nächſten Spielart, als die Varietät jene verlieren, die ſie von der nächſten Varietät unterſcheiden. Mit andern Worten: Spielart geht leichter in der Varietät auf, als dieſe in der Art; die Varietät aber leichter in der Art, als dieſe in der Familie; die Art leichter in der Familie, als dieſe in der Ordnung; die Familie leichter in der Ordnung, als dieſe in der Claſſe u. ſ. w. Die Nutzanwendung dieſer Sätze auf die Völkerkunde ergibt ſich von ſelbſt. Vom Menſchen pflegt man anzunehmen, daß er nur in einer einzigen Art mit verſchiedenen Varietäten und noch mehr Spielarten exiſtirt; es iſt jedoch gut, daran zu erinnern, daß bei dem heutigen Zuſtande der Forſchung, welche die Flüſſigkeit aller Kategorien er— wieſen, zwar ein bedeutender Unterſchiede aber keine abſolute Grenzlinie zwiſchen Art und Varietät beſteht. Mehr denn irgend eine Disciplin iſt die Völkerkunde geeignet, uns dieſe Wahrheit vor Augen zu führen; denn es giebt zweifellos eine ganze große Reihe von nicht blos phyſiſchen, ſondern Die ei 1 > * * a 3 wi — 2 — — — 1.i — .— — —gt᷑ — — auch pſychiſchen Erſcheinungen, welche allen Menſchen ohne Unterſchied der Race und des Volkes zukommen; wir nennen ſie all— gemein menſchliche. Die religiöſen Gefühle ſcheinen z. B. in dieſe Claſſe zu gehören. Jede menſchliche Varietät, jede Nace beſitzt aber ihrerſeits wieder beſtimmte, ihr eigen— thümliche Merkmale, wodurch ſie ſich von ihren Nebenracen unterſcheidet. Friedrich Müller hat in ſeiner „Allgemeinen Ethno— graphie“ zum erſten Male die Charakteriſtik der einzelnen Racen nach ihren hervor— ragendſten Unterſcheidungsmerkmalen durch— geführt. Die Spielarten der Menſchenracen nennen wir Völker und nach dem oben Er— wähnten unterliegt es keinem Zweifel, daß die Raceunterſchiede ſtärker ſein müſſen als die Völkerunterſchiede. Der einfache Augenſchein beſtätigt auch reichlich dieſes Axiom. Betrachten wir Italiener, Fran— zoſen, Spanier und Portugieſen, ſo er— kennen wir zwiſchen dieſen Nationen ſehr deutliche Unterſchiede, nicht blos in Sprache und Sitten, ſondern ſelbſt im Baue ihres Körpers. Dennoch kommen ihnen allen wieder in Sprache, Sitten und Körperbau übereinſtimmende Eigenſchaften zu, welche ſie von Engländern, Deutſchen und Skan— dinaviern, oder von Ruſſen, Polen, Böhmen u. ſ. w. unterſcheiden. Weit mehr als untereinander unterſcheiden ſich alle dieſe genannten Völker zuſammen aber von den Chineſen, Malayen oder Indianern, welche eben einer ganz anderen Race angehören. Den Racen⸗Unterſchied leugnen zu wollen, wäre Angeſichts der von der Völkerkunde auf- geſpeicherten Erfahrungen unmöglich und lächerlich, und müßte mit Nothwendig⸗ keit dazu führen, auch die Unterſchiede von Volk zu Volk in Abrede zu ſtellen, was gewiß keinem Vernünftigen beifällt. Es hieße Eulen nach Athen tragen, wollte ich daran erinnern, wie jede fremde Sprache uns daran mahnt, daß das Volk, welches ſie redet, auch verſchieden denkt und-oft verſchie— den empfindet. Können wir doch manche Begriffe der einen Sprache nicht in eine andere überſetzen! Der Völkerunterſchied iſt alſo unläugbar vorhanden, nicht blos in der Sprache, in der Denkweiſe, in den Sitten, in den Lebensgewohnheiten, kurzum in den geiſti— gen Gebieten, ſondern auch in den pſychiſchen und ſogar in den phyſiſchen Anlagen. Blättern wir in den Berichten der Rei- ſenden, ſo ſtoßen wir hundertfach auf die Angabe von der Sanftmuth oder dem Blut- durſte dieſes oder jenes Volksſtammes. Die Indianer Nordamerikas tragen große Unempfindlichkeit gegen körperliche Schmerzen und Qualen zur Schau; manche Neger- ſtämme legen auf das Leben gar keinen Werth. In Braſilien geben ſich Neger— jelaven in ganzen Geſellſchaften aus ganz geringfügigen Urſachen mitunter den Tod, blos um ihren meiſt guten Herrn zu ärgern! Wir brauchen aber nicht ſo weit zu gehen. In Gemüth und Temperament iſt der fröhliche Italiener von dem ernſten Deutſchen himmelweit verſchieden und dieſer wieder nicht mit dem ſchwermüthigen Slaven zu verwechſeln. Ganz das Gleiche trifft bei dem körperlichen Aeußeren zu. Ein nur halbwegs aufmerkſamer Beobachter er⸗ kennt alsbald einen fremden Typus inmitten eines Volkes. Ein geübtes Auge vermag beinahe jede europäiſche Nationalität an ihrem Aeußeren zu erkennen, wird zum min⸗ deſten niemals einen Briten für einen Spa⸗ nier oder dieſen für einen Schweden, Ruſſen oder Ungarn halten. Wer dann endlich in verſchiedenen Ländern gelebt, unter ver⸗ ſchiedenen Völkern ſich umgeſehen hat, der findet wohl ſehr bald heraus, wie ſo manche politiſche und ſociale Erſcheinungen in dem 50 Hellwald, Bedeutung und Aufgaben der Völkerkunde. 5 einen Lande gedeihen, in dem anderen hin— gegen unmöglich ſind, weil ſie eben mit den geiſtigen und pſychiſchen Anlagen des je— weiligen Volkes im innigſten Zuſammen— hange ſtehen. Die Culturgeſchichte verſieht uns mit zahlloſen Beiſpielen, daß eine und die nämliche Erſcheinung von verſchiedenen Völkern ſehr verſchieden aufgefaßt und be— urtheilt wird. Blicken wir auf das Chriſten— thum bei den Romanen, den Germanen und den Slaven, auf den Islam bei den ſemitiſchen Arabern und den uralaltaiſchen Türken. Welche tiefgehende Unterſchiede! Oder, um ein modernes Beiſpiel über einen recht gleichgültigen Gegenſtand zu wählen, vernehmen wir ein deutſches und ein ita= | lieniſches Urtheil über Richard Wagner'ſche Muſik! In's Unzählige ließen ſich dieſe Beiſpiele häufen, wäre es überhaupt noch nothwendig, die alte, längſt erkannte Wahr— heit zu beweiſen, daß die Völker von einander verſchieden geartet find. Niemand beftreitet fie, wagt es, fie zu beſtreiten. Iſt es nun nicht ſonderbar, daß man für die Racen nicht gelten laſſen will, was man doch für die Völker, ihre Spielarten, nicht in Abrede ſtellen kann? Hellwald, Bedeutung und Aufgaben der Völkerkunde. kenden Begriffe der Race noch nicht möglich Warum ſoll kein Racenunterſchied exiſtiren, Völker führt natürlich auf jene zurück, ob wenn es doch einen Völkerunterſchied gibt? Warum ſoll erſterer nur eine bequeme Schablone ſein, wenn die Wirkungen des Letzteren ſo augenfällig hervortreten? Wa— rum ſollen endlich beim Menſchen nicht die nämlichen Geſetze wirkſam ſein wie in der übrigen organiſchen Natur? Vielleicht wendet man ein, daß, die Racen— unterſchiede zugegeben, dieſelben noch nicht ſcharf genug definirt ſeien, um daran weitere Combinationen zu knüpfen. Dieſer Einwurf beſitzt eine ſcheinbare Berechtigung, in ſo dieſe | felhaft ſein. ferne die Anthropologen eine definitive Ein- theilung der Menſchheit in Racen noch nicht vereinbart haben, es ſomit bei dem ſchwan— 51 erſcheint jede, Race nach ihren phyſiſchen und pſychiſchen Anlagen ſcharf zu umgrenzen. Daß das Problem nicht ganz unlösbar ſei, hat indes, wie erwähnt, ſchon Friedrich Müller gezeigt, und dies bildet nun eine zweite Aufgabe der Völkerkunde. Für die Culturentwicklung der weißen Menſchheit, die, von Natur aus auf beſtimmte Erdſtriche beſchränkt, meiſtens allein in Betracht kommt, iſt aber der angedeutete Einwurf völlig werthlos, denn hier haben wir es nur mit längſt bekannten ethniſchen Factoren zu thun. Wir wiſſen genau, was zum indogermaniſchen und zum ſemitiſchen Stamme gehört, und was nicht; die Unterſchiede zwſchen beiden ſind ſcharf und beſtimmt, und laſſen ſich die ganze Geſchichte hindurch mit geringer Mühe verfolgen. Auch die ethnologiſche Stellung der meiſten aſiatiſchen Völker iſt genügend geſichert. erſt, wenn wir die Völkerkunde bei cultur— geſchichtlichen Unterſuchungen über ſehr fern abliegende Bruchſtücke der Menſchheit zu Hülfe rufen. Die Frage nach den Raceunterſchieden und deren Einflüſſen in der Geſchichte der Unterſchiede höhere und niedrigere Menſchentypen erkennen laſſen. Meiner Anſicht nach kann die Antwort nicht zwei— Gehen wir auch von einer urſpünglichen Einheit unſeres Geſchlechtes aus, ſo ſind doch die phyſiſchen Anlagen der einzelnen Racen erſt ſpäter im Kampfe um's Daſein erworben worden, und es iſt nicht einzuſehen, warum, wenn die Umſtände, welche die Racenbildung hervorriefen, ſtark genug waren, dieſe mit verſchiedener Hautfarbe, verſchiedenem Haarwuchs und verſchiedenem Schädelbau, mit ſogar ſehr verſchiedener Gehirngröße auszuſtatten, ein Gleiches nicht Fühlbar wird die Lücke u‘ a 8 P 5 — 52 auch bei den pſychiſchen Anlagen der Fall geweſen ſein ſollte. Die ſogenannte Gleich— heit aller Menſchen iſt ein wiſſenſchaftlicher Nonſens; ſie hat, wenn je, nur beſtanden, ſo lange der auf tiefſter thieriſchen Stufe ſtehende Menſch noch in der Urheimath un— abgetheilt in Varietäten lebte. Mit der, wahrſcheinlich durch die Wanderung und Aupaſſung an fremde Wohuſitze veranlaßten Spaltung in Varietäten, in Racen, hörte die urſprüngliche Einheit und Gleichheit auf, und es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß die verſchiedenen Racen pſpychiſch un— gleich begabt waren. Genau das Nämliche können wir übrigens an den Varietäten einer beliebigen zoologiſchen Art beobachten. Wenn wir nun von einer ungleichen Be— gabung reden, ſo iſt damit freilich noch kein Vergleich in dem Sinne von hoch und niedrig ausgedrückt, und ich will bemerken, daß letztere Unterſcheidung überhaupt eine ganz ſubjective iſt. Hoch nennen wir, was auf unſerer eignen Stufe ſteht; niedrig was darunter, am niedrigſten was am weiteſten davon entfernt iſt. Wir gerathen dadurch allerdings häufig in Gefahr als niedrig zu bezeichnen, was ſtreng genommen blos anders iſt als wir, immerhin aber doch mit einem gewiſſen Rechte, in ſofern wir ein Höheres über uns nicht erblicken. Folgen wir übrigens dem Geig er'ſchen Ausſpruche, wonach die Vernunft erſt durch die Sprache geſchaffen wurde, ſo war der Menſch in der Zeit, als es zwar Racen aber noch keine Völker gab, weil ſprachlos auch vernunft— los. Die intellectuellen Divergenzen können alſo erſt ſpäter, nach Entſtehung der Sprache und Abſonderung in Völker zum Vorſchein gekommen ſein und es iſt begreif— lich, daß je größer die Zerſplitterung, deſto größer und zahlreicher auch die geiſtigen Hellwald, Bedeutung und Aufgaben der Völkerkunde. — —< Verſchiedenheiten ſind. Durch die ſchon vor— handenen pſychiſchen Racenanlagen wurde die intellectuelle Entwickelung der neugebore— nen Völker zweifelsohne tief beeinflußt, allein, daß ſie nicht lediglich auf Rechnung der Race zu ſetzen ſei, erhellt aus dem Ge— ſagten zur Genüge. Wenn nun thatſächlich unter den verſchiedenen Stämmen intellectuelle Differenzen vorhanden ſind, wie ſie klaffender kaum gedacht werden können — die Armuth mancher, auf einige hundert nothdürftiger Be— griffe beſchränkter Sprachen, verglichen mit den hochausgebildeten wortreichen Idiomen der Culturvölker gibt davon Kunde — ſo er— wächſt daraus der Völkerkunde eine dritte, nicht minder wichtige Aufgabe: zu erfor— ſchen und zu ſondern, was auf Racen, einflüſſe zurückzuführen, was dem Volke als ſolchem eigent hümlich iſt Die hohe Bedeutung der Völkerkunde für die Geſchichte der menſchlichen Geſittung wird wohl Niemandem entgehen. In Wahr- heit ift ſie die alleinige Baſis, auf welcher culturhiſtoriſche Unterſuchungen mit Sicherheit ausgeführt werden können, gibt ſie allein einen zuverläſſigen Anhaltspunkt zur Be— urtheilung beſtehender Zuſtände, ſocialer wie politiſcher Inſtitutionen. Ohne ſie läuft man Gefahr, wie es ja alltäglich geſchieht. Utopien nachzujagen, Phantaſiegebilde für den Ausfluß tiefer Weisheit oder politiſcher Ueberlegenheit auszugeben. Vielleicht werde ich ein andermal in dieſen Spalten andere intereſſante Punkte der naturwiſſenſchaftlichen Völkerkunde, z. B. die culturhiſtoriſchen Wirkungen der Kreuzung und Racenmiſchung zu erörtern Gelegenheit finden. Für dies— mal begnüge ich mich mit dem Hinweiſe, daß alle Völkerkunde, wie ich gezeigt zu haben glaube, beginnen müſſe mit der Abſtammungslehre. e o = — Wirkung der Abſtammungslehre erſichtlicher als an der Wiſſenſchaft vom Menſchen. Als ich auf der Hochſchule weilte — es war von 1851 bis 56 — herrſchte noch unumſchränkt das Dogma Cuvier's: „Es gibt keinen foſſilen Menſchen.“ Ich erinnere mich noch ſehr gut, wie mein hochverehrter Lehrer Prof. Quenſtedt mich damals um meine Anſicht über ein paar Zähne frug, die er ſich nicht zu ent— räthſeln vermöge. Als ich ſie ohne Beſinnen für menſchliche Backenzähne erklärte, rief er lebhaft aus, das ſei nicht möglich, denn die Zähne ſeien ohne jede Frage foſſil und foſſile Menſchen gebe es nicht, er halte ſie für die Zähne einer kleinen Species von Schweinen, er habe in der zoologiſchen Sammlung der Univerſität alle dort vor— handenen Schweinearten durchgeſehen, mit denen ſtimmten ſie allerdings nicht, aber es könnte eine Dicotylesart ſein, deren Schädel in der Sammlung fehle. meiner eigenen Sammlung einen Schädel Da ich nun in Die moderne Anthropologie. Von Guſtab Jäger. auch nicht und der Zwieſpalt blieb unge— löst: Ich blieb dabei, daß es Menſchen⸗ zähne ſeien, er, daß ſie foſſil, alſo nicht von Menſchen ſtammen könnten. Und wie ſteht es heutzutage? In allen eiviliſirten Ländern beſtehen anthropo lo- giſche Geſellſchaften, in welchen fid Laien und Gelehrte in großer Zahl ver- einigt, welchen ſogar ſchon die Behörden ihren Apparat zur Verfügung geſtellt haben, einzig zu dem Zweck, den foſſilen oder, ſagen wir objektiver den prähiſtoriſchen Menſchen zu ſtudiren und ihn mit dem hiſtoriſchen in Verbindung zu ſetzen. Ein immenſes Material der intereſſanteſten Art iſt durch den von dieſen Vereinen ausgehenden Impuls zu Tage gefördert, eine Armee von Beobachtern über alle Länder hin aufgeſtellt worden und mit wachſendem Erſtaunen ſieht der ge— bildete Theil der Menſchheit die Ahnenſchaft von dem Agamemnon Schliemann's an— gefangen bis hinauf zu den Renthier— nomaden Schwabens und Südfrankreichs und den kannibaliſchen Höhlenbewohnern Belgiens aus dem Schoße der Erde ſteigen. Wer hat dieſen Zauber vollbracht? dieſes ſüdamerikaniſchen Schweines beſaß, Wer blies dieſe Poſaune des jüngſten Ge— fo holte ich denſelben herbei; er ſtimmte eben richts, welche die Gebeine der Vergangen— | | * 54 heit zur wiſſenſchaftlichen Auferſtehung kom— mandirte? Wem verdanken wir dieſe immenſe Erweiterung unſeres hiſtoriſchen Horizontes? Was war die geiſtige Macht, welche die Laienwelt packte und ſie zwang, dem kleinen, als Sonderlinge verlachten, ja von manchen des Schwindels geziehenen Corps von Archäologen, die ſchon ſeit Dezennien in der Stille dem Cultus der Vergangenheit huldigten, zur Seite zu treten; welche hunderte der beſten Köpfe und Tauſende von Händen in Bewegung ſetzt und einen neuen Zweig der Naturforſchung, Prähiſtorik, ins Leben rief? Niemand anders war es, als der Ruf der Darwiniſten: Der Menſch ſtammt vom Thiere ab! Wir Naturforſcher ſind ſo gern ſtolz darauf, daß wir über die Vorurtheile des Laien erhaben ſeien, daß das Dogma keine Herrſchaft über uns übe. Eitle Selbſt— überhebung! Wer die Geſchichte der Wiſſen— ſchaft ſtudirt, was findet er? Jederzeit die Herrſchaft des Dogma's und jeden Fortſchritt der Wiſſenſchaft geknüpft an den Sturz eines Dogma's. Und wodurch wird ein Dogma geſtürzt? Ich höre die Antwort: „Durch That— ſachen!“ daß das nicht wahr iſt, läßt ſich gerade an unſerem Kapitel beweiſen. Schon im Jahre 1828 hatte Herr Tournal in der Höhle von Bize den foſſilen Menſchen gefunden. Ein Jahr ſpäter entdeckte ihn Herr Chriſtol in Ge— ſellſchaft von Hyänen und Rhinoceros in der Höhle von Pondres. In den Jahren 1833 — 34 publizirte Dr. Schmerling ſeine einſchlägigen Funde in den Höhlen, welche die Thäler der Maas und ihrer Nebenflüſſe bergen. | Lyell, der berühmte engliſche Geologe, der Begründer der Prähiſtorik, ſchreibt in die Jäger, Die moderne Anthropologie. ſeinem Buche „Das Alter des Menſchen— geſchlechts“ deutſche Ausgabe, S. 38: „Schmerling ſelbſt zweifelte nicht „daran, daß, als Schlußfolgerung aus „ſeinen Entdeckungen, der Menſch einſt in „dem Lütticher Gebiet als Zeitgenoſſe des „Höhlenbären und anderer ausgeſtorbener „Vierfüßler gelebt haben müſſe, und ſprach „ſich darüber in ſeinen Veröffentlichungen „aus. Aber die außerordentlichen und „Jahre andauernden Schwierigkeiten und „Anſtrengungen, welche der unermüdliche „und klar ſehende Forſcher bei feinen Unter- „ſuchungen zu überſtehen hatte, ſchreckten „andere ab, ihm auf dieſem Wege zu folgen „und ſeine Meinung konnte gegen „das vieljährige Vorurtheil der „bisherigen Wiſſenſchaft nicht durch— „dringen. Ich ſelbſt konnte mich, als „ich ihn im Jahre 1832 zuerſt beſuchte „und ſeine prächtige Sammlung beſichtigte, „nicht überzeugen, und legte ſeinen Ent— „deckungen, welche ich in der dritten und „den folgenden Auflagen meiner „Grund— „züge der Zoologie“ mittheilte, nicht das— „jenige Gewicht bei, welches ſie, wie ich „nunmehr glaube, verdienen.“ „Im Jahre 1860, ſechs und zwanzig „Jahre nach meiner erſten Begegnung mit „Schmerling, beſuchte ich Lüttich wieder. „Viele der Höhlen waren ganz zerſtört und „ihr Inhalt zu anderweiten Zwecken hin— „weggeführt. Nur von der Engihoulhöhle, „aus welcher Schmerling drei menſchliche „Skelete hervorgezogen hatte, war noch ein „großer Theil unverſehrt erhalten. Ich „durchſuchte dieſen Theil mit Hülfe des „Profeſſor Malaiſe von Lüttich und „fand bald Knochen und Zähne des Höhlen— „bären und anderer ausgeſtorbenen Thier— „arten, welche Schmerling namhaft ge— „macht hatte. Mehrere Wochen ſpäter, nach da ran. Fiunde in der Kenthöhle ganz unberückſich— „meiner Abreiſe, fand mein Begleiter in „derſelben Ablagerung drei Bruchſtücke eines „menſchlichen Schädels und zwei vollſtändige „Kinnladen mit Zähnen, alle in einer „ſolchen Weiſe mit Thierknochen gemiſcht „und denſelben ſo vollſtändig in Farbe und „ſonſtigen Eigenſchaften gleichend, daß der „Finder keinen Zweifel über die Zeitge— „noſſenſchaft des Menſchen mit ausgeſtorbenen „Thierarten behielt.“ a Warum kam Lyell erſt im Jahre 1860 wieder nach Lüttich? Doch hören wir zuvor weiter. N Perthes ſeine Entdeckungen des foſſilen Menſchen im Sommethal; ſeine Publikation erfolgte im Jahre 1847. S. 62 hierüber? „Die wiſſenſchaftliche Welt hatte „keinen Glauben daran, daß Kunſt— „erzeugniſſe, wenn auch noch ſo roh, in „ungeſtörten Erdſchichten von ſolchem Alter „ſollten gefunden worden ſein. Nur wenige „Geologen beſuchten Abbeville, um ſich „ſelbſt von dem Stand der Sache zu über— „zeugen (auch Lyell kam nicht). Einige „hielten die Inſtrumente für Naturerzeug— „niſſe, andere hatten Verdacht gegen die „Arbeiter, welche die Inſtrumente ſelbſt „zum Verkaufe möchten angefertigt haben, „noch andere glaubten an eine zufällige „Vermiſchung.“ Noch weiter: Ein Dr. Rigollot, als ausgezeichneter Phyſiker bekannt, beſuchte Abbeville und beſchloß nach Beſichtigung des Sachverhalts auch in Amiens zu graben. Er hat den gleichen Erfolg wie Boucher de Perthes, veröffentlicht die Sache, und wieder glaubt kein Menſch Auch in England bleiben die ; 1 tigt. Erſt im Jahre 1858 hält man es — — Jäger, Die moderne Anthropologie. 55 bei Entdeckungen einer neuen, noch unbe— rührten Höhle bei Brixham für der Mühe werth, eine genauere Unterſuchung anzuordnen. Lyell ſchreibt S. 63: „1859 beſuchte ich ſelbſt die unterirdiſchen Gallerien und Gänge.“ Im gleichen Jahre findet ſich Lyell (S. 74) auch veranlaßt, Hrn. Boucher de Perthes dreimal zu be— ſuchen und, wie oben gezeigt wurde, geht er 1860 zu Dr. Schmerling. Was hat Hr. Lyell in Bewegung geſetzt? — Im Jahre 1859 erſchien das Werk Darwins über „die Entſtehung der Im Jahre 1841 begann Boucher de Arten“, nachdem ſchon im Jahre 1858 Darwin und Wallace die engliſchen Gelehrten mit den Grundzügen der neuen Was ſagt Lyell | Lehre bekannt gemacht hatten. Alſo ein ſo ausgezeichneter Forſcher wie Lyell ſteht faſt 30 Jahre lang unter dem Drucke von Thatſachen, ohne im Stande zu ſein, das Joch des Cuvier'ſchen Dogmas abzuſchütteln. Bis zum Jahre 1858 wird allen Thatſachen zum Trotz auf allen Hoch— ſchulen das Cuvier 'ſche Dogma gelehrt. Ein neues Dogma mußte das alte zuvor vom Throne ſtoßen, dann gingen Lyell und andern die Augen auf. Das iſt die Macht des Dogma's, der kein Menſch ſich entziehen kann. Man hört gegenwärtig ſo viel Jammern, daß mit der Darwin'ſchen Lehre der Dog— matismus nicht blos in der Wiſſenſchaft, ſondern tief in die Laienwelt hineingetragen worden ſei. Diejenigen, welche ſo klagen, find gerade die, welche ihre wiſſenſchaftliche Laufbahn unter dem Banne des Cuvier'ſchen Dogma's machten, freilich ohne zu wiſſen, welches Joch auf ihrem Nacken lag. Dieſen möchte ich den obigen Spiegel vorhalten. Sie möchte ich fragen: Welches Dogma war fruchtbringender für die anthropolo- FFF | 1 56 Jäger, Die moderne Anthropologie. giſche Forſchung, das von Cuvier oder | Cuvier'ſche Joch tragen, daher doppelt be— das von Darwin? laſtet find: hine illae lacrymae! Das Gelungene an der Wendung der Dinge iſt namentlich das, daß die Ackerer auf dem neuen Boden der Anthropologie nicht etwa blos die Darwinianer, ſondern vielleicht ſogar der Mehrzahl nach eher die Zweifler an deſſen Lehre ſind. Im Schweiße ihres Angeſichts arbeiten ſie, um — wie ſieſagen — die Ehre des Menſchengeſchlechts wieder herzuſtellen, die dadurch angegriffen ſei, daß man es einer ſo niedrigen Herkunft zeihe. Dabei vergeſſen ſie ganz, daß ſie damit ge— nau ebenſo unter das Joch des neuen Dogma's gebeugt ſind wie ihre Gegner, nur mit dem Unterſchiede, daß ſie daneben noch das alte Was folgt daraus? Das neue Dogma iſt eine Macht, der ſich kein Forſcher mehr entziehen kann und welches gerade wie das Cuvier'ſche. Dogma fo lange die Forſchung ſouverain und unerbittlich beherrſchen wird, bis ein beſſeres es ſtürzt. Weiter folgt daraus: Es ſollten beide Theile etwas ver— ſöhnlicher gegen einander werden, den Gegner nicht beſchimpfen, ſondern ſtets an die eigene Bruſt ſchlagen, eingedenk des Bibelſpruchs: „Wir ſind allzumal Sünder (i. e. Dogmatiker), und mangeln des Ruhms, den wir vor Gott haben ſollen.“ worden. Darwin’s Werk: „Ueber die Wirkungen der Kreuzung und Selbſtbefruchtung im Pflanzenreich“ und ſeine Bedeutung für unſer Verſtändniß der Blumenwelt von Dr. Hermann Müller. N ſurch ein Werk, welches, wie das vorliegende, für die Er— klärung eines unermeßlich reichen Gebietes wunderbarer T Erſcheinungen zum erſten Male eine breite und ſichere Grundlage ſorgfältig feſtgeſtellter Thatſachen ſehen wir uns unwillkürlich veranlaßt, auf und ihre Begründung zurückzublicken, die jetzt gewonnenen Grundlagen für ein Ver— ſtändniß deſſelben, glatt herausgeſchält, uns zu vergegenwärtigen, Weiterforſchung ſich neu eröffnenden Pfade Nins Auge zu faſſen. Bis zu Chr. Conr. Sprengel's Zeit gelten. Die Frage, warum der einen Blume dieſe, der andern jene Eigenthümlich— keit der Farbe, des Geruches und der Ge— ſtaltung zukomme, konnte erſt auftauchen, nachdem dieſer ſelbſtbeſchränkte Standpunkt überwunden war, nachdem man begonnen liefert, hatte, ſich in das Einzelleben der Organismen zu vertiefen und ihnen einen eigenen Zweck zu— die bisherigen Auffaſſungen dieſes Gebietes zuerkennen. Dann mußte aber auch unaus— bleiblich die Beobachtung der den Blumen ihre Nahrung entnehmenden Inſekten zu der Er— kenntniß führen, daß die Bedeutung der und die der war an eine Löſung der Räthſel der Blumen welt, ſo viel wir wiſſen, nie gedacht Das Wohlbehagen, welches die Blumen durch ihre bunten Farben, ihre Wohlgerüche und ihre unendlich mannigfal— tigen, zierlichen Formen dem Menſchen wohl von jeher verurſacht haben mögen, konnte ihm, ſo lange er ſich ſelbſt als Mittelpunkt und alleinigen Zweck des Weltalls betrachtete, als hinreichender Grund ihrer Exiſtenz Blumeneigenthümlichkeiten nicht durch eine Be trachtung derſelben für ſich, ſondern nur im Zuſammenhange mit der Thätigkeit der die Blumen beſuchenden Inſekten erkannt werden könne. Der erſte Forſcher, der ſich mit ſo liebevoller Hingabe in das Leben der einzelnen Blumen und in die Thätigkeit der fie beſuchenden Juſekten verſenkte, daß dieſe Wahrheit ſich ihm erſchließen mußte, war Chr. Conr. Sprengel, welcher ſeine wichtigen Entdeckungen unter dem Titel: „Das ent— deckte Geheimniß der Natur im Bau und in der Befruchtung der Blumen“ im Jahre 1793 veröffentlichte. CH [0 0) Sprengel hatte erkannt, daß viele Müller, Darwin's Werk. | alſo geſchehen, daß die Inſekten, indem fie honighaltige Blumen fo eingerichtet find, | daß zwar die Inſekten, welche ſich von ihrem Honige nähren, ſehr leicht zu demſelben dem Safte der Blumen nachgehen, noth— wendig den Staub der Antheren abſtreifen und auf das Stigma (die Narbe) bringen.“ gelangen können, der Regen aber ihn nicht verderben kann, und daraus geſchloſſen, daß der Honig dieſer Blumen wenigſtens zunächſt um der Inſekten willen abgeſondert werde. Es war ihm nicht entgangen, daß die ihrer Nahrung wegen in der Luft umherſchwär— menden Inſekten durch die bunten Farben der Blumen ſchon von weitem auf dieſe ihre Honigbezugsquellen aufmerkſam werden, und daß beſonders gefärbte Flecken und Linien an den Blumen ſich immer da finden, wo ein Inſekt ſeinen Kopf oder Rüſſel hineinzuſtecken hat, um zum Honige zu gelangen. Auch dieſe Blumeneigenthümlich— keiten konnte er daher nur als, wenigſtens zu— nächſt, um der Inſekten willen vorhanden, auffaſſen. Er hatte ferner direct beobachtet, daß die Inſekten, indem ſie dem Honige der Blumen nachgehen, ſich gewöhnlich mit Blüthenſtaub derſelben behaften und denſelben zum Theil an den Narben abſetzen, daß ſie alſo, ohne es zu wiſſen und zu wollen, ſehr häufig die Vermittler der Befruchtung werden. Er hatte endlich ſich überzeugt, daß viele honighaltige Blumen von Natur ſchlechterdings nicht anders befruchtet werden können, als durch dieſe Vermittelung der Inſekten. Aus dieſen Ergebniſſen ſeiner Unter— ſuchungen zuſammengenommen folgte nun faſt unabweislich ſeine Erklärung der Ein— richtungen aller honighaltigen Blumen, deren Grundlage er, von ſeinem teleologiſchen Standpunkte aus, in folgende Worte faßte: 1) „Dieſe Blumen ſollen (nach der Abſicht des Blumenſchöpfers) durch dieſe oder jene Art von Inſekten oder durch mehrere Arten derſelben befruchtet werden. 2) Dieſes ſoll beſuchenden Von dieſer Grundlage aus erklären ſich die Abſonderung und Schützung des Honigs, die Augenfälligkeit und der Duft der Blumen als Einrichtungen, welche den Blumen un— mittelbar Inſektenbeſuch und mittelbar, mittelſt deſſelben, Befruchtung verſchaffen, während die beſondere Geſtaltung der Blüthentheile, ebenſo wie ihre gegenſeitige Stellung und Entwicklungsreihenfolge, ſich in der Regel als unmittelbar der Befruchtung durch die Inſekten dienend nachweiſen laſſen. Sprengel veröffentlichte dieſe Blu— mentheorie nicht, ohne fie an mehreren hundert Blumenarten mittelſt bewunder— ungswerth genauer Beobachtung ihrer Befruchtungseinrichtung und ihrer thatſächlich durch Inſekten vermittelten Befruchtung auf die Probe geſtellt zu haben. Sein Werk bildet daher eine reiche Fundgrube lichtvoller Einblicke in ein bis dahin abſolut dunkles Gebiet, und wir würden ihm noch heute die vollſte Berechtigung zu dem hohen Titel, mit welchem es auftrat, zuerkennen müſſen, wenn nicht in der Grundlage ſeiner Er— klärung ein ſchwacher Punkt vorhanden wäre, der wohl ſchon ſeinen Zeitgenoſſen aufgefallen ſein mag, und der allein es erklärlich macht, daß ein ſo prächtiges Werk 70 Jahre hindurch faſt unbeachtet und wirkungslos bleiben konnte. Wenn nämlich, wie es nach der Sprengel'ſchen Blu- mentheorie ſcheint, die Befruchtung der Blumen durch Inſekten nichts anderes be— wirkt, als was auch ſchon die unmittelbare Vereinigung des Blüthenſtaubes mit der Narbe derſelben Blüthe bewirken würde, ſo iſt ſie nur eine nutzloſe Weitläufigkeit, * S x ebenſo widerſprechend der Vorſtellung eines weiſen Blumenſchöpfers, als unerklärlich durch Naturzüchtung. Nur wenn die In— ſekten als Befruchtungsvermittler den Pflanzen einen Vortheil zuführen, der ihnen durch die unmittelbare Vereinigung des Blüthen— ſtaubes mit der Narbe derſelben Blüthe nicht zu Theil werden kann, nur dann kann Demjenigen, der ſich einen Blumenſchöpfer vorſtellt, die von Sprengel demſelben zugeſchriebene Abſicht vernünftig und daher glaubhaft erſcheinen; nur dann iſt zugleich die Ausprägung aller jener Blumeneigen— thümlichkeiten, welche Inſektenbeſuch und mittelſt deſſelben Befruchtung herbeiführen, durch Naturzüchtung erklärlich. Dem Ent— decker der Bedeutung der Naturzüchtung, Charles Darwin, blieb es vorbehalten, in der günſtigen Wirkung der Kreuzung ges | trennter Individuen den Vortheil der durch | Inſekten vermittelten Befruchtung zu er— kennen und dadurch die ſtörende Lücke in der Grundlage der Sprengel'ſchen Blumentheorie auszufüllen. Schon in ſeinem Hauptwerke „Über die Entſtehung der Arten im Thier- und Pflanzenreiche“ (1859) hob Darwin die bereits vorliegenden Erfahrungen der Thier und Pflanzenzüchter hervor, welche darauf | hinweiſen, daß enge Inzucht von Nachtheil iſt, Kreuzung dagegen kräftigere oder frucht— barere Nachkommen hervorbringt, betonte nachdrücklich die Thatſache, daß ganz all— gemein bei allen organiſchen Weſen der Bau und die Lage der Geſchlechtstheile eine derartige iſt, daß ſie, oft mit unge— heurer Verſchwendung von männlichen Be— fruchtungskörpern, eine Kreuzung getrennter Individuen derſelben Art ermöglicht, und ſtellte es als ein vermuthlich allgemeines Naturgeſetz hin, daß kein organiſches Weſen eine unbegrenzte Zahl von Generationen Müller, Darwin's Werk. j: hindurch ſich ſelbſt befruchte, daß vielmehr jedes zu dauernder Erhaltung gelegentlicher Kreuzung mit getrennten Individuen derſelben Art durchaus bedürfe. Ebenſo erläuterte er bereits in demſelben vierten Kapitel, wie, unter der Vorausſetzung des Vortheils der Kreuzung, alle diejenigen Blumeneigen— thümlichkeiten durch Naturausleſe erhalten werden konnten und mußten, welche, wie z. B. die Honigabſonderung, den Beſuch der Inſekten veranlaſſen, oder welche, wie z. B. die Trennung der Geſchlechter, eine Kreuzung durch die beſuchenden Inſekten unvermeidlich machen. Was Darwin hier in den allgemeinſten Zügen erörterte, um die Wirkung der Naturzüchtung an einem beſtimmten erdachten Beiſpiele zu veranſchaulichen, die Anpaſſung der Blumen an Fremdbeſtäubung, das hatte er bereits mehr als 20 Jahre hindurch ſeit (1839) ins Auge gefaßt und durch eine große Maſſe von Beobachtungen für ſich ſelbſt feſt begründet. Anſtatt jedoch dieſe mannigfachen Beobachtungen gemiſcht und zum Theile unvollendet zu veröffentlichen, erſchien es ihm zweckmäßiger, eine einzelne Pflanzengruppe ſo ſorgfältig als möglich zu bearbeiten. Er wählte dazu die an höchſt verſchiedenen räthſelhaften Blumen— formen ſo wunderbar reiche Familie der Orchideen und zeigte in ſeinem 1862 er— ſchienenen Werke („Ueber die Einrichtungen zur Befruchtung britiſcher und ausländiſcher Orchideen durch Inſekten“, überſetzt von H. G. Bronn, Stuttgart 1862) mit über— wältigender Klarheit, daß bei faſt allen von ihm unterſuchten Arten dieſer Familie, nur einige wenige ſich regelmäßig ſelbſt befruchtende ausgenommen, die Blüthen mit erſtaunlicher Vollkommenheit und bis in die kleinſten Einzelheiten des Baues derartig eingerichtet ſind, daß ſie gewiſſe Inſekten S . — I \ j 1! 60 zum Beſuche veranlaſſen, daß fie ferner nur durch dieſe beſuchenden Inſekten befruchtet werden können, und daß ſie endlich durch deren Beſuche unausbleiblich mit Pollen getrennter Individuen müſſen. beſruchtet werden Hierdurch erſchien nun mit einem Male, wie durch einen Zauberſchlag, das | Wunderreich der Blumen dem Verſtändniſſe erſchloſſen. Denn ſobald eine vortheilhafte Wirkung der Kreuzung als in allen Fällen ſtattfindend vorausgeſetzt werden darf, braucht man ja nur, wie es Darwin bei deu Orchideen in ſo meiſterhafter Weiſe gethan hat, alle Eigenthümlichkeiten einer Blume als mittelbar oder unmittelbar der Kreuzung dienend nachzuweiſen, um die Entſtehung derſelben als einen ganz natür— lichen Vorgang begreifen zu können. Und umgekehrt müßte die durchgängige Erklär— barkeit der Blumen aus der Vorausſetzung vortheilhafter Wirkung der Kreuzung dieſer Vorausſetzung ſelbſt den höchſten Grad von Wahrſcheinlichkeit verleihen. Zahlreiche Forſcher begannen daher, dieſes von Darwin eröffnete Gebiet zu bearbeiten. Aber während ſie einerſeits die mannichfachſten Blütheneinrichtungen der ver— ſchiedenſten Familien als der Kreuzung durch die natürlichen Uebertrager des Pollens (Inſekten, honigſaugende Vögel, Wind und Waſſer) dienend nachweiſen konnten, ſtellten ſich andererſeits ungewollt in mindeſtens gleichem Verhältniſſe auch immer zahlreichere Beiſpiele regelmäßiger oder wenigſtens über— wiegend häufiger Selbſtbefruchtung heraus, ſo daß zwar die Vorausſetzung ſtets vortheil— hafter Wirkung der Kreuzung nicht an Wahrſcheinlichkeit verlor, die Nothwendig— keit gelegentlicher Kreuzung aber durch alle auf das Darwin'ſche Orchideenwerk folgenden Blumenunterſuchungen zuſammengenommen der Gewißheit um keinen Schritt näher Müller, Darwin's Werk. geführt wurde. Um ſowohl die beobachteten Anpaſſungen der Blumen an Kreuzung, als auch die zahlreichen Fälle regelmäßiger Sichſelbſtbefruchtung erklären zu können, konnte es daher nicht mehr ausreichen, Kreuzung als ſtets vortheilhaft und ge— legentlich nothwendig vorauszuſetzen; viel— mehr mußte man durchaus auch der Be— deutung der Selbſtbefruchtung ausdrückliche Zugeſtändniſſe machen. Den früher ge— glaubten Satz: „Selbſtbefruchtung wirkt ſchädlich, Kreuzung vortheilhaft auf die Nachkommenſchaft ein“ mußte man dahin abändern: „Kreuzung iſt vortheilhafter als Selbſtbefruchtung; dieſe aber immer noch unendlich vortheilhafter als gänzliches Aus— bleiben der Befruchtung. In vielen Fällen ſcheint auch Selbſtbefruchtung von Generation zu Generation für die Fortpflanzung der Art genügen zu können. In Bezug auf die Wirkung der Selbſtbefruchtung ſcheint die Blumenwelt alle möglichen Abſtufungen darzubieten zwiſchen durchaus ſelbſt-unfrucht⸗ baren und durchaus ſelbſt-fruchtbaren Pflanzen.“ Ein derartiges Zugeſtändniß an die möglichen Wirkungen der Selbſtbefruchtung mußte indeß, ſo lange es nicht unmittelbar auf Verſuche geſtützt, ſondern nur mittelbar aus den Blütheneinrichtungen gefolgert war, erhebliche Bedenken erregen, da es der Er— fahrung der Viehzüchter, welche eine poſitiv nachtheilige Wirkung enger Inzucht nach— gewieſen hatten, direct zu widerſprechen ſchien. Der weitere Fortſchritt der Blumen— unterſuchuugen, weit entfernt, die der Er— klärung zu Grunde liegenden Vorausſetzungen zur Gewißheit zu erheben, legte daher nur immer klarer die Nothwendigkeit an den Tag, durch directe Beobachtung der Wir— kungen der Kreuzung und Selbſtbefruchtung | 3 Müller, Darwin's Werk. im Pflanzenreiche über die Richtigkeit oder Unrichtigkeit jener Vorausſetzungen zu ent— ſcheiden. Die in dieſer Richtung nebenbei bereits angeſtellten Verſuche und Beobach— tungen waren dazu viel zu vereinzelt; nur mit äußerſter Sorgfalt und Umſicht ange— ſtellte, durch viele Generationen hindurch fortgeſetzte und über zahlreiche Pflanzen der verſchiedenſten Familien und Länder ſich erſtreckende Selbſtbefruchtungs- und Kreu— zungsverſuche und genauer Vergleich ihrer Wirkungen konnten im günſtigſten Falle ſo umfaſſende Vorausſetzungen hinreichend ſicher begründen. Ja es mußte von vornherein ſogar ſehr zweifelhaft erſcheinen, ob die kurze Spanne Zeit, welche einem Einzelnen zur Beobachtung zu Gebote ſteht, die Ver— ſchiedenheit der Wirkungen beider Befruch— tungsarten hinlänglich klar zu Tage treten laſſen werde; ob dieſe nicht vielmehr ſo geringfügig ſein könne, daß ſie erſt nach langen Reihen von Generationen das Unter— liegen der aus der unvertheilhafteren Be fruchtungsart hervorgegangenen Nachkommen— ſchaft bewirkt. Darwin ſelbſt wurde durch dieſes Bedenken lange Jahre hindurch zurück— geſchreckt, ſich der faſt ausſichtsloſen Rieſen— arbeit des directen Verſuchs zu unterziehen. Er entſchloß ſich zu derſelben erſt, als er zufällig die überraſchende Entdeckung machte, daß bei mehreren Blumen, von denen er zu einem ganz anderen Zwecke aus Kreu— zung und aus Selbſtbefruchtung hervorge— gangene Pflanzen in großen Beeten neben einander aufzog, ſchon in der erſten Gene— rationen die erſteren merklich größer und kräftiger wurden als die letzteren. Eine lange Reihe von Verſuchen wurde nun von Darwin in Angriff genommen und die nächſten 11 Jahre hindurch fortgeſetzt, wobei er im Allgemeinen folgendes Verfahren be— obachtete. Keimpflänzchen 61 Es wurden an einer oder einigen, durch ein darüber geſtülptes Netz vor Inſekten—⸗ zutritt geſicherten Pflanzen eine gewiſſe An— zahl Blüthen gezeichnet und mit eigenem Pollen befruchtet, und an denſelben Pflanzen zu gleicher Zeit eine gleiche Anzahl Blüthen in anderer Weiſe gezeichnet und mit Pollen eines getrennten Individuums befruchtet. Die durch beiderlei Befruchtungsarten er— haltenen Samenkörner wurden völlig reif eingeerntet, in feuchtem Sande, auf entgegen— geſetzten Seiten deſſelben, durch eine Glas— platte bedeckten, Glasgefüßes zum Keimen gebracht, und, ſo oft ein aus Selbſtbe— fruchtung und ein aus Kreuzung hervorge— gangener Same gleichzeitig keimten, die auf die entgegengeſetzten Seiten eines Blumentopfes gepflanzt und unter möglichſt ſorgfältig gleich hergeſtell— ten Lebensbedingungen (Boden, Feuchtigkeit, Wärme, Licht) heranwachſen gelaſſen. dieſe Weiſe wurden jedesmal mehrere, oft über ein Dutzend gleichaltrige Paare dem Vergleiche der Wirkungen der beiden Be— fruchtungsarten unterworfen. Verglichen aber wurden die einzelnen Concurrenten, und dann, nach Berechnung der Durch— ſchnittszahlen, die beiden Parteien, regelmäßig in Bezug auf die Höhe, die ſie in erwach— ſenem Zuſtande erreichten, oft auch in Bezug auf ihre Höhe in früherem Lebensalter und bisweilen in Bezug auf das Gewicht der erwachſenen Pflanze. Auch ein verſchiedenes Verhalten beim Keimen, ein ungleichzeitiges Aufblühen beider Parteien und eine ver— ſchiedene Fruchtbarkeit derſelben, wie ſie ſich in der Zahl der hervorgebrachten Samen- kapſeln und der Durchſchnittszahl der in jeder Kapſel enthaltenen Samenkörner zu erkennen gibt, wurde häufig beobachtet und aufgezeichnet. Von den in feuchten Sand geſäten Auf 62 Müller, Darwin's Werk. Samenkörnern beider Parteien blieben nach dem Herausnehmen der gleichaltrigen Paare zahlreiche, theils in keimendem, theils in noch nicht keimendem Zuſtande übrig, und dieſe wurden dann dicht gedrängt auf die ent— gegengeſetzten Seiten eines oder einiger großer Blumentöpfe oder bisweilen in zwei lange Reihen ins freie Land geſät und in ſtrengſtem Wettkampfe um die Daſeinsbe— dingungen heran wachſen gelaſſen. Zahl— reiche Individuen gingen dabei frühzeitig zu Grunde; von den am Leben bleibenden wurden dann die größten, wenn ſie ausge— wachſen waren, gemeſſen. Die gleichaltrigen Paare wurden zu einem Vergleiche der in den folgenden Generationen hervortretenden Unterſchiede der beiden Befruchtungsarten in folgender Weiſe benutzt: Einige Blüthen der aus Selbſtbefruchtung hervorgegangenen Pflanzen wurden wiederum ſelbſtbefruchtet, und einige Blüthen der aus Kreuzung hervorgegangenen Pflanzen wurden wiederum mit Pollen getrennter Individuen derſelben Zucht ge— kreuzt, und dieſelbe Methode bei einigen Arten nicht weniger als 10 Generationen hindurch fortgeſetzt, indem die Samenkörner und die aus ihnen erzielten Pflänzchen jedesmal genau in der ſchon beſchriebenen Weiſe behandelt wurden. Da alle dem Vergleich unterworfenen Pflanzen immer möglichſt gleichen Lebensbe— dingungen ausgeſetzt und die aus Kreuzung hervorgegangenen von Generation zu Genera— tion immer nur wieder unter ſich gekreuzt wur— den; ſo mußten auch die letzteren immer enger unter einander einander verwandt, und ur— ſprüngliche Eigenthümlichkeiten der Einzelnen immer mehr ausgeglichen werden. Die angedeutete, von Darwin in der Regel an— gewandte Methode war alſo ſehr wohl ge— eignet die Frage zu entſcheiden, ob Kreuzung Vortheil ſei. haften Wirkungen einer Kreuzung nicht an ſich, unabhängig von der conſtitutionellen Verſchiedenheit der ſich Kreuzenden, von Um dagegen die vortheil— verwandter Individuen, welche bei der Naturzüchtung der Blumen wohl in der Regel den Ausſchlag gegeben haben mag, in ihrem vollen Umfange hervortreten zu laſſen, hätten von Generation zu Generation die aus Selbſtbefruchtung hervorgegangenen Pflanzen einerſeits wieder ſelbſtbefruchtet, andrerſeits aber mit nicht verwandten In— dividuen derſelben Art und Varietät gekreuzt werden müſſen. Dieſer Verſuch wurde nur einige Male den oben angegebenen regel— mäßig angeſtellten hinzugefügt und lieferte überraſchende Reſultate; nicht nur in den oben angegebenen Beziehungen, ſondern ganz beſonders auch in der verſchiedenen Wider— ſtandsfähigkeit beider Parteien gegen feind— liche Einflüſſe (plötzliches Verpflanzen ins freie Land, Aufwachſen im Gedränge anderer Pflanzen u. ſ. w.). Was den Umfang der von Darwin 11 Jahre hindurch fortgeſetzten grundlegenden Verſuche anbetrifft, ſo beläuft ſich die Zahl der aus Kreuzung und ebenſo die Zahl der aus Selbſtbefruchtung erzielten Pflanzen— individuen, die er vom Keime bis zur fertigen Entwicklung verfolgte und auf Grund ſorgfältiger Meſſungen verglich, auf mehr als 1000; ſie gehören 57 Arten, 52 verſchiedenen Gattungen, 30 großen Familien des Pflanzenreichs an und ſind in verſchiedenen Erdtheilen zu Hauſe. Die wichtigſten allgemeinen Ergebniſſe der Darwin'ſchen Verſuche ſind etwa fol— gende: A. 1) Werden Pflanzen derſelben Art viele Generationen hindurch unter möglichſt gleichen Lebensbedingungen gehalten und von Generation zu Generation durch Selbſtbe— fruchtung fortgepflanzt, jo gewährt eine darauf folgende Kreuzung zwiſchen denſelben wenig oder gar keinen Vortheil. B. 2) Werden Pflanzen derſelben Art viele Generationen hindurch unter möglichſt gleichen Lebensbedingungen gehalten und von Generation zu Generation immer nur unter ſich gekreuzt, ſo läßt die aus ſolcher Kreuz— ung hervorgehende Nachkommenſchaft wohl während der erſten Generationen in der Regel einige Ueberlegenheit in Kräftigkeit und Fruchtbarkeit über die aus Selbſtbe— fruchtung hervorgegangenen Nachkommen er— kennen, nach einer geringen Anzahl von Generationen jedoch hört der vortheilhafte Einfluß dieſer Art von Kreuzung faſt voll— ſtändig oder vollſtändig auf und 3) auch die Kreuzung der aus ſteter Selbſtbefruchtung derſelben Zucht erhaltenen Pflanzen mit den aus Kreuzung unter ſich Müller, Darwin's Werk. wir hier die obigen Sätze in die einfachen Formeln faſſen: E So B. 2) ESS 3) SK IS 8 Dagegen 4) S K F>S C. Werden dagegen aus andauernder Selbſtbefruchtung oder aus andauernder In— zucht hervorgegangene Pflanzen mit einem friſchen Stocke gekreuzt, ſo ergiebt dies immer viel kräftigere und fruchtbarere Nach— kommen, als weitere Inzucht; insbeſondere folgt aus den Darwi n'ſchen Verſuchen: SN FF I oder, wenn man dieſe Ergebniſſe vom ent— gegengeſetzten Geſichtspunkte aus ins Auge faßt: erhaltenen liefert kaum mehr ein günſtigeres S Reſultat als Selbſtbefruchtung, wogegen e 4) Kreuzung der aus Selbſtbefruchtung E 7 hervorgegangenen Pflanzen mit einem friſchen Stocke außerordentlichen Vortheil gewährt Bezeichnen wir, um dieſe kaum ohne Weitſchweifigkeit in Worte zu faſſenden Verhältniſſe mit einem Blicke überſehen zu können, die aus (mehrere Generationen hin— durch) fortgeſetzter Selbſtbefruchtung hervor— gegangenen Pflanzen mit S, die aus fortgeſetz— ter Kreuzung (mehrere Generationen hindurch) unter ſich hervorgegangenen und möglichſt gleichen Lebensbedingungen weſenen Pflanzen mit J (Inzucht), Pflanzen eines friſchen Stockes, d. ausgelegt ge zucht hervorgegangen Pflanzen unter ſich h. nicht ver- | wandte und unter abweichenden Lebens- bedingungen aufgewachſene Individuen mit F (Fremde), die neue Kreuzung mit , annähernd gleiche Kräftigkeit und Frucht— barkeit mit O, bedeutend überlegene mit | [PE bedeutend nachſtehende mit <, fo können gangenen Pflanzen unter ſich ſehr viel we— das heißt mit Worten: 5) Der Vortheil, welchen eine Kreuzung aus andauernder Selbſtbefruchtung hervor— gegangener Pflanzen mit aus Inzucht her— vorgegangenen und gleichen Lebensbeding— ungen ausgeſetzt geweſenen Pflanzen gewährt, iſt unbedeutend im Vergleich zu den vor— theilhaften Wirkungen einer Kreuzung der— ſelben Pflanzen mit einem friſchen Stode, Ebenſo liefert 6) weitere Kreuzung der aus In— ſehr viel ſchlechtere Reſultate, in Bezug auf Kräftigkeit und Fruchtbarkeit der Nach- kommen, als Kreuzung der aus Selbſt— befruchtung hervorgegangenen mit einem friſchen Stocke; und nicht minder hat 7) Kreuzung der aus Inzucht hervorge— (rd x Dee 64 Müller, Darwin's Werk. niger vortheilhafte Ergebniſſe als ihre Kreuzung mit einem friſchen Stocke. Aus dem erſten und den drei letzten Sätzen zuſammengenommen folgt in une zweideutiger Weiſe, daß der Vortheil einer Kreuzung niemals darin liegen kann, daß überhaupt die geſchlechtlichen Elemente ge— trennter Individuen ſich vereinigen, daß er vielmehr nur durch die innere Verſchieden— heit der ſich kreuzenden Individuen und ihrer geſchlechtlichen Elemente bedingt ſein kann. Dieſer von vornherein wahrſchein— liche, nun auch durch die Erfahrung be— ſtätigte Satz macht uns zugleich die unter B aufgeſtellten Sätze verſtändlich. Denn wenn Pflanzen immer unter möglichſt gleichen Lebensbedingungen gehalten und dabei immer nur unter ſich gekreuzt werden, ſo werden ſie unausbleiblich immer enger verwandt, und die anfangs vorhandenen individuellen Verſchiedenheiten müſſen ſich von Generation zu Generation mehr und mehr ausgleichen. In allen den bisherigen Sätzen handelt es ſich nur um eine vergleichsweiſe Werth— ſchätzung der Kreuzung und Selbſtbe— fruchtung. Darwin ſtellt jedoch als wich— tigſtes allgemeines Ergebniß ſeiner geſammten Verſuche die beiden nicht relative, ſondern abſolute Geltung beanſpruchenden Sätze hin: „Kreuzung iſt im Allgemeinen vortheil— haft und Selbſtbefruchtung ſchädlich.“ (Cross- fertilisation is generally beneficial and self-fertilisation injurious.) Es iſt nöthig, die Begründung dieſer beiden Sätze ins Auge zu faſſen, um ſich vor einer Ueberſchätzung ihrer abſoluten Geltung zu bewahren. Wenn Beſenſtrauch, die großblumige Form des Stiefmütterchens und andere Blumen, welche in freier Natur regelmäßig eine Kreuzung getrennter Stöcke durch be— ſuchende Inſekten erfahren, bei den Dar— winſchen Selbſtbefruchtungs- und Kreu— zungsverſuchen ſchon in der erſten Generation ein bedeutendes Zurückbleiben der aus Selbſtbefruchtung hervorgegangenen Nach— kommen hinter den aus Kreuzung hervor— gegangenen, in Bezug auf Kräftigkeit und Fruchtbarkeit, erkennen laſſen, ſo kann dieſer Unterſchied offenbar nicht dadurch hervorgebracht worden ſein, daß die von Darwin vorgenommene Kreuzung die Kräftigkeit und Fruchtbarkeit dieſer Pflanzen vermehrt hätte, da ſie ja während zahlloſer vorhergehender Generationen beſtändig ſolche Kreuzung erfahren haben. Die Selbſtbe— fruchtung muß alſo in dieſen Fällen poſitiv nachtheilig auf die Kräftigkeit und Frucht⸗ barkeit der Nachkommen eingewirkt haben, und wir ſind zur Aufſtellung des Satzes berechtigt: 8) Pflanzen, welche viele Generationen hindurch der Kreuzung mit fremden Stöcken unterworfen geweſen ſind, werden durch Selbſtbefruchtung (in manchen oder allen Fällen?) in Bezug auf Kräftigkeit und Fruchtbarkeit ihrer Nachkommen erheblich geſchädigt. Andrerſeits kennen wir zahlreiche Pflanzen, die ſich in der Regel durch Selbſtbefruchtung fortpflanzen, und bei denen die ſich von Neuem wiederholende Selbſtbefruchtung eine Verminderung der Kräftigkeit und Fruchtbarkeit durchaus nicht erkennen läßt, für die alſo der zweite der beiden obigen Sätze (Selbſtbefruchtung wirkt ſchädlich) nicht gilt. Gerade auf ſolche, viele Generationen hindurch durch Selbſt— befruchtung fortgepflanzte Arten aber (wie z. B. die Gartenerbſe) findet, ſoweit die bisherigen Verſuche ein Urtheil geſtatten, der erſte der beiden obigen Sätze (Kreuzung wirkt vortheilhaft) ſeine Anwendung; gerade ſie werden durch Kreuzung mit einem friſchen Stode in Kräftigkeit und Frucht— barkeit in der Regel außerordentlich geſteigert; ebenſo freilich auch Pflanzen (3. B. Ipomaea purpurea), welche zahlreiche (9) Genera— tionen hindurch durch Kreuzung unter ſich fortgepflanzt worden ſind und dann mit einem friſchen Stocke gekreuzt werden, ſo daß wir ferner behaupten dürfen: 9) Pflanzen, welche viele Generationen hindurch immer durch Selbſtbefruchtung oder Kreuzung unter ſich fortgepflanzt worden ſind, werden durch Kreuzung mit einem friſchen Stocke (in manchen Fällen oder in der Regel?) kräftiger und frucht— barer. Die Einſchränkung, welche Darwin ſeinen beiden Sätzen: „Kreuzung wirkt vortheilhaft und Selbſtbefruchtung ſchädlich“ durch das hinzugefügte „im Allgemeinen“ (generally) gibt, läßt ſich hiernach durch ausdrückliche Hinzufügung folgender beiden Sätze näher beſtimmen: 10) Pflanzen, welche bereits viele Gene— rationen hindurch immer durch Kreuzung mit friſchen Stöcken fortgepflanzt worden ſind, werden durch fernere Kreuzung mit friſchen Stöcken in ihrer Kräftigkeit und Frucht— barkeit nicht weiter geſteigert. 11) Ob Pflanzen, welche bereits viele Generationen hindurch nur durch Selbſt— befruchtung oder enge Inzucht fortgepflanzt worden ſind, durch fernere Selbſtbefruchtung oder enge Inzucht noch eine Abnahme ihrer Kräftigkeit und Fruchtbarkeit erleiden, wiſſen wir nicht. Der Umſtand, daß alle Pflanzen, ebenſo wie alle Thiere, derartig eingerichtet ſind, daß eine gelegentliche Vereinigung der ge— ſchlechtlichen Elemente getrennter Individuen mindeſtens möglich bleibt, macht es allerdings wahrſcheinlich, daß, abgeſehen von den ein— fachſten, nur durch Theilung ſich vermehren— Müller, Darwin's Werk. den Urweſen (Protiſten), jedes organiſche Weſen gelegentlicher, wenn auch erſt nach langen Zeiträumen erfolgender Kreuzung mit einem getrennten Individuum ſeiner Art bedarf. Eine Gewißheit darüber liegt aber nicht vor, und auch die Wahrſcheinlich— keit iſt durch die umfaſſenden Darwin'ſchen Verſuche nicht geſteigert worden. Im Gegen— theile legen dieſe die Vermuthung nahe, daß eine Anpaſſung an ſtete Selbſtbefruch— tung möglich iſt. Bei denjenigen beiden Blumen nämlich, bei denen Darwin die vergleichenden Selbſtbefruchtungs- und Kreu— zungsverſuche die größte Zahl von Genera— tionen hindurch fortgeſetzt hat (Tpomaea purpurea und Mimulus luteus), traten in den ſpäteren Generationen in der aus ſteter Selbſtbefruchtung hervorgegangenen Zucht einzelne Individuen auf, welche die aus ſteter Kreuzung unter ſich hervorgegangenen an Kräftigkeit und Fruchtbarkeit erheblich übertrafen, und ihre überraſchende Kräftigkeit und Fruchtbarkeit von Generation zu Gene— ration, ſoweit die Beobachtung ſich erſtreckt hat, auch auf ihre Nachkommen vererbten. In einem dieſer beiden Fälle, bei Ipomaea purpurea, ſchien ein ſolches, aus ſteter Selbſtbefruchtung hervorgegangenes Indivi— duum (welches Darwin deshalb Hero taufte) von ſeiner Stammform ſogar in der Art abgewichen zu ſein, daß es — und ebenſo ſeine Nachkommen — nicht nur Nachkommen von großer Kräftigkeit und geſteigerter Fruchtbarkeit lieferte, wenn es durch Selbſtbefruchtung fortgepflanzt wurde, ſondern daß ſogar Kreuzung mit einem ge— trennten Stocke gar nicht mehr vortheilhaft darauf einzuwirken ſchien. Es muß indeß aus- drücklich hervorgehoben werden, daß dieſes ſeltſamſte aller Darwin'ſchen Unterſuchungs— ergebniſſe nur an einer einzigen Generation und unter abnormen Verhältniſſen erhalten 66 wurde, ſo daß es wohl als Anregung zu | weiteren Verſuchen in dieſer Richtung, aber | keineswegs als bereits conſtatirte Ausnahme der Regel, daß Kreuzung gerade nach an— dauernder Selbſtbefruchtung von beſonderem Vorthei Lift, dienen kann. In dem anderen Falle, bei Mimulus luteus, hatten die durch Kräftigkeit und Selbſtfruchtbarkeit auffallen- den Individuen der aus ſteter Selbſtbe— fruchtung hervorgehenden Zucht im Gegen— theile von einer Kreuzung mit einem friſchen Stocke ganz bedeutenden Vortheil. Noch zwei andere für das Verſtändniß der Blumenwelt ſehr wichtige Ergebniſſe dürfen hier nicht unerwähnt bleiben. 12) Wenn Blumen, welche in ihrer Blüthenfarbe variiren, von Generation zu Generation immer nur durch Selbſtbefruch— tung fortgepflanzt werden, ſo entſteht nach wenigen Generationen eine durchaus gleich— artig gefärbte Nachkommenſchaft. Dies erklärt uns z. B. in einfachſter Weiſe die an ſich befremdende Thatſache, daß die kleinblumige Form des Stief— mütterchens in ihrer Färbung ganz gleich— artig und conftant, die großblumige dagegen ſehr verſchiedenartig und variabel iſt; denn die erſtere befruchtet ſich (wie ich in der „Nature“ vom 20 Nov. 1873 nachgewieſen habe) regelmäßig ſelbſt, die letztere dagegen wird ausſchließlich oder vorwiegend durch Kreuzung fortgepflanzt. 13) Wenn Blüthen mit anderen Blüthen derſelben Pflanze oder auch mit Blüthen anf getrennten Wurzeln wachſender, aber demſelben Stocke als Schößlinge ent— ſtammender Pflanzen gekreuzt werden, ſo wirkt ſolche Kreuzung entweder gar nicht oder nur ſehr unbedeutend güunſtiger als Befruchtung mit eigenem Blüthenſtaube. Zahlreiche Blumeneinrichtungen, welche eine | Müller, Darwin's Werk. eee e e Kreuzung getrennter Stöcke veranlaſſen oder begünſtigen, laſſen ſich daraus erklären. Die ſonſtigen interreſſanten Ergebniſſe der Darwin'ſchen Verſuche und die Fülle wichtiger allgemeiner Betrachtungen, welche in den letzten Kapiteln dieſes Werkes nieder— gelegt ſind, übergehe ich hier. Die heraus— gegriffenen 13 Sätze ſcheinen mir als Grundlagen der heutigen Blumentheorie von hervorragendſter Wichtigkeit zu ſein, und die Vorausſetzungen, welche ich in meinem Buche „Die Befruchtung der Blumen durch Inſekten“ meiner Erklärung von Blu— meneinrichtungen zu Grunde gelegt habe (vgl. Seite 443 — 448) nur durchaus zu beſtätigen. Ich faſſe deshalb dieſe Voraus— ſetzungen hier nochmals in den Worten zu— ſammen: „So oft aus Selbſtbefruchtung hervorgegangene Nachkommen mit aus Kreuz— ung hervorgegangenen in Wettkampf um die Daſeinsbedingungen gerathen, werden die erſteren von den letzteren überwunden; es werden daher vorwiegend Kreuzung beför— dernde Blumeneigenthümlichkeiten durch Na— turzüchtung ausgeprägt. Tritt dagegen dieſer Wettkampf nicht ein, ſo vermag in vielen Fällen auch Selbſtbefruchtung eine unbe— kannte, vielleicht unbegrenzte Zahl von Gene— rationen hindurch der Fortpflanzung zu genügen und zahlreiche, geſunde und frucht— bare Nachkommen zu liefern; in ſolchen Fällen, in welchen eine Kreuzung durch die natürlichen Transportmittel des Pollens (Wind, Inſekten u. ſ. w.) unſicher wird oder dauernd verloren geht, prägen ſich daher häufig Selbſtbefruchtung befördernde Eigenthümlichkeiten aus.“ Das einzige Bedenken, welches ſich von Seiten der Darwin'ſchen Verſuche gegen die Richtigkeit dieſer Vorausſetzungen erheben ließe, iſt das oben erwähnte Verhalten der Hero, jenes auffallend ſelbſtfruchtbaren In⸗ dividuums von Ipomaea purpurea, ein Ver— halten, welches durch die abnormen Um— ſtände, unter welchen es, und zwar nur ein einzigesmal, beobachtet wurde, ſeine Beweiskraft verliert, welches aber allerdings, wenn es ſich bei weiteren Verſuchen in dieſer Richtung beſtätigen ſollte, die Allgemein— gültigkeit des erſten Satzes meiner Vor— ausſetzungen umſtoßen würde. Von den mannichfachen neuen Unterſuchungsrichtungen, zu welchen das vorliegende Werk Anregung und Ausgangspunkte geben könnte, ſcheint mir deshalb eine der dankbarſten die weitere Verfolgung der an Hero und an den auf— fallend ſelbſtfruchtbaren Exemplaren von Mimulus luteus gemachten Erfahrungen zu ſein. Es müßten durch eine größere Zahl mit Darwin' cher Umſicht, Sorgfalt und Ausdauer ausgeführter Verſuchsreihen die Fragen entſchieden werden: Kommt es nur ausnahmsweiſe vor oder iſt es vielleicht Müller, Darwin's Werk. ſogar die Regel, daß bei ſteter Selbſtbe— | fruchtung eine völlige Anpaſſung an diefe | Befruchtungsweiſe ſtattfindet? Geht dieſe Anpaſſung wirklich in einigen Fällen ſo weit, daß Kreuzung mit einem getrennten Stocke der Pflanze gar keinen Vortheil mehr bringt? Oder iſt Kreuzung mit einem getrennten Stocke in allen Fällen, auch nach viele Generationen hindurch fort— geſetzter Selbſtbefruchtung, noch von Vor— theil? In dieſe Verſuchsreihen müßten namentlich auch diejenigen Blumenarten auf— genommen werden, von denen ich nachge— wieſen habe, daß ſie in zwei Formen exiſtiren, einer mit augenfälligen, der Kreuzung an— gepaßten, einer andern mit unanſehnlichen, ſich regelmäßig ſelbſtbefruchtenden Blumen (Viola tricolor, Rhinanthus erista galli u. ſ. w.) Nächſt dem dürfte es eine ſehr lohnende Aufgabe fein, vergleichende Selbſtbefruch— tungs- und Kreuzungsverſuche viele Gene— rationen hindurch in der Weiſe anzuſtellen, daß jedesmal die aus Selbſtbefruchtung hervorgegangenen Pflanzen einerſeits wieder ſelbſtbefruchtet, andererſeits aber mit einem friſchen Stocke gekreuzt und die aus beiderlei Befruchtungsarten hervorgegangenen Nach— kommen in Bezug auf Keimfähigkeit, Blüthe⸗ zeit, Fruchtbarkeit, Kräftigkeit und Wider— ſtandsfähigkeit gegen feindliche Einflüſſe mit einander verglichen würden. Darwin ſelbſt bedauert, erſt im Verlauf ſeiner Verſuche erkannt zu haben, daß dieſe Methode hätte eingeſchlagen werden müſſen, um die Vor— theile der Kreuzung mit einem friſchen Stocke in ihrem vollen Betrage zu Tage treten zu laſſen. — ſ·„—————— . — — —ͤ̃ ͤ —7 Kleinere Mittheilungen. Zur kriticiſtiſchen Raumauffaſſung. er Streit zwiſchen den Anhängern des Euklid und den Parthei weitere Kreiſe zu ziehen, und dies um ſo mehr, als es zugleich fundamentale philoſophiſche, ja man darf ſagen weltbe— wegende Grundfragen ſind, um welche ſich derſelbe dreht. Es wird daher unſeren Leſern vielleicht nicht unwillkommen ſein, über eben dieſen Streit Einſicht zu erhalten durch eine wiſſenſchaftliche Debatte, welche ſich mit Rückſicht auf eine Reihe von Aufſätzen, die in der Zeitſchrift „Das Ausland“ Jahrg. 1876, Nr. 50, 51 und 52 von dem Un— terzeichneten veröffentlicht wurden, ange— ſponnen hat, und in brieflicher Form fort— geſetzt wurde. Auf den Wunſch unſeres verehrten Mitarbeiters Herrn Prof. S. Günther in Ansbach laſſen wir dieſe Correſpondenz hiermit folgen. Dr. O. Caspari. gängern Riemann's beginnt immer Herr Prof. S. Günther Ansbach) an Herrn Dr. O. Caspari (Heidelberg.) Der Cyklus von Artikeln, welchen Sie unter dem Geſammttitel „Kritiſche Be— merkungen über Raum, Zeit und geſchicht— lichen Verlauf“ im „Ausland“ veröffent— licht haben, muß das lebhafte Intereſſe jedes Mathematikers in Anſpruch nehmen, der Unterſuchungen über die philoſophiſchen Grundlagen ſeiner Wiſſenſchaft nicht für etwas Ueberflüſſiges hält. Sie wiſſen, daß derjenige, der dieſe Zeilen ſchrieb, im All— gemeinen nicht der Reihe Derer beizuzählen iſt, welche das alte Problem von der Weſen— heit des Raumes als durch die Aufſtel— lung der metageometriſchen Syſteme eines Bolyai, Riemann ꝛc. gelöſt oder doch zum mindeſten im mathematiſchen Sinne als erledigt erachtet, daß er vielmehr einen un— gleich „conſervativeren“ Standpunkt in dieſer Frage einnimmt. Angeſichts deſſen möchte es vielleicht auf den erſten Blick ſonderbar, wo nicht unmöglich erſcheinen, von ihm das Bekenntniß zu hören, daß eine Abhandlung von ſo entſchieden radikaler Tendenz wie die Ihrige ihm gleichwohl in vielen Be— ziehungen ſympathiſch war, während natür— lich bei anderen Anläſſen ſich wiederum Differenzpunkte ergeben mußten. Geſtatten Sie deshalb eine kurze Erörterung der Sachlage nach ihrer poſitiven wie nach ihrer verneinenden Seite hin. — Der Standpunkt, von welchem aus Sie die Unterſuchung über die Natur unſerer Raumauffaſſung in Angriff nehmen, iſt der ſtreng kriticiſtiſche im Sinne Kant's, deſſen reformatoriſche Thätigkeit im Auf räumen mit abſoluten Dogmen Sie paſſeud mit derjenigen des Kopernikus vergleichen. Daß Sie dieſen Standpunkt gewählt, darin wird wohl die überwiegende Mehrzahl un— ſerer Mathematiker Ihnen durchaus bei pflichten, denn daß gerade für unſere Wiſſen ſchaft das Studium des Philoſophen von Königsberg ein beſonders erſprießliches ſei, dieſe Ueberzeugung bricht ſich immer mehr Bahn. In ſeiner intereſſanten Schrift „Grenze zwiſchen Philoſophie und exakter Wiſſenſchaft“ ?) hat J. C. Becker in Mannheim darauf hingewieſen, wie ſicher uns Kant auf dem ſchlüpfrigen Boden zu leiten verſtehe, auf welchem rein mathematiſch— naturwiſſenſchaftliche und erkenntnißtheore— tiſche Probleme in einander greifen. In dieſem Punkte alſo dürfte zwiſchen uns völlige Uebereinſtimmung herrſchen. Dem Kriticismus ſtellen Sie den Dog— matismus gegenüber, deſſen naive Auffaſſung, wie ſie ſich vielfach in älteren Werken kund— *) Es möge gelegenheitlich erlaubt ſein, eine ungerechte Recenſion dieſes Büchleins zurückzuweiſen, welche unlängſt in der „Jenaer Literaturzeitung“ erſchien und ohne näheres Eingehen mit den bei einzelnen anderen Re— cenſenten beliebten allgemeinen Redensarten das Publikum zu praeoccupiren ſucht. Un— ſeres Erachtens kann man der Becker'ſchen Arbeit nur das zum Vorwurfe machen, daß der Autor bei der Discufjion eines einzelnen Beiſpiels von dem ſpannenden Stoff ſich hin— reißen läßt und der Epiſode einen allerdings für das Ganze zu beträchtlichen Raum ein— räumt. Kleinere Mittheilungen. 69 gegeben findet, Sie treffend zu charakteriſiren wiſſen. Allein dürfen wir — dieſe Vor— frage möge im perſönlichen Intereſſe des Schreibers geſtellt werden — ſchlechthin den Namen des Dogmatismus auf die heu— tigen Vertreter der conſervativen Richtung anwenden, dürfen wir wenigſtens die An— ſichten dieſer letzteren mit denjenigen iden— tifieiren, für welche Raum und Körper in Einen Körper zuſammengefloſſen ſind? Scheint es doch überhaupt eine etwas miß liche Sache, in einer ſo zahlreicher Nüan— eiruugen fähigen Angelegenheit mit Ge— ſammtnamen zu operiren, denen der Fort— ſchritt in den Ideen möglicherweiſe den Inhalt entzogen haben kann. In ſeinem höchſt be— merkenswerthen Artikel „Ueber die prinzi— piellen Unterſchiede erkenutnißtheoretiſcher An— ſichten“, den uns die treffliche neue „Zeitſchrift für wiſſenſchaftliche Philoſophie“ gebracht hat, hat Fr. Paulſen dieſen Mißſtand, einer geringen Anzahl fundamentaler Kategorien alle denkbaren Meinungen über eine um— faſſende Frage einordnen zu wollen, einer einſchneidenden Diskuſſion unterzogen und ſpeziell feinen Ausgangspunkt von der üb- lichen Dichotomie genommen, welche die Ge— ſammtheit unſerer Erkenntnißtheoretiker in die generellen Klaſſen der Idealiſten und Empiriſten zerfällt — eine Scheidung, welche prinzipiell mit der von Ihnen befolgten Gegeneinanderſtellung Dogmatismus und Kri— ticismus zuſammentrifft. Indem Paulſen eine empiriſtiſch-rationaliſtiſche, eine empi— riſtiſch-phaenomenaliſtiſche, eine rationaliſtiſch— realiſtiſche und eine rationaliſtiſch-phaeno— menaliſtiſche Anſicht poſtulirt, ſpricht er die Ueberzeugung aus, für jeden dieſer Gattungs— begriffe werde und müſſe ſich ein ent— ſprechender Umfang nachweiſen laſſen, und das glaubt auch der Unterzeichnete. Nicht als ob es ihm möglich erſchiene, ſeine eigene — 70 Auffaſſungsweiſe auch nur mit einer be— ſtimmten dieſer vier neuen Kategorien zur vollkommenen Deckung bringen zu können; aber das hofft er durch die Berufung auf jenen Reformverſuch Paulſen's erzielt zu haben, daß ſein eigenes, theilweiſe phae— nomenaliſtiſches, theilweiſe doch auch wieder — es ſei eben der alte Ausdruck wieder gewählt „dogmatiſches“ Glaubensbe— kenntniß minder paradox erſcheint, als es ſonſt vielleicht der Fall geweſen ſein dürfte. Wir laſſen es dahingeſtellt, ob der Raum an ſich irgendwie etwas Reales ſei. Sie ſehen, daß ich damit meiner Anſicht nach die kriticiſtiſche Lehre nur bis zu ihrer äußerſten Conſequenz durchführe, denn thut man dies, ſo kann ja auch ſtrenge genommen nicht abſolut behauptet werden, der Raum ſei lediglich eine Erſcheinung; es müßte eigentlich heißen, er erſcheine uns eben blos als eine ſolche. So viel iſt ſicher, daß nur von raumanſchauenden Individuen und von den das Phänomen unſerer Er— kenntnißthätigkeit übermittelnden Potenzen geſprochen werden dürfe. Und auch das endlich ſei eingeräumt, daß nur unter den für dieſe unſere Erkenntnißthätigkeit gültigen Bedingungen das Raum-Phänomen gerade unter dieſer Form auftreten muß, als wel- ches wir Alle es kennen. Allein trotzdem, daß der Unterzeichuete bis hierher völlig auf gleichem Boden mit Ihren Auseinanderſetzungen ſteht und es Ihrer Arbeit zum entſchiedenen Verdienſt anrechnet, dieſe Fundamentalwahrheiten in populärer Form dem Allgemeinverſtändniß näher gerückt zu haben, ſo glaubt er doch den Punkt ſcharf bezeichnen zu müſſen, bei welchem die Anſichten auseinandergehen. Es ſcheint bei dem ſehr berechtigten Ver— ſuche, die Unzulänglichkeit unſeres menſch— lichen Erkenntnißvermögens für die all— Kleinere Mittheilungen. gemeingültige Löſung ſolcher Fundamental— fragen in's Licht zu ſetzen, ein Umſtand nicht gewürdigt worden zu ſein, der nämlich, ob nicht doch am Ende die Eigenart unſeres menſchlichen Organismus unſerem Beſtreben, die Dinge rein wiſſe Schranken ſetze. Wie dies gemeint ſei, erhellt vielleicht am Beſten aus nach— ſtehender Theſe, an deren philoſophiſcher Einkleidung wohl Mancherlei auszuſetzen ſein wird, während bezüglich des Inhaltes der Unterzeichnete mit vielen Mathematikern ſich im Einklange weiß — zumal mit ſolchen, welche als Lehrer den menſchlichen Geiſt nicht ausſchließlich in ſeiner entwickelten, ſondern auch in ſeiner urſprünglichen, fo zu ſagen rudimentären Beſchaffenheit kennen zu lernen pflegen. Jene Theſe lautet: Wenn auch der menſchliche Geiſt zu der Erkenntniß durchdringen kann, daß er in den Dingen der Außenwelt zunächſt nur Phaeno— mene vor ſich habe, ſo wird er doch durch diejenigen unverbrüch— lichen Satzungen, welche ihm beim Bilden von Schlüſſen vorgezeich— net ſind, dazu gezwungen werden, dieſe Phaenomene nach einer ganz feſten Norm ſich zurechtzulegen. Solange die Regeln der formalen Logik, welche in der Mathematik ihren praegnanteſten Ausdruck finden, beſtehen bleiben, wird es dem Menſchen unmöglich ſein, den phaenomenalen Raum unter einem anderen Bilde aufzufaſſen, als dies der Drei-Dimenſionen-Raum des Euklides mit dem Krüm— mungsparameter Null thut. Läßt ſich dieſer Satz begründen? Ich meinestheils bin deſſen ſicher. Es muß ja freilich obige Behauptung ſich zweifellos Kleinere Mittheilungen. 71 die verſchiedenſten Einwürfe gefallen laſſen. So wird man, um nur Eines hervorzu— heben, ſich darauf berufen, daß die Exiſtenz oder ſogar die Exiſtenzberechtigung einer rein formalen Denklehre durchaus keine allſeitig zugeſtandene ſei, daß ſogar Autori— täten erſten Ranges wie v. Prantl und Trendelenburg dieſe Disciplin mehr wie eine ariſtoteliſche Velleität behandelt haben. Es iſt dies dem Uuterzeichneten nicht un— bekannt, er hat vielmehr ſelbſt in der päda— gogiſchen Sektion einer deutſchen Natur— forſcherverſammlung das eigenthümliche Schauspiel eines Kampfes mit vertauſchten Rollen mit angeſehen, wie nämlich ein Profeſſor der Philoſophie in ſcharfer Weiſe den propädeutiſch-formalen Unterricht der Mittelſchule angriff und ein phyſikaliſcher College mit warmen Worten des angefoch— tenen Unterrichtszweiges ſich annahm. Eben aus dieſem Grunde hat er in ſeinem oben normirten Programm auch gleich die ſeiner Ueberzeugung nach beſtehende Identität zwiſchen. Mathematik und formaler Logik ausdrücklich betont. Und in der That, enthalten nicht Syſteme, wie dasjenige, welches Boole als „Calculus logieus“ oder Ernſt Schröder als „formale“, be— ziehungsweiſe „abſolute“ Algebra bezeichnet, in ihrer exakten Form genau dasjenige, was etwa — um die treffliche Leiſtung dieſer Art herauszuheben — im Compen— dium der elementaren Logik von Drobiſch enthalten iſt, nur noch viel mehr dazu? Kurz, daran wird meinerſeits feſtzuhalten ein, daß die Lehrſätze jener dem reinen Denken ſich widmenden Wiſſenſchaften auch auf das Studium der Frage angewendet werden dürfen und müſſen, ob nicht, obwol der Raum an ſich nur eine rein phacno- | menale Bedeutung hat, gleichwohl dieſes Phänomen für unſer Menſchengeſchlecht in einer unwandelbaren, niemals in Vergangen— heit oder Zukunft irgendwie zu verrückenden Geſtalt ſich darſtelle. Unterſuchungen dieſer Art liegen hier wenn auch freilich noch in ihrem erſten Keime vor. Abgeſehen von der nichteukli— diſchen Geometrie, deren rein mathematiſcher, Spekulationen abgewandter Charakter ſie eigentlich davor ſchützen ſollte, in den Kreis der hier vorliegenden Fragen mit herein gezogen zu werden, ſind es beſonders die Arbeiten von Riemann und Helmholtz, welchen wir hier unſere Beachtung ſchenken müſſen, zumal denjenigen des Letztgenannten. Denn während ſeine Vorgänger mehr nur in abſtrakter Weiſe die Principien beſprachen, nach welchen eine ganz allgemeine Raumlehre ſich behandeln ließe, hat es Helmholtz direkt unternommen, einzelne Axiome der Raumwiſſenſchaft negirend, unmittelbar die hieraus entſpringenden Folgen uns vor Augen zu ſtellen. Den Verſuch, die Exiſtenz einer vierten Dimenſion zu ſtipuliren, hat er allerdings ſo wenig wie irgend ein anderer unternommen, weil zu einem ſolchen eben alle und jede anſchaulichen Hülfsmittel mangeln; höchſtens Zöllner's neueſtes elektrodynamiſches Werk möchte als Aus— nahme zu verzeichnen ſein, denn hier ſtellt ſich uns der nach drei unabhängigen Fort— ſchreitungsrichtungen ausgedehnte Körper als Projektion einer vierfach ausgedehnten Mannigfaltigkeit dar. In dieſe Auffaſſung uns hineinzudenken, darauf verzichten wir gerne und vollſtändig. Helmholtz da— gegen hat uns durchaus greifbare Verhält— niſſe vorgeführt; wie er uns die Raum— anſchauung der von ihm jo genannten „Flächenweſen“ und die Bewegungserſchei— nungen in einem „gekrümmten“ Raume ſchildert, das können auch wir Anhänger der alten Lehre recht gut verſtehen und 5 2 billigen. Nur das glauben wir feſt: Wenn es auch de facto ſolche Zuſtände gäbe, Kleinere Mittheilungen. der gewöhnlichen nur leiſe differirende Raum- wie ſie uns Helmholtz in überzeugender Weiſe darlegt, ſo würden doch logiſch denkende Individuen aus ihren eigenen — mit den unſerigen als congruent ange nommenen — Denkgeſetzen heraus zu der Gewißheit durchdringen müſſen, es gebe einen allgemeinen „ebenen“, nach drei Dimen— ſionen ausgedehnten Raum, den ſie ſich freilich nicht vorzuſtellen, von deſſen Exiſtenz ſie ſich aber die feſte geiſtige Ueberzeugung zu verſchaffen im Stande ſind. Den Beweis für dieſe Thatſache haben ziemlich gleichzeitig der Unterzeichnete in einem der „Zeitſchrift für das Realſchul— weſen“ einverleibten Aufſatze und Schmitz— Dumont in einer ſelbſtſtändigen Special ſchrift (Leipzig, Koſchuy, 1876) zu leiſten der ich daß die Helmholtz' ſche Auffaſſungsweiſe nicht etwa widerlegt, wohl aber in dem ſo eben angedeuteten Sinne umgedeutet werden kann. Und damit komme ich wieder zu meinem urſprünglichen Vorhaben zurück, Ihre Aus— land-Artikel mit meinen Bemerkungen zu verſehen. Sie ſagen auf Seite 983: „Man denke, um ſich das (die Negationen des objectiven Raumes) zu verſinn— freilich Partei bin, feſtzuſtehen, unter denen auch die Raumgebilde ſich ſche— anſchauung produciren, überhaupt die Sprache ſein dürfe.“) Sehr mit Recht hat Schmitz— Dumont darauf hingewieſen, daß uns auch in Träumen und Fieberphantaſieen eben doch immer der alte euklidiſche Raum gegenwärtig bleibe, und wenn R. Falb behauptet (Sirius, Jahrg. 1876, 1. Heft), ein Blindgeborner vermöge nur nach zwei Dimenſionen zu ordnen, ſo muß ich das vorläufig noch als ein ganz ſcharfſinniges, *) Hierzu eine Bemerkung. Wir kennen gewiſſe Irritationen der Centralorgane und exaltative Zuſtände, in denen die Kranken ge— meinſam ausſagen: daß ihnen die Raum⸗ verhältniſſe derart durcheinanderſchwanken, daß ſie keinen Schritt thun können, ohne ſich zu täuſchen. Ferner, der klare intenſive Traum iſt, wie man Schmitz- Dumont zugeben verſucht; und mögen auch dieſe vielfach variirten Beweisverſuche Manches zu wün- ſchen übrig laſſen — ſoviel ſcheint mir, lichen, an ein Irrenhaus, in welchem jeder einzelne Kranke andere Hallucinationen über die Raumdimenſionen beſitzt.“ In dem Momente, wo mir ein einziger derartiger Fall als wirklich beobachtet bekannt gegeben wird, erkläre ich mich für beſiegt — allein deſtens diejenige Anſchauung auf, welche ich möchte ſehr bezweifeln, ob von der Möglichkeit, das Gehirn des Menſchen könne auch im ungeſundeſten Zuſtande eine von den darf, ein annähernd gutes Reproductionsbild des euklidiſchen Raums. Allein die Träume haben tiefe Abſtufungen nach Seiten der wunderlichſten Verzerrungen und Unklarheiten, menhaft und chaotiſch verwirren. Bei Fie— berdelirien aber, wo von klarem Bewußtſein (und dies ſetzt überall die ob,eftive Raum⸗ anſchauung voraus) überhaupt nicht mehr die Rede iſt, kann die objektive Raum— anſchauung ſelbſtverſtäudlich nicht mehr be— ſtehen. Rein ſubjektive Formen, verbunden mit Täuſchungen und Verwechſelungen treten hier ſelbſtſtändig auf und präoccupiren die niederen Bewußtſeinsgrade der Kranken. Ver⸗ fielen daher alle organiſirte Weſen in derartige Zuſtände, ſo könnte für alle dieſe kein eu— klidiſch-objektiver Raum beſtehen und zur Anerkennung kommen. Generaliſirt man dieſe Annahme auf alle Weſen und Atome des All's, zu welcher Conſequenz der Skeptiker jederzeit ſchreiten wird, ſo hebt ſich min— objektiven Raum im Sinne des Euklid als etwas abſolut Fixes und Unumſtößliches ante rem oder in re betrachtet. O. Caspari. 25 Kleinere Mittheilungen. 73 8 0 | jedes reellen Beleges dagegen entbehrendes „menſchliche Apodictieität“ nennen. Paradoxon erklären. Ich gebe ſonach zu, Mag fein, daß dem wirklich jo iſt, und 8 | daß Sie mit großer Schärfe das Argu- wenn, wie Sie angeben, „die weiterſchrei— ment in den Vordergrund geſtellt haben, tenden Kriticiſten“ einig darüber find, daß; daß, wenn es erhärtet werden könnte, jene Anſicht eine verfehlte, jo kann ich | | die Diskuſſion ſofort in Ihrem Sinne ab- zwar auch dies nicht beſtreiten, wohl aber ſchließen müßte, allein ich glaube nicht an meine Poſition dahin erläutern, das eben die Möglichkeit eines Beweiſes. Und wie mein eigener Kriticismus auch nicht über verhält es ſich mit dem zweiten Beiſpiel, Kant hinausgeht. Nur freilich möchte ich demjenigen vom Regenbogen, welches Sie nicht gerade behaupten, jene die volle Phae— | mit offenbarer Liebe auf's Genaueſte durch- nomenalanſchauung behindernde Schranke geſprochen und deſſen innige Verwandtſchaft der menſchlichen Objectivität ſei eine aprio- mit der Hauptfrage ſehr treffend illuſtrirt riſtiſch feſtſtehende Thatſache, ſondern einzig haben? Sie haben auch nach der phyſi- und allein, es ſpräche für fie eine ganz kaliſchen Seite hin durchaus darin Recht, ungeheure Wahrſcheinlichkeit, eine Probabili— daß wir im Regenbogen blos ein Phäno- tät von' ungefähr gleicher Größe wie für — men vor uns haben, welches a priori für | den Tod aller Menſchen. jedes einzelne Individuum in einer ver— Dagegen muß ich Ihnen meine vollſte ſchiedenen Form auftreten könnte, und es Beiſtimmung zollen für die correkte Stellung, hat deshalb auch vor einiger Zeit eine welche Sie den Riemannianern ſtrenger pädagogiſche Zeitſchrift ganz richtig die Be- Regel gegenüber einnehmen, und für die merkung gemacht, man dürfe, ſtrenge ge- Beſtimmtheit, mit welcher Sie die in jener nommen, den Regenbogen nicht als etwas Schule durchgehends gehegte Anſicht zurück- — Objektives hinzeichnen, wie dies allerdings wieſen, als ſei nun ohne Weiteres die Lehre die Compendien der Naturlehre überein- vom „unebenen“ Raum identiſch mit der ſtimmend thun und auch wohl thun müſſen. kriticiſtiſchen Raumauffaſſung. Dieſe letztere Nun aber geſtatten Sie mir die Frage: ſteht zu Riemann wie zu Euklid ge— | Wie kommt es, daß denn doch alle Men- nau im nämlichen Verhältniß, d. h. über ſchen dieſe an ſich falſchen Zeichnungen an- den Parteien, keine bevorzugend. Sollte erkennen, daß jeder auf den erſten Blick aber je die Frage entſchieden werden, welche die Identität dieſes Bildes mit ſeinem der beiden oppoſitionellen Richtungen prin— | eigenen durch Autopſie erlangten einräumt? eipiell dem Kriticismus die näher ver— Doch offenbar nur darum, weil es eben wandte iſt, ſo ſollte doch wohl erwogen | Phaenomene giebt, welche die auf die wech- werden, daß der von jenem am ſchärfſten | — ſelnden äußeren Eindrücke angewandte und häufigſten bekämpfte Irrthum, die Reflexionsthätigkeit bei allen Menſchen trotz Ineinanderſchachtelung zweier „Räume“, aller ſonſtigen Verſchiedenheit in einheitlicher den Anhängern des Riemann'ſchen Weiſe deutet. 5 Raumes bei weitem näher liegt, ſo lange 2 Sie werden mir, das fühle ich ſicher, ſich dieſelben nicht aus den Feſſeln der An— den Einwurf machen, ich nehme im Vor- ſchauung loszuringen im Stande ſind. Bis ſtehenden jene ältere Kant'ſche Anſicht jetzt hat das aber noch keiner jener Herren wieder auf, welche Sie ſelbſt (S. 107) fertig gebracht. — 10 7 74 Nur noch zum Schluß ein kurzes Wort über das zweite Hauptthema unſerer, reſp. Ihrer eigenen Unterſuchung, die Zeit. Ich muß es billigen, daß Sie die Verſchmelzung der Begriffe Zeit und Zeitmaß reprobiren und in Folge deſſen gegen die üblichen Definitionen erſteren Begriffes polemiſiren, aber ich muß fürchten, daß eine Definition überhaupt nicht möglich iſt. Denn ebenſo wie der Raum nicht als ſolcher, ſondern lediglich als Abſtraktum aus den in Wechſel— beziehung ſtehenden Körpern uns bekannt iſt, ganz ebenſo erkennen wir die Zeit nur aus einer in unſer Bewußtſein direkt hinein- tretenden Eigenſchaft — aus ihrer Gleich— förmigkeit, oder, wenn wir ein hier wohl ſtatthaftes geometriſches Kunſtwort verwenden, aus ihrem conſtanten Krüm— mungsmaß. Angeſichts dieſer zur De— finition brauchbaren und hinreichenden Eigen— ſchaft iſt es philoſophiſch dasſelbe, den Zeitverlauf mit dem Bilde der Geraden, Kreislinie oder Schraube zu identificiren, denn eben dieſen drei Curven — und nur ihnen — kommt bekanntlich jene Eigen— ſchaft zu, die wir im populären Sinne dahin praeciſiren können, daß mit gleicher Zirkelöffnung auf ihnen abgegriffene Stücke auch überall gleich groß ſind. Unter dieſer Vorausſetzung muß mir die von Wundt aufgeworfene Frage gegenſtandslos erſcheinen, ob nicht die Zeit ein von Null abweichen— des Krümmungsmaß beſitzen könne; einen realen Inhalt gewinnt ſie erſt, wenn von den abſtrakten Begriff der Zeit zu dem— jenigen des geſchichtlichen Verlaufs, oder, anders formulirt, von der reinen Philo— ſophie zur Philoſophie der Geſchichte übergegangen wird. — Und damit bin ich bei Ihrer Schlußabtheilung angelangt, welcher ich jedoch meine Commentationen um ſo weniger hinzufügen will, als ich Kleinere Mittheilungen. hier die von Ihnen gewonnenen Ergebniſſe größtentheils mit Vergnügen acceptire. Ich hoffe, daß vorſtehende Zeilen zur Klärung, wenn nicht der Sache ſelbſt, ſo doch unſerer gegenſeitigen Stellung Einiges beitragen möchten. Sollten Sie ſich dieſer Anſicht vielleicht anſchließen, ſo würde das zur lebhaften Befriedigung gereichen Ihrem aufrichtig ergebenen Siegm. Günther. Die Steppe als Uebergangsglied in der Erdgeſchichte. Von einem beſtimmten Gebiete — der Gegend zwiſchen Magdeburg und Halber— ſtadt — ausgehend, kommt Herr A. Nehring zu einigen bemerkenswerthen Schlüſſen über den Wechſel der Flora und Fauna, dem die vom Meere verlaſſenen Gebiete zunächſt zu unterliegen pflegen. Seine Unterſuchungen führten ihn darauf, daß jene jetzt ſo frucht— bare und eultivirte Gegend in einer be— ſtimmten längeren Epoche der Vorzeit den Charakter einer Steppe dargeboten haben müſſe, einer Steppe, die wahrſcheinlich nicht iſolirt lag, ſondern nach Oſten mit dem großen ruſſiſch-aſiatiſchen Steppengebiete im direkten Zuſammenhange ſtand. Gewöhnlich denkt man ſich Norddeutſch— land und damit auch die oben bezeichnete Gegend in der Vorzeit entweder noch vom Meere überfluthet und den ſkandinaviſchen Eisſchollen, ſammt ihren erratiſchen Blöcken zugänglich, oder man ſtellt ſich unſere Heimath ſo vor, wie Cäſar und Tacitus fie uns ſchildern, nämlich mit dichtem Wald und ausgedehnten Sümpfen bedeckt. Beide Vorſtellungen haben ihre Berechtigung, jene Fe für die ältere Periode der ſogenannten Diluvialzeit, dieſe für die dicht vor der hiſtoriſchen Zeit liegende Epoche. Es fragt ſich nun: Wie mag ſich die Zwiſchen— zeit für unſere Gegend geſtaltet haben, d. h. jene Zeit, in der das Meer aus den Ebenen, welche den Nordfuß des deutſchen Mittelgebirges umſäumen, zwar ſchon zurück gewichen, der Wald aber von den benach barten Höhenzügen aus noch nicht in das Tiefland vorgedrungen war? Es läßt ſich mit einer gewiſſen Wahrſcheinlichkeit ver— muthen, daß der frühere Meeresboden, welcher als eine ſandig lehmige, von Salz— waſſer durchtränkte Ebene dalag, ſich in manchen Gegenden Norddeutſchlands vor— läufig zu einer Steppe entwickelte, und es trat hier alſo wahrſcheinlich daſſelbe ein, was wir noch jetzt in den früher vom Meere bedeckten, im Laufe der Zeit trocken ge— wordenen Gebieten um das Kaspiſche Meer und den Aralſee beobachten können, und was wahrſcheinlich auch auf ausgedehnten Tieflandgebieten anderer Erdtheile (Prärieen von Nordamerika, Pampas von Süd— amerika u. ſ. w.) eingetreten iſt. Man braucht ſich eine Steppe durchaus nicht vollſtändig eben zu denken, vielmehr unter- brechen in den meiſten Steppenländern hügelige, wellenförmige, ſogar felſige Par— tieen die allerdings vorherrſchende Einöde. | Charakteriſtiſch iſt hauptſächlich das Fehlen des Waldes; der ſandig lehmige Boden iſt bedeckt mit Gräſern, Zwiebelgewächſen und niedrigen Stauden, welche im Frühjahr (reſp. nach der Regenzeit) ſchnell und üppig emporſchießen, in der heißen und trocknen Zeit aber verdorren, und dann der Steppe das in unſerer Vorſtellung vorherrſchende Bild einer Einöde verleihen. Die an der Scholle haftenden Thiere der Steppe find jo vollkommen den Ver N Kleinere Mittheilungen. 75 hältniſſen des Bodens und Klimas an— gepaßt, daß ſie in andern Gegenden, z. B. auf waldigen oder ſumpfigen Terrains, nie gefunden werden, und daher in ihren Reſten als charakteriſtiſche Erkennungsmittel ehe— maliger Steppen dienen können. Dahin gehören vor allen Dingen die Steppen— nager, welche einerſeits in den Zwiebeln, Blättern und Beeren der Steppenpflanzen eine hinreichende Nahrung finden, anderer— ſeits in dem ſandig lehmigen Boden ein geeignetes Material zum Bau ihrer unter— irdiſchen Höhlen haben, durch welche ſie ſich gegen die ihnen nachſtellenden Raubthiere, ſowie gegen die harte Kälte des Steppen— winters Schutz verſchaffen. Unter ihnen ſind die Springmäuſe, Zieſel und Arvi— colen hervorzuheben. Für die Deutung der norddeutſchen Steppe in der Vorzeit kommen insbeſondere die Charakterthiere der Steppen an der unteren Wolga und dem oberen Ob in Betracht. Es ſind hauptſächlich 1) der große Sand- oder Pferde— ſpringer (Alactaga jaculus); 2) mehrere Zieſelarten, beſonders Spermophilus Evers- manni; 3) das Steppen-Murmelthier (Aretomys bobac); 4) der kleine Steppen— pfeifhaſe (Lagomys pusillus); 5) wilde Pferde; 6) die Saiga-Antilope. anderen Thiere ſind weniger ausſchließliche Angehörige der Steppe. Ganz dieſelbe Zuſammenſetzung zeigt nun die Diluvialfauna, welche Herr Nehring bei feinen wiederholten Aus— grabungen in den Bergling'ſchen Gipsbrüchen von Weſteregeln (Kreis Wanzleben) feſt— geſtellt hat. Hinſichtlich der Individuen— zahl überwiegen die Steppenthiere derart, daß die anderen Arten, welche ebenſo wie die heutige Fauna von Südweſtſibirien eine eigenthümliche Miſchung von nordiſchen und ſüdlichen Säugethieren bezeugen, daneben Die | 76 ganz zurücktreten. Am zahlreichſten fanden ſich die Springmäuſe und die Zieſel, welche förmlich rudelweiſe oder in Familien die Gegend von Weſteregeln bewohnt und in den ſandig lehmigen Ablagerungen der dor— tigen Gipsbrüche ihr Grab gefunden haben. Faſt ebenſo zahlreich müſſen die wilden Pferde geweſen ſein, deren Zähne und Knochen maſſenhaft vorkommen und auf eine tarpanähnliche Art ſchließen laſſen. Daneben treten zahlreiche Arvicolen, als feldmausähnliche Nager hervor, meiſtens ſolchen Arten angehörend, derer Verbreitungs— bezirk heutzutage weſentlich in Oſteuropa und Weſtaſien liegt. Das Steppenmurmelthier und den kleinen Steppenpfeifhaſen konnte Herr Nehring vorläufig nur in je einem Exemplar nachweiſen, die Saiga-Antilope, welche anderwärts im mittleren Europa (weſtlichen Frankreich) gefunden worden iſt, bisher überhaupt nicht. Aber wenn die Saiga-Antilope auch vorläufig dem Ge— ſammtbilde fehlt, ſo zeigt ſich die Weſter— egler-Diluvialfauna dennoch in ihren Haupt— vertretern als eine einheitliche Steppenfauna und weiſt uns ſo entſchieden auf Oſteuropa und Südweſtſibirien hin, daß wir gewiß ters wie die zwiſchen Wolga und Ob, ja man möchte einen ehemaligen Zuſammen⸗ hang beider vermuthen. Herr Nehring ſpäter frei gewordenen Ebenen ſich meiſtens zunächſt als Steppen entwickelten. Vielleicht dehnte ſich die Magdeburg-Halberſtädter Steppe nach Kleinere Mittheilungen. trockner, continentaler als jetzt. zu dem Schluſſe berechtigt ſind, es müſſe dort, wo dieſe Thiere einſt hauſten, eine Steppe beſtanden haben, ähnlichen Charak- Süden über Aſchersleben und Halle bis hinauf in das Thal der weißen Elſter aus, denn Herr Profeſſor Liebe hat auch bei Gera die foſſilen Ueberreſte von mehreren Exemplaren des großen Sandſpringers, ſowie diejenigen eines Zieſels gefunden, und zwar genau von derſelben Art, die Herr Nehring bei Weſteregeln antraf. Ebenſo ſind an mehreren weſtlicher gelegenen Punkten Mitteleuropas Reſte dieſer größe— ren Zieſelart, wie Lagomys pusillus, von der Saiga-Antilope und den wilden Pferden gefunden worden, wodurch obige Hypotheſe bis auf weitere ausgedehnte Unterſuchung geſtützt wird. Als Grund für das Verſchwinden dieſer einſtmaligen mitteleuropäiſchen Steppen nimmt Herr Nehring ein allmäliges Vorrücken des Waldes an, welches ver— muthlich Hand in Hand ging mit einer Aenderung des Klimas. Dieſes war in der Steppenzeit, in welcher wahrſcheinlich England und Südſkandinavien noch mit dem Continente zuſammenhingen, Nord— und Oſtſee noch nicht in der jetzigen Geſtalt exiſtirten, während der Golfſtrom vermuth— lich eine nördlichere Richtung hatte, ſchroffer, Mit der Milderung des Klimas und dem Vorrücken des Waldes von den bewaldeten Gebirgen und Höhenzügen her, zogen ſich die Steppen und mit ihnen die Steppenthiere allmählig nach dem Oſten zurück. (Blätter für Handel, Gewerbe und ſociales Leben. Beiblatt zur knüpft daran die Folgewing, daß vielleicht in jener Epoche der Entwicklungsgeſchichte unſeres Erdtheils überhaupt die einſt⸗ mals vom Meerebedeckt geweſenen, Magdeburgiſchen Zeitung No. 50, 1876.) 8 — Größeſchwankungen nordamerikaniſcher Säuger mit den Breitegraden. Die genauere Betrachtung der ausge— zeichneten Sammlung von Säugethierſchädeln im Nationalmuſeum der Vereinigten Staaten gab Herrn J. A. Allen Gelegenheit, die herrſchenden Anſichten über geographiſche Größeſchwankungen der nordamerikaniſchen Säuger einer Kritik zu unterwerfen. Man nahm bisher an, daß die Größenabnahme derſelben, wo ſie hervortritt, was nicht bei allen Thieren der Fall iſt, ungefähr mit der Abnahme der geographiſchen Breite Schritt halte. Der genannte Zoologe fand nun aber, daß bei Waſchbären (Procyon lotor) und den meiſten Katzenarten ein umgekehrtes Verhältniß obwaltet, daß ihre Größe vielmehr vom Norden nach dem Süden zunimmt. Da nun die meiſten Säuger Nordamerikas Familien und Gat— tungen angehören, welche ihre größte Ent— wicklung in den gemäßigten oder kälteren Theilen der nördlichen Halbkugel haben, ſo begreift man das Vorherrſchen der Größen-Abnahme gegen Süden, ebenſo wie die Ausnahme von dieſer Regel bei Thieren, welche wie die Katzen und Waſchbären in den tropischen Ländern ihre Hauptentwicklung erreichen. Herr Allen faßt die Beziehungen zwiſchen der Größe und geographiſchen Verbreitung der Thiere in folgende zwei Sätze zuſammen: 1) Die größte Entwicklung des Individuums wird erreicht, da wo die Lebensbedingungen ſeiner Art am günſtigſten ſind. Die Arten ſind in ihrer Verbreitung urſprünglich durch klimatiſche Bedingungen beſchränkt, denen ihre Vertreter an den äußer— ſten Grenzen nach Norden wie nach Süden ſchließlich erliegen. Dieſe Einflüſſe können Kleinere Mittheilungen. centrums gefunden, während die an der Grenze vorkommenden Formen gewöhnlich 5 ( 77 ſein: einmal die unmittelbaren Wirkungen einer zu hohen oder zu niedrigen Temperatur, mangelnder oder überreichlicher Feuchtigkeit | auf die Thiere ſelbſt, und dann auf ihre Nährpflanzen und Thiere. Daher ſteht die Größe der Individuen im Allgemeinen in Beziehung zur Fülle oder Seltenheit der | Nahrung. Da aber verſchiedene Arten ihrer | Conftitutiin nach verſchiedenen klimatiſchen | Bedingungen angepaßt find, ſo können | Umgebungen, welche für die einen günſtig ſind, höchſt ungünſtig ſein für andere Arten, ſogar derſelben Familie oder Gattung. 2) Es werden deshalb die größten Arten einer Gattung oder Familie dort gefunden, wo die betreffende Gruppe ihre höchſte Eutwicklung erreicht, oder wo ihr ſogenannter Schöpfungs⸗-Mittelpunkt liegt. Mit andern Worten: Arten einer gegebenen Gruppe erreichen ihre Maximalgröße dort, wo ihre Exiſtenzbedingungen am vollkommenſten er— | füllt werden. Dieſes Geſetz iſt im Allge- meinen nicht neu, und in ähnlicher Weiſe | ſchon öfter aufgeſtellt worden, man muß die Darlegungen des Herrn Allen daher mehr als eine Beſtätigung auffaſſen, wozu allerdings Amerika mit ſeiner ungeheuren Ausdehnung von Norden nach Süden die denkbar günſtigſte Gelegenheit bietet. cs gilt das Gleiche von dem dritten Satze, | welchen Herr Allen aus feinen Studien ableitet: Die typiſchen oder am meiſten ver— allgemeinerten Vertreter einer Gruppe, werden gleichfalls in der Nähe ihres Vertheilungs— mehr oder weniger abweichend oder ſpecialiſirt find. (The American Naturalist. Vol. os 19. 1876) K. | 78 Märtyrer der Darwin'ſchen Theorie. So darf man mit Grund die Amphi— bien nennen, von denen wieder im jüngſt ver— floſſenen Jahre Hunderte den Verſuchen, die Umwandlungslehren zu erweiſen, erlegen ſind, aber dafür auch zur Erkenntniß der Wahr— heit erheblich beigetragen haben. Die An— regung zur erneueten Aufnahme dieſer Ver— ſuche, zu denen kein Thier mehr herausfordert als dieſe Doppelnaturen, ging bekanntlich von der 1865 von A. Dumeril in Paris gemachten Beobachtung aus, daß der bisher für einen ſogenannten Perennibran— chier (d. h. immer mit Kiemen athmenden Lurch) gehaltene Axolotl aus Mexico (Siredon pisciformis) eines ſchönen Tages im Pariſer Pflanzengarten, ganz wider ſeine Gewohnheit, an's Land ging, die Lungen ausweitete, und ſich in einen, der Sippſchaft nach wohlbekannten amerikaniſchen Landmolch (Amblystoma) verwandelte. Das Ver— wirrende bei dem Auftreten dieſes Thieres, welches bisher ſelbſt in ſeiner Heimath ſtets zu den „verfehlten Exiſtenzen“ gehört hatte, war der Umſtand, daß es ſich als Kiemen— molch regelmäßig fortgepflanzt hatte, und da die Fortpflanzungsfähigkeit in der Regel erſt eintritt, wenn die Thiere alle ihre Verwandlungen abſolvirt haben und voll— kommen mündig geworden ſind, ſo glaubte man, alle Urſache zu haben, dieſe Thiere als vollendete ſtimmfähige Bürger des Thier— reichs anſehen zu dürfen. Die Thatſache, Kleinere Mittheilungen. welche ſich ſeitdem auch in anderen Aquarien beſtätigte, war ſo verblüffend, daß einige Zoologen, ſtatt auf die ſo naheliegende Er— klärung einer bisher gehemmten Entwicklung, auf allerhand myſtiſche Spekulationen ver— fielen, und aus dem Umſtande, daß ſich die neugebackenen Amblyſtomen nicht alsbald fortpflanzen wollten, ſogleich ſchloſſen, es habe hier eine rückſchreitende Metamorphoſe ſtattgefunden, der Uebergang vom Kiemen— thier zum Lungenthier ſei nicht der natür— liche Abſchluß eines nur für gewöhnlich durch äußere Umſtände gehemmten Ent— wicklungsvorganges, ſondern ein Rückſchlag (Atavismus) ſehr bedenklicher Art. Allein kaum waren dieſe Träumereien zu Papier gebracht, als auch ſchon die ſeit mehr als zehn Jahren unfruchtbaren Pariſer Am— blyſtomen ſich im vorigen Jahre regelmäßig fortzupflanzen begannen. Da dies geſchehen iſt, nachdem man die Behaglichkeit des Aufenthalts dieſer Thiere erhöht hatte, in— dem der Direktor Vaillant ihrer Pflege alle Sorgfalt zuwendete, ſo kann man ſchließen, daß eben nur das Fehlen eines landmolchwürdigen Daſeins dieſe Thiere ſo lange zu Anhängern der Hartmann'ſchen Philoſophie gemacht hatte. Die ganze my— ſteriöſe Erſcheinung ſtellt ſich nun folgender— maßen dar: Der See von Jezkuko, in welchem der Axolotl lebt, hat einen ſehr wechſelnden Waſſerſtand, ſo daß die Ufer beim Zurücktreten in der regenarmen Jahres— zeit ſtark mit Salz inkruſtirt werden. Dieſer Umſtand ſowohl, als das vielleicht trockner gewordene Klima hindert dieſe Thiere ans Land zu gehen und dort ihre vollkommene Umwandlung durchzumachen, wie ſie es ohne Zweifel früher zu thun gewöhnt waren. Es ſcheint aber, wie wir alsbald aus weiteren Beiſpielen ſehen werden, ein allgemeines Geſetz zu ſein, daß Larven, die durch äußere, ihrer Exiſtenz im All— gemeinen nicht ungünſtige Umſtände gehin— dert werden, ſich weiter zu entwickeln, ſchon als Larven geſchlechtstüchtig werden, damit die Art durch die Ungunſt der Verhältniſſe nicht ſogleich zu Grunde gehe. Es iſt dies offenbar ein ſehr ausgezeichnetes Beiſpiel — von der Anpaſſungsfähigkeit lebender Weſen, die, wie man hieraus erſieht, in allen Pe— rioden ihres Lebens gleich wirkſam iſt, und daher ſo leicht diejenigen Abweichungen vom natürlichen Entwicklungsgange hervor— bringen kann, welche Häckel Cenogeneſis, d. h. Fälſchungsgeſchichte, nennt. In den letzten Heften von Kölliker's und von Siebold's Zeitſchrift für wiſſenſchaftliche Zoologie (Band XXVIII. Heft 1 und 2. 1877) weiſt der letztgenannte darauf hin, daß wir ganz dieſelben merkwürdigen Vor— gänge einer gehemmten Entwicklung bei einem einheimiſchen Thiere beobachten können, nämlich beim Alpenmolch (Triton alpestris). Im Hochſommer 1861 fand der italieniſche Zoologe F. de Filippi in einem Sumpfe unweit An der Matten (Formazza-Thal) bei einer Höhe von nahezu 4000 Fuß über'm Meeresſpiegel, eine Menge dieſer noch mit Kiemen verſehenen Thiere, welche vollkommen geſchlechtsreif waren. Er deutete ſich das Phänomen ganz richtig durch die örtlichen Verhältniſſe, und da er nur zwei Exemplare dieſer Thiere, bei denen die Kiemen eben eingegangen waren, auffinden konnte, ſo meinte er aus dieſem Fehlen ausgewachſener Exemplare ſchließen zu ſollen, daß dieſe Thiere ähnlich wie die kleine Pricke (Petromyzon Planeri) ſich verhalten mögen, welche drei Jahre im Larvenzuſtande, in dem man ſie früher bekanntlich für ein beſonderes Thier (Querder, Ammoeoetes) anſah, zubringt, um nach der Fortpflanzung alsbald zu ſterben. Dieſe Alpenmolche bieten alſo völlig daſſelbe Schauſpiel wie unſer Gaſt aus Mexico, und die ſoviel Aufſehen erregende Beobach— tung war nicht einmal neu. Prof. von Siebold macht bei dieſer Gelegenheit mit Recht darauf aufmerkſam, wie wenig einer— ſeits die Trennung der Salamandrina und Kleinere Mittheilungen. 8 79 Proteina haltbar iſt, welche auch bereits durch van der Hoeven aufgegeben worden iſt, wie ſehr andererſeits die Amphibien zu Experimenten im Sinne der Entwid lungslehre einladen. Bekanntlich war es Schreibers in Wien, der zuerſt in den zwanziger und dreißiger Jahren dieſe Ver— ſuche aufnahm und unter andern den Proteus anguinus der Adelsberger Höhle bald zu einem reinen Kiementhier, bald zu einem vorwiegenden Lungenathmer erzog, je nachdem er ihn zwang, unter Waſſer zu bleiben, oder ausſchließlich zwiſchen naſſen Steinen und Badeſchwämmen zu leben. Schreibers ſtellte auch bereits Verſuche mit dem Alpenſalamander (Salamandra atra) an, den von Siebold im vergan— genen Jahr zu einem hüchſt intereſſanten Experimente zwang. Aehnlich jenen vor einigen Jahren von dem Marine-Apotheker Bavais entdeckten weſtindiſchen Fröſchen, welche ihre Kaulquappenzeit aus Mangel an Waſſertümpeln auf einzelnen dieſer vul— kaniſchen Inſeln im Ei abwarten, kommen die Jungen dieſes Alpenſalamanders in einem bereits ziemlich fortgeſchrittenen Stadium zur Welt. Von Siebold entnahm nun Embryonen dieſer Thiere dem Mutterleibe, wo ſie ſich merkwürdiger Weiſe auf gegen— ſeitige Koſten ernähren, und warf ſie in's Waſſer, um zu ſehen, ob ſie ſich nicht mit ihren Kiemen unter dieſen urſprünglichen Verhältniſſen wieder behelfen würden. Er ſelbſt hatte keine günſtigen Erfolge in der Erziehung dieſer Frühgeburten, aber einer in der Thierpflege außerordentlich geſchickten Naturforſcherin, die dieſe Verſuche auf des Genannten Anregung wiederholte, Fräulein Marie von Chauvin, glückte es, einen ſolchen zu früh der rauhen Außenwelt über— gebenen Alpenſalamander volle fünfzehn Wochen am Leben zu erhalten. Die ur— „ 80 ſprünglichen Kiemen, welche das Thier wie ein Schleier umhüllen, gingen ein, und es entwickelten ſich mit dem auch beim Axolotl beobachteten Reproduktionsvermögen neue, ein glänzender Beweis der immer neue Auswege ſchaffenden Naturkraft. Näheres über dieſe von der Beobachterin fortgeſetzten Verſuche findet der Leſer in Kölliker's und von Siebold's Zeitſchrift für wiſ— ſenſchaftliche Zoologie. (Bd. XXVII., Heft 4.) K. Die Schutzmittel der Zlüthen gegen unberufene Hüfte. In der Feſtſchrift zur Feier des fünfundzwanzigjährigen Jubiläums der Wiener zoologiſch-botaniſchen Geſellſchaft (Wien, Braumüller 1876) giebt Herr A. Kerner Studien über Einrichtungen, welche die Blüthen der Pflanzen vor dem Beſuche unliebſamer, kriechender, nur auf die Stillung ihres Appetites bedachter Gäſte ſchützen ſollen, während den fliegenden Poſtillons d'amour's aus der Inſektenwelt alle Thore geöffnet, Honig und Blumenſtaub in Fülle geboten werden. Unter den un⸗ erſprießlichen Gäſten eröffnen die großen Weidethiere den Reigen, aber ſchlimmer als ſie wüthen die gefräßigen Heliciden unter den Schnecken, die Raupen, Blattläuſe, die kleinen Blumenkäfer, welche ihres geringen Leibesumfangs wegen ſich nicht mit Blumen— ſtaub einpudern, wenn ſie dem Honig nach— gehen u. ſ. w. Man trifft die genannten Weichthiere und Inſekten zwar nicht allzu— häufig auf Blüthen, aber nicht etwa weil ſie das zarte Parenchym der Blumenblätter nicht als Delikateſſe zu würdigen wüßten, Kleinere Mittheilungen. ſondern vielmehr, weil die meiſten Blüthen gegen ihre Beſuche geſchützt ſind. Die Schutzmittel der Blüthen mögen zum guten Theil auf chemiſch-phyſiologiſcher Wirkung beruhen, ſo daß ausgeſchiedene Harze und ätheriſche Oele, deren Duft uns vielleicht höchſt angenehm iſt, dieſe kleinen Thiere von dem Verzehren abſchrecken. Einer ganz beſondern Schutzeinrichtung erfreuen ſich einige Pflanzen, deren Blü— thenſchaft ſich mit Waſſer umgiebt, in welchem die Inſekten zu ertrinken Gefahr laufen, wie derjenige der Weberkarde, die deshalb auch Venus Waſchbecken heißt Am intereſſanteſten in dieſer Beziehung ſind die Bromeliaceen, deren Laubblätter häufig in geräumigen Trichterroſetten die atmo— ſphäriſchen Niederſchläge ſammeln, den daraus hervorſteigenden Blüthenſchaft mit Palliſaden— zaun, Wall und Graben umgeben,) und ſo dem Andringen flügelloſer Inſekten eine unüberſteigliche Schutzmauer entgegenſtellen. Die Waſſerpflanzen ſind eo ipso gegen das Ankriechen unberufener Gäſte geſchützt, und es iſt ſehr lehrreich, zu ſehen, daß Pflanzen, deren Blüthenſchäfte ſich aus dem Waſſer erheben, der ſogleich zu er— ) Eines der wunderbarſten Anpaſſungs⸗ verhältniſſe dieſer Bromeliaceen beobachtete Gardner an den Orgelbergen bei Rio. Hier ſah er an den Felswänden bis zu 5000 Fuß über dem Meere eine große Tillandſia-Art wachſen, welche im Grunde ihrer Blattroſette eine beſonders anſehnliche Waſſermenge an— ſammelt. In dieſem Behälter, und nur hier allein, ſchwimmt eine der ſchönſten und an— ſehnlichſten Waſſerſchlaucharten (Utrieularia nelumbifolia), von der man nach den Gewohn— heiten dieſer inſektenfreſſenden Gattung viel— leicht ſchließen darf, daß ſie die läſtigen Gäſte der Bromeliacee, die in dem Waſſer ertrinken, zum Danke für das freie Logis wegfängt und verzehrt. Anm. des Ref. Kleinere Mittheilungen. 81 wähnenden Schutzmittel der Landpflanzen faſt ausnahmslos entbehren. Kein Beiſpiel kann beweiſender in dieſer Beziehung ſein, als dasjenige unſeres überall verbreiteten Pflanzen⸗Amphibiums (Polygonum amphi- bium), das an den Ufern der Tümpel, in der Zeit der Ueberſchwemmung wie der Dürre fortkommt. Steht der Stengel im Waſſer geſchützt, ſo iſt er glatt, hat ſich die Fluth zurückgezogen, ſo entwickeln Blätter und Stengel klebrige Drüſenhaare, die den kriechenden Beſuchern den Weg zu den Blüthen ſauer machen; ja bei wiederkehren— der Ueberſchwemmung verſchwinden die Ausſonderungen wieder. Der Leſer erinnert ſich hierbei ſogleich an die zahlreichen Pflanzen, deren Blüthenſchaft ſich in der Nähe der Blüthe mit ſtarken klebrigen Ausſchwitzungen bedeckt, von denen die Pechnelke das be— kannteſte Beiſpiel giebt. Von ihr mögen die Obſtbaumzüchter ihre mit Brumata- Leim beſtrichenen Binden abgeſehen haben Während ſich dieſe klebrigen Aus- ſchwitzungen zur Abhaltung der Ameiſen und ähnlicher Thiere vollkommen bewähren, bleiben ſie unwirkſam gegen andere Thiere, welche, wie die Schnecken auf einer Schleim— brücke den Pechſumpf überſchreiten. Gegen dieſe Feinde waffnen ſich nun die Pflanzen mit Dornen, Stacheln und ſcharfen Zähnen aller Art, die nicht ſelten, wie bei der Hundsroſe, ihre Spitze nach unten, den Stürmenden entgegen, wenden. Manche derſelben ſcheinen freilich auch dazu da zu ſein, den Inſekten den richtigen Weg zur Blüthe zu weiſen. Zu dieſen Schutzvorrichtungen an den Stengeln und Blättern geſellen ſich andere in den Blüthen ſelbſt, gitter- und reuſenförmige Haargebilde, die nur einzelnen Thieren den Zugang wehren, Bedeckungen der Nektarien und ableitende Nektarabſchei⸗ dungen an den Blättern, Schutzmittel von großer Mannigfaltigkeit, deren Charakteriſtik man in der Original-Abhandlung nachſehen mag. Eine große Anzahl von Blüthen öffnet ſich nur des Nachts, wenn die meiſten der unnützen Geſellen ſchlafen, wobei eine Sicherung gegen die Einbrecher am hellen lichten Tage nicht überflüſſig wird. „Aus dem Geſagten“, ſchließt der Ver— faſſer ſeine an intereſſanten Ausblicken reiche Abhandlung, „dürfte es zur Genüge hervor⸗ gehen, daß die Beziehungen der Pflanzengeſtalt zu der Geſtalt der auf Pflanzenkoſt an— gewieſenen Thiere bei weitem mannigfaltiger ſind, als man bisher annehmen zu können glaubte, und daß insbeſondere zahlreiche Ausbildungen im Bereiche der Laubblätter | und des Stengels auch in ſofern eine biologiſche Bedeutung haben, als durch ſie den Blüthen gegen unvortheilhafte Angriffe gewiſſer Thiere ein Schutz geboten wird. Wo die Angreifer fehlen, iſt auch die Schutzwehr bedeutungslos, und es ſind daher alle dieſe Ausbildungen hauptſächlich nur für die Verhältniſſe der Oertlichkeiten, an denen ſie entſtanden, wichtig. An einem anderen Orte ſind ſie es vielleicht nicht, ja ſie können dort vielleicht von Nach— theil ſein, oder es liegt wenigſtens dort ihre Ausbildung als etwas Ueberflüſſiges nicht in der Oekonomie der Pflanze, und es iſt ſelbſtverſtäudlich, daß ſolche unvor— theilhaft, weil nicht ökonomiſch organiſirte Pflanzen, wenn ſie unter Verhältniſſe kommen, die ihrer Geſtalt nicht concordant ſind, von andern vortheilhafter organiſirten Concurrenten aus dem Felde geſchlagen werden. Unter den Aenderungen der äußeren Verhältniſſe, die hierbei in Betracht kommen, werden neben dem Orts- und Klima- Wechſel beſonders einflußreich die Veränderungen in der Thierwelt wirken, Kleinere Mittheilungen. namentlich vortheilhafte Anpaſſungen der⸗ ſelben, die in der Regel den Pflanzen nachtheilig ſein werden, weil, was die Exiſtenz pflanzenfreſſender Thiere befördert, derjenigen der Pflanzen in der Regel ſchaden muß, und einzelne Arten zum Ausſterben bringen kann. Aus ſolchen und ähnlichen Wechſelbeziehungen erklärt ſich die Erſcheinung, daß unter gleichen äußeren Verhältniſſen Pflanzenarten der verſchiedenſten Familien und Gattungen doch in gewiſſen Ausbildungen überein— ſtimmen. So lann man in dem einen Florengebiete Pflanzen der a verſchiedenſt Stämme mit Stacheln bewehrt finden, einem anderen Florengebiete ſolche nectarreichen Blüthen vorherrſchend treffen, ja es kann ſogar der rakter einer ganzen Vegetation durch Vorherrſchen von Pflanzen mit äh Schutzeinrichtungen beſtimmt werde wäre nichts anderes als die Ber der Spaltöffnungen in dürren und zeichnet und ähnliche Erſcheinungen. * en Gedanken über Dererbungserfheinungen und Vererbungswelen von Fenn man nach dem Werden der P organiſchen Formen fragt, jo giebt es ſtreng genommen nur zwei principiell verſchiedene und daher ſich gegenſeitig ausſchlie— ßende Erklärungsweiſen. Die eine läßt die einzelnen Formen, ſo wie ſie ſind, geſchaffen ſein, die andere leitet ſie von einander ab und zeigt, daß ſie in Folge Einwirkung von Urſachen ſich nur ſo und nicht anders geſtalten, alſo | werden konnten. Einestheils ift aber der Begriff „ſchaffen“, als Produktion durch den abſoluten Willen allein, ohne Naturnothwen— digkeit oder Naturgeſetze, wie C. E. v. Bär ſehr richtig bemerkt, unwiſſenſchaftlich und alſo auch nicht naturwiſſenſchaftlich. „Der g Naturforſcher darf als ſolcher“, wie v. Bär an einer andern Stelle hervorhebt, „nicht an Wunder, d. h. an Aufhebung der Natur- geſetze glauben; denn ſeine Aufgabe beſteht ja eben darin, die Naturgeſetze aufzuſuchen: was außer ihnen liegt, exiſtirt für ihn gar nicht. Deshalb darf er auch nicht einen wiederholten Eingriff der Allmacht an— nehmen.“ Wer das Bedenken des Natur- forſchers nicht hat, mag immerhin das Auf— treten neuer Organismen als erneute Dr. ud. Moerzier. Schöpfungsakte betrachten. Anderntheils ſind aber auch die Annahmen des frommen indiſchen, moſaiſchen ꝛe. Glaubens, wie die Formen, geſchaffen, und vollends, wie ſie unverſehrt aus der die fündigende Menfd- . heit vertilgenden Fluth erhalten worden ſein ſollen, ſo ſagenhaft, daß kein Naturforſcher im Ernſt ſie einer Kritik würdigen darf. Der Naturforſcher hört in dem Augenblicke auf die Natur zu erforſchen, wo er als Erklärungs— urſache ein nie faßliches, nie nachweisbares Unbekanntes aufſtellt. Er muß den Grund für die Formengeſtaltung in der Materie und den ihr immanenten Kräften, nicht aber außerhalb derſelben ſuchen, und dadurch wird er mit Nothwendigkeit auf das Descendenz— und Transmutationsprincip hingewieſen. Die äußeren Einflüſſe, und dahin ſind auch die ſcheinbar inneren Einflüſſe zu rechnen, formen die Materie; die Organismen paſſen ſich, mit anderen Worten, den Exiſtenzbeding— ungen an. Jedes Individuum, und mag es noch ſo ſehr ſeinen Verwandten ähneln, trägt in ſich die Spuren von Wirkungen der Außenwelt. Wenn das Geſetz von der Erhaltung der Kraft Wahrheit und keine Chimäre iſt, dann können die Licht⸗ * 84 Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. und Wärmeſchwingungen, die chemiſchen und elektriſchen Einwirkungen, ebenſo wenig wie die gröberen Reize der bewegten Außen— welt, wenn ſie den Organismus treffen, an dieſem unmöglich wirkungslos vorübergehen; ſie müſſen die Spuren ihres Daſeins zurück— laſſen als ſtetige Zeugen, daß die Welt des Unorganiſchen, ebenſo gut wie die des Organiſchen, nichts Anderes iſt als eine Funktion der die Materie bewegenden und im Wechſel der Bewegung formenden Kräfte. Nach der einen Auffaſſung iſt alſo die Welt und was ſich auf ihr regt, etwas Erſchaf— fenes, nach der andern iſt ſie etwas Ge— wordenes, ſich im Kreislauf aus einander Entwickelndes. Während aber in der unorganiſchen Welt nur die reine Anpaſſung, d. h. die Reaktion auf die Wirkung, zur Geltung kommt, tritt im Reiche des Lebendigen die Vererbung des durch Anpaſſung Erworbenen hinzu. Es gehört zum Weſen des Lebendigen, daß Nährmaterial in ſein Inneres aufgenommen, zu plaſtiſchem Material umgebildet und an den verſchiedenſten Stellen des Organismus zum Aufbau und zum Wachſen der Körper— ſubſtanz verwerthet wird. In der zu die— ſer Leiſtung nöthigen Kraft erkennt die Phyſiologie mit Recht einen adäquaten Theil der Sonnenkraft. Wenn das Wachsthum ein gewiſſes Maß erreicht hat, führt es durch Theilungs-, Sproſſungs-, Knospungs⸗, Gebärungsvorgänge zur Vermehrung und Fortpflanzung. Die Thatſache nun, daß das gezeugte Weſen ceteris paribus die Ei genthümlichkeiten des erzeugenden Weſens beſitzt, ſo daß die Geſtaltung des letzteren ein getreues Abbild derjenigen des erſteren iſt, dieſe Thatſache bezeichnet man, weil man fie einmal, um wiſſenſchaftlich weiter zu forſchen, begrifflich feſtſtellen muß, mit dem Ausdrucke Vererbung. In dieſer Hinſicht haben Häckel und Darwin vollkommen Recht, wenn ſie in der Wechſel— wirkung zwiſchen Anpaſſung und Vererbung die Urſache für die Formgeſtaltung der Organismen erkennen. Man hat Häckel vorgehalten, und zwar in der gehäſſigſten Form von Seiten ſolcher Gegner, die im dickſten Urmeer undefinirbarer Begriffeſchwim— men, daß er mit den Begriffen Anpaſſung und Vererbung nichts gelöſt, und nur die Frage nach den Urſachen für das Werden der Organismen etwas weiter zurück ver— legt habe. Es ſei nur ein neues Wort geſchaffen und nichts erklärt worden. Der Beweis iſt nicht ſchwer zu führen, daß hier der Uebereifer zu ungerechter Kritik verleitet hat. Man muß es vielmehr als eine dankbar anzuerkennende wiſſenſchaftliche That bezeichnen, wenn ein Forſcher mit klarem Blick die Wege vorzeichnet, auf denen ein tieferes Eindringen in die Ge— heimniſſe der Biogenie möglich wird. Und das haben Häckel und Darwin gethan. Darwin, und in conſequenter Durchfüh— rung des Darwin'ſchen Gedankens, Häckel, haben die Summen der zum Aufbau der organiſchen Geſtalten führenden Proeeſſe in zwei Sammelbegriffen zuſammengefaßt, in dem Princip der Anpaſſung und dem der Vererbung. Es war das ein taktiſch rich— tiger Griff, der um fo weniger Tadel ver— dient, als noch keiner von denjenigen, welche über das Unfaßliche dieſer Begriffe klagten, etwas Beſſeres an die Stelle geſetzt hat. Wenn Newton und die nachfolgende kos— mologiſche Schule in dem Ringen nach einer urſächlichen Erklärung der kosmiſchen Bewegung von einer allgemeinen Anziehungs⸗ kraft ſprechen, jo wird nur ein Verblende— ter ſo ungerecht ſein, den faßlichen Begriff Anziehung verwerfen zu wollen, weil man die Urſache für dieſe Anziehung und ihre Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und VBererbungswefen. Wechſelbeziehung zu Licht und Wärme und Elektricität bis jetzt noch nicht kennt. Es giebt das höchſtens neuen Antrieb, weiter zu forſchen und nachzuſehen, in wie weit auch die Schwerkraft dem allgemeinen Geſetz von der Erhaltung und Umwandlung der Kraft ſich fügt. Aehnlich verhält es ſich mit den Begriffen Anpaſſung und Ver— erbung. Sie ſind durchaus nicht myſtiſcher Natur, ſondern laſſen ſich tagtäglich durch die Erfahrung feſtſtellen. Keinen Organis- mus giebt es, der ſich nicht anpaßte; wir ſind ein Spiel von jedem Hauch der Luft, ja von jedem Licht- und Wärmeſtrahl, von jedem Materienſtäubchen, das mit unſerem Blute durch den Körper kreiſt. Auch die Vererbung iſt nichts Unfaßliches; wird uns doch tagtäglich die Thatſache der Vererbung bei Betrachtung der Neugeborenen gar aus— drücklich zum Bewußtſein gebracht. Häckel geht aber noch weiter, indem er nicht nur klar und deutlich ausgeſprochen hat, was er unter Anpaſſung und Vererbung verſteht, ſondern auch die hier waltenden Theilproceſſe andeutet. Als die allgemeine Grundurſache der Anpaſſung ſtellt er die phyſiologiſche Thätigkeit der Ernährung oder des Stoff— wechſels hin, indem er dieſelbe im weiteſten Sinne nimmt und in ihr die geſammten materiellen Veränderungen zuſammenfaßt, welche der Organismus in allen ſeinen Theilen durch die Einflüſſe der ihn umgebenden Außenwelt erleidet. Nicht allein die Auf- nahme der wirklich nährenden Stoffe und der Einfluß der verſchiedenartigen Nahrung, ſondern auch z. B. die Einwirkung der Feuchtigkeit und der Atmoſphäre, der Ein— fluß des Sonnenlichts, der Temperatur und alle diejenigen meteorologiſchen Erſchei— nungen, welche wir unter dem Begriff Klima zuſammenfaſſen, gehören hierhin; ebenſo der mittelbare und unmittelbare Ein- N 85 fluß der Bodenbeſchaffenheit und des Wohn— orts, ferner der äußerſt wichtige und viel— ſeitige Einfluß, welchen die umgebenden Organismen, die Freunde und Nachbarn, die Feinde, Schmarotzer und Räuber auf jedes Thier und jede Pflanze ausüben. Lamarck's Verdienſt iſt es, daß er ſeiner Zeit vorauseilend die innere Nothwen— digkeit dieſer Abhängigkeit der organiſchen Geſtaltung von den äußeren Einflüſſen klar erkannte, wenn auch bei der geringen Ent— wickelung, welche damals die Paläontologie, Embryologie, Phyſiologie und ſelbſt die vergleichende Anatomie zeigten, der Beweis für die Richtigkeit ſeiner Anſchauung nicht gerade ſehr leicht zu führen war. Heute hat ſich das Material zur Beweisführung verhundertfacht. Die ganze geiſtige Rich— tung iſt eine ſolche, die den Lamarck'ſchen Ideen conform iſt. Heute, wo das Geſetz von der Erhaltung der Kraft und die Lehre von den Wechſelbeziehungen zwiſchen Wärme, Bewegung, Licht, Schall, Elektricität und chemiſcher Affinität die Grundlage alles phyſikaliſchen Forſchens und Experimenti— rens ſind, kann ein mit den Thatſachen der modernen Forſchung Vertrauter es nur wunderlich finden, daß die Einflüſſe der Außenwelt an den Organismen ſo ganz ſpurlos vorüber gehen ſollten. Seeidlitz hat in feinem durchdachten Werke „Die Darwin'ſche Theorie“) die— ſem Gebiete der Anpaſſungen mehr Auf— merkſamkeit gewidmet, als es ſonſt Gebrauch iſt, und 1) die Witterungsverhältniſſe, 2) das Medium des Aufenthalts, 3) die Nahrungsbedürftigkeit, 4) die natürlichen Feinde, 5) das Fortpflanzungsgeſchäft, 6) die Befriedigung des Selbſtbewußtſeins, ) Dr. Georg Seidlitz, „Die Darwin⸗ ſche Theorie“. 2. Auflage. Leipzig. W. Engel- mann. 1875. 86 in den Kreis ſeiner kritiſchen Studien ge— zogen; ebenſo hat Charles Martins, Profeſſor der mediceiniſchen Facultät zu Montpellier, der Herausgeber der „zoologi- ſchen Philoſophie“ von Lamarck“), in der biographiſchen Einleitung ſich die Aufgabe geſtellt, zu den wenig zahlreichen Anpaſſungs— Beiſpielen, welche Lamarck anführt, dieje— nigen hinzuzufügen, welche die moderne Wiſſenſchaft zuſammengeſtellt hat, und er beſpricht zu dieſem Zwecke den Einfluß des Waſſers, der Luft, des Lichtes, der Wärme, die rudimentären Organe ꝛc., ohne daß jedoch das Geleiſtete irgendwie erſchöpfend wäre. Auch Hoppe - Seyler?!) hat in ſeiner phyſiologiſchen Chemie der Ab— hängigkeit der Organismen von Luft, Licht, Wärme ec. eingehendere Studien gewidmet. In der Erforſchung der äußeren Einflüſſe im weiteſten Sinne und ihrer Wirkungen iſt jedoch noch lange nicht das letzte Wort geſprochen, und wir glauben nicht fal— ſcher Prophetie uns ſchuldig zu machen, wenn wir verkünden, daß hier die experimen— telle Phyſiologie ihre Hebel einſetzen muß und einſetzen wird, wenn ſie mit Erfolg nach einem urſachlichen Verſtändniß der organiſchen Geſtaltung vordringen will. Die Vererbungs-Erſcheinungen führt Häckel auf die materiellen Vorgänge der Fortpflanzung zurück, inſofern immer eine größere oder geringere Quantität eiweiß— artiger Stofftheilchen von der elterlichen Materie auf das kindliche Individuum übergeht. Die Fortpflanzung iſt aber nur eine beſondere Art des Wachsthums und nichts Anderes als eine unmittelbare Ver— Charles Martins, „Zoologiſche Philoſophie von Jean Lamarck“. Jena. Her— mann Dabis. 1876. ) Hoppe-Seyler, „Phyſiol. Chemie“. Berlin. Auguſt Hirſchwald. 1877. Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. längerung deſſelben über das Individuum hinaus. „Wachsthum“, ſagt Bär, „iſt Ernährung mit Bildung neuer Körper— maſſe, in der That eine fortgeſetzte Zeu— gung, und Zeugung iſt nichts als der Anfang eines individuellen Wachsthums.“ Man hat nun ſehr ſachgemäß und mit Erfolg zu zeigen verſucht, daß die einzelnen Formen der Fortpflanzung, von der ein— fachſten durch Theilung, Knospung und Sproſſung angefangen bis zu der Keim— und Eibildung einer ſtetig zuſammenhängen— den Reihe angehören, und iſt mit Recht zum Schluſſe gelangt, daß, da immer ein Theil des elterlichen Organismus die Grund— lage zum Aufbau des kindlichen Organis- mus ausmacht, die als Vererbungserſchei— nung bezeichnete Wiederkehr ähnlicher, wenn nicht gar derſelben Geſtalten bei Mutter und Tochter ſelbſtverſtändlich ſei. Die That— ſache der Vererbung iſt damit zwar logiſch verſtändlich, nicht jedoch in ihrer letzten Urſache begreifbar gemacht. Wenn der Keim als ein Theil des elterlichen Orga— nismus die Eigenſchaften deſſelben in ſich potenzirt trägt, dann iſt es ein Ding der Nothwendigkeit, daß der Keim bei ſeiner Entwickelung ſich jo geſtaltet, wie der Er— zeuger war. — Wie kommt es aber, daß der Keim dieſe elterlichen Eigenſchaften in der Regel genau copirt? Das iſt die Frage, deren Löſung die Lehre von den Vererbungserſcheinungen ſich zu ſtellen hat. Für den einfachſten Vorgang der Fort— pflanzung durch Theilung ſcheint die Frage wohl weniger verfänglich, da die Organis— men, welche ſich durch Theilung fortpflanzen, in der Regel wenig differenzirt ſind, nur bloße Eiweißmaſſe bilden, die nur Nahrungs- material an allen Stellen ſich aſſimilirt, ſo daß das abgetrennte, jetzt kindliche Indi— viduum nur daſſelbe nach ſeiner Trennung nn Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. 87 weiter treibt, was es als Körpertheil des elterlichen Organismus früher getrieben hat. Die Theilſtücke haben eine gleich beſchaffene Materie wie das elterliche Individuum, und daher iſt es leicht verſtändlich, daß auch die Lebenserſcheinungen, die phyſiologiſchen Eigenſchaften, welche an die Materie ge— knüpft ſind, bei Eltern und Kindern die— ſelben ſind. Jedoch bleibt auch für dieſen einfachſten Fall immer noch die Erklärung zu liefern, durch welche chemiſch-phyſikaliſchen Eigenſchaften der Eiweißſubſtanz es bedingt iſt, daß bei der Aſſimilation aus dem ur— ſprünglich heterogenen Nährmaterial eine der Eiweißmaſſe conforme Subſtanz gebil— det wird. Einen geiſtreichen Verſuch, hier Aufſchluß zu ſchaffen, hat Jäger) gemacht. Weit geheimnißvoller wird aber der Vor— gang der Vererbung, wenn man zu den ver— wickelteren Fortpflanzungsweiſen vordringt. Wie kommt es, muß man ſich fragen, daß das kindliche, aus der Knospe hervorgegan— gene Individuum, genau die Eigenſchaften des elterlichen Organismus copirt? Warum hat es z. B. die Eigenſchaft, durch Knos— pen und nicht durch Theilung ſich fortzu— pflanzen? Wohl iſt es nicht unbekannt, daß oft genug ein Zurückgreifen auf den einfacheren Theilungsvorgang zu beobachten iſt; wir wollen hier jedoch die Mittellinie ſtrenge zeichnen, welche von der Theilung bis ſchließlich zur Eibildung führt. Wa— rum, wenn wir den complicirteſten Fall nehmen wollen, iſt z. B. die entwickelte kindliche Zehe, ceteris paribus, genau genommen die Copie der elterlichen Zehe, vielleicht mit allen Abſonderlichkeiten, die das mütterliche oder väterliche Individuum beſaß? „Mit der Materie“, ſagt mit Recht Häckel, „werden auch deren Lebenseigen— ) „Zoologiſche Briefe“ und „Kosmos“, Heft 1. Anderes wird? ſchaften, die molekularen Bewegungen des Plasma, übertragen.“ Wie kommt es aber, daß z. B. das Vogelei in ſich ſolche Lebens— eigenſchaften oder, wenn man will, ſolche molekulare Bewegungen birgt, daß aus ihm nur der ganz ſpecifiſche Vogel und nichts Auf welchem Wege und durch welche Mittel wird vererbt? Die Entwickelungsgeſchichte der Orga— nismen war bisher faſt ausſchließlich Mor— phogenie, welche ſich als ſolche die Auf— gabe ſtellte, die ontogenetiſchen Formen als durch Uebergänge vermittelte Glieder nach— zuweiſen. „Wie dieſe,“ ſagt Häckel, „uns erſt das wahre Verſtändniß der organiſchen Formen eröffnet hat, ſo wird uns ſpäter die Phyſiogenie die tiefere Erkenntniß der Functionen durch Aufdeckung ihrer hiſtori— ſchen Entwickelung ermöglichen. Sie hat die fruchtbarſte Zukunft.“ Morphogenie und Phyſiogenie müſſen uns an der Hand geſchichtlicher Forſchung Auskunft geben, wie die Geſtalten und ihre Funktionen ſich herausgebildet haben. Dann bleibt aber immer noch die Frage ungelöſt, wa— rum ſie ſo und nicht anders wurden. Die geſchichtliche Forſchung giebt die Anhalts— punkte, gleichſam die Wegweiſer, wie wir zum urſachlichen Verſtändniß vordringen können, ſie zeigt den Weg zur Löſung der phyſiologiſchen Räthſel, aber fie löſt fie nicht in letzter Inſtanz. Nur dann iſt eine Entwickelungsſtufe geiſtig verſtanden, wenn man ſie mit allen ihren Beſonder— heiten, alſo in ihrem urſachlichen Zuſammen— hange mit den unmittelbar vorhergegangenen geſchaut hat. Wohl entbehrt auch die Bio— genie nicht ſolcher erklärenden Principien, inſofern ſie die Sammelbegriffe der Anpaſ— ſung und Vererbung als urſachliches Mo— ment verwerthet. Aber dieſe beiden Be— griffe, welche die Summe der Urſachen 88 Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. * umfaſſen, ſind doch nur inſofern von Werth, als ſie die zu entziffernden Urſachen auf einen leichter zu handhabenden Ausdruck bringen, als ſie die Urſachen ſehr anſchau— lich in zwei Gruppen ſondern, die zu einander in der durch Darwin enträth— ſelten Wechſelbeziehung ſtehen und dadurch erſt die Möglichkeit zu einem tieferen Ein— dringen in die entwickelungsgeſchichtlichen Vorgänge bieten. Die werkthätigen Ur— ſachen der Anpaſſungs- und Vererbungs— erſcheinungen ſind zwar geahnt aber darum immer noch nicht erkannt und wiſſenſchaft— lich feſtgeſtellt. Hier iſt daher auch die ſchwache Stelle, wo alle offenen und ver— ſteckten Gegner des Darwinismus zum An— griff ſich verſammeln und höhnend die raſtlos vorwärts ſtrebende Forſchung durch Aufthürmen von Hinderniſſen und Ent— gegenwerfen von Fragen zum Stillſtande, wenn nicht zum Rückzuge zu bringen hoffen. Dieſes Fortſchreiten der Forſchung von der ſyſtematiſchen zur morphologiſchen und von dieſer zur phyſiologiſchen Betrachtungs— weiſe liegt in der Natur der Sache be— gründet. Zuvor mußte ein allgemeiner Ueberblick über die Formenverwandlung gegeben ſein, ehe man den geheimnißvollen und dunklen Pfaden der phyſiologiſchen Entwickelungsurſachen folgen konnte. Die erſtere dient als Wegweiſer für die letztere, aber umgekehrt die letztere auch als neuer Beweis für die Richtigkeit der erſteren. Es wird nicht mehr lange dauern, bis der Grundgedanke des Darwinismus auch auf dem Felde der Phyſiologie ſich Bahn bricht. Der Anläufe zu dieſer phyſiologiſchen Rich— tung ſind ſchon mehrere gemacht worden, von keinem aber in ſo umfaſſender Weiſe, wie von Jäger in ſeinen vielfach ganz neue Geſichtspunkte bietenden zoologiſchen Briefen. „Mit Linné,“ jagt Jäger, „be gann die ſyſtematiſche Epoche der Organismen— lehre, mit Cuvier die anatomiſche, mit den deutſchen Embryologen und den deutſchen und engliſchen Morphologen die morphologiſche Epoche. Der Wendepunkt von einer Epoche zur andern iſt durch ein jedesmaliges Auf— flackern der naturphiloſophiſchen Spekulation gekennzeichnet. Zwiſchen die ſyſtematiſche und anatomiſche fällt, allerdings etwas ver— ſpätet, die durch Lamarck's Namen ge— kennzeichnete ſpekulative Periode; zwiſchen die anatomiſche und morphologiſche die in Oken und Schelling verkörperte Schule der deutſchen Naturphiloſophie, und an den Schluß der morphologiſchen Epoche die neueſte, durch Darwin' s Namen gekenn— zeichnete naturphiloſophiſche Schule“. „Ich ſage,“ bemerkt Jäger, „an den Schluß der morphologiſchen Epoche, nicht weil ich glaube, daß auf dem Boden der Morpho⸗ logie nichts mehr zu holen ſei, und daß wir ihn jetzt brach liegen laſſen ſollen, ſondern weil ich glaube und wünſche, daß wir am Beginn einer neuen Epoche der Organis— menlehre, nämlich der phyſiologiſchen, ins— beſondere der chemiſch-phyſiologiſchen ſtehen.“ Dieſer an ſich berechtigte Ausſpruch Jäger's, könnte mißverſtanden werden. Das letzte Ziel der phyſiologiſchen Forſchung muß doch die urſachlich verſtandene Morphogenie und Phyſiogenie fein.*) ) Anmerkung der Redaktion: Ich be— finde mich mit dem Verfaſſer in vollſtändiger Uebereinſtimmung, denn mein Ausſpruch iſt ſo gemeint: Die morphologiſche Betrachtung allein genügt nicht zur Erklärung der That— ſache, daß das Leben ſich in eine Anzahl von ſpezifiſch verſchiedenen Lebeweſen zer— ſplittert, weil die Form nicht wieder aus der Form, ſondern nur aus der Thätig— keit des Inhalts und der Wechſelwirkung zwiſchen Inhalt und maßgebendem Medium d. h. phyſiologiſch erklärt werden kann. Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. 89 Zu dem vielverſchlungenen Labyrinth der hier waltenden Möglichkeiten muß aber die Morphologie für die Phyſiologie der leitende Faden ſein. Es iſt ſogar ſehr fraglich, ob es uns glückt, überall durch die Reaction die chemiſch-phyſikaliſchen Ur— ſachen zu finden; immerhin aber dürfte es uns leichter gelingen, durch Forſchung nach dem geſchichtlichen Verlauf der Geſtaltungen das „Wie“ der Entwickelung feſtzuſtellen, um daraus Schlüſſe auf ihr „Warum“ zu ziehen. In dieſer Hinſicht wird die Mor— phologie nicht nur die wichtige Unterlage, ſondern auch, als urſachlich zu verſtehende, das Endziel der phyſiologiſchen Betrachtung bleiben. Ja die Morphologie gab bereits der Phyſiologie die wichtigſten leitenden Geſichtspunkte, indem gerade die Principien der Anpaſſung und Vererbung phyſiolo— giſcher und nicht morphologiſcher Natur ſind. Die noch auszubauende vergleichende Phyſiologie der Organismen hat nur noch dieſe beiden Principien zu analyſiren und auf ihre Theilerſcheinungen zurückzuführen. Ich weiſe nochmals, um den Gang der biologiſchen Wiſſenſchaften zu zeichnen, auf den ganz ähnlichen der Kosmologie hin. Zuerſt erkannte man, wie die Planeten— bahnen ſeien, dann gab Newton als Grund der Planetenbewegung die Anziehung an, Ich wäre allerdings vor einem Mißver— ſtändniß geſchützt geweſen, wenn ich „mor— phogenetiſch“ Feſagt hätte, allein ich hatte eben nicht das Forſchungsziel, das natürlich die Morphogeneſis iſt, ſondern die Forſchungsmethode, die phyſiologiſche, im Auge, da wir zuerſt dieſe cultiviven müſſen. Denn die heutige Zoophyſiologie iſt viel zu einſeitig entwickelt, als daß wir uns derſelben ſofort mit Erfolg bedienen könnten, was der Leſer aus meinen Erörte— rungen über ſpezifiſche Stoffe wird ent— nehmen können. G. Jäger. obſchon wir bis heute das Weſen der An— ziehung und ihre Wechſelbeziehung zu an— deren Kraft- reſp. Bewegungsformen nicht kennen. So zeigten auch die Morphologen, wie die Formen ſich geſtalten, die Darwin— Häckel'ſche Schule lehrte die Anpaſſung und Vererbung als urſachliches Moment ſchätzen und enthüllte an der Hand dieſes leitenden Fadens eine Fülle neuer morphologiſcher Thatſachen, deren Folge noch lange nicht geſchloſſen iſt. Heute müſſen wir ſuchen, auch dieſe Anpaſſungs- und Vererbungsvorgänge in ihren Theilerſcheinungen zu begreifen; jedoch würde es ein Rückſchritt ſein und zu vielen Irrungen verleiten, wollte man die durch Darwin und Häckel klargelegte Wechſel— beziehung der beiden Urſachengruppen ver— geſſen und für die phyſiologiſche Forſchung als werthlos bei Seite ſetzen. „Durch die Vererbung,“ lehrt Häckel in ſeiner Schöpf— ungsgeſchichte, „wird die organiſche Form in ihren weſentlichſten Grundzügen erhalten, und es ſo ermöglicht, daß Generationen hindurch von ähnlichen Organismen Aehn— liches erzeugt wird; die Vererbung be— dingt eine gewiſſe Beſtändigkeit der Formen. Anderſeits ſind die Organismen aber um— bildſam; ihr plaſtiſcher Stoff paßt ſich den Einflüſſen der Außenwelt ſo viel wie möglich an. Es entſtehen ſo neue Formen aus den vorhandenen. Je nachdem die Erſcheinungen der Vererbung oder Anpaſſ— ung vorwalten, bleibt die Form conſtant oder verändert ſich dieſelbe. Der in jedem Augenblick ſtattfindende Grad der Form— beſtändigkeit bei den verſchiedenen Thier— und Pflanzenarten iſt einfach das noth— wendige Reſultat des augenblicklichen Ueber— gewichts, welches jede dieſer beiden Bildungs— kräfte (oder phyſiologiſchen Funktionen) über die anderen erlangt hat.“ Was ſich im Kampfe ums Daſein den Exiſtenzbedingungen Ehe 90 Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. anpaſſen kann, bleibt beſtehen und vererbt das Angepaßte auf die Nachkommen; was dieſer Forderung der Anpaſſung nicht ge— nügen kann, geht unter und macht exiſtenz— fähigeren, glücklicher geſtellten Individuen Platz zur Entwickelung. Mit dieſem Grund— gedanken Darwin-Häckel'ſcher Auffaſſung der organiſchen Natur muß die Pyſiologie ſich befreunden, wenn ſie nicht, leit- und principlos wie früher, im Dunkeln herum— tappen will. Eine Theorie der Vererbung iſt daher auch von einer Theorie der An— paſſung nicht zu trennen, da beide zu ein— ander in enger Wechſelbeziehung ſtehen. Wie ſich für die Erklärung des Wer— dens der Dinge im Allgemeinen zwei Theorien gegenüberſtehen, die dualiſtiſche Hypotheſe, welche bald mehr, bald weniger ausgedehnte Schöpfungsakte verlangt, und die moniſtiſche Theorie, welche die Formen im Kreislauf der Natur aus einander wer— den und ſich entwickeln läßt, ſo kann man auch die Zeugungstheorien in zwei principiell von einander geſchiedene Lager ſondern. Die Anhänger der transcendentalen Richtung laſſen durch einen Machtſpruch den Keim plötzlich mit allen ſeinen Bildungstrieben da ſein. Alles weitere Erklären iſt dann Spielwerk. Die moniſtiſche Naturanſchauung faßt dagegen die ganze Welt und die Or— ganismen auf ihr, als etwas ſich im Kreis— lauf der Dinge ſtetig Geſtaltendes, als etwas Werdendes auf. Die Materie kann nicht zu Nichts werden. Die Körper zerfallen höchſtens in ihre Elementarbeſtandtheile, die im ſtetigen Wechſel zu neuen Gebilden zuſammen treten. Nach dieſer Auffaſſung ſind auch die organiſchen Keime etwas Ge— wordenes, nichts Geſchaffenes, etwas all— mählig ſich Entwickelndes, nichts augen— blicklich fertig Angelegtes. Bei weiterer Entwickelung dieſes Ge— dankens ſind nun zwei Vorſtellungen mög— lich: Entweder haben ſich bei dem erſten Akte der Urzeugung verſchiedene plasma— tiſche Gebilde aufgebaut, von denen jedes ſich in feiner Art mit Anpaſſung an die Exiſtenz— bedingungen weiter entwickelte, oder aber aus einer weſentlich gleichartigen?) leben— digen Maſſe iſt durch Anpaſſung an die ver- ſchiedenen Bedingungen der Exiſtenz Ver— ſchiedenes geworden. Die erſtere Annahme führt zu einem polyphyletiſchen, die letztere zu einem monophyletiſchen Stammbaum; beide können aber der principiellen An— ſchauungsweiſe nach moniſtiſch ſein. Die moniſtiſch-polyphyletiſche Auffaſſung hat ſcheinbar den Vortheil, daß ſie die Frage nach den Urſachen der ſpeziellen Entwicke— lung ſchneller abfertigt, inſofern immer dieſe Antwort gegeben werden kann: Als die erſten Kohlenſtoff-Verbindungen lebendig wurden, beſaßen ſie vermöge ihrer Zuſam— menſetzung von Haus aus beiſpielsweiſe verſchiedene chemiſche Affinitäten und muß— ten daher von dem umgebenden Nähr- material, von Licht, Wärme, Druck, Elek— tricität u. ſ. w., jede in ihrer ſpeziellen Weiſe, beeinflußt werden. Sie vervollfomm- neten ſich in Folge der Selektion, ſo daß die Richtung und Stärke der Vervollkomm⸗ nung der Reſultante zwiſchen den bereits vorhandenen Ureigenſchaften und den Ein— ) Wenn das Urprotoplasma hier gleich- . artig genannt wird, jo ſoll damit nicht an⸗ gedeutet ſein, daß es aus einer Subſtanz beſteht. Nach Jäger's Protoplasmatheorie müßte es ein Gemenge aus mindeſtens drei verſchiedenen chemiſchen Verbindungen ſein, weil ſonſt jede phyſikaliſche Baſis für die Erklärung der Lebenserſcheinungen fehlt. Auch Häckel hat wohl mit ſeinem gleich— artigen Protoplasma nur das Fehlen der organiſchen Differenzirung bezeichnen wollen. Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. flüſſen der Außenwelt entſprach. Nennt man dieſe Ureigenſchaften „innere Urſachen der Entwickelung“, ſo kann gegen ſolche innere Urſachen vom moniſtiſchen Stand— punkte aus principiell nichts eingewendet werden; man muß dann nur zuſehen, daß dieſem Begriff keine dualiſtiſche Unterlage untergeſchoben wird. Die moniſtiſch- monophyletiſche Auf— faſſung hat einen weit ſchwierigern Stand; ſie muß nicht nur zwiſchen verwandten Formen, ſondern zwiſchen den Typen die Uebergänge ſuchen; das iſt eine Arbeit, welche wohl noch lange den Fleiß und das Geſchick der Forſcher in Anſpruch nehmen wird, ehe eine endgültige Entſcheidung ge— fällt werden kann. Häckel vertritt, ge— ſtützt auf ſeine Gaſträatheorie, für deren Grundgedanken in letzter Zeit die Beweiſe immer mehr ſich häufen, die Anſicht, daß zunächſt durch das Auftreten der ontogene— tiſchen Gaſtrula das ganze Thierreich in zwei große Hauptgruppen zerfällt, in Protozoen und Metazoen. Für die Protozoen möchte er einen polyphyletiſchen Stammbaum zu— laſſen, während die Metazoen aus be— ſtimmten Protozoen ſich monophyletiſch ent— wickelt haben ſollen. Man muß bekennen, daß das Vorkommen der Archigaſtrula bei den niederen Thierformen ſämmtlicher Stämme, ſo wie die von Häckel rationell durchgeführte Ableitung der durch Anpaſſung abgeänderten Amphi-, Disco-, und Peri— gaſtrula der anderen Thiere ſo überraſchend iſt, daß die Annahme einer monophyletiſchen Descendenz aller Metazoen, ſchon aus heuri— ſtiſchen Gründen, ſehr vieles für ſich hat. „Wenn die verſchiedenen Gaſtrula-Formen“, jagt Häckel ?) „wirklich nur homomorphe wären, und wenn alſo die verſchiedenen ) Häckel, Biologiſche Studien, zweites Heft, Jena 1877, Hermann Dufft. S. 244 ff. —— — 91 Metazoen-Gruppen von vielen urſprünglich verſchiedenen und nicht zuſammenhängenden Gaſträa⸗Vorfahren abſtammten, fo würde man annehmen müſſen, daß die Exiſtenz— Bedingungen der Urzeit ſo gleichförmig waren, daß ſie überall durch gleichartige Anpaſſung die erwarteten Metazoen-Ahnen in die gleiche Bildungsbahn der Gaſträa drängten. Wenn man hingegen mit uns annimmt, daß ſämmtliche Gaſtrula-Formen homophyletiſch ſind, ſo erklärt ſich ihre genetiſche Homologie (oder Homophylie) ſehr einfach durch Vererbung von einer ge— gemeinſamen Stammform. Beide Hypo- theſen laſſen ſich mit Gründen ſtützen; doch ſcheint mir die letztere einfacher und natürlicher als die erſtere.“ Für die Erklärung der Vererbungser— ſcheinungen iſt es gleichgültig, ob man die polyp⸗ hyletiſche oder monophyletiſche Descendenz an- nimmt; in beiden Fällen hat man ſich die Frage zu ſtellen, wie es kommt, daß Die zeit- lich auftretenden Abänderungen durch Verer— bung auf die Nachkommen übertragen werden. Entweder muß man überhaupt die Mög- lichkeit, daß ſich die Organismen anpaſſen und das Angepaßte vererben, leugnen; dann ſchlägt man der Wirklichkeit ins Geſicht und läuft Gefahr, jeden Augenblick durch die Thatſachen überführt zu werden; oder man giebt die Thatſache der Vererbung erwor— bener Eigenſchaften, wenn auch noch ſo li— mitirt, zu, dann muß man nach einer natur wiſſenſchaftlichen Begründung dieſer Vor— gänge forſchen. Es iſt hier geboten, daß wir uns zunächſt über die Bezeichnung „äußere Einflüſſe“ verſtändigen, da hier— durch manchem Mißverſtändniß vorgebeugt werden dürfte. Häckel unterſcheidet mit Recht zwiſchen palingenetiſchen Proeeſſen und cenogenetiſchen. Als palingenetiſch deu— tet er diejenigen keimesgeſchichtlichen Er— ee EEE . 92 Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. ſcheinungen in der individuellen Entwice- lungsgeſchichte, welche durch die Vererbung getreu von Generation zu Generation über— tragen worden ſind, und welche demnach einen unmittelbaren Rückſchluß auf ent- ſprechende Vorgänge in der Stammesge— ſchichte der entwickelten Vorfahren geſtatten. Cenogenetiſch nennt er dagegen diejenigen Vorgänge in der Keimesgeſchichte, welche nicht auf ſolche Vererbung von uralten Stammformen zurückführbar, vielmehr erſt ſpäter durch Anpaſſung der Keime der Jugendformen an beſtimmte Bedingungen der Keimesentwickelung hinzugekommen ſind. Er nennt ſie ſogar keimesgeſchichtliche Fäl— ſchungen. Wenn man weiß, was Häckel mit dieſer Bezeichnung ſagen will, dann deckt der Ausdruck Fälſchung ganz paſſend das, was mit ihm bezeichnet werden ſoll. Wenn man ihn aber aus dem Zufammen- hange herausgreift und dann dem argloſen Laien vorhält, „wie unwiſſenſchaftlich es ſei, die Natur Fälſchungen begehen zu laſſen“, dann ſcheint das ein arger Verſtoß gegen alle Grundprincipien exakter Forſchung zu ſein. Vielleicht hätte Häckel, um der ſo— phiſtiſchen Verdeutelung auszuweichen, beſſer den Ausdruck „Störung“ gebraucht. Aber auch dann konnte man, den Zuſammen— hang der Ideenverknüpfung löſend, wieder ausrufen: „Wie kann und darf einem Moniſten die Natur ſich ſtören laſſen.“ Und dennoch wird auch bei den auf exakte Rechnung zurückführbaren Planetenbewe— gungen von Störungen geſprochen! Ja, es iſt ſogar wahrſcheinlich, daß das Geſetz der Planetenbewegung nicht aufgefunden worden wäre, wenn ſein Entdecker von An— fang an alle Störungen gekannt hätte. Nachdem aber einmal das Geſetz gefunden war, mußte die Analyſe der Störungen nur neue und ſchlagende Belege für ſeine Richtigkeit bieten, indem ſie zeigte, daß auch die Störungen, als nothwendige Folge der allgemeinen Attraktion, ſich dem Attraktions— geſetze beugen. Aehnlich verhält es ſich mit Häckel's Palingeneſis und Cenogeneſis. Während die palingenetiſchen Erſcheinungen der individuellen Entwicklung bekunden, daß eine Abhängigkeit der Keimes- von der Stam⸗ mesentwickelung beſteht, ſind die cenogenetiſchen Vorgänge Störungen. Wenn man ſein Augenmerk hauptſächlich auf die Störungen richtet, wird das biogenetiſche Grundgeſetz verdeckt; wenn man aber, nachdem das Geſetz aus grundlegenden Thatſachen er— kannt iſt, auch dieſe Störungen auf ihre Urſachen und Wirkungen prüft, zeigt ſich, daß ſie nur neue und ſchlagende Belege für die Richtigkeit des Häckel'ſchen Geſetzes bringen. Will man ſtreng getrennt innere und äußere Urſachen der Entwickelung auf- ſtellen, ohne ihre Wechſelbeziehungen zu würdigen, dann iſt kein einheitliches Ver— ſtändniß der Formengeſtaltung möglich. Man muß unterſcheiden, erſtens zwiſchen den inneren und äußeren Entwickelungsurſachen des elterlichen Organismus, und zweitens zwiſchen denjenigen des Keimes. Was für erſtere ſchon innere Urſache iſt, kann für letztere noch zu den äußeren gehören. Ein Beiſpiel wird das Geſagte veranſchaulichen. Das elterliche Individuum beſitzt eine Summe von Eigenſchaften, die es theils ererbt, theils durch Anpaſſung bereits er— erworben hat. Es iſt den Einflüſſen der Außenwelt, wie ſie alle heißen mögen, aus— geſetzt, dieſelben werden theils erhaltend, theils umbildend auf Nerven, Muskeln, Knochenſkelet, Hautbedeckung u. ſ. w. ein⸗ wirken. Als innere Urſachen der Formge— ſtaltung würden nun ſolche anzuſehen ſein, welche durch die Conſtitution des organiſchen Materials ſelbſt, z. B. die ſpeeifiſche che⸗ miſch⸗phyſikaliſche Beſchaffenheit des Blutes, überhaupt der Zellen, ihres Inhaltes und ihrer Ausſcheidungen gegeben ſind; auf äußere Urſachen wäre dagegen z. B. die Formung durch die Schwerkraft, den Luft- oder Waſſer⸗ druck, den Waſſergehalt der Luft, die Be— ſchäftigung und dergleichen zurückzuführen. Sobald die organiſche Conſtitution durch ſie mehr oder weniger geändert iſt, iſt ein adäquater Theil der von außen wirkenden Kräfte in organiſche Spannkraft, oder, da man für die Begriffe deckende Bezeichnungen haben muß, in „innere Geſtaltungskraft“ lungsgeſchichte der Individuen auch Seiten überführt worden. Wenn man in ähnlicher Weiſe die den Keim bewegenden Kräfte betrachtet, ſo iſt für ihn der Begriff der „äußern Kräfte“ in— ſofern ein umfaſſenderer, als derſelbe von dem mütterlichen Organismus eingeſchloſſen iſt. Die organiſche Conſtitution der Mutter iſt für ihn adäquat den Eigenſchaften der die Mutter umgebenden Außenwelt, mit dem Zuſatze, daß die Außenwelt auf die Con— ſtitution der Mutter und durch dieſe auch auf den Keim wirkt. Als innere Urſache der Keimesentwickelung kann man nur die Beſchaffenheit des den Keim ſelbſt zu— ſammenſetzenden Materials betrachten. Das— ſelbe muß, als urſprünglicher Theil. des mütterlichen Organismus, deſſen organiſche Conſtitution beſitzen, und bei der engeren Beziehung beider die Aenderungen der mütterlichen Conſtitution in ſich weit exakter wiederholen, als dies bei den mehr geloderten Beziehungen, die zwiſchen dem erwachſenen Individuum und der Außen— welt beſtehen, bei letzterem der Fall iſt. Die Cenogeneſis des Mutterorganismus geht alſo über in deſſen Palingeneſis, die wieder zum Theil Cenogeneſis des Keims iſt, und letztere iſt die Quelle für deſſen werdende Palingeneſis. Wenn daher Köl— Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. 93 liker, His und Andere von „inneren Entwickelungsurſachen“, von „inneren Trieb— federn“ der Entwickelung ſprechen, ſo hat das in gewiſſem Sinne ſeine Berechtigung. Unberechtigt würde es dagegen ſein, wollte man nur ſolche „innere Triebfedern“ als Urſachen der Entwickelung anſehen und ſich, nach Bildung des im Allgemeinen annehm⸗ baren techniſchen Ausdrucks (innere Ur— ſachen), des Forſchens über die Urſachen dieſer inneren Urſachen enthoben glauben. Wenn man gegen das Häckel'ſche Geſetz eingewandt hat, daß die Entwicke— darbiete, von denen die Stammesgeſchichte nichts wiſſe, wie das Beiſpiel der Allantois, des Amnions und des Fruchtkuchens der hö— heren Thiere beweiſe, ſo iſt zu beachten, daß das Amnion, die Allantois, überhaupt ſämmt⸗ liche bei Entwickelung der Frucht im In— nern des mütterlichen Organismus bethei⸗ ligten Bildungen ſich entwickelt haben in Folge der immer mehr verzögerten Geburt. Gerade dieſe Gebilde ſind für die Wür— digung der Häckel'ſchen Auffaſſung von der Wechſelbeziehung zwiſchen Phylogenie und Ontogenie ſehr lehrreich. Sie gehören zur Stammesentwickelung, inſofern der mecha— niſche Grund des Zurückbleibens der Frucht im mütterlichen Schoße zu ihrer phylo— genetiſchen Ausbildung Veranlaſſung gab und das einmal Gewordene auf die Nach— kommen übertragen wurde. Sie greifen aber zweitens in das Werden des Keimes auch wieder inſofern ein, als ſie jetzt vor— handene (palingenetiſche) Eigenſchaften des Keimes mechaniſch beeinfluſſen und ihrer Wirkung anpaſſen. Gerade im Darwin— Häckel'ſchen Sinne, oder beſſer geſagt, nur in dieſem laſſen ſich dieſe cenogenetiſch gewordenen, aber zur Palingeneſis führenden Bildungen erklären. (Schluß folgt.) 5 8 gender: 8 785 Nach Darwins Annahme find alle Organe allmählich im Laufe vieler Generationen aus kleinen Anfängen durch ſucceſſive Vervollkommnung zu ihrer jetzigen Entwicklungshöhe gediehen. Das Motiv der fortſchreitenden Entwicklung iſt die er— höhte Brauchbarkeit des Organs, in dem jetzt ſelbſt die kleinſte Verbeſſerung dem Organträger eine Ueberlegenheit im Kampf ums Daſein ſchafft. Die Gegner behaupten nun, ſo zuläſſig auch dieſes Motiv für die Vervollkommnung eines einmal be— ſtehenden Organs ſein könne, ſo wenig treffe es für die erſten kleinen Anfänge zu; ein Organ ſei erſt nützlich, wenn es eine gewiſſe Ausbildung erlangt habe, un— entwickelte, alſo rudimentäre Organe ſeien eher ein unnützer hindernder Ballaſt, als ein brauchbares Werkzeug. Für die Milchdrüſen der Säuge— thiere, die von Mivart als Beleg für dieſe Behauptung angeführt worden ſind, habe ich die Unwichtigkeit dieſes Einwurfs . Die Organaufänge. Von Prof. Dr. Gultav Jäger. 1 Ar 5 0 N =: in vielgehörter ef gegen ſchon früher“) dargethan. Da aber der Einwand ſich immer wieder hinter ein an⸗ deres Organ flüchtet und es leicht iſt, dem nicht ſpeziell Sachverſtändigen die Unmög⸗ lichkeit eines Organanfangs namentlich dann vorzudemonſtriren, wenn man einen falſchen Organanfang zu Grunde legt, ſo dürfte es ſich empfehlen, der Reihe nach alle Organe des Thierkörpers durchzugehen, genau feſt— zuſtellen, in welcher Form und Funktion das Organ erſtmals auftritt und welchen Vortheil es ſeinem Träger über das im übrigen gleich beſchaffene, aber das betr. Organ völlig entbehrende Thier gibt. Ich beginne mit den Sinnes organen, ſpeziell mit dem Auge, erlaube mir aber für den minder ſachverſtändigen Leſer Folgendes voraus zu ſchicken: Man hat ſich auf Grund des Sach— verhaltes bei den hochorganiſirten Thieren daran gewöhnt, ſich die Sinnesorgane als Beſtandtheile des Nervenſyſtems zu denken. Dieſer Vorſtellung muß man ſich entſchlagen, wenn man die Anfänge der Sinnesorgane ) Ausland. Jahrgang 1874. S. 638. ſtudiren will, da die lebendige Subſtanz an und für ſich, d. h. ehe geſonderte Organe vorhanden ſind, wenn man ſo ſagen will, riecht, ſchmeckt, hört, ſieht und fühlt, d. h. gegen chemiſche Reize und molekulare ſowie grobmechaniſche Bewegungen empfindlich iſt. Um dieſe Thatſache verſtändlich zu machen, iſt es nöthig, ſich einige allgemeine Be— trachtungen aus dem Gebiete der Bewegungs— lehre vorzuführen. Die Phyſik nennt das Licht, die Wärme, die Elektrizität, die Schallwellen und die mechaniſchen Bewegungen freie Kräfte (im Gegenſatz gegen die latente oder Spann— kraft) oder Bewegungen, weil ſie ſich im Raume fortbewegen oder, wie man ſich ausdrückt, weil fie von ihrem Entſtehungs— herde aus fortgeleitet werden. Trifft eine ſolche freie Bewegung auf einen Körper, ſo kann dreierlei geſchehen: 1) Die Bewegung wird an ihrem Fort— ſchreiten verhindert und da ſie nicht ver— ſchwinden kann, ſo ſchlägt ſie einen rück— läufigen Weg ein; der Phyſiker ſagt: ſie wird reflektirt. Die betreffende Eigen— ſchaft des Körpers nennen wir ſeine Re— flexionsfähigkeit. 2) Der Körper geftattet der freien Be— wegung nicht nur den Eintritt, ſondern auch den Durchgang und zwar ſo wie ſie iſt, d. h. ohne ſie in eine anderartige Be— wegung zu verwandeln. Wir ſagen jetzt, die Bewegung wird geleitet und nennen die Eigenſchaft des Körpers Leitungs- fähigkeit. 3) Der Körper geſtattet der freien Be— wegung zwar den Eintritt d. h. reflektirt ſie nicht, aber er leitet ſie auch nicht als ſolche fort, ſondern zwingt ſie eine andere Form freier Bewegung!) und zwar ) Den vierten Fall, die Umwandlung in Spannkraft, erörtere ich hier nicht. Jäger, Die Organanfänge. 95 diejenige anzunehmen, welche der Körper zu leiten vermag; dabei verſchwindet natürlich die urſprüngliche Form der freien Be— wegung, was wir als Abſorption be— zeichnen. Dieſe Eigenſchaft eines Körpers eine freie Bewegung zu abſorbiren, indem ſie ſie umwandelt, nenne ich allgemein Em— pfindlichkeit, eine Eigenſchaft, von welcher die Erregbarkeit der lebendigen Sub- ſtanz nur eine weitere Complikation iſt. Erregbarkeit und Empfindlichkeit unterſcheiden ſich nämlich in der Weiſe: Empfindlichkeit iſt nur die Fähigkeit eines Körpers eine freie Bewegung zu hemmen und in eine anderartige Bewegungsform umzuwandeln. Erregbar dagegen iſt eine Subſtanz, bei welcher in Folge dieſer Um— wandlung der ſie treffenden freien Be— wegung (die man dann Reiz nennt) neue Kräfte, die in der Subſtanz in der Form von Spannkraft vorhanden waren, frei ge macht oder wie man auch jagt ausgelöſt werden. Der Reiz iſt alſo das auslöſende Moment, ohne ihn bleibt die Spannkraft gebunden und die Grundlage der Erregbar— keit iſt alſo die Empfindlichkeit. Wichtig iſt nun weiter die leichtver— ſtändliche Thatſache, daß die drei genannten Eigenſchaften eines Körpers — Reflexions- fähigkeit, Leitungsfähigkeit und Empfindlichkeit — im Verhältniß der relativen (nicht ab- ſoluten) Ausſchließung zu einander ſtehen: — Ein Körper der eine Bewegung ſtark und leicht reflektirt, wird ein ſchlechter Leiter und auch wenig empfindlich für ſie ſein. Andrerſeits: Ein Körper, der eine Be— wegung leicht in ſich eindringen läßt und fortleitet oder umwandelt, wird ſie ſchlecht reflektiren. Im gleichen Verhältniß der Ausſchließung ſteht Leitungsfähigkeit und Empfindlichkeit; ein guter Leiter wird die Bewegung nicht in eine andere umwandeln, | 96 Jäger, Die Organanfänge. und einer der ſie umwandelt, wird ſie ſchlecht leiten. Orientiren wir uns über dieſe Thatſache mit Bezug auf das Licht genauer. Einen Körper, der das Licht als ſolches, d. h. ohne es umzuwandeln und als ganzes leitet, nennen wir durchſichtig (diaphan) und farblos. Ein ſolcher Körper iſt nun einmal ein ſchlechter Reflektor, er wird nur diejenigen Lichtſtrahlen reflektiren, welche unter einem beſtimmten, von ſeinem Brech— ungsindex abhängigen Winkel feine Ober- fläche treffen, alle andern gehen hindurch. Ferner wird ein durchſichtiger Körper auch wenig empfindlich für Licht ſein, weil dies vorausſetzt, daß das Licht abſorbirt und in eine andere Bewegung (Wärme, chemiſche Bewegung ꝛc.) umgewandelt wird, denn wenn ein Körper das Licht abſorbirt, ſo nennen wir ihn undurchſichtig. Mithin iſt ein Körper um ſo empfindlicher für Licht, je geringer, bei gleicher Reflexions— fähigkeit, ſeine Durchſichtigkeit iſt. Ob ein Stoff ſich zum Reflektor oder zum Lichtempfindungsapparat eignet, wird davon abhängen, in welchem Grad er im im Stande iſt, das Licht in eine andere Form freier Bewegung überzuführen Hier— bei handelt es ſich um chemiſche und phyſi— kaliſche Eigenſchaften. Die chemiſche Um— wandlungsfähigkeit iſt bei einer chemiſchen Verbindung vorhanden, deren Beſtandtheile durch ſo ſchwache Affinitäten zuſammen— gehalten ſind, daß ein geringer Stoß gegen das labile Molekulargebäude einen Zu— ſammenſturz deſſelben zur Folge hat. Solche Stoffe verwendet der Photograph und dieſe ſind ſelbſtverſtändlich für Conſtruktion von Reflektoren abſolut untauglich; hierzu ge— hören Stoffe, welche von ſolchen Stößen, wie ſie die Lichtſtrahlen ausführen, nicht alterirt werden, weil die chemiſche Zerſetzung mit einer Veränderung der phyſikaliſchen Be⸗ dingungen der Reflexion verbunden iſt. Als gemeinſchaftliche phyſikaliſche Be— dingung für Reflexion und Abſorption haben wir oben die Undurchſichtigkeit verlangt, daß aber — gleichen Grad von Undurchſichtigkeit vorausgeſetzt — die Re⸗ flexionsfähigkeit auf Eigenſchaften beruht, welche die Abſorptionsfähigkeit mindern und umgekehrt, geht aus Folgendem hervor. Wenn ein Lichtſtrahl einen undurch⸗ ſichtigen Körper trifft, ſo wird er nie völlig reflektirt, ein gewiſſer Theil wird ſtets ab- ſorbirt und in Wärmebewegung übergeführt, ſo daß der reflektirte Lichtſtrahl nie dieſelbe Stärke hat wie der auffallende. Wie viel reflektirt und wie viel abſorbirt wird, hängt nun von zwei Umſtänden ab: 1) Von dem Grad der Elaſticität für Licht. Je licht-elaſtiſcher ein Körper iſt, deſto beſſer wird reflektirt, je weniger elaſtiſch er iſt, um ſo mehr wird abſorbirt. 2) Von der Beſchaffenheit der Ober— fläche. Iſt ein Körper vollſtändig eben, ſo kann ein Lichtſtrahl denſelben nur ein— mal treffen, hat er dagegen Hervorragungen, ſo werden die Strahlen, welche die ſchiefe Ebene der Hervorragungen treffen, an die gegenüberſtehende Wand der nächſten Her— vorragung reflektirt, und ſo in mehrfacher Wiederholung, bis ſie ganz oder faſt ganz in Wärme erzeugendem Anprall ſich erſchöpft haben. Eine ſolche rauhe Oberfläche kann mithin nur diejenigen Lichtſtrahlen reflek— tiren, welche auf ganz beſtimmt geneigte Flächen und in ganz beſtimmter Richtung auffallen, alle andern werden ganz oder faſt ganz abſorbirt und in Wärme umgewandelt. Die Empfindlichkeit iſt um ſo größer, je kleiner und zahlreicher dieſe Erhabenheiten ſind. Will deshalb der Phyſiker einen Körper lichtempfindlich machen, ſo über— zieht er ihn mit einer Rußſchicht die aus zahlloſen, winzigen, lauter Erhabenheiten vorſtellenden, undurchſichtigen aus einer ſehr wenig lichtelaſtiſchen Subſtanz beſteht. Bei der Lichtempfindlichkeit eines Kör— pers kommt jedoch noch Folgendes in Be tracht: Das weiße Sonnenlicht iſt bekanntlich eine Miſchung ſehr vieler verſchiedenfarbiger die chemiſche Struktur derſelben eine äußerſt wankelmüthige, unter ſehr geringen Anſtößen Lichtſtrahlen. Ein undurchſichtiger Körper kann nun ſo beſchaffen ſein, daß er ent— weder alle Farben gleichmäßig reflektirt, dann iſt er, ſofern er ſie auch miſcht, weiß; der Photographen, aber natürlich ebenſo oder er abſorbirt ſie alle gleichmäßig und möglichſt vollſtändig, dann iſt er ſchwarz; oder er abſorbirt nur einen Theil, während er einen andern reflektirt, dann iſt er farbig. Daraus ergibt ſich, daß ſchwarze Körper am lichtempfindlichſten find, aber am ſchlechteſten reflektiren, farbige weniger empfindlich ſind, aber beſſer reflektiren und weiße die beſten Reflektoren und am wenigſten für Licht empfindlich ſind. Wenden wir uns nun zu der leben- digen Subftanz. Bekanntlich iſt dieſelbe durch eine große Empfindlichkeit ausge— zeichnet und die Kehrſeite davon iſt ihre geringe Leitungsfähigkeit und Reflexions- fähigkeit. Die lebendige Subſtanz iſt ein ſchlechter Wärmeleiter, deshalb iſt ſie ſehr empfindlich für Wärmeſchwankungen; ſie leitet die Elektricität millionenmal ſchlechter als ein Kupferdraht, deswegen iſt ſie ſo empfindlich für Elektricitätsſchwankungen; ſie iſt ein ſchlechter Schallleiter, deshalb empfindlich für Schallwellen, und ſie iſt fo empfindlich für Druckſchwankungen, weil ſie ihrer teigig weichen Beſchaffenheit wegen ein ſchlechter Leiter für mechaniſche Bewe— gungen iſt. Wie verhält ſie ſich nun gegen das Licht? Wir ſahen oben, daß ein Körper Jäger, Die Organanfänge. Körperchen | * um ſo lichtempfindlicher ſei, je weniger durchſichtig und farblos er iſt. In ihrer einfachſten primären Erſcheinungsform iſt nun die lebendige Subſtanz faſt farblos und in ziemlich hohem Grade durchſichtig. Vom phyſikaliſchen Standpunkt aus iſt fie alſo für Lichtempfindung nicht günſtig ge— artet und dies wird nur dadurch bis zu einem gewiſſen Grade ausgeglichen, daß leidende iſt, daß ſie alſo in ähnlicher Weiſe lichtempfindlich iſt, wie die ſenſitiven Stoffe ausſchließlich für den chemiſch wirkſamen Theil der Lichtſtrahlen. Soll nun — und das iſt der Anfang der Sehorganbildung — das Proto— plasma auch für dieſe phyſikaliſch wirk— ſamen Lichtſtrahlen empfindlich gemacht wer— den, ſo gibt es kein anderes Mittel, als ſeine Durchſichtigkeit zu beſchränken oder ganz aufzuheben, und das geſchieht durch Ein— lagerung von einzelnen feinen, lauter Er— habenheiten vorſtellenden Körnern einer un— durchſichtigen Subſtanz von geringer Licht— elaſtizität. Nach dem früher geſagten wird dieſes Ziel am vollkommenſten erreicht, wenn die Subſtanz alle Lichtſtrahlen, nicht nur einen Theil derſelben, zu abſorbiren vermag, alſo ſchwarz iſt; unvollſtändiger durch Einlagerung von blos farbigen Subſtanzen, und noch unvollſtändiger durch Einlagerung von Körnern, welche zwar durchſichtig farb— los und wenig reflektirend ſind, aber einen anderen Brechungsindex haben als die Grund— ſubſtanz. Den zuletzt genannten niedrigſten Grad phyſikaliſcher Bedingung für Lichtempfind- lichkeit beſitzt nun die lebendige Subſtanz, inſofern ſie ein Gemenge aus zwei Stoffen von verſchiedenem Brechungsindex, Grund— 98 ſubſtanz und Protoplasmakörnern, iſt. Ge— ſteigert wird ſie, ſobald Farbſtoffkörner auftauchen: gefärbtes Protoplasma iſt licht— empfindlicher als farbloſes. Wenn die Körner vollends ſchwarz ſind, ſo erreicht die Empfindlichkeit einen noch höheren Grad: geſchwärztes Protoplasma übertrifft das farbloſe an Lichtempfindlichkeit ebenſo, wie die geſchwärzte Thermometerkugel des Phyſikers die ungeſchwärzte. Ich erlaube mir hier eine kleine Ab— ſchweifung. Es hat ſich unter den Phyſio— logen auf Grund des zuſammengeſetzten Baues des Wirbelthierauges eine wie mir ſcheint falſche Vorſtellung über das Sehen gebildet: Sie halten die ſtabförmigen Endigungen des Sehnerven für den Sitz der Lichtempfindlichkeit. Das iſt phyſikaliſch unmöglich, da dieſe Gebilde vollſtändig durchſichtig ſind; dem gegenüber muß der Zoologe und Phyſiker daran feſt halten, daß die Lichtempfindung Lichtabſorp— tion vorausſetzt und daß dies die Funktion des für alle Augen charakteriſtiſchen Pig— mentes iſt. In dem Pigment wird die Lichtbewegung in Wärmebewegung umgeſetzt und die Endſtäbchen des Sehnerven ſind nach meiner Anſicht thermoelektriſche Apparate. Würde das Pigment im Auge eine ſo unter— geordnete Rolle ſpielen, wie die iſt, welche ihr die heutigen Phyſiologen zuweiſen, ſo wäre das Pigment weder ein ſo ausnahms— loſer Begleiter aller Sehwerkzeuge, noch wäre ein Pigmentfleck als der Anfang des Sehorgans zu betrachten, ſondern es hinge das Sehen von der Anweſenheit eines Nerven— ſyſtems ab, was der Thatſache widerſpricht, daß ausgeſprochene Lichtempfindlichkeit bei Thieren zu beobachten iſt, welche nicht die Spur eines Nervenſyſtems beſitzen, ſondern nur entweder ganz oder theilweiſe gefärbt oder geſchwärzt ſind. Jäger, Die Organanfänge. Es iſt klar, daß eine bloße Färbung oder Schwärzung nicht entfernt für ein Thier zu leiſten vermag, was ein voll— kommenes Auge thut. Vom deutlichen Sehen eines Gegenſtandes iſt natürlich keine Rede, fo lange ein bildentwerfender dioptriſcher Apparat fehlt, allein dennoch hat eine ge— ſchwärzte lebendige Subſtanz oder ſagen wir ein geſchwärztes einfachſtes Weſen einen Vortheil über das ungeſchwärzte durchſich— tige, inſofern als es die Lichtabnahme empfindet, welche die Beſchattung durch einen Fremdkörper hervorruft. Damit iſt ein Diſtanzſinn geſchaffen, der dem Thier das Herannahen einer Gefahr oder die An— weſenheit eines Hinderniſſes oder eines Beute- gegenſtandes ankündigt. Wir dürfen aber hierbei nicht ſtehen bleiben. Der Gegenſtand, den wir zu be— handeln haben, iſt nicht die Entſtehung allgemeiner Lichtempfindlichkeit, ſondern die Entſtehung eines beſtimmten lokaliſirten Sehorgans, in Form eines oder einiger kleiner umſchriebener Pigmentflecke, denn man könnte denken: Wenn erhöhte Lichtempfindlich— keit ein Vortheil iſt, ſo iſt er um ſo größer, je ausgedehnter die durch Schwärzung ent— ſtandene lichtempfindliche Fläche iſt, alſo am größten, wenn das Thier vollſtändig ge— ſchwärzt iſt. Daß dies nicht der Fall iſt, erhellt aus folgendem. Bei der Vortheilsfrage handelt es ſich nicht blos um das Sehen, ſondern auch um das Geſehenwerden. Befindet ſich ein ganz geſchwärztes Thier in lichter Um⸗ gebung, ſo entſteht ein Contraſt, der das Thier in höherem Grade ſichtbar macht, alſo den Augen ſeiner Feinde ausſetzt, und dann iſt es in ganz entſchiedenem Nachtheil gegen- über farbloſen durchſichtigen und deshalb ſchwer ſichtbaren Thieren. Dieſer Nachtheil verſchwindet aber ſo⸗ fort, wenn nicht das ganze Thier geſchwärzt iſt, ſondern nur eine kleine Stelle, die wegen ihrer Kleinheit und dadurch, daß ſie eine ganz andere Contour hat als das Geſammt— thier, weder die Erblickbarkeit noch die Er— kennbarkeit ſteigert. Ein weiterer Umſtand iſt folgender: Die Wirkung des Lichts auf einen ge— ſchwärzten Gegenſtand iſt eine Erwärmung desſelben und dieſe fällt um ſo größer aus, in je ausgedehnterem Maße die Oberfläche geſchwärzt iſt, um ſo kleiner, je geringer die Fläche iſt. Stellt man nun die Frage, ob eine Steigerung der Körper- wärme durch Lichteinfluß vortheilhaft iſt oder nicht, ſo kann die Antwort nur dahin ausfallen, daß die Steigerung der Körper— wärme den Stoffumſatz, alſo das Nahrungs- bedürfniß verſtärkt, was ein Nachtheil im Kampf ums Daſein iſt. Mit der Be— ſchränkung der Schwärzung auf eine kleine Stelle iſt dieſe nachtheilige Nebenwirkung, Jäger, Die Organanfänge. um die es ſich ja gar nicht handelt, auf ein Minimum reduzirt. Als dritter Umſtand kommt nachſtehen— des in Betracht. Der Empfindungsvorgang, den das Licht in einem völlig geſchwärzten Thier hervorruft, muß nach obigem derſelbe ſein, als wenn man durch Erwärmung des Mediums die Temperatur des Körpers ſteigert und damit fällt die Möglichkeit der Unterſcheidung von Licht und Wärme weg. Iſt dagegen nur eine kleine Stelle geſchwärzt, ſo iſt der Empfindungsvorgang bei Be— leuchtung ganz verſchieden von dem bei Er- wärmung: Erſterer iſt auf eine kleine Stelle beſchränkt, letzterer trifft die ganze Körper— fläche; damit iſt der für jede Organiſation jo hochwichtige Weg der räumlichen Arbeits— * 99 theilung auf dem Gebiete der Sinnesempfin⸗ dung betreten. Während die geſchwärzte Stelle ſich zu einem immer vollkommneren Lichtempfindungsappart fortentwickelt, kann die übrige Körperoberfläche ohne Rückſicht auf die Lichtwahrnehmung ſich der Ent- wickelung der anderartigen Sinnesorgane hingeben, was wir in der Folge beweiſen wollen. Es würde hier zu weit führen, wenn ich alle die ſucceſſiven Vervollkommnungen des Sehorgans bis hinauf zu dem wunder— vollen Apparat eines Wirbelthierauges ſchil— dern und die aus jeder Vervollkommnungs⸗ ſtufe erwachſenden Vortheile darlegen wollte; ich will nur noch die nächſte Stufe, weil ſie eine ſehr einſchneidende iſt, dem geneigten Leſer vorführen. Auf dieſer wird nämlich eine Steigerung der Lichtempfindlichkeit der geſchwärzten Stelle durch Einlegung einer Sammellinſe in das Pigment bewirkt. Wie ein Brennglas ſam— melt dieſe die auffallenden Lichtſtrahlen in Brennpunkte, ſo daß ihre Wirkung auf einen kleinen Punkt concentrirt wird und dadurch um ſo ſtärker ausfällt. Außerdem iſt damit auch die Fixirung einer Seh- richtung gegeben: Da der Brennpunkt, in welchem ſich die Strahlen ſammeln, ſtets in der Verlängerung der Linie liegt, welche den Mittelpunkt der Linſe mit der Lichtquelle verbindet, ſo hat jede Ortsveränderung der Licht⸗ oder Schattenquelle auch eine Lage— veränderung des entſprechenden Brennpunkts zur Folge. In einem folgenden Artikel ſollen die Anfänge der übrigen Sinneswerkzeuge nach Natur und Werth feſtgeſtellt werden. 14 Ueber den Arſprung der Blumen, Bon Dr. Hermann Müller. N lumen heißen nach deut— I ſchem Sprachgebrauche Blü— then, welche durch Farbe oder . Wohlgeruch oder beides zu— * gleich unſere Aufmerkſamkeit auf ſich lenken. Daß die deutſche Sprache ſolche Blüthen mit einem beſonderen Aus— druck belegt hat, macht es wahrſcheinlich, daß ſchon unſeren in der Natur heimiſchen Ahnen der Gegenſatz zwiſchen augenfälligen, angenehm riechenden und unſcheinbaren, ge— ruchloſen Blüthen zum Bewußtſein gelangt iſt, daß ſie alſo auch ſchon unſcheinbare und geruchloſe Blüthen beobachtet haben. Die romaniſchen Sprachen haben unſere Unterſcheidung von Blüthe und Blume nicht, was darauf hinweiſt, daß der roma— niſche Stamm unſcheinbare und geruchloſe Blüthen urſprünglich wohl völlig überſehen oder wenigſtens nicht der Beachtung werth gehalten haben mag. Wenn ſich in dieſer Eigenthümlichkeit unſerer Sprache eine tie— fere Naturaufaſſung der germaniſchen Raſſe ausſpricht, ſo iſt es vielleicht nicht Zufall, daß es ein Deutſcher war, der „das Ge— heimniß der Natur im Baue und Befruch— tung der Blumen entdeckte.“ ter Individuen erfahrende Blüthen. Die von Sprengels) aufgeſtellte, von Darwin neuerdings tiefer begründete Blumentheorie, deren Grundzüge in dem erſten Hefte dieſer Zeitſchrift, in der Be— ſprechung des neuſten Darwin'ſchen Werkes, kurz dargelegt ſind, erklärt uns in der That in ebenſo einfacher als befriedigender Weiſe, welche Bedeutung die dem Menſchen angenehmen Eigenſchaften der Blumen für das Leben der Pflanzen ſelbſt haben. Sie zeigt uns, daß dieſelben Farben und Wohl— gerüche, welche uns und ſchon unſere Ahnen mit gewiſſen Blüthen befreundet haben, auch die natürlichen Befruchter dieſer Blü— then, die Inſekten und insbeſondere die Bienen und Schmetterlinge, mit denſelben befreunden und zu ihrem unbewußten Liebesdienſte an denſelben veranlaſſen. Im Allgemeinen decken ſich daher die Ausdrücke Blumen, d. h. dem Menſchen wohlge— fällige Blüthen, und Inſektenblüthen, d. h. den Inſekten angenehme und durch Inſektenvermittelung eine Kreuzung getrenn— Sie * Chr. Conr. Sprengel, das ent— deckte Geheimniß der Natur im Bau und in der Befruchtung der Blumen. 1793. Farben und Gerüchen mit dem der blumen— beſuchenden Inſekten übereinſtimmt. Für biologiſche Betrachtungen empfiehlt es ſich daher, mit geringer Abänderung des üb— lichen Begriffes, mit dem kurzen, einem Jeden geläufigen Worte Blumen über— haupt alle diejenigen Blüthen zu bezeichnen, welche für Befruchtung durch Inſekten (in wärmeren Ländern auch durch Vögel) aus— gerüſtet ſind. In dieſem Sinne gebraucht umfaßt der Ausdruck Blumen z. B. auch jene uns widerlichen Blüthen, welche durch bleiche oder bläulichrothe Farben und Aasgeruch Aasfliegen an ſich locken und von denſelben befruchtet werden. Was läßt ſich nun über den Urſprung der Blumen Zuverläſſiges feſtſtellen? Wie ſehr auch die Erkenntuiß des verwandtſchaftlichen Zuſammenhanges der Pflanzen-Ordnungen und Wamilien, die Klarlegung der Hauptveräſtelungen des Pflanzenſtammbaumes, noch in den erſten Anfängen begriffen iſt, darüber iſt unter den Pflanzenforſchern wohl kein Zweifel mehr, daß die unterſte Entwickelungsſtufe des Pflanzenreichs von den Zellenpflanzen (Algen, Pilzen, Mooſen) dargeſtellt wird, daß aus dieſer die Gefäßkryptogamen oder Stockpflanzen (im Sinne Al. Braun's), Farne, Schachtelhalme, Bärlappe u. a., ſich entwickelt haben, daß aus ungleichſporigen Stockpflanzen die Archiſpermen“) (Gymno— ſpermen), bei uns durch die Nadelhölzer vertreten, hervorgegangen ſind, daß endlich die Metaſpermen ?) (Angioſpermen), d. h. ) Al. Braun hat in einer beſonderen Abhandlung: „Die Frage nach der Gymno— ſpermie der Cycadeen“ (Monatsbericht der Akademie der Wiſſenſchaften. Berlin 1875. S. 241—377) diejenige Auffaſſung ſehr ein— gehend begründet, nach welcher die männlichen decken ſich, ſo weit unſer Wohlgefallen an Müller, Ueber den Urſprung der Blumen. 101 alle unſere Blüthenpflanzen mit Ausnahme der Nadelhölzer, die veränderten Abkömm— linge von Archiſpermen ſein müſſen. Blumen begegnen wir zum erſten Male bei den Archiſpermen, und zwar in einem einzigen Beiſpiele, bei der wunder— baren Welwitſchig. Auf der darauf fol— genden höchſten Entwickelungsſtufe des Pflanzenreiches dagegen, bei den Meta— ſpermen, finden wir die weit überwiegende Mehrzahl der Blüthen für Kreuzung durch Inſekten ausgerüſtet, alſo zu Blumen ge— worden. Wir werden daher die der ge— ſchlechtlichen Fortpflanzung dienenden Organe und ihre ſtufenweiſe Umbildung in allen dieſen aufeinander folgenden Entwickelungs— ſtufen des Pflanzenreichs ins Auge faſſen müſſen, um über den Urſprung der Blumen eine beſtimmte Vorſtellung zu gewinnen. then, ihre Schuppen als „identiſche“ Blätter betrachtet werden, nur daß die einen die Organe der männlichen Keimbereitung (Pollen— ſäcke), die andern die der weiblichen, nackte Samenknöspchen, tragen. Dieſe Auffaſſung der Cycadeenblüthen erſcheint mir viel unge— zwungener und natürlicher als diejenige Strasburger's, welcher die männlichen Zapfen als Blüthen, die zum Verwechſeln ähnlichen weiblichen als Blüthenſtände be— trachtet. In Bezug auf die Coniferen und Gnetaceen dagegen muß es, wie auch Al. Braun zugiebt, als eine noch offene Frage gelten, ob die zuerſt auftretende Knospenkern— umhüllung dem Fruchtknoten oder der Knospen— hülle (integumentum) der Angioſpermenblüthe entſpricht. So lange aber dieſe Frage noch nicht entſchieden iſt, ſcheinen mir die Stras— burger'ſchen Bezeichnungen Archiſpermen und Metaſpermen vor den früher üblichen Gymno— ſpermen und Angioſpermen den Vorzug zu verdienen, weil ſie nur die unbeſtrittene That— ſache ausdrücken, daß die erſtere der beiden Ab— theilungen die urſprüngliche iſt, die letztere dagegen von ihr abſtammt. (SR 102 Ja wir müſſen ſogar uoch tiefer, bis zur gemeinſamen Wurzel des Thier- und Pflan- zenreichs, bis zu den einfachſten kernloſen Urweſen, den Moneren Häckel's, hinab— ſteigen, um die geſchlechtliche Fortpflanzung bis zu ihren erſten Anfängen zu verfolgen. In der That laſſen ſich ſchon bei den Moneren wenigſtens die erſten Spuren geſchlechtlicher Fortpflanzung nachweiſen, ob- ſchon Häckel ſelbſt den Moneren aus— ſchließliche Fortpflanzung auf ungeſchlecht— lichem Wege zuſchreibt. Der von Häckel beobachtete orangerothe Urſchleimſtern (Pro— tomyxa aurantiaca) nämlich ſpaltet ſich, nachdem er durch Wachsthum eine gewiſſe Größe erreicht, ſich in Kugelform zuſam— mengeballt und eine ſchützende Hülle um ſich herum abgeſondert hat, in zahlreiche Spaltungsſtücke, die mit einer Geißel verſehen, aus der geſprengten Hülle hervortreten und ſelbſtbeweglich umherſchwimmend neue Wohn— ſitze gewinnen, darauf die Geißel einziehen und als junge Schleimſterne amöbenartig umherkriechen. Wenn nun, wie Häckel angiebt, zwei oder drei dieſer jungen Protomyxa-Schleim⸗ ſterne zu einem neuen Individuum verſchmel— zen, ſo kann der Vortheil dieſes phyſiologi— ſchen Vorganges offenbar nur darin geſucht werden, daß die verſchmelzenden jungen Schleimſterne verſchiedenen Lebensbedingun⸗ gen ausgeſetzt geweſenen Eltern entſtammen und dadurch, wenn auch für uns unwahr⸗ nehmbar, irgend welche Verſchiedenheit der Lebensäußerung erlangt haben, und daß eben durch das Zuſammenwirken dieſer verſchiedenen Lebensäußerungen das aus der Verſchmelzung hervorgehende Individuum geſteigerte Anregung zu weiteren Lebens— äußerungen empfängt. Von der deutlich ausgeprägten geſchlechtlichen Fortpflanzung würde hiernach die Verſchmelzung junger Protomyxa-Schleimſterne nur dadurch ver— ſchieden ſein, daß eine Arbeitstheilung der verſchmelzenden Protoplasmakörper, ein Ge— genſatz zwiſchen kleineren, beweglicheren, männlichen, und an Bildungsſtoff reicheren, trägeren, weiblichen, noch nicht vorhanden iſt, daß vielmehr jeder der bei der Ver— ſchmelzung betheiligten Protoplasmakörper nach einander dieſe beiden Zuſtände durch— läuft. In dem Verſchmelzen mehrerer jungen Protomyxaſchleimſterne zu einem neuen In⸗ dividuum dürfen wir ſonach die älteſte und urſprünglichſte Form geſchlechtlicher Fort— pflanzung vermuthen. Und die Entwicke— lung eines ſchwanzförmigen Anhanges dür— fen wir als die denkbar einfachſte und that— ſächlich urſprünglichſte, ſchon bei den Moneren aufgetretene Abänderung betrachten, durch welche Protoplasma-Individuen befähigt wurden, ſelbſtthätig durch das Waſſer zu ſchwimmen, um anderen Lebensbedingungen ausgeſetzt geweſene Protoplasma-Individuen aufzuſuchen und mit denſelben zu neuen, kräftigeren und entwickelungsfähigeren In⸗ dividuen zu verſchmelzen. Aus der gemeinſamen Wurzel der Mo— neren hat ſich die unendliche Mannigfaltig— keit einerſeits der Thier-, andererſeits der Pflanzenformen entwickelt, und die Urform des mit ſchwanzförmigem Anhange ſelbſt— thätig umherſchwimmenden Protoplasma⸗ Individuums hat ſich in den Spermazellen mit bewundernswerther Treue einerſeits bis zu den höchſten Entwickelungsſtufen des Thierreichs, andrerſeits durch die urſprüng⸗ lich waſſerbewohnenden Abtheilungen des Pflanzenreichs hindurch vererbt. Weshalb durch das ganze Thierreich und weshalb im Pflanzenreiche nur auf die niederen, urſprünglich waſſerbewohnenden Abtheilun⸗ gen, das erklärt ſich wohl hinreichend dar— — — Müller, Ueber den Urſprung der Blumen. n 7 DD —j—j—— — — — —— ͤ ͤ— —HꝗEC — 1 Mü N x hs b BJ BR a i I 2 RN gr! Schwimmbewegungen ihrer üller, Ueber den Urſprung der Blumen. aus, daß die landbewohnenden Thiere ſich frei von der Stelle bewegen und daher ſich gegenſeitig aufſuchen können, wogegen die landbewohnenden Pflanzen feſt an die Scholle gebunden ſind. Im Waſſer nämlich kann die Selbſtbeweglichkeit frei umherſchwimmen— der Befruchtungskörper offenbar ebenſowohl bei feſtgewachſenen als bei frei umher— ſchwimmenden Arten der gelegentlichen Kreu— zung getrennter Individuen genügen, und ſie iſt in der That bei allen der urſprüng— lichen Waſſerlebensweiſe treu gebliebenen Organismen die einzige Art der Kreuzungs— vermittelung geblieben, wenigſtens wenn wir das Wort Befruchtungskörper im weiteſten Sinne nehmen und darunter nicht nur Spermazellen, ſondern auch ſelbſtſtändiger Ortsbewegung fähige Spermaträger (Me— duſen, Hektokotylus) und die ganzen zur Kreuzung ſich aufſuchenden Individuen be— greifen. Beim Uebergange von der Wafler- zur Landlebensweiſe dagegen konnte natür— lich die Selbſtbeweglichkeit ſchwimmender Spermazellen nur in dem Falle als der Kreuzung genügende Befruchtungsform er— halten bleiben, wenn entweder, durch Be— gattung, die Spermazellen in Berührung oder unmittelbare Nähe der zu befruchten- den Eizellen gebracht wurden (Landthiere), oder wenn an die Scholle gebundene Or— ganismen, wenigſtens während der Be— fruchtungszeit, das Waſſer als Mittel der Spermazellen benutzen konnten, und das war nur bei Pflan- zen möglich, die hinlänglich niedrig an we— nigſtens zeitweiſe dem Waſſer ausgeſetzten Standorten wuchſen. Nach meiner Anſicht gibt dieſe einfache und unabweisbare Betrach— tung von einer höchſt auffallenden und ſchon vielfach erörterten, aber meines Wiſſens noch niemals erklärten Erſcheinung in der Ent: | wickelung des Pflanzenreichs, nämlich von REN e ane 103 der Verſchiebung der geſchlechtlichen Ver— einigung nach dem erſten Jugendleben hin, welche ſich bei der Vergleichung der Mooſe und Stockpflanzen ſcheinbar herausſtellt, eine ganz befriedigende Erklärung. Ich will deshalb dasjenige, was ſich über den Ueber— gang der Pflanzen von der Waſſer- zur Landlebensweiſe mit größter Wahrſcheinlich— keit behaupten läßt, hier etwas eingehender auseinanderſetzen. Die urſprünglichſten Pflanzen waren waſſerbewohnende Algen. Die erſte dünne Pflanzendecke, von welcher in einer uralten Erdgeſchichtsperiode, von deren organiſchem Leben uns die Gebirgsſchichten keine Kunde überliefert haben, die aus dem Ocean her— vorgetauchten Feſtlandmaſſen zum erſten Male ergrünten, wurde ohne Zweifel eben— falls von Algen gebildet, und dieſe konnten jedenfalls auf den noch häufig überflutheten Flächen, welche ſie beſiedelt hatten, die ererbte Kreuzungsart durch ſelbſtbeweglich umher— ſchwimmende Spermazellen noch ziemlich un— behindert fortſetzen. Aus ſolchen auf das Land übergeſie— delten Algen müſſen ſich, wenn wir die individuelle Entwicklung als kurze Wieder- holung der Stammesentwickelung betrachten dürfen, die Laub- und Lebermooſe ent— wickelt haben; auch deren Lieblingswohnſitze, in tiefen Hohlwegen, an feuchten Felsab— hängen, Grabenwänden u. ſ. w., werden zeitweiſe von Waſſer überfluthet, und die Moosraſen, welche dieſe Standorte be— kleiden, ſind allezeit niedrig genug, um bei zeitweiſer Ueberfluthung den Spermazellen Gelegenheit zu geben, durch ſelbſtthätiges Umherſchwimmen zu den ſich öffnenden flafhenförmtgen Gebilden, welche die Ei— zellen umſchließen, zu den ſogenannten Arche— gonien, und durch deren mit Schleim er— füllten Halskanal zu der befruchtungs— 104 fähigen Eizelle felbft zu gelangen. Auch für die Mooſe hat daher keine Nöthigung vorgelegen, die urſprüngliche, vielleicht ſchon von den Moneren her ererbte Kreuzungs— art zu verlaſſen. Etwas anderes iſt es mit den Farn— kräutern, Schachtelhalmen und Verwandten, die ſich, nach ihren Vorkeimen zu ſchließen, aus blattloſen Lebermooſen entwickelt zu haben ſcheinen. Sie waren wohl die erſten Pflanzen, welche ſich zu hoch in die Luft aufſtrebenden Stämmen entwickelten; ſie waren es, welche das dem Meere entſtiegene, erſt mit Algen, dann mit grünem Moos— teppich ſich bekleidende Feſtland zum erſten Male mit üppigen Wäldern bedeckten. Den Boden, aus welchem dieſe erſten Wälder empor— wuchſen, müſſen wir uns als häufigen Ueber fluthungen ausgeſetzt vorſtellen; ſchon die maſſenhaften Zuſammenhäufungen von zu— ſammengeſchwemmten Farnen, Calamiten, Sigillarien und Lepidodendren in den Schieferthonſchichten der Steinkohlenforma— tion nöthigen uns zu dieſer Vorſtellung. Während nun die flach auf der Erde ſich ausbreitenden Mooſe ſich zu immer höher ragenden Pflanzenformen ausbildeten, konnte natürlich die Kreuzung getrennter Indivi— den durch frei nmherſchwimmende Spermazellen immer nur in demjenigen Lebensalter und Entwicklungsſtadium er— folgen, in welchem die Pflanze der zeit— weiſen Ueberfluthung noch ausgeſetzt blieb. Die Weiterentwickelung zu immer höheren und höheren Pflanzenſtöcken konnte ſich alſo nicht zwiſchen das Keimen der Sporen und die geſchlechtliche Vereinigung getrennter Individuen einſchalten; die auf Schwimmen eingerichteten Spermazellen wären ja ſonſt immer höher und höher in die Luft gerückt, Kapſeln) und Archegonien entwickelt; bei, ihrer ſtufenweiſen Entwickelung braucht alſo ihre Lebensverrichtung wäre ſchon mit dem erſten Anfange dieſes Emporrückens unmög— Müller, Ueber den Urſprung der Blumen. G | lich gemacht worden. Nur wenn die Weiter— entwickelung erſt nach vollzogener Kreuzung erfolgte, ſich alſo zwiſchen die geſchlechtliche Vereinigung und Sporen-Entwickelung ein— ſchaltete, vermochten ſich die dem zeitweiſe überrieſelten Boden flach angedrückten und durch ſchwimmende Spermazellen ſich kreuzen— den Lebermooſe zu hoch in die Luft ragenden Pflanzenſtöcken zu entwickeln. Damit ſcheint mir das ganze Räthſel der ſcheinbaren Verſchiebung der geſchlechtlichen Vereinigung nach dem früheren Jugendleben hin, we— nigſtens, ſoweit es ſich aus dem Vergleiche der Mooſe einerſeits, der Farne und Schachtelhalme andrerſeits ergiebt, gelöſt. Die Verſchiebung innerhalb dieſer Klaſſen iſt in der That nur eine ſcheinbare. Es iſt wahr: bei den Laubmooſen entwickeln ſich die Eizellen und Spermazellen erſt, nachdem der beblätterte Laubmoosſteugel ſich gebildet hat, auf dieſem, und aus der be— fruchteten Eizelle entwickelt ſich nur die Sporenkapſel, bei den Farnen und Schachtel— halmen dagegen entwickeln ſich die Eier und Spermazellen ſchon vor Stengeln und Blättern auf dem Vorkeime, und aus der befruchteten Eizelle gehen erſt Stengel und Blätter und ſchließlich auch Sporenkapſeln hervor. Wenn man daher Laubmooſe und Farne oder Schachtelhalme als aufeinander folgende Glieder derſelben Entwickelungs— reihe anſieht, ſo muß man allerdings den Eindruck bekommen, als wenn die ge— ſchlechtliche Vereinigung ſich nach dem Jugend— alter hin verſchoben hätte. Farne und Schachtelhalme haben ſich aber keineswegs aus Laubmooſen, ſondern, nach ihren Ver— keimen zu ſchließen, aus blattloſen Leber— mooſen mit dem Thallus aufſitzenden oder eingebetteten Antheridien (d. h. Spermazellen— 105 Müller, Ueber den Urſprung der Blumen. keine Verſchiebung der Blüthezeit nach dem früheren Jugendalter hin ſtattgefunden zu haben, ſondern die geſchlechtliche Vereinigung erfolgt vielleicht noch heute bei Farnen und Schachtelhalmen auf derſelben Entwickelungs— ſtufe, auf welcher ſie bei ihren Stammeltern ſchon erfolgt iſt, als ſie noch Lebermooſe waren und in der Blüthe den Gipfelpunkt ihrer Entwickelung erreichten. Wir dürfen ſonach bei den heutigen Farnen und Schachtelhalmen die ganze Entwickelung von der Spore bis zur Eizelle, abgeſehen von vielleicht nachträglich erworbenen Anpaſſungen, als von ihren Stammeltern, den Leber— mooſen ererbt, die ganze Entwickelung da— gegen von der befruchteten Eizelle bis zur Bildung von Sporenkapſeln als ſeit dem Ueberholen jener Stammeltern neu er— worben betrachten. Wie ein Rückblick auf das bisher Er— örterte ergiebt, umfaßt die unterſte Ent— wickelungsſtufe des Pflanzenreichs, die der Zellenpflanzen, die urſprünglichen Waſſer— bewohner und ihre auf das Feſtland über— geſiedelten Abkömmlinge, ſoweit ſie niedrig genug blieben, um auf dem Gipfel ihrer Entwicklung überfluthet und durch ſchwim— mende Spermazellen gekreuzt werden zu können. Die zweite Entwickelungsſtufe, die der Stockpflanzen, umfaßt, wenn wir von einer Berückſichtigung der waſſerbewohnen— den Stockpflanzen vorläufig abſehen, die— jenigen Abkömmlinge der erſten, welche ſich, nachdem die Kreuzung durch ſchwimmende Spermazellen erfolgt iſt, über ihr Ueber— fluthungsniveau emporheben und den Gipfel ihrer Entwicklung alſo erſt nach erfolgter geſchlechtlichen Vereinigung erreichen. Die dritte Entwickelungsſtufe des Pflanzenreichs, die der Archiſpermen, iſt dadurch erreicht worden, daß die allmählich auf trockenere Wohnſitze vorrückenden Stockpflanzen ſich | der Kreuzung durch Vermittelung des Win— des angepaßt und dadurch von zeitweiſer Ueberfluthung des Standortes während ihres Jugendzuſtandes gänzlich unabhängig gemacht haben. Das Waſſer konnte natürlich als Mittel der Kreuzung getrennter Individuen erſt dann überflüſſig werden, wenn andere na— türliche Uebertragungsmittel der männlichen Befruchtungskörper, erſt neben ihm, dann ſtatt ſeiner, in Wirkſamkeit getreten waren. Als ſolche ſind, außer dem Waſſer, über— haupt nur der Wind und lebende Thiere vorhanden. Durch lebende Thiere aber konnten die männlichen Befruchtungskörper em übertragen werden, jo lange ſie ſelbſt— thätig ſchwimmende Spermazellen waren. Als einzige Möglichkeit für die Ueberſied— lung der Stockpflanzen auf trockene Stand— orte bleibt alſo die Anpaſſung ihrer männ— lichen Befruchtungskörper an die Uebertra— gung durch den Wind übrig. Aber auch dieſe mußte ihre ſehr großen Schwierigkeiten haben. Denn man wird kaum eine Form— umwandlung der ſelbſtthätig umherſchwim— menden Spermazellen auszuſinnen vermögen, durch welche dieſelben hätten in den Stand geſetzt werden können, ebenſowohl activ, im Waſſer ſchwimmend, als paſſiv, von der bewegten Luft getragen, zu den Eizellen anderer Stöcke zu gelangen. Eine ſolche directe Anpaſſung der ſchwimmenden Sperma— zellen an die Uebertragung durch den Wind konnte überdieß ſchon deshalb kaum zu Stande kommen, weil dieſelben ja durch die Natur ihrer Standorte vor der Ein— wirkung des Windes in hohem Grade ge— ſchützt ſein mußten. Denn die ſchwimmen— den Spermazellen traten ja dicht an der Bodenoberfläche aus den Antheridien her— vor, und zwar an Stellen, die theils durch die Bodengeſtaltung des Standorts (in Vertiefungen, an geſchützten Abhängen), theils durch eine ſie überragende Vegetation von Stockpflanzen gegen den freien Zutritt bewegter Luft geſchützt waren. Somit ſcheint diejenige Anpaſſung der männlichen Befruchtungskörper an Ueber⸗ tragung durch den Wind, welche ſich that— ſächlich vollzogen hat, überhaupt die einzig mögliche geweſen zu fein. Gewiſſe ungleich— ſporige Stockpflanzen, welche eine überreiche Menge frei in die Luft hervorragender Mikroſporangien erzeugten und aus den ebenfalls frei in die Luft ragenden Makro- ſporangien, noch bevor dieſelben zur Erde fielen, einen Flüſſigkeitstropfen ausſchieden, mögen zum erſten Male die Möglichkeit einer Kreuzung getrennter Individuen durch den Wind dargeboten haben, indem von einer Unzahl von dem Winde losgeriſſener und fortgeführter Mikroſporen einzelne von den Flüſſigkeitstropfen der Makroſporangien aufgefangen wurden und dann ihre ſelbſt— beweglichen Spermazellen unmittelbar in die noch auf dem Pflanzenſtocke feſtſitzenden Archegonien der Makroſporen eindringen ließen. Dieſelben Stockpflanzen, welchen zuerſt ſolche Kreuzung durch den Wind zu Theil wurde, haben ohne Zweifel noch viele Generationen hindurch neben derſelben die ererbte Kreuzungsart beibehalten; denn dieſe konnte natürlich erſt dann überflüſſig werden und eingehen, nachdem die Kreuzung durch Vermittlung des Windes durch Aus— prägung geeigneter Abänderungen zu voller Wirkſamkeit gelangt war. Welche Abänderungen können es nun geweſen ſein, die beim Vorrücken der Stock— pflanzen auf trocknere Standorte den Wind als Vermittler ihrer Kreuzung in volle Wirkſamkeit treten ließen? Die thatſächlich vorliegenden Unterſchiede, einerſeits zwiſchen den gleichſporigen und ungleichſporigen Stod- r ‚ ‚ — P— ‚ ‚ —‚ ———ͤ— — — — —— — x 106 Müller, Ueber den Urſprung der Blumen. pflanzen, andrerſeits zwiſchen den letzteren und den Archiſpermen, geben uns darüber hinreichende Auskunft. Gewiß mit vollſtem Rechte werden die ungleichſporigen Stockpflanzen als Mittel- ſtufe zwiſchen den gleichſporigen Stockpflanzen und den Archiſpermen betrachtet. Während der Vorkeim der Farne und Schachtel— halme noch als vielleicht unverkürzte Wieder— holung der Entwickelung ihrer Stammeltern, blattloſer Lebermooſe, angeſehen werden kann, ſtellen uns die nur wenig aus der geplatzten Sporeuhülle heraustretenden oder gänzlich in derſelben eingeſchloſſen bleibenden Vorkeime der ungleichſporigen Stockpflanzen unverkennbar eine immer mehr verkürzte Wiederholung der Entwicklung der Stamm⸗ eltern dar, und es iſt leicht zu erkennen, welche Veränderung der Lebensbedingungen zu dieſer Verkürzung und zugleich zur Aus— bildung beſonderer männlicher und weiblicher Sporen führen mußte. Je ſpärlicher nämlich beim allmähligen Trocknerwerden des Feſt— landes oder beim Vorrücken der Stock— pflanzen auf trocknere Standorte die zeitweiſe Ueberrieſelung des Bodens mit Waſſer wurde, um ſo weniger fanden die leber— moosartigen Vorkeime den geeigneten Boden zu ihrer Entwicklung, um jo mehr mußte ſich dieſe Entwicklung auf die Leiſtung ihres nothwendigen Lebensdienſtes, die Ermög— lichung der Kreuzung durch Erzeugung von Eizellen und ſelbſtbeweglichen Spermazellen, beſchränken, und dieſe Beſchränkung war jedenfalls in noch höherem Grade möglich, wenn eine Arbeitstheilung in weibliche und männliche Sporen hinzutrat, da letztere aus noch viel winzigeren Vorkeimen die zur Kreuzung nöthigen Spermazellen zu erzeugen vermochten. Dieſelben Abänderungen aber, welche die Stockpflanzen befähigten, auch auf ſpärlich Sd A Müller, Ueber den Urſprung der Blumen. 107 überrieſeltem Boden ſich anzuſiedeln, ermög⸗ lichten und begünſtigten zugleich eine ge— legentliche Kreuzung derſelben durch den Wind, wenn ſie auch keineswegs die ein— zigen Vorbedingungen für eine ſolche waren. Vor allem mußte ja natürlich die Arbeits— theilung in kleine männliche und große weibliche Sporen ſich bereits vollzogen haben, ehe Mikroſporen durch den Wind auf Makro— ſporangien geführt werden, ehe alſo über— haupt irgend welche Stockpflanzen durch Vermittelung des Windes gekreuzt werden konnten. Die Miekroſporen konnten ferner, wenn ſie einmal durch den Wind auf Makro— ſporangien geführt wurden, um ſo leichter eine Befruchtung in denſelben bewirken, je raſcher ſie ihre Spermazellen erzeugten. Und die Makroſporen konnten um ſo leichter, während fie noch am Pflanzenſtocke ſaßen, durch angewehte Mikroſporen befruchtet werden, je mehr ſich ihre Vorkeimentwick— lung beſchränkt hatte, in je jugendlicherem Alter ſie alſo Archegonien mit befruchtungs— fähigen Eizellen hervorbrachten. Aber außer dieſen durch ſpärliche Ueberrieſelung des Bodens bedingten Abänderungen mußte die Ausſcheidung eines Flüſſigkeitstropfens aus dem Makroſporangium, oder irgend eine andere das Auffangen zugewehter Mikro— ſporen bewirkende beſondere Abänderung auf— getreten ſein, ehe eine Befruchtung durch Vermittlung des Windes erfolgen konnte. War eine ſolche an den durch Trockenheit des Bodens bedingten Grenzen des Ver— breitungsbezirkes der Stockpflanzen einmal aufgetreten, ſo mußten dann nicht nur die eben genannten, eine Kreuzung durch den Wind überhaupt ermöglichenden, ſondern auch alle weiterhin auftretenden, dieſelbe begünſtigenden Abänderungen durch Natur- züchtung erhalten werden und zur Aus- prägung einer neuen Pflanzenfamilie führen, welche, frei von der Concurrenz ihrer Stammeltern, ſich ungehindert über die trocknen Landſchaften ausbreitete und die— ſelben zum erſten Male mit ſchattigen Wäldern überkleidete. Als ſolche weiterhin aufgetretene Abän— derungen, welche die Kreuzung durch den Wind begünſtigt und endlich völlig geſichert haben, dürften folgende zu betrachten ſein: Die Entwicklung der Makroſporenvorkeime, welche ihre urſprüngliche Bedeutung verloren hatten, wurde noch mehr und mehr verkürzt. Da die Makroſporen nun für immer ver— einigt blieben, ſo wurden alle diejenigen Bildungen, welche die ſchützende Umhüllung und beſondere Ausſtattung der einzelnen Makroſporen bewirkten., überflüſſig, und fielen zunehmender Verkümmerung anheim. Dagegen wurde eine ſchützende Umhüllung der im jugendlichen Zuſtande frei der Luft ausgeſetzten Makroſporangien nothwendig oder wenigſtens vortheilhaft und gelangte durch Naturausleſe zur Ausprägung. In⸗ dem dieſe Umhüllung als umſchließender Wall bis weit über den Gipfel des Makro— ſporangiums (Knospenkerns) emporwuchs, ehe ſie ſich in eine engere Oeffnung zu— ſammenzog, bewirkte ſie zugleich, daß der vom Makroſporangium (Knospenkern) zur Blüthezeit ausgeſchiedene, darauf verdunſtende oder wieder aufgeſaugte Flüſſigkeitstropfen die von ihm aufgefangenen, vom Winde zugeführten Mikroſporen in einen wohlum— ſchloſſenen Raum dicht über dem Gipfel des Makroſporangiums zuſammenführte. Durch dieſe Umwandlungen wurde aus dem Makroſporangium der ungleichſporigen Stock— pflanzen die Samenknospe der Archiſpermen, in welcher, da eine Vielheit weiblicher Be— fruchtungskörper zu einem einzigen ſich ver— ſchmolzen hatte, von vorn herein durch dieſe Verſchmelzung der Anlaß zu ſtufenweiſe 4 108 weiterer Verkümmerung der nutzlos gewor— denen Individuen gegeben war. Die Re— duction der Makroſporen (Embryoſäcke) auf eine einzige hat ſich ſchon bei den Archiſpermen vollendet, während wir endlich bei den Metaſpermen auch von den Arche— gonien (Corpusculis) der einzigen übrig gebliebenenen Makroſpore des (Embryoſacks) | nur noch ein einziges erhalten und ſelbſt dieſes auf eine oder zwei Zellen (Keim— bläschen), nämlich die Eizelle und in der 670 7 7 7 Regel noch eine zweite, die „Kanalzelle“, reducirt ſehen. Weniger umfaſſenden Umbildungen durch Naturzüchtung waren die männlichen Be- | fruchtungskörper unterworfen, da eben nicht die Mikroſporangien, ſondern nur die ein— zelnen Mikroſporen die Möglichkeit darboten und thatſächlich dazu gelangten, vom Winde losgeriſſen auf die weiblichen Befruch— tungskörper übertragen zu werden. Wäh— rend daher bei den weiblichen Befruchtungs— körpern die Anpaſſung an Kreuzung durch den Wind eine zwiefache Reduction einer Mehrzahl von Individuen auf die Einzahl zur Folge hatte, nämlich 1) die der Makro— ſporen deſſelben Makroſporangiums, 2) die der Archegonien derſelben Makroſpore, konnte bei den männlichen Befruchtungskörpern nur eine einzige ſolche Reduction ſtatt finden und fand thatſächlich ſtatt: Die nutzlos ge— wordene Zerſpaltung des Mikroſporen— Protoplasmas in Vorkeimzellen und zahl— reiche Spermazellen ging ein, die ebenfalls nutzlos gewordene Selbſtbeweglichkeit und Schwimmfähigkeit des nun einheitlich blei— benden männlichen Protoplasmas ging gleich- falls ein, und ſo wurde die Mikroſpore zum Pollenkorn, und dieſes wurde bei den Coni— feren durch flügelartige Anhänge zu noch leichterer Uebertragung durch den Wind be— fähigt. Außer dieſer Umbildung der ein— Müller, Ueber den Urſprung der Blumen. zelnen Makroſporangien und Mikroſporen ſind die koloſſale Steigerung der Zahl der von einem Pflanzenſtocke erzeugten Pollen— körner, ihre und der Samenknospen (Makro- ſporangien) dem Winde ausgeſetzte Stellung, und in vielen Fällen (bei Coniferen) die Entwicklung immer höher in die Luft empor- ragender Baumſtämme als die Kreuzung durch den Wind ſichernde und deshalb durch Naturzüchtung ausgeprägte Eigenthümlich— keiten der Archiſpermen zu betrachten. So ſtellt uns denn die dritte Entwicklungsſtufe des Pflanzenreichs, die Klaſſe der Archi— ſpermen, eine Pflanzengeſellſchaft dar, welche durch die ſoeben erörterten neu erworbenen und zugleich durch Getrenntgeſchlechtigkeit und andere von den ungleichſporigen Stock— pflanzen ererbte Eigenthümlichkeiten in wirk— ſamſter Weiſe für die Kreuzung durch den Wind ausgerüſtet und dadurch zur Be— ſiedelung von Bergeshöhen und trockenen Feſtlandsſtrichen befähigt iſt. Wir ſind damit zu demjenigen Punkte gelangt, wo der Urſprung der Blumen anhebt. Nachdem nämlich die Archiſpermen die Erzeugung einer überſchwenglichen Pollen— menge in dem Grade geſteigert hatten, daß dadurch ihre Kreuzung durch den Wind unausbleiblich geworden war, konnte es nicht ausbleiben, daß ihrer Nahrung wegen in der Luft umherfliegende Inſekten, die Dieſes und Jenes auf ſeine Genießbarkeit probirten, auch dazu kamen, die bequem erreichbaren nährſtoffreichen Pollenkörner der Archi— ſpermen zu verzehren, ja daß manche In— ſekten dieſe ergiebige und concurrenzfreie Nahrungsquelle mit Vorliebe benutzten. Die hervorſtechende Farbe der frei in die Luft ragenden Antheren erleichterte ihnen dabei ohne Zweifel in hohem Grade das Auffinden der geſuchten Speiſe, wie wir ja noch heute zahlreiche windblüthige Pflanzen nur durch die Farbe ihrer Antheren Pollen ſuchende Inſekten an ſich locken ſehen. Aber da die Archiſpermen, in Folge ihrer Her— kunft, ſämmtlich getrennt⸗geſchlechtig waren, fo konnten ihnen die ihre Antheren plün— dernden Inſekten den unbewußten Liebes⸗ dienſt der Kreuzung nicht erweiſen, ſo lange nicht Abänderungen der Archiſpermenblüthen eintraten, welche entweder männliche und weibliche Befruchtungsorgane in derſelben Blüthe vereinigten oder die Inſekten auch zum Beſuche der weiblichen Blüthen ver⸗ anlaßten. Und auch wenn ſolche die Kreu⸗ zung durch Inſekten ermöglichende Abände⸗ rungen eintraten, konnten ſie bei Pflanzen, deren Kreuzung durch den Wind geſichert war, ſelbſtverſtändlich durch Naturzüchtung nur dann erhalten und zu neuen, für Kreu— zung durch Inſekten ausgerüſteten Pflanzen⸗ formen ausgeprägt werden, wenn der Uebergang von der Windblüthigkeit zur Juſektenblüthigkeit für das Leben der Pflanze mit einem bedeutenden Vortheile verknüpft war. Da nun thatſächlich von der aus den Archiſpermen hervorgegangenen, jetzt vor— herrſchenden, höchſten Entwicklungsſtufe des Pflanzenreichs, den Metaſpermen, die weit überwiegende Mehrzahl für die Kreuzung durch Inſekten ausgerüſtet iſt, ſo dürfen wir nicht zweifeln, daß der Uebergang von der Windblüthigkeit zur Inſektenblüthigkeit in der That von außerordentlichem Vortheile für die Pflanzen geweſen ſein muß. Die Natur dieſes Vortheils müſſen wir alſo uns klar zu machen ſuchen, wenn wir uns von dem Urſprunge der Blumen eine klare Vorſtellung bilden wollen. Die Sicherung der Befruchtung durch den Wind iſt bei den Archiſpermen, wie wir geſehen haben, durch außerordentlich maſſenhafte Pollenentwicklung erreicht wor— den, und dieſe genügt zwar wohl, um | 109 Individuen deſſelben mehr oder weniger geſchloſſenen Beſtandes, aber nicht, um weit von einander entfernt ſtehende Indi— viduen zu kreuzen. Nur ſehr ausnahms— weiſe mögen die von der Luft getragenen Pollenkörner auch einmal auf weibliche Blüthen eines weit entfernt ſtehenden In— dividuums gelangen. Daß überdieß, wenn während der Blüthezeit dieſelbe Windrichtung herrſcht, die Kreuzung aller äußerſten Indivi- duen auf der Windſeite unterbleibt, mag als Nachtheil der Windblüthigkeit noch am wenigſten ins Gewicht fallen. Jedenfalls ſind aber die windblüthigen Archiſpermen 1) zu einer koloſſalen Pollenverſchwendung genöthigt; 2) vermögen ſie im Allgemeinen nur in einigermaßen geſchloſſenen Beſtänden vorzurücken und ſind nicht im Stande, in einzelne frei werdende Plätze der Nachbar— gebiete ſich einzudrängen; 3) wird ihnen der Vortheil einer Kreuzung mit unter ganz anderen Lebensbedingungen aufgewachſenen Individuen nur ausnahmsweiſe zu Theil. Man ſieht leicht ein, daß der Uebergang zur Inſektenblüthigkeit in allen drei Be⸗ ziehungen den Pflanzen von entſcheidendem Vortheil ſein mußte, denn: 1) Wenn der Blüthenſtaub ſich Inſekten anheftet, die durch ein ſo mächtiges Intereſſe wie die eigene Ernährung zum Beſuche zahlreicher Blüthen derſelben Art getrieben werden, fo iſt außer dem den Inſekten ſich anhef— tenden und von ihnen auf die Narben an— derer Blüthen übertragenen, und dem dabei nutzlos verſtreuten nur noch ſo viel Pollen erforderlich, als die übertragenden Inſekten zu ihrer Ernährung bedürfen. Ganze Wolken von Blüthenſtaub, welche eine windblüthige Pflanze dem Winde an— vertrauen muß, wenn mit einiger Wahr- ſcheinlichkeit Kreuzung getrennter Individuen erfolgen ſoll, werden alſo durch den Ueber- Müller, Ueber den Urſprung der Blumen. I 110 gang zur Inſektenblüthigkeit erſpart, und das mußte für die Pflanzen von größtem Vortheile ſein. 2) Trotz dieſer Erſparniß wird die Kreuzung getrennter Individuen durch den Uebergang zur Inſektenblüthigkeit eine viel geſichertere. Die Inſekten, welche mit beſtimmten Blüthen als ergiebigen Nahrungsquellen einmal vertraut ſind, halten ſich gern andauernd an dieſelben und ſuchen ſie, in der Luft umher fliegend, auch in größerer Entfernung auf. Inſektenblüthler vermögen daher nicht nur in geſchloſſenen Schaaren in noch unbeſetzte Landſtriche vor— zudringen, ſondern auch in ſchon dicht be— ſetzten Nachbargebieten einzelne frei ge— wordene Stellen zu beſetzen oder im Einzel— kampfe ſich neue Plätze zu erobern. Darin, daß ſolche einzelne Vordringlinge an ver— ſchiedenen Punkten ganz verſchiedenen gün— ſtigen und feindlichen Einflüſſen, nament⸗ lich aber ganz verſchiedenen Combinationen von Einwirkungen ſie umgebender Pflanzen und Thiere ſich anzupaſſen haben, iſt offen- bar ein Hauptgrund zu ſuchen, weshalb mit dem Uebergange zur Inſektenblüthigkeit, mit der Entſtehung der Blumen, die Man- nigfaltigkeit der Pflanzenformen ſich fo außerordentlich geſteigert hat, und an die Stelle einförmiger Nadelwälder ein aus den mannigfachſten Arten bunt zuſammen— gewirkter Pflanzenteppich getreten iſt. Die geſteigerte Möglichkeit, neue Wohnſitze zu gewinnen, wenn auch oft nur unter erheb— licher Abänderung ererbter Eigenthümlich⸗ keiten, iſt aber unſtreitig für die von der Windblüthigkeit zur Inſektenblüthigkeit über- gehenden Pflanzen ebenfalls ein bedeutender Vortheil geweſen. 3) Wie die Darwin'- ſchen Verſuche beweiſen, iſt es ein außer— ordentlicher Vortheil für eine Pflanze, ſo— wohl in Bezug auf die Kräftigkeit, als in Bezug auf die Fruchtbarkeit ihrer Nach— Müller, Ueber den Urſprung der Blumen. kommen, wenn ſie mit einem friſchen Stocke, d. h. mit einem nicht verwandten und unter ganz anderen Lebensbedingungen auf— gewachſenen Individuum, gekreuzt wird. Und dieſen außerordentlichen Vortheil, der ihnen durch Vermittlung des Windes ge— wiß nur ſelten zu Theil wird, ſichern ſich die Pflanzen ebenfalls durch den Uebergang zur Juſektenblüthigkeit. Dieſen durchgreifenden Vortheilen ge— genüber darf jedoch ein leicht verhängnißvoll werdender Nachtheil nicht unerwähnt bleiben, mit welchem der Uebergang zur Inſekten— blüthigkeit faſt unvermeidlich verknüpft war. Während nämlich die zur Kreuzung eines einigermaßen dichten Beſtandes von Wind— blüthlern erforderliche Luftbewegung während der Blüthezeit derſelben wohl kaum jemals fehlen wird, können beſtimmte Inſekten— arten ſehr leicht während der ganzen Blüthe— zeit einer Blume durch ſchlechtes Wetter am Beſuche derſelben verhindert ſein, ſo daß die Pflanze einer Kreuzung dann voll— ſtändig verluſtig geht. Während ferner der Wind ohne Wahl über die ganzen mit Pflanzen bedeckten Flächen dahin ſtreicht und allen Windblüthlern in gleicher Weiſe als Uebertrager ihres Pollens dient, ſind die Inſektenblüthler von der Wahl ihrer Beſucher und der Concurenz, welche ihnen andre Inſektenblüthler machen, in hohem Grade abhängig und können daher auch einmal bei nicht beſonders ungünſtigem Wetter verblühen, ohne eine Uebertragung ihres Pollens durch Inſekten zu erfahren. Mit völligem Ausbleiben der Befruchtung aber würde eine inſektenblüthig gewordene Art erlöſchen müſſen. Trotz der hervorragenden Vortheile, welche die Kreuzung durch Vermittlung der Inſekten darbietet, haben daher nur die— jenigen, eine ſolche ermöglichenden Abände— rungen der Windblüthler durch Naturzüch— tung ausgeprägt werden können, welche zu— gleich die in der Unſicherheit des Inſekten— beſuchs liegende Gefahr beſeitigten. Nun konnten aber die getrenntgeſchlechtlichen Wind— blüthler überhaupt nur auf zweierlei Weiſe zur Kreuzung durch beſuchende Inſekten ge— eignet werden: 1) indem die getrenntge— ſchlechtigen Blüthen zu Zwitterblüthen wurden, ſo daß die beſuchenden Inſekten, auch wenn fie nur auf Blüthenſtaub aus- gingen, doch auch die weiblichen Befruch— tungsorgane berühren mußten; 2) indem ſie zwar getrenntgeſchlechtig blieben, aber auch in den weiblichen Blüthen ein Genuß— mittel darboten — wir kennen als ſolches nur Honig (Nektar), — durch welches die urſprünglich nur dem Pollen nachgehenden Inſekten veranlaßt wurden, beiderlei Blüthen gleichmäßig zu beſuchen. Im erſteren Falle, wenn die Blüthen zwitterig wurden, war damit zugleich die Möglichkeit der Selbſt— befruchtung und damit die einfachſte und ſicherſte Beſeitigung der Gefahr gänzlich ausbleibender Befruchtung gegeben. Im letzteren Falle, wenn in den getrenntge— ſchlechtigen Blüthen ſich Honigabſonderung einſtellte, welche die Inſekten zu gleichmäßi— gem Beſuche der männlichen und weiblichen Blüthen veranlaßte, konnte die Gefahr des gänzlichen Unbefruchtetbleibens nur unter beſonders günſtigen Umſtänden, durch äußerſt wirkſame Anlockung einer niemals gänzlich ausbleibenden Beſucherſchaar, beſeitigt wer— den. Daher iſt die Mehrzahl der Wind— blüthler nicht zur Inſektenblüthigkeit ge— langt, ohne zugleich zwitterblüthig zu wer— den. Nur äußerſt wenigen iſt dieß mit Beibehaltung der Getrenntgeſchlechtigkeit, durch bloße Honigabſonderung gelungen. Von Pflanzen, welche durch Zwittrigwerden, ohne Honigabſonderung, zur Inſektenblüthig⸗ Müller, Ueber den Urſprung der Blumen. 111 keit gelangt ſind, iſt Welwitſchia als ein— ziger bekannter Jnſektenblüthler unter den Archiſpermen wohl das unzweideutigſte und deshalb lehrreichſte Beiſpiel. Ihre honig— loſen Blüthen ſind nur durch Zweigeſchlech— tigkeit, Ausbildung einer großen, mit Pa— pillen beſetzten Narbe und vielleicht durch Klebrigwerden des Pollens lich finde keine Bemerkung darüber) aus Windblüthen zu Juſektenblüthen geworden. Ein ebenſo un— zweideutiges und lehrreiches Beiſpiel der anderen Art von Uebergang von Wind— blüthigkeit zu Juſektenblüthigkeit bieten uns unſere Weiden, die Arten der Gattung Salix, dar, welche ſich, wie ihr Vergleich mit der nächſtverwandten Gattung Populus ergiebt, lediglich durch Honigabſonderung in den eingeſchlechtigen Blüthen und durch Klebrigwerden des Pollens einen nie ganz ausbleibenden Beſucherkreis mannigfachſter Inſekten geſichert hat, aber freilich nur unter beſonders günſtigen Umſtänden und mit theilweiſem Verzicht auf die Vortheile der Inſektenblüthigkeit. Ein ſo reicher In— ſektenbeſuch, wie er thatſächlich ſtattfindet und zur Kreuzung der weiblichen Stöcke mit den davon getrennten männlichen ſelbſt bei wenig günſtigem Wetter ausreicht, wird nämlich den Weiden bloß dadurch zu Theil, daß ſie in einer Jahreszeit blühen, in der ihnen von anderen Blumen noch ſehr wenig Concurrenz gemacht wird, und daß ſie ihren Beſuchern außer Honig eine außerordent— liche Menge von Blüthenſtaub darbieten. Der erſtere dieſer beiden günſtigen Um— ſtände nun würde ſelbſtverſtändlich auf— hören, wenn zahlreichere Windblüthler in gleicher Weiſe wie die Weiden inſekten— blüthig geworden wären, durch den anderen zahlreiche Beſucher herbeilockenden Umſtand aber, durch die Erzeugung einer außer— ordentlichen Pollenmenge, verzichtet Salix N 112 auf einen Hauptvortheil, den ſonſt die In— ſektenblüthigkeit darbietet und der, gerade in der Erſparung großer Pollenmengen beſteht. zwei verſchiedenen Arten des Uebergangs von Windblüthigkeit zur Inſektenblüthigkeit Iſt die ganze Abtheilung der Metaſpermen als von einer und derſelben archiſpermiſchen ſind für verſchiedene Zweige der Meta— formen anzunehmen? ſchen Thatbeſtande allein läßt ſich eine Ent— ſcheidung dieſer für die Syſtematik höchſt wichtigen Frage nicht gewinnen. Im gün— ſtigſten Falle werden vielleicht die genaueſten morphologiſchen Vergleiche der den Archi— ſpermen noch am nächſten ſtehenden Meta— ſpermen unter ſich und mit den Archi— ſpermen den verwandtſchaftlichen Zuſam— menhang erkennen laſſen. Aber es kann wenigſtens für eine klare Frageſtellung bei dieſen morphologiſchen Forſchungen nur für- derlich ſein, wenn auch vom biologiſchen Geſichtspunkte aus verſucht wird, die denk— baren Fälle aus einander zu legen und die für den einen oder andern ſprechenden Wahr— ſcheinlichkeitsgründe hervorzuheben. Man könnte ſich nun vorſtellen: 1) Bei einheitlichem Urſprunge der Metaſpermen: a) eine archiſpermiſche Pflanze wäre im windblüthigen getrennt— geſchlechtigen Zuſtande metaſper— miſch geworden und ihre Abkömmlinge wären zwar zum Theil windblüthig ge— blieben, hätten ſich aber zum viel größeren Theil, einerſeits durch Zwitterblüthigkeit, andrerſeits durch Honigabſonderung bei Müller, Ueber den Urſprung der Blumen. Die ſoeben erörterten Beiſpiele von drängen uns unmittelbar zu der Frage: Stammform abſtammend aufzufaſſen, oder ſpermen verſchiedene archiſpermiſche Stamm Aus dem biologi- fortdauernder Getrenntgeſchlechtigkeit in In— ſektenblüthler verwandelt. Dieſe Annahme würde ſehr gut die Getreuntgeſchlechtigkeit aller derjenigen Metaſpermen, in deren Blüthen ſich keine Spur vorhergegangener Zwitter— blüthigkeit erkennen läßt, als von archi— ſpermiſchen Stammeltern ererbt erklären. Sie würde natürlich zugleich die andere Annahme nöthig machen, daß der Ueber— gang zur Inſektenblüthigkeit durch Zwittrig— werden, unabhängig von einander, bei den Archiſpermen und bei den Metaſpermen erfolgt ſei. b) eine archiſpermiſche Pflanze (Gnetacee?) wäre erſt nach Er- langung zweigeſchlechtiger Inſek— tenblüthen metaſpermiſch geworden. Dann würde ſich die bei den Metaſpermen ſo überwiegend häufig vorkommende Zwei— geſchlechtigkeit und Inſektenblüthigkeit als von den Archiſpermen ererbt erklären laſſen. Welwitſchia könnte man dann entweder als Abkömmling deſſelben archi— ſpermiſchen Ur-Inſektenblüthlers, oder auch als ſelbſtändig zur Inſektenblüthigkeit ge⸗ langt auffaſſen. Alle diejenigen getrennt- geſchlechtigen Metaſpermen aber, in deren Blüthen ſich keine Spur vorhergegangener Zwitterblüthigkeit erkennen läßt, müßten eben ſo gut wie diejenigen, deren männ— liche und weibliche Blüthen durch überein— ſtimmenden Bau und verkümmerte Ueber— reſte des anderen Geſchlechts vorhergegangne Zwitterblüthigkeit bekunden, als Abkömm⸗ linge zwitterblüthiger metaſpermiſcher In— ſektenblüthler betrachtet werden. Die Weiden würden dann, wenn wir bis zu den Stock— pflanzen zurückgehen, als Ahnenreihe er— halten: 1) getrennt-geſchlechtige archiſper— miſche Windblüthler, 2) zwitterblüthige archiſpermiſche Inſektenblüthler, 3) zwitter— blüthige metaſpermiſche Inſektenblüthler, N trenntgeſchlechtigen, alle WWW Müller, Ueber den Urſprung der Blumen. 113 4) getrenntgeſchlechtige metaſpermiſche Wind- blüthler, ähnlich Populus, um ſich endlich aus dieſen 5) in getrenntgeſchlechtige metaſpermiſche Inſektenblüthler zu verwan— deln. Die Unwahrſcheinlichkeit dieſer An— nahme und vor Allem die Unmöglichkeit, ſo verſchiedene männliche und weibliche Blüthen, wie ſie ſich bei Corylus und zahlreichen anderen windblüthigen Meta— ſpermen finden, als aus gleichartigen Zwitterblüthen hervorgegangen vorzuſtellen, läßt, bei einheitlichem Urſprung der Meta— ſpermen, kaum eine Wahl, die erſten Metaſpermen als windblüthig und ge— trenntgeſchlechtig anzunehmen. 2) Bei mehrfachem Urſprunge der Metaſpermen könnte man alle getrenntgeſchlechtigen Meta— ſpermen, welche keine Spur vorherge— gangener Zwitterblüthigkeit zeigen, von ge— zwitterblüthigen Metaſpermen von zwitterblüthigen Archi— ſpermen herleiten. Es wäre aber auch eine ſolche Mannigfaltigkeit anderer Aus— nahmen möglich, daß es zu Nichts führen kann, dieſe Möglichkeiten auszuſpinnen, ſo lange nicht morphologiſche Unterſuchungen dieſelben in enge Grenzen eingeſchloſſen und vor Allem, fo lange dieſelben nicht über- haupt einen mehrfachen Urſprung der Meta— ſpermen wahrſcheinlich gemacht haben. Mag nun der Urſprung der Meta— ſpermen einheitlich oder mehrfach geweſen ſein, mag ferner die bei den Archiſpermen zuerſt entſtandene Umhüllung des Knospen— kerns ſich bei den Metaſpermen zur Knospen— hülle oder zum Carpell ausgebildet haben, mag alſo die einfache oder doppelte Knospen— hülle vor oder nach dem Carpell entſtanden ſein, aus dem, was wir über die ur— ſprüngliche Beſchaffenheit der Archiſpermen— blüthe und über den Urſprung der Jn— ſektenblüthigkeit feſtgeſtellt haben, laſſen ſich wenigſtens einige Schlüſſe ziehen, welche für die Erkennung des verwandtſchaftlichen Zuſammenhanges der Metaſpermenfamilien hier und da mit Vortheil verwendet werden können: 1) Diejenigen getrenntgeſchlechtigen Arten, deren männliche und weibliche Blüthen keine Spur des anderen Geſchlechts und keine Uebereinſtimmung im Bau zeigen, wie z. B. die Cupuliferen, haben wahr— ſcheinlich ihre Getrenntgeſchlechtigkeit von windblüthigen Archiſpermen ererbt. 2) Die— jenigen getrenntgeſchlechtigen Arten, deren männliche und weibliche Blüthen Spuren des anderen Geſchlechts und Ueberein— ſtimmung im Bau erkennen laſſen, ſind Abkömmlinge zwittriger Inſektenblüthler. Ebenſo ſtammen auch 3) die zwittrigen Windblüthler (Plantago, Gramineen 2c.) von zwittrigen Inſektenblüthlern ab. Wir haben im Vorhergehenden den Urſprung der Blumen nur bis zu ihren erſten Anfängen verfolgt. Sobald dieſelben aber einmal erreicht waren, ſobald die Kreuzung irgend welcher Pflanzen einmal gänzlich von beſuchenden Inſekten abhängig geworden war, ſtand der weiteren Aus— rüſtung und Differenzirung derſelben ein unabſehbar weites Feld offen. Die man- nigfachſten Abänderungen konnten nun eine vollkommnere Anpaſſung an die vorhan— denen Lebensbedingungen oder eine Be— ſetzung neuer, noch nicht ausgefüllter Stellen, welche durch die immer mannigfaltiger wer— denden Wechſelbeziehungen zwiſchen den Or— ganismen bedingt waren, ermöglichen und dadurch zur Entſtehung neuer Arten führen. Die den Windblüthlern eigenthümliche und nothwendige Pollenverſchwendung konnte be— ſchränkt werden, indem fi die Zapfen— oder Kätzchenform zur einfachen Blumenform en zuſammenzog. Die in der Luft umherflie— genden Inſekten konnten durch Buntfärbung und Vergrößerung der Blüthenhüllen oder ſonſtige Steigerung der Augenfälligkeit oder durch Entwickelung von Gerüchen wirkſamer angelockt werden. Honigabſonderung konnte die angelockten Beſucher zu eifrigerer Wie— derholung ihrer Beſuche veranlaſſen. Be— ſondere Flecken oder Linien um den Blü— theneingang herum, beſondere Anflugflächen, Rüſſelführungen u. ſ. w. konnten den Be— ſuchern die Auffindung und Gewinnung des Honigs erleichtern und damit zugleich ihre Befruchtungsarbeit fördern. Haare, Sta— cheln, ſpitze Vorſprünge, klebrige Drüſen u. ſ. w. konnten die Blumen vor Entwen— dung des Honigs durch unnütze Gäſte ſchützen. Beſondere Geſtaltungen und Ent— faltungszeiten der Blüthenhülle konnten be— ſtimmten Beſuchern den ausſchließlichen Ge— nuß des Honigs ſichern und dieſelben dadurch Müller, Ueber den Urſprung der Blumen. 4 zu um ſo regelmäßigerem Beſuche veran- laſſen. Beſtimmte Stellung und Entwicke— lungsreihenfolge der Staubgefäße und Grif— fel konnten eine Kreuzung getrennter Stöcke durch die beſuchenden Inſekten unausbleiblich machen. Alle dieſe und die mannigfachſten ſonſtigen Abänderungen, deren bloße flüch— tige Andeutung hier ſchon zu weit führen würde, konnten denjenigen Inſektenblüthlern, an welchen ſie auftraten, theils zum Siege über ihre Concurrenten, theils zur Be— ſetzung neuer, noch concurrenzfreier Stel— len des Naturhaushaltes verhelfen und mußten dann durch Naturausleſe erhalten und ausgeprägt werden, und theils zu wei— terer Vervollkommnung der einmal vorhan- denen, theils zur Ausbildung immer neuer Blumenarten führen. Einzelne dieſer Ab— änderungen und ihre Wirkung auf die Naturzüchtung der Blumen werde ich in ſpäteren Aufſätzen klar zu ſtellen verſuchen. Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche, erläutert an den FJormenkreiſen der Gallung Rubus. Von Wilhelm Olbers Jocke. or zwanzig Jahren ſchien noch wenig Ausſicht vorhanden zu Y2 fein, daß es ſchon bald gelin— Der e . Se gen werde, eine einigermaßen klare Einſicht in die Entſtehungs— geſchichte der organiſchen Arten zu erhalten. Allerdings hatte ſich damals allen unbefange— nen Beobachtern längſt die Wahrnehmung aufgedrängt, daß die Grenzen der „Species“ des Thier- und Pflanzenreichs in vielen Fällen unſicher ſind. Es war indeß noch ſehr zweifelhaft, ob dieſe Unſicherheit eine wirklich in der Natur begründete, oder ob ſie nicht vielmehr nur eine ſcheinbare ſei. Die allgemeine Annahme ging dahin, daß die Urſache jeglicher Un gewißheit über den wahren Umfang der Arten in der Mangel— haftigkeit unſerer Kenntniſſe geſucht werden müſſe. Mit dieſer Anſicht ſtand freilich eine auffallende Erfahrung in grellem Wider— ſpruche. Unſer Wiſſen in der Naturkunde wuchs von Jahr zu Jahr an, aber die Zweifel über den Umfang der Arten ver— minderten ſich nicht nur nicht in entſpre— chendem Maße, ſondern traten in ſtets zu— nehmender Häufigkeit hervor. Allerdings glückte es zuweilen einmal, über die Arten einer einzelnen Formenreihe zu größerer Klarheit zu gelangen, allein im Großen und Ganzen tauchten für jeden beſeitigten Zweifel ſicherlich zehn bisher ungeahnte wieder auf. Man ſprach aber nicht gern über ſolche unangenehme Erfahrungen; man behielt ſie meiſtens für ſich und ſuchte ſie wo möglich ſelber zu vergeſſen. Glaubte doch Jeder ſich ein Armuthszeugniß auszu— ſtellen, wenn er geſtand, daß er über die Artgrenzen in dieſer oder jener Gruppe nicht in's Reine kommen könne. Unter den Pflanzen hatte eine Zeitlang die Gattung Salix (Weide) eine gewiſſe Berühmtheit als „botanicorum erux atque scandalum“ genoſſen; es war daher ein bedeutender Triumph, als es gelang, durch Ausſcheidung der Baſtarde die Artgrenzen unter den Weiden wieder ſchärfer zu ziehen. Die Roſen und Hieracien waren in Koch's deutſcher Flora in einer Weiſe dargeſtellt worden, welche vorläufig befriedigte. Ueber die Brombeeren (Rubus) waren die An— ſichten indeß ſehr getheilt. Wer ſich dieſe Pflanzen auch nur oberflächlich im Freien 16 116 Focke, über den Artbegriff im Pflanzenreiche. * zu ſein ſchienen, ſondern auch eine ganze anſah, mußte ſich bald überzeugen, daß die | Anzahl von Formen, die ich mit größerem Formen derſelben doch zu weſentlich von einander abweichen, um ſie mit gutem Ge— wiſſen alle für Varietäten einer und der— ſelben Art erklären zu können. Dagegen meinte man gewöhnlich, daß Weihe und Nees, die über 40 Arten unterſchieden hatten, doch wohl zu weit gegangen ſeien. Bei dieſer Lage der Dinge war es na— türlich, daß ich meine Aufmerkſamkeit auch auf die Brombeeren richtete, als ich um Mitte der fünfziger Jahre nach Formen— gruppen ſuchte, welche über das Weſen von „Species“ und „Varietas“ Aufſchluß zu verſprechen ſchienen. Die erſten gelegent— lichen Verſuche, mich in der Gattung zu orientiren, waren nicht beſonders erfolgreich. Als ich aber im Sommer 1857 nach Wien kam, fiel mir dort der Kubus tomentosus auf, eine charakteriſtiſche Brombeere, die ich drei Jahre früher am Rhein kennen gelernt hatte. Hier ſah ich alſo eine Pflanze vor mir, die ihren Typus in verſchiedenen Gegenden treu zu bewahren ſchien, vie aber von den meiſten Botanikern nur für eine „Varietät“ des Rubus fruticosus ge— halten wurde. Es lag daher die Ver— muthung nahe, daß R. tomentosus eine halb fertige Art oder eine der wirklichen „Species“ ſchon ſehr genäherte Mittelform oder Uebergangsſtufe zwiſchen Varietät und Art ſein möchte. Dieſer Umſtand erregte mein lebhafteſtes Intereſſe, ſo daß ich ſofort mit einer genaueren Unterſuchung der öſter— reichiſchen Brombeeren den Anfang machte. Freilich überzeugte ich mich bald, daß meine Vermuthung in Betreff des R. tomentosus irrig geweſen war, da ſich derſelbe in jeder Beziehung wie eine durchaus ſelbſtändige Art verhielt. Indeſſen fand ich nicht nur einige weitere Brombeertypen, die eine beträchtliche Verbreitung beſaßen und mir wirkliche Arten Rechte als den R. tomentosus für Mittel ſtufen zwiſchen Varietäten und Arten halten durfte. Endlich entdeckte ich auch unfrucht— bare Zwiſchenformen, deren Baſtardnatur mir nicht zweifelhaft ſein konnte. Als ich nun die ſo gewonnenen Anſichten wäh— rend der folgenden Jahre in Norddeutſch— land zu prüfen ſuchte, machte ich die Wahr— nehmung, daß die Brombeeren der nieder— deutſchen Ebenen von den öſterreichiſchen weit mehr abwichen, als ich vorausgeſetzt hatte. Dieſer Umſtand war der Vorſtellung, daß es ſich in der betrachteten Formen— gruppe vielfach um werdende Arten handle, nicht ungünſtig. Durch die Bekanntſchaft mit Darwin's „Entſtehung der Arten“ gewannen dieſe Anſchauungen eine feſtere Geſtalt. Die Fülle von Stoff, welche der große Naturforſcher in jenem Werke der Wiſſenſchaft bot, ſowie die neuen Geſichtspunkte, unter welchen er die Thatſachen betrachtete, mußten auf Jeden, der ſich bereits mit den dort behandelten Fragen näher beſchäftigt hatte, einen außer— ordentlichen Eindruck machen. Ich erhielt dadurch eine wirkſame Anregung, die be— gonnenen Brombeerſtudien mit neuem Eifer aufzunehmen. Wenn ich auch bald erkannte, daß zu Unterſuchungen über das Weſen der Arten andere Formenkreiſe ſich beſſer eig— nen dürften als die Brombeeren, jo mahn— ten mich gerade die ungewöhnlichen Schwie— rigkeiten des einmal gewählten Arbeitsge— bietes zur Ausdauer. Es erwies ſich bald als unerläßlich, mich ſchon um der Rubi willen mit einer ganzen Reihe von bio— logiſchen Fragen eingehend zu beſchäftigen, ſo wie Seitenblicke auf zahlreiche andere formenreiche Pflanzengruppen zu werfen. Jetzt, nach zwanzigjährigen Brombeerſtudien, habe ich mich entſchloſſen, über die Ergeb— niſſe dieſer Unterſuchungen Rechenſchaft ab- zu einer Schilderung der Formenkreiſe zulegen. Ich bin weit entfernt, die Auf— gabe durch Veröffentlichung der betreffenden Schrift (Synopsis Ruborum Germaniae) als gelöſt zu betrachten, glaube vielmehr, daß das von mir zunächſt erſtrebte Ziel, die Analyſe des ehemaligen Sammelbegriffs Rubus fruticosus, nur der Ausgangs— punkt für eine ſtreng wiſſenſchaftliche For— ſchung iſt. Die einfache Beobachtung wird freilich zunächſt wenig mehr leiſten können, als daß ſie zu den Hunderten bekannter Formen neue Hunderte hinzufügt. Darin würde ich an und für ſich keinen großen Gewinn erblicken. Zum Zweck einer wirk— lichen Förderung unſerer wiſſenſchaftlichen Einſicht werden wir einen andern Weg, nämlich den der experimentalen Prüfung, betreten müſſen. Die Frage nach dem Weſen und der Entſtehung der Arten iſt eine ſo vielſeitige und verwickelte, daß es kaum zweckmäßig ſein dürfte, dieſelbe innerhalb des Rahmens eines einzelnen Aufſatzes nach allzu verſchie— denen Richtungen zu erörtern. Schon die Unterſuchung der Brombeeren bietet man— nichfaltige Geſichtspunkte, von welchen aus die einzelnen Seiten des Gegenſtandes be— trachtet werden können. Eine Beſchränkung ſcheint daher in Bezug auf die zu beſpre— chenden Fragen unumgänglich nothwendig zu ſein, während andrerſeits die in der Gattung Rubus beobachteten Thatſachen nur dann richtig gewürdigt werden können, wenn ſie mit analogen Erſcheinungen innerhalb anderer Formengruppen verglichen werden. Ich möchte daher zunächſt auf einige all- gemeine Eigenſchaften der Arten oder Formenkreiſe aufmerkſam machen, und zwar auf ſolche, deren Berückſichtigung mir für das Verſtändniß der bei den Brom— Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche. 117 beeren zu beobachtenden Verhältniſſe beſon— ders wichtig erſcheint. Sodann werde ich unter unſeren deutſchen Brom— beeren und ihrer gegenſeitigen Beziehungen übergehen. Daran wird ſich eine Ver— gleichung der entſprechenden bei andern Artengruppen beobachteten | Thatſachen reihen; endlich werde ich die Ergebniſſe dieſer Studien kurz zu- ſammenfaſſen, und auf den Weg hinwei— ſen, deſſen Verfolgung weitere Aufſchlüſſe verſpricht. Die allgemeinen Eigenſchaften der Arten, die mir bei einer Würdigung der in der Gattung Rubus beobachteten Thatſachen beſonders beachtenswerth erſchei— nen, ſind insbeſondere die Ungleich— werthigkeit der Arten und die rein relative Bedeutung jedes einzel— nen Axtbegriffs. Vorher will ich nur kurz hervorheben, daß die allgemeine Be— zeichnung „Varietät“ wiſſenſchaftlich völlig werthlos iſt. Als Varietäten hat man indi— viduelle Abänderungen, durch den Standort bedingte Zuſtände, Krankheitsprodukte, Miß— bildungen, Baſtarde, unbeſtändige Spiel— arten und conſtante Racen in buntem Ge— menge neben einander aufgeführt. Nur die in der Folge der Generationen durch be— ſtändig wiederkehrende Merkmale ausge— zeichneten „Racen“ können bei Unter— ſuchungen über die Speciesfrage neben den „Arten“ in Betracht kommen. Durch deutliche Unterſchiede charakteriſirte Racen, von denen mehrere einander nahe verwandte den Formenkreis einer Art in weiterem Sinne (Geſammtart) zuſammenſetzen, nenne ich Unterarten. Daß die Racen andrer— ſeits durch unmerkliche Uebergänge mit den Spielarten, individuellen Abänderungen und Baſtarden zufammenhängen, braucht wohl 5 118 Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche. kaum erwähnt zu werden. — Was nun den Artbegriff ſelbſt betrifft, ſo ſind be— kanntlich die Meinungen darüber ſehr ge— theilt, ob die alten, oft viele Racen um— faſſenden Species oder die neuerdings ſchärfer unterſchiedenen Unterarten und Racen die wahren und echten Arten ſind. Nur vom Standpunkte der Conſtanzhypotheſe kann man dieſer Frage ein wiſſenſchaftliches In— tereſſe abgewinnen, da ſie in Wirklichkeit nur eine rein formale Wichtigkeit hat. Es ſchließt ſich indeß an die Unterſcheidung der Unterarten und Geſammtarten die Frage nach der Natur des Artbegriffs an, da die Anhänger der Conſtanzhypotheſe die Arten für geſchloſſene Complexe, für abſo⸗ lute Weſenheiten halten. Ein Blick auf die thatſächlichen Verhältniſſe zeigt jedoch, daß der Artwerth eines Formenkreiſes niemals an und für ſich, ſondern ſtets nur unter Bezugnahme auf andere Formenkreiſe be— ſtimmt werden kann. Jede pflanzenform, die heut. als Unterart oder nach bisherigem Sprachgebrauche als „Varietät“ erſcheint, würde ſofort den Rang einer „guten Art“ erhalten, wenn die andere Form, der ſie untergeordnet oder nebengeordnet wird, nicht mehr exiſtirte. Der Artwerth iſt daher ein relativer Begriff; er wird abgemeſſen nach der Weite der Kluft, welche den un— terſuchten Formenkreis von andern Formen— kreiſen trennt. Indeß möchte ich die Ungleichwerthig— keit der Arten noch etwas ausführlicher beſprechen, da das gewöhnliche Verfahren der Syſtematiker, die Arten gleichberechtigt neben einander aufzuführen, die wirklichen Thatſachen ſehr unvollkommen zum Aus— druck bringt. Die Arten ſind ungleich— werthig in Beziehung auf Selbſtändigkeit, Umgrenzung, Bildſamkeit, Formenreichthum, Individuenzahl und Verbreitung; dieſe Un— gleichwerthigkeit beruht nicht etwa auf Män— geln unſeres Unterſcheidungsvermögens, ſon— dern ſie iſt eine natürlich begründete; ſie bleibt beſtehen, ob man weite oder enge Arten annimmt, ob man die Grenzen zwiſchen ihnen hierhin oder dorthin ver— ſchiebt. Wenn ſich die Thatſache der Ungleich— werthigkeit der Arten zunächſt auch nur aus der unmittelbaren Beobachtung ergiebt, ſo ſprechen doch zwingende Gründe dafür, daß dieſe Ungleichheiten nicht zufällig entſtanden ſind, ſondern ſtets auf Naturnothwendigkeit beruhen und in jedem einzelnen Falle mit der geſchichtlichen Entwickelung der betreffen— den Formenreihe zuſammenhängen. Aller- dings ſetzt die Abſtammungslehre voraus, daß die organiſchen Geſtalten bildſam und wandlungsfähig ſind, jedoch nur im Sinne geſetzmäßiger Fort- oder Rückbildung. Dieſe Anſchauungsweiſe ſchließt durchaus nicht die Anerkennung der Thatſache aus, daß es Arten giebt, welche gegenwärtig ſtreng un— veränderlich ſind, wenn auch angenommen werden muß, daß fie ihre Biegſamkeit erſt im Laufe ihrer geſchichtlichen Entwickelung verloren haben. Wie von den menſchlichen Bauwerken, welche zur Römerzeit in Deutjch- land ſtanden, faſt nichts mehr erhalten iſt, ſo ſind auch die Pflanzenformen des mio— cänen Alters bis auf ſpärliche Ueberbleibſel von der Erdoberfläche verſchwunden. Frei— lich giebt es einzelne Ausnahmen: Wie eine Porta nigra ragt z. B. das miocäne Taxo- dium distichum in die Gegenwart hinein. Es fragt ſich nun, ob ſich der Vergleich weiter ausführen läßt, ob man glauben darf, daß die miocänen pflanzlichen Zeitge— noſſen des Taxodium zerſtört, die moder— nen inzwiſchen aus anorganiſchen Stoffen auf- gebaut worden ſind, wie es ſeit den Römer— tagen mit menſchlichen Bauwerken geſchehen iſt? Wer etwa geneigt fein ſollte, dieſe Frage zu bejahen, wird zunächſt wohl daran thun, die miocänen und pliocänen Tulpenbäume, Platanen, Amberbäume, Kaſtanien, Buchen und Lorbeeren mit den lebenden zu vergleichen. Wenn man die Abſtammung des heutigen Taxodium von feinen miocänen Vorfahren für ſelbſtver— ſtändlich hält, ſo iſt kein Grund vorhanden, weshalb man die Vorläufer der heutigen Vertreter der andern genannten Baumgat— tungen nicht für deren wirkliche Vorfahren oder Stammväter halten will. Der Grad der Verſchiedenheit zwiſchen der alten und neuen Form iſt beim Taxodium faſt gleich Null, erreicht aber in andern Gattungen allmälig etwas höhere Werthe. Nirgends zeigt fi die Möglichkeit einer ſcharfen Ab— grenzung. Analog den zeitlich getrennten Lebensformen der Vorzeit und Gegenwart verhalten ſich auch die räumlich getrennten verwandten Formenkreiſe, welche wir noch heute neben einander beobachten können und an denen wir vergebens nach den Grenzen ſuchen, wo die Varietät aufhört, die neue Art anfängt. Dieſe Betrachtungen, die ſich leicht weiter fortführen laſſen, müſſen nothwendig den lebhaften Eindruck hinterlaſſen, daß die Arten ihrem innerſten Weſen nach ungleich— werthig find. Das altehrwürdige Taxo- dium dürfen wir gewiß mit vollem Rechte für eine wirklich conſtante und unveränder— liche Art halten; wir haben nicht den geringſten Grund zu vermuthen, daß es fähig ſein wird, in Zukunft Aenderungen einzugehen, da wir wiſſen, daß es ſeit unabſehbar langer Zeit un— verändert geblieben iſt. Wir müſſen ferner zahlreiche andere Formen nach hiſtoriſchem Maße für conſtant halten, da wir wiſſen, daß ſie ſchon in oder vor der Diluvialzeit vorhanden waren, ſich alſo während geo— | Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche. 119 logiſch meßbarer Zeitabſtände als beſtändig bewährt haben. Leichte Abweichungen, wel— chen man bei lebenden Pflanzen nicht ſelten ſpecifiſchen Werth beilegt, laſſen ſich freilich an dem foſſilen Material gewöhnlich nicht erkennen. Merkwürdiger Weiſe kommen die Anhänger der Hypotheſe von der Conſtanz der Species noch immer darauf zurück, daß das Stroh in altägyptiſchen Ziegeln ebenſo ausſieht wie heutiges Stroh. Man braucht aber in der Vergangenheit gar nicht weit über das Pyramidenalter hinauszugehen, um organiſche Bildungen anzutreffen, die keineswegs mehr vollkommen mit den heu— tigen Lebensformen übereinſtimmen. Schon auf das Zeugniß der Pfahlbauten kann man ſich nicht mehr ſo unbefangen berufen, wie auf das des Pharaonenſtrohs, wenn man für die Unveränderlichkeit der Arten plädiren will; jeder Schritt weiter rückwärts führt uns merklich näher an das Zeitalter fremdartiger Thier- und Pflanzentrachten heran. Die ſprechenden Beweiſe für die Con— ſtanz und für die Plaſticität der Typen findet der Forſcher auf jedem Wege, den er verfolgt, neben einander vor. Merk— würdiger Weiſe iſt die geiſtige Organiſa— tion vieler Menſchen ſo beſchaffen, daß Manche nur die erſte Reihe von Thatſachen als beachtenswerth aufnehmen, während Anderen nur die zweite in's Auge fällt. Die unbefangene Forſchung wird beide Er— ſcheinungen als Folgen von Erblichkeit und Variabilität zu würdigen wiſſen und wird beide für das Verſtändniß der Entwickelungs⸗ geſchichte der Arten verwerthen. Die vorſtehenden Bemerkungen über Artbegriff und Artwerth dürften dazu die⸗ nen, die Bedeutung der ſpeciellen Unter- ſuchungen über die deutſchen Brom— beerformen ſchärfer zu beleuchten. Die 5 120 Thatſachen, welche man ſonſt nur im Ueber— beobachten kann, treten auf dem engen Ge— biete der Brombeerforſchung ſchon in der Gegenwart und innerhalb kleiner Areale hervor. Deutſchland iſt nicht groß genug und klimatiſch zu wenig gegliedert, um innerhalb der Landesgrenzen den Umfang der Variation der Arten beſonders häufig und deutlich zu zeigen. Frankreich und Oeſterreich-Ungarn ſind in dieſer Beziehung mehr begünſtigt. Die Brombeeren ſind in— deß ſchon auf kleinen Arealen durch Formen von offenbar völlig verſchiedenem Artwerth und verſchiedener Beſtändigkeit vertreten. Die Brombeeren ſind allbekannte Pflan— zen; über ihre Eigenthümlichkeiten möchte ich nur bemerken, daß ſie ſehr langlebig ſind und das Vermögen beſitzen, ſich durch Wurzelbrut oder durch einwurzelnde Schöß— linge zum Theil ſehr ſchrell auf vege⸗ tativem Wege auszubreiten. Ihre offenen Blüthen werden von mancherlei Inſecten beſucht, welche theils eine Fremdbeſtäu— bung, theils eine Selbſtbefruchtung vermit— teln. Als Arten unterſchied Linné den Rubus caesius und Rubus fruticosus, welche jedoch durch Uebergangsformen ver— bunden ſind. Gewöhnlich haben die Botaniker Alles, was nicht deutlicher R. caesius war, R. fruticosus genannt. Die Himbeere, R. Idaeus, kommt bei Unterſuchungen über die (ſchwarzfrüchtigen) Brombeeren zunächſt nicht in Betracht. 5 Die erſte Frage, welche bei einer Um— ſchau über die Formenkreiſe der deutſchen Rubi zu beantworten iſt, wird die nach Brombeeren ſein. Conſtanzlehre, welche, wie z. B. Wigand Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche. blick über große Raum- und Zeit-Abſchnitte der ſpecifiſchen Einheit oder Vielheit unſerer | Es giebt Anhänger der (Darwinismus I, ©. 23), behaupten, alle einheimiſchen Brombeeren ſeien nur Varie— täten einer Art, ſeien alſo nach der Con— ſtanzdoctrin aus einer einzigen Stammform hervorgegangen. Wenn ſich dieſe Anſicht thatſächlich beweiſen ließe, ſo würde die Ent— wickelungslehre einen großen Triumph feiern. Wer die Möglichkeit zugiebt, daß ſo ver— ſchiedene Pflanzenformen, wie die euro— päiſchen Brombeeren, ſich binnen eines ge— gegebenen Zeitraums aus einer einheitlichen Stammart entwickeln können, wird nur einer entſprechend längeren Zeit bedürfen, um fi die Differenzirung urſprünglich homo— gener Formenkreiſe in verſchiedene Unter— gattungen und Gattungen als möglich zu denken. Dadurch würde er mitten in der Entwickelungstheorie ſtehen. Um einen Begriff zu geben von dem wirklichen Betrage der Unterſchiede zwiſchen den vermeintlichen „Varietäten“ des Lin— neben Kubus fruticosus, ſei hier nur bemerkt, daß der geſchulteſte Syſtematiker, der ſich noch nicht mit der Gattung Rubus beſchäftigt hat, außer Stande ſein würde, in einer gemiſchten Sammlung europäiſcher und verwandter amerikaniſcher Brombeeren zu beſtimmen, was europäiſcher Kubus fruticosus und was „gute amerikaniſche Species“ iſt. Wenn auch für die experimentale For- ſchung über die Formenkreiſe der Brombeeren noch ſehr viel zu thun übrig bleibt, ſo laſſen doch die Beobachtungen in der freien Natur kaum einen Zweifel übrig, daß ſich zahlreiche Brombeerformen ſexuell ganz wie verſchiedene Arten verhalten. Obgleich ſolche verſchiedene Formen dicht verſchlungen durch einander wachſen, obgleich zahlreiche In— ſecten ohne Wahl von Blüthe zu Blüthe fliegen, findet nur ausnahmsweiſe Arten- kreuzung ſtatt. Die intermediären und allem Anſchein nach hybriden Formen dagegen, welche dennoch nicht ſelten entſtehen, zeigen meiſtens, ganz wie die Artbaſtarde, eine ſehr verminderte Fruchtbarkeit. — Die Frage, ob die europäiſchen Brombeeren eine einzige Art bilden, dürfte damit wohl als erledigt zu betrachten ſein. Eine Vereinigung iſt nach allen ſyſtematiſchen Regeln unmöglich, mag man auch den Artbegriff ſo weit faſſen, wie man will. Während es demnach nicht zweifelhaft fein kann, daß es mehr als eine europäiſche Brombeerart giebt, iſt es andrerſeits voll— ſtändig unmöglich, zu ſagen, wie groß deren Zahl eigentlich iſt. Wenn man den Verſuch machen will, ſich eine annähernde Ueberſicht über dieſe Formen zu verſchaffen, ſo wird man zunächſt die ausgezeichnetſten Typen herausheben müſſen. Gewiß wird man allgemein anerkennen, daß die durch aus— geprägte morphologiſche und biologiſche Eigenthümlichkeiten charakteriſirten Formen vor allen Dingen Beachtung verdienen; in zweiter Linie wird man auch Häufigkeit, Umfang des Wohngebiets, Beſtändigkeit, ſcharfe Umgrenzung und Fruchtbarkeit in Betracht ziehen. Nach ſolchen Grundſätzen geſichtet, habe ich in Deutſchland 34 ver— breitete und gut charakteriſirte Arten unter ſchieden, von denen jedoch drei keine ho— mogenen Formenkreiſe, ſondern Sammelarten darſtellen. Dieſen 34 Arten ſchließen ſich zunächſt 30 weitere Arten an, welche in ihrer Tracht und ihren Eigenſchaften kaum weniger ſelbſtändig erſcheinen, aber noch nicht als über größere Gebiete verbreitet nachgewieſen ſind. Zählt man ſtatt der drei Sammelarten die wichtigeren Unterarten mit, in welche dieſelben zerfallen, ſo erhält man im Ganzen etwa 80 bemerkenswerthe Formenkreiſe unter den deutſchen Brombeeren. Bei ge— nauerer Bekanntſchaft mit der ſüddeutſchen Rubus-Flora wird ſich dieſe Zahl noch er— heblich vermehren, jo daß man annehmen Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche. 121 kann, daß in Deutſchland im Ganzen etwa 100 ſelbſtändige und einigermaßen ver— breitete Brombeerarten vorhanden ſind. Es bleibt indeß unter allen Umſtänden die Grenzlinie zwiſchen den wichtigeren und den unwichtigen Arten eine willkürliche. — Offenbar wird aber für Denjenigen, der ſich in dem Formengewirre zunächſt nur orientiren will, das Bedürfniß nach einer genügenden Würdigung der aus der Be— trachtung vorläufig ausgeſchloſſeuen Formen— kreiſe ſehr gering ſein, da es ihm ſicherlich viel mehr auf eine weitere Auswahl oder Ordnung unter den 100 oder 80 oder 34 wichtigeren Arten ankommt. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß überhaupt nur von fruchtbaren und ſamenbeſtändigen Arten die Rede ſein kann; freilich war es bisher un— möglich, die Beſtändigkeit jeder einzelnen Form durch Maſſenausſaat der Früchte von Blüthenzweigen, die vor Hybridiſation geſchützt waren, zu prüfen, allein die bisher vorliegenden Erfahrungen geſtatten nicht, an der Conſtanz jener Arten zu zweifeln. Während nun die wichtigeren Brombeerarten ſich in Fruchtbarkeit und Stetigkeit durchaus wie normale Species verhalten, zeigen ſie eine bemerkenswerthe Anomalie in der Be— ſchaffenheit ihres Blüthenſtaubes. Derſelbe beſteht nämlich meiſtens nicht aus lauter gleichartigen, regelmäßigen Körnern, ſondern enthält neben ſolchen wohlgebildeten Be⸗ ſtandtheilen eine größere oder geringere Beimiſchung von verkümmerten, mißgeſtalteten oder doch unregelmäßig geformten Körnern, die bei Befeuchtung oft nur unvollkommen aufquellen. Nur drei deutſche Brombeer⸗ arten, nämlich R. ulmifolius, tomentosus und caesius, machen eine Ausnahme, indem bei ihnen die Pollenkörner ganz regelmäßig gebildet ſind. Die Beſchaffenheit des Blüthen⸗ ſtaubes der andern Arten iſt genau dieſelbe, 122 wie man fie bei fruchtbaren Baſtarden an— zutreffen pflegt. Bei unfruchtbaren, offenbar hybriden Brombeerformen iſt der Blüthen— ſtaub manchmal aus lauter verſchrumpften ſein, zu glauben, daß außer den drei ge— nannten Arten alle andern deutſchen Brom— beeren hybriden Urſprungs ſeien. Bei dieſer Annahme ſtößt man indeß auf die Schwierigkeit, daß man keine Stammarten teriſirten Arten mit ungleichkörnigem Blüthen— ſtaub möglicherweiſe ableiten könnte. Man ſähe ſich daher zu der mißlichen Ver— muthung gedrängt, daß die meiſten ur— ſprünglichen Stammarten unſerer heutigen Brombeeren ausgeſtorben ſeien. Es würde viel zu weit führen, wenn ich hier die Frage nach der Bedeutung des irregulären Blüthen- Die wichtigſten derſelben ſind unzweifelhaft ſtaubes ausführlich erörtern wollte, zumal da es nicht möglich iſt, ſich mit Beſtimmtheit über die Urſachen dieſer Erſcheinung aus— zuſprechen. Gewiß iſt nur ſo viel, daß die drei Brombeerarten mit regulärem Pollen durch ausgeprägte Eigenthümlichkeit und weite Verbreitung alle andern Arten über— treffen. Ganz ſcharf ſcheint indeß die Grenzſcheide zwiſchen den Arten mit gleich- körnigem und denen mit ungleichkörnigem Blüthenſtaub nicht zu ſein. Es giebt z. B. eine Brombeerart, welche ich R. gratus genannt habe, in deren Blüthenſtaub die Beimiſchung der verbildeten Körner ſo gering iſt, daß ſie für zufällig gehalten werden könnte. Dieſe Art zeigt keinerlei nähere Verwandtſchaft mit einer jener drei Haupt⸗ arten mit regulärem Pollen; ſie iſt aber bis jetzt erſt innerhalb eines ſehr mäßigen Verbreitungsbezirkes nachgewieſen, deſſen äußerſte Punkte Lübeck und Aachen ſind. Zwar reicht das Wohngebiet des K. gratus wahrſcheinlich viel weiter, allein es bleibt Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche. nichtsdeſtoweniger ein beſchränktes. An R. gratus reiht ſich im Hinblick auf die Beſchaffenheit des Blüthenſtaubes zunächſt R. Arrhenii an, eine trefflich charakteriſirte, Körnern gebildet. Man könnte nun geneigt aber bisher nur zwiſchen Flensburg und Burgſteinfurt nachgewieſene Art. Dann folgt etwa R. sulcatus, der allerdings in faſt ganz Mitteleuropa vorzukommen ſcheint. Nach der Verbreitung geordnet, würden ſich indeß andere Formenkreiſe (R. bifrons, vorfindet, von welchen man die beſtcharak— villicaulis, plicatus, suberectus, vestitus, rudis, Bellardii, hirtus u. ſ. w.) neben dem R. suleatus als die wichtigſten an die Arten mit regulärem Pollen anreihen. Noch etwas anders ſtellt ſich die Sache, wenn man im Anſchluß an die bisher be— trachteten Verhältniſſe nach den Arten mit den ausgeprägteſten Eigenſchaften, alſo nach den am meiſten differenzirten Typen ſucht. unter den bereits genannten Arten vertreten, aber es giebt auch manche gut umgrenzte Arten mit ſehr kleinem Wohngebiete. Ohne in die ſpeciellere Unterſuchung dieſer Verhältniſſe näher eingehen zu wollen, will ich nur erwähnen, daß ich außer den drei Arten mit regulärem Pollen ſechs weitere Grundtypen aufgeſtellt habe, an welche ſich die ſämmtlichen deutſchen Brom⸗ beeren anreihen laſſen. Dieſe Grundtypen ſind zum Theil durch eine Anzahl nahe verwandter, wohlcharakteriſirter, einander ziemlich gleichwerthiger Arten repräſentirt. In andern Fällen reihen ſich an einen Grund— typus ähnliche, aber eigenthümlich ent⸗ wickelte und mehr iſolirt daſtehende Arten an, welche ich als Nebentypen bezeichnet habe. Die große Maſſe der übrigen deutſchen Brombeeren beſteht indeß aus Mittel- formen. Dieſe Mittelformen ſind gewiß keine einfachen Baſtarde, ſondern ſind durch Verbreitung, Beſtändigkeit und Fruchtbarkeit Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche. 123 als wirkliche Arten charakteriſirt, obgleich die Vermuthung nahe liegt, daß ſie ſich urſprünglich einmal aus Baſtarden ent— wickelt haben. — Es giebt nun alle denk— baren Mittelſtufen zwiſchen weitverbreiteten beſtändigen Arten einerſeits und ganz lokal auftretenden Formen und Abänderungen andrerſeits; auch dürfte es ſchwer ſein, zwiſchen Arten und Baſtarden eine ſcharfe Grenze zu finden, wenn auch in der Mehr— zahl der Fälle eine Unterſcheidung ſehr wohl möglich iſt. — Eine genaue Schil— derung ſämmtlicher vorhandenen Formen— kreiſe würde für die menſchlichen Faſſungs— kräfte in höchſtem Maße verwirrend ſein. Nur wenn man Weſentliches und Unweſent— liches zu ſondern, nur wenn man die wich— tigeren und dauernden Erſcheinungsformen überſichtlich zu gruppiren verſteht, kann man das Verſtändniß der naturhiſtoriſchen That— ſachen fördern. Von dieſen Erwägungen geleitet, habe ich jeder einzelnen Brombeerart, welche ich keunen lernte, mit Rückſicht auf ihre Selbſt— ſtändigkeit, Verbreitung, Abgrenzbarkeit u. ſ. w. einen beſtimmten Artwerth zuge theilt. Im Ganzen habe ich ſechs Werth— ſtufen unterſchieden, von denen die erſte nur die drei weitverbreiteten Arten mit gleich— körnigem Blüthenſtaub umfaßt, die zweite dagegen die verbreiteten und beſtcharakteri— ſirten Arten mit ungleichkörnigem Blüthen— ſtaub. Die vierte Stufe enthält die aus— gezeichnetſten Formen, welche bisher nur in beſchränkter Verbreitung nachgewieſen ſind; in die dritte, welche in der Zukunft vielleicht entbehrlich werden wird, ſtelle ich die aus bekannten über deren Zugehörigkeit zur etwas größeren Wohngebieten Formen, zweiten oder vierten Klaſſe ich zweifelhaft bin. Die fünfte Werthſtufe enthält die ge‘ wöhnlichen Lokalracen, die ſechſte endlich iſolirt vorkommende Sträucher, muthmaßliche Hybride und Abänderungen zweifelhaften Urſprungs, überhaupt ſolche Formen, deren Samenbeſtändigkeit unwahrſcheinlich iſt und die deßhalb nicht als Arten oder Racen be— trachtet werden können. Obgleich ſich die Stellung vieler Arten nach dem Maße unſerer Kenntniſſe über ihre Conſtanz und Verbreitung nothwendig ändern muß, obgleich außerdem in vielen Fällen die Beſtimmung des Artwerthes ziemlich willkürlich iſt, glaube ich, daß der von mir eingeſchlagene Weg die einzige Möglichkeit bietet, das Conglomerat von Formen, welches bisher als Rubus fruti- cosus bezeichnet wurde, zu entwirren. Aus— drücklich betonen möchte ich noch den Um— ſtand, daß bei der vielſeitigen Verwandt— ſchaft der meiſten Formenkreiſe unter ein— ander durch Zuſammenfaſſen der Racen nur in wenigen Fällen einigermaßen nas türliche und definirbare Geſammtarten oder Sammelarten gebildet werden können. Zu näherer Charakteriſtik der von mir angenommenen Arten ſind noch drei ver— ſchiedene Eigenthümlichkeiten derſelben zu beſprechen, nämlich ihre Umgrenzung, Variabilität und Vergeſellſchaftung. Im Allgemeinen kann man behaupten, daß der größere Theil der Arten, welche den erſten vier Werthſtufen angehören, gut ab— gegrenzt iſt. Allerdings giebt es manche Formen, welche ſich einem Arttypus ſehr nahe anſchließen und von denen man nicht weiß, ob ſie einfache Abänderungen oder Miſchlinge oder ſich ſelbſtändig entwickelnde Nebenformen ſind. Man kann indeß nicht behaupten, daß directe Uebergänge zwiſchen zwei im Allgemeinen getrennten Formen— kreiſen irgendwie häufig ſind. — Sehr ver— ſchieden verhalten ſich die einzelnen Arten in Bezug auf Variabilität. Bei va— | | riabeln Arten wird man ſich immer die Frage vorlegen müſſen, ob man es wirklich mit einem weſentlich homogenen Formen— kreiſe oder mit einer Sammelart zu thun hat. In der That habe ich mich veranlaßt geſehen, mehrere Sammelarten aufzuſtellen, deren einzelne Beſtandtheile ich freilich zu ſondern bemüht war, aber nicht mit voll— ſtändigem Erfolge. Unter den übrigen Arten iſt der Grad der Variabilität ſehr ver— ſchieden. Den R. tomentosus (eine Art mit gleichkörnigem Blüthenſtaub) könnte man wohl in verſchiedene Arten oder Unter— arten ſpalten, zumal die äußerſten Glieder ſeines ganzen Formenkreiſes einander in der That recht fern ſtehen. Die Gründe für ein Zuſammenfaſſen der Formen ſcheinen mir jedoch überwiegend zu ſein. Unter den ver breiteten Arten mit ungleichkörnigem Blüthen— ſtaub zeigen ſich manche ſehr beſtändig, andere dagegen mehr oder minder veränder— lich. In einzelnen Fällen ſcheinen die Ab— änderungen durch ſtandörtliche Verhältniſſe bedingt zu ſein; in der Regel ſcheinen ſie auf Racenunterſchiede und beginnende Diffe— renzirung zu deuten. Zuweilen ſcheint eine Art in gewiſſen Gegenden durch zwei ihr nahe ſtehende Unterarten vertreten zu ſein, zwiſchen maßen die Mitte hält. In Bezug auf Vergeſellſchaftung zeigt ſich folgendes Verhalten. Wenn man innerhalb einer Lokalflora die Corylifolii Orthacanthi und Sepincoli ausſcheidet, welche Mittelformen zwiſchen R. caesius und ſämmtlichen andern Arten umfaſſen, wenn man ferner die offen— baren Baſtarde des R. tomentosus und anderer Arten, die iſolirten, nur in ein— zelnen Sträuchern oder Strauchgruppen ge- fundenen Formen, ſo wie endlich die man— gelhaft fruchtenden Exemplare unberückſichtigt läßt, ſo behält man innerhalb des Gebietes welchen die Hauptart gewiſſer⸗ Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche. jeder Lokalflora eine mäßige Zahl von gut charakteriſirten Racen übrig, die entweder überhaupt oder wenigſtens innerhalb des unterſuchten Gebietes eine beträchtliche Ver— breitung zeigen. Für das mittlere und weſtliche Deutſchland beträgt die Zahl der innerhalb der Grenzen einer Lokalflora vor— handenen wohl zu unterſcheidenden Arten zwiſchen 15 und 40; für Oſtdeutſchland iſt ſie geringer. Die Unterſcheidung der Arten, welche ſich in kleineren Bezirken neben einander finden, pflegt keineswegs beſonders ſchwierig zu ſein, da an jedem einzelnen Orte die Grenzen viel ſchärfer hervortreten, als bei Berückſichtigung ſämmt— licher Abänderungen, die auf größeren Arealen vorkommen. Viele Eigenthümlich— keiten und Merkmale, die an einem einzelnen Orte ſehr ausgeprägt hervortreten, verlieren ſich, ſobald man die Verbreitung einer Art weiter verfolgt, während der Typus, die Geſammtheit der Eigenſchaften, im Weſent— lichen unverändert bleibt. Faſſen wir ſchließlich die wichtigſten Eigenſchaften der Arten innerhalb der Gruppe der ſchwarzfrüchtigen europäiſchen Rubus-Arten, ſoweit ſie in Deutſchland vertreten iſt, zuſammen, ſo gelangen wir zu folgenden Ergebniſſen: 1) Es giebt in Deutſchland drei Brom- beerarten mit gleichkörnigem Blüthenſtaub; dieſe Arten bewohnen ausgedehnte Land— ſtriche außerhalb Deutſchlands, wenn auch nur eine durch das ganze Gebiet des deut— ſchen Reiches verbreitet iſt. Die Mittel— formen zwiſchen dieſen drei Arten ſind ein— fache Baſtarde von ſehr geringer Frucht— barkeit. 2) Es giebt außerdem eine beträchtliche Zahl von Brombeeren, welche trotz mehr oder minder ungleichkörnigen Blüthenſtaubes in jeder Beziehung, insbeſondere durch Fruchtbarkeit, Samenbeſtändigkeit und an— ſehnliche Verbreitung, als wohlcharakteriſirte Arten erſcheinen. 3) Es giebt ferner eine außerordentlich große Zahl von Brombeerracen, welche zwar fruchtbar ſind und ſamenbeſtändig zu ſein ſcheinen, aber eine mehr oder minder be— ſchränkte Verbreitung beſitzen und ſich mei— ſtens nur durch geringfügige Merkmale von den nächſtverwandten andern Arten unter— ſcheiden laſſen. Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche. | 4) Es giebt endlich unter den Brom⸗ beeren eine große Zahl von Uebergangs⸗ formen, welche zwiſchen zwei Arten in der Mitte ſtehen und welche zum Theil als einfache Baſtarde, zum Theil als aus Baſtarden abgeleitete, mehr oder minder beſtändige Arten (Blendarten) erſcheinen. 5) Eine beſtimmte Grenze zwiſchen den verbreiteten Arten einerſeits, den Lokalarten, Blendarten und Baſtarden andrerſeits iſt nicht vorhanden, vielmehr kommen alle denk— baren Zwiſchenſtufen in großer Häufig⸗ erhalten pflegt, welche bei wilden Pflanzen keit vor. 6) Im Gebiete jeder Lokalflora ſind die dort wachſenden fruchtbaren und beſtän— digen Formen in der Regel gut gegen ein— ander abgegrenzt. 7) Die leichte Vermehrung auf vegeta— tivem Wege begünſtigt bei den Brombeeren minder zeigen aber auch andere Culturge— eine dauernde Erhaltung jeder einmal ge— bildeten Form, mag ſie nun fruchtbar oder unfruchtbar, ſamenbeſtändig oder bei Aus— ſaat variabel ſein. 8) Blüthenbau und Vergeſellſchaftung begünſtigen bei den Brombeeren eine häufige Kreuzung der Arten und Racen. Nachdem ich die geſchilderten Eigenthüm⸗ lichkeiten der Brombeerarten kennen gelernt hatte, neigte ich mich Anfangs dem Glauben zu, daß die Gattung Rubus eine Aus— nahmeſtellung in der Natur einnehme. Ein fortgeſetztes Studium hat mir gezeigt, daß dieſe Meinung nicht richtig war, daß viel— mehr die Polymorphie in der Gattung Rubus ſich nicht dem Weſen, ſondern nur dem Grade nach von den Formenreihen anderer Artengruppen unterſcheidet. Die auffallendſten Aehnlichkeiten mit den Verhältniſſen der Gattung Rubus zeigen zunächſt manche Culturpflanzen, na= mentlich viele unſerer Obſtbäume. Auch bei den Aepfeln, Birnen, Pflaumen und Kirſchen ſind Arten und Racen ſchwer aus— einander zu halten; auch bei ihnen enthält der Blüthenſtaub vielfach verbildete Körner; auch bei ihnen findet eine ausgiebige Ver— mehrung auf vegetativem Wege ſtatt. Da⸗ gegen iſt hervorzuheben, daß der Grad der Verſchiedenheiten innerhalb jeder Obſtgat— tung weit geringer iſt als in der Gruppe der europäiſchen Brombeeren; auch darf man nicht vergeſſen, daß man bei cultivirten Gewächſen ſchon ſehr geringfügige indivi— duelle Abänderungen zu beachten und zu gänzlich unbemerkt bleiben. Nichtsdeſto— weniger wird man zugeben müſſen, daß unter den Aepfeln, Birnen, Kirſchen und Pflaumen ganz ähnliche Beziehungen der engeren Formenkreiſe zu einander vorhanden ſind, wie bei den Brombeeren. Mehr oder wächſe ein ähnliches Verhalten, ein Umſtand, der längſt allgemein bekannt iſt. Der junge Botaniker früherer Jahrzehnte, dem man ein— ſchärfte, daß er nur „gute Arten“ ſammeln dürfe, wurde ſtets ganz beſonders vor den Gartenpflanzen gewarnt. Cultivirte Exem⸗ plare werden in den Herbarien allgemein mit einem gewiſſen Mißtrauen betrachtet. Andrerſeits ſcheinen ſich noch heutzutage manche Leute einzubilden, daß die Berüh— rung der menſchlichen Hand eine ganz be— 126 ſondere Zauberkraft auf die Samen aus— übe. gelüſte, welche den Samen innewohnen, durch die Cultur entfeſſelt werden, während | andrerſeits alle Varietäten, die im Freien entſtanden ſind, unter dem Einfluſſe Cultur reuig zur Stammart zurückkehren ſollen. unverändert geblieben“ gilt bei den Flo— riſten immer noch als die beſte Legitimation für das „Artrecht“ einer neu aufgeſtellten Species. So lächerlich und unſinnig dieſe land— läufigen Vorſtellungen an und für ſich auch find, ſo liegen ihnen doch, wie es bei vielen abergläubiſchen Ideen der Fall iſt, that— ſächliche Beobachtungen zu Grunde. Ur— ſprünglich richtige Wahrnehmungen ſind da— durch gefälſcht worden, der Speciesdoctrin verquickt- hat. daher wohl der Mühe werth, den eigent— lichen Sachverhalt kurz darzulegen. Der wirkliche Werth der Culturver— ſuche liegt darin, daß man bei ihnen Samen von bekannter Abſtammung verwenden, und daß man durch willkürliche Abänderung der Lebensbedingungen, der Vergeſellſchaftung u. ſ. w. die Wirkung vieler einzelnen Yac- toren auf die Geſtalt und das Gedeihen der Pflanzen prüfen kann. Nur bei ſtrenger Beobachtung aller Regeln der naturwiſſen— ſchaftlichen Experimentirkunſt haben ſolche Verſuche einen wirklichen Werth; gewöhn— liche Ausſaaten ohne genaue Berückſichtigung aller einſchlägigen Verhältniſſe find ent— weder Spielereien oder ſie haben doch nur eine bedingte Brauchbarkeit. Für die Be⸗ urtheilung der Variabilität bei den Cultur⸗ pflanzen kommen insbeſondere folgende Punkte in Betracht: 1) Von jeder begehrten Culturpflanze werden möglichſt viele verſchiedene Racen 5 ee | Sie nehmen an, daß alle VBariations- | der Ein „Iſt bei mehrjähriger Cultur daß man ſie mit Es iſt Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche. und Unterarten eingeführt, häufig ſolche, deren natürliche Standorte weit von ein— ander entfernt liegen. 2) Aus den abſichtlichen und unabſicht— lichen Kreuzungen der durch den Menſchen zuſammengebrachten Racen gehen mancherlei Blendlinge hervor, deren Nachkommenſchaft oft ſehr variabel iſt, oft aber auch unter dem Einfluſſe ſtrenger Inzucht beſtändige neue Racen liefert. 3) Der Menſch bewahrt und vermehrt zahlreiche Abänderungen, welche an und für ſich unfähig ſein würden, ſich im Daſeins— kampfe zu behaupten. 4) Von nicht zu unterſchätzender Be— deutung iſt für die Culturgewächſe der durch vielfachen Samenaustauſch bewirkte Stand— ortswechſel, welcher zur Folge hat, daß die einzelnen Generationen der betreffenden Arten nicht allein oftmals unter ſehr verſchiedenen Ernährungsverhältniſſen wachſen, ſondern auch bald der Kreuzung mit andern Schlägen ausgeſetzt, bald auf ſtrenge Inzucht ange— wieſen ſind. Wenn es richtig iſt, daß die Urſachen für die Variabilität und Polymorphie der Culturpflanzen in dieſen Verhältniſſen be— gründet ſind, ſo iſt es klar, daß bei wilden Gewächſ en das Zuſammentreffen analoger Bedingungen auch analoge Folgen haben muß. Bei den Brombeeren find Kreuzungen offenbar leicht möglich; die lange Erhaltung einmal gebildeter Formen wird durch die ſtarke Vermehrung auf vegetativem Wege begünſtigt; ein ſprungweiſes Wandern wird durch die harten Steinkerne ermöglicht, welche mit den ſaftigen Fruchthüllen durch Vögel, Bären und andere Thiere verzehrt und dann nach dem Durchwandern des Darms an oft weit entfernten Orten aus- geſtreut werden. Es iſt nicht unwahrſchein— lich, daß die Polymorphie der verſchiedenen Gruppen der Gattung Rubus zum Theil | Folge einer durch die Bären früherer Zeit— alter bewirkten, ſtets wiederholten Miſchung der Formen iſt. Es fragt ſich nun, in wie weit andere wilde Pflanzengruppen ein ähnliches Ver— halten der Formenkreiſe zu einander zeigen, wie die europäiſchen Brombeeren. Zunächſt iſt hervorzuheben, daß ſich innerhalb der großen Gattung Rubus dieſelbe Erſcheinung | noch mehrfach wiederholt. Die ſüdaſiatiſche Gruppe Malachobatus, welche in den Wachs- thumsverhältniſſen an unſere Brombeeren erinnert, aber einfache, gelappte Blätter und unſcheinbarere Blüthen beſitzt, dürfte in Bezug auf Polymorphie die europäiſchen Verwandten noch übertreffen. Die Rubi glandulosi und stipulares der ſüdamerika— niſchen Anden zeigen ein ähnliches Verhalten. Die Beſchaffenheit des Blüthenſtaubes bei dieſen exotiſchen Pflanzen iſt allerdings nicht bekannt; wo wir aber in Europa eine ana— loge Vielgeſtaltigkeit antreffen, da zeigen ſich auch zahlreiche Formen mit ungleich— körnigem Blüthenſtaub neben wenigen gleich— körnigen. Unter den europäiſchen Gattungen verhalten ſich zunächſt Rosa und Crataegus ganz wie die Brombeeren, eine Analogie, die ſich auch auf die Genießbarkeit der Früchte erſtreckt. Mehrere Gruppen von Potentilla (z. B. verna - argentea) und faſt die ganze Gattung Hieracium zeigen ſich ebenfalls in hohem Grade polymorph, haben aber ungenießbare Früchte. Fernere Beiſpiele dürften die arktiſchen Draben, die Dactyloides-Gruppe von Saxifraga in den Pyrenäen, viele ſüdeuropäiſche Artengruppen von Galium, Centaurea und Dianthus, die orientaliſchen Eichen, die ſüdamerika— niſchen Cinchonen u. ſ. w. bieten, wenn auch die Beſchaffenheit des Blüthenſtaubes derſelben nicht bekannt find. Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche. 127 Während die genannten Gruppen, welche in Bezug auf Polymorphie mit Rubus wetteifern, immerhin als Ausnahmsfälle aufgefaßt werden können, muß man es ge— radezu als Regel bezeichnen, daß die Arten des alten Artbegriffs aus mehr oder minder zahlreichen ſamenbeſtändigen Racen zuſammen— geſetzt werden. Es iſt insbeſondere Jor— dan's Verdienſt, auf dieſe Thatſache nach— drücklich hingewieſen zu haben. In der Regel ſind die Racen ſtandörtlich getrennt, auch ſcheinen ſie nicht immer leicht Kreu— zungen mit einander einzugehen. Die beſt— charakteriſirten Unterarten ſolcher Sammel— arten würde man unbedenklich als „gute Species“ betrachten, wenn die Mittelformen nicht vorhanden wären. Die Eigenſchaften einer beſtändigen Unterart werden aber offen— bar durchaus nicht durch die Thatſache ver— ändert, daß irgendwo Uebergangsglieder zwiſchen ihr und einer andern Unterart vor- kommen. Nur das künſtliche ſyſtematiſche Schema, welches auch auf die Zwiſchen— glieder Rückſicht nehmen muß, wird ſich er— heblich anders geſtalten, wenn zwei Typen durch Uebergänge verbunden ſind, als wenn fie iſolirt daſtehen; wiſſenſchaftlich betrachtet, bleibt der Unterſchied zwiſchen zwei Formen völlig unverändert, mögen ſie überall ſcharf getrennt ſein oder nicht. Die Syſtematiker haben ſich nicht geſcheut, auf die unerheb— lichſten Merkmale hin zwei Formen für ver- ſchiedene Arten zu erklären, wenn nur die Grenze hinreichend ſcharf ſchien (blaue und rothe Anagallis arvensis, ſchwarzblaue und weiße Phyteuma), während ſie andrerſeits, wie das Beiſpiel von Rubus fruticosus, Rosa canina, Euphrasia officinalis u. |. w. zeigt, die heterogenſten Typen zuſammen— pferchten, ſobald ſie keine beſtimmte Scheide⸗ linie ziehen konnten. Ein hübſches Beiſpiel bietet das Stiefmütterchen, Viola tricolor, 128 welches in einer großen Zahl von beftän- digen Racen auftritt. Unter dem Einfluffe unbekannter Verhältniſſe, namentlich in höheren Gebirgen, kommen von verſchiede— nen Racen der Viola tricolor gelbblüthige Unterracen vor. Die Syſtematiker nen⸗ nen nun alle gelben Formen, ſie mögen unter ſich noch ſo verſchieden ſein, Viola lutea, während fie für die ſämmtlichen bunten den Namen V. tricolor beibehalten. Die Sammler ſehen zwar bunte und gelbe Formen, die ſich übrigens in jeder Be— ziehung gleichen, neben einander wachſen, aber fie bringen nur die ſeltene V. lutea mit, weil es nach ihrer Meinung nicht der Mühe werth iſt, ſich um die „gemeine“ V. tricolor zu kümmern. Nur unter der Herrſchaft der Doctrin von der Speciesconſtanz konnten ſolche natur— widrige Grenzlinien durch ganze zuſammen— hängende Formengruppen hindurchgezogen werden, nur durch den einſchläfernden Ein— fluß, den jedes Dogma ausübt, iſt es er— klärlich, daß man gedankenlos an Erſchei— nungen vorüberging, die ſo ſehr geeignet ſind, den Forſchungseifer anzuſpornen. Je mehr man ſich in der freien Natur umſieht, um ſo mehr erſtaunt man darüber, wie es möglich war, die thatſächlichen Verhältniſſe ſo einſeitig und verzerrt darzuſtellen, wie es in den ſyſtematiſchen Werken gewohn— heitsmäßig geſchehen iſt. Die abſonder— lichſten Bücher-Species, die ureigenſten Pro— ducte des alten Dogma's, werden von den Anhängern der Conſtanzhypotheſe mit be— ſonderer Vorliebe als die ſchlagendſten Beweis- mittel für ihre Ideen in's Feld geführt. Dieſer Umſtand zeigt, daß bei ihnen ein vollſtändiger Circulus vitiosus von Trug- ſchlüſſen beſteht, aus dem nur ein aus— dauerndes Selbſtſtudium in der offenen Natur herausführen kann. Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche. | Die für unſere Unterſuchungen wid tigſte Thatſache, welche ſich aus der Muſte— rung der polymorphen Formenkreiſe ergiebt, iſt die, daß von den leichten Variationen, wie wir ſie bei einiger Aufmerkſamkeit faſt an jeder Pflanzenart wahrnehmen können, bis zu dem Formengewirre ſolcher Arten— gruppen, wie die Brombeeren und Roſen, alle denkbaren Mittelſtufen vorkommen. Wenn man ſich, um mur deutſche Pflanzen zu nennen, an Suaeda, Salicornia, Ar- meria und Polygala, dann an Atriplex, Thymus, Draba, Taraxacum und Sele- ranthus, endlich an Potentilla, Euphrasia, Rumex, Galium und Centaurea erinnert, dann wird man ſich bald von der Richtige keit dieſer Behauptung überzeugen. Ver— gegenwärtigt man ſich ferner die Häufigkeit der Mittelformen, den auf Baſtardbildung deutenden Blüthenſtaub und die offenbare Ungleichwerthigkeit der einzelnen Formen— kreiſe innerhalb jeder dieſer Artengruppen, ſo wird man ſich ſchwerlich der naheliegenden Vermuthung entziehen können, daß Kreu— zungen zwiſchen Racen und Arten einen be— deutenden Antheil an der Vielgeſtaltigkeit der betrachteten Formenkreiſe haben. Die Thatſache, daß aus vielen Baſtardformen unter Einwirkung beſtimmter Factoren ſamen— beſtändige Racen, die ich als Blendarten bezeichne, hervorgehen können, darf wohl als feſtſtehend betrachtet werden. Aus Samen einer wenig fruchtbaren, ihren Merk— malen nach entſchieden hybriden Brombeer— form (Rub. tomentosus & vestitus) habe ich eine habituell ähnliche, aber merklich veränderte, völlig fruchtbare Pflanze erzogen, welche ſo gut wie vollſtändig mit einer wohlbekannten ſamenbeſtändigen Brombeer— race (R. macrophyllus hypoleueus) über- einſtimmt. Obgleich der vollſtändige Beweis des Urſprungs dieſer letzten Form dadurch noch nicht erbracht iſt, ſo ſpricht doch die Wahrſcheinlichkeit dafür, daß die Sache ſich Anſchein hat. häufige Kreuzungen mit fruchtbarer Nach— Erwägt man ferner die obigen Bemerkungen über Culturpflanzen und vergleicht damit die geſchilderten Verhältniſſe bei den Brom— beeren und andern wilden Pflanzen, ſo wird man ſich eine ziemlich deutliche Vorſtellung von den Factoren machen können, welche für die Beurtheilung der Polymorphie in Betracht kommen. Racenkreuzung liefert im Weſentlichen das plaſtiſche Material zu den aus den Racenblendlingen gehen die geſellig entſtehenden neuen Typen hervor, ſo daß Anfängen aus verſchiedenen Racen beſteht. Unter den neuen Racen werden oftmals einige kräftiger oder beſſer accommodirt fein, als die alten Typen, und werden ſich unter Verdrängung ihrer Mitbewerber weiter aus— breiten. Stehen ſich die Racen, welche Verbindungen mit einander eingehen, ferner, verhalten ſie ſich alſo wie verſchiedene Arten, ſo ſind die Kreuzungsproducte in ihrer Fruchtbarkeit geſchwächt. Bei langlebigen Gewächſen können indeß auch aus ſolchen hervorgehen. bildung ſtehen mit keinen bekannten That— ſachen in Widerſpruch, ſchließen ſich viel— mehr genau an alle Beobachtungen über die engſten Formenkreiſe, ſo wie an die Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche. jeder Formenkreis gleich in feinen erſten Artbaſtarden ſchließlich fruchtbare Blendarten Dieſe Vorſtellungen über die Arten- | ! jo verhält, wie es nach dem Verſuche den | 129 Erfahrungen der Gärtner an. Eine weitere, wie ich vermuthe, äußerſt wichtige Erſchei— nung iſt die der Differenzirung oder Spal— tung der Arten in verſchiedene Zweige. Berückſichtigt man die große Neigung aller Kreuzungsproducte zur Bildung von Abänderungen und zur Eingehung weiterer hybriden Verbindungen, jo wird man die Polymorphie ſolcher Artengruppen, in denen Vielleicht werde ich Gelegenheit haben, auf dieſe Frage ſpäter einmal ausführlich zu— rückzukommen. Dagegen wird es nützlich ſein, hervorzuheben, daß von den geſellig entſtehenden Racen und Arten ſich in der Regel die einzelnen ſtärkeren und beſſer kommenſchaft vorkommen, verſtändlich finden. neuen Racen und zu den zukünftigen Arten; accommodirten Typen über größere Land— ſtriche ausbreiten und die nächſtverwandten Formen verdrängen oder durch wiederholte Kreuzungen abſorbiren. So findet ſich im Gebiete jeder Lokalflora von den meiſten Arten nur eine einzige Hauptrace vor, ein Umſtand, der viel dazu beigetragen hat, die Idee von den ſcharfen Artgrenzen zu ſtützen. Die Brombeeren und Roſen, von welchen ſo zahlreiche Typen neben einander beſtehen, bilden durch dieſe Eigenthümlichkeit allerdings für das nördliche Mitteleuropa Ausnahmefälle. In Südeuropa, ſo wie in den Alpen und Pyrenäen wiederholt ſich ein annähernd ähnlicher Formenreichthum in vielen Artengruppen. Die Analyſe der Sammelart K. fruti- cosus hat mich genöthigt, für die ſyſte— matiſche Darſtellung ſolcher polymorphen Formenkreiſe eine neue Methode vorzu— ſchlagen, nämlich das Herausheben der wichtigſten und verbreitetſten Typen. Es würde ſehr fehlerhaft ſein, wenn man die bisherigen wirklichen Errungenſchaften der Syſtematik preisgeben wollte. Man wird ſich nicht mehr darüber ſtreiten, ob die engen oder die weiten Formenkreiſe die wirklichen und echten Arten darſtellen. Man wird beide Auffaſſungen als berechtigt an— erkennen und wird, ohne irgendwie in— conſequent zu ſein, je nach dem Zwecke einer ſyſtematiſchen Arbeit, bald die weiten z 130 Species, bald die engeren Subſpecies und Racen, als die normalen ſyſtematiſchen Einheiten hinſtellen können. Man wird ferner in polymorphen Gruppen, wie geſagt, die wichtigeren Typen unter den ſyſtema— tiſchen Einheiten hervorheben und ihnen die untergeordneten Formenkreiſe ſo wie die Lokalracen anreihen müſſen. Mit dem bis— herigen ſinnloſen Aufzählen von Abände— rungen des allerverſchiedenſten Werthes (ſtandörtliche, krankhafte und andere indivi— duelle Modificationen bunt gemiſcht mit Hybriden und mit typisch abweichenden Racen) unter dem Titel Varietas œ, 5, y u. ſ. w. muß indeß gründlich gebrochen werden. ſichtlichkeit, welche man bisher allein er— ſtrebte, darf nicht preisgegeben werden, aber neben den tuypiſchen Repräſentanten der größeren Formenkreiſe wird die neuere Syſtematik auch die Mittelglieder nicht unberückſichtigt laſſen, welche ſich nicht den Geſammtarten naturgemäß unterordnen laſſen, ſondern vielmehr die einzelnen Typen mit einander verbinden. Während man bisher ängſtlich bemüht war, das Vor— handenſein von Uebergangsformen und ſchlechten Arten zu verbergen oder zu ver— tuſchen, damit nur ja nicht der Ruf der „guten Art“, die man beſchrieb, beein— trächtigt werde, iſt es die Aufgabe der zu— künftigen Syſtematik, die Zwiſchenformen ſorgfältig zu beachten, ihre verwandtſchaft— lichen Beziehungen zu würdigen und ſie an den ihnen gebührenden Platz zu ftellen, freilich nicht in Form von „Arten“, die den nor— malen Typen gleichwerthig ſind, ſondern in organiſchem Zuſammenhange und in be— ſcheidener Unterordnung neben diejenigen Typen, welche in der gegenwärtigen Periode der Erdgeſchichte als die hervorragendſten Vertreter ihres Formenkreiſes erſcheinen. Die formale, ſchematiſche Ueber- Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche. Dieſe Aufgabe der Syſtematik, die L. Reichenbach ſchon 1837 (Regensb. Botan. Zeit. S. 217) richtig erkannte, muß in 9 der Gegenwart nothwendig feſt in's Auge gefaßt werden. Was wir bisher über die Formen— kreiſe der Pflanzenarten wiſſen, verdanken wir vorzugsweiſe der Beobachtung in der freien Natur, der eingehenden Analyſe der Sammelarten. Daneben ſtammt aber ein großer Theil unſerer Kenntniſſe aus Her— bariumsſtudien, deren Ergebniſſe gegenwärtig noch viel zu wichtig und bedeutend ſind, als daß ſie entbehrt werden können. Trockne Pflanzenbruchſtücke ſind aber offenbar nur ein mangelhafter Erſatz für die Unterſuchung der Gewächſe an ihren natürlichen Stand— orten. Lebendige und entwickelungsfähige Organismen darf man nicht wie ſtarre Modelle auffaſſen, was bei den Herbariums— ſtudien ſo außerordentlich leicht geſchieht. Um nun aber wirkliche Fortſchritte zu machen, iſt es unerläßlich, mit der Beob— achtung der in der freien Natur gegebenen Thatſachen das Experiment zu verbinden. Freilich ſtellen die Gärtner unzählige wichtige Verſuche an, aber die Wiſſenſchaft hat aus bekannten Gründen keinen Nutzen davon. Außerdem erfährt man hin und wieder von wiſſenſchaftlichen Unterſuchungen über den Einfluß des Bodens — ohne chemiſche Analyſe, von Hybridiſationen — ohne Studium der ſpäteren hybriden Generationen, von Ausſaatverſuchen — ohne genügende Rückſicht auf Inzucht und Einwirkung be nachbarter anderer Racen, von Variations— ſtudien — ohne Kenntniß der ſpontau vor— kommenden verwandten Formenkreiſe. Man wundert ſich dann, daß ſolche „Verſuche“ zu keinen allgemeinen Reſultaten führen. Streng methodiſche, mit voller Beherrſchung der einſchlägigen bekannten Thatſachen durch— geführte Verſuchs reihen gehören noch zu den größten Seltenheiten. Daß aber Experi— mente, welche unter Berückſichtigung aller Nebenumſtände angeſtellt werden, auch auf dem Felde der wiſſenſchaftlichen Pflanzen— biologie die glänzendſten Ergebniſſe liefern, das zeigen am beſten die muſtergültigen Verſuche Darwin's. Es iſt klar, daß derartige Verſuche in irgend größerem Maßſtabe nur von Män— nern, welche frei über ihre Zeit verfügen, durchgeführt werden können. Die Ein— richtung ſelbſtändiger botaniſcher Verſuchs— gärten muß eine dringende Forderung der heutigen Wiſſenſchaft werden. Die Auf— gaben, welche einem Verſuchsgarten zu— fallen, haben ſämmtlich mehr oder minder directe Beziehungen zur Artenbildung. Um indeß directe Unterſuchungen auf dieſem Focke, Ueber den Artbegriff im Pflanzenreiche. Felde in erfolgreicher Weiſe anſtellen zu können, muß die Analyſe der polymorphen Formenkreiſe voraufgehen, welche allein im Stande iſt, dem Gange der Forſchung eine beſtimmte Richtung vorzuzeichnen. Durch planloſe Ausſaatverſuche wird man zwar zu einer Reihe einzelner zuſammenhangsloſer Beobachtungen, aber niemals zu ſicheren allgemeinen Ergebniſſen gelangen. Eine ſorgfältige Unterſuchung der engeren Formen— kreiſe iſt daher eine unentbehrliche Vorarbeit für alle Studien über das Weſen der or— ganiſchen Species. Ein Experiment iſt eine Frage an die Natur, welche jedesmal beantwortet werden wird, wenn die Frag— ſtellung eine richtige war. Um aber die Frage richtig ſtellen zu können, muß man mit den betreffenden Thatſachen genau ver— traut ſein. . Kl Tamarck und Darwin. Lin Beitrag zur Geſchichte der Sutwidlungslehre. Von 8 ist ein erfreuliches Zeichen der wahren Wiſſenſchaftlichkeit, des a Strebens nach unbefangener Be— urtheilung der herrſchenden Thecrien und Hypotheſen in der Natur- wiſſenſchaft, wenn auch ſie in neuerer Zeit mehr als je ihren eigenen Entwickelungs— gang zu verfolgen bemüht iſt. uns den Charakter, die Eigenſchaften, Fähig— keiten und Kenntniſſe eines jeden Menſchen erklären können, ziehung, ſeinem Bildungsgange, ſeinen Schick— ſalen und äußern Verhältniſſen bekannt werden, und wir verſuchen, die Anlagen, die er mit auf die Welt gebracht hat, von dem zu trennen, was gleichſam von außen neu zu ihm gekommen iſt; ſo vermögen wir uns auch den gegenwärtigen Stand einer Wiſſenſchaft erſt dann zu erklären, wenn wir uns einerſeits über das innere Weſen dieſer Wiſſenſchaft und anderſeits über ihren Entwickelungsgang ins Klare geſetzt haben. Im individuellen Entwicke— lungsgange jedes Menſchen ſind geringfügige Verhältniſſe bisweilen von beſtimmendem Einfluſſe, während große Erſcheinungen oft Wie wir wenn wir mit ſeiner Er- Dr. Arnold Lang. I. ſpurlos an ihm vorübergehen. Ebenſo bedingen auch im Entwickelungsgange der Wiſſenſchaft oft ſcheinbar oder wirklich ge— ringfügige Entdeckungen und unweſentliche Beobachtungen ganz neue Richtungen, wäh— rend ganze große Gruppen zuſammen— hängender Thatſachen ſich nicht der Re— flexion der Forſcher aufzudringen vermögen. Wie der Bildungsgrad eines Menſchen be— dingt iſt einerſeits durch die Zahl und Art der Eindrücke, die auf ihn einwirken, ander- ſeits durch ſeine größere oder geringere Empfänglichkeit für dieſe Eindrücke; ebenſo hängt auch die Ausbildung der Naturge— ſchichte, wie überhaupt aller Wiſſenſchaften, einerſeits ab von der Zahl und Art der beobachteten und bekannten Thatſachen und anderſeits vom Zeitgeiſt. Unter allen dieſen Geſichtspunkten iſt es außerordentlich intereſſant, die Entwicke— lung der Naturgeſchichte und ihrer Verall— gemeinerungen um die Wende unſeres Jahr— hunderts zu verfolgen. Es war dies für die Naturgeſchichte eine Uebergangszeit und Uebergangszeiten weiſen überall excentriſche Anſchauungen und Ausſchweifungen auf. — Während im vorigen Jahrhundert unter dem Einfluſſe des Zeitgeiſtes, der, zum großen Theil beſtimmt durch die Wiſſen— ſchaften, auf jede einzelne wieder zurück— wirkt, im Allgemeinen einigen wenigen, oft unweſentlichen, zum Theil ſchlecht beobach— teten Thatſachen eine große Bedeutung bei— gelegt wurde, zeichnet ſich unſer Jahrhun— dert in der Naturgeſchichte durch das Streben einer umfaſſenden und mehr gleichmäßigen Berückſichtigung einer möglichſt großen Menge von Thatſachen aus. Im achtzehnten Jahr— hundert konnten Theorien, wie die Evolu— tionstheorie, zu allgemeiner und herrſchender Geltung gelangen, Theorien, die ſich auf wenige, vereinzelte, zudem ſchlecht verbürgte Beobachtungen ſtützten, denen aber von den Forſchern eine um ſo größere Bedeutung beigelegt wurde, je mehr ſie in den engen Rahmen der ihnen von vorne herein plau— fiblen Theorien paßten. Zu Anfang un— ſeres Jahrhunderts nun ſuchte man ſich von dieſen methodischen Fehlern zu emanci— piren und das geſammte, inzwiſchen mäch— tig angewachſene Thatſachenmaterial für Verallgemeinerungen möglichſt gleichmäßig zu verwerthen. In Wirklichkeit konnte ſich aber die Biologie zu Anfang unſeres Jahr— hunderts der mangelhaften Methodik bei Verallgemeinerungen nur zum Theil ent— ſchlagen, ſie blieb auf halbem Wege ſtehen und erzeugte, begünſtigt durch die damalige Zeitſtrömung, jene Produkte, die wir unter dem Namen der ältern franzöſiſchen und deutſchen Naturphiloſophie zuſammenfaſſen. Wir können in der allgemeinen Bio— logie der erſten Decennien unſeres Jahr— hunderts drei Richtungen unterſcheiden, von denen die erſte ihrem innerſten Weſen nach alle die Mängel des Naturphiloſophirens des vorigen Jahrhunderts beſitzt, die an— dere neben dieſen Mängeln ſchon die Vor— Lang, Lamarck und Darwin. 133 theile der neuern naturwiſſenſchaftlichen Me— thode in ſich aufnimmt, während eine dritte, eigenthümliche und ſehr fruchtbare Richtung in der Naturgeſchichte die wahre und rich— tige Methode der Naturforſchung zur vollen Geltung bringt, zugleich aber die Reſultate dieſer Forſchung mit den alten dogmatiſchen Ueberlieferungen in Einklang zu ſetzen ſucht. Die erſte Richtung bildet die ſogenannte deutſche Naturphiloſophie, das Philoſophiren eines Oken, Schelling u. ſ. w. Es mochte den Anſchein haben, als ob dieſe Männer auf Grund der em— piriſchen Thatſachen der Naturwiſſeuſchaft durch Syntheſe ihre Syſteme aufgebaut hätten. Dem iſt indeß durchaus nicht ſo. Sie haben zunächſt in der rein formellen Weiſe eines Hegel aus einem oberſten, willkürlich geſetzten Principe Kategorien ab— geleitet, in die ſie dann künſtlich genug alles Gegebene hinein paßten. Man hat dieſe deutſchen Naturphiloſophen bisweilen als Begründer gewiſſer Lehren bezeichnet, die wie die Zellentheorie, die Wirbeltheo— rie des Schädels u. ſ. w. ſeither zu großer wiſſenſchaftlicher Bedeutung gelangt ſind. Dies iſt indeß nur ſo zu verſtehen, daß ſie, überall herumtaſtend, über alles philo— ſophirend, hier und da etwas annähernd Richtiges getroffen haben, wie ein blindes Huhn, das auch bisweilen ein Samenkorn findet. Es iſt die ſogenannte deutſche Na— turphiloſophie von Oken und Schelling für die Naturwiſſenſchaft nichts, als ein bisweilen allerdings geiſtreiches Phantaſiren. Die zweite angeführte Richtung bildet die ältere franzöſiſche Naturphilo— ſophie, deren Hauptvertreter Lamarck und der ältere Geoffroy ſind. Es ent— wickelte ſich dieſe Richtung ganz ſelbſtſtändig und unabhängig von der deutſchen Natur- 134 philoſophie. Vergleicht man beide Richtun⸗ tungen, jo wird mau, wie ich in dem nad) folgenden Aufſatze mit Rückſicht auf La— marck darzuthun hoffe, nicht lange darüber in Zweifel fein, daß die franzöſiſche Natur- philoſophie der deutſchen vom naturwiſſen— ſchaftlichen Standpunkte aus weit überlegen iſt. Wenn auch die franzöſiſchen Natur- philoſophen in vielen, ja den meiſten ihrer Schlußfolgerungen zu voreilig, kühn und unvorſichtig waren und Naturphiloſophie mit Metaphyſik vermiſchten, wenn fie auch nicht der Verlockung widerſtehen konnten, in Disciplinen, deren empiriſcher Boden ihnen nicht genau bekannt war, umfaſſende Theorien aufzuſtellen; ſo fühlt man bei ihnen doch innerhalb ihrer beſon— dern Wiſſenſchaft, in der ſie Meiſter wa— ren, das Beſtreben heraus, nur auf Grund einer möglichſt breiten empiriſchen Baſis zu immer höhern Verallgemeinerungen ſich zu erheben. Die dritte Richtung wird repräſentirt durch Cuvier, den Schöpfer der ver— gleichenden Anatomie und Palaeontologie. In der methodiſchen Sichtung und Bear— beitung des Materials iſt Cuvier um übertroffener Meiſter. Die Induktion ver— bindet er mit der Deduktion zur wahren naturwiſſenſchaftlichen Methode. In ſeinen erſten, unmittelbar aus den Thatſachen ab— ſtrahirten Verallgemeinerungen hat er denn auch beim damaligen Stand des naturge— ſchichtlichen Wiſſens das Beſtmögliche ge— leiſtet. Damit begnügte ſich aber Cuvier nicht, ſondern auch er wollte, wie es bis zu ſeiner Zeit, ich möchte ſagen Mode war, umfaſſende Theorien über die Schöpfungs- geſchichte der Erde und ihrer Bewohner aufſtellen. Seine eigenen palgeontologiſchen Unterſuchungen lieferten Ergebniſſe, die mit der moſaiſchen Schöpfungsgeſchichte in der Lang, Lamarck und Darwin. genauern Präciſirung Linné's in Wieder— ſpruch waren. Nun war aber Cuvier ein ſtrenger Anhänger des Speciesdogmas und der direkten Schöpfung aller Organis— menarten. Um die Reſultate ſeiner eigenen Forſchungen mit dieſen ſeinen vorgefaßten Anſichten in Einklang zu ſetzen, ſah er ſich genöthigt, das Princip der Actualität auf⸗ zugeben. Er erſann die Cataclysmen— theorie, jene „Möblirungstheorie“, wie Carl Vogt ſie nennt, eine jeder Grund— bedingung der Naturwiſſenſchaft in's Geſicht ſchlagende Lehre, die nun bis zum Auf- treten Darwin's die herrſchende blieb. Mit dieſer Cataclysmentheorie ſteckt auch noch der ſcharfſinnige, für die weitere Entwicke— lung der meiſten zoologiſchen Disciplinen ſonſt grundlegende Cuvier im naturge— ſchichtlchen Aberglauben früherer Jahr— hunderte. Wir ſtellen uns in den folgenden Zeilen die Aufgabe, eine der drei angeführten Richtungen, die ältere franzöſiſche Natur- philoſophie in ihrem Hauptvertreter Jean Lamarck, auf ihre Beziehungen zur neuern, durch die Darwin'ſche Theorie reformirten Biologie zu unterſuchen. Haeckel war wohl der erſte, welcher 1866 in ſeiner „Generellen Morphologie“ mit Nachdruck Lamarck als den bedeutendſten Vorgänger Darwin's bezeichnete und als eigentlichen Begründer der Descendenztheorie feierte. Er hat indeſſen bloß die wichtigſten Aus- ſprüche Lamarck's zuſammengeſtellt, ohne näher den innern Zuſammenhang und Ge— dankengang ſeiner Schriften darzulegen. Es hat ſodann Quatrefages 1868 in ſeinem Artikel „Les précurseurs français de Darwin“ (Revue des deux Mondes) die Beziehungen Lamarck's zu Darwin, jedoch nur kurz und unvollſtändig erörtert; zudem hat er vorzugsweiſe das Schwache und Unhaltbare ſeiner Theorie hervorge— hoben. In neuerer Zeit hat Ch. Martins Lang, Lamarck und Darwin. der neuen franzöſiſchen Ausgabe der „Phi- dient, feinen eigenen Forſchungs- und Ent losophie zoologique“ und ihrer deutſchen Ueberſetzung eine Einleitung beigegeben, welche außer der Biographie La marck's eine ziemlich eingehende Anführung Principien enthält, welche Lamarck und Darwin gemeinſam ſind. Hat die Arbeit Quatrefage's den Fehler, daß ſie haupt— ſächlich die ſchwachen Punkte der Lamarck! ſchen Verallgemeinerungen hervorhebt, ſo iſt es ein weſentlicher Mangel der Einleitung von Martins, daß ſie bloß das berück— fitigt, was auch in der Darwin' ſchen Lehre zur Geltung kommt. Es bleibt deshalb, wie auch der Kritiker der „zoolo— giſchen Philoſophie“ betont, eine nochmalige, eingehende Analyſe der Lamarck'ſchen Lehren, „welche die wiſſenſchaftliche Bedeutung und die phantaſtiſchen Verirrungen derſelben im Einzelnen klar auseinanderlegt“, ſehr wün— ſchenswerth. Will man aus den Lehren eines For- ſchers vergangener Zeiten Richtiges und Wahres herausfinden, ſo muß man den Maßſtab der modernen Wiſſenſchaft an ſie aulegen, ſich auf den durch dieſe Wiſſen— ſchaft am meiſten begründeten Standpunkt ſtellen. Allerdings wird man dann oft mit einem Maßſtabe meſſen, der ſich im Einzelnen ſelbſt wieder als unrichtig er— weiſen kann, denn wir meſſen mit dem, was wir beim gegenwärtigen Stande un— ſeres Wiſſens für richtig halten, oder für richtig zu halten gezwungen find. Die Er- gebniſſe einer ſolchen Unterſuchung werden immer mehr oder weniger ſubjectiver Natur, aber dennoch fruchtbar ſein. Will man aber einen Forſcher würdigen, ihn begreifen, ſo darf man dieſen Maßſtab nicht anwenden. Dann muß man ihn vom Standpunkte des der Wiſſens ſeiner Zeit aus beurtheilen und auch, was indeſſen mehr zu ſeiner perſön— lichen Würdigung als zu der ſeiner Lehren wicklungsgang verfolgen. Die erſtere, ſub— jective Unterſuchungsweiſe zeigt uns das Richtige und Unrichtige, die letztere, ob— jective, das Gerechtfertigte und das nicht Ge— rechtfertigte. Die letztere allein kann un— bedingt auf dauernden Werth Anſpruch machen. Wir werden verſuchen, von beiden Geſichtspunkten aus Lamarck ſo unbe— fangen als möglich zu beurtheilen. Immerhin werden wir am meiſten beſtrebt ſein, dem objectiven, hiſtoriſchen Geſichtspunkt den Vorrang zu laſſen und während der ganzen Unterſuchung die Zeit, während welcher Lamarck lebte, und den damaligen Stand des naturgeſchichtlichen Wiſſens im Auge zu behalten. 5 Wenn wir uns fragen, welches die ein— zelnen Disciplinen der Naturgeſchichte ſeien, die eine Theorie, wie die Darwin' ſche am meiſten ſtützen müſſen, ſo werden wir wohl in erſter Linie, was alle Naturforſcher einftimmig anerkennen, die Palaeonto— logie zu erwähnen haben. Denn die Palaeontologie oder Lehre von den Verſteinerungen allein liefert uns abſolut unbeſtreitbare Anhaltspunkte für die Er- kenntniß der erdgeſchichtlichen Aufeinander— folge der Organismen. Die Palaeonto— logie zeigt uns die wahren Denkmünzen der Schöpfung. Eine naturgeſchichtliche Schöpfungstheorie muß vor allem mit den Thatſachen der Palaeontologie in Einklang ſtehen. Eine Palaeontologie war aber zur Zeit Lamarck's noch gar nicht vorhanden. Es fehlte ihm alſo in erſter Linie dieſe weſentliche Grundlage für ſeine Schöpfungs— theorie. Erſt ſpäter hat er ſelbſt, mehr rr a ET le! 500 {9} Lang, Lamarck und Darwin. aber noch fein eminenter Gegner Cu vier, als die erſte Grundbedingung zur Er— die erſten Grundſteine dieſer Wiſſenſchaft gelegt. Eine andere Disciplin, welche uns über das Weſen der Art unmittelbar und beinahe ausſchließlich belehrt, welche den Artbegriff zu kritiſiren ermöglicht, iſt eine ganz genaue, ich möchte ſagen raffinirte Syſtematik, eine eingehende Ueberſicht nicht nur aller be— kannter Arten, ſondern auch einer möglichſt großen Menge von Individuen einer Art. Eine ſolche Syſtematik war zwar zu La— marck's Zeiten ſchon vorhanden, jedoch bei weitem nicht ſo ausgebildet, wie heute. Lamarck beruft ſich denn auch ausdrücklich auf dieſe Disciplin. Eine dritte Disciplin, welche ebenfalls direkte Beweismittel liefert, iſt die Bio- logie im engern Sinne, die Oekologie der Organismen, welche das Leben der Or— ganismen, ihre Beziehungen zu einander und zur unorganiſchen Natur aufzuklären hat. Auch die Oekologie iſt erſt durch Darwin und in Folge ſeiner Lehre, zu höherer Ausbildung gelangt. Waren dies Lehren, welche direkt und unmittelbar eine Schöpfungstheorie zu ſtützen geeignet ſind, und mit deren Thatſachen eine ſolche durchaus in Einklang ſtehen muß, ſo giebt es aber noch andere, welche zwar nicht direkte Beweiſe liefern, dem philoſo— phiſchen Naturforſcher aber für die Er— mittelung der Schöpfungsgeſchichte von nicht geringerer Bedeutung erſcheinen. Hier ſteht in erſter Linie die Embryologie oder Ontogenie der Organismen. Auch der— jenige, welcher nicht anerkennt, daß die Ontogenie mit der Phylogenie in urſächlichem Zuſammenhange ſtehe, ein kurzer und vielfach gefälſchter Auszug der Stammes— geſchichte ſei, muß doch nothwendigerweiſe zugeben, daß ſie in neuerer Zeit allgemein mittelung des natürlichen Syſtemes der Or— ganismen und folglich ihrer Verwandtſchaft betrachtet werde. Laſſen wir auch dieſen Geſichtspunkt unberückſichtigt, ſo ſteht doch die Thatſache feſt, daß hiſtoriſch die An— ſichten über die Schöpfung oder Entſtehung der Organismen immer in enger Beziehung waren zu den Anſichten über das Weſen der individuellen Entwickelung. So lange diejenige Theorie in der Embryologie all— gemein gültig war, welche die Entwickelung eines Organismus blos als eine Auswicke— lung ſeit Urzeiten vorgebildeter Keime be— trachtete, war eine andere Anſicht, als die der direkten Entſtehung aller einzelnen Or— ganismenarten ganz unmöglich, und an genealogiſche Beziehungen der Organismen zu einander konnte gar nicht gedacht werden. Dieſe Theorie war aber noch bis zum Tode Lamarck's die allgemein anerkannte und es fehlte alſo auch Lamarck für ſeine Verallgemeinerungen über die Entſtehung der Organismen diejenige ontogenetiſche Grundlage, welche in unſerer Zeit eine ſo mächtige Stütze der Darw in' ſchen Theorie geworden iſt. Von ebenſo großer Bedeutung für die Erkenntniß der natürlichen Verwandtſchaft d. h. der Stammverwandtſchaft der Or- ganismen iſt die vergleichende Ana— tomie. Auch dieſe Wiſſenſchaft war zu Lamarck's Zeiten noch wenig ausgebildet; ſie hatte noch nicht den Character einer rein morphologiſchen Wiſſenſchaft, zu der ſie erſt Cuvier machte. Auch dürfen wir nicht vergeſſen, daß die Zellentheorie, welche fo außerordentlich zum Verſtändniß der ent- wickelten und ſich entwickelnden organiſchen Körper beigetragen hat, erſt Ende der dreißiger Jahre begründet wurde. Ich erwähne noch als Hauptſtütze der Lang, Lamarck und Darwin. 137 Entwickelungstheorie die Thier- und Pflanzengeo graphie, von der zu Lamarck's Zeiten durch Buffon kaum die einfachſten Anfänge gemacht waren. Alles dies ſind Disciplinen der Biologie, weſche nur über die Entſtehung der Organismen Aufſchluß geben können. Nicht minder als mit den Reſultaten dieſer Wiſſenſchaften, muß eine richtige Schöpfungstheorie in erſter Linie auch mit den Thatſachen einer andern Wiſſenſchaft, der Geologie, völlig im Einklang ſtehen. Der kindliche Zuſtand der geologiſchen Wiſſenſchaft zu Ende der vorigen und zu Anfang dieſes Jahrhunderts iſt bekannt. Die Geſchichte der Erdober— fläche war der Gegenſtand abenteuerlicher Speculationen, welche alle das naturhiſto— riſche Princip der Actualität mehr oder weniger außer Acht ließen. Erſt nach dem Tode Lamarck's wies Lyell nach, daß die Entſtehung unſerer heutigen Erdkruſte viel beſſer zu erklären ſei aus natürlichen, heute noch wirkenden Urſachen, als durch die Annahme plötzlicher Cataſtrophen, welche ihre Urſachen in einer außernatürlichen Kraft haben. Daß die Lehre von der hiſtoriſchen Entwickelung der Organismen auf der Erdoberfläche mit der Lehre von der Entwickelung dieſer Erdoberfläche ſelbſt in Einklang ſtehen muß, iſt ſonnenklar, und es iſt beinahe unbegreiflich, wie Cuviers Cataclysmentheorie in der Palaeontologie bis zu Darwin's Zeiten allgemein aner— kannt neben der durch Lyell reformirten Geologie fortbeſtehen konnte. Faſſen wir Vorſtehendes zuſammen, fo ſehen wir, daß zur Zeit, als Lamarck ſeine Verallgemeinerungen über die Ent— ſtehung der Organismen begann, alle Dis— ciplinen, die nothwendiger Weiſe Grundlage ſolcher Verallgemeinerungen ſein müſſen, entweder noch gar nicht vorhanden, oder doch in höchſt unvollkommener Ausbildung waren. Es wird ſich nun fragen, in wie weit Lamarck auf Grund der damaligen empiriſchen Baſis Vermuthungen, Hypotheſen oder Theorien aufzuſtellen berechtigt war; es wird ſich ferner fragen, ob Lamarck dieſe empiriſche Baſis und zwar unter ausſchließ— licher Hinzuziehung des allein naturwiſſen— ſchaftlichen Princips der Actualität für ſeine Theorien umfaſſend verwerthet oder ob er haltloſe und empiriſch unbegründete Hypo- theſen aufgeſtellt hat; es wird ſich ſchließlich fragen, wie viel Richtiges und Wahres in denſelben von dem Standpunkte der Dar— win' chen Theorie aus enthalten ſei. Auch wird zu beachten ſein, ob die Lamarck'ſchen Lehren vor den andern herrſchenden ſeiner Zeit durch ausſchließliche Erklärungsverſuche aus natürlichen, heute noch wirkenden Ur— ſachen einen entſchiedenen Vorzug bean— ſpruchen dürfen. Zunächſt werden wir einige Bemerkungen über die allgemein philoſophiſchen Anſichten Lamarck's machen, dann ſeine geologiſchen Theorien beſprechen und ſchließlich ausführlicher eingehen auf ſeine Anſichten über das Verhältniß der Organismenwelt zur anorganiſchen Natur, der Thiere zu den Pflanzen, und über die Entſtehung der Organismen. Die großartig angelegte Pſychologie Lamarck's darzuſtellen und zu critiſiren, überlaſſen wir einer ge— übteren Feder; ebenſo werden wir die phyſi— kaliſchen, meteorologiſchen und chemiſchen Schriften als für unſern Zweck werthlos und lauter haltloſe, unbegründete Phantaſien enthaltend, übergehen. In Betreff der Lebensgeſchichte Lamarck's verweiſe ich auf Ch. Martin's biographiſche Einleitung zu den neuern Ausgaben der „zoologiſchen Philoſophie“. Chronologie der in Betracht kommenden Lamarck'ſchen Schriften: 158 Hydrogeologie; 1802. Recherches sur l’organisation des corps vivans 1802. (?) Philosophie zoologique. Jahrg. X. Ausgabe 1830; neue Ausgabe 1873; Lang, Lamarck und Darwin. | rungen 1809 2. uns mit feinen biologiſchen Verallgemeine— beſchäftigen können. Wir machen keinen Anſpruch auf vollſtändige und gleich— mäßige Behandlung der Lamarck'ſchen precedee d'une introduction biographique de Charles Martins. Zoologiſche Philoſophie, mit einer biographiſchen Einleitung von Charles Martins aus dem Franzöſiſchen überſetzt von Arnold Lang. 1876. Histoire naturelle des animaux sans vertebres. Introduction. 1815. Zweite Auflage, durchgeſehen und vermehrt von Deshayes und Milne Edwards 1835. sances de 1830. positives 1 Zur Weltanſchauung Lamarck's. Bevor wir uns zu der Betrachtung der Philoſophie, beſchränken uns vielmehr dar— auf, die weſentlichſten Punkte hervorzuheben und die Aufmerkſamkeit der Philoſophen auf dieſen Mann zu lenken, der auch von ihnen vollſtändig ignorirt worden iſt.“) In den verſchiedenen Werken Lamarck's finden ſich vielfach innere Widerſprüche mit ſeiner Philoſophie. Wir benutzen deshalb hauptſächlich zwei Werke, in denen ſich eine ziuſammenhängende Darſtellung findet, näm- Systeme analytique des connais- | 5 ung | Be homme lich erſtens, die oben erwähnte Einleitung zur Naturgeſchichte der wirbelloſen Thiere und | dann ein kleines, ausſchließlich philoſophi⸗ biologiſchen Theorien Lamarck's wenden, erſcheint es nicht überflüſſig, einen kurzen Blick auf feine philoſophiſchen Anſichten zu Denn wie feine biologiſchen Ver- allgemeinerungen, ſo zeigen uns auch ſeine allgemeinen philoſophiſchen Betrachtungen, werfen. wie er, einerſeits noch im Dualismus ſeiner Zeit ſteckend, anderſeits doch ſich ent— ſchieden zu einer einheitlichen mechaniſchen Auffaſſung der Welt hinneigt. Auch in der Philoſophie zeigt ſich bei Lamarck jener in der Einleitung erwähnte Uebergang. Wenn wir zuerſt mit der Betrachtung der Lamar ck'ſchen Weltanſicht beginnen, ſo geſchieht dies nicht, weil etwa ſeine bio— logiſchen Theorien als Poſtulate eines von ihm vorher aufgeſtellten Syſtems aufzufaſſen ſind, ſondern deshalb, weil wir dann nach— her zuſammenhängend und ununterbrochen ſches und pſychologiſches Werk, das La⸗ marck ſchrieb, als er ſchon erblindet war, nämlich das „Systeme analytique des connaissances positives de l’homme.“ Lamarck ſtellt ſich in erſter Linie die Frage: „Auf welchem Wege gelan— gen wir zu ſicheren Erkenntniſſen?“ Er antwortet darauf: Alle ſicheren Kenntniſſe, die ſich der Menſch verſchaffen kann, entſpringen aus der Beobachtung; die einen erlangen wir durch die direkte Beobachtung; die an⸗ dern dadurch, daß wir die richtigen Con— ſequenzen aus ihr ziehen. Die erſteren ſind vollſtändig, ſicher und exact; die letzteren nähern ſich mehr oder weniger der Wahrheit, je nach dem größeren oder geringeren Grade der Vernunft, d. h. der Richtigkeit ) Wir finden z. B. Lamarck in Lange's Geſchichte des Materialismus, obſchon er doch dieſelben Probleme wie Condillae, Caba— nis und das Systeme de la nature eingehend behandelt, mit keiner Silbe er— wähnt. ſum iſt die unthätige, paſſive, mit der Urtheile der Individuen. Außer dem, was aus der Beobachtung ſtammt, iſt alles, was wir zu denken vermögen, Produkt unſerer Einbildungskraft, Illuſion. — Wenn alſo nur die Kennt— niſſe, die wir direkt oder indirekt durch die Beobachtung gewonnen haben, ſicher ſind, fo fragt es ſich nunmehr, was denn über- änderliche, in allen ihren Verrichtungen was beobachtbar ſei. Wir können, ſagt Lamarck, blos die Stoffe und Kör- per, die wir wahrnehmen, die Bewe⸗ haupt der Beobachtung zugänglich, d. h. gungen, Veränderungen, Eigen— ſchaften und verſchiedenen Erſcheinungen, welche dieſe Stoffe und Körper uns dar— bieten, und endlich die Geſetze, nach denen dieſe Bewegungen, Veränderungen und Phä— nomene vor ſich gehen, beobachten. Alle dieſe beobachtbaren Dinge bilden im Gegenſatz zum Gebiet der Einbil— dungskraft das Gebiet der Reali— täten. Blos die Kenntniß der zu letz— terem Gebiete gehörenden Dinge kann dem Menſchen wahrhaft nützlich ſein; alle Er— zeugniſſe der Einbildungskraft hingegen, mit Ausnahme eines einzigen, der Hoff— nung, ſind ſchädlich. — Alle Körper, die wir beobachten können, ſind in ſteter Veränderung und Be— wegung begriffen. Oft gehen dieſe Ver— änderungen und Bewegungen jo langſam vor ſich, daß wir ſie nicht wahrnehmen können. Nichts deſto weniger herrſcht in Wirklichkeit nirgends abſolute Ruhe. Lamarck ſchließt daraus auf eine allgemeine Macht, welche die Ur— ſache aller dieſer Bewegungen und Verän— derungen ſein müſſe, und nennt dieſe Macht die Natur. Lamarck unterſcheidet die „Natur“ vom „Univerſum“. Das Univer— Lang, Lamarck und Darwin. keinen eigenen Kräften ausgeſtattete Summe aller exiſtirenden Stoffe und Körper.“ “) „Die Natur iſt eine Ordnung der Dinge, die aus der Materie frem— den und durch die Beobachtung der Kör— per beſtimmbaren Objekten beſteht, deren Summe eine ihrem Weſen nach unver— abhängige und beſtändig auf alle Theile des Univerſums einwir— kende Macht bildet.“ **) Natur und die dem Univerſum zu Grunde liegende Mater ie faßt Lamarck, wie wir gleich ſehen werden, ihrerſeits wieder auf als Wirkung einer erſten Ur— ſache, Gottes. Von der Gottheit können wir blos wiſſen, daß ſie exiſtirt, ewig, un— beſchränkt und allmächtig ſei. Die Idee Gottes ſei kein Produkt unſerer Einbildungs— kraft, ſondern, wie er glaubt, eine noth⸗ wendige Conſequenz unſerer Beobachtungen, eine zwar indirekte, aber ſichere Erkenntniß. Ebenſo ſei die Allmacht Gottes eine ſolche Erkenntniß. Gott konnte, ſagt Lamarck, in Folge ſeiner Allmacht bei der Schöpfung in zweierlei Weiſe zu Werke gehen. „Es war entweder ſein Wille, alle Körper, die wir beobachten können, unmittelbar und jeden für ſich zu erſchaffen, ihre Verände— rungen, ihre Bewegungen oder ihre Thätig— keiten zu regieren, jeden einzelnen von ihnen beſtändig im Auge zu behalten und Alles, was dieſelben betrifft, unaufhörlich durch ſeinen höchſten Willen zu regieren“, oder er konnte „ſeine Schöpfung auf eine geringe Zahl beſchränken und eine allgemeine, con— ſtante, immer durch Bewegungen belebte, überall Geſetzen unterworfene Ordnung der *) Introd. 2. Ausgabe, Seite 258; Syst. analyt. Seite 45. ) Introd. S. 260; Syst. analyt. ©. 50. 19 5 140 Dinge in's Daſein rufen, mit Hülfe deren alle exiſtirenden Körper, alle Veränderungen, welche ſie erleiden, alle Eigenſchaften, die ſie beſitzen, und alle Erſcheinungen, welche viele von ihnen darbieten, erzeugt werden können.““) Die Beobachtung der Natur- körper und ihrer Veränderungen wird es nun möglich machen, zu erkennen, welchen von dieſen beiden Wegen der Schöpfer ein- geſchlagen hat. Haben wir dies durch um— faſſende und übereinſtimmende Beobachtungen erkannt, ſo werden wir getroſt und ohne Vermeſſenheit behaupten können, daß es eben Gottes Wille war, den betreffenden Weg einzuſchlagen. Alle Beobachtungen weiſen nun nach Lamarck übereinſtimmend und überzeugend darauf hin, daß Gott bei der Schöpfung ſeiner Werke in der zuletzt angeführten Weiſe zu Werke ging. Zwiſchen „Erſchaffen“ und „Her— vorbringen“ macht Lamarck einen ſcharfen Unterſchied. Hervorgebracht iſt alles, was auf natürliche Weiſe, durch mechaniſche Urſachen entſtanden iſt. Erſchaffen iſt alles das, deſſen na— türliche Entſtehung wir uns nicht vorſtellen, nicht denken können. Die Beobachtung lehrt nun, daß alle Körper und alle Erſchei— nungen durch mechaniſche, natürliche Urſachen hervorgebracht werden, daß alles nach beſtimmten und conſtanten Ge— ſetzen geſchieht. Nie und nirgends be— obachten wir ein direktes Eingreifen der göttlichen Allmacht. Alle Erſcheinungen laſſen ſich auf die geſetzmäßige, me— chaniſche Ein wirkung der Natur, auf die Materie zurückführen. Das Zuftande- kommen der Natur und der Materie ſelbſt aber können wir uns nicht mehr aus natürlichen mechaniſchen Urſachen erklären. ) Syst. analyt. Seite 8 u. 9. = Te Teer Lang, Lamarck und Darwin. | Lamarck nimmt deshalb, wie ſchon ge- jagt, für fie eine erſte auß er- und über- natürliche Urſache, Gott, an; giebt zugleich aber noch die andere Möglichkeit zu, daß Materie und Natur unend- lich und ewig ſeien. In dieſem Falle ſei die Annahme eines Schöpfers, eines Gottes, überflüſſig. Ob Gott außer der Natur und der Materie noch etwas anderes erſchaffen, können wir, ſagt Lamarck, nicht wiſſen, da alle unſere Kenntniſſe aus der Beobach— tung ſtammen. Daß er aber bei ihrer Schöpfung keine andere Abſicht hatte, als daß ſie exiſtiren, und daß er nicht etwa bezweckte, die Entſtehung irgend eines be— ſondern Körpers, irgend einer beſonderen Erſcheinung (auch des Menſchen nicht aus— geſchloſſen) herbeizuführen, das iſt für Lamarck unumſtößliche Gewißheit. Blos die Exiſtenz der Natur und der Ma- terie iſt Zweck Gottes. Alle Körper, alle Phaenomena, die wir beobachten, find die not hwendigen Reſultate der nach rein mechaniſchen Geſetzen geſchehenden Einwirkung der Natur auf die Materie; mit einem Wort: das Univerſum im Sinne Lamarck's iſt das nothwendige, mechaniſche und natürliche Produkt der Natur und der Materie. Die Materie ift, wie alles direkt Er— ſchaffene, unzerſtörbar und unver— gänglich. Auch nicht das kleinſte Theilchen derſelben geht wirklich verloren, keines wird wirklich neu gebildet. Nur Gott hat die Macht, ihre Exiſtenz aufzuheben. Er hat verſchiedene Arten von Materie erſchaffen, die den Elementen entſprechen. Die Materie iſt ſehr theilbar, aber nicht bis in's Un⸗ endliche, nur bis auf die weſentlichen Mole— küle. Sie iſt vollſtändig paſſiv, träge, ohne eigene Bewegung und Thätig— keit. Sie kann aber bewegt werden und tig, keine Intelligenz. Sie iſt ab- Bewegungen mittheilen. Sie iſt nothwen— digerweiſe ausgedehnt, ſie iſt endlich, weil ſie eine Stelle im Raume einnimmt. Sie bildet die alleinige Subſtanz der Körper. Je nachdem nun ein Körper aus der Vereinigung oder Verbindung ver⸗ ſchiedener Arten von Materie beſteht, und je nach den Beziehungen, welche letztere zu einander und zu den umgebenden Medien haben, werden verſchiedene Eigenſchaften be- dingt. der Materie find undurchdringlich und untheilbar, wodurch ſie ſich von den integrirenden Molekülen der zu— ſammengeſetzten Stoffe unterſcheiden, die Die weſentlichen Moleküle Körper hervor.“ theilbar, veränderlich und zer ſtör⸗ bar ſind. Die Materie hat nur Eigen— ſchaften, keine Fähigkeiten. die Bewegung iſt ihr nicht eigen. beobachtete oder beobachtbare Erſcheinung iſt nothwendigerweiſe entweder das Produkt einer Veränderung im Zuſtande eines Auch Jede Stoffes, oder das Produkt von Beziehungen Modification eines Körpers, welcher ſeine zwiſchen verſchiedenen Arten von Materie, von denen wenigſtens eine in Bewegung iſt. Sehen wir nun des Näheren, was Lamarck unter Natur verſteht. Vorerſt iſt fie. bei ihm etwas abſolut Im ma- terielles. „Die Materie iſt dem, was wir unter Natur verſtehen, vollſtändig fremd.“ Sie beſteht, um die Redeweiſe Lamarck's zu gebrauchen, aus einer „Ordnung der Dinge“, welche eine Macht bildet, die beſtändig auf die Ma— terie und in Folge deſſen auf alle Theile des Uni verſums einwirkt. Sie wirkt blind, nothwendig, mechaniſch, hat keine Abſichten, keinen Zweck und kann unter gleichen Verhältniſſen nur gleiche Wirkungen hervorbringen. Sie iſt weder ſelbſtbewußt, noch ver nünf— hängig und beſchränkt. Wie alles direkt von Gott Erſchaffene bleibt ſie in ihrem Ganzen beſtändig gleich. Nur Gott kann ſie aufheben. Die Materie iſt ihr einziger Wirkungsbezirk. Ohne ein einziges Theilchen von ihr wegnehmen oder zu ihr hinzufügen zu können, ver— ändert und modificirt ſie dieſelbe beſtändig in der mannigfaltigſten Weiſe. Durch das unaufhörliche Einwirken dieſer Macht auf die Materie werden alle die verſchieden— artigen Körper und Erſcheinungen hervor— gebracht, die wir beobachten. „Die Natur bringt nicht die Materie, ſondern die Sowohl die anorga— niſchen Körper, als die Thiere und Pflanzen ſind Reſultate dieſer Einwirkung der blind, gefegmäßig wirkenden Macht der Natur auf die Materie. Die „Ordnung der Dinge“, welche die Natur ausmacht, be— ſteht: 1) Aus der Bewegung, zu deren Kenntniß wir durch die Beobachtung „der Lage verändert“, gelangen. Sie iſt uner- ſchöpflich, überall vorhanden, aber der Materie und den Körpern vollſtändig fremd. 2) „Aus verſchiedenartigen conſtanten und unabänderlichen Geſetzen, nach welchen alle Bewegungen, alle Veränderungen, denen die Körper unterworfen ſind, vor ſich gehen und welche im Univerſum, deſſen Theile ſich immer verändern, das ſich aber als Ganzes immer gleich bleibt, eine unzer— ſtörbare Ordnung und Harmonie her— ſtellen“. Die Natur verfügt unaufhörlich über den Raum, der unbeweglich, durch— dringbar und beſtimmt ift, und über die Zeit oder die Dauer, welche nur eine unendliche oder endliche Continuität nn 142 Lang, Lamarck und Darwin. der Bewegung oder der Exiſtenz der Dinge iſt. Thätigkeit, Geſetze und endloſe | Mittel find alſo für die Natur charakte- riſtich; die Summe aller paſſiven und weſentlich unthätigen Körper bildet das Univerſum, das einzige Wirkungsfeld der erſteren. Das iſt in kurzer, gedrängter Dar- ſtellung Lamarck's Philoſophie. Den | Encyclopädiſten wird man leicht heraus- finden. Sehr vieles erinnert an das „Systeme de la nature“: „Das Wort Zufall drückt nur unſere Unkenntniß der Urſachen aus.“ „Die Unkenntniß der Natur iſt Urſache des Unglücks der Men— ſchen“. Im Sinne des „Systeme de la Nature“ iſt auch die von Lamarck behaup- tete Relativität des Guten und Böſen ꝛc. — Werfen wir noch einen kurzen kritiſchen Blick auf die Philoſophie Lamarck's, ſo ſehen wir in erſter Linie, daß Lamarck, je mehr er zu höheren Abſtractionen empor= ſteigt, um fo mehr in einen ausgeſprochenen Dualismus verfällt. So der craſſe Dua- lismus in ſeiner Unterſcheidung der Natur und des Univerſums, in der Annahme einer Einwirkung eines Immateriellen auf ein Materielles. Zu oberſt erſcheint dann wieder der bekannte deus ex machina, jener „Pſeudo-Kraftbegriff“, den Caſpari im erſten Hefte dieſer Zeitſchrift ſo treffend charakteriſirt hat. Mag nun auch Lamarck in ſeiner Philoſophie noch fo ſehr dua— liſtiſch und z. Th. teleologiſch, in allen Dingen, insbeſondere in der Auf— faſſung der Seuſationen, des Raums und der Zeit, durchaus nicht kritiſch ſein, immerhin wahrt er ganz ausdrücklich für das ganze Gebiet der Naturforſchung das Geſetzmäßige, Mechaniſche. | nothwendig herbeigeführtes Re— Huta iſt “ =——— — — — ͤ—ůb Dies zeigt uns am beſten ein ausgezeich- neter Ausſpruch Lamarck's, den wir hier in getreuer Ueberſetzung anführen wollen und der zugleich uns in das Studium ſeiner naturgeſchichtlichen Lehren einzuführen geeignet iſt: „Hauptſächlich bei den Orga— nismen und ganz ſpeciell bei den Thieren glaubte man in den Ver— richtungen der Natur einen Zweck zu erblicken. Ein ſolcher Zweck iſt indeß hier, wie anderswo, blos Schein, nicht Wirklichkeit. Die Wirklichkeit hat bei jeder beſon— dern Organiſation unter dieſen Naturkörpern eine durch natür⸗ liche Urſachen und ſtufenweiſe zu Stande gekommene „Ordnung der Dinge“, durch eine fortſchreitende, von den Umſtänden bedingte Ent— wickelung von Theilen das herbei— geführt, was nur Zweck erſcheint, und was in Wahrheit reine Noth— wendigkeit iſt. Das Klima, die Lage, die Medien, in denen die Organismen leben, die Mittel zum Leben und zur Selbſterhal— tung, kurz, die ſpecifiſchen Ver- hältniſſe, in welchen jede Art lebte, haben die Gewohnheiten dieſer Art herbeigeführt; dieſe haben die Organe der Individuen umge— modelt und angepaßt. Die Folge davon iſt, daß die Harmonie, die zwiſchen der Organiſation und den Gewohnheiten der Thiere exiſtirt, uns als vorbedachtes Reſultat erſcheint, während ſie blos ein ) Introd. Seite 266 u. 267. we Die neueſten Ausgaben des Romans von der Urweisheit des Menſchengelchlechts. Von Carus Sterne. alter, in welchem alle Thiere zahm und giftlos, die Menſchen ohne Sünde und Krankheit in göttlicher Faulheit bei unſterblichem Ueberfluſſe dahin lebten, parallel mit dieſer, in dem ewig jungen Sange von der guten alten Zeit und der verderbten Gegenwart fortklingen— den Herzwunſch-Mythe der Menſchheit geht die andere, von dem goldenen Zeitalter des Geiſtes und der urſprünglichen Allwiſſen⸗ heit des gotterſchaffenen Menſchen. Gehörte der Paradieſestraum dem armen, hungern— den, überbürdeten und leidenden Volke an, fo ſchwelgten in dem Urweisheits-Rauſche ſeit jeher die mit ihrer Erkenntnißſtufe un⸗ zufriedenen, dürſtenden Forscher. Dieſelbe Phantaſie wird uns heute in einer andern Abſicht vorgeſpielt, nämlich gleichſam als Haupttrumpf und letztes Mittel, um uns Civiliſation emporgearbeitet habe, ſondern umgekehrt von der höchſten Bildungsſtufe in die tiefſte Rohheit herabgeſunken ſei, daß die Lehre von dem Sündenfall eine tiefe Wahrheit enthalte, und daß Plato vollkommen Recht habe, wenn er fordere, daß der göttliche Geiſt des Menſchen ſich zurückbeſinnen ſoll auf Alles das, was er feit feiner Inkarnation vergeſſen habe. Mr. Alfred Ruſſel Wallace, den man den Stiefoheim der Darwin'ſchen Theorie nennen möchte, weil er ſeine Nichte ſehr häufig mißhandelt, und von dem es bisweilen ſcheint, als arbeite er abwechſelnd mit einer oppoſitionellen Hirnhemiſphäre, wenn ſeine andre, beſſre Hälfte gerade müde iſt, hat mit obiger düſtern Melodie die anthropolo- giſchen Sitzungen des vorjährigen Natur- forſcher-Congreſſes von Glasgow eröffnet. Im Grunde machte ſich der geiſtvolle Forſcher dabei nur zum Echo einer gleichgeſtimmten zu beweiſen, daß die Wiſſenſchaft wirklich umkehren müſſe, da die Menſchheit ſich nicht aus einem Zuſtande der Barbarei zur Behandlung deſſelben Thema's, welche Mr. Albert Mott ſchon 1873 als Präſident der Liverpooler philoſophiſch⸗literäriſchen Ge- 144 Carus Sterne, Die neueſten Ausgaben des Romans von der Urweisheit ıc. ſellſchaft vorgetragen hatte, obwohl er noch einige Zweiglein und Blumen einflocht, die in dem Garten des bekannten ſchottiſchen Aſtronomen Piazzi-Smyth gewachſen ſind. Da ſich die Spitze dieſer neuerweckten Doktrin gegen die böſen Fortſchrittler der Naturwiſſenſchaft kehrt, welche vermuthen, daß das Menſchengeſchlecht ſich umgekehrt aus ſehr niedern Anfängen emporgearbeitet habe, ſo hat dieſelbe einen ſehr angenehmen Klang für alle wohlgeſinnten, conſervativen Elemente der Gelehrten-Republik gewonnen. Die Rückſchrittstheorie iſt förmlich Mode geworden, und auf ihre Statuten ver— pflichtet ſich ein Geheimbund, deſſen Ziel iſt, zu beweiſen, daß die moderne Willen- ſchaft ſich auf gänzlich verkehrtem Wege be— findet. Welche Perſpektive thut ſich ihnen auf, wenn ſie von dem göttergleichen Adam, wie ihn die fromme Bourignon in ihren Viſionen geſehen, zurückblickt auf den Darwinianer, der ſich nicht mehr ſchämt, eine gewiſſe körperliche Aehnlichkeit mit dem Affen einzugeſtehen, ja bis zu dem Neger und Buſchmann, welcher dieſer Rückbildung wirklichen körperlichen Ausdruck leiht! Hat doch bereits Mivart angedeutet, daß es am Ende leichter ſei, die vier Linien der Menſchenaffen vom Menſchen herzuleiten als umgekehrt dieſen von ihnen, und es ſchließen ſich dann wunderhübſch daran die vielſeitigen modernen Beſtrebungen, Am— phiorxus und Sackwürmer als degenerirte Wirbelthiere, ja die ganze Schöpfung als eine durch den Sündenfall aus dem gott— gleichen Adam hervorgegangene Familie von Rückſchrittlern aufzufaſſen, wie das ja in allem Ernſte bereits geſchehen iſt. Es verlohnt ſich mithin wohl einmal, dem Urſprunge dieſer modiſchen Parodie der Darwin 'ſchen Theorie nachzugehen. Es ſcheint, daß die älteſten Spuren der— ſelben im alten Babylon anzutreffen waren. Die Prieſter dieſes allerdings ſehr alten, viel— leicht älteſten Kulturvolkes rühmten ſich, wie Beroſus verrathen hat, ſeit zwanzigtauſend Jahren aſtronomiſche Beobachtungen ange— ſtellt zu haben, und man ſprach von einer vor der großen Fluth bereits zur höchſten Blüthe gediehenen Wiſſenſchaft, deren ſchrift— liche Aufzeichnungen Kiſuthrus, der chaldäiſche Noah, nachdem ihm die Fluth angekündigt worden war, in der Nähe der alten Sonnenſtadt Sippara vergraben haben ſollte, um ſie den Ueberlebenden zugänglich zu machen. Nach hieran ſich knüpfenden egyp— tiſchen Sagen wäre dies auch gelungen und der Prieſter Manethos ſollte ſeine Auf— zeichnungen aus derartigen in Stein einge— grabenen, vorſündfluthlichen Nachrichten ge— ſchöpft haben. Mit faſt abgöttiſcher Ver— ehrung blickten die Griechen auf die Ueber— bleibſel jener in Indien, im alten Chaldäa und in Egypten gepflegten Urweisheit, und ihre Philoſophen pilgerten nach jenen Ländern, um wenigſtens einen Bruchtheil der antedi- luvianiſchen Philoſophie heimzutragen. Fragen wir, worin dieſelbe beſtand, ſo heißt es, daß es nicht erlaubt war, darüber offen zu ſprechen, daß man ſie nur in ſymboliſcher Sprache von Mund zu Mund und unter dem Siegel der größten Ver— ſchwiegenheit verbreiten durfte. Diodor ſagt uns ausdrücklich, daß in den ſamo— thrakiſchen Myſterien die Weisheit eines durch die große Fluth vertilgten Urvolkes mitgetheilt werde; Plato, Cicero, Strabo und andere vollwichtige Autoritäten ſtimmen in der Andeutung überein, daß dort der tiefſte Grund der Dinge, welcher dem Volke nur unter Bildern zugänglich ſei, gelehrt werde. Man ließ durchblicken, daß dieſe Urweisheit der Altvordern eine offenbarte geweſen, daß fie als Mitgift des Schöpfers, als von vielen Inhabern leider vernachläſſigte Erbweisheit zu betrachten ſei. Die Babylonier wollten dieſe Offenbarungen von einem fiſchgeſtalteten Gott Jannes, die Egypter von Thoth, die Etrusker von einem Sohne des Jupiter erhalten haben. Aber wie geſagt, die Menſchen achteten das göttliche Geſchenk nicht, ſie ließen es bis auf wenige Spuren verkommen, ſanken herab bis zum Nullpunkt des Verſtandes, wie ihn etwa die Auſtralier darbieten, ja immer noch tiefer, bis auf jene Stufe der negativen Weisheit, in der es beſonders einige Freunde unſerer Zeitſchrift weitgebracht haben ſollen. Ohne vorgefaßte Meinungen würde man kaum ein Recht haben, die Möglichkeit einer ſolchen, durch Fluthen oder andre Erd— umwälzungen vernichteten Kultur in Abrede zu ſtellen. Allein noch niemals hat man in angeſchwemmten Schichten, — es wären denn ſolche unſerer Strom- oder Meeresufer, — Spuren entdeckt, die man auf eine höhere antediluvianiſche Kultur beziehen könnte, und die Parteigänger derſelben werden ſich bemühen müſſen, dieſelben in von den Meeres— wellen überſchwemmten Vorwelten, wie etwa auf der vielumfabelten Inſel Atlantis, oder auf dem vielleicht ausſichtsreicheren ſubmarinen Erdtheil Lemuria zu ſuchen. Dem gegen— über glauben Mott und Wallace den voll ausreichenden Beweis, daß auch unfre | Vorfahren die herabgekommenen, in Un⸗ wiſſenheit gefallenen Kinder einer viel weiſeren Vorzeit geweſen ſeien, aus den Ruinen der Vorzeit führen zu können. Wenn ſich auch dabei von einem anfänglich niedern Zu— ſtande aus, zu dem die allmälig in die Höhe geſtiegenen Kulturen in einem unge— heuren Kreislaufe zurückkehren, ſo verräth Wallace den Anſchein giebt, als gehe er Carus Sterne, Die neueſten Ausgaben des Romans von der Urweisheit ꝛc. 145 doch feine Bundesgenoſſenſchaft mit Piazzi- Smyth, daß im Hintergrunde ſeiner Ge— danken neuerdings wohl die Erbweisheits— Theorie Platz gegriffen hat, wie er ſich denn auch in ſeiner Rede redliche Mühe gegeben hat, die Annäherungen zwiſchen Menſch und Thier hinwegzuleugnen. Sein Schluß— ergebniß lautet: „daß mehrere, vielleicht die Mehrzahl unſrer wilden Völker, (warum nicht alle?) die Abkömmlinge gebildeterer Racen ſeien, wie denn auch die ihnen be— kannten Kunſtfertigkeiten in entfernten Con- tinenten mit einander eine erſtaunliche Aehnlichkeit darböten, und auf einen ge— meinſamen Urſprung von civiliſirteren Na- tionen hindeuteten.“ Insbeſondere glaubt Wallace mit dem Dr. Daniel Wilſon bei den Urbewohnern Nordeuropa's, die durch das Klima leicht erklärbaren Spuren einer Decadence zu erkennen, da der Menſch wahrſcheinlich in ungeheuer zurück liegenden Zeiten in wärmeren Strichen zuerſt aufgetreten ſei. Es würden demnach die ältern Schichten Zeichen einer größern Kunſtfertigkeit als die darauf liegenden jüngern aufweiſen müſſen. In dem wohldurchſuchten Europa findet dieſe neue Anſchauungsweiſe weniger Stützen. Aber in Nordamerika, woſelbſt die Europäer bei der Entdeckung nur ziemlich rohe In— dianerſtämme antrafen, verbergen die Erd— ſchichten in der That Ueberbleibſel einer un— leugbar höheren und dennoch gänzlich ver— geſſenen Geſittung; auf oceaniſchen Inſeln, wo heute Kannibalen hauſen, finden ſich Spuren von Denkmälern und Bilderſchriften, deren Urheber ſicher geiſtig höher ſtanden, als die heutigen Bewohner. In Trümmern liegen die Wunderbauten der alten Indier, Perſer, Chaldäer, Egypter und andrer Völker, die vor Jahrtauſenden ſtolz auf barbariſche Nachbarn herab ſahen; wilde Horden, die keine Ahnung von der Weihe er des Bodens haben, haufen in den Trümmern. Die Blüthe Griechenlands iſt für immer verwelkt, und die Ruinen ſeiner Tempel, die Fragmente ſeiner Bildwerke ſcheinen be— deutungsvoll auf den Verfall der Kunſt und Geſittung hinzudeuten, deſſen Endziel mithin wäre, daß die Menſchen ſich endlich ſelbſt verzehrten und zu Raubthieren würden. Gewiß enthält die ſtumme Predigt der Ruinen, wie ſie einſt Volney in Worte gekleidet, tiefernſte Mahnungen, zweifellos ſind in unzähligen Ländern die Menſchen von hohen Kulturſtufen hinabgeſunken, faſt bis zur Grenze des Thieres, und ſicher iſt das Gerede von einem nothwendigen, ge— raden Fortſchreiten der Geſittung ebenſo falſch, wie das andere von einem zielbe— wußten Aufſteigen der Thierwelt bis zum Menſchen. Wir haben hier nicht zu unter— ſuchen, wie weit das, was wir Kultur und Civiliſation nennen, den Keim des Verderbens in ſich trägt, nach welchen Ge— ſetzen etwa die Staaten entſtehen und ver— gehen, ob die Cultur nach Weſten oder Oſten ſchreitet; die Frage iſt vielmehr: ob, von dem Hinſterben eines einzelnen Cultur— volkes abgeſehen, ganz im Allgemeinen der Meuſch ſich aus einem Zuſtande der Bar— barei und höchſten Rohheit emporgearbeitet habe zur höchſten Bildungsſtufe und theil— weiſe raffinirtem Luxus, oder ob der um— gekehrte Weg der allgemeine ſei. Aus der Allverbreitung von Steinwaffen in Schichten, die kaum jemals über den Trümmern wirklicher Culturſtätten, nicht ſelten aber unmittelbar unter denſelben gefunden wor- den ſind, hat man bekanntlich die Lehre von dem prähiſtoriſchen Menſchen auf- gebaut, an deren Stelle Mott und Wallace, nunmehr auf einige amerikaniſche und ozeaniſche Vorkommniſſe geſtützt, diejenige von dem poſthiſtoriſchen Barbaren Carus Sterne, Die neueſten Ausgaben des Romans von der Urweisheit ze. ſtellen möchten. Einer der kühnſten Vor— kämpfer dieſer verkehrten Welt-Ordnung, Herr Hippolyt Clauzel“) hilft ſich noch ſchlauer, indem er ſagt: „Der Irrthum, daß das Menſchengeſchlecht mit einem Zu— ſtande der Wildheit begonnen habe, während vielmehr umgekehrt dieſer Zuſtand das Endergebniß eines allmäligen, durch die Zerſtreuung und Iſolirung auf weiten Ge— bieten verurſachten Verkommens geweſen iſt, hat unglaubliche Dummheiten (bévues) im Gefolge gehabt.“ Die Herren Boucher de Perthes, Chriſty und Lartet, Fraas, Lyell, Lubbock, Virchow und tauſend andere Verblendete meinten bekanntlich, in ge— wiſſen mehr oder weniger bearbeiteten Steinen die rohen Waffen und Werkzeuge einer auf den erſten Schritten der Cultur befindlichen Urbevölkerung erkennen zu müſſen. Thorheit ohne Gleichen! Jene vermeintlichen Meſſer und Beile waren nach Clauzel die religiöſen Symbole des weiſen Urvolkes, ja die in egyptiſchem Styl gehaltenen Dar— ſtellungen der vom Himmel herab ge— tropften Urweisheit ſelbſt! Sie waren zugleich die Abbilder der Paradies- frucht, welche die von dem Cherub ver— triebenen Menſchen auf allen Wanderungen mit ſich führten, wie Hausgötter verehrten und einander als Erinnerung an den gött— lichen Urſprung in's Grab legten. „Alle dieſe Steine“, jo hatte Leguay geſagt, „haben den Sinn von Votivgaben; ſie entſprechen ſozuſagen den Immortellenkränzen und ähnlichen Liebeszeichen, die wir auf die *) Le triomphe du Christ, ou de couverte d’une science immense perdue de- puis 5000 ans. Bergerac 1875. Die hier mitgetheilten Stellen ſind dem 3. Kapitel (S. 115 — 164) des köſtlichen Buches ent- nommen. j Gräber unſrer Verwandten und Freunde legen, einem Brauche folgend, der ſich im Dunkel der Zeiten verliert . . . .. Zu allen Zeiten, auf jeder Culturſtufe em— pfand der Menſch den Drang, ſeiner Trauer äußerlichen Ausdruck zu leihen ..... In jenen fernen Epochen nun verfertigte Jeder ſeine Opfergabe ſelbſt, formte ſeinen Kieſel, und trug ihn ſelbſt herbei. Dieſer Auf— faſſung würde am beſten die Verſchiedenheit der in den Gräbern zerſtreuten Kieſelſtücke einer großen Zahl von weniger geſchickten Händen gearbeiteter Stücke unter ihnen.“ Zu dieſer wohldurchdachten Vermuthung über die Bedeutung der maſſenhaften Werk— zeuge in manchen Gräbern, bemerkt Clauzel: verſinnlichte, der roheſte Splitter dieſelbe Bedeutung hatte. Indeſſen, es iſt bemerkenswerth, licherweiſe zu Sägen und Schabſteinen machen möchte, faſt regelmäßig und zum Beweiſe ihrer myſtiſchen Bedeutung die Form eines dreiſeitigen Prisma's, als Dar— ſtellung der Dreieinigkeit, darboten.“ rohen Formen dieſer vermeintlichen Werk— zeuge und Waffen ſchließen dürfe, daß man damals keine beſſeren im gewöhnlichen Leben verwendet habe, ebenſowenig dürfe aus den megalithiſchen Bauwerken, den Steinkreiſen und rohen Opfertiſchen geſchloſſen werden, daß die Erbauer darin etwas ihnen Eben— bürtiges, oder gar ihr Höchſtes geleiſtet hätten, während ſie doch anderwärts Wunder— bauten vollführt hätten, die wir uns ver— geblich bemühen, nachzuahmen. Clauzel erinnert zur Erklärung der Rohheit dieſer Carus Sterne, Die neueſten Ausgaben des Romans von der Urweisheit ꝛc. nicht aus behauenen Steinen würde entweiht werden, wenn du ihn mit dem Meißel berührteſt“, eine Vorſchrift, fluthlichen Kinder der dem Cultus gewidmeten Monumente der 147 Vorzeit an das göttliche Gebot: „So du mir einen Altar errichteſt, ſollſt du ihn erbauen, er die man ſo gut es anging, noch beim erſten Tempelbau zu Jeruſalem durchzu⸗ führen ſuchte. Dieſe Bauten der vorſünd— Weisheit, waren eben abſichtlich roh gehalten, um die Afterklugheit des neunzehnten Jahrhunderts entſprechen und insbeſondere die Roharbeit zu äffen. Von der hohen mathematiſchen Bildung legt aber die Bewegung und Auf— richtung der koloſſalen Maſſen allein ſchon vollgiltiges Zeugniß ab. Daß die Griechen und andre Völker in einem wohlüberſehbaren Entwicklungsgange begannen, die geheime „Man darf nicht vergeſſen, daß in jener Zeit, in der man die Gottheit durch Steine Mathematik ihrer Urahnen anzuwenden und mit Meißel und Loth immer ſchönere Tempel zu bauen, war alſo, wie es ſcheint, wie das beſtgeformte Stück bereits Profanation und Decadence, und die rohen Bildwerke der Oſterinſel ſind als daß dieſe Splitter, die man heute lächer-⸗ abſichtlich roh gehaltene Skulpturen viel— leicht von dieſem höheren Geſichtspunkte aus „unſrer lieben Frau“ von Melos weit vorzuziehen. So ſcharfſinnig dieſe von der Rohheit der Steinwaffen und der eyklopiſchen Bauten Ebenſowenig, wie man alſo aus den hergenommenen Gründe für die Superio— rität der Urmenſchen auch ſein mögen, man kann doch nicht läugnen, daß ſie mehr negativer Art ſind, etwa wie man die Klugheit am Schweigen und den wahren Philoſophen, ſeit Sokrates, am Geſtänd— niſſe ſeiner tiefgefühlten Unwiſſenheit er— kennt. Allein auch mit poſitiven Gründen hat man die niederſchmetternde Botſchaft von dem tiefen Sturze des ehemals erha— benen Geiſtes zu unterſtützen gewußt, indem man gewichtige Spuren einer Urweisheit nachzuweiſen ſuchte, welche ſchlechterdings nicht irdiſcher Abkunft ſein könnten. Zuerſt 148 hat man in dieſer Beziehung auf die ſchon im Alterthum angeſtaunten aſtronomiſchen Kenntniſſe der Chaldäer und alten Indier hingewieſen, welche letzteren den herabge— kommenen Söhnen ein Verfahren hinter⸗ laſſen haben, nach dem ſie Sonnen- und Mondfinſterniſſe faſt mechaniſch an den Fingern ausrechnen, indem ſie ein Gedicht herſagen und darnach den Termin der näch— ſten Finſterniß aus dem vorigen berechnen. Beſonders Bailly in ſeiner „Geſchichte der Aſtronomie“ bei den Alten hat viel dazu beigetragen, daß die aſtronomiſchen Kentniſſe der Alten in's Fabelhafte über— trieben worden ſind, ſo daß wirklich der Zweifel rege werden mußte, ob denn ein ſolcher Wiſſensſchatz ſelbſt erworben ſein konnte ſchon zu einer Zeit, die nur we— nige hundert Jahre nach dem angenommenen Geburtsjahre der Menſchheit fiel. Die neuere Zeit hat, nachdem die Entzifferung der Keilſchriften gelungen iſt, dieſe Angaben an ſichern Dokumenten kontroliren können und der unheimlichen Urweisheit näher auf die Finger geſehen. In der Bibliothek von Ninive wurde unter andern eine größere Anzahl von Tafeln gefunden, die zu einem großen aſtronomiſchen Werke, Namar Bel betitelt, gehören, und wie die meiſten dieſer Werke im Jahre 700 v. Chr. auf Befehl König Sargon's II nach Tafeln ko— pirt ſind, die vielleicht tauſend Jahr und darüber alt waren. A. H. Sayce und andere Keilſchriftkenner haben dieſe Sargon’- ſchen Tafeln überſetzt, und es tritt uns daraus ein reſpectables Beobachtungsmaterial entgegen. Aber einmal zeigen ſich dieſe Kenntniſſe tief geſättigt mit aſtrologiſchem Aberglauben, dem deutlichſten Merkmal einer kaum den Kinderkrankheiten entron— nenen Wiſſenſchaft, auf der andern Seite begegnet man Angaben über Finſterniſſe, Carus Sterne, Die neueſten Ausgaben des Romans von der Urweisheit ꝛc. die nicht zur berechneten Zeit eingetroffen waren, wahrſcheinlich, weil man nur ver— ſtand, den regelmäßigen Cyclus der Finſter— niſſe, nicht aber zu berechnen, an welchen Orten der Erde ſie ſichtbar ſein würden. So hat man ein Tüfelchen gefunden, auf welchem der offizielle Aſtronom Abal-Iſtar dem Könige Meldung über eine derartige ausgebliebene Sonnenfinſterniß macht. Die offenbarte Urweisheit hält alſo im Punkte der Aſtronomie keinen Vergleich aus mit unſerer ſündlichen, ſelbſterarbeiteten Wiſſen⸗ ſchaft. Zahlreiche Andeutungen gelehrter Män- ner des ſpätern Alterthums hatten, wie ſchon oben erwähnt, durchblicken laſſen, daß in den Myſterien die Reſte der Ur— weisheit, tiefe phyſikaliſche und kosmiſche Lehren vorgetragen würden, und die my— thologiſche Schule, welche in den erſten Jahrzehnten unſres Jahrhunderts herrſchend war, die Kanne, Creuzer, Schelling, Barth u. A. verſuchten es denn auch, alle Mythen des griechiſchen Olymps phy— ſikaliſch zu verſtehen, wie es Dupuis früher und im Allgemeinen mit mehr Glück unternommen hatte, dieſelben aſtronomiſch zu deuten. Der gelehrte Hallenſer Phyſiker Prof. C. Schweigger unternahm es in dieſem Sinne, in zahlreichen Abhandlungen den Beweis zu liefern, daß die griechiſchen und römiſchen Prieſter die Geſetze des da— mals eben erkannten Electromagnetismus mindeſtens ebenſo genau gekannt hätten, wie Oerſtedt und Ampere, und daß man nichts beſſeres thun könne, um den Studirenden die ſchwierigſten Probleme an— ſchaulich zu machen, als zu der Bilderſchrift der griechiſchen Tempel zurückzugreifen. Auf Veranlaſſung der neueren Entdeckungen von Dümichen und Brugſch, nach denen die altegyptiſchen Tempel bereits vor vier— tauſend Jahren mit Blitzableitern verſehen geweſen zu ſein ſcheinen, habe ich vor einigen Monaten dieſes Feld noch einmal gründlich durchgeackert, und bin dabei zu bemerkens— werthen Reſultaten gelangt, die ich ander— wärts veröffentlicht habe, allein ich habe mich nicht überzeugen können, daß das Alter— thum über die leicht zu erwerbende Kenntniß der Thatſache, daß die Luftelectrizität ſich an metallenen Gegenſtänden herableiten und anhäufen läßt, weit hinausgekommen ſei. Vor Allem aber haben einige Winke des alten Herodot und Strabo, nach denen in den äußern Ausdehnungen der großen Pyramide von Gizeh gewiſſe mathe— matiſche Verhältniſſe und beſtimmte Maß— einheiten niedergelegt ſeien, die Alterthums— forſcher gereizt, hier ein unvergängliches Denkmal der offenbarten Urweisheit zu erkennen, und daraus die tiefſten Geheim— niſſe der Welt abzuleiten. Bereits im Jahre 1637 ſuchte der Oxforder Profeſſor John Greaves dieſe Geheimniſſe der großen Pyramide mit der Meßſchnur zu ergründen, und die Gelehrten der fran— zöſiſchen Expedition Le Pere und Cou— telle fanden, daß die Angabe des Strabo, die Höhe des Baues gleiche genau einem egyptiſchen Stadium, bewunderungswürdig zutreffe, woraus weiter folge, daß die alten Egypter vor undenklichen Zeiten Gradmeſſungen mit einer Genauigkeit aus— geführt hätten, die man damals kaum übertraf. In unſerm Jahrhundert widmete zuerſt der engliſche Oberſt Howard Vyſe der großen Pyramide ein dreibändiges Werk (1837), in welchem er auf Grund der Meſſungen ſeines Ingenieurs Perring wunderbare Dinge entdeckt hatte. Ihm folgte der Ingenieur Wild aus Zürich, der in dem Verhältniſſe der Maße eine großartige architektoniſche Vorführung des Carus Sterne, Die neueſten Ausgaben des Romans von der Urweisheit ꝛc. 149 pythagoräiſchen Lehrſatzes erkannte. Mr. John Taylor aus London veröffentlichte jodanı 1864 die große Entdeckung, daß in dem Maßverhältniß der Pyramidenhöhe zur Summe der Baſis-Kanten die Lu dolf'- ſche Zahl mit Ludolf'ſcher Genauigkeit mehrere tauſend Jahre vor demſelben archi— tektoniſch verewigt ſei. Aber alles das waren nur die Vor— läufer der pyramidalen Entdeckungen, welche der ſchottiſche Aſtronom Piazzi-Smyth an der großen Pyramide machen ſollte, Entdeckungen, die darauf abzielen, zu zeigen, daß dieſe Pyramide ein von Gott in— ſpirirtes Werk iſt, in welchem die größten phyſikaliſchen und aſtronomiſchen Entdeckungen unſerer Tage, die Maße des Weltalls, vorweg deponirt ſind, vor welcher die Kepler, Newton, Herſchel und Humboldt das Haupt neigen ſollen, in Demuth bekennend, daß ſie mit der ge— offenbarten Weisheit der großen Pyramide keineswegs concurriren können. Seit dem Jahre 1864 hat Piazzi Smyth eine Bibliothek von ſechs, zum Theil ſehr dicken Bänden über das ehrwürdige Bauwerk ver— öffentlicht, von denen wir hier nur auf den letzten verweilen”), da er die vollſtän— digſte Ueberſicht giebt. Wir wollen die wunderbaren Reſultate dieſer Pyramiden- weisheit zur Beſchämung der modernen Forſchung hier nochmals zuſammenſtellen: 1) Die Höhe der Pyramide entſpricht einem Milliardſtel der Entfernung der Sonne von der Erde, mit einer Genauigkeit, wie man ſie 1867 noch nicht erreicht hatte, und erſt in den jüngſtverfloſſenen Jahren berechnet hat. 2) Die Pyramide iſt ſo genau nach den Himmelsgegenden orientirt, wie es z. B. Tycho de Brahe bei ſeiner ) Our Inheritance in the great Pyramid. II. Ed. London. 1874. 150 Sternwarte auf Uranienberg trotz allen augewendeten Fleißes nicht eyreichen konnte. 3) Das Gewicht der Pyramide entſpricht auf ein Haar dem Hundertbillionften Theil des Erdgewichtes. 4) Ein halbes Milliard— ſtel des Erddurchmeſſers entſpricht genau dem Pyramidenzoll, der Maßeinheit der Stiftshütte und des Weltalls. 5) Die Baſis-Kanten ergeben in Pyramiden- ellen die Tage eines Jahres bis auf den Bruch. 6) Die Länge des Jahreswegs der Erde um die Sonne beträgt auf den Schritt genau hunderttauſend Millionen Pyramidenzolle. Ich will nur noch ſumma— riſch erwähnen, daß in dem Innern der Pyramide ein Gefäß gefunden wurde, deſſen Inhalt mit Waſſer gefüllt, zur Beſtimmung des Pyramidenpfundes dient und zugleich die mittlere Erddichtigkeit ausdrückt, daß die Richtung des geneigten Hauptganges der Pyramide das Erbauungsjahr angiebt, und gleichſam den unverrückbaren Zeiger der Weltenuhr darſtellt, welcher das durch das Vorrücken der Nachtgleichen gegebene große Weltenjahr abmißt, nach welchem die Conſtellationen des Weltalls wieder— kehren. Man kann ſich denken, mit welchem Enthuſiasmus die Reſultate dieſer Unter— ſuchungen, welche die moderne Wiſſenſchaft vor der offenbarten Urweisheit demüthigen ſollen, von chriſtlich konſervativen Männern aufgenommen worden ſind. Eine Menge derſelben, von denen ich nur Prof. Hamilton Smith in New-York, Sir John Vincent Day in Glasgow, Mr. James Simpſon, Mr. Waynman Dixon, Sir John Herſchel erwähnen will, haben ſich mit Smyth vereint, um den Triumph der offen— barten Weisheit voll zu machen und Sir Alfr. Ruſſel Wallace hatte Recht, ſich in ſeiner Rede über die richtige Auffaſſung Re Carus Sterne, Die neueſten Ausgaben des Romans von der Urweisheit ꝛc. des Entwicklungsganges der Menſchheit hauptſächlich auf die großen Entdeckungen Smyth's zu berufen. Man darf gewiß auch ferner noch auf die überraſchendſten Enthüllungen aus dieſem Kreiſe für die Verbreitung höherer Wahrheit rechnen. Schon haben ſie entdeckt, daß in der großen Pyramide nicht nur, wie in einem Grund— ſteine, der Bauplan und die Maße des Weltalls niedergelegt ſeien, ſondern daß darin auch das Jahr der Sündfluth, der Geburt und des Leidens Chriſti, des Welt— untergangs u. ſ. w. zwar nur in Maß⸗ zahlen, aber dem geſchärften Auge deut— licher als wenn es geſchrieben ſtünde, niedergelegt ſind. Mein verehrter College, der Herausgeber des Pariſer Kosmos, Abbé Moigno, einer der eifrigſten Partei— gänger der Pyramidenweisheit, hat die bis— herigen Reſultate derſelben in einem Buche?) geſammelt, welches ich den auf ein weiteres Eindringen in dieſelbe begierigen Leſern empfehlen kann. i a Es bleibt mir nur noch übrig, auf einige Umſtände hinzuweiſen, welche alle dieſe hochgelehrten Herren für unweſentlich halten und darum in ihren Schriften zu erwähnen unterlaſſen, nämlich darauf, daß wir eigentlich gar nicht genau feſtſtellen können, wie hoch die Pyramide, wie lang ihre Kanten und ſonſtigen Dimenſionen geweſen ſind. Bekanntlich fehlt derſelben die ſcharfe Spitze und die geſammte äußere Bekleidung, und je nachdem man die letz— tere etwas dicker oder dünner annimmt, kann man durch Multipliciren und Di— vidiren jede beliebige Zahl herausrechnen, die man ſich zu finden vorgeſetzt hat. So hat denn auch einer der begabteſten Schüler *) La grande Pyramide, ses mer- veilles, ses mysteres et ses enseignements. Paris 1875. Carus Sterne, Die neueſten Ausgaben des Romans von der Urweisheit ꝛc— Smyth's, Herr A. Dufeu, Mitglied des egyptiſchen Inſtitutes zu Paris, in vollem Ernſte, aber zum Entſetzen des Mei— ſters, aus den Dimenſionen der großen Py— ramide herausgerechnet“), daß deren Erbauer wahrſcheinlich Amerikaner geweſen ſind, was vortrefflich mit der Hypotheſe des Herrn Wallace von der Urweisheit in Nordamerika ſtimmt. Nicht ganz ſo ernſthaft ſind vielleicht die Rechnungen des Herrn Prof. Wacker— barth in Upſala zu nehmen, der nach An— leitung des ſchottiſchen Aſtronomen aus den Dimenſionen ſeines Fortepiano die wunder— bare Zahl ebenfalls herausrechnete und dieſelbe ferner in der Höhe der Pauls— kirche (314 Fuß) ausgedrückt fand, wäh— rend Sir Henry James aus dem merk— würdigen Umſtand, daß die Länge eines Aequatorgrades 365,234 engliſche Fuß be— trägt, alſo durch 1000 dividirt genau die Tage des Jahres ergiebt, ſich zu dem Schluſſe berechtigt fand, daß der engliſche Fuß ebenſo gut ein inſpirirtes Weltallsmaß ſein müſſe, wie die famoſe Pyramidenelle. Clauzel glaubt aus dem Umſtande, daß das „älteſte Gebäude der Welt“ zugleich das „gelehrteſte Haus“ ſei, ſchließen zu dürfen, daß ſehr wohl die Völker der ſo— genannten Steinzeit die heruntergekommenen Nachkommen eines weiſen Urvolkes, deſſen Bildungsſtufe der unſrigen gleichkam oder ſie weit übertraf, geweſen ſein können; wir ſchließen uns hingegen lieber der Meinung Wackerbarth's an, daß Zahlen in der Hand eines Träumers ein gefährliches Spielzeug ſeien, und daß man ein ſehr „gelehrtes Haus“ ſein könne und doch Ein— ) Decouverte de Page et la véritable destination des quatres Pyramides de Gizeh, prineipalement de la grande Pyramide. | Paris 1873. 151 fälle haben kann, wie das bekannte ein— fältige alte Haus. Da die Parteigänger der pyramidalen Urweisheit insgeſammt ſtarke Bibelgläubige ſind, ſo will ich ihnen in allem Ernſte zu bedenken geben, daß ihre Lehre höchlichſt entſchieden der Bibel zuwiderläuft. Denn dieſe lehrt bekanntlich, daß gerade mit dem Genuſſe vom Baume der Erkenntniß die Sünde in die Welt kam, und dieſe Mythe iſt in ihrer Art zehnmal gedankenreicher und ſchöner als die, daß eine im Beſitze der höchſten Weisheit befindliche Menſchheit ſo dumm geweſen ſein ſollte, dieſelbe freiwillig wieder zu ver— ſcherzen. Indiſche, perſiſche und turaniſche Sagen ſtimmen darin völlig mit der ſe— mitiſchen Mythe überein, und ich kann den Herren Smyth und Moigno nur ſoweit Recht geben, als ſie behaupten, die Urheber dieſer Mythen ſeien ſchlauer geweſen als ſie ſelbſt. Dem Herrn Hippolyt Clauzel, der in den ſteinernen Werkzeugen der Vor- zeit gleichzeitig das himmelstropfenförmige Symbol der Urweisheit und des Apfels, durch den ſie verloren ging, erkennen will, und der in den geſammten religiöſen Bild— werken des Erdballs nichts als Wieder— holungen dieſer Sündenfall-Mythe zu er— kennen im Stande iſt, deſſen erſte Frage ſtets lautet: Oü est la femme? und die zweite: Oü est la pomme? — möchte ich zu bedenken geben, ob nicht vielleicht die Auf— faſſung des Herrn Victor Guerin bibel- gemäßer ſei, der vor drei Jahren einen Haufen ähnlicher Kieſelwerkzeuge, die er in einer Höhle fand, für die Werkzeuge er— klärte, deren ſich Joſua zu ſeiner berühmten gaſſenoperation bedient hat, und von denen ein Theil ja wohl über die geſammte Erde verftrent worden fein mag. Die andern, die mich tadeln möchten, derartigen Träume— — — — 152° reien ſoviel Rückſicht geſchenkt zu haben, mögen ſich zu meiner Entſchuldigung des alten Wortes erinnern: Diffieile est, satiram non seribere! Mit dieſen Urweisheits-Doctrinären, welche ſagen: „die Wilden aller Zeiten waren und find Abkömmlinge urweifer Menſchen,“ kann ein Mann von dem weiten Blicke Wallace's natürlich nicht in allen Stücken gemeinſchaftliche Sache machen. Er wünſcht zunächſt nur Zweifel zu erregen, ob man ein Volk der Vorzeit oder Gegenwart, überhaupt nach der Beſchaffenheit ſeiner Geräthe und Lebensweiſe prähiſtoriſch nennen dürfe, und für dieſen Einwurf darf ihm die prähiſtoriſche Forſchung dankbar ſein, obwohl ſie denſelben Grundſatz längſt, z. B. den jetzt ſo tief rangirenden Auſtraliern gegenüber, geltend gemacht hat. Wir würden dieſes Muſterbeiſpiel für ſehr viel glücklicher halten, als die beiden von Wallace aus— führlich dargelegten Beiſpiele der Urbe— wohner Nordamerika's und der Oſterinſeln. Die Steinbildwerke der Letzteren bezeichnen unſres Bedünkens keine beſonders bemerkens— werthe Culturſtufe und von den Urameri— kanern ſchließt Wallace ſelbſt, aus dem unähnlichen Profil der Pfeifen-Bildwerke, daß ſie nicht die Ahnen der nachherigen Landinhaber geweſen ſeien. Laſſen wir der Kürze halber die Beweiskraft jener plafti- ſchen Schöpfungen unangezweifelt, ſo ſtehen wir nur einer amerikaniſchen Parallele zu der lokalen Vernichtung alteuropäiſcher Cultur durch aſiatiſche Horden gegenüber. Nur auf einen Umſtand möchte ich zum Schluſſe noch aufmerkſam machen. Wallace meint, daß zu einer derartigen Degeneration Carus Sterne, Die neueſten Ausgaben des Romans von der Urweisheit ꝛc. 2 ) BET EEE IE ähnliche ungeheure Zeiträume gehören möchten, als zur Erwerbung einer durchaus ſelbſtän— digen Cultur. Abgeſehen davon, daß wir in einzelnen europäiſchen Ländern während des Zeitraums weniger tauſend Jahre mehrere Schwankungen von ausgezeichneter Cultur zu verhältnißmäßig auffallender Verwilderung verfolgen können, ſo werden unter Umſtänden ſogar wenige Generationen hinreichen, um aus den Kindern eines hoch— gebildeten Volkes „Steinmenſchen“ zu machen. Man braucht nur an die Robinſonaden zu denken, deren Urbild Grimmelshauſen im Simpliciſſimus geſchaffen hat. Denkt man ſich einige Familien der gebildetſten Klaſſen Rußlands oder Frankreichs nach einem öden Theil Sibiriens verwieſen oder nach einer iſolirten Inſel deportirt, ſo wird ihre Nachkommenſchaft ohne Spezialkenntniſſe in der Metallgewinnung oder Mineralkenntniß, vielleicht ohne Erze, gar bald wieder in den Zuſtand des Steinmenſchen hinabſinken können. Wallace deutet indirekt darauf hin, daß ein ſolches Verhältniß auch viel— leicht bei dem europäiſchen Urmenſchen an— zunehmen ſei, und will ſich, wie es ſcheint, daraus erklären, daß die Schädelunterſchiede zwiſchen dem vorhiſtoriſchen und dem heu⸗ tigen Durchſchnitts-Europäer fo gering aus- fallen. Weit entfernt die Nützlichkeit ſolcher Erwägungen zu verkennen, hielten wir es doch für angezeigt, zugleich auf die Aus— wüchſe der Degenerations-Hypotheſe hinzu— weiſen, zu welcher die Gegenwart in Be— folgung der weltgeſchichtlichen Regel, welcher die Echternacher Springproceſſion thatſäch— lichen Ausdruck giebt, lebhaft hinzuneigen ſcheint. Die auf den Ackerbau bezüglichen Sprüche und Tieder der Ehrüer von 1 Dr. Martin Sckultze. e enn Jemand das verdienſt- großen Ganzen fallen jedoch jene vier Pe— liche, aber freilich ſchwierige > Werk, eine Geſchichte der \ Mythologie zu Schreiben, b übernehmen wollte, ſo würde er wahrſcheinlich dazu kommen, ſeinen Ge— genſtand in folgende vier Perioden einzu— theilen: 1) Die Zeit der Mythenbildung, 2) Die Zeit der Tradition, 3) Die Zeit der Kritik, 4) Die Zeit der Reconſtruction. Natürlich gelten dieſe vier Perioden nicht für die ganze Welt, ſondern höchſtens für ein einzelnes Volk. Während z. B. im ge— bildeten Europa die Mythologie bereits in ihre letzte Phaſe eingetreten iſt, befindet ſie ſich bei den „culturloſen“ Völkern andrer Erdtheile noch heute in der erſten. Ja ſogar innerhalb deſſelben Volkes decken ſich die Perioden nicht ganz. Während man in den Metropolen der Intelligenz bereits re— conſtruiert, oder wenigſtens kritiſiert, blüht in ſtillen Gebirgsthälern noch die Tradition, wenn nicht gar die Mythenbildung. Im rioden mit denjenigen der Culturgeſchichte zuſammen. In der vorhiſtoriſchen oder, wenn der Ausdruck erlaubt iſt, „culturloſen“ Zeit bilden ſich die Mythen in der Weiſe, daß zunächſt auffallende Vorgänge des täg— lichen Lebens beſprochen werden. Hauptge— genſtände dieſer Beſprechung ſind: die Be— reitung künſtlicher Nahrungsmittel, die Er— zeugung des Feuers, die Herſtellung von Waffen, Kleidungsſtücken und Geräthen, ſowie, bei ſeßhaften Völkern, die landwirth— ſchaftlichen Arbeiten. Wenn der kräftige Mann mit dem Grabſtocke, ſpäter mit dem Pfluge, Furchen in den Erdboden riß, um dann die Saat hinein zu ſtreuen, und zwar im Herbſt, vor dem erſten Schneefall, ſo hieß es: „der Starke folgt dem Rei ßenden, bis der letztere im Schnee fteden bleibt.“ — Sodann werden die menſchlichen Verhältniſſe auf das Außermenſchliche über— tragen. Man beſprach die auffallenderen Naturerſcheinungen in ähnlicher Weiſe. Wenn z. B. im Hochſommer die gelb flammende Sonne mit verſengendem Strahl die Men— ſchen traf, ſo ſagte man: „der Starke iſt zum gelben Mähnen-Löwen geworden.“ Mit dem Beginn der Geſchichte, d. h. zu der Zeit, wo die Völker ſich auf ſich ſelbſt beſinnen, die Thaten ihrer Vor— fahren im Gedächtniß behalten und ſpäter ſogar aufzeichnen, da wird aus dem Be— ſprechen ein Erzählen, aus der Mythen— bildung eine Tradition. Beſtimmte Hel- den treten an die Stelle der unbeſtimmten, ſtets wechſelnden Perſonen der frühern Pe— riode. Es heißt nicht mehr: „der Starke folgt dem Reißenden“, ſondern „der ſtarke Sohn der Alkmene folgte dem reißenden (erymanthiſchen) Eber bis in den Schnee.“ Ferner: „derſelbe ſtarke Held warf die gelbe Löwenhaut über die Schultern.“ Dies iſt die Zeit, in der einerſeits die breite Proſa-Erzählung zur Entwickelung kommt, wie bei den Semiten, andrerſeits die epiſche Poeſie ihre erſten Blüthen treibt, wie bei den Indogermanen. Wenn es dann zur Bildung der Wiſſen— ſchaft kommt, d. h. wenn die Völker an- fangen, darüber nachzudenken, ob das Ge— auch die Mythologie in das Stadium der Kritik. Dieſe Periode iſt, wie es in der Natur der Kritik überhaupt liegt, nicht die bisherige Entwickelung, iſt jedoch nichts— deſtoweniger nothwendig als Vorſtufe zur Erkenntniß der Wahrheit. Sie, die Periode des Zweifels, beginnt für die griechiſche eythologie bereits im Alterthume. Das chriſtliche Mittelalter ſodann negiert zwar die Berechtigung der alten Mythen über— haupt, begnügt ſich indeß mit dieſem allge— meinen Proteſte, ohne im Einzelnen Kritik zu üben. Erſt die neuere Zeit nimmt dieſe wieder auf. Immer ſicherer wird die Unter— 154 Schultze, Die auf den Ackerbau bezüglichen Sprüche und Lieder der Ebräer. glaubte auch wahr und wirklich iſt, ſo tritt ſcheidung zwiſchen Geſchichte und Sage. Man bleibt jedoch hierbei nicht ſtehen, ſon— dern ſucht auch bereits den Sinn der Mythen zu deuten, ſo gut man es ver— mag. Dieſe Deutungsverſuche ſind zuerſt völlig phantaſtiſcher Natur. Man traut den mythenbildenden Völkern eine Beobachtungs— gabe, einen Schönheitsſinn, eine Natur- ſchwärmerei zu, die ſie nie gehabt haben. Inzwiſchen iſt die vergleichende Sprach— wiſſenſchaft erſtanden, und ihr folgt nun auf dem Fuße die vergleichende My— thologie. Bisher unverſtandene Namen werden jetzt richtig gedeutet, und man lernt, durch Vergleichung verwandter Sagen, das Wichtige vom Unwichtigen, das Nothwen— dige vom Zufälligen ſcheiden. Dabei geht man jedoch einſeitig zu Werke, indem man, ohne Rückſicht auf die gegebenen Verhält⸗ niſſe, der Sprachwiſſenſchaft allein das Recht zuerkennt, in Sachen der Mythologie zu entſcheiden. Endlich erhebt die rationelle Natur- forſchung unſrer Tage ihr Haupt; und hiermit tritt die Mythologie in ihr viertes Stadium, das der Reconſtruction. Soll einmal ein einzelner Name genannt werden, fo könnte wohl auch hierfür der- jenige Darwin's als epochemachend gelten. Man fängt an, den Menſchen ſelbſt als productiv, ſondern hemmt im Gegentheil Naturproduct anzuſehen und, beſonders in ſeinen tieferen Entwickelungsſtufen, zu ſtu— dieren. Dadurch fällt ein unerwartetes Licht auf die vorhiſtoriſchen Zuſtände der Cultur⸗ völker, und wie mit einem Schlage er— ſteht in zauberhafter Klarheit die alte. Märchenwelt vor unſern Blicken wieder. Es iſt, als ob Herbſtnebel bis dahin die Ausſicht gehemmt hätten. In ihnen wogte es wohl von Geſtalten; dieſelben waren aber alle mehr oder weniger dunkel und unerkennbar. Jetzt tritt der erſte Froſt ein, Schultze, Die auf den Ackerbau bezüglichen Sprüche und Lieder der Ebräer. und plötzlich ſehen wir mit Erſtaunen vor uns die ſilberne Pracht des bereiften Waldes. Er iſt zwar todt; die herrlichen Sagenge— ſtalten der Vorzeit ſind nicht mehr fähig, ſich weiter zu entwickeln. Aber wir ſehen ſie nun greifbar vor uns; wir brauchen blos die Hand auszuſtrecken, um den Duft der Poeſie abzuſtreifen und dann den Stamm des uralten Baumes ſelbſt zu faſſen. Frei— lich iſt dieſer innerſte Kern der Sagen lange nicht fo ſchön, wie die ihn umklei— dende Hülle ahnen ließ. Dieſen Weg hat die griechiſche Mytho— logie, und mit ihr die indogermaniſche überhaupt, genommen. Anders iſt es der ſemitiſchen, ſpeciell der ebräiſchen, er— gangen. Während die griechiſche Mythologie | durch das Chriſtenthum gewiſſermaßen ge— tödtet wurde, durfte die ebräiſche ſich zwar nicht in voller Freiheit weiter entwickeln, wie etwa die indiſche, wurde jedoch noch im Stadium der Tradition von der neuen Religion aufgenommen und als Heilig— thum ſorgfältig conſerviert. Als es daher ſchon lange zu einer kritiſchen und ſogar reconſtructiven Behandlung der griechiſchen Sagen gekommen war, galt es noch immer als Sacrilegium, die ebräiſchen Mythen, die uns Geneſis, Richterbuch u. ſ. w. (natürlich in der Form von Geſchich te) darbieten, mit kritiſcher Hand anzutaſten. Erſt im fünften Jahrzehent dieſes Jahr— hunderts wagte F. Nork von einer „My— thologie“ der Bibel zu ſprechen. Freilich fehlte ihm noch der Schlüſſel, den uns nicht allein die Sprachwiſſenſchaft, ſondern vor allen Dingen die Naturkunde (Anthro— pologie, Ethnologie) darbietet. Zur För— derung der Kritik haben dann mit mehr oder weniger Glück beigetragen: Schwenk, J. Braun, H. Steinthal, F. Grill, J. Goldziher u. A. Ich ſelbſt habe es 155 verſucht, die Reſultate der Naturforſchung mit denen der Sprachvergleichung zu ver— einen, um ſo eine Reconſtruction der ebräi— ſchen Mythologie anzubahnen, nicht ohne darin von Männern wie O. Caspari, A. de Gubernatis, Fr. von Hell- wald, H. Pfannenſchmid unterſtützt und ermuthigt, von anderer Seite natür— lich angegriffen zu ſein. Oft habe ich ge— wiß noch zu kurz, bisweilen auch wohl über das Ziel hinaus geſchoſſen. Im Folgenden iſt der Verſuch gemacht, den ſpärlichen Reſten der alt-⸗ebräiſchen Volkspoeſie, ſoweit fie ſich auf den Yand- bau beziehen, mit vorurtheilsfreiem Blicke zu begegnen, und zwar mit der beſtimmten Erwartung, in ihnen nicht unwichtige Auf— ſchlüſſe über Sitten und Sagen der Ebräer zu finden. Zum richtigen Verſtändniß der in den Text der bibliſchen Bücher eingeſtreuten Lieder iſt Folgendes zu beobachten. Die Lieder ſind offenbar älter als der Proſatext. Beſonders die Ueber- und Unterſchriften (Ex. 15, 1; Gen. 49, 28) gehören einer ſpätern Zeit an und find ganz bedeutungslos.“ Auch ſpruchartige Einſchiebſel und An— hängſel (Gen. 49, 18; Richt. 5, 31) ſind auszuſcheiden. Die Lieder ſind nur aus ſich ſelbſt, nicht aus der ſie begleitenden Erzählung, zu erklären. Bei der Neigung jüngerer ebräiſcher Schriftſteller, die Pro— ducte der älteren zu ihren Zwecken zu ver— wenden und tendenziös umzugeſtalten, kommt es hauptſächlich darauf an, die Tendenz zu entdecken. Da die große Mehr- zahl der ſpäteren Schriftſteller dem Levi— tismus angehört, ſo iſt beſonders auf dieſe Richtung in den Liedern, die im Uebrigen ein alterthümliches Gepräge haben, zu achten und die Ausſcheidung der dahin zielenden Stellen und Ausdrücke zu ver— 21 156 ſuchen. In den allerälteſten Liedern, be— ſonders in denen iſraelitiſchen Urſprungs (Nicht. 5), iſt auch der Gottesname Jah ve (Jehova) verdächtig. Entweder ſind ganze Stellen, in denen er vorkommt, als unächt auszuſcheiden, oder an ſeiner Statt iſt ein anderer (etwa Baal, Adon, El zu denken. Auch darauf iſt zu achten, daß die Sprache der älteſten Lieder eine andere iſt als die der ſpäteren Schriftſteller, und daß manche Ausdrücke, die der ſpätere Redactor vielleicht ſelbſt nicht mehr verſtand, aber doch als werthvolle Trümmerſtücke in dem überar- beiteten Texte ſtehen ließ, nicht aus der gewöhnlichen ebräiſchen Schriftſprache erklärt werden dürfen, ſondern aus einer Ver— gleichung derſelben mit andern ſemitiſchen Dialecten, beſonders mit dem Arabiſchen und Aramäiſchen. So iſt zu addirim, Richt. 5, 13, ſyr. edr-o, Tenne, zu ver- gleichen, zu gidgöt, Richt. 5, 11, arab. gad dat, cadaqat, Gabe, Geſchenk. Wenn wir dieſe Grundſätze zunächſt auf das kleine Lied anwenden, das der levitiſche Erzähler dem Joſua in den Mund legt (Joſ. 10, 12), ſo können wir nicht umhin, es für ein benjaminitiſches Schnitterlied zu erklären und, in freier Form, etwa ſo zu überſetzen: Ach, bleib', du Sonne, bleibe, In deinem Haus zu Gibeon! Verbirg die helle Scheibe, Du Mond, im Thal von Ajalon! Habak. 3, 11 wird geſchildert, wie Sonne und Mond beim Herannahen des Gewitterſturmes ſich in ihren „Wohnungen“, d. h. hinter Wolkenmaſſen, bergen, oder, wie es im Texte heißt, in ihrer Wohnung „ſtehen bleiben“ Camad zebuläh). Hier in unſerm Liede bitten, meiner Anſicht nach, die bei der „ländlichen Campagne“ be- ſchäftigten Schnitter die Sonne und den Schultze, Die auf den Ackerbau bezüglichen Sprüche und Lieder der Ebräer. Mond, ſie mögen „aufhören“ (dom), näm⸗ lich zu wandern, alſo „ſtehen bleiben“, na— türlich nicht irgend wo auf dem Wege, ſondern in ihren Wohnungen, hinter Wolken. Der Himmel möge ſich mit Wolken bedecken während der Ernte, das iſt der Wunſch der Arbeiter und der Sinn dieſes kleinen, aber viel beſprochenen Liedes. Daß Gibeon und Ajalon genannt werden, läßt auf ben— jaminitiſche Sänger ſchließen. Die verſchiedenen Sprüche, die dem Simſon in den Mund gelegt werden (Richt. 14, 14, 18 und 15, 16), haben es zweifellos mit dem Landbau zu thun und bilden, wie es ſcheint, ein Ganzes. Ich habe hier verſucht, daſſelbe, natürlich auch in freier Form, wieder herzuſtellen, und möchte es als danitiſches Ernte— lied bezeichnen. Von dem Würger kam Speiſe, Und Süßes vom Starken. — Was iſt ſüßer als Honig, Was ſtark wie der Löwe? — Doch vor Allem iſt nöthig Zur Löſung des Räthſels: Mit dem Pfluge zu folgen Dem Wagen der Sonne. — Dann erliegen wohl Tauſend Den kräftigen Streichen; War es gleich nur die Sichel, Die nieder ſie ſtreckte. Der „Würger“, der mähnenumflatterte Löwe, iſt das Sinnbild der ſtrahlenden Sommerſonne, deren menſchliche Incarnation Sim ſon iſt. Die Sonne giebt Speiſe, indem ſie das Getreide reift, ſie giebt auch die Süßigkeit des Honigs, den die Bienen im Sommer ſammeln. Doch von ſelbſt wächſt kein Getreide; es muß erſt geſäet ſein. Darum iſt es nöthig, „mit Simſon's (alſo der Sonne) Wagen zu pflügen“, d. h. mit der Sonne aufzuſtehen und, ſo⸗ lange ihr Wagen (oder Rad) am Himmel 8 5 Schultze, Die auf den Ackerbau bezüglichen Sprüche und Lieder der Ebräer. 157 rollt, mit dem Pfluge zu arbeiten. Der den ſchwerſten Aufgaben der Exegeſe jeder Ausdruck GLI IJ, mit Vocalen egläti, der gewöhnlich durch „mein Kalb“ überſetzt wird, iſt wohl richtiger durch „mein Wa— gen“ wiederzugeben, v. a gala h. Der Sonnengott beſitzt zwar, nach einer andern Vorſtellung, auch Rinder, nämlich die vor der Sonne herziehenden Wolken. Mit dieſen Rindern wird aber nicht gepflügt, alſo ganz gewiß nicht mit einem einzigen Kalbe. Erſt der ſpätere Proſabericht, der dem Simſon ein Weib gab, verſtand den Ausdruck ſo. Ueber den Ausdruck „Eſelskinnbacken“, 1E hi hamör, der ein Wortſpiel bildet mit „ein Haufen, zwei Haufen“, hamör hamorätajim (wie der Schnitter zählt, wenn er mit jedem Streiche eine Schwade niederſtreckt) bitte ich, mein „Handbuch der ebr. Mythologie“, S. 170, 187 u. 86, zu vergleichen. Hier nur ſo viel, daß ſich derſelbe möglicher Weiſe, wenn wir uns die Wörter vocallos und defectiv geſchrieben denken (alſo LH HMR), auch 18 ah (oder, in archaiſtiſcher Weiſe, mit vocaliſchem Aus- gang, lEhi) hömer leſen und durch „Kraft der Erde“ überſetzen ließe. In jedem Falle iſt darunter die in der älteſten Zeit aus Feuerſtein, dem kräftigſten Product des Erdbodens, geſchlagene Sichel zu verſtehen, die in ihrer Form allerdings dem Kinnbacken eines Eſels gleicht. Mit ihr werden die Tauſend Getreide— halme niedergemäht, gerade ſo, wie die den Furchen entſproſſenen „Männer“ der Ar⸗ gonautenſage durch den „Stein“, welchen Jaſon unter ſie wirft, umkommen. — Das wunderbarſte und wohl auch älteſte größere Stück der ganzen Bibel iſt das „Deboralied“, Richt. 5. Leider iſt es von den levitiſchen Redactoren ſo gründlich ver— arbeitet worden, daß ſeine Erklärung zu Richtung gehört. Nur bei ausgedehnteſter Anwendung der oben angegebenen Grund— ſätze iſt es möglich, den urſprünglichen Sinn des ſchönen Liedes zu deuten. Wie daſſelbe jetzt vorliegt, läßt es ſich in fünf Abſchnitte zerlegen, die ſehr ver— ſchieden find an Alter und Werth. Die Einleitung, Richt. 5, 2—3, iſt ohne Zweifel unächt, d. h. jünger als der Kern des Gedichts. Ebenſo unächt iſt der Schluß, V. 28 ff., der von der Mutter Siſſera's handelt. Von den übrigen drei Abſchnitten iſt der mittelſte, V. 14 18, urſprünglich, wie mir ſcheint, eine beſondere kleine Dich— tung geweſen, welche in alterthümlich ein— facher Weiſe die zehn Stämme des iſrae— litiſchen Volkes aufzählt und kurz charak⸗ terifiert. Etwas Aehnliches beſitzt die angel— ſächſiſche Literatur in dem „Wandererliede“, wo ein alter Sänger ebenfalls kurze No— tigen über die ihm bekannten Völker und Stämme giebt. Aus der älteſten griechiſchen Literatur gehört der homeriſche „Schiffs— katalog“, Il. II, 484, hierher. Der in Rede ſtehende Abſchnitt des Deboraliedes dürfte urſprünglich, wenn man die nicht hinein gehörigen Beziehungen ausſcheidet, etwa ſo gelautet haben: Du, Ephraim beſchirmſt des Landes Grenze, Nebſt Benjamin, der Beduinen Nachbar. Verſtänd'ge Richter ſandte uns Machir. Vom Stamme Sebulon kam Mancher her, Der mit des Sängers Stab das Land durch— zog. Zum Thal hinab erſtreckt ſich Iſaſchar. An Bächen lagert Ruben, hohen Muthes. Vom Jordan öſtlich hauſet Gilead. Auf Schiffen wandert Dan; auch Aſſer wohnt, Des Meeres Strand entlang, an ſeinen Häfen. Das Volk von Sebulon und Naphthali Plagt mit des Feldes Arbeit ſich zu Tode. P — , K Ze 158 Schultze, Die auf den Ackerbau bezüglichen Sprüche und Lieder der Ebräer. N Dieſer „Deboraſegen“ iſt eins der äl— teſten und wichtigſten hiſtoriſchen Documente. Nur Stä werden genannt. Weder . f Nur zehn Stämme 9 Du Barak, auf, ergreife deinen Raub! Juda, noch Levi und Simeon ſtehen in irgend welcher Verbindung mit Iſrael, ſondern dieſelben werden noch, wie es ſcheint, von den ſüdlich ſchweifenden „Beduinen“ (im Texte: Amalekitern) nicht unterſchieden. Ephraim „beſchirmt des Landes Grenze“, nach dem Texte: hat ſeine Wurzel, d. h. ſein äußerſtes Ende, in Amalek. — Der Stamm Machir heißt ſpäter Manaſſe, der Stamm Gilead: Gad. Von der danitiſchen Colonie zu Lais (Richt. 18) weiß das Lied ichts, ſondern berichtet nur, daß die Ba 0 15 „das Da liegt er rund zu ihren Füßen nun. — Daniter am Meere wohnen. Daß Machir zwiſchen Ephraim und Sebulon genannt wird, ſcheint zu beweiſen, daß darunter Weſt-Manaſſe zu verſtehen iſt, nicht der gleichnamige Stamm, der öſtlich vom Jordan hauſte. Es bleiben noch die beiden Abſchnitte des Deboraliedes übrig, die recht eigentlich hierher gehören und die ich als Lied auf den Kreislauf des Jahres bezeichnen möchte, nämlich Richt. 5, 4 — 13 und 19 — 27. Ich überſetze dieſelben, natürlich ganz frei, wie folgt: Von Süden zieht der Herr der Welt heran, Von Edom's Feld, es bebt der Erde Grund, Des Himmels Wolken ſtrömen Regen nieder. In Jael's Tagen ſind die Wege leer, Und Straßenwandrer ziehen krumme Pfade. Es feiert noch die Schnitterſchaft im Land, Solange, bis Debora ſich erhebt Und eine Mutter wird in Israel. Dann kommt's zum Kriege mit den Stachel— trägern, Obwohl nicht Schild, noch Speer in Israel. Dann reitet Niemand wohl auf ſchönem Zelter, Und Keiner ruht auf weichem Teppich dann, Auch wandert Niemand auf des Landes Wegen, Der nicht mit Freuden lauſchte dem Geſange Der Schnitter, die da ſchreiten in den Furchen en Und Gottes Güte, wie des Landes Frucht, Die reichlich wachſende, im Liede feiern. So ſing', Debora, nun auch du dein Lied; Dann ſteigt der Reſt hinab zu weiten Tennen Nun ziehen die Berather in den Streit. Um Silber freilich wird hier nicht gerungen- Des Himmels Strahl hat Siſſera gereift. Schon wallt es auf wie in des Kiſon's Fluthen. Tritt auf, o meine Seele, nun mit Kraft! Und nieder raſſelt's wie von Roſſes Hufen. Geſegnet ſei im Zelt die Zauberin, Die Milch ſtatt Waſſer reicht in weitem Kruge. Zum Schmiedehammer greift ſie mit der Rechten Und ſenket Siſſera ins Haupt den Pflock. Ob die erſten Verſe (V. 4 und 5) dem urſprünglichen Liede angehört haben, oder ob daſſelbe mit: „In Jael's Tagen“ begann, wage ich nicht zu entſcheiden. Sicher iſt die zweite Hälfte von V. 5 einer der ſpäteren Zuſätze; ebenſo die Worte: „in Samgar's Tagen“ ꝛc. (V. 6.). Auch V. 9 bleibt wohl am beſten weg, ebenſo ſcheinen die Worte: „da ſtieg das Volk Jahve's zu den Stachelträgern hinab“, V. 11, nur eine Wiederholung aus V. 8. Unächt iſt ferner der Zuſatz „Sohn Abinoam's“ bei dem Namen Barak, V. 12. In der zweiten Hälfte des Liedes iſt die Ortsbeſtimmung „zu Thaanach am Waſſer von Megiddo“, V. 19, wohl ſpä— terer Zuſatz. Sicher iſt endlich V. 23 unächt, wo dem zweifelhaften „Meros“ und ſeinen Bewohnern geflucht wird. Der Gottesname iſt natürlich überall zu ändern. Wenn der Sonnengott ſeinen tiefſten Stand im Süden erreicht hat und, im Mittwinter, wieder aufzuſteigen beginnt, alſo ſcheinbar von Edom her nach Iſrael zieht, da „triefen die Wolken von Waſſer“, dem in Paläſtina gewöhnlichen Herbſt- oder Schultze, Die auf den Ackerbau bezüglichen Sprüche und Lieder der Ebräer. Früh-Regen. Auch Gewitter find in dieſer Zeit nicht ſelten, vor ihnen erbebt die Erde. Dies Alles könnte auch ein ſpäterer Zuſatz ſein, der unter dem „Heraufziehen des Herrn“ das Herankommen eines Ge— witters von Süden her verſteht, wie Habak. 3, 2 ff. Von hier an aber iſt der Sinn des Liedes klar. Der Name Jael bedeutet den Srein— bock. Wenn die Sonne in ſeinem Zeichen ſteht, im December, bedeckt das Regen— waſſer, möglicher Weiſe ſogar der Schnee, alle Straßen; die wenigen Wanderer müſſen „krumme Pfade“ gehen, auf hervorragende Steine treten. Auch wenn man annimmt, daß das Lied aus einer Zeit ſtammt, wo auf die himmliſchen Zeichen noch nicht ge— achtet wurde, ließe ſich doch der Steinbock, das winterliche, in hohen Berggegenden heimiſche Thier, als Sinnbild des Winters auffaſſen, ſowie die Biene, Debora, als das des Sommers. Die Schnitterſchaft (peräzön; vgl. arab. faraza, trennen, abſchneiden) feiert, bis die Biene (Deböräh) ſich erhebt (ſchwärmt) und zur Mutter wird, d. h. bis die junge Bienenbrut erſcheint, im Frühling, wo die Ernte in Paläſtina beginnt. Die Stadel- träger (eigentl. die Struppigen, Starren— den, V. 8 und 11), mit denen es nun zum Kriege kommt, ſind nichts weiter, als die Getreide-Aehren, die von den Schnittern abgemäht werden. Nun vernimmt man überall die Stimme der „Schneidenden zwiſchen den Waſſerrinnen“, wie es wört— lich heißt (V. 11). Der „Geſang der Debora“ (das Summen der Bienen) wird, während der Ernte, immer lauter. Es ſcheint beinahe, als ob das viermal wieder— holte ür, „erhebe dich“, dies Geſumme nachahmen ſollte. — Jetzt aber ergreift Barak (der Feuerſtrahl, Feuerbrand) 193 jeinen Raub, d. h. die Stoppeln der Halme werden mit Feuer abgebrannt, wie dies im Orient noch heute üblich iſt. Gleich— zeitig ſteigt der Reſt (die abgeſchnittenen Aehren) hinab zu den Tennen (V. 13), wörtlich „den weiten“ (Flächen), wo die Körner von Rindern oder andern Thieren ausgetreten werden, wie ebenfalls noch heute im Orient. Damit iſt die Ge— treide-Ernte, gegen Pfingſten, zu Ende, und auch die erſte Hälfte des Liedes. Die zweite Hälfte (V. 19 ff.) ſchildert die Weinleſe, die in Paläſtina im Oc— tober beginnt. Unter den „Königen Ka— naan's“, wie der Text hat, ſind gewiß nicht Feinde Iſrael's zu verſtehen, wie der ſpätere Redactor es erſcheinen läßt, ſondern die iſraelitiſchen Winzer ſelbſt. Ich habe das Wort für „König“ durch Berather überſetzt, ſeinem Verbalſtamme entſprechend. Vielleicht hatte der urſprüngliche Text ein anderes Wort. Die Ortsbeſtimmung „zu Thaanach“ iſt wohl, wie ſchon bemerkt, ſpätere Zuthat, obwohl ſich annehmen läßt, daß gerade dort der Weinbau ganz beſonders blühte. „Des Himmels Strahl hat Siſſera gereift“. Im Text ſteht dafür: „die Ge— ſtirne von ihren Bahnen haben mit Siſſera gekämpft“. Den Namen Siſſera (bei den LXX Iroaee) erkläre ich, aus dem Arabiſchen, als Milch (si) des Muthes (sara) und verſtehe darunter den Wein, der auch dem Feigen Muth giebt. „Tritt auf, meine Seele, mit Kraft!“ mögen ſich wohl die Kelterer zugerufen haben, wenn es im Keltertroge, unter ihren Füßen, roth aufwallte, wie wenn des Kiſon's Woge Blut und Leichen dahin wälzt. Daß in der fröhlichen Zeit der Weinleſe viel geſungen und gerufen wurde, wiſſen wir auch aus andern Stellen. Der 160 gewöhnliche Ruf der Winzer war he dad el. 16, 9; Jer. 25, 30) oder hed (Ezech. 7, 7). Die Stelle, wo „Meros und feine Be- | Perſonification des „Zaubers“ (Heber der wohner“ verflucht werden (V. 23), ift offenbar eingeſchaltet als Gegenſatz zu dem folgenden Segen über das „Weib des Zaubers“ (heber), das in ſeinem Zelt (dem Gährungs-Gelaß) Milch (den weißen Gährungsſchaum) ſtatt Waſſer reicht. In vielen Weinſagen iſt es ein ſchönes Weib, das den „Göttertrank“ ſpendet. Ich er— innere nur an Medea, die dem Rieſen Talos, d. h. dem Weinkruge oder Faße, ſchloſſen; die Zauberin ſchlägt dem „Siſ— den Pflock aus dem „Halſe“ zieht, worauf er ſich verblutet (der rothe Wein heraus— fließt), und au die indiſche Mohini, die den Göttertrank aus dem Milchmeere herauf hebt; verweiſe jedoch auf die eingehendere Erklärung dieſer Sagen in meinem „Hand— buch der ebräiſchen Mythologie“. Ob die Medea unſres Liedes, das ſchöne Zauber- Schultze, Die auf den Ackerbau bezüglichen Sprüche und Lieder der Ebräer. weib, urſprünglich Jael, Steinbock, ge heißen hat, iſt mir zweifelhaft. Der Name dürfte ſich wohl aus dem Anfange des Liedes hierher verirrt haben. Auch die Keniter) iſt wahrſcheinlich jünger. In der Ueberſetzung iſt beides unberückſichtigt ges blieben. Man ſucht bei der Zauberin Waſſer (fo ſchien der friſche Moſt), erhält aber Milch (den mit weißem Schaum bedeckten Wein) in dem weitbauchigen Gährungsge— fäße. Sobald ſich dieſe Milch über dem Gefäße gezeigt hat, wird daſſelbe ver— ſera“, der nun als runder Krug zu ihren Füßen liegt, den Pflock (Spund) in den „Kopf“, gerade wie Medea (wenn die Weinkrüge ſpäter wieder geöffnet werden, in Athen beim Feſte der ZIrFoyie) dem „Talos“ den Pflock wieder aus dem „Halſe“ zieht. “ ET m: . . 3 9 Ber: = N Kampf um's Daſein unter den Korallen. 8 s iſt eine gewöhnliche und ſelbſtver— ſtändliche Erſcheinung, daß ſich ver— „ſchiedene Korallen-Species gleichzeitig auf den abgeſtorbenen Gerüſten an— thatſächlich lebendig begräbt. ſchen Muſeum befindet „Theil des abgeſtorbenen und anſcheinend im Meere umgeſtürzten Stammes einer Hornkoralle (Liopathes compressa), auf dem ſich verſchiedene Steinkorallen angeſetzt haben, nämlich eine Sternkoralle (Dicho— coenia uva) und zwei Arten von Poren— korallen (Porites). Die eine der letzteren (Porites elavaria) wächſt in dichten, aufſtrebenden Büſchen mit dicken, Im briti⸗ dagegen ſolide Maſſen von kugeliger Geſtalt, nicht unerheblich durch die Beſchaffenheit Species aus dieſer Thiergruppe einen activen Kampf ums Daſein mit einander führen, und wie die eine die andere Kleinere Mit derer Arten anſiedeln, aber es war mir neu zu ſehen, wie zwei nahe verwandte | a lumen. ihrer Polypenkelche und bilden eben zwei gut getrennte Species. Nun haben ſich die betreffenden Exemplare (die übrigens alle nur von geringer Größe ſind) augen— ſcheinlich im Gaſtrula-Stadium auf den Aeſten der todten Hornkoralle nicht fern von einander feſtgeſetzt, ſich dann durch Knospung vergrößert und kleine Korallen— ſtöcke in Geſtalt unregelmäßiger Klumpen gebildet, die ſich endlich berührten. Nun begann ein Ringen um den ſehr beſchränkten Platz — die Aeſte der Hornkoralle find ſich der untere . meiſt | keulenförmigen, gabeltheiligen Aeſten; die andere (Porites astraeoides) bildet nur einige Millimeter dick. Die Porites elavaria war in dieſem Streite (wohl in Folge der Art und Schnelligkeit ihres Wachsthums) ſo entſchieden im Vortheil, daß ſie nicht nur ihren Platz behauptete, ſondern auch ihre unbehülfliche Schweſter faſt vollſtändig überwucherte und erdrückte. An zwei verſchiedenen Aeſten der Horn— koralle, an denen die beiden Porites in Contact gekommen ſind, iſt jedesmal die Porites astraeoides von der anderen Species überwachſen und eingehüllt. An der einen Stelle iſt ihr eine Seite des Liopathes-Aſtes (vermuthlich diejenige, die dem Meeresboden zugekehrt war) frei— meiſtens mit leicht wellenförmig höckeriger Oberfläche; beide unterſcheiden ſich außerdem geblieben; an dem anderen Orte ragt nur noch ein kleines Stückchen der Astraeoides unter der Clavaria hervor. An einer Be, Fruchtknotens oder auf den unterſten Theil der Blumenblätter, auf denen ſich dann zwiſchen je 2 Staubfäden je 1 oder 2 kleine runde Nektarien ausbildeten. So ſpaltete ſich der gemeinſame Gentianaſtamm in zwei Zweige, welche beide dann durch An— paſſung an engere, aber emſigere Beſucher— kreiſe zur Sicherung der Kreuzung fort⸗ ſchritten. | Der eine Zweig mit Honigabſonderung am Grunde der Blumenkrone, gelangte zur Sicherung der Kreuzung bei eintretendem Beſuche langrüſſeliger Inſekten, durch Ver— wachſung der Blumenblätter zu einer Röhre, welche die Befruchtungsorgane ſo dicht um— ſchließt, daß jeder zum Honig vordringende Rüſſel erſt die breite Narbe, dann eines er dritten Stelle endlich, wo die Astraeoides von ihrer fatalen Concurrenz unbehelligt blieb, iſt es ihr gelungen, einen Korallen— ſtock von etwa Taubeneigröße zu Stande zu bringen. London. Kleinere Mittheilungen. F. Brüggemann. Die geſchichtliche Entwicklung der Gattung Genkiana. In zwei kürzlich veröffentlichten Auf— ſätzen *) habe ich die Abſtufungen erörtert, welche die Gentiana-Arten Deutſchlands und des Alpengebietes in Bezug auf An— paſſung an Befruchtung durch Inſekten er- kennen laſſen, und aus denſelben in Bezug auf die geſchichtliche Entwicklung der Gat— tung Gentiana folgende Vermuthungen als die wahrſcheinlichſten abgeleitet: Die gemeinſamen Stammeltern aller heutigen Enzianarten hatten vermuthlich völlig offene Blüthen, bis gegen den Grund hin getrennle Blumenblätter, aus einander— ſtehende Staubgefäße, zwei zurückgekrümmte Griffeläſte, deren Narbenpapillen gelegentlich von dem einen oder andern Staubgefäße berührt wurden, und Honig, welcher, im Grunde der Blüthe, in den Winkel zwiſchen dem unterſten Theile der Blumenkrone und des Stempels, abgeſondert und beherbergt, den mannigfachſten Inſekten frei zugänglich war. Trotz der Mannigfaltigkeit des In— ſektenbeſuchs war bei ihnen Kreuzung nicht geſichert und die Möglichkeit der Selbſtbe— fruchtung nothwendig. Bei den Nachkommen dieſer Urgentianen beſchränkt ſich die Honig— abſonderung entweder auf den unterſten Theil des dann fleiſchig anſchwellenden ) Fertilisation of flowers by insects. XV. XVI. Nature, vol. XV. No. 380. 387. der Staubgefäße ſtreifen muß, und zur Sicherung gegen Fliegen und andere un— nütze Gäſte durch ein den Eingang der Blumenröhre verſchließendes Gitter, welches nur langrüſſeligen Bienen und Schmetter— lingen den Eingang geſtattet. Er entwickelte ſich durch Ausprägung dieſer Ausrüſtungen zur Untergattung Endotricha, welche die gleichzeitig der Befruchtung durch Bienen und durch Schmetterlinge angepaßten Arten (campestris, tenella, nana u. |. w.) um⸗ ſchließt. Der andere Zweig, mit Honigabſonde— rung am Grunde des Fruchtknotens, bietet uns in G. lutea ein noch fortlebendes ver— einzeltes Zweiglein dar, welches ſich in ſeiner übrigen Blütheneinrichtung in nichts über die gemeinſamen Stammeltern der Gattung erhoben hat und wie dieſe von einer bunten Mannigfaltigkeit verſchieden— artiger Inſekten beſucht wird, ohne die Möglichkeit der Selbſtbefruchtung entbehren zu können. Daneben aber iſt aus dem— ſelben Zweige, durch Anpaſſung an Hum— meln, die große Untergattung Coelanthe Kleinere Mittheilungen. hervorgegangen, und zwar durch folgende, durch Naturausleſe gezüchtete Abänderungen: Die urſprünglich faſt ganz getrennten Blumen— blätter ſind zu einer Blumenglocke ver— ſchmolzen, die weit genug iſt, um den ganzen Leib einer Hummel in ſich aufzu⸗ nehmen. Der Stempel mit ſeinen beiden zurückgekrümmten Griffeläſten iſt unver— ändert in der Blüthenachſe ſtehen geblieben, aber die urſprünglich aus einander ſtehenden Staubgefäße haben ſich dicht um den Griffel herum zuſammengelegt; ihre nach außen aufſpringenden Staubbeutel umſchließen ein Stück unter den beiden Narben den Griffel mit einem breiten Ringe von Blüthenſtaub, ſo daß die den Honig aufſuchenden Hummeln erſt die Narben, dann den Blüthenſtaub ſtreifen und daher in jeder folgenden Blüthe Kreuzung bewirken müſſen. Die Baſis der Blumenglocke hat ſich zuſammengezogen und iſt mit dem unteren Theile der Staub- fäden verwachſen, ſo daß dieſe den ſchmalen Zwiſchenraum zwiſchen Fruchtknoten und Blumenkrone in fünf enge Kanäle abtheilen, die zwar den Hummelrüſſeln den Zugang zum Honige geſtatten, Fliegen und andere unnütze Gäſte aber vom Genuſſe deſſelben ausſchließen. Dadurch, daß die Hummeln dem ihnen allein verbleibenden Honig um jo eifriger nachgehen und dabei gezwungen find, Fremdbeſtäubung zu bewirken, iſt den Arten dieſer Untergattung (G. punctata, acaulis, excisa u. ſ. w.) Kreuzung ges ſichert und die Möglichkeit der Selbſtbe⸗ fruchtung entbehrlich geworden und that— ſächlich verloren gegangen. Aus dieſer Untergattung Coelanthe iſt, vermuthlich in hochalpinen Gegenden, in denen Hummeln ſelten, Schmetterlinge verhältnißmäßig häufig ſind, die Unter— gatt ung Cyelanthera hervorgegangen, in— dem durch Naturzüchtung alle, eine Kreu- zung „durch Schmetterlinge begünſtigenden Abänderungen erhalten und ausgeprägt wurden. Durch Verengerung der Blumen- röhre und Verbreiterung der Griffeläſte zu einer den Blumeneingang ſchließenden papil— löſen Scheibe wurde es den dünnen Schmelter- lingsrüſſeln unmöglich gemacht, in die Blüthe einzudringen, ohne erſt die Narbe, dann den Blüthenſtaub zu ſtreifen. Durch ge— ſteigerte Empfindlichkeit gegen Sonnenwärme und weitere Ausbildung der das Zuſammen— drehen der Blüthenhülle vermittelnden Falten zwiſchen den Blumenblättern paßten ſich die hochalpinen Gentiana-Arten der vom Sonnen— ſchein abhängigen Thätigkeit ihrer Befruchter derart an, daß ihre Blüthen ſich öffnen, ſobald die Sonnenſtrahlen die Falter zum Beſuche hervorlocken, ſich dagegen zuſammen— drehen und ſchließen, ſobald die Sonne ſich hinter Wolken verſteckt und die Schmetter- linge ſich zurückziehen; ?) Gentiana bava- rica, verna, nivalis u. ſ. w. gehören zu dieſer Gruppe. Als ein Mittelglied zwiſchen der Unter— gattung Coelanthe und der aus ihr hervor— gegangenen Untergattung Cyelanthera dürfte Gentiana prostrata zu betrachten ſein, welche in allen übrigen Stücken die Eigen— thümlichkeiten der Cyclanthera-Gruppe er- langt hat, in den zurückgekrümmten Griffel— äſten aber mit den Coelanthe-Stammeltern noch übereinſtimmt. Lippſtadt. Hermann Müller. ) Daß die Wärme, nicht das Licht, das Oeffnen dieſer Gentianablüthen veranlaßt, wurde durch beſondere Verſuche an G. bavarica und verna von mir feſtgeſtellt. 164 Neues über die Stachelhäuter. Während der jetzt beendeten Weltumſeg— und unter jenen, welche aus dem ſüdlichen Ocean gefiſcht wurden, gibt es viele, welche nicht nur eine Ausnahme von dem ge— wöhnlichen Entwicklungsgange aufweiſen, inſofern als die Jungen direct, ohne Da— zwiſchenkunft einer ſogenannten Ammenform welche darauf abzielen, den Jungen während ihrer hilfloſen Jugendzeit Schutz zu ge— währen. In einigen Fällen iſt die Analogie dieſer Einrichtungen mit jenen der beutel— tragenden Säugethiere Auſtraliens ſo über— raſchend, daß man mit Recht von „mar— ſupialen“ Stachelhäutern ſprechen könnte. Sir C. Wyville Thomſon hat in den acht Exemplare dieſer ſeltſamen Schutzver— ſchrieben, wovon die Popular Science in einem längeren Aufſatze Notiz nimmt. In der Claſſe der Seewalzen oder Holo— thurien bezeichnet Sir Wyville Thomſon zwei Species, in welchen die Entwicklung direct zu ſein ſcheint; aber die Einrichtung für die Unterkunft der Jungen iſt ſehr ver— ſchieden. Brutbeutel. Species, etwa 4 Zoll lang mit 1½ Zoll Durchmeſſer, von ſafrangelber Farbe und wurde ſehr häufig an dem rieſigen Macro- eystis (Seetang) hängend geſunden, welcher in 510 Faden Tiefe in Stanley Harbour Er der öſtlichen Falkland-Inſel ſchwimmt. lung des „Challenger“ wurde eine große Zahl intereſſanter Echinodermaten geſammelt, oder die Bildung proviſoriſcher Organe, er- zeugt werden, ſondern auch ganz ſeltſame Einrichtungen verſchiedener Theile beſitzen, Verhandlungen der Linns'ſchen Geſellſchaft bindung zwiſchen Mutter und Jungen be Review (January 1877, S. 50— 63) Die eine ward mit Cladodactyla crocea Lesson identificirt und hat keinen Es iſt eine kleine, elegante Kleinere Mittheilungen. Die zehn Mundtentakel find lang und zart gegliedert, die Haut iſt dünn und halb— | durchſichtig und geſtattet vollkommen die Muskelbänder und andere innere Organe zu ſehen und zu beobachten. Fünf Am— bulacralrinnen mit zahlreichen und wohl— entwickelten Tentakularfüßen (Saugfüßchen, Pedicelli), ziehen am Körper von einem Ende zum andern, aber nicht auf gleiche Entfernungen von einander; drei davon ſtehen auf der einen Seite des Thieres, zwei auf der andern, zwiſchen beiden Gruppen iſt auf beiden Seiten größer, als jener zwiſchen zwei Rinnen derſelben Gruppe. Die Schwell— füßchen der drei erſten Rinnen ſind größer als die anderen und bilden auf alle Fälle beim Weibchen das regelmäßige Bewegungs— mittel; bei dieſem Geſchlechte dienen aber die zwei andern (Rücken-) Rinnen einem ganz verſchiedenen Zwecke, indem ſie ſo zu ſagen, den Zaun der Ammenſtube bilden, in welcher das Thier ſeine Jungen herum— trägt. Dieſe Füßchen ſind kurz und mit Saugſcheibchen verſehen, deren kalkiges Netz— werk jedoch noch ziemlich rudimentär iſt. In dieſen beiden Rücken-Rinnen und an ihren Saugfüßchen hängend, werden nun die Jungen vom Mutterthiere ſo lange herumgetragen, bis ſie groß genug gewor— den ſind, um für ſich ſelbſt zu ſorgen, was erſt relativ ſpät zu geſchehen pflegt. Die | Jungen find faſt vollkommene Miniatur— bilder ihrer Eltern, nur ſind die Dorſal— Saugfüßchen noch ganz rudimentär oder oft bloß angedeutet; dagegen ſind die Bauch— füßchen völlig entwickelt und gerade mittelſt dieſer hängen ſie ſich an die Rückenfüßchen der Mutter an. Ein noch weit merkwürdigeres und intereſſanteres Beiſpiel diretter Fortpflanzung, im Vereine mit dem Vorhandenſein eines und der Raum vollſtändigen Brutbeutels, bietet eine kleine Kleinere Mittheilungen. Holothurie von Heard Island, zum Ge— | nus Psolus gehörig (von welcher es eine oder zwei britiſche Species gibt) und wahrſcheinlich ein naher Verwandter, wenn nicht gar eine bloße Varietät vom Psolus operculatus. einer kleinen niederen Pyramide von fünf genau klappenden Kalkblättchen ausgeſtattet, die feſt ſchließen, wenn der Mund mit Die Mundöffnung iſt mit ſeinen umgebenden Tentakeln nach innen zurückgezogen iſt; desgleichen Afteröffnung durch einen ähnlichen, aber weniger regelmäßigen Klappenaparat ſchloſſen. ſich am Rücken eine wird die ge Bei dem Weibchen nun befindet Art Sattel, be⸗ ſtehend aus großen feinkörnigen Kalkplatten unregelmäßiger Form, welche jedoch ziem- | die Eier und die daraus direct entſtehenden lich aneinander ſchließen, und genau daher ward das Thier proviſoriſch Psolus | Entfernen wir eine | oder zwei dieſer Centralplatten, jo ſehen Stacheln verſehen find. Sir Wyville Thom— ephippifer genannt. wir dieſelben, nicht wie die ſonſtigen Platten des Periſom (der Haut), theilweiſe oder ganz in der Cutis (Lederhaut) eingebettet, ſondern gleich einem Pilze auf einer cen— tralen Säule aufgerichtet, ſo daß, wenn geſchloſſen, ſie einen geſchützten Hohlraum zwiſchen ſich und der Lederhaut frei laſſen. In dieſem Raume werden nun die Eier ausgebrütet, und durch Entfernung der Platten können die Jungen auskriechen. Es liegt alſo hier ein wahres Marſupium, ein wahrer Brutbeutel vor, und da der- ſelbe den größten Theil des Rückenraumes einnimmt und ſich bis an den Mundrand erſtreckt, wo auch die Ovarialöffnung ſich befindet, ſo gelangen die Eier aus dieſer direct in den ſchützenden Hohlraum, ohne irgend einer äußeren Gefahr ausgeſetzt zu ſein. klaffen die anfänglich feſt ſchließenden Platten Wenn das Junge größer wird, fo 165 immer weiter auseinander, bis daſſelbe endlich auskriechen kann. Unter den Seeigeln (Echinoiden) und ſpeciell der Familie der Cidariden, iſt noch kein Beiſpiel einer Fortpflanzung ohne die Dazwiſchenkunft des ſogenannten Pluteus— Stadiums bekannt. Dieſe Larve wurde früher für ein ſelbſtändiges Thier gehalten. Nun aber ſind auch bei dieſem wenigſtens höchſt merkwürdige, bislang völlig unbe— kannte Gewohnheiten des Mutterthieres beobachtet worden. Die Eier einer der Ci— daris papillata ſehr verwandten Gattung wandern nämlich nach ihrem Austritte aus den Genitalöffnungen nach dem Munde, wo ſie in einer Art offenen Zeltes em— pfangen werden, das die kleineren Stacheln über dem Munde bilden. Darin verbleiben Jungen, bis ſie einen Durchmeſſer von etwa Yo Zoll erreicht haben und voll— ſtändig mit Kalkplatten überzogen und mit ſon nannte dieſen Seeigel vorläufig Cidaxis nutrix. Bei Goniocidaris canaliculata, welche hauptſächlich auf die kühleren Theile des ſüdlichen Oceans beſchränkt iſt, geſchieht daſſelbe am anderen Pole des Körpers. Das gleiche Princip findet ſich endlich bei der zweiten Abtheilung der Echinoiden, bei den Petalosticha, nur iſt die Specialiſirung des Apparates eine noch viel complieirtere. In den Aſteriden oder Stelleriden (Seeſterne) hat ſchon Sars an einer nor— diſchen Species, an Pteraster militaris, eine Marſupialentwicklung der Jungen be— obachtet. Prof. Thomſon beſchreibt ein ähnliches Verhalten bei einer großen Species von Archaster, die er vorläufig A. exca- vatus getauft hat und die mit dem nordiſchen A. Andromeda verwandt iſt. Der hier beobachtete Vorgang erinnert an den bei — 2 Psolus beſchriebenen. Ein anderer dieſer brütenden Seeſterne gehört zur weitver— breiteten Species Hymenaster, einem Ge⸗ ſchlecht, das überall im Ocean in Tiefen von 400 — 2500 Faden vorkommt. Hyme- naster nobilis, die von Thomſon neu be⸗ ſchriebene Species, iſt ſehr groß, wohl einen Fuß im Durchmeſſer von einer Spitze zur andern, deren Zwiſchenräume durch fleiſchige Gewebe ausgefüllt werden, ſo daß der ganze Körper das Ausſehen eines regel— mäßigen Pentagons gewinnt, hierin dem Genus Pteraster ſehr ähnlich, das mit dem Hymenaster nahe verwandt iſt. Auch dieſes Thier beſitzt am Rücken einen wunder⸗ vollen Klappenapparat, unter dem eine fünfeckige Kammer zur Aufnahme der Jungen verborgen liegt. Endlich wurden an einem Schlangenſtern, Ophiocoma didelphys, ähnliche Beobachtungen über das Aufbringen der Jungen gemacht. Natürlich iſt, obwohl die Benennung Marſupium auf die jungenbergenden Hohl- räume der Stachelhäuter angewendet wurde, die Analogie mit den echten Beuteln der Marſupialier bloß auf den Schutz be— ſchränkt, den beide den Jungen gegen äußere Gefahren gewähren; die Jungen werden dadurch mit dem Mutterthiere ſo lange in einer gewiſſen Verbindung erhalten, bis ſie ſich ſelbſtändig fortbringen können; eine directe Ernährung der Jungen durch die Mutter, wie bei den auſtraliſchen Beutel- thieren, findet aber bei den Echinodermaten nicht ſtatt. (Ausland No. 9. 1877.) Kleinere Mittheilungen. Reue Hoffnungen und Enttäuſchungen hinſichtlich der Auffindung von Urmenſchen. Seit der erſten Ausdehnung der Ab- ſtammungslehre auf den Menſchen hoffen oder fürchten die Anthropologen, je nach ihrer Stellung zu derſelben, daß doch viel leicht in irgend einem verſteckten Winkel unſres Planeten noch ein iſolirtes Reſtchen ungewöhnlich affenähnlicher Menſchenbrüder der Cultur, die alle Welt beleckt, entſchlüpft ſein könnte, um plötzlich aufzutauchen, wie die ſeit dem Alterthum angezweifelten afri⸗ kaniſchen Zwergvölker, welche Schweine furth erſt vor wenigen Jahren der Mythen entriſſen hat. Nachdem alle fünf Welttheile ſich von dieſem — Verdachte mehr oder weniger gründlich gereinigt haben und ein untergegangener Continent für die Wiege des Menſchengeſchlechts gehalten wird, haben ſich die letzten Hoffnungen, reſp. Befürchtungen, auf einige von Papuas bewohnte Inſeln des als Melaneſien zuſammengefaßten, an⸗ thropologiſchen Welttheils gerichtet, den man weder zu Aſien noch Auſtralien ziehen kann, obwohl er mit dem letzteren vom thier⸗ und pflanzengeographiſchen Geſichts—⸗ punkte aus näher verwandt erſcheint, als mit Aſien. In anthropologiſcher Hinſicht galt, wie geſagt, der ganze Strich unge⸗ heurer Inſelländer von Neuguinea über Ceram und Celebes bis Borneo für nicht ganz geheuer, und insbeſondere hatten die nichtmalayiſchen Ureinwohner Ceram's, welche im gebirgigen Innern der dreihundert Quadratmeilen umfaſſenden Inſel hauſen, die Alfuren oder Haraforen, ſich durch ihre unzähmbare Wildheit in einen bedenk⸗ lichen Ruf gebracht. Man erzählt beiſpiels⸗ weiſe, die jungen Mädchen verlangten von ihrem Liebhaber ein Feindeshaupt als Hoch⸗ zeitsgabe und „wer niemals einen Kopf geſchnellt, der ſei kein braver Mann“ bei ihnen und dürfe noch nicht heirathen. Die moderne Forſchung aber, die zuletzt jeden Schlupfwinkel der Mythe auskehrt, iſt nun⸗ mehr endlich auch in das Myſterium der Berg⸗Alfuren eingedrungen und hat fie ihres — wenn man ſo ſagen darf — Raubthier- und Affen-Nimbus beraubt. Der erſte Eindringling in dieſe gefürchteten Regionen war ein Deutſcher, der in niederländiſch— oſtindiſchen Dienſten ſtehende Capitän Schulze, welcher mehrere Jahre als Be— fehlshaber auf der Inſel weilend, einen zehnmonatlichen Streifzug in das Innere vornehmen mußte, um einen Stamm zu züchtigen, aus deſſen Mitte ein niederlän⸗ diſcher Soldat getödtet und ſeines Kopfes beraubt, wie der Kunſtausdruck ſagt, „ges ſchnellt“ worden war. Aus dem ſehr in— tereffanten Berichte, welchen der zur Zeit in Europa weilende Capitän Schulze am 17. März e. in der berliner anthropologiſchen Geſellſchaft über ſeine Beobachtungen er— ftattete, entnehmen wir nachſtehende Einzel— heiten. Die Berg-Alfuren ſind von chokolade— brauner Hautfarbe, kräftigem, wiewohl ſchlankem Wuchſe, und zum Theil in einer allerdings an Affen erinnernden Weiſe an den verſchiedenſten Körpertheilen auffallend ſtark behaart. Das Haupthaar iſt wellig, der Mund unförmlich groß, die Lippen aufgeworfen. Nach ihrer Zählmethode zer— fallen ſie in Stämme, die bis neun zählen (Pattah-siwah), und ſolche, die nur bis fünf zählen Pattah-lima). Ihre Wohnungen ſind durchweg Pfahlbauten, oft von ſolcher Größe, daß ſie bis zu hundert Per— ſonen als Obdach dienen. Namentlich beſteht in jeder Gemeinde ein großer Geſellſchafts— Pfahlbau (Bailéo) für die unverheiratheten Kleinere Mittheilungen. 167 Männer, und ein anderer, in welchen ſich die Frauen zu Zeiten zurückziehen. Uebrigens leben ſie in ſtrenger Monogamie. Das Naturell macht eher den Eindruck einer kindlichen Gutmüthigkeit, die allerdings im Kampfe und Streite einer raſenden Wild⸗ heit Platz macht. Gegen Ihresgleichen beobachten fie die weitgehendſte Gaftfrennd- ſchaft und ſtrenge Sittlichkeit; Diebſtahl und Ehebruch ſollen kaum vorkommen. Ihre Waffen gleichen denen der, mit Ma- layen vermiſchten, Strandbewohner; ſie haben eine Lanze, ein langes Schwert, Pfeil und Bogen, dazu einen ſchmalen Schild, mit welchem ſie auf 70 Schritt einen Pfeil aufzufangen wiſſen, ſchließlich eine Triton— muſchel als Kriegstrompete. Dem über— wundenen Feinde wird, wie geſagt, der Kopf abgeſchnitten und die geſchnellten Köpfe oder Haarbüſche als Trophäen im Jung geſellenhauſe aufgehangen. Neben dieſem Kriegsgebrauche iſt aber auch ein heimliches, meuchelmörderiſches Kopfſchnellen ſtark in Uebung. Ein den mittelalterlichen Vehm— gerichten ähnlicher Geheimbund (Kakian) verhängt gewiſſermaßen amtlich, als Embryo und Urzuſtand der Sicherheitspolizei, dieſe volksthümliche Exekution gegen ſolche Perſonen, die ſich den anerkannten Grundanſchauungen nicht fügen wollen. Die mit der Aus- führung betrauten Freiwilligen ſchleichen nun oft wochenlang um das Opfer, welches gewöhnlich eine Perſon iſt, die ſich in Furcht zu ſetzen gewußt hat, beſchießen es aus ihrem Hinterhalte mit Pfeilen, worauf der Furchtloſeſte unter ihnen ihm den Kopf abſchlägt, und dadurch, wenn er noch un— verheirathet iſt, den unbeftrittenen Anſpruch auf das ſchönſte Mädchen ſeines Stammes erwirbt. Seine Begleiter tauchen ihre Schwerter in das Blut der Leiche, und man ſcheidet ſtill, um ſich nach längerer Zeit in 75 168 dem Heimathsdorfe beim feierlichen Todten— tanz (Kahuwa) wieder zuſammenzufinden. ſcheinen die Theilnehmer ſämmtlich Blumen und bunten Zweigen geſchmückt, welche maleriſch von den Oberarmringen über den halb oder dreiviertel nackten Körper herabhängen. Die Matadore im Kopf- ſchnellen erkennt man an dem Ring und Federſchmuck auf dem Haupte, während die Zahl der geleiſteten Häupter durch Kreiſe auf einem Streifen Baſt vermerkt wird, den ſie an den Hüften tragen. Die Frauen glänzen in ihrem beſten Schmucke von Glas— perlen und Muſchelringen um Hals, Schulter friſchen Baumblättern umhüllten natürlichen Chignon gethürmt. In bunter Reihe, ſich verbundenen Kreis, der ſich unter dem Jauchzen der Männer unaufhörlich von rechts nach links dreht, wobei der „geſchnellte Kopf“, von einer Schönen mit Betel und Tabak verſehen, über leichtem Kohlenfeuer dem wilden Tanze aſſiſtirt. Das Muſikchor wird von alten Frauen gebildet, welche auf einfelligen Trommeln, Gongs und Triton— muſcheln einen Höllenlärm vollführen. Wäh— rend die alten Frauen ſo als Muſikanten verwendet werden, haben die ganz alten Herren als Kindermädchen zu dienen, den Bei dieſem gemeinſamen Nationaltanze er- mit | | und Arme; ihr Haar ift zu einem mit jungen Nachwuchs auf ihren Schultern zu tragen, damit er früh durch die Freuden und Ehren, die ſeiner warten, für die Kopf— ſchnellerei begeiſtert werde. Dem Capitän Schulze erſchien es, als ob die Alfuren eine Uebergangsraſſe zwiſchen Malayen und Papua's darſtellen. Hinſichtlich der Urmenſchenfrage bemerkte derſelbe Beobachter, daß er im Jahre 1860 auf Borneo einen ſogenannten „geſchwänzten Menſchen“ geſehen habe, und daß das freie “x Kleinere Mittheilungen. Schwanzwirbelrudimente bei den Frauen von hinten umfaſſend, ſchließen fie einen eng⸗ Hervorragen der für gewöhnlich verwachſenen dieſer Inſel häufiger als anderswo vor— kommen ſolle. Uebrigens tauchen an Stelle der entſchwänzten Alfuren ſchon wieder neue Aſpiranten für dieſe hintere Körperzierde auf. Das „Ausland“ erzählt darüber (1877 Nr. 6) Folgendes: Der Reverend George Brown kehrte im Oktober 1876 von einem längern Aufenthalte auf den Inſeln Neu-Britannien und Neu-Irland nach Sidney zurück und erzählte, daß die Eingebornen von Blanchebay ihm und ſeinem Begleiter, dem Naturforſcher Coquerell aus Queenstown in pofitivfter Weiſe behauptet hätten, daß im Innern von Neu-Britannien, in einer Kali genannten und niemals von Europäern beſuchten Gegend Menſchen mit richtigen Schwänzen exiſtirten. Auf die Einwendung, daß ſie wohl von Affen ſprächen, antworteten dieſe Kannibalen un⸗ willig mit den Gegenfragen: „Ob denn Affen mit Speeren kämpften, ob Affen Yams pflanzten und Häuſer bauten?“ Wahrſcheinlich handelt es ſich um Menſchen, die einen Thierſchwanz hinten als Zierrath tragen, wie z. B. die von Schweinfurth abgebildete Bongo⸗Schöne. Im Uebrigen darf man nicht behaupten, daß ein derartiger weitgehender Atavis— mus — denn die menſchenähnlichen Affen ſind ſämmtlich ſchwanzlos — nicht auch einmal in weiterer Ausdehnung vorkommen könne, und daß jene von de Laet beſchriebene braſilianiſche Hochzeits-Ceremonie, bei welcher die Nachkommen in effigie engliſirt wurden, nicht irgendwo ihre Berechtigung finden könnte; denn eine Vermehrung des dem Menſchen gebliebenen Erbreſtes von Schwanz— wirbeln kommt ſogar in civiliſirten Ländern gar nicht ſo überaus ſelten vor. Doch mögen nicht alle von Aerzten erzählten Fälle diefer Art auf einer wirklichen Appo⸗ fition von Wirbeln beruhen, wie nach— ſtehender von Virchow mitgetheilter Fall — beweiſt. Gegen Ende des Jahres 1874 erhielt dieſer Forſcher von dem Chefarzte der griechiſchen Armee ſchriftliche Mitthei— Kleinere Mittheilungen. lungen und Photographieen eines in der Kreuzbein- Gegend auffallend behaarten Menſchen, den der Chefarzt für einen richtigen homo caudatus anſah. Virchow würde kaum Bedenken getragen haben, den neuen Fall jenen andern in der mediciniſchen Literatur verbürgten Fällen von Zahlenvermehrung und freiem Hervorragen der Schwanzwirbel hinzu zu zählen, wenn er nicht zufällig an demſelben Morgen, an welchem die ſehr merkwürdige Photographie aus Athen eintraf, Mittheilung über eine Prof. thiere beſchränkt. mehreren Forſchern, 1698 dieſer Mißbildungen erblich geworden war? K. Foſſiles Vorkommen des Dingo. Die allgemeine Ueberzeugung der Zoo— logen geht bekanntlich dahin, daß der auſtra— liſche Wildhund ebenſowohl wie der Menſch dort eingewandert ſein muß, da die autoch— thone Säugethierfauna ſich eben auf Beutel— Nun war aber von wie M' Coy und Sol vyns, berichtet worden, daß ſie foſſile in Berlin gerade zur Sektion vorliegende weibliche Leiche erhalten hätte, die ebenfalls auf der Rückengegend eine ungewöhnlich behaarte Stelle aufwies. Eine genauere Unterſuchung ergab aber, daß es ſich in dieſem Falle um eine ſogenannte Spina bifida oceulta d. h. eine Art von Rück— gratsſpaltung handelte, alſo um ein durchaus pathologiſches Vorkommen, welches nicht das Allermindeſte mit Atavismus zu thun hatte. Die vermeintliche Zugabe war nur ein die Mißbildung nach außen andeutendes, ſehr ſtark und lang behaartes Muttermal. Es iſt alſo hier nothwendig, zwiſchen ganz ver— ſchiedenen Vorkommniſſen zu unterſcheiden, und dieſe Unterſcheidung iſt in Radſchputana vielleicht nicht unwichtig, da die Dſchaitwas einen ſolchen Appendix für die natürliche Mitgift ihrer Fürſten halten, die ſich vom Affengotte Hanuman herleiten, wie die chineſiſchen Selbſtherrſcher vom großen Drachen. Wer kann ſagen, ob dort nicht wirklich einmal eine Familie herrſchend ge— weſen fein mag, in der die urwüchſigere Ueberreſte vom Dingo gefunden hätten. In der Sitzung der Berliner anthropologiſchen Geſellſchaft vom 17. Februar e. berichtete Prof. R. Hartmann, daß er ſelbſt der— artige unzweifelhaft foſſile Knochen des Dingo, die in der Nähe des Murray— fluſſes mit Reſten von Känguruh's und Wombat's zuſammen gefunden worden waren, unterſucht habe. Es geht alſo daraus her- vor, daß der Dingo bereits ſehr früh dort eingewandert iſt, und es iſt die Frage auf— geworfen worden, ob dieſe Einwanderung unabhängig und vor derjenigen der Menſchen geſchehen ſein könne. Dagegen ſpricht aber die große Aehnlichkeit des Dingo mit dem Schäferhunde, und es würde hier der in— tereſſante Fall vorliegen, daß die Reſte eines heute wilden Thieres die Gegenwart des Menſchen, der ihn zahm dorthin ge— bracht haben dürfte, für Zeiträume wahr— ſcheinlich macht, für welche andre Anhalts— punkte fehlen. Allerdings iſt die Brücke dieſer Schlüſſe eine ſehr wankende, aber wenn man andrerſeits annehmen wollte, das Stammthier habe ſchwimmend den fernen Welttheil erreicht, ſo müßte man zur Erklärung der Nachkommenſchaft eine Ge— ſellſchaftsreiſe vorausſetzen, oder annehmen, 170 das dorthin verſchlagene Thier fer ein träd- tiges Weibchen geweſen, eine Hypotheſe, die der erſteren an Wahrſcheinlichkeit nicht voranſteht. K. Chemiſche Bedenken gegen die Wirbelthier-Verwandtſchaft des Lanzetthiers. Herr Profeſſor Hoppe-Seyler hat ſich das Verdienſt erworben, die Aufmerk— ſamkeit der Forſcher auf das ſo ſehr ver— nachläſſigte Studium der chemiſchen Ver— ſchiedenheiten, ſowohl im Aufbau der Körpers bei den einzelnen Thierklaſſen, als hinſicht— lich der phyſiologiſchen Vorgänge, nament— lich der Verdauung zu richten (Pflüger's Archiv für Phyſiologie. Bd. XIV. S. 395). Er kommt dabei zu einigen Schlüſſen, die ſich gegen die heute am all⸗ gemeinſten angenommene Hypotheſe der Wirbelthier-Abſtammung zu richten ſcheinen, und ſagt in dieſer Beziehung: „Es ſcheint höchſt auffallend, mit welcher Bereitwillig— keit die ſyſtematiſche Zoologie den Amphioxus den Wirbelthieren zugeordnet hat, lediglich in einſeitiger Berückſichtigung einer Chorda dorsalis und der Lagerung des Nervenſtrangs über, und des Verdauungskanals unter der- ſelben. Eine geſunde Syſtematikfaßt Gattungen zuſammen, die nicht allein in einer morpho⸗ logiſchen Hinſicht, ſondern in der ganzen Organiſation zuſammengehören. Amphioxus hat außer der Chorda nichts mit den Wirbel- thieren gemein; er beſitzt kein geſchloſſenes Gefäßſyſtem mit rothen Blutkörperchen, keine Leber, die Galle bildet, kein ordentliches Gehirn, ja er enthält nicht einmal leim⸗ gebendes Gewebe, welches allen Wirbel— thieren eigen iſt und außerdem den Cephalo— poden, aber keiner andern Abtheilung Kleinere Mittheilungen. wirbelloſer Thiere. In ihrer ganzen hoch— entwickelten Organiſation ſtehen wohl die Cephalopoden den Wirbelthieren am nächſten; dem Amphioxus wird weiter abwärts eine Stelle gefunden werden müſſen. Geht man die Zuſammenſetzung der Gewebe vergleichend von den niedriger or— ganiſirten zu den höher entwickelten Thieren durch, ſo findet man zuerſt das Auftreten von mucin⸗(ſchleim-)gebenden Geweben, dann von chondrin-(knorpelleim-)gebenden, endlich, auch in den Cephalopoden, das Auftreten von glucin-(knochenleim- gebenden Geweben; die Ausbildung wirklicher Knochen iſt nicht einmal allen Wirbelthieren eigen, fehlt den Cephalopoden gleichfalls. Ganz dieſelbe Reihenfolge ergiebt ſich, wenn man die Stadien der Entwicklung eines Embryo z. B. des Hühnchens im Ei verfolgt, und ich kann mir nicht denken, daß dieſe Ueber⸗ einſtimmung nur eine zufällige ſei. Faſſen wir aber das Ganze zuſammen, ſo finden wir unzweifelhafte Beziehungen der chemiſchen Zuſammenſetzung der Gewebe und der chemiſchen Funktion der Organe zu den Stufen der Entwicklung, die ſich im z00- logiſchen Syſteme, ſowie in den jugend⸗ lichen Stadien jedes einzelnen, höheren Or— ganismus zeigen, Beziehungen, die gewiß einer weiteren Beachtung und Erforſchung werth ſind, und in vielen Punkten die Schwächen und Fehler in der Claſſifikation und Beurtheilung der Organiſation der Thiere, welche der bisher allein maßgebenden einſeitigen, morphologiſchen Forſchung an— hängen, zu vermeiden und zu verbeſſern befähigen werden.“ Gewiß wird der Morphologie die Bundesgenoſſenſchaft der phyſiologiſchen Chemie ſehr erwünſcht ſein und gute Dienſte leiſten. Aber nur, wenn ſie einträchtiglich mit der Morphologie ans Werk geht. Denn die einſeitige Anwendung, wie fie im Obigen verſucht worden iſt, bringt die größten Gefahren mit ſich. Wir erfahren dort, daß vom chemiſchen Standpunkte aus Ce— phalopoden faſt näher zu den Wirbelthieren gehören würden als der Amphioxus, weil ſie nämlich leimgebendes Gewebe beſitzen. Grade ſo einſeitig könnte man auch ſagen, die Regenwürmer ſtänden den Wirbelthieren näher als der Amphioxus, weil ſie rothes Blut haben, oder die Sackwürmer ſtänden den Pflanzen viel näher als dem Amphio— zus, weil fie Celluloſe abſcheiden. Die Sache liegt doch einfach ſo, daß die Trias von Blutfarbſtoff, Gallenpigmenten, und leimgeben dem Gewebe, um bei dem ge— wählten Beiſpiele ſtehen zu bleiben, ſämmt— lichen wirbelloſen Thieren ebenſowohl fehlt, wie den Anlagen der Wirbelthiere ſelbſt. Dieſe Körperbeſtandtheile müſſen alſo noth— wendig im natürlichen Entwicklungsgange an irgend einer Stelle zum erſten Male und neu erſcheinen. Die rothen Blut— körperchen (und wenn ich nicht irre, auch die aus dem Hämoglobin gebildeten Gallen— farbſtoffe) treten nun zuerſt bei den Rund— mäulern auf, deren nahe Verwandtſchaft mit dem Amphioxus zweifellos aus ihrer Entwicklungsgeſchichte hervorgeht. Naturforſcher, welche jede Annäherung des Amphioxus an das Wirbelthierreich ſo eifrig wie der h. Georg diejenige des Drachens Logik, daß man aus einer Kette zuſammen— gehöriger Gedanken nicht einen einzelnen thun. Wenn ſie conſequent wollen, müſſen ſie wenigſtens auch die Rundmäuler vom Wirbelthierſtamme los— weißen, trotz der Gegenwart des rothen Blutes und der Galle, des Gehirns und Die bekämpfen, vergeſſen eben die Regel der herausreißen darf, um ihn für ſich abzu⸗ verfahren leimgebenden Gewebes. Es geht hieraus Kleinere Mittheilungen. a wohl zur Genüge hervor, daß die chemiſche Beſchaffenheit der Körpertheile viel weniger charakteriſtiſch und verwendbar iſt für die Zwecke einer geſunden Syſtematik, die nicht nur auf die Trennung, ſondern auch auf die Wiedervereinigung bedacht ſein ſoll, als der anatomiſche Bau und die Entwicklungsge— ſchichte derſelben, und daß die Morphologie nach dieſer Richtung immer die Führung be— halten wird, ſo erwünſcht ihr, wie geſagt, die Hülfstruppen ſein müſſen, die ihr Herr Profeſſor Hoppe-Seyler zuführen will. N. Chemiſche Ausblicke auf die Ur— zeugungs Hypotheſe. Für die Urzeugungs-Alchemiſten und gemäßigten Homunkulus-Fabrikanten haben einige neue Arbeiten von Berthelot in Paris bedeutendes Intereſſe. Derſelbe fand nämlich, daß die an ſich ſchwache Affinität des trägen Stickſtoffs und der übrigen Organogene zu einander, bedeutend geſteigert werden könne durch ſchwache elektriſche Span— nungen und allmählige, dunkle Entladungen. Kohlenwaſſerſtoffe und ſogenannte Kohlen— hydrate (feuchte Celluloſe, Dextrin u. ſ. w.) nahmen unter dem Einfluße ſchwacher elektriſcher Spannung aus der Luft oder aus reinem Stickſtoff beträchtliche Mengen des letzteren auf, amidartige Verbindungen bildend, während ſie ohne eine ſolche Span— nung, die übrigens durchaus nicht im Stande war, den Sauerſtoff in Ozon zu ver— wandeln, in derſelben Zeit keine Spur von Stickſtoff banden. Dieſe Verſuche ſind zu— nächſt dadurch lehrreich, daß ſie einen für die Landwirthſchaft gewiß ſegensreichen Faktor im Naturhaushalt kennen lehren, dann aber auch indem ſie zeigen, wie wenig bisher 23 855 die Kräfte der Natur, welche bei Bildung organiſcher Verbindungen in Betracht kommen, bei den Verſuchen, dergleichen Verbindungen künſtlich zu erzeugen, erſchöpft worden ſind. Zugleich liefern dieſe Verſuche einen Finger— zeig zur Complikation der phyſikaliſchen Bedingungen für die Urzeugungsverſuche. Daß die ſtillen Ausſtrömungen den Lebens— prozeſſen in keiner Weiſe hinderlich ſind, bewieſen grüne Algen, die ſich in zweien der elektriſchen Röhren Berthelot's auf dem feuchten Papier angeſiedelt hatten, und grade in dieſen beiden Röhren war die Stickſtoff— aufnahme am ſtärkſten geweſen. Es ſcheint mir, als müſſe man in jenen Verſuchen erſt auf Protoplasma (Moneren)- Bildung und nicht ſogleich auf Monaden und In— fuſorien-Fabrikation losgehen, wie es die meiſten Experimentatoren ſeither gethan haben. Vielleicht liefern ihnen die im drei- und vierundachtzigſten Bande der Comptes rendus beſchriebenen Verſuche Berthelot's neue Ausgangspunkte. Auf die ſehr auseinandergehenden An— gaben über die zur Tödtung organiſcher Keime ausreichende Temperatur wirft eine Betrachtung von Dr. Emil Jacobſen in Berlin Licht. „Ich glaube,“ ſagt derſelbe (Jnduſtrieblätter 1877. N. 7) „die Er- klärung iſt unſchwer herbeizuführen. Der Inhalt aller Keimzellen iſt eiweißhaltig; mit dem Coaguliren des Eiweißes hört die Keimfähigkeit auf. Dieſes Coaguliren iſt (abgeſehen von der Coagulation durch Salze oder Alkohol) ſtets mit einer Aufnahme Kleinere Mittheilungen. und chemiſchen Bindung von Waſſer ver— knüpft. Fehlt das Waſſer, jo kann Ei- weiß bis zum Bräunen erhitzt werden, ohne zu coaguliren. Sogenanntes Albuminpapier der Photographen kann man über der Licht— flamme beiſpielsweiſe bis zur beginnenden Verkohlung des Papiers erhitzen. Der Ei— weißüberzug bleibt im Waſſer löslich; ſo— bald man aber erhitzten Waſſerdampf da⸗ gegen ſtrömen läßt, wird das Eiweiß augenblicklich coagulirt und im Waſſer un⸗ löslich gemacht. Waſſerarme Keime oder ſolche, die durch langſames Trocknen ihres Waſſergehaltes beraubt find, werden alſo ganz bedeutende Temperaturen aushalten können, ohne daß ihr Eiweißgehalt zum Coaguliren gelangt. Eine Waſſer abſtoßende oder doch für Waſſer ſchwierig zugängliche Beſchaffenheit der Oberhaut der Sporen wird das Coaguliren des Inhalts ſelbſt in feuchter Hitze hinauszuſchieben vermögen.“ Dieſe Betrachtungen erklären ſehr ſchön die kürzlich von Tyndall gemachte Be— obachtung, daß die organiſchen Keime in jüngerem Heu ſchneller durch Kochen mit Waſſer ihrer Entwicklungsfähigkeit beraubt wurden, als diejenigen, welche in einem mehrere Jahre alten Heu enthalten waren. Bei einem Heu, welches 1876 geerntet war, reichte bereits ein fünf Minuten langes Kochen mit alkaliſchem Waſſer aus, um alle darin enthaltenen Keime zu tödten; älteres Heu mußte bedeutend länger ge— kocht werden, um daſſelbe Reſultat zu er— reichen. K. Offene Briefe und Antworten. Aus einem Briefe von Mr. Charles Darwin an die Redaktion. S J will suggest one point which you as Editor will perhaps | ſatze huldigt: find an opportunity of urging on your readers, and which seems to me of paramount importance with respeet to the descent theory, — namely the in- vestigation of the causes of variability. Why for instance are the wild eattle | which roam over the Pampas uniformly coloured, whereas they are half do- mesticated, they are said by Azara to change colour; and so in endless other cases. We want to know what is the nature of the change in the environ- ment which induces variability in each particular instance, and why one part of the organisation is affeeted more than another; though it seems hopeless at present to attempt solving this latter problem. J cannot but think that light might be thrown on this diffieult subject by experiments and observations made on freshly domesticated animals and cultivated plante. Ueber das Zuſammenwirken von Anthropologie und Ethnologie. Eine Auseinanderſetzung zwiſchen Herrn Profeſſor Dr. Friedr. Müller und Herrn. Friedrich von Hellwald. J. Es thut mir leid, meine Beiträge zum Kosmos mit einer Polemik gegen einen ge— ſchätzten Mitarbeiter und lieben Freund be— ginnen zu müſſen; ich glaube aber mir dies um ſo mehr erlauben zu dürfen, als auch mein Freund F. v. Hellwald dem Grund— „Amieus Plato, amieus Aristoteles, sed magis amica veritas.“ Hellwald will in ſeinem Aufſatze „Be— deutung und Aufgaben der Völkerkunde“ “) gegenüber der von mir nachdrücklich betonten Scheidung der Authropologie und Ethno— logie, die „Völkerkunde“, eine Verquickung beider Wiſſenſchaften, zu Ehren bringen, wobei er ſpeciell auf Peſchel ſich beruft. Wir hätten gegen ein ſolches Vorgehen nichts einzuwenden, ſofern es um eine einzelne Leiſtung, ein einzelnes intereſſant geſchriebenes f Buch ſich handelt, ebenſo wenig als wir gegen einen begabten Schriftſteller, der uns mit einer „Menſchenkunde“, einer Verquickung von Anatomie, Phyſiologie, Pſychologie und noch anderen Wiſſenſchaften, beſchenken würde, den Vorwurf der Vermengung mehrerer von einander geſchiedenen Wiſſens— zweige erheben würden. Hingegen müßten wir doch, falls Jemand die „Menſchenkunde“ in dem bewährten Sinne als Wiſſenſchaft proclamiren und an die Stelle der Anatomie, Phyſiologie und Pſychologie ſetzen wollte, energiſchen Proteſt gegen eine ſolche Vermengung der Wiſſen— ſchaften erheben. Und warum? Weil jede Wiſſenſchaft, falls ſie dieſen Namen verdienen ſoll, vorausſetzt und fordert, daß derjenige, welcher ſie treibt, in allen ihren Fragen voll— kommen zu Hauſe ſei, ſich ein ſicheres ) Kosmos, Heft 1 Seite 45. FRE 174 Urtheil bilden und in allen ihren Problemen Rede und Antwort ſtehen könne. Ein auf bloße Autorität hin Offene Briefe und Antworten. gefälltes Urtheil hat, wie bekannt, in der | Wiſſenſchaft abſolut keinen Werth. aber Jemand, der in der Anatomie, Phyſio— Darf logie und Pſychologie, ſammt deren pro- pädeutiſchen Wiſſenſchaften nicht tüchtig ge- arbeitet hat, ein ſelbſtändiges Urtheil in irgend einem etwas ſchwierigeren Problem dieſer Diſciplinen ſich anmaßen? Das was Hell wald über den innigen Zuſammenhang der anthropologiſchen und ethnologiſchen Forſchung mit einander be— merkt, beweiſt ebenſo viel, als die Noth— wendigkeit, in phyſiologiſchen Fragen auf die Lehren der Phyſik und Chemie ſich zu beziehen, ja von ihnen auszugehen, um die Verquickung der Phyſik, Chemie und Phyſio— logie zu einer einzigen Wiſſenſchaft wünſchens⸗ werth erſcheinen zulaſſen. — Jede Wiſſenſchaft ſteht ja mit einer Reihe anderer Wiſſen— ſchaften im Zuſammenhange und muß viel- fach auf dieſelben ſich beziehen. Daraus aber darf nimmermehr die Nothwendigkeit einer Verſchmelzung dieſer Wiſſenſchaft ab— geleitet werden. Hellwald verſucht es, jene Selbſtbe— ſchränkung d. h. das Vertreten bloß jener Wiſſenſchaft, die man verſteht, als un— wiſſenſchaftlich hinzuſtellen. Er ſagt „die reine Ethnographie, welche ſich lediglich mit der Beſchreibung der Sitten, Gebräuche, Anſchauungen, Sprachen und dgl. der einzelnen Völker beſchäftigt, braucht ſich um die Stellung jedes einzelnen dieſer Völker eigentlich gar nicht zu bekümmern.“ Wir möchten gern wiſſen, welchem Ethnographen dieſes Geſtändniß entnommen iſt. Wenn Hellwald dabei an unwdiſſenſchaftlich ge— ſchriebene Monographien denkt, ſo iſt der Satz unrichtig, da ſolche Publicationen nicht in die Wiſſenſchaft der Ethnographie gehören; denkt er aber dabei an Darſtellungen der Ethnographie als Wiſſenſchaft, ſo hätte dabei das Buch, welches die Wiſſenſchaft ohne ein beſtimmtes Syſtem darzuſtellen unternimmt, näher bezeichnet werden ſollen. Bekanntlich habe ich es in meiner 1873 erſchienenen „allgemeinen Ethnographie“ unternommen, die Ethnographie als die Lehre vom Menſchen, inſofern er einer natür- lichen, d. h. durch Sprache, Sitten u. ſ. w. geeinten Geſellſchaft angehört, ſyſtematiſch darzuſtellen, wobei ich nach der von mir gegebenen Definition von Raſſe und Volk, von der anthropologiſchen Grundlage, aus— ging. Ich habe in meinem Syſtem beide Richtungen, Anthropologie und Ethnologie, ſtreng aus einander gehalten; ſie ſind nicht bei mir ſo verquickt, daß eine Richtung von der andern abhängig wäre. Mein ethnologiſches Syſtem vermag ich ſel b⸗ ſtändig zu vertreten und bin ſtets bereit, mich mit Fachgenoſſen in Erörterungen darüber einzulaſſen; dagegen iſt das von mir adoptirte anthropologiſche Syſtem (für das ich wohl Verſtändniß habe, das ich aber nicht ſelbſtändig zu vertreten vermag) fremdes Eigenthum. Es bildet blos den Aus- gangspunkt meines ethnologiſchen Syſtem's und könnte auch, falls ein beſſeres ſich mir darbieten würde, durch dieſes, ohne irgend welche Veränderung in meinem ethnologiſchen Sy ſtem hervorzurufen, erſetzt werden. Ein ſolches Auseinanderhalten anthro— pologiſcher und ethnologiſcher Forſchung ſcheint mir für den Fortſchritt der Wiſſenſchaft förderlicher zu ſein als jene Verquickung, wie ſie Peſchel in ſeiner „Völkerkunde“ durchgeführt hat, und die nun Hellwald in die Wiſſenſchaft einführen möchte. Durch dieſe Bemerkung wird — wir müſſen dies ausdrücklich betonen — Peſchel's Buch keineswegs betroffen. Das Buch Peſchel's iſt ein geiſtreich geſchriebenes, in ſeiner Art claſſiſches Werk, das blos ein Peſchel ſchreiben konnte. Es nimmt aber ebenſo wenig in den Wiſſenſchaften der Anthro— pologie und Ethnologie eine beſtimmte Stellung ein, als ewa Humboldt's Kosmos in der Anatomie, Phyſiologie und dergl. Peſchel war bekanntlich vergleichender Geograph, aber weder Natur- noch Sprach- forſcher von Fach. Seine Anſichten ſtützen ſich, ſofern ſie auf die beiden letzteren Ge— biete ſich beziehen, auf beſtimmte Autori— täten. Das iſt Wiſſen, glänzendes Wiſſen, aber nicht Wiſſenſchaft, wie man ſie heut zu Tage verſteht, nämlich „zunftmäßige Wiſſenſchaft.“ Während Peſchel's Buch nur von einem Peſchel geſchrieben werden konnte, hätte jeder mit meinen Fachkenntniſſen und Studien ausgeſtatteter Mann meine „all— gemeine Ethnographie“ zu Stande gebracht. Mit dieſem Geſtändniß habe ich die Vorzüge und Mängel zugleich der Arbeit Peſchel's, ſowie ſeiner Richtung, die Hellwald in die Wiſſenſchaft einführen möchte, getroffen. — Das Werk Peſchel's blendet, es iſt mit tiefen philoſophiſchen Betrachtungen durchflochten und anziehend geſchrieben. Es iſt mehr für die erhebende Lectüre als für das zünftige Studium beſtimmt. Es fehlt ihm jedoch die eigene Grundlage; dieſelbe beſteht vielfach aus „in fremdem Garten gepflückten Blumen“; in anderen Fällen iſt fie durch den Eklekticismus (eine Folge davon, daß Peſchel nicht Fachmann war) gewaltig erſchüttert. Wie man heutzutage Wiſſenſchaft treibt, ſo wird von jedem ihrer Jünger zunächſt die genaueſte Kenntniß ihres Handwerkszeuges und ihrer Methode gefordert. Der Umfang einer jeden Wiſſenſchaft iſt heutzutage derart, Offene Briefe und Antworten. 175 daß nur Jemand, der ſich auf eine be— ſtimmte Richtung beſchränkt, Bedeutendes, für die Wiſſenſchaft Werthvolles zu leiſten vermag. Ob ein Jemand im Stande iſt, zwei ſo verſchiedene Wiſſenſchaften, wie ver— gleichende Anatomie und vergleichende Sprach— kunde (und dieſe beiden bilden doch zuletzt die ſicheren Grundlagen einerſeits der anthropolo— giſchen, andererſeits der ethnologiſchen For— ſchung) zu umfaſſen, d. h. wiſſenſchaftlich zu umfaſſen, dies iſt eine Frage, die ich im Hinblick auf meine eigenen Kräfte ent— ſchieden verneinen möchte. Wir bleiben alſo bei unſerer bereits gemachten Bemerkung, daß wir, wenn Je— mand als Schriftſteller Anthropologie und Ethnologie verquickt, alſo eine „Völkerkunde“ ſchreibt, nichts Weſentliches dagegen einzu— wenden haben; daß wir aber, ſofern es ſich um die Wiſſenſchaft, d. h. zunftmäßige Wiſſenſchaft handelt, auf ein ſtrenges Aus— einanderhalten beider Richtungen dringen müſſen. Nur durch eine ſolche Vertheilung des gewaltigen, zwei ganz verſchiedenen Wiſſensgebieten angehörenden Stoffes, durch genaue ſyſtematiſche Bearbeitung deſſelben von eigens dazu geſchulten Kräften, wird ein Ausbau der Wiſſenſchaften der Anthro— pologie und Ethnologie möglich ſein; glück— lichere Zeiten, als es die unſere iſt, mögen dann meinetwegen den ſtolzen Tempel der „Völkerkunde“ vollenden. Wie wir glauben, mag Hellwald im tiefſten Grunde zu ſeinen Ausführungen durch den Umſtand veranlaßt worden ſein, daß ſein Gewiſſen ſich ſträubt, die Wiſſen— ſchaft vom Menſchen überhaupt aus dem Bereiche der exacten Wiſſenſchaften auszu— liefern, daher er fie wiederholt den Natur- wiſſenſchaften zuzählt. Dem liegt aber eine ſtillſchweigende Identificirung der Natur- wiſſenſchaften mit exacter Wiſſenſchaft über— . enn al 176 haupt zu Grunde, eine Identificirung, der wir auch bei vielen Sprachforſchern (z. B. Schleicher) begegnen. Daß aber eine ſolche Identificirung nicht richtig iſt, geht ſchon daraus hervor, daß Manches in das Ge— biet der Naturwiſſenſchaften gehören kann, ohne deswegen exact zu ſein, und umgekehrt manches dem Gebiete der Geiſteswiſſen— ſchaften Angehörende exact ſein kann. Wer | will behaupten, daß z. B. Perty's bekannte | Arbeiten über die Geiſtererſcheinungen (ein ſtreng naturwiſſenſchaftliches Object!) den Namen einer exacten Forſchung ver— dienen? Und verdient die vergleichende Grammatik irgend eines Sprachſtammes weniger den Namen einer exacten Leiſtung als eine Arbeit über die Schädelbildung dieſer oder jener Raſſe? Man erſieht wohl daraus leicht, daß der Umſtand, ob eine Arbeit exact ſei oder nicht, nicht ſo wohl darauf, ob das Object den Natur- oder den Geiſteswiſſenſchaften angehört, ſondern vielmehr darauf beruht, mit welcher Methode Offene Briefe und Antworten. beider Wiſſenſchaften anſtrebe. Weit entfernt, ſie ausgeführt worden iſt. In der Me— thode ruht der eigentliche Cha— rakter — der Fortſchritt der Wiſſenſchaft. Friedrich Müller. II. Die Einwendungen, welche Profeſſor Friedrich Müller in Wien gegen meine Auffaſſung der „Völkerkunde“ erhebt, konn— ten mir von keiner angenehmeren Seite kommen als gerade von ihm, mit dem mich eine langjährige Freundſchaft verbindet. Es wird daher nicht ſchwierig ſein, zu einer Verſtändigung in der aufgeworfenen Frage zu gelangen, welche auch für weitere Kreiſe Intereſſe haben dürfte, und wir haben ſo— gar alle Urſache, dem Wiener Sprachgelehr— ten unſeren aufrichtigſten Dank dafür zu zollen, daß er dieſes Thema einer näheren kritiſchen Beachtung werth erachtet hat. Mit Vergnügen folge ich daher meinem lieben Freunde auf dieſem Boden und will im Folgenden ſo knapp als möglich meine An— ſichten präciſiren, wobei ſich wahrſcheinlich herausſtellen wird, daß, wenn überhaupt, eine nur ſehr unerhebliche Meinungsdiffe⸗ renz zwiſchen uns beſteht. Müller irrt entſchieden, wenn er meint, daß gegenüber der von ihm nach— drücklich betonten Scheidung der Anthro⸗ pologie und Ethnologie ich eine Verquickung Müller hierin zu opponiren, rechne ich ihm gerade die ſcharfe Sonderung der bei— den Wiſſenszweige zum höchſten Verdienſte an; hat doch er zuerſt der Verſchwommen⸗ heit ein Ende gemacht, welche lange Zeit die beiden Begriffe umnebelte. Qui bene distinguit, bene docet; dieſer alte Satz hat auch hier ſeine volle Geltung. Wenn ich dennoch die „Völkerkunde“ in dem Sinne nahm, wie Peſchel deren Grundriſſe feſtgelegt, ſo geſchieht dies keineswegs, um den Unterſchied zwiſchen Anthropologie und Ethnologie wieder aufzuheben, noch auch um aus der „Völkerkunde“ eine beſondere Disciplin zu machen. Aus vollem Herzen unterſchreibe ich alles, was Fr. Müller über Peſchel's Buch ſagt; die Stellung der „Völkerkunde“ im Kreiſe des menſch— lichen Wiſſens nach meiner Auffaſſung glaube ich jedoch am beſten an zwei con— creten Beiſpielen klar machen zu können. Faſſen wir zunächſt die ſeit mehreren Jahren ſehr erfolgreich betriebenen urge— ſchichtlichen Studien, oder wie Manche mit einem Fremdworte ſagen, die Prähiſtorie des Menſchen ins Auge. Unterſuchen wir die Programme und den Wirkungskreis der Offene Briefe und Antworten. 177 ſich mit dieſem Wiſſenszweige befaſſenden Geſellſchaften in Deutſchland, in Oeſterreich, in Frankreich, in England, überall finden wir, daß dieſelben mindeſtens drei be— ſtimmte, geſonderte Disciplinen: Anthro— pologie, Ethnologie und Urgeſchichte um— faſſen. Jede dieſer drei Disciplinen ſteht für ſich völlig unabhängig, ſelbſtſtändig da; nur wenn ſie alle drei ſich vereinen, ver— mögen wir aber ein Verſtändniß für die menſchliche Prähiſtorie zu gewinnen. Wer die Urzuſtände unſeres Geſchlechts erforſchen will, muß nothwendiger Weiſe alle drei Disciplinen mit gleicher Sorgfalt berück— ſichtigen, und erſt die Ergebniſſe aus allen dreien conſtituiren die prähiſtoriſche Wiffen- ſchaft. Werden aber darum die drei Dis— ciplinen in ihrer Selbſtſtändigkeit verletzt? Keineswegs. Man wird immer ganz aus— ſchließlich blos anthropologiſche, blos ethno— logiſche oder blos urgeſchichtliche (dann richtiger archäologiſch zu nennende) Forſchun— gen anſtellen und auf jedem dieſer Gebiete Großes leiſten können; nur wird die bloße Beherrſchung eines dieſer Wiſſensfelder allein niemals zur Herſtellung des Begriffes ge— nügen, welchen wir mit der prähiſtoriſchen Wiſſenſchaft verbinden. Noch beredter ſpricht das näher liegende Beiſpiel vom Arzte, worauf Müller ſelbſt hindeutet, indem er fragt, ob Jemand, der in der Anatomie, Phyſiologie und Pſychologie ſammt deren propädeutiſchen Wiſſenſchaften nicht tüchtig gearbeitet hat, ein ſelbſtſtändiges Urtheil in irgend einem ſchwierigeren Problem dieſer | ſchmelzung oder Verquickung das Wort zu reden, glaube ich damit gerade auf dem es, daß die ärztliche Wiſſenſchaft nur aus Disciplinen ſich anmaßen darf? Gewiß nicht, antworte ich; aber ebenſo gewiß iſt der Vereinigung aller dieſer Disciplinen und noch anderer hervorgeht. Man kann ein tüchtiger Anatom, oder Phyſiologe, oder Pſychologe ſein, iſt aber deshalb lange noch kein Arzt. Erleiden aber dieſe einzelnen Disciplinen dadurch, daß ſie alle insgeſammt zur ärztlichen Wiſſenſchaft gleich nothwen— dig ſind, irgend eine Beeinträchtigung an ihrer Selbſtſtändigkeit, oder werden ſie da— durch etwa mit einander verſchmolzen? Sicherlich nicht im Geringſten, und ganz thöricht wäre es von uns, die Selbſtbe— ſchränkung, d. h. das Vertreten blos jener Wiſſenſchaft, die man verſteht, als unwiſſen— ſchaftlich hinzuſtellen. Kein Gedanke konnte mir ferner liegen, und Müller's dies— bezügliche Annahme beruht wohl nur auf einem vielleicht von mir durch undeutliche Ausdrucksweiſe hervorgerufenen Mißver— ſtändniſſe. Die reine Ethnographie, welche ſich lediglich mit der Beſchreibung der Sit— ten, Gebräuche, Anſchauungen, Sprachen u. dgl. der einzelnen Völker beſchäftigt, braucht ſich um die Stellung jedes einzelnen dieſer Völker eigentlich gar nicht zu be— kümmern. So ſagte ich, und mein ge— ſchätzter Freund fragt, welchem Ethnographen dieſes Geſtändniß entnommen ſei. Glück— licherweiſe gar Keinem, denn ich hatte dieſes eben nur in abstracto und unter „Stellung jedes einzelnen dieſer Völker“ die anthropologiſche Stellung gemeint. In abstracto wohnt aber dem Satze wohl die nämliche Berechtigung inne, als wenn ich ſage, daß die Anatomie ſich eigentlich nicht um die Pſychologie, die Anthropo— logie ſich nicht um die Archäologie zu kümmern brauche. Jedes bildet eben eine Disciplin für ſich, und ſtatt einer Ver— Standpunkte Müller's zu ſtehen, den ich nicht nur in dieſer, ſondern auch noch in anderen Fragen verfechte. Nur glaube ich, daß es Wiſſenſchaften giebt, welche erſt aus der Vereinigung der Reſultate mehre— 178 rer Disciplinen erwachſen, was von einer | Verſchmelzung oder Verquickung derſelben doch himmelweit verſchieden iſt. Solche Wiſſenſchaften find die Prähiſtorie, die Heil— kunde und — meiner Anſicht nach — die Völkerkunde. Daß Fr. Müller offenbar der nämlichen Anſchauung huldigt, geht übrigens aus ſeiner eigenen trefflichen „Allgemeinen Ethnologie“ hervor, in wel— cher er zwar beide Richtungen, Anthropo— logie und Ethnographie, ſtreng aus einander hält, dennoch aber die erſtere Disciplin, ſogar, wie er ſagt, in einem adoptirten Syſteme, überall zur Geltung gelangen läßt, ſtatt dieſelbe gänzlich auszumerzen, wie es logiſch wäre, wenn er ſie in ſeinem Buche nicht für nöthig erachtete. Ueberall läßt Müller — und mit voll- ſtem Rechte — die Schilderung des leib— lichen Typus, d. h. das anthropologiſche Moment, der ethnographiſchen Schilderung vorangehen, ein Beweis, daß auch ihn eine allgemeine Ethnographie, welche ſich nur mit Sitten, Gebräuchen, Anſchau— ungen, Sprache der Völker befaßt, unbe— friedigt gelaſſen hätte. Daß Müller beide Richtungen ſtreng aus einander ge— halten, ſo daß keine von der anderen ab— hängig erſcheint, verdient hohe Anerkennung, nicht minder aber auch, daß er beide den noch neben einander gleichmäßig einherführt. Mit dieſem Satze iſt, glaube ich, der Boden für eine Verſtändigung, ſowohl mit dem be— freundeten Forſcher wie mit dem Leſer dieſer friedlichen Auseinanderſetzung, gewonnen, und wird Prof. Müller nicht mehr im Zweifel ſein können, daß ein Widerſpruch zwiſchen unſeren Anſichten nicht beſteht. Offene Briefe und Antworten. Vielleicht trüge es zur Klärung ähn— licher Discuſſionen bei, wenn man der Terminologie eine größere Schärfe geben könnte. Die Definition, welche Müller für die „Wiſſenſchaft“ aufſtellt, iſt an und für ſich unbeſtreitbar; da aber Müller ſelbſt zur genaueren Bezeichnung ſich des Beiwortes „zunftmäßig“ bedient, ſo dürfte man vielleicht den Vorſchlag wagen, dieſe „zunftmäßigen Wiſſenſchaften“ „Disci— plinen“, kurzweg „Wiſſenſchaften“ aber jene Wiſſensfelder zu nennen, deren Bebauung das Zuſammenwirken mehrerer Disciplinen erfordert. In dieſem Sinne wären z. B., um nur einige zu nennen, Heilkunde, Ge— ſchichte, Erdkunde und auch Völkerkunde, (die ja nur die deutſche Umſchreibung des Wortes „Ethnographie“), weil der Mitwirkung verſchiedener Disciplinen bedürf- tig, Wiſſenſchaften, während Anatomie, Phyſiologie, Pſychologie, oder auf geſchicht— lichem Gebiete Numismatik, Epigraphik u. dgl., endlich auf jenem der Erdkunde Geo— logie, Paläontologie, Phyſik, ſo wie die verſchiedenen Zweige der „Naturwiſſen— ſchaften“ als Dis ciplinen zu gelten hätten. Was die Scheidung zwiſchen Natur- und Geiſteswiſſenſchaften anbelangt, ſo lege ich keinen ſo großen Werth darauf, ob die Wiſſenſchaft vom Menſchen zu dieſen oder zu jenen gezählt werde, da — ſo ſehr ich Müller's Ausführungen beipflichte — dieſe Scheidung mir noch eine ziemlich ſub— jective erſcheint, zumal es nicht an Stimmen fehlt, welche in gewiſſem Sinne alle Wiſſenszweige den Naturwiſſenſchaften zu- rechnen. Friedrich von Hellwald. Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig. Gedanken über Dererbingseriheinungen und Dererbungswelen von Dr. Ludw. Moerzier. (Schluß.) nennenswerthen Verſuch, den Hergang bei der Vererbung mit ſeiner Hypotheſe der Pan— geneſis gemacht, die der britiſche Forſcher jedoch ſelbſt als eine nur „proviſoriſche“ bezeichnet. Darwin nimmt an, „daß die Zellen kleine Körperchen (Keimchen, Gem— mulae) abgeben, welche durch das ganze Syſtem (des Körpers) zerſtreut werden; daß dieſe, gehörig genährt, ſich durch Selbſttheilung vervielfältigen und ſchließ— lich zu Einheiten (oder Zellen) entwickelt werden, gleich denjenigen, von welchen ſie urſprünglich abgeleitet ſind. Sie ſammeln ſich aus allen Theilen des Körpers, um die Geſchlechtselemente zuſammenzuſetzen, und ihre Entwickelung in der nächſten Ge— neration bildet ein neues Weſen; aber ſie ſind gleicherweiſe auch fähig, in einem ) Charles Darwin, Das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zuſtand der Domeſtikation. 2. Aufl. 1875. 27. Kapitel. ſchlummernden Zuſtande an künftige Ge— nerationen überliefert und dann erſt ent— wickelt zu werden. Ihre Entwickelung hängt ab von ihrer Vermiſchung mit anderen, theilweiſe entwickelten oder entſtehenden Zellen, welche ihnen im regelmäßigen Ver— lauf des Wachsthums vorausgehen.“ Es wird ferner von ihm angenommen, „daß Keimchen von jeder Einheit oder Zelle nicht nur während ihres erwachſenen Zu— ſtandes abgegeben werden, ſondern auch während jedes Entwickelungszuſtandes eines jeden Organismus; aber nicht nothwendig während der fortgeſetzten Exiſtenz derſelben Zelle.“ Endlich nimmt er an, „daß die Keimchen in ihrem ſchlummernden Zuſtande eine gegenſeitige Verwandtſchaft zu einander haben, welche in ihrer Anhäufung entweder zu Knospen oder zu Sexual-Elementen führt.“ Aehnliche Vorſtellungen, daß der Same gleichſam ein Extrakt des ganzen Körpers ſei, finden ſich ſchon bei Schriftſtellern der [| Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. Alten; der Same ſtrömt, nach Hippo— krates, von allen Theilen des Körpers her, und iſt geſund oder ungeſund, je nach— dem die Theile geſund oder ungeſund ſind. Nach Demokrit wird der Same vom ganzen Körper ausgeſchieden und belebt durch eine körperliche Kraft; der Same jedes Körpertheils erzeugt den beſtimmten Theil wieder. Der Lehre Demokrit's ſchloß ſich Paracelſus an, und dieſelbe wurde als neue Zeugungstheorie im Anfang dieſes Jahrhunderts von Ben. Höſch aufgeſtellt: er hält die Zeugungsſtoffe für Gemiſche von Grundſtoffen des ganzen Körpers, von Keimen aller Organe, die von den Saug— adern aufgenommen und durch das Blut in Hoden und Eierſtock geführt werden. Auch die Buffon'ſche Lehre der Erb— lichkeit, wonach die Keime Extrakte des ganzen Körpers ſind, die ſich mit einander miſchen, ſowie die neueren Hypotheſen *) ſtimmen im Princip mit Darwin's Pangeneſis überein. His“) weiſt zur Widerlegung der Pangeneſis auf die Kritik hin, welche be— reits Ariſtoteles auf die ganz ähnliche Hypotheſe ſeines Zeitgenoſſen geſchrieben habe. Wenn auch, bei dem fortgeſchrittenen Standpunkte der hiſtologiſchen Forſchung, Darwin's Pangeneſis gegen mehrere der Ariſtoteliſchen Einwürfe ſich vertheidigen läßt, ſo bleibt doch immer das eine wichtige Bedenken, welches auch His an— führt: „Wollen wir ſelbſt die Möglichkeit zugeben, jede Ganglienzelle bilde ihre ) Vgl. Dr. Emanuel Roth, Hiftorifch- kritiſche Studien über Vererbung. Berlin 1877. Verlag von Aug. Hirſchwald. ) His, Unſere Körperform und das phyſiologiſche Problem ihrer Entſtehung. Leipzig 1875. Verlag von F. C. W. Vogel. * Ganglienzellenkeime und gebe je nur einen an einen neuen Geſammtkern ab, und daſſelbe gelte von jedem andern un— ſerer Elementarbeſtandtheile, ſo bleibt ſtets noch ſicher, daß eine Summe von diminu— tiven Theilrepräſentanten oder von Organ— ſplittern nicht ein diminutives Ganze liefern wird, ſondern ein regelloſes Gemenge, das auf den Namen eines Organismus keinen Anſpruch machen darf.“ Selbſt wenn man annimmt, daß gleichartige Keimchen ſich finden, ſo iſt damit doch immer noch nicht erklärt, warum ſie, nachdem ſie ſich gefun— den haben, den anderen Keimchencomplexen gegenüber in einer der Schichtungsweiſe des elterlichen Organismus ſo ganz ähnlichen Weiſe bei ihrer Schichtung ſich verhalten werden, warum beiſpielsweiſe die Keimchen- complexe der Muskeln zu denen der Nerven genau ebenſo ſich lagern, wie dies bei den Muskeln und Nerven des elterlichen Or— ganismus der Fall war. Was giebt den Keimchen die wunderbare Organiſation, daß ſie, etwa von der degenerirten Zehe ſtammend, im Keim ſich zu der ganz ähn— lich gebauten kindlichen Zehe ſammeln? Bei aller Hochachtung und Verehrung, welche Darwin verdient, muß man ſich geſtehen, daß er das zu Erklärende in die Keimchen ſelbſt zurückverlegt hat und ihnen Eigenſchaften zuweiſt, die ebenſo unerklärt und ſtaunenerregend find, wie der makro— ſkopiſche Bau des Thieres, der durch ſie im Keime vorgebildet werden ſoll. Wenn Blumenbach, in Weiter⸗ bildung der früher ſchon von Mauper— tuis und Needham ausgeſprochenen Idee annahm, daß „nachdem der vorher rohe und ungebildete Zeugungsſtoff der orga— niſchen Körper zu ſeiner Reife und an den Ort ſeiner Beſtimmung gelangt ſei, in ihm ein beſonderer, dann lebenslang thätiger Bez en), Trieb rege wird, eine jedesmal beſtimmte Geſtalt anzunehmen, lebenslang zu erhalten und, wenn ſie etwa verſtümmelt worden, wo— möglich wieder herzuſtellen,“ ſo kann die Aufſtellung eines ſolchen Bildungstriebes ſo lange nichts erklären, als dasjenige, was dieſen Trieb treibt, nicht durchſchaulich wird. Iſt ein ſolcher „Bildungstrieb“, oder ſind vielmehr ſolche Bildungstriebe weniger ſtaunenerregend, als die vollendeten Ge— ſtalten ſelbſt? Und ſagt dieſe Erklärung vielleicht etwas Anderes, als daß die For— men ſo ſind, weil ſie ſo getrieben ſind? Von eben ſolchen Trieben, obwohl er ſie verurtheilt, ſpricht im Grunde genommen auch der Verfaſſer von „Unſere Körper— form“. Er glaubt das phyſiologiſche Problem ihrer Entſtehung der Löſung nahe gebracht zu haben, indem er dem mütter— lichen Ei eine ſpecifiſche Vertheilung der Wachsthums-Erregbarkeit zuerkennt, welche durch die verſchiedene ſpecifiſche Erregung durch die Samenfäden in Wirkung ver— ſetzt wird. Iſt es aber nicht eine wunder— bar geſchickt vertheilte Wachsthumserregbar— keit des Eies, und iſt es nicht ein wunder— lich geſchickt erregender Stoß der Samen— fäden, wenn das Endreſultat derſelben das jedesmalige Werden eines ſpecifiſchen In— dividuums iſt? Wodurch wird im Ei dieſe Wachsthumserregbarkeit ſo hübſch ver— theilt, was legt in die Samenfäden die ebenſo hübſch vertheilte erregende Kraft, daß aus dem Ei nach Contakt mit den Samenfäden ein Weſen wird, welches die mütterlichen und väterlichen Eigenſchaften oft bis zu den minutiöſeſten Kleinigkeiten in ſich vereinigt? Wo ſind mit anderen Worten die Urſachen der inneren Ur— ſachen? Wenn His ſich als Ziel die mecha— niſche Erklärung der Ontogeneſe ſtellt und Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. ö g ) 9 0 181 dieſe auf phyſiologiſchem Wege dadurch zu erreichen ſucht, daß er „ein allgemeines Grundgeſetz des Wachsthums“ aufſtellt, ſo iſt das gewiß anzuerkennen, wenn er aber als Urſache der verſchiedenen Wachsthums— formen einen dem Keim anhängenden Wachsthumstrieb annimmt, dann darf er gewiß den nisus formativus Blumen- bach's nicht zu ſehr von oben herab be trachten. Klarer über das Endziel cauſaler Naturerklärung denkt jedenfalls Häckel. „Auch ich,“ ſagt derſelbe in Beantwortung des His'ſchen Angriffes, *) „verfolge in allen meinen Arbeiten über Entwickelungs— geſchichte das Hauptziel, ſämmtliche Erſchei— nungen der Ontogeneſis mechaniſch zu erklären, freilich nicht mit Ausſchluß, ſondern mit Hülfe der Phylogeneſe; aber ebenfalls auf phyſiologiſchem Wege. Iſt doch das ganze neunzehnte Kapitel der „ge— nerellen Morphologie“ bemüht, die beiden formbildenden Erſcheinungen der Vererbung und Anpaſſung, mit denen die bisherige Schul-Phyſiologie ſich jo gut wie gar nicht beſchäftigt hat, als phyſiologiſche Funktionen der Organismen nachzuweiſen, auf die Funktionen der Fortpflanzung und Ernäh— rung zurückzuführen, und als ſolche mecha— niſch, d. h. durch chemiſch-phyſikaliſche Ur— ſachen zu erklären.“ Und weiter: „Ich befinde mich alſo bei Stellung meiner Hauptaufgabe zunächſt ganz auf demſelben Boden, wie His, auf dem Boden des Monismus, und erkenne als den auf unſer gemeinſames Ziel hinführenden Weg den mechaniſchen, im Gegenſatz zum teleologiſchen an. Denn ich theile die Anſicht Kant's, daß der Me— chanismus allein eine wirkliche Erklärung einſchließt, und daß es ohne das Princip ) Ernſt Häckel, Ziele und Wege der heutigen Entwickelungsgeſchichte. Jenaiſche Zeitſchrift. X. Band. Supplementheft. “ 182 des Mechanismus keine Naturwiſſenſchaft geben kann. Auch darin, daß das Wachs— thum als nächſtes formgeſtaltendes Princip die geſammte individuelle Entwickelung be— herrſcht, ſtimme ich ganz mit His über— ein. Wir beide erkennen ja damit im Grunde nur den Satz an, welchen Baer ſchon vor 47 Jahren als das allgemeinſte Reſultat ſeiner Forſchungen erklärte: „Die Entwickelungsgeſchichte des Individuums iſt die Geſchichte der wachſenden Individualität in jeglicher Beziehung.“ Wie kommt aber das Wachsthum dazu, in den ungezählten Tauſenden von organiſchen Formen überall verſchiedene und ewig wechſelnde Formen anzunehmen? Hier ſcheidet ſich der Er— klärungsweg von His fundamental von dem meinigen; ich wende mich zur Phylo— genie, um die hiſtoriſche Entſtehung der verſchiedenen Wachsthumsformen zu erklären, und ſuche in der Wechſelwirkung der Ver— erbung und Anpaſſung den völlig genü— genden Erklärungsgrund. His hält dieſen „weiten Umweg“ für ganz überflüſſig und ſucht direkt die Ontogenie aus ſich ſelbſt zu erklären.“ Es dürfte nicht ſchwer hal— ten zu zeigen, daß auch Herr Profeſſor His das Bedürfniß, über die Ontogeneſe hinaus durch die Phylogeneſe zu einer cau— ſalen Erklärung des ontogenetiſchen Wachs— thums zu gelangen, gefühlt hat. Er faßt ſeine Unterſuchungen in die Behauptung zu— ſammen, daß die Körperform eine unmittel— bare Folge des Keimwachsthums und bei gegebener Anfangsform des Keimes aus dem Geſetze des Wachsthums abzuleiten ſei. Sein Beſtreben geht 1) auf empiriſche Feſtſtellung des Wachsthumsgeſetzes und 2) auf die Ableitung der ſich folgenden Formen des entſtehenden Körpers aus dieſem Ge— ſetz. Weiterhin iſt ihm das Keimwachs— thum eine Folge der Eigenſchaften des eben „ Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. befruchteten Keimprotoplasmas. Dieſe ſind eine Folge von den Eigenſchaften der elter— lichen Keimſtoffe und der Art ihres Zu— ſammentreffens. Wir bekommen ſomit nach His folgende Reihe zu leiſtender Erklä— rungen: 1) Erklärung der Körperform aus dem Wachsthum des Keimes; 2) Erklärung des Keimwachsthums aus den Eigenſchaften des befruchteten Keimprotoplasmas und aus den Bedingungen feiner Entwickelung (Tem— peratur, Ernährungsbedingungen u. ſ. w.); 3) Erklärung der Eigenſchaften des befruch— teten Keimprotoplasmas aus den Eigen— ſchaften der elterlichen Keimſtoffe und den beſonderen Bedingungen ihres Zuſammen— treffens. 4) Erklärung der Eigenſchaften der Keimſtoffe aus dem Gange der elterlichen Körperentwickelung. 5) Erklärung der beſonderen Bedingungen der Befruchtung aus den Lebens verhält— niſſen der beiden Erzeuger u. ſ. f. Sue dem er aber die Eigenſchaften des Keim— protoplasmas auf die Eigenſchaften der elterlichen Keimſtoffe, dieſe wieder auf den Gang der elterlichen Körperbildung und letztere, ganz oder zum Theil, auf die Le— bensverhältniſſe der Erzeuger zurückführt, muß er aufſteigend zu Stammformen kom— men, welche immer mehr Eigenſchaften ſich erwerben. Wenn His an anderer Stelle an dem Ausſpruche feſthalten will, daß „die im individuellen Leben erworbenen Eigenſchaften ſich nicht vererben,“) fo ſcheint es uns, daß er dadurch nicht nur den Thatſachen, ſondern auch der eigenen Begründung ſeines „Wachsthumsgeſetzes“ widerſpricht. Stellenweiſe ſpricht His ſo, daß man ſich mit ihm einverſtanden erklären könnte, jo z! B. am Schluß von „Unſere ) His, Unſere Körperform ꝛc. S. 158. TERN, Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. 0 FA Körperform“, wo er jagt: „Beſäßen wir die ideale Klarheit jenes von Laplace gedachten Geiſtes, dem der Weltproceß in einer mathematiſchen Formel vorliegt, dann würden uns auch die Wachsthumsformeln organiſcher Weſen nach ihrem letzten Aus drucke bekannt fein, und wir vermöchten ſie nach ihrer Form und innerhalb jeder Form nach dem Werth ihrer conſtanten Glieder zu ordnen. Den höchſten über— haupt denkbaren Anforderungen an die Syſtematik wäre damit Genüge geleiſtet. Würden wir alsdann die Formeln nach ihrer phylogenetiſchen Succeſſion zuſammen— ſtellen, dann würden auch dieſe Reihen fortlaufende Aenderungen der Coefficienten neben ſteigender Complication der Formeln nachweiſen, und aus den dabei zu Tage tretenden Geſetzen müßte wohl ohne Wei teres erkennbar ſein, ob die im Laufe der Generationen erfolgten Umbildungen ihren Grund im Weſen der Entwickelung ſelbſt gehabt haben, oder ob ſie ſchließlich aus Anpaſſungen an äußere Verhältniſſe hervor— gegangen ſind.“ „Die phſiologiſche Ab— leitung der thieriſchen Körperformen und die Aufſuchung ihrer phylogenetiſchen Ge— ſchichte ſind zwei Aufgaben, deren Wege für die nächſte Zeit getrennt neben einan— der herlaufen.“ So mag denn Herr His verſuchen, auf dem Boden der Ontogeneſe zu der Klar heit dieſes idealen Geiſtes vorzudringen, einſtweilen ſteht er, wenn er die Vererbungs— erſcheinungen und ihr Weſen durch dieſe allein urſachlich erklären will, rathlos da; möge er dann aber auch die phylogenetiſche Forſchungsweiſe ſchon allein deshalb mit etwas mehr Achtung behandeln, weil ſeine phyſiologiſchen Beſtrebungen im Grunde genommen doch nur ein kleiner Theil der von Häckel mit Geiſt und Scharfſinn ſchen Auffaſſung der 183 gezeichneten morphologiſchen Disciplinen ſind. „Was His erſtrebt,“ ſagt Hädel*), „das iſt eine Phyſiologie des Wachsthums, alſo ein Theil der Phyſiontogenie oder der „Keimesgeſchichte der Funktionen.“ (Anthro— pogenie S. 18.) Da dieſer Zweig der Entwickelungsgeſchichte faſt noch gar nicht bearbeitet iſt, kann His darauf Anſpruch machen, dieſen Specialzweig der Phyſio— logie der Keimung zuerſt ernſtlich in Angriff genommen zu haben; auch werden ſicherlich mit der Zeit dabei manche werth— volle Reſultate erzielt werden. Nur ſoll His nicht glauben, damit die Morphologie der Keimung erklärt zu haben.“ His mag auf dem von ihm eingeſchlagenen Wege dahin gelangen, die in der Keimesentwicke— lung ſtattfindenden Wachsthumsverhältniſſe, günſtigen Falls ſogar ihre Abhängigkeit von den censogenetiſchen Beeinfluſſungen durch den umhüllenden mütterlichen Orga- nismus feſtzuſtellen, damit hat er aber das Weſen der Vererbung nicht enthüllt, auch nicht gezeigt, warum die organiſchen Keime gerade den ihnen eigenthümlichen und keinen anderen Entwickelungsgang nehmen. Wohl mag es an der Zeit ſein, auch die ſpeci— fiſche Eigenthümlichkeit des Keimprotoplas— mas mehr wie es bis jetzt geſchehen in Betracht zu ziehen; man darf aber dann deſſen Anpaſſungsfähigkeit an äußere Be— dingungen nicht unberückſichtigt laſſen; mit dieſer einen Conceſſion würde aber His auf den Boden der Darwin-Häckel'- organiſchen Natur hinübertreten und zu der ahnenden Vor— ſtellung gelangen, daß auch ein guter Theil der von ihm als primitiv angenommenen Keimeseigenſchaften durch Anpaſſung wäh— rend der Stammesentwickelung erworben ) Ziele und Wege a. a. O. 184 und durch Vererbung auf die jedesmaligen Nachkommen übertragen ſein dürfte. Kölliker's Theorie der heterogenen Zeu— gung, oder, wie er ſie ſpäter genannt hat, der Entwickelung aus inneren Urſachen,“) kann eine moniſtiſche ſein, doch iſt ſie zu— gleich ein ſolche, daß ſie auch wohl dua— liſtiſch verwerthbar iſt. Sie geht davon aus, „daß der Entwickelung der ge— ſammten Welt der Organismen, wie der Natur überhaupt, Geſetze zu Grunde lie— gen, welche dieſelbe in ganz beſtimmter Weiſe zu immer höherer Entwickelung trei— ben. Wie ſchon in das befruchtete Ei des höheren Organismus die Triebfeder der ganzen weiteren Entwickelung gelegt iſt und Stufe um Stufe geſetzmäßig ſich entfaltet, wie ferner eine Mutterlauge von beſtimm— ter chemiſcher Zuſammenſetzung mit Noth— wendigkeit eine beſtimmte Kryſtallform an— ſchießen läßt, ſo enthalten auch die Urkeime aller Organismen und die organiſche Materie bei ihrer erſten Entſtehung die Möglichkeit für alle ſpäteren Bildungen in ſich, und bringen dieſelbe geſetzmäßig und in ganz beſtimmter Weiſe zur Verwirklichung.“ „Nenne man“ jagt Kölliker, „dieſes ſchaffende Princip, dieſe ſchöpferiſche Thätig— keit, wie man wolle, ſo iſt doch ſicher, daß dieſelbe an beiden Orten mit Nothwendig— keit, d. h. in regelrechter Folge von Urſache. und Wirkung thätig iſt und ergiebt ſich ſomit nicht die geringſte Nöthigung, bei der Entwickelung der Organismen irgend wel— chen äußeren Einwirkungen, heiße man ſie Zufall oder ſonſt wie, eine weſentliche Rolle zuzuſchreiben“. Wir hätten die etwas weg— werfende Hinweiſung auf dieſes Wörtchen ) Kölliker, Morphologie und Ent— wickelungsgeſchichte des Pennatulidenſtammes. Frankfurt a. M. 1872. Verlag von Chriſtian Winter. S. 26. Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen.“ „Zufall“ gern vermißt, da dem Natur- forſcher, welcher nach cauſalem Verſtänd— niſſe der Formen ringt, Alles und auch wieder Nichts Zufall iſt, da alles dem Zuge der Nothwendigkeit folgt. Köl— liker will dabei ſtehen bleiben, daß dem Keim von Anfang an ein innerer Eutwickelungstrieb zugetheilt ſei, der ihn befähigt, die ihm zugewieſene Reihe zu bilden. Dabei kann er nicht umhin, die Thatſache der Varietätenbildung anzuerkennen, er will ſie aber nur auf innere Urſachen zurückführen. Wenn aber auch nur ein ein— ziger Fall vorläge, welcher klar beweiſt, daß ein Organismus nach Aenderung von Luft, Licht, Wärme ec. ſich ändert, und dieſe Aenderung, mag ſie noch ſo minimal ſein, auf die Nachkommen überträgt, dann iſt für das Cauſalitätsbedürfniß des denkenden Menſchen ein neues weites Feld der For— ſchung eröffnet; dann muß er ſich fragen: Iſt es nicht möglich, daß im Wechſelverkehr mit den äußeren Einflüſſen, wie ſie der Zufall — wir bitten, das Wort richtig im cauſalen Sinne zu faſſen — mit ſich bringt, das, wenn man will, tauſendſach verſchie— dene Protoplasma die zur Bildung höherer Formen führenden Eigenſchaften erwarb? Soll das Urprokoplasma im Wechſelverkehr mit den verſchiedenſten Baſen, Säuren, Sal— zen ꝛc., ausgeſetzt den variirenden Feuchtig— keits-, Wärme-, Druck- und Beleuchtungs- verhältniſſen ſich ohne Aenderung ſtets gleich geblieben ſein, während doch im ganzen Bereiche der ſideriſchen und auch unorga— niſchen telluriſchen Welt das Gebildete jedes— mal das Produkt aller combinirten Kräfte iſt? Wenn man denn nach dem juridiſchen Beweiſe für die Annahme der ſtetigen Um— bildung der ſpecifiſchen Keimſtoffe fragt, wo iſt dann der juridiſche Beweis für ihre Conſtanz? Was entſpricht mehr den Regeln Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. 1 der Wahrſcheinlichkeit, daß alles im ſteten Wechſel unter neuen Verhältniſſen zu neuen Formen ſich geſtaltet, oder daß bloß für den ſpecifiſchen Keim dieſes Geſetz der Kräfte— und Stoffwandlung aufgehoben iſt? Mögen dann diejenigen, welche es lieben, immer neue und neue Beweiſe vom Darwinismus zu fordern, ſelbſt einmal mit dem Schatten eines ſolchen für ihre Anſchauungen heraus— rücken! Kölliker ſelbſt iſt zu intelligent und geiſtvoll, als daß er zu der ſtarren Conſtanz der Species ſich flüchten möchte. Wenn aber die Species nicht conſtant iſt, dann ändert ſie ſich, und wenn ſie ſich ändert, dann ändert ſie ſich nicht allein von innen heraus, ſondern in Folge der Wechſel— wirkung der ſchon beſeſſenen Protoplasma— eigenſchaften mit den äußeren Einflüſſen. Der Weg, den die Entwickelung nimmt, iſt die Reſultante beider. Wenn aber ein äußerer Einfluß zur Geltung gelangen und vererbt werden kann, dann müſſen wir wieder fragen, auf welchem Wege das Er— worbene feſtgehalten und bei der Fortpflan— zung vererbt wird? Wie kommt es, daß beiſpielsweiſe eine durch gewerbliche Beſchäf— tigung erlangte Krümmung der Arme, der Wirbelſäule oder der Beine erblich über— tragen wird? Wo iſt der Vermittler, welcher den äußern Einfluß ſo auf das Protoplasma überträgt, daß eine ſpecielle Bildung nur an einer beſtimmten Stelle des kommenden Embryo's und nur an dieſer auftritt? Die Annahme der heterogenen Zeugung, der Entwickelung aus inneren Urſachen, iſt alſo nicht erſchöpfend, weil ſie die äußeren Ein— wirkungen unberückſichtigt läßt; ſie kann ferner die Frage, was denn das Weſen der Vererbung ſei und wodurch dieſe vermittelt wird, nicht umgehen. Damit iſt aber die Kugel des Descendenzprincips, die an dem Steine der heterogenen Zeugung in ihrem 185 Laufe gehemmt ſchien, wieder ins Rollen gebracht und die logiſche Vorausſetzung einer Variation der inneren Protaplasma— Eigenſchaften der weiteren Erklärung bedürftig geworden. Die einzig befriedigende Ant— wort hierauf iſt aber nur auf dem Boden Darwin-Häckel'ſcher Auffaſſung der organi— ſchen Natur zu erwarten. Nach ihr haben die durch Autogonie entſtandenen organiſchen Keime den Kampf ums Daſein zu beſtehen; was ſich den Exiſtenzbedingungen anpaſſen kann, bleibt erhalten und vererbt die erworbenen Eigenſchaften auf die Nachkommen, was ſich dieſer Anpaſſung nicht fügen kann, muß untergehen. Dieſe Darwin-Häckel'ſche Natur- auffaſſung, einfach und groß wie die Natur ſelbſt, trägt in ihrer Einfachheit, Durch— ſchaulichkeit und logiſchen Folgerichtigkeit die Gewähr des Sieges über jede, noch fo ſcharfſinnig zuſammengeſetzte, andere Hypo— theſe. Es würde einer ſolchen ergehen, wie dem Verſuche Tycho de Brahe's, welcher auf höheren Wunſch an Stelle des Kopernikaniſchen Syſtems ein anderes ſcharf— ſinnig erdachtes, aber complicirteres Syſtem ſetzen wollte, um die geocentriſche Würde der Erde zu retten. Tycho de Brahe's Syſtem ſchlummert ruhig den Schlaf der Vergeſſenheit, während die kopernikaniſche Lehre heute von Frommen und Unfrommen anerkannt wird. Einen geiſtvollen Verſuch, das Weſen der Vererbung zu enthüllen, verdanken wir dem Verfaſſer der generellen Morphologie. Häckel hebt in ſeiner Perigeneſis der Plaftidule*) hervor, daß er von viel zu ) Ernſt Häckel, Die Perigeneſis der Plaſtidule oder die Wellenzeugung der Le— benstheilchen. Ein Verſuch zur mechaniſchen Erklärung der elementaren Entwickelungsvor— gänge. Berlin 1876. Verlag von Georg Reimer. 186 Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. hoher Verehrung für Charles Darwin, von viel zu aufrichtiger Bewunderung für ſeine leitenden Ideen erfüllt ſei, als daß er einer ſo umfaſſenden und großartig an— gelegten Hypotheſe, wie die Perigeneſis ſei, hätte entgegentreten und ihre Widerlegung verſuchen wollen, ohne irgend etwas Anderes an ihre Stelle ſetzen zu können. Wenn er jetzt dieſen Verſuch wage, ſo geſchehe es, weil einige, vor zehn Jahren in der „generellen Morphologie“ niedergelegte Keime ſich in— zwiſchen zu einer eigenen Hypotheſe entwickelt hätten, die ihm mehr innere Wahrſcheinlich— keit als die Perigeneſis zu beſitzen ſcheine und von der er hofft, daß ſie ſich zum Range einer genetiſchen Molekular-Theorie werde ausbilden laſſen. Er bezeichnet dieſe Hypo— theſe, die auch er als eine proviſoriſche be— trachten möchte, als die „Perigeneſis der Plaſtidule“, die „Wellenzeugung der Lebens— theilchen“. Er erinnert zunächſt an die heutige, durch Virchow's cellular-patho- logiſche Unterſuchungen begründete biologiſche Auffaſſung, daß der hochentwickelte Orga— nismus ein Zellenſtaat ſei, der ſich im Laufe vieler Millionen Jahre ohne vorbedachten „Zweck“ ganz ebenſo nothwendig durch das Zuſammenwirken und die hiſtoriſche Aus— bildung der conſtituirenden Zellen entwickelt habe, wie ſich der menſchliche Culturſtaat im Laufe weniger Jahrtauſende Schritt für Schritt durch die Wechſelwirkung und die fortſchreitende Arbeitstheilung der Staats— bürger herausgebildet hat. Die Arbeiten von Cohn, Schultze, Mohl, Hux— ley, Strasburger, Hertwig, Auer— bach, Bütſchli, Jäger, Häckel und Anderen, erweiterten jedoch den Begriff der Zellentheorie zu dem der Plaſtidentheorie. Darnach iſt die Zelle nicht, wie man bisher annahm, der einfachſte älteſte und niederſte Elementar-Organismus; es geht vielmehr der echten, kernhaltigen „Zelle“ die niedere kernloſe „Cytode“ voraus. Cytode und Zelle nannte Häckel bereits in ſeiner generellen Morphologie Bildnerinnen oder Plaſtiden, da ſie in Wahrheit die plaſtiſchen Künſt⸗ lerinnen ſind, durch deren Thätigkeit das ganze wundervolle Gebäude des organiſchen Lebens errichtet wird. Den in der Cytode vorhandenen eiweißartigen Bildungsſtoff, aus dem Protoplasma und Coccoplasma (Nuclein) ſich ſondert, nannte er „Plaſſon“. Es muß die nächſte Aufgabe der Phyſiogenie ſein, eine möglichſt erſchöpfende Kenntniß von der Natur dieſes wichtigſten „Lebensſtoffes“, dieſer wahren „phyſikaliſchen Lebens-Grund— lage“, wie Huxley ihn nennt, zu erlangen. Die Plaſſon-Moleküle nannte Häckel nach dem Vorgange Elsberg's „Plaſtidule“ und die Moleküle des Protoplasma und Cocco— plasma der Kürze halber Plasmodule und Coccodule. Häckel nimmt nun an, daß die Plaſtidule nicht nur die allgemeinen phy- ſikaliſchen Eigenſchaften beſitzen, welche die Phyſik und Chemie den Molekülen der Materie im Allgemeinen zuſchreibt, ſondern auch noch andere Attribute, die ihnen aus— ſchließlich eigenthümlich ſein ſollen. Jedes phyſikaliſche Atom beſitze eine inhärente Summe von Kraft und ſei in dieſem Sinne „beſeelt“. Häckel ſpricht daher von einer „Atomſeele“. „Luſt und Unluſt, Begierde und Abneigung, Anziehung und Abſtoßung müſſen allen Maſſen-Atomen gemeinſam ſein; denn die Bewegungen der Atome, die bei Bildung und Auflöſung einer jeden chemiſchen Verbindung ſtattfinden müſſen, ſind nur erklärbar, wenn wir ihnen Em— pfindung und Willen beilegen“. „Wenn der Wille des Menſchen und der höheren Thiere frei erſcheint im Gegenſatz zu dem „feſten“ Willen der Atome, ſo iſt das eine Täuſchung, hervorgerufen durch die * + * y * Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. höchſt verwickelte Willensbewegung der erſte— ren im Gegenſatze zu der höchſt einfachen Willensbewegung der letzteren. Die Atome wollen überall und jederzeit daſſelbe, weil ihre Neigung dem Atom jedes anderen Elementes gegenüber eine conſtante und un— abänderlich beſtimmte iſt; jede ihrer Be— wegungen iſt daher determinirt. Hingegen erſcheint die Neigung und willkürliche Be— wegung der höheren Organismen frei und unabhängig, weil in dem unaufhörlichen Stoffwechſel derſelben die Atome beſtändig - ihre gegenſeitige Lage und Verbindungsweiſe verändern und daher das Geſammtreſultat aus den zahlloſen Willensbewegungen der conſtituirenden Atome ein zuſammengeſetztes und unaufhörlich wechſelndes iſt.“ „Wie die Maſſe des Atoms“, ſagt Häckel, „unzer— ſtörbar und unveränderlich, ſo iſt auch die damit untrennbar verbundene Atom-Seele ewig und unſterblich. Vergänglich und ſterb— lich ſind nur die zahlloſen und ewig wech— ſelnden Verbindungen der Atome, die un— endlich mannigfaltigen Modalitäten, in denen ſich die Atome zur Bildung von Molekülen, die Moleküle zur Bildung von Kryſtallen und Plaſtiden, die Plaſtiden zur Bildung von Organismen vereinigen. Dieſe mo— niſtiſche Auffaſſung der Atome allein iſt im Einklang mit den großen Geſetzen der „Er— haltung der Kraft“ und der „Erhaltung des Stoffes“, welche die Naturphilo- ſophie der Gegenwart mit Recht als ihre unveräußerlichen Fundamente betrachtet.“ Empfindung und Willen werden demnach nicht mehr als ausſchließliche Vorzüge der thieriſchen Organismen betrachtet. Die Plaſti— dule ſollen ſich jedoch von den anorganiſchen Molekülen durch die „Fähigkeit der Repro— duktion oder des Gedächtniſſes, welche bei jedem Entwickelungs-Vorgang und nament— lich bei der Fortpflanzung der Organismen des bewußten wirkſam iſt“, unterſcheiden. „Das Ver— mögen der Vorſtellung und Begriffbildung, des Denkens und Bewußtſeins, der Uebung und Gewöhnung, der Ernährung und Fort— pflanzung beruht, wie Häckel mit Ewald Hering!) ſagt, „auf der Funktion des unbewußten Gedächtniſſes, deſſen Thätig- keit viel bedeutungsvoller iſt, als diejenige Gedächtniſſes“. Häckel möchte jedoch in ſoweit die Darſtellung Hering's ergänzen, als er nur der wirk— lich lebenden, nicht aller organiſirten Materie dieſes Gedächtniß zuſprechen will. Häckel führt nun aus, daß nach ſeinem „biogene— tiſchen Grundgeſetz“ „der Mikrokosmos des ontogenetiſchen Zellen-Stammbaumes das ver- kleinerte und verzogene Abbild von dem Makrokosmos des phylogenetiſchen Arten— Stammbaumes“ **) fer, und daß, da der Ent- wickelungsprozeß Beider das Bild einer verzweigten Wellenbewegung lie— fere, auch die molekulare Plaſtidul-Bewegung das Bild einer ſolchen darſtellen müſſe. Nur bei dieſer Vorſtellung ſei die Möglich— keit gegeben, den verwickelten Gang des bio— genetiſchen Proceſſes auf mechaniſche Bewe— gung der Maſſen-Atome zurückzuführen. Das Verzweigtſein der Bewegung, welches ſie von anderen ähnlichen periodiſchen Pro— ceſſen unterſcheide, beruhe auf der „Repro— duktionskraft“ der Plaſtidule, und dieſe ſei wieder durch deren atomiſtiſche Zuſammen⸗ ſetzung bedingt. „Dieſe Reproduktionskraft, die allein die Fortpflanzung der Plaſtiden ermögliche, ſei aber gleichbedeutend mit dem „Gedächtniß“ der Plaſtidule“. Ich geſtehe, daß ich mich an der Einführung der Ter— ) Ewald Hering, Ueber das Gedächt— niß als eine allgemeine Funktion der organi— ſchen Materie. Wien 1870. In Comm. bei Gerold's Sohn. ) Perigeneſis S. 64. 188 mini: „Empfindung, Willen und Gedächt— niß“ in die Atomiſtik geſtoßen habe, aber nach mehrmaligem Durcharbeiten der Peri- geneſis zu der Anſicht gekommen bin, daß den Häckel'ſchen Anſchauungen ein ge— ſunder Kern zu Grunde liegt. Nur muß ſich ein Moniſt fragen: Welcher materiellen Eigenſchaft entſpricht dieſes pſychiſche Empfin— den und Wollen, woher kommt ſo urplötzlich das Gedächtniß der Plaſtidule her, und in welcher entwickelungsgeſchichtlichen Beziehung! ſteht daſſelbe zu den chemiſch-phyſikaliſchen Eigenſchaften der Atome? Beſteht Autogonie, dann muß ſich doch wohl das „Gedächtniß“ der Plaſtidule aus den Eigenſchaften der Moleküle und Atome aufbauen. Wie kommt es ferner, daß das Gedächtniß jedesmal am richtigen Orte, zur richtigen Zeit und in der richtigen Weiſe eingreift, um zur Wieder— holung der biogenetiſchen Erſcheinungen den Anſtoß zu geben und was iſt es, wodurch ſchließlich das Gedächtniß angeregt wird? Das Gedächtniß wird alſo wieder als die Folge chemiſch-phyſikaliſcher Urſachen auf— gefaßt werden müſſen, und da dieſes bei Häckel der Fall iſt, giebt uns der Ter— minus dieſes „unbewußten Plaſtidul-Ge— dächtniſſes“ ein Hülfsmittel, vermöge deſſen wir dem Verſtändniß des biogenetiſchen Pro⸗ ceſſes wieder etwas näher rücken, namentlich aber zum Aufbau einer Entwickelungs— geſchichte des Pſychiſchen die Funda— mente legen lönnen. Vielleicht kann man jedoch auch ohne Zuhülfenahme dieſes Terminus weiter kommen. Jäger's durchdachte Arbeiten über die chemiſche Natur der Eiweißſtoffe und Protoplasmaſubſtanzen dürften in dieſer Hinſicht als willkommene Ergänzung zu Häckel's Perigeneſis zu betrachten ſein. Wo der Eine von Bewegungen ſpricht, be- handelt der Andere die chemiſch-phyſikaliſchen Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. Eigenſchaften des Plasmas, die aber doch in letzter Inſtanz nur durch Bewegungen übertragen und geändert werden können. Die hohen Atomzahlen, welche die Elemen— tar⸗Analyſe der Eiweißſtoffe liefert, und die zahlreichen Iſomerien, welche ſelbſt Stoffe von weit geringerem Atomgehalt | bieten, laſſen erwarten, daß die das Proto— plasma zuſammenſetzenden Eiweißſubſtanzen die mannigfaltigſten rationellen Formeln zeigen würden, wenn wir ſolche bereits ent— werfen könnten. Jäger nimmt nun an, daß, wie die weißen Blutkörperchen in ihrer Umbildungsfähigkeit das plaſtiſche Repara— turmaterial für das ſteter Abnützung unter— liegende Zellenbauwerk liefern, ſo auch als Urſache für die Gewebsdifferenzirung die Differenz der Exiſtenzbedingungen zu be— trachten ſei, welche ſich bei Bildung eines Zellconglomerats nothwendig unter den einzelnen Zellen je nach ihrer Lage inner— halb der Zellgeſellſchaft einſtellen müſſen; jede einmal eingetretene, wenn auch noch fo geringgradige Differenz jet ferner rich— | tunggebend für das Endziel der Differen- zirung. In ähnlicher Weiſe werde die Ausbildung des Thierkörpers beherrſcht durch die beſtimmte, chemiſch-phyſikaliſche Beſchaffenheit des Keimprotoplasmas, wel— ches bei den verſchiedenen Typen, Claſſen, Familien, Gattungen, Arten u. ſ. w. ein verſchiedenes ſei.“) ) Bezüglich des Näheren muß auf Jä— ger, Zoologiſche Briefe (Wien, 1876. Verlag von Wilhelm Braumüller) verwieſen werden. Auch Jäger's Lehrbuch der Zoologie (Ernſt, Günther's Verlag in Leipzig), deſſen II. Ab- theilung, die Phyſiologie umfaſſend, ſich augenblicklich unter der Preſſe befindet, jedoch in Aushängebogen dem Verfaſſer, leider etwas ſpät nach Abſchluß der Arbeit, freundſchaft— lichſt übermittelt wurde, enthält viel werth- volles und ſchätzbares Material. Die phylogonetiſche Fortentwickelung be- ſtehe nun darin, daß das durch alle Gene— rationen hindurch continuirliche, nur bei jeder neuen Generation in einen Hüll— organismus eingekapſelte Keimprotoplasma zu feinen bereits vorhandenen morphologiſch— wirkſamen, aus beſtimmten chemiſch-phyſika— liſchen Qualitäten beſtehenden Dispoſitionen in einer beſtimmten zeitlichen Reihenfolge ſtets ueue hinzu erwirbt. Bei der ontogeni— tiſchen Entwickelung kommen alle morpho— logiſchen Protoplasmadispoſitionen zur Ent- faltung, die während der Phylogeneſe er— worben wurden, und ihre Entfaltung iſt an die gleichen zeitlichen, räumlichen und phyſikaliſchen Bedingungen geknüpft, wie bei der Phylogeneſe. Die Folge dieſer Uebereinſtimmung iſt eine gewiſſe räumliche und zeitliche Wiederholung der Phylo— geneſe durch die Ontogeneſe. Bezüglich des urſachlichen Wechſelverhältniſſes beider möchte auch Jäger ſich dahin entſcheiden, daß neue Charactere zuerſt von dem je— weiligen Träger des Keimprotoplasmas während ſeiner individuellen Entwickelung durch eine Aendernug der Entwickelungs— bedingungen erworben werden müſſen, und daß ſie dann erſt erblich werden, wenn ſie derart ſind, daß ſie in den Reifungs— proceß des Keimprotoplasmas eingreifen können. Es erregt ein beſonderes Intereſſe, daß in beiden Reihen der Waſſergehalt mit fortſchreitender Entwickelung abnimmt. Für die Deutung der Entwickelung und Ver— erbung des umfaſſenderen Gruppencharakters leiſtet die Jäger'ſche Theorie alles, was man verlangen kann. Sowohl das räum— liche wie das zeitliche Verhalten der Proto— plasmadispoſitionen iſt in ſeiner urſachlichen Beziehung zur Entwickelung der Stamm— formenreihe durchſchaulich. Es fragt ſich nur, ob es auch zur Deutung der Vererbung Oyoerzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. 189 der Art- und Individual⸗Charactere aus⸗ reicht. Auch in dieſer Hinſicht hat Jäger bereits vorgearbeitet. Er geht davon aus,) daß für Thiere ebenſogut wie für Pflanzen nicht nur jede morphologiſche Art ihren ſpecifiſchen Ausdünſtungsgeruch hat, ſondern auch jede Raſſe, jede Varietät und zuletzt ſogar jedes Individuum. Ebenſo giebt es ſpecifiſche Gerüche der Gattungen, Fa— milien, Ordnungen und Claſſen, mit ande— ren Worten, die Aehnlichkeit und Ver— ſchiedenheit der Geruchs- und Geſchmacks— ſtoffe ſteht in genauer Beziehung zu dem Grade der morphologiſchen Verwandtſchaft. Der Ausdünſtungsgeruch und -Geihmad entſtammt nun zum Theil der jeweiligen Nahrung, der andere, weit überwiegende Theil haftet der lebendigen Subſtanz des Thieres an, iſt ſein Protoplasmageruch und Geſchmack. Während der erſtere für die Anpaſſung von Bedeutung wird, ſpielt der letztere bei der Vererbung eine Rolle. Die ſpecifiſchen ſaporigenen und odorigenen Subſtanzen kommen nämlich bereits im ſpecifiſchen Keimprotoplasma vor und nehmen nur bei der Entwickelung an Inten- ſität und Specifikation in gleichem Maße zu, wie die morphologiſche Detaillirung des Körpers. Der Parallelismus zwiſchen den Geruchs- und Geſchmacksſtoffen einer— ſeits und den ontogenetiſchen und ſyſtema— tiſchen morphologiſchen Differenzen anderer- ſeits begründet, wie Jäger bemerkt, einen jo dringenden Verdacht eines Cauſal— zuſammenhangs, daß, wer die Lehre von der Vererbung vom Fleck bringen will, an dieſer Thatſache nicht länger vorbeigehen ) Prof. Dr. Guſtav Jäger, Ueber die Bedeutung der Geſchmacks- und Geruchs— ſtoffe, Kölliker's Zeitſchrift für wiſſenſchaft— liche Zoologie, Bd. 27. S. 319 ff. ſowie Kosmos, Heft 1. 190 Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. darf. „Als Regulatoren für die Nahrungs— auswahl erhalten ſie während der Ontogeneſe die ſpecifiſche Protoplasmazuſammenſetzung aufrecht, ſo daß eine Generation der anderen gleicht; als Regulatoren des Fortpflanzungs⸗ inſtinktes ſorgen ſie dafür, daß das Keim— protoplasma ſtets die gleiche Miſchung aus Eiprotoplasma und Samenprotoplasma iſt; ſie ſind alſo nicht blos die Träger der Vererbung überhaupt, ſondern auch der Con— ſtanz der Vererbung.“ Die hohe Bedeutung, welche den Geſchmacks- und Geruchs-, ſowie auch den Farbſtoffen, für die continuirlichen Verrichtungen des Protoplasma zukommt, veranlaßt Jäger zur Auſſtellung ſeiner „chemiſchen Transmutationstheorie“, der— gemäß eine phylogenetiſche Abänderung nur zu erzielen iſt, wenn es gelingt, eine ſapo— rigene, odorigone (oder chromogene) Meta— morphoſe des Keimprotoplasmas zu bewerk— ſtelligen. Die eingehendere Beſprechung der bei der Aſſimilation und Bildung der protoplasmatiſchen Subſtanzen auftretenden Spaltungsprodukte der Eiweißſubſtanzen ſo— wie eine Auseinanderſetzung über die nähere Funktion der ſpeciſiſchen Geſchmacks— und Geruchsſtoffe bei dem Geſchäfte der Er— nährung und Fortpflanzung wurden bereits von Herrn Prof. Dr. Guſtav Jäger im erſten Hefte des „Kosmos“ geliefert. Es iſt nicht zu verkennen, daß dieſe chemiſche Betrachtungsweiſe uns Ausſicht bietet, experimentell der Vererbungsfrage immer näher auf den Leib zu rücken und dieſelbe ſchließlich ſoweit zu löſen, als über- haupt die Frage nach den Eigenſchaften der Materie experimentell enthüllbar iſt. Auch werden die Anpaſſungen und Vererbun— gen bis in die complicirteſten Verhältniſſe hinauf immer nur aus einem Aſſimilations— reſp. Ernährungsproceſſe hergeleitet werden müſſen, der aber durch die Variation der Wärme⸗, Licht- und wohl auch elektriſchen Beeinfluſſung bei den Individual-Charakteren für die Analyſe und Syntheſe ſchwieri— ger zu verfolgen iſt. Die „Entwidelungs- bewegungen des reifen Keimes“ ſagt in dieſer Hinſicht Biſchoff, “) „ſind nicht allein abhängig von den mit dem Reifezuſtand des Eies gegebenen Umſetzungsbewegungen; ſie und ihre Fortſetzung ſind auch nicht allein abhängig von dem Einfluſſe des Spermatozo⸗ iden, ſondern wir wiſſen, daß dieſelben weſent⸗ lich auch noch von anderen Bedingungen beeinflußt werden. So von einem gewiſſen Wärmegrad, der offenbar auch nur als Bewegungsmoment wirkt; von einem ge— wiſſen Grade von Feuchtigkeit, ohne wel— chen die betreffenden Molekularbewegungen nicht vor ſich gehen können, von der Ein— wirkung des atmoſphäriſchen Sauerſtoffes, welcher unumgänglich nothwendig erſcheint für die nothwendigen Umlagerungen des Keims. Selbſt das Licht hat, wie neuere Beobachtungen von Schnetzler bei Froſch— eiern beweiſen, einen entſchiedenen Einfluß auf die Entwickelung derſelben.“ Indem wir aber in letzter Inſtanz die chemiſchen Wirkungen als Bewegungsreſultate deuten müſſen, treten wir aus der chemiſchen Be— trachtungsweiſe hinüber in die allgemein- phyſikaliſche, ſpeciell in die mechaniſche, und gewinnen ein Verſtändniß dafür, wenn ich Häckel's Perigeneſis mit Jäger's che— miſcher Theorie auf denſelben Grundgedanken zurückzuführen ſuchte. Die Frage, warum eine beſtimmte chemiſche Subſtanz immer unter gleichen Verhältniſſen in derſelben Weiſe wirkt, iſt in letzter Inſtanz eine mechaniſche, ) Prof. Dr. Th. L. W. Biſchoff, Hiſtoriſch-kritiſche Bemerkungen zu den neueſten Mittheilungen über die erſte Ent⸗ wickelung der Säugethiereier. München 1877. Th. Riedel. 15 Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. 191 inſofern wir nach dem Geſetze von der Er— haltung und Umwandlung der Kraft Wärme, Licht, Elektricität, chemiſche Affi— nität u. ſ. w. als verſchiedene Arten von Bewegung aufzufaſſen haben. Wenn Jäger, der chemiſchen Anſchauungsweiſe fol— gend, aus der Continuität des Keimproto— plasmas und den parallelen Reihen der in der Phylogeneſe und Ontogeneſe auftretenden, jedoch auf ihre innere Struktur noch näher zu unterſuchenden Dispoſitionen des Keim— protoplasmas die Anpaſſungs- und Ver⸗ erbungserſcheinungen cauſal zu deuten ſucht, ſo hat Häckel, auf die Urquelle aller materiellen Verſchiedenheit zurückgehend, die Continuität der Bewegung und die paral— lelen Reihen der in der Phylogeneſe und Ontogeneſe auftretenden Bewegungsände— rungen als bewirkende Urſache für An— paſſung und Vererbung hingeſtellt. Nur hätte er vielleicht auch das Gedächtniß auf ſeinen mechaniſchen Werth zurückführen können. Wenn eine Tonwelle den Reſonanz— boden in entſprechende Schwingungen ver— ſetzt und umgekehrt die anfänglich erregende Stimmgabel wieder durch die von der Reſonanz erzeugten Schwingungen zur Er— regung des gleichen Tones bei gleichen Schwingungen veranlaßt wird, ſo ertheilt die theoretiſche Phyſik den Stimmgabelmole— külen kein Gedächtniß; ebenſowenig braucht die ſtete, gleiche Lagerung des Staubes der Ch ladni'ſchen Klangfiguren als Folge eines Gedächtniſſes der Scheiben-Moleküle betrachtet zu werden. Es iſt ferner be— kannt, daß aus einer, verſchiedene Salze enthaltenden Löſung ein beſtimmtes Salz ausgeſchieden wird, wenn man einen Kry—⸗ ſtall deſſelben Salzes in die Löſung bringt; der Kryſtall wächſt, indem vorzugsweiſe die gleichartigen Salztheilchen an ihn ſich Geſetzt in der Löſung wären anſetzen. auch iſomorphe Subſtanzen vorhanden ge— weſen, ſo würde etwa an den reinen Kalk— ſpath auch iſomorphes Magneſia- oder Eiſencarbonat ſich anſetzen und der Kryſtall würde durch Anpaſſung in der Außenſchicht zum Braunſpath werden, ſo daß jetzt die braunſpathbildenden Salztheile von der äußeren Kryſtallſchicht angezogen würden. Hier hätten wir alſo ſelbſt aus dem Reiche des Anorganiſchen das Beiſpiel einer Weiter— entwickelung, die dort nur deshalb ſeltener vor Augen tritt, weil der direkte Uebergang aus dem flüſſigen in den feſten Zuſtand die fortſchreitende Umbildung erſchwert und nur Anlagerung der neuen Moleküle ge— ſtattet, während die höheren Kohlenſtoff— verbindungen, welche die Organismen auf— bauen, in Folge ihres teigartigen Zuſtandes nicht nur Intusſusception und Aſſimilation im Inneren, ſondern auch eine allmälig fortſchreitende Entwickelung geſtatten. Zur Erklärung der Auswahl der gleichartigen Salztheile durch den Kryſtall braucht aber dem Kryſtall kein Gedächtniß zuge— ſchrieben zu werden. Man kann die me— chaniſche Erklärung zulaſſen, daß die Schwingungen der Kryſtallmoleküle eine Wellenbewegung erzeugen, welche die gleich— artig ſchwingenden Salzmoleküle zur An— ſetzung bringt. Was hier in den erſten Anfängen auf chemiſch-phyſikaliſche Urſachen zurückführbar iſt, wird in den complicir— teren Fällen organiſcher Entwickelung noch als Folge von Anpafjung und Vererbung gedeutet, indem, bei unſeren ungenügenden Kenntniſſen von dem chemiſch-phyſikaliſchen Verhalten der Eiweißſtoffe, die Endurſache weniger durchſchaulich iſt. In ähnlicher Weiſe dürfte auch die Wiederholung der Plaſtidulbewegungen als die rein mechaniſche Urſache der Vererbung, und die Abänderung der Plaſtidulbewegung 192 in Folge ablenkender Außenbewegungen als die Urſache der Anpaſſung aufzufaſſen ſein. Ebenſo läßt ſich das Bild der verzweigten Wellenbewegung beibehalten, wenn auch das Plaſtidul ſelbſt keine verzweigte Wellen— bewegung hat, da es ſich dann ſpalten müßte. Für den fortſchreitenden Entwicke— lungsproceß der Arten, Keime und auch der Plaſtidule iſt aber dieſe Bezeichnung mehr als eine bildliche. Die Unterſuchungen Jäger's haben das Vortheilhafte, daß ſie uns ein Mittel bieten, durch Ergründung des Stoffumſatzes der Frage auch experi— mentell näher zu rücken. Nur ſollte mir Overzier, Gedanken über Vererbungserſcheinungen und Vererbungsweſen. ſcheinen, daß zum Verſtändniß der erblichen Uebertragung individuell erworbener Eigen- thümlichkeiten, namentlich hoch organiſirter Weſen mit wohlentwickeltem Nervenſyſtem auch die pſychiſchen Affekte, freilich aufgelöſt in ihre mechaniſchen Theilerſcheinungen, nicht außer Acht zu laſſen ſeien. Je mehr wir von den Pflanzen zu den ſenſiblen Thieren aufſteigen, um ſo mehr muß neben dem Stoffwechſel, als dem Vermittler der Vererbung, auch dem Nervenſyſtem eine direkte oder indirekte Betheiligung zuerkannt werden. Darüber jedoch bei einer ſpäteren Gelegenheit. Ueber die nothwendige Umbildung der Nebularhypothele. Von Carl du Prel. Si les phenomenes ne sont pas enchaines les uns eder Sinneseindruck bedarf, um e uns bewußt zu werden, einer BEN entſprechenden Zeit, die je nach der Enmpfindungsfähigkeit des Individuums verſchieden iſt. Nehmen wir mit den Phyſiologen als das mittlere Maß dieſer Zeit / Sekunde an, fo geht ſchon daraus hervor, daß, wenn wir Gedrucktes ſehr raſch durchleſen, nicht jedem einzelnen Buchſtaben jedes einzelnen Wortes die Zeit gelaſſen wird, den Sinneseindruck zu voll— ziehen. Wäre dem nicht ſo, ſo würde das Auffinden von Druckfehlern viel leichter ſein, als es in der That ſogar dann iſt, wenn wir etwa mit dieſer alleinigen Ab— ſicht Druckbogen durchleſen. Da nun der Sinn des Geleſenen gleich— wohl aufgefaßt wird, ſo geht daraus her— vor, daß raſches Leſen mehr oder minder ein Errathen iſt, indem wir die mangel— haften Eindrücke ſelbſtändig ergänzen, aus wenigen Buchſtaben auf das Wort ſchließen. Das Leſen iſt daher mehr oder minder eine ſynthetiſche Funktion des menſchlichen aux autres il n'y a pas de philosophie. Diderot. Geiſtes, und wenn wir abſehen vom In— halte des Buches, von der intellektuellen Auffaſſungsgabe des Leſers und der Menge der in ſeinem Gehirn latent ruhenden Be— griffe, zu welchen die Ergänzung ſtattfindet, ſo wird unter ſonſt gleichen Umſtänden die Leichtigkeit, womit wir trotz unvollſtändiger Sinneseindrücke das Wort zu finden ver— mögen, alſo die Fähigkeit ſchnell zu leſen, immerhin noch abhängig ſein vom Grade dieſer ſynthetiſchen Anlage. Unterſtützt wer— den wir dabei allerdings durch den ſinn— vollen Zuſammenhang, innerhalb deſſen viel unvollſtändigere Eindrücke genügen, ein Wort zu errathen, als wenn daſſelbe iſo— lirt ſtünde. Auch das Leſen im Buche der Natur iſt eine ſolche ſynthetiſche Funktion unſeres Geiſtes; denn nicht nur ſteht dieſes Buch, in ſo ferne als uns die cauſale Verbindung ſo vieler Erſcheinungen fehlt, gleichſam in ſeine Worte und Buchſtaben zerfallen vor uns, deren Aneinanderreihung von uns zu geſchehen hat, ſondern ein großer Theil der Beſtandtheile dieſes Buches iſt uns ſogar er ganz unbekannt. Es iſt Sache des Natur- forſchers im engeren Sinne, die Einzel— erſcheinungen mit möglichſter Genauigkeit analytiſch zu prüfen; er tritt aber bereits in die Reihe der Philoſophen über, wenn er weiter geht, und verſucht, in dem netz— artigen Geflechte der Erſcheinungen die durch das unſichtbare Band des Cauſalitäts— geſetzes verbundenen zuſammenzuſtellen, wo— bei es vom Grade feiner ſynthetiſchen Fähig- keit abhängt, die nähere oder entferntere, direkte oder Seitenverwandtſchaft zu durch— ſchauen, in welcher ſolche Erſcheinungen zu einander ſtehen. Oft aber iſt dieſes nicht anders möglich, als indem er, die Lücken unſeres Wiſſens ergänzend, wie wir es beim Leſen thun, auf die Exiſtenz nicht ſichtbarer Erſcheinungen als Mittelglieder nur ſchließt, mit Hülfe welcher erſt es ihm gelingt, aus den empiriſchen, lückenhaft ge- gebenen Erſcheinungen Worte, Sätze und. Kapitel zuſammenzuſetzen. Mehr oder minder ſind bereits alle Zweige der Naturforſchung in dieſes Sta— dium getreten, wobei die weitere Entwick— lung von der ſynthetiſchen Anlage des menſchlichen Geiſtes abhängt, der erſt dann ſeine vielleicht unerreichbare Aufgabe erfüllt haben wird, wenn er die Fülle der Vor— ſtellungen zu einem begrifflichen Abbilde der Welt verknüpft haben wird, wobei wir freilich nicht vergeſſen dürfen, daß auch dann nur erſt ein Kapitel aus dem Buche der Natur feſtgeſtellt fein wird, welches zu einem begrifflichen Abbilde auch der Geſchichte des Kosmos in Richtung der Vergangenheit wie Zukunft ergänzt werden muß. Wenn die Wahrheit in dieſem Sinne zu definiren iſt als die Uebereinſtimmung der Vorſtellungen mit den Dingen, ſo er— ſcheint das Auffinden der Wahrheit als ein Denkproceß, in welchem die ſubjektiven du Prel, Ueber die nothwendige Umbildung der Nebularhypotheſe. Vorſtellungsglieder in einer mit der Ver— knüpfung der objektiv gegebenen Erſcheinungen übereinſtimmenden Weiſe verbunden werden. Die ſubjektive Aſſociation muß ſich mit der objektiven decken. Dieſer Syntheſis verdanken alle jene großen Hypotheſen ihren Urſprung, welche epochemachend in der Geſchichte des menſch— lichen Geiſtes aufgetreten ſind. Je größer die Fülle des erforſchten empiriſchen Materials iſt, deſto leichter voll— zieht ſich die Syntheſis. Gleichwohl iſt es als eine häufige Erſcheinung zu verzeichnen, daß die großen Entdeckungen nicht in die Epochen reichhaltiger Anſammlung des Materials fallen, und nicht immer treffen die Worte Georg Zimmermann's („Von der Erfahrung in der Arzneikunſt“) zu: „Je mehr die Augen geſehen haben, deſto mehr ſieht auch der Geiſt.“ Vielmehr er— eignet es ſich ſehr oft, daß in ſolchen Epochen der Wald vor lauter Bäumen nicht geſehen wird, daß dagegen in anderen das Genie anticipirend auftritt, indem es eine relativ noch geringe Summe empiriſcher Daten mit großer Oekonomie des Geiſtes zu ſolchen Hypotheſen verwerthet, die oft erſt ſpäter, wenn die Summe der beſtätigenden Er— ſcheinungen beträchtlich angewachſen iſt, die allgemeine Anerkennung finden. So können alſo derartige Verſuche des menſchlichen Geiſtes, die Einzelerſcheinungen, zwiſchen welchen die ideale Verknüpfung noch nicht hergeſtellt iſt, ſynthetiſch zu ver- binden, und aus dem Aggregate der Er— ſcheinungen gleichſam den Organismus des Kosmos begrifflich zu conſtruiren, ver- glichen werden mit dem Unternehmen, aus abgeriſſenen Worten einer ſtark beſchädigten Urkunde den Text zu ergänzen. In dieſem Sinne aber giebt es wohl wenige Verſuche, die uns ſo große Be— wunderung abnöthigen, als das Unternehmen Kant's, aus dem zu ſeiner A. höchſt mangelhaft gegebenen empiriſchen Materiale die Geſchichte der kleinen kosmiſchen Inſel zu conſtruiren, die wir das Sonnenſyſtem nennen. 5 Was wußte Kant von unſerem Sonnen— ſyſteme? Wenn wir von den Cometen, die er nicht verwerthete, abſehen, ſo kannte er ſechs Hauptplaneten nebſt neun Monden, die gleiche Richtung, in der ſich dieſe Weltkörper um die Sonne bewegen, die Ringe des Saturn, die annähernde Kreisform der Planeten- bahnen und das annähernde Zuſammen— fallen ihrer Bahnebenen. Was dagegen kennen wir? Nicht nur hat ſich die Zahl der Planeten (mit Ein— ſchluß der Aſteroiden) ſeither um 164 ver⸗ mehrt, auch die Anzahl der Monde iſt auf 18 geſtiegen, und alle dieſe Himmelskörper beſtätigen die Nebularhypotheſe. Wir kennen ferner den intereſſanten Verſuch Plateau's, der die Entſtehung des Sonnenſyſtems im Kleinen nachbildete, indem er in einer Miſchung von Waſſer und Weingeiſt eine Kugel aus Olivenöl in Rotation verſetzte, alſo vom Standpunkte der Univerſalität der irdiſchen Geſetze die Berechtigung der Kant' chen Hypotheſe erwies; wir kennen ferner die kosmiſchen Nebel — die von Kant erſchloſſene Urmaterie, — deren dunſt— förmige Beſchaffenheit durch die Spektral- analyſe bewieſen wird, ja das Teleſkop läßt uns ſogar dunſtförmige Ringe erkennen, welche, analog den Ringen des Saturn, dieſe Nebelmaſſen umſchweben; endlich ſind zahlreiche veränderliche und neu auflodernde Sterne entdeckt worden — Worte, die in dem von Kant durchforſchten Texte faſt ganz fehlten, die uns aber den Dienſt ſehr wichtiger Mittelglieder leiſten, wenn wir du Prel, Ueber die nothwendige Umbildung der Nebularhypotheſe. daran gehen, die Geſchichte des Kosmos zu ſchreiben, — und ſo iſt es denn kein Wunder, daß wir in der Nebularhypotheſe eine der Gewißheit ſehr nahe kommende Wahrſcheinlichkeit anerkennen. Daß aber im Gehirne des Königsberger Philoſophen eine Vorſtellungsreihe verlief, deren Ueberein— ſtimmung mit der Reihe längſt vergangener Ereigniſſe er nur an wenigen Punkten zu conſtatiren vermochte, in welche aber alle ſeither geſchehenen Entdeckungen, wie Glieder einer Kette, ſich zwanglos einſchieben ließen, das verdient unſere höchſte Bewunderung. Kant war freilich weit von dem Glauben entfernt, hiermit der Forſchung ein Ruhe— kiſſen bereitet zu haben; aber faſt ſcheint es, als vergäßen wir über der Vermehrung der die Nebularhypotheſe beſtätigenden Ma— terialien ganz, die durch keine Entdeckung ausfüllbaren Lücken derſelben und die Mängel, die derſelben unbeſtreitbar noch anhaften, zu beachten. Iſt ja doch ſchon in dem Kant ſelbſt vorgelegenen Materiale, wie wir ſehen werden, ſolches zu finden, welches zu einer Umbildung derſelben uns treiben ſollte. Wir tragen Bauſteine zuſammen, ohne zu bedenken, daß nach Maßgabe des zugeführten Materials auch der Bau ſelbſt in die Höhe ſtreben ſollte. Wir verwechſeln alſo die Mittel mit dem Zwecke; da aber im Kos— mos die Erſcheinungen ſyſtematiſch ver— bunden ſind, kann es unſere Aufgabe nicht ſein, dieſelben vereinzelt in unſerem Ver— ſtande aufzuſammeln, es muß vielmehr auch in unſerem Vorſtellungsbilde der Welt Alles ſyſtematiſch verknüpft ſein. Kant und, weniger gründlich als er, Laplace haben wohl in allgemeinen Um— riſſen den Proceß angegeben, wodurch unſer Sonnenſyſtem entſtanden iſt, und durch welchen die gemeinſamen Eigenſchaften der Planeten und Monde ihre Erklärung finden; 26 * 196 aber die Verſchiedenheit derſelben in Bezug auf Maſſe, beſtimmte Entfernung von der Sonne — die nach dem bekannten Titius'- ſchen Geſetze annähernd in geometriſcher Progreſſion vorhanden iſt —, Geſtalt der Bahnen und Geſchwindigkeit der Bewegung, findet ihre Erklärung nicht. Und doch ſind es eben dieſe Verſchiedenheiten, hauptſächlich die räumliche Vertheilung der Maſſe, wor— auf die Stabilität des Syſtems beruht. Das teleologiſche Reſultat des Entſtehungs— proceſſes aus natürlichen Geſetzen zu er— klären, iſt demnach eine noch zu löſende Aufgabe. Wir müſſen alſo entweder der urſprünglichen Materie außer der Eigen— ſchaft der Schwere auch noch eine ſolche beilegen, welche das teleologiſche Reſultat erklärt, oder aber annehmen, daß aus der Eigenſchaft der Schwere eine wichtige, von Kant überſehene Folgerung ſich ergab. Nur die letztere Annahme aber wäre wiſſenſchaft— lich und frei von Willkür. Aus dem Gravpitationsgeſetze heraus iſt alſo die Nebularhypotheſe um— zubilden, und zwar ſind folgende Aufgaben zu löſen: 1. Die zweckmäßige Maſſenvertheilung der Planeten und Monde muß erklärt werden. Es genügt nicht zu ſagen, daß die Sonne ſich ruckweiſe zuſammenzog und äquatoriale Ringe abtrennte; denn darum handelt es ſich hauptſächlich, daß gerade in den gegebenen Abſtänden Planeten von gerade der entſprechenden Geſchwindigkeit und Maſſe umlaufen, und daß an keinem dieſer Faktoren ohne Umwälzungen etwas geändert werden könnte. 2. Die Cometen und Meteoriten müſſen in die Nebularhypotheſe eingefügt werden, und zwar muß die überwiegende Mehrzahl derſelben gegenüber den Planeten als eine nothwendige Folge des Gravitationsgeſetzes du Prel, Ueber die nothwendige Umbildung der Nebularhypotheſe. ſich erweiſen. Wenn Laplace ſagt: „Dans notre hypothese les comètes sont etran- geres au systeme planétaire“ (expos. d. syst. d. monde p. 475. Paris 1846), ſo ſcheint dies bei jeglichem Mangel eines Beweiſes dafür, daß dieſelben auch in Wirk— lichkeit fremder Abkunft ſind, als ein bloßer Verlegenheitsausſpruch, und es iſt unzu— läſſig, uns von den Cometen durch die willkürliche Annahme zu befreien, daß ſie insgeſammt, rechtläufige wie rückläufige, erſt im ſpäteren Verlaufe des Proceſſes aus den Regionen der Fixſterne zu uns herab— geſtiegen ſeien, — ganz abgeſehen davon, daß hierdurch das Räthſel nur zurückge— ſchoben wird. f 3. Es iſt zu erklären, warum wir trotz der ungeheueren Ausdehnung des urſprüng— lichen Sonnenballs nicht mehr Planeten vorfinden, warum ferner die Planeten ge— rade mit der gegebenen Anzahl von Satel— Erſcheinungscomplexe, die liten umgeben ſind. Die Berechtigung zu letzterer Frage insbeſondere ergiebt ſich mit Evidenz aus der Thatſache, daß die Anzahl der Monde zwar im Allgemeinen, aber nicht im Einzelnen, mit den Rotations- geſchwindigkeiten der zugehörigen Planeten übereinſtimmt. Die Aſtronomie iſt nur ein Specialgebiet der Mechanik; ſehen wir daher, daß z. B. Mars faſt ebenſo ſchnell rotirt, als die Erde, und doch mondlos iſt, ſo dürfen wir unmittelbar folgern, daß der nach mechaniſchen Principien theoretiſch ſich ergebende Marsmond auch in Wirklich— keit vorhanden geweſen ſein muß. Es handelt ſich nun darum, dieſe drei nothwendiger Weiſe in näherer oder entfernterer Ver— wandtſchaft ſtehen müſſen, ſynthetiſch zu verbinden, wie es immer zu geſchehen hat bei Erſcheinungen, die, für ſich allein be— trachtet, uns nichts ſagen. 5 2 % EN NG — 5 Eine ſolche Erſcheinung ift das Fehlen des Marsmondes. Sie ſagt uns nichts, wird aber ſehr beredſam, wenn wir ſie in Verbindung ſetzen mit den beiden anderen Punkten der zu löſenden Aufgabe. Zu nächſt, wenn wir bedenken, daß im Bil— dungsgange des Sonnenſyſtems auch Eli minationsproceſſe ſtattfanden, erſcheint es zuläſſig, ſolche auch bezüglich ehemaliger Planeten vorauszuſetzen. Halten wir nun dieſe Eliminationsproceſſe wiederum an die sub 1. berührten Erſcheinungen, ſo erhellen ſie ſich gegenſeitig, und wir werden un— willkürlich zu der Folgerung getrieben: Die zweckmäßige Maſſenvertheilung des Sonnen- ſyſtems iſt das Reſultat von Eliminations- proceſſen, durch welche diejenigen Planeten und Monde beſeitigt wurden, welche den Mechanismus des Sonnenſyſtems ſtörten. Dieſe Erklärung trägt nicht nur der er— wähnten Anforderung Rechnung, auch die teleologiſchen Eigenſchaften des Sonnen— ſyſtems aus der Schwere abzuleiten, ſon— dern ſie erweiſt ſich als die allein richtige auch durch ihre Uebereinſtimmung mit den Geſetzen der Logik, welche uns gebieten, zweckmäßige Erſcheinungen, in welchem Ge— biete der Natur wir ſie auch wahrnehmen mögen, niemals als fertig in die Natur tretend, ſondern als Reſultate eines Ent— wicklungsproceſſes anzuſehen. Will aber die Wiſſenſchaft, welche doch die zweckmäßi— gen Principien zu verſchmähen gehalten iſt, gleichwohl die Möglichkeit zweckmäßiger Reſultate darthun, ſo kann ſie dieſes nur durch die Annahme einer indirekt geſchehen— den Ausleſe, und dieſe wiederum iſt be— dingt durch die Exiſtenzunfähigkeit aller unzweckmäßigen Gebilde in einem ſyſtema— tiſch verbundenen Ganzen. Die Entwicklung des Kosmos erſcheint unter dieſem Geſichtspunkte, wie a priori du Prel, Ueber die nothwendige Umdildung der Nebularhypotheſe. 197 erwartet werden darf, ganz analog der Ent— wicklung aller übrigen Naturreiche. Wie z. B. in der Biologie die Anpaſſung an die Lebensbedingungen nur indirekt durch den Ausjätungsproceß erzielt wird, der in der Elimination der exiſtenzunfähigen Orga— nismen beſteht, ſo beſorgt in der Mechanik des Himmels das Gravitatiousgeſetz durch indirekte Ausleſe die Zweckmäßigkeit der Syſteme, indem jene Himmelskörper, welche in Anſehung des Ganzen mit einem Wider— ſpruch belaſtet ſind, ausgeſchieden werden. Die Perturbationen, d. h. jene Störungen, welche in Folge der gegenſeitigen An— ziehung der Planeten entſtanden, haben in— direkt, durch Elimination des größten Theiles der ehemaligen Begleiter der Sonne, die Ausleſe jener geringen Zahl unſerer Planeten beſorgt, die nur vermöge der Ir— rationalität ihrer Umlaufszeiten trotz ihres gegenſeitigen Gravitirens beſtandesfähig ſind. Die Natur verfährt gleichſam wie der Holzſchneider, der die Zeichnung nur indi⸗ rekt, durch Vertiefung der Zwiſchenfelder, zu Relief bringt. So nur läßt ſich aus dem ungehemm— ten Walten natürlicher Geſetze jenes teleo— logiſche Reſultat begreifen, das natürlich eine hyperboliſche Erklärungsweiſe zu for- dern ſchien, jo lange man ſtatt der ſucceſ— ſive eintretenden indirekten Ausleſe die ein⸗ mal geſchehene direkte Ausleſe vorausſetzte.“) ) Wenn daher einer der neueren Recen— ſenten meiner nachſtehend erwähnten Schrift meint (Philoſ. Monatshefte. 1873. Nr. 3); „Gibt es einen Forſchritt, d. h. werden in der Welt Zwecke, ſei es durch Evolution, ſei es auf irgend eine andere Art erfüllt, ſo reicht das Geſetz des Mechanismus zum Verſtändniß einer ſolchen Welt nicht mehr aus; oder die blinde Nothwendigkeit regiert allein, dann darf von Zweckmäßigkeit in der Welt auch nicht länger die Rede ſein“ — ſo vermag ich 2 Kosmiſche Probleme dürfen nur jo ge— löſt werden, daß man aus Vorgängen, die ſich in der Erfahrung bieten, auf die Ver— gangenheit zurückſchließt. Die Perturba- tionen ſind aber bekannte Erſcheinungen im Planetenſyſteme, haben indeſſen nur zur Folge, daß die Planeten in geringem Maße von der regelmäßigen Bahn abgelenkt wer— den. Daß ſie aber auch jene in obiger Schlußfolgerung ihnen zugemuthete höhere Wirkſamkeit, nämlich die Elimination von Weltkörpern aus dem Syſteme, ausüben können, das lehren die Cometen, deren Bah— nen nicht ſelten in Folge von Störungen ganz und gar umgeſtaltet werden. darin eine kritiſche Bemerkung nicht zu er— kennen. Zwecke, etwa eines extramundanen Weſens, die der Herr Recenſent wohl retten möchte, werden allerdings im Weltproeeſſe nicht realiſirt; aber in jedem Kräfteſyſtem erzeugt die Ausgleichung entgegengeſetzter Kräfte mehr und mehr ſtabile Zuſtände, und die Stabilität unſeres Sonnenſyſtems darf doch als eine mechaniſche Zweckmäßigkeit be— zeichnet werden, wenn nicht etwa ein bloßer Wortſtreit eintreten ſoll. Will aber der Herr Recenſent zweckmäßige Reſultate als natür— liches Ergebniß nicht für möglich halten, ſo war es doch unlogiſch, mir das entgegenzu— werfen, d. h. ſich gerade auf jenes Vorurtheil zu ſtützen, welches zu widerlegen eben der ganze Zweck meines Buches war, — er hätte denn die Unzulänglichkeit meiner Beweiſe dar— gethan, was er wohlweislich gar nicht ver— ſucht hat. Wenn er zudem die befremdliche Behauptung aufitellt, daß ich an Stelle der Darwin'ſchen „natürlichen Auswahl“ die in— direkte Auswahl ſetze, ſo hat er wohl nicht erkannt, daß Darwin's „natürliche Aus- wahl“ eben eine indirekte Auswahl iſt. — Wenn dagegen ein anderer Recenſent („Die Natur“ 1877. Nr. 6) meint: „Die Descendenz im anorganiſchen und phyſikaliſchen Reiche hat nichts mit jener Darwiniſtiſchen im Reiche der Organismen zu thun“ — ſo beweiſt er damit nur, daß er den philoſophiſchen Kern du Prel, Ueber die nothwendige Umbildung der Nebularhypotheſe. dewton hat bewieſen, daß bei dem quadratiſchen Anziehungsgeſetze die Planeten— bahnen nur Kegelſchnitte mit dem Anziehungs— centrum als Brennpunkt ſein können, und zwar, je nach dem Verhältniſſe der Schwer— kraft zu ihrer Centrifugalkraft, Kreiſe, Ellipſen von verſchiedener Länge, Parabeln oder Hyperbeln. Eine eigentliche Elimina— tion von Weltkörpern konnte alſo nur ein- treten, wenn dieſes Verhältniß der Schwer— kraft zur Centrifugalkraft ſo bedeutend ge— ändert wurde, daß entweder bei eintretender Vermehrung der Schwerkraft die Spiral- bewegung gegen das Anziehungscentrum eintrat, oder — falls nämlich die Störung die Centrifugalkraft bedeutend vermehrte — wenn die urſprüngliche Kreisbahn in eine nicht geſchloſſene Bahn, Parabel oder Hyperbel, verwandelt wurde. Dagegen verblieben alle diejenigen Planeten im Syſteme, deren Bah— nen nur in langgeſtreckte Ellipſen verwan— delt wurden. Solche Planeten finden ſich aber in der Darwin'ſchen Theorie herauszuſchälen nicht vermochte, und daß er über die zu einem Analogieſchluſſe nöthige Phantaſie nicht verfügte. Erſteres iſt aber nöthig, weil nur ſo die Analogie zwiſchen den biologiſchen und kosmologiſchen Problemen als eine reale Analogie ſich darſtellt. Nur ſo aber habe ich es auch gemeint, und habe nicht etwa die Fixſterne für Säugethiere gehalten. Wären die angeführten Worte des Herrn Recenſen— ten richtig, ſo war das Lob, das er im Uebrigen meinem Buche ertheilt, ganz und gar nicht am Platze; denn alsdann hätte ich nichts Neues geſagt, und hätte nur das zwei— felhafte Verdienſt, aus 99 vorhandenen Bü— chern das hundertſte zuſammen geſchrieben zu haben. — Beide Beiſpiele beweiſen eben wie— der, daß der Styl, um für alle Köpfe ver— ſtändlich zu ſchreiben, leider noch nicht erfun— den iſt; ich konnte darum auch keinen Ge— brauch davon machen. un Wirklichkeit nicht vor. Nur Cometen und Meteoritenſtröme bewegen ſich in ſolchen ge— ſtreckten Ellipſen, — eben jene Weltkörper, welche in die Nebularhypotheſe einzufügen, wie erwähnt, als eine weitere Aufgabe uns obliegt. Es iſt aber nicht nur zur Gewiß— heit erhoben, daß die Meteoriten Bruchſtücke ſind, die ehemals zu großen Weltkörpern verbunden waren, ſondern Schiaparelli hat auch den Zuſammenhang zwiſchen Co— meten und Meteoriten nachgewieſen, während es nach den Unterſuchungen Zöllner's ſehr wahrſcheinlich wird, daß die Cometen ledig— lich Meteoriten von verdampfungsfähiger Materie ſind. Es erübrigt alſo nur mehr der Nach— weis, daß planetariſche Körper, welche durch die anfänglichen Perturbationen in lang— geſtreckte Bahnen verwieſen wurden, in Folge deſſen dem Stadium des Zerfalls ſchneller zueilen mußten als jene, welche nur in ge— ringem Grade von der Kreisbahn abgedrängt wurden, — eine Unterſuchung, bei der uns die vergleichende Aſtronomie des Planeten ſyſtems von großem Nutzen ſein wird, in ſo ferne als ſchon bei unſeren Planeten und Monden, deren Zuſtände verſchiedene Phaſen des gleichen Entwicklungsganges repräſen— tiren, jene von den Meteoritenſtrömen dar— geſtellte Endphaſe mehr oder minder deutlich bereits angedeutet ſein muß. Ich glaube jedoch ein näheres Eingehen auf dieſes Thema hier um ſo mehr unterlaſſen zu dürfen, als ich es anderwärts ausführlich erörtert habe.“) — Nach der Nebularhypotheſe muß die unſer Syſtem bildende Materie einſt bis über die Grenzen der Neptunsbahn aus— ) Vgl. „Der Kampf ums Daſein am Himmel. Verſuch einer Philoſophie der Aſtro— nomie.“ 2. umgeſtaltete und vermehrte Auf— lage. Berlin, Denicke. S. 227 — 310. du Prel, Ueber die nothwendige Umbildung der Nebularhypotheſe. 199 gedehnt geweſen ſein, und man hat berechnet, daß die bis zu ſolcher Ausdehnung ver— flüchtigte Materie dieſes Syſtems nur eine Dichtigkeit vom zehnmillionſten Theile des leichteſten der bekannten Gaſe, Waſſerſtoff— gas, beſitzen konnte. Die Ungeheuerlichkeit einer ſolchen Verdünnung, für welche eine verurſachende Wärmeentwicklung kaum vor— ſtellbar iſt, dürfte allein ſchon genügen, uns zu der Annahme zu treiben, daß ehemals in dem von der Neptunsbahn umſchriebenen Raume viel mehr Materie zu finden war, als derzeit, zu Weltkörpern verdichtet, darin ſchwebt, daß alſo der urſprüngliche Nebel weit weit weniger verdünnt geweſen ſei als in obiger Annahme liegt. So aber müſſen uns die Meteoritenſtröme und Cometen ſo— gar ſehr willkommen erſcheinen, um unter der Annahme, daß auch ſie in dieſem Raume aufgelöſt waren und erſt in Folge ſpäterer Perturbationen die Grenze überſchritten, dem urſprünglichen Nebel einige Aehnlichkeit mit jenen kosmiſchen Nebeln zu ertheilen, welche das Spektroſkop entdecken ließ. Bedenken wir zudem, daß diejenigen urſprünglichen Begleiter der Sonne, welche, in paraboliſche und hyperboliſche Bahnen gelenkt, das Syſtem ganz verließen, ebenfalls noch herangezogen werden dürfen, den von der Neptunsbahn umſchriebenen Raum auszufüllen, fo gelan- gen wir wenigſtens zu einem vorſtellbaren Grade der Verflüchtigung der urſprünglichen Materie des Sonnenſyſtems. Die Anzahl der gänzlich aus unſerem Syſteme eliminirten Himmelskörper kann freilich nur annähernd und indirekt beſtimmt werden, wenn wir nämlich annehmen, daß die Fixſterne gleich reichlich mit Begleitern verſehen ſind, daß auch in dieſen Syſtemen Eliminationsproceſſe vorkommen, und daß unſere Sonne von den benachbarten Fix— ſternen mit mindeſtens ebenſo vielen Aus— 2 200 du Prel, Ueber die nothwendige Umbildung der Nebularhypetheſe. gewieſenen bedacht wird — die ſich als— dann hyperboliſch wieder empfehlen —, als ſie ihrerſeits ausgewieſen hat. Als ſolche Fremdlinge dürfen wir alle rückläufigen Cometen und Meteoriten betrachten; zum Theile haben dieſelben in Folge planetariſcher Einflüſſe geſchloſſene Bahnen erworben und ſich dauernd in unſerem Syſteme niedergelaſſen. Wenn nun aber die langgeſtreckten Bah— nen der rechtläufigen Cometen und Meteoriten uns nicht hindern dürfen, in ihnen Fragmente ehemaliger Planeten unſeres Syſtems anzuerkennen, ſo bleibt als Gegen— ſatz zu den Bahnebenen der Planeten, die mit der Aequatorebene der Sonne faſt zu— ſammenfallen, nur noch der Umſtand zu er— klären, daß der Winkel ihrer Bahnebenen mit der Erdbahn zum Theile ſehr beträcht— lich iſt. Aber auch dieſe Schwierigkeit hebt ſich, wenn wir dieſe Neigung gegen die Erdbahn als eine durch Perturbationen erſt erworbene betrachten. So hatte z. B. der Comet von Brorſen 1846, den uns nach d' Arreſt 1842 die Anziehung des Jupiter zuführte, eine Neigung von 41 Grad gegen die Erdbahn, und wurde dieſelbe durch dieſe einzige Störung auf 31 Grad vermindert. Es kann alſo unter entſprechenden Um— ſtänden auch eine eben ſo bedeutende Ver— mehrung eintreten. — So zeigt es ſich denn, daß wir zu einer moniſtiſchen Vorſtellung von der Ge— ſchichte unſeres Sonnenſyſtems nur dadurch gelangen, daß wir die indirekte Ausleſe des Zweckmäßigen durch Elimination des Un— zweckmäßigen im Entwickelungsproceſſe an- nehmen, welche in allen Naturgebieten Gel— tung hat. Dadurch wird, aus einem Punkte heraus, nicht nur die zweckmäßige Maſſen— vertheilung im Planetenſyſteme erklärt, ſon— dern auch der Dualismus beſeitigt, in dem man bisher die Cometen neben den Planeten unvermittelt herlaufen ließ. Wir müſſen alſo Kant und Laplace durch Darwin ergänzen. 837 n Die Organanfünge. Von Prof Dr. Guftao Jäger. 15 Die Anfänge des Gehörorgans. Fährend das Auge eine ein— fache ſchöne Entwickelungsſkala von einem einfachen Pigment- fleck bis zu einem wunder— J bar complicirten Organapparat aufweiſt, zeigt das Gehörorgan weder einen ſo einheitlichen Anfang, noch einen ſo ein— heitlichen Entwickelungsgang in der auf— ſteigenden Reihe der Thiere, noch überhaupt eine ſolche vergleichsweiſe beharrliche und frühzeitige Lokaliſation wie das Auge. Wir werden in der Folge ſehen wie und warum. Bei der Betrachtung des Gehörſinns muß zuerſt an den Umſtand erinnert wer— den, daß Hören und Taſten ſehr nahe mit einander verwandt ſind. Wir fühlen die Schwingungen einer Saite oder einer Stimm— gabel ebenſo gut, wie wir ſie hören, und der Schwerhörige benützt ſeinen Taſtſinn als Beihülfe beim Hören. Dieſe Verwandt— ſchaft iſt auch begreiflich; beim Hören wie beim Taſten iſt der Reiz, um deſſen Wahr— nehmung es ſich handelt, eine Druckſchwan— kung, die durch eine Maſſenbewegung erzeugt wird. Wenn wir von der Tonunterſchei— dung abſehen und nur die Schallempfindung im Auge haben, ſo iſt der ganze Unter— ſchied der, daß Taſtempfindung in der Regel durch die unregelmäßigen Bewegungen eines feſten Fremdkörpers erzeugt wird, während es ſich beim Hören im Allgemeinen um eine Druckſchwankung des Aufenthaltsmediums (Luft oder Waſſer) handelt. Wie in dem vorigen Artikel ein— leitend geſagt wurde, iſt Empfindung ſtets mit Abſorption, d. h. Vernichtung der Bewegung, die empfunden werden ſoll, verbunden, alſo ein der Leitung beziehungs— weiſe Reflexion einer Bewegung entgegen— geſetzter Vorgang. Empfindlich für Schallwellen kann alſo nur ein Körper ſein, der den Schall ſchlecht leitet und ſchlecht reflektirt und, da Hören und Taſten auf daſſelbe hinauskommen, der auch mechaniſche Bewegungen ſchlecht leitet und ſchlecht reflektirt. Einen ſchlechten Leiter 202 Jäger, Die Organanfänge. für mechaniſche Bewegung nennen wir weich und bekanntermaßen ſind weiche Körper auch ſchlechte Schallleiter: der Schall wie die mechaniſche Bewegung werden um ſo beſſer geleitet, je feſter ein Körper iſt. Die Reflexion von Schall und mechaniſcher Bewegung hängt von dem Elaſticitätsgrad ab; je unelaſtiſcher, deſto ſchlechter fällt die Reflexion aus. Nun wiſſen wir, daß die lebendige Sub— ſtanz in ihrem einfachen und urſprünglichen Zuſtande ein ſehr weicher, ganz un— elaſtiſcher Stoff iſt und ſchon daraus allein geht hervor, daß dieſelbe ebenſo em— pfindlich für mechaniſche Druckſchwankungen als für Schallwellen ſein muß, daß ſie alſo ſchon an und für ſich nicht blos fühlt, ſondern auch hört. Unſere Unterſuchung hat mithin nur feſtzuſtellen, auf welchem Wege die Schallempfindlichkeit geſteigert und ſchließlich von der Taſtempfindlichkeit geſondert und einem eigenen Organ über— antwortet wird. Das erſte Mittel zur Steigerung der Schallempfindlichkeit iſt das Ausſtrecken der Wurzelfüße, jener zarten, oft ſelbſt wieder veräſtelten, lebendigen Fortſätze, welche die lebendige Subſtanz in ihrer urſprünglichſten Verfaſſung bei niederſten Organismen in oft großer Zahl hervortreibt und wieder einzuziehen vermag. Jeder Wurzelfuß, der in einer die Bahn der Schallwelle kreuzen— den Richtung ſteht, iſt erſtens eine Ver— größerung der Schall auffangenden Oberfläche, und zweitens muß derſelbe in transverſale Bewegungen verſetzt werden, wodurch ener— giſche, weil mit Hebelgewalt wirkende Druck— ſchwankungen an der Anſatzſtelle des Wurzel— fußes entſtehen. Wir können mithin ganz gut ſagen: Wenn ein Wurzelfüßer — ſo bezeichnet man jene einfachſten Organismen, die nichts ſind als ein Stückchen lebendige Subſtanz — alle ſeine Wurzelfüße voll entfaltet hat, ſo befindet er ſich im Zuſtand einer beträchtlich geſteigerten Schallempfind- lichkeit, alſo gleichſam in lauſchender Haltung. Da die Wurzelfüße ſelbſtverſtändlich zugleich der Sitz einer und zwar erhöhten Taſtempfindlichkeit find, fo find hier Taft- und Gehörſinn noch nicht anatomiſch ge— trennt. Man würde aber gewiß fehl gehen, wenn man deshalb den Wurzelfüßern die Unterſcheidung von Hören und Taſten ab- ſprechen wollte. Beim letzteren werden nur in einzelnen Wurzelfüßen Druckſchwankungen erzeugt, während die Schallwelle alle Wur— zelfüße erregt, welche die Bahn derſelben kreuzen und zwar in ganz methodiſcher Weiſe. Ein ganz anderer, gleichſam entgegen— geſetzter Weg zur Erhöhung der Schall— empfindlichkeit der lebendigen Subſtanz iſt die pflockartige Einpflanzung von Hartgebilden, die mit einem Theil ihrer Länge über die Oberfläche hervorragen. Als Stoff hierzu find z. B. bei den Ra- diolarien Kieſelnadeln, bei den See— ſchwämmen theils Kieſelnadeln, theils Kalknadeln verwendet. Solche Hartgebilde ſind ſehr gute Schallleiter und mit ihrer Anweſenheit iſt deshalb mehrfaches für die Schallempfindlichkeit gewonnen: 1. Da eine Nadel, die die Bahn einer Schallwelle kreuzt, von ihr in Bewegung verſetzt wird, ſo bildet die Beſtachelung ebenſo eine Vermehrung der ſchallauffangen— den Fläche, wie das Ausſtrecken der Wur— zelfüße. 2. Da das Exzittern einer ſolchen Nadel, unter dem Einfluß einer Schallwelle, in der ganzen Ausdehnung der Berührungs— fläche zwiſchen Nadel und lebendiger Sub— ſtanz Druckſchwankungen erzeugen muß, jo wird ein weit größerer Theil der Geſammt— maſſe des Körpers direkt vom Schallreiz getroffen, als wenn die Nadeln fehlten und die Schallwelle nur auf die Oberfläche eines glatten Körpers auffallen würde. Für eine einzige Nadel muß ſich die Verſtärkung der Wirkung durch das Verhältniß zwiſchen dem Querſchnitt eines Cylinders und der Flächenausdehnung des Cylindermantels aus— drücken laſſen. 3. Die vom Schall ſeitlich getroffenen Nadeln werden, wenn ſie lang und dünn genug ſind, auch in quere Schwingungen verſetzt, welche ſehr energiſch auf den Bo— den wirken müſſen, in welchem ſie ſtecken. Daß ſolche ſteife Stäbe, in empfind— licher Subſtanz ſteckend, zugleich ausgezeich— nete Taſtwerkzeuge und außerdem noch Ver— theidigungswerkzeuge ſind, bedarf keiner Erörterung, ebenſo wenig, daß hier ſo gut wie bei den Wurzelfüßen eine Unterſchei— dung zwiſchen Taſten und Hören ſtattfinden kann. Noch in anderer Form treten harte Skelettheile als Steigerer der Schallempfind— lichkeit auf. Der verkalkte Wurzeltheil einer Steinkoralle, der mit einer ſehr ge— dehnten Fläche mit dem lebendigen, ihn wie eine Kruſte überziehenden Theile in Be— rührung ſteht, iſt ein ſo guter Schallleiter, daß wir ohne weiteres ſagen dürfen, eine Steinkoralle höre beſſer als ein Fleiſchpolyp. Jäger, Die Organanfänge. In Seewaſſeraquarien läßt ſich das auch ſehr leicht conſtatiren: Wenn man eine kalk— | ſchalige Bryozoencolonie, oder eine Cyathine oder eine Oculinencolonie entfaltet ſehen will, ſo hat man ſich dem Gefäß mit einiger Vorſicht zu nähern, während die fleiſchigen Seeanemonen in dieſer Bezie— hung äußerſt ſtumpfſinnig ſind. Ferner darf es uns auch nicht Wunder nehmen, daß man bei den Stadel- häutern (Seeſternen, Seeigeln ꝛc.) keine geſonderten Gehörapparate nachzuweiſen ver— mag. Ihre ganze Leibeswand iſt ſo ſehr von gut ſchallleitenden Theilen durch— ſetzt, daß eine relativ ziemlich hohe Schallempfindlichkeit in ihnen vorhanden ſein muß, was nur ihrer im Allgemeinen geringen Empfindlichkeit wegen weniger in die Augen ſpringt. Die Stachelhäuter, insbeſondere die Seeigel, theilen eben mit allen über— mäßig ſtark beſchützten Thieren (Landſchild— kröten, Igeln, Gürtelthieren, Dorneidechſen ꝛc.) die große Unempfindlichkeit und Träg— heit aller Lebenserſcheinungen. Die Mollusken haben zwar, wie wir ſpäter ſehen werden, ein ganz beſtimmtes Gehörorgan, allein daneben darf ſicher die große Schallleitungsfähigkeit ihrer ſtein— harten Schalenſubſtanz als Quelle einer allgemeinen Schallempfindlichkeit nicht unter— ſchätzt werden; ich habe wenigſtens in Aquarien Auſtern unter Umſtänden ſich ſchließen ſehen, die auf eine Schallleitung durch die Schale hinweiſt. Noch günſtiger ſind feſte Körperbedek— kungen dann, wenn ſie zugleich elaſtiſch und im Stande ſind, transverſale Schwin— gungen auszuführen. Hierbei müſſen wir aber noch auf einen Punkt aufmerkſam machen: Da das Waſſer die Schallwellen viel beſſer leitet als die Luft, ſo befinden ſich die Waſſerthiere bezüglich der Schall— wahrnehmung in einer günſtigeren Lage als die Luftthiere; ſie hören unter ſonſt gleichen Umſtänden weiter und ſchneller. Außerdem hören ſie aber auch ſicherer, weil die Schallwelle aus dem Waſſer viel leichter in die wäſſerig durchtränkte thieriſche Subſtanz oder in die Hartgebilde eintritt, als dies in die gleichen Stoffe aus der Luft geſchieht. Günſtiger geſtaltet ſich das Ver— hältniß für das Luftthier erſt dann, ſobald 196 du Prel, Ueber die nothwendige Umbildung der Nebularhypotheſe. aber die Verſchiedenheit derſelben in Bezug auf Maſſe, beſtimmte Entfernung von der Sonne — die nach dem bekannten Titius'- ſchen Geſetze annähernd in geometriſcher Progreſſion vorhanden iſt —, Geſtalt der Bahnen und Geſchwindigkeit der Bewegung, findet ihre Erklärung nicht. Und doch ſind es eben dieſe Verſchiedenheiten, hauptſächlich die räumliche Vertheilung der Maſſe, wor- auf die Stabilität des Syſtems beruht. Das teleologiſche Reſultat des Entſtehungs— proceſſes aus natürlichen Geſetzen zu er— klären, iſt demnach eine noch zu löſende Aufgabe. Wir müſſen alſo entweder der urſprünglichen Materie außer der Eigen— ſchaft der Schwere auch noch eine ſolche beilegen, welche das teleologiſche Reſultat erklärt, oder aber annehmen, daß aus der Eigenſchaft der Schwere eine wichtige, von Kant überſehene Folgerung ſich ergab. Nur die letztere Annahme aber wäre wiſſenſchaft— lich und frei von Willkür. Aus dem Gravitationsgeſetze heraus iſt alſo die Nebularhypotheſe um— zubilden, und zwar ſind folgende Aufgaben zu löſen: 1. Die zweckmäßige Maſſenvertheilung der Planeten und Monde muß erklärt werden. Es genügt nicht zu ſagen, daß die Sonne ſich ruckweiſe zuſammenzog und äquatoriale Ringe abtrennte; denn darum handelt es ſich hauptſächlich, daß gerade in den gegebenen Abſtänden Planeten von gerade der entſprechenden Geſchwindigkeit und Maſſe umlaufen, und daß an keinem dieſer Faktoren ohne Umwälzungen etwas geändert werden könnte. 2. Die Cometen und Meteoriten müſſen in die Nebularhypotheſe eingefügt werden, und zwar muß die überwiegende Mehrzahl derſelben gegenüber den Planeten als eine nothwendige Folge des Gravitationsgeſetzes ſich erweiſen. Wenn Laplace ſagt: „Dans notre hypothèse les comètes sont étran- geres au systeme planétaire“ (expos. d. syst. d. monde p. 475. Paris 1846), jo ſcheint dies bei jeglichem Mangel eines Beweiſes dafür, daß dieſelben auch in Wirk— lichkeit fremder Abkunft ſind, als ein bloßer Verlegenheitsausſpruch, und es iſt unzu— läſſig, uns von den Cometen durch die willkürliche Annahme zu befreien, daß ſie insgeſammt, rechtläufige wie rückläufige, erſt im ſpäteren Verlaufe des Proceſſes aus den Regionen der Fixſterne zu uns herab— geſtiegen ſeien, — ganz abgeſehen davon, daß hierdurch das Räthſel nur zurückge— ſchoben wird. 3. Es iſt zu erklären, warum wir trotz der ungeheueren Ausdehnung des urſprüng— lichen Sonnenballs nicht mehr Planeten vorfinden, warum ferner die Planeten ge— rade mit der gegebenen Anzahl von Satel— liten umgeben ſind. Die Berechtigung zu letzterer Frage insbeſondere ergiebt ſich mit Evidenz aus der Thatſache, daß die Anzahl der Monde zwar im Allgemeinen, aber nicht im Einzelnen, mit den Notationg- geſchwindigkeiten der zugehörigen Planeten übereinſtimmt. Die Aſtronomie iſt nur ein Specialgebiet der Mechanik; ſehen wir daher, daß z. B. Mars faſt ebenſo ſchnell rotirt, als die Erde, und doch mondlos iſt, ſo dürfen wir unmittelbar folgern, daß der nach mechaniſchen Principien theoretiſch ſich ergebende Marsmond auch in Wirklich— keit vorhanden geweſen ſein muß. Es handelt ſich nun darum, dieſe drei Erſcheinungscomplexre, die nothwendiger Weiſe in näherer oder entfernterer Ver— wandtſchaft ſtehen müſſen, ſynthetiſch zu verbinden, wie es immer zu geſchehen hat bei Erſcheinungen, die, für ſich allein be— trachtet, uns nichts ſagen. Eine ſolche Erſcheinung iſt das Fehlen des Marsmondes. Sie ſagt uns nichts, wird aber ſehr beredſam, wenn wir ſie in Verbindung ſetzen mit den beiden anderen Punkten der zu löſenden Aufgabe. Zu nächſt, wenn wir bedenken, daß im Bil⸗ dungsgange des Sonnenſyſtems auch Eli minationsproceſſe ſtattfanden, erſcheint es zuläſſig, ſolche auch bezüglich ehemaliger Planeten vorauszuſetzen. Halten wir nun dieſe Eliminationsproceſſe wiederum an die sub 1. berührten Erſcheinungen, ſo erhellen ſie ſich gegenſeitig, und wir werden un— willkürlich zu der Folgerung getrieben: Die zweckmäßige Maſſenvertheilung des Sonnen- ſyſtems iſt das Reſultat von Eliminations— proceſſen, durch welche diejenigen Planeten und Monde beſeitigt wurden, welche den Mechanismus des Sonnenſyſtems ſtörten. Dieſe Erklärung trägt nicht nur der er— wähnten Anforderung Rechnung, auch die teleologiſchen Eigenſchaften des Sonnen— ſyſtems aus der Schwere abzuleiten, ſon— dern ſie erweiſt ſich als die allein richtige auch durch ihre Uebereinſtimmung mit den Geſetzen der Logik, welche uns gebieten, zweckmäßige Erſcheinungen, in welchem Ge— biete der Natur wir ſie auch wahrnehmen mögen, niemals als fertig in die Natur tretend, ſondern als Reſultate eines Ent— wicklungsproceſſes anzuſehen. Will aber die Wiſſenſchaft, welche doch die zweckmäßi— gen Principien zu verſchmähen gehalten iſt, gleichwohl die Möglichkeit zweckmäßiger Reſultate darthun, ſo kann ſie dieſes nur durch die Annahme einer indirekt geſchehen— den Ausleſe, und dieſe wiederum iſt be— dingt durch die Exiſtenzunfähigkeit aller unzweckmäßigen Gebilde in einem ſyſtema— tiſch verbundenen Ganzen. Die Entwicklung des Kosmos erſcheint unter dieſem Geſichtspunkte, wie a priori du Prel, Ueber die nothwendige Umdildung der Nebularhypotheſe. a 197 erwartet werden darf, ganz analog der Ent— wicklung aller übrigen Naturreiche. Wie z. B. in der Biologie die Anpaſſung an die Lebensbedingungen nur indirekt durch den Ausjätungsproceß erzielt wird, der in der Elimination der exiſtenzunfähigen Orga— nismen beſteht, ſo beſorgt in der Mechanik des Himmels das Gravitationsgeſetz durch indirekte Ausleſe die Zweckmäßigkeit der Syſteme, indem jene Himmelskörper, welche in Anſehung des Ganzen mit einem Wider— ſpruch belaſtet ſind, ausgeſchieden werden. Die Perturbationen, d. h. jene Störungen, welche in Folge der gegenſeitigen An— ziehung der Planeten entſtanden, haben in— direkt, durch Elimination des größten Theiles der ehemaligen Begleiter der Sonne, die Ausleſe jener geringen Zahl unſerer Planeten beſorgt, die nur vermöge der Ir— rationalität ihrer Umlaufszeiten trotz ihres gegenfeitigen Gravitirens beſtandesfähig find. Die Natur verfährt gleichſam wie der Holzſchneider, der die Zeichnung nur indi— rekt, durch Vertiefung der Zwiſchenfelder, zu Relief bringt. So nur läßt ſich aus dem ungehemm⸗ ten Walten natürlicher Geſetze jenes teleo— logiſche Reſultat begreifen, das natürlich eine hyperboliſche Erklärungsweiſe zu for- dern ſchien, fo lange man ſtatt der ſucceſ— five eintretenden indirekten Ausleſe die ein- ſenten meiner nachſtehend erwähnten Schrift meint (Philoſ. Monatshefte. 1873. Nr. 3): „Gibt es einen Forſchritt, d. h. werden in der Welt Zwecke, ſei es durch Evolution, ſei es auf irgend eine andere Art erfüllt, ſo reicht das Geſetz des Mechanismus zum Verſtändniß einer ſolchen Welt nicht mehr aus; oder die blinde Nothwendigkeit regiert allein, dann darf von Zweckmäßigkeit in der Welt auch nicht länger die Rede ſein“ — ſo vermag ich 725 Zellen, welche dieſe ſteifen Fäden hervor— treiben, ſetzen ſich auf ihrer entgegengeſetzten Seite mit Nervenfäden in Verbindung und werden ſo zu Hörzellen, und indem die Hautfläche, deren Grenzzellen zu Hörzellen werden, ſich taſchenartig einſtülpt, iſt hier ebenfalls der Anfang zu einem geſonderten Gehörorgan gelegt. Der Weg zur Abſcheidung des Gehör— ſinns vom Taſtſinne iſt alſo bei Inſekten, Krebſen und Wirbelthieren der ganz gleiche d. h. Verſenkung der ſchallempfindlichen Theile in die Tiefe; aber das Material hierzu iſt genau ſo verſchieden, als die drei Thiergruppen ſich auch ſonſt von einander unterſcheiden. Damit iſt jedoch die Zahl der Gehör— organanfänge noch nicht erſchöpft, denn wir haben bis jetzt der Mollusken, Würmer und Quallen noch nicht gedacht. Bei dieſen iſt das Gehörorgan ein in die Tiefe des Leibes verſenktes, rundum geſchloſſenes Bläschen, das mit Nervenendzellen aus— tapeziert iſt. Die letzteren tragen ſteife Haare, die in die Lichtung des Bläschens vorſpringen. In der das Bläschen er— füllenden Flüſſigkeit ſchwimmt entweder ein einziger größerer Hörſtein oder eine Gruppe vieler kleiner Hörſteine. Auch hier tritt zu— nächſt die nahe Verwandtſchaft von Taſt— empfindung und Schallempfindung hervor: Wenn eine Schallwelle die Wand des Bläs— chens trifft, ſo müſſen die Schwingungen einen Zuſammenſtoß der Hörſteine mit den Hörhaaren, alſo einen Taſteindruck hervor— bringen, der von anderen Taſteindrücken nur deshalb unterſchieden wird, weil er eine andere Stelle des Körpers trifft und einen gewiſſen Rhythmus hat. Die tiefe Ver— ſenkung des Molluskenohrs in den Körper ſichert allerdings die Sonderung von Taſtſinn und Gehörſinn in hohem Grade, allein man u Jäger, Die Organanfänge. | iſt verſucht zu fragen, ob dadurch nicht die Zugänglichkeit des Gehörorgans für Schall— wellen ſehr beeinträchtigt iſt. Bei den im Waſſer lebenden Mollusken und Würmern — und das iſt weitaus die Mehrzahl — wird die Leichtigkeit, mit der die Schall— wellen aus dem Waſſer in die wäſſerig durch— feuchteten Thierkörper eintreten, eine genügende Leiſtung ſicherſtellen, aber darüber belehrt uns doch die Beobachtung, daß die Mollusken nicht zu den feinhörigen Thieren gehören. Bei den Landmollusken kommt in Betracht, daß die feſten Körper, auf denen ſie ſitzen, gute Schallleiter ſind, und daß damit für ſie ſchon ziemlich viel erreicht iſt; für Schall— wellen in der Luft ſind ſie aber ſehr wenig empfindlich. Darüber, ob dieſer Anfang der Gehör— organbildung etwas ganz für ſich beſtehen— des iſt oder ob er an eine der andern bereits beſprochenen Organanfänge an— knüpft, läßt ſich zur Zeit nicht entſcheiden. Möglich iſt in der letzten Richtung zweierlei: 1) Wenn die geſchloſſene Gehörblaſe der Mollusken durch Abſchnürung einer ur- ſprünglichen Hauttaſche entſteht, dann liegt derſelbe Vorgang vor, wie bei den Wirbel— thieren; die Hörhaare dürfen dann als mo- dificirte Flimmerhaare betrachtet werden. 2) Wenn der Hörſteinſack aber nicht durch Einſenkung der Haut, ſondern durch Modifi⸗ cation eines innerlich gelegenen Nervenendes entſteht, dann müßte man an die Hörſtift— bildung bei den Inſekten denken; der Hör— ſtein wäre die Modifikation eines Hörſtiftes. Nun müſſen wir aber noch etwas über die äußerlichen Bedingungen der Gehör— organentwickelung ſprechen, da man dieſen Punkt, wie mir ſcheint, noch zu wenig ins Auge gefaßt hat. Wir wiſſen längſt, daß unter die Be— dingungen der Entwickelung des Sehorgans Be der Aufenthalt in beleuchteten Räumen ge— hört, denn Thiere, welche ſeit vielen Gene— rationen im Dunkeln leben, ſind entweder augenlos oder haben verkümmerte Augen. Es hat nun wohl noch niemand daran ge— dacht, daß der Blindheit der Dunkel— thiere die Taubheit ſolcher Thiere ent— ſprechen müßte, die in ſtummer Umgebung leben. Man wird nun ſagen, die Natur ſei nirgends ſtumm und deshalb gäbe es keine tauben Thiere. Das mag ſein, aber daß große Unterſchiede in dieſer Beziehung vorhanden ſind, muß zugegeben werden. Vergleichen wir z. B. Luft- und Waſſer⸗ leben, ſo ſpringt in die Augen, daß im Vergleich zum letzteren die Luft das Reich der Töne iſt. Die meiſten Waſſerthiere ſind ſtumm und zwar nicht blos in ſofern als ſie keine wirkliche Stimme haben, ſondern die Glätte ihres Körpers und die Schmieg- ſamkeit des Waſſers hat auch zur Folge, daß ſie nur unter ganz beſonderen Verhält— niſſen bei ihrer Fortbewegung im Waſſer Geräuſche hervorbringen. Das Toben der Brandung, das Heulen des Seeſturms iſt allerdings eine gewaltige Muſik und ſie zu hören für ein Seethier ſehr wichtig, weil es gilt einer Gefahr auszuweichen, allein in der purpurnen Tiefe der Hochſee muß es doch faſt eben ſo ſtill als dunkel ſein, und wenn die dortigen Thiere nicht blos blind, ſondern auch relativ taub wären, ſo würde ich das völlig natürlich finden. Wir müſſen uns aber recht verſtehen: So wenig ein augenloſes Thier völlig unempfindlich gegen das Licht iſt — wovon wir uns bei jedem Regenwurm überzeugen können — ebenſo we— nig nehme ich an, daß irgend ein Thier völlig taub iſt; eine gewiſſe allgemeine Schall— empfindlichkeit kommt ihnen ſicher ebenſo gut zu, als den blinden Thieren eine gewiſſe, oft auffallend ſtarke Lichtempfindlichkeit. Jäger, Die Organanfänge. 207 | Mit dieſer Einſchränkung aber erlaube ich mir eine große Anzahl von Seethieren für taub zu erklären. Die Kehrſeite zu dem Vorſtehenden iſt die Thatſache, daß bei den tönenden Thieren auch die Gehörorgane unter ſonſt gleichen Umſtänden eine höhere Entwicklungsſtufe zeigen als bei den ſtummen. Unter den Inſekten haben die ſtimmbegabten Heuſchrecken und Grillen die einzigen gut lokaliſirten Ge— hörorgane und unter den Wirbelthieren ſind die Gehörorgane der ſtummen Fiſche ent— ſchieden niedriger organiſirt (weil ſie keine Schnecke an ihrem Labyrinth haben) als die der Luftwirbelthiere, die entweder ſtimm— begabt ſind oder doch wenigſtens bei ihrer Fortbewegung Geräuſche erzeugen. Einen weiteren Einfluß auf die Ent— wickelungshöhe des Gehörorgans (wie aller Sinnesorgane) hat die Höhe der Intelligenz, weil mit ihr die Häufigkeit des Gebrauchs ſteigt. So lege ich mir die Thatſache zu— recht, daß die Gehörorgane der Säugethiere höher entwickelt ſind als die der Vögel, trotzdem daß die letzteren ſtimmbegabter ſind, als die erſteren. Zum Schluß noch eine Vergleichung von Gehör- und Geſichtsſinn. Beide ſtehen näm— lich in ähnlichen Beziehungen zum Taſtſinn. Letzteren zerlegen die Phyſiologen ſchon ſeit länger in den Temperaturſinn und den Druckſinn. Wie aber der Gehörſinn eine Abzweigung des Druckſinns, gewiſſer— maßen ein Diſtanzdruckſinn iſt, jo iſt der Geſichtsſinn ein Diſtanztem— peraturſinn. Berühren wir einen tönenden Körper mit dem Finger, ſo fühlen wir ſeine Be— wegungen mittelſt des Druckſinns, mit dem Ohr fühlen wir ſie auf Diſtanz. Beim Sehen iſt das Eigenthümliche, daß die höher organiſirten Augen die ſogenannte dunkle 200 gewieſenen bedacht wird — die ſich als— dann hyperboliſch wieder empfehlen —, als ſie ihrerſeits ausgewieſen hat. Als ſolche Fremdlinge dürfen wir alle rückläufigen Cometen und Meteoriten betrachten; zum Theile haben dieſelben in Folge planetariſcher Einflüſſe geſchloſſene Bahnen erworben und ſich dauernd in unſerem Syſteme niedergelaſſen. Wenn nun aber die langgeſtreckten Bah— nen der rechtläufigen Cometen und Meteoriten uns nicht hindern dürfen, in ihnen Fragmente ehemaliger Planeten unſeres Syſtems anzuerkennen, ſo bleibt als Gegen— ſatz zu den Bahnebenen der Planeten, die mit der Aequatorebene der Sonne faſt zu— ſammenfallen, nur noch der Umſtand zu er— klären, daß der Winkel ihrer Bahnebenen mit der Erdbahn zum Theile ſehr beträcht— lich iſt. Aber auch dieſe Schwierigkeit hebt ſich, wenn wir dieſe Neigung gegen die Erdbahn als eine durch Perturbationen erſt erworbene betrachten. So hatte z. B. der du Prel, Ueber die nothwendige Umbildung der Nebularhypetheſe. Comet von Brorſen 1846, den uns nach d' Arreſt 1842 die Anziehung des Jupiter zuführte, eine Neigung von 41 Grad gegen die Erdbahn, und wurde dieſelbe durch dieſe einzige Störung auf 31 Grad vermindert. Es kann alſo unter entſprechenden Um— ſtänden auch eine eben ſo bedeutende Ver— mehrung eintreten. — So zeigt es ſich denn, daß wir zu einer moniſtiſchen Vorſtellung von der Ge— ſchichte unſeres Sonnenſyſtems nur dadurch gelangen, daß wir die indirekte Ausleſe des Zweckmäßigen durch Elimination des Un— zweckmäßigen im Entwickelungsproceſſe an— nehmen, welche in allen Naturgebieten Gel— tung hat. Dadurch wird, aus einem Punkte heraus, nicht nur die zweckmäßige Maſſen— vertheilung im Planetenſyſteme erklärt, ſon— dern auch der Dualismus beſeitigt, in dem man bisher die Cometen neben den Planeten unvermittelt herlaufen ließ. Wir müſſen alſo Kant und Laplace durch Darwin ergänzen. Die Organanfänge. Von Prof Dr. Guſtav 4 I ü ger. Die Anfänge des Gehörorgans. Fährend das Auge eine ein— fache ſchöne Entwickelungsſkala von einem einfachen Pigment⸗ fleck bis zu einem wunder— bar complicirten Organapparat aufweist, zeigt das Gehörorgan weder einen ſo einheitlichen Anfang, noch einen ſo ein— heitlichen Entwickelungsgang in der auf— ſteigenden Reihe der Thiere, noch überhaupt eine ſolche vergleichsweiſe beharrliche und frühzeitige Lokaliſation wie das Auge. Wir werden in der Folge ſehen wie und warum. Bei der Betrachtung des Gehörſinns muß zuerſt an den Umſtand erinnert wer— den, daß Hören und Taſten ſehr nahe mit einander verwandt ſind. Wir fühlen die Schwingungen einer Saite oder einer Stimm— gabel ebenſo gut, wie wir ſie hören, und der Schwerhörige benützt ſeinen Taſtſinn als Beihülfe beim Hören. Dieſe Verwandt— ſchaft iſt auch begreiflich; beim Hören wie beim Taſten iſt der Reiz, um deſſen Wahr- nehmung es ſich handelt, eine Druckſchwan— kung, die durch eine Maſſenbewegung erzeugt wird. Wenn wir von der Tonunterſchei— dung abſehen und nur die Schallempfindung im Auge haben, ſo iſt der ganze Unter ſchied der, daß Taſtempfindung in der Regel durch die unregelmäßigen Bewegungen eines feſten Fremdkörpers erzeugt wird, während es ſich beim Hören im Allgemeinen um eine Druckſchwankung des Aufenthaltsmediums (Luft oder Waſſer) handelt. Wie in dem vorigen Artikel ein— leitend geſagt wurde, iſt Empfindung ſtets mit Abſorption, d. h. Vernichtung der Bewegung, die empfunden werden ſoll, verbunden, alſo ein der Leitung beziehungs— weiſe Reflexion einer Bewegung entgegen— geſetzter Vorgang. Empfindlich für Schallwellen kann alſo nur ein Körper ſein, der den Schall ſchlecht leitet und ſchlecht reflektirt und, da Hören und Taſten auf daſſelbe hinauskommen, der auch mechaniſche Bewegungen ſchlecht leitet und ſchlecht reflektirt. Einen ſchlechten Leiter 210 Angriffen nur in geringem Grade aus— geſetzt ſind. — Charles Darwin prüfte Wallace's Neſttheorie und ſagt in ſeinem Endergebniß darüber („Abſtammung u. ſ. w.“ Bd. 2, S. 149 der deutſchen Ueberſ.): „Trotz der im Vorſtehenden auf— gezählten Einwürfe kann ich nach Durchleſen von Wallace's ausgezeichneter Abhand— lung nicht zweifeln, daß im Hinblick auf die Vögel der ganzen Erde eine bedeutende Majorität der Species, bei denen die Weibchen auffallend gefärbt ſind (und in dieſen Fällen find die Männchen mit ſeltenen Ausnahmen in gleicher Weiſe auf— fallend gefärbt) verborgene Neſter zum Zwecke eines Schutzes bauen Wallace glaubt, daß in dieſen Gruppen die brillanten Färbungen in dem Maße, als die Männchen dieſelbe durch geſchlecht— liche Zuchtwahl allmälig erlangt haben, auf die Weibchen überliefert und wegen des Schutzes, welchen dieſelben bereits durch die Art und Weiſe ihres Neſtbaues erhielten, nicht wieder beſeitigt wurden. Dieſer An— ſicht zufolge wurde die jetzige Art und Weiſe des Niſtens früher erlangt als die jetzt dieſe Vögel ſchmückenden Farben. Es ſcheint mir aber viel wahrſcheinlicher zu ſein, daß in den meiſten Fällen die Weib- chen, wie dieſelben dadurch immer mehr und mehr brillant gefärbt wurden, daß ſie an der Färbung des Männchens Theil nahmen, allmälig dazu geführt wurden, ihre Inſtinkte zu verändern (allerdings unter der Annahme, daß ſie früher offene Neſter bauten!) und ſich Schutz zu ſuchen durch das Errichten kuppelförmig verborgener Neſter“. Dieſem werden Beiſpiele veränderter Gewohnheit beigefügt, die ſich leicht vermehren ließen. Es kann für vollkommen ſicher erachtet werden, daß beide Anſichten betreffs des in „2 von Reichenau, Die Farbe der Vogeleier. Rede ſtehenden Gegenſtandes, ſowohl die Wallace'ſche, als die Darwin 'ſche, zu- treffend ſind; die erſtere ſcheint mir aber in den meiſten Fällen, die letztere mehr in den Ausnahmefällen haltbar zu ſein. Daß es nicht allzu wahrſcheinlich iſt, daß alle Höhlenbrüter erſt ſpäterhin zu ihrer Brut— weiſe gekommen ſein ſollten, wie Darwin meint, zeigt die vortreffliche Auseinander— ſetzung Wallace's, indem der Bau eines offenen Neſtes für manche Familien gerade— zu eine phyſiſche Unmöglichkeit genannt werden muß. „Die Caprimulgidae,“ ſagt Wallace, „haben die unvollkommenſten Werkzeuge von allen, Füße, welche ſie nur auf einer ebenen Oberfläche tragen, und einen außer— ordentlich breiten, kurzen und ſchwachen Schnabel, der faſt gauz zwiſchen Federn und Borſten verſteckt iſt. Sie können kein Neſt von Zweigen und Faſern, von Haar und Moos, wie andere Vögel, bauen und ſie enthalten ſich im Allgemeinen daher ganz des Neſtbaues, indem ſie ihre Eier auf die nackte Erde oder auf den flachen Aſt eines Baumes legen. Die plumpen Hakenſchnäbel, der kurze Hals, die kurzen Füße und die ſchweren Körper der Papa— geien machen ſie ganz unfähig, ein Neſt zu bauen. Sie können keinen Aſt hinauf klimmen, ohne ſowohl Schnabel als auch Füße zu gebrauchen; ſie können ſich ſelbſt nicht auf ihrem Sitze umwenden, ohne ſich mit dem Schnabel feſt zu halten. Wie alſo ſollten ſie die Materialien für ein Neſt ineinander legen oder mit einander ver— flechten? Demzufolge legen ſie alle ihre Eier in Baumlöcher, auf die Spitzen ver- faulter Stümpfe oder in verlaſſene Ameiſen— neſter, deren weiche Materialien ſie leicht aushöhlen können.“ — Bei den Spechten herrſcht dieſelde Urſache, ebenſo bei den von Reichenau, Die Farbe der Vogeleier. 211 Tukans, Eisvögeln, Bienenfreſſern u. ſ.w. — „Viele Seeſchwalben und Strandläufer legen ihre Eier auf den nackten Sand des See— ufers, und zweifellos hat der Herzog von Argyll Recht, wenn er ſagt, daß die Urſache dieſer Gewohnheit nicht darin liegt, daß ſie unfähig ſind ein Neſt zu bauen, ſondern darin, daß in einer ſolchen Lage jedes Neſt auffallen und zu der Ent— deckung der Eier führen würde.“ Darwin führt dazu an, in der Bemerkung des Her— zogs von Argyll liege viel Wahres, „daß ein großes kuppelförmiges Neſt einem Feinde viel auffälliger iſt, beſonders allen auf Bäumen jagenden fleiſchfreſſenden Thieren, als ein kleineres offenes Neſt.“ Die Richtigkeit dieſer Bemerkung muß indeß doch ſehr be— ſtritten werden; im Gegentheil gewährt ein ſolches kuppelförmiges Neſt verſchiedene Vortheile; denn 1) verwehrt es allen im Fluge jagenden Raubvögeln die Möglichkeit, einen Fang zu thun, weil ſie den Inhalt nicht ſehen können oder dieſer ihnen un— zugänglich iſt; 2) iſt es durch Größe und Form den Angriffen vierfüßiger Raub— thiere gewiß nicht mehr ausgeſetzt, als das offene Neſt, da jene meiſt der Naſe oder dem Gehör nachgehen; nach viel— fältigen Beobachtungen, die ich an Katzen, Füchſen, Hunden und Wieſeln anſtellen konnte, bin ich zu dem Schluß gelangt, daß das Ausſpähen der Beute faſt ausnahms— los nicht mit dem Auge, ſondern mittelſt Naſe oder Gehör ſich vollzieht, das Auge tritt erſt hinzu — Ausnahmen ſind höchſt ſelten und ſah ich erſt eine einzige — wenn die Beute ſich wirklich bewegt und erſt dadurch für dieſen Sinn die Bedeutung eines lebenden Weſens erhält. Ferner iſt durch Stellung und Bauart des Neſtes ſowohl vielen Raubſäugethieren, als auch Vögeln und Schlangen der Eingang ſehr Theorie indeß noch hinzufügen. erſchwert und oft unmöglich gemacht. Andere ſcheinbare Gegenbeweiſe ſind durch Wallace oder Darwin beſeitigt worden; einige Punkte will ich der Wal lace'ſchen Die Ko⸗ libri's bauen tiefnapfförmige Neſter, welche wenigſtens ſeitlich vollſtändigen Schutz ge— gen feindliche Augen gewähren, und be— feſtigen dieſelben meiſt an einem dünnen ſchwanken Zweige, Stiele oder Blatte, wo— hin vierfüßige Thiere ſchwerlich gelangen können. Von Adlern und Falken dürfte das kleine, ſchmetterlingsartig gefärbte Weib— chen theils leicht überſehen werden, theils auch aus dem Grunde für ſich ſelbſt wenigſtens keine Gefahr laufen, weil es ſich noch im letzten Augenblicke vermöge ſeiner außerordentlichen Fluggewandtheit retten kann. Wahrſcheinlich werden aber die Raub— vögel eine ſo kleine und erfahrungsgemäß nicht beikömmliche Sylvie kaum berückſich— tigen. Den Baumſchlangen vermögen nur beſonders geſchickte Hängeneſterfertiger zu entgehen; es können dieſe Reptilien alſo wohl auch nur in dieſer Richtung von Be— einfluſſung geweſen ſein. Es giebt auch Vögel mit nicht auffälligen Weibchen, welche doch in Höhlen brüten — hier iſt die Niſtweiſe wohl meiſtens ſecundär; Wallace erklärt dieſe Erſcheinung ſehr einfach und gut durch den erfahrungsmäßigen Schutz vor Regen, Wind und Sonnenſtrahlen, welchen ſie dort finden. Daß intelligentere Vögel beſonders hierzu neigen, liegt auf der Hand. Aber Darwin führt noch zwei nach ſeiner Anſicht wichtige Ausnahmefälle der Wall ace'ſchen Theorie an, welche in— deſſen, je mehr ich ſie betrachte, den Cha— rakter als Ausnahme verlieren. Sie be— treffen Monticola eyanea und Dromolaea leuerura, zwei Wüſtenbewohner, welche auffallende Farben zeigen. Näheres über die * 2 Pr er 212 Niſtweiſe der Monticola ift mir zwar nicht bekannt, aber das Weibchen iſt nicht hell— blau, ſondern braun und weiß gefleckt. Aller Wahrſcheinlichkeit nach ſtimmt aber dieſes Gefieder, aus einiger Entfernung geſehen, ſehr wohl mit der ſteinigen Um— gebung des — noch dazu vielleicht in Fels— ritzen ſtehenden — Neſtes überein; denn, wie der Name ſchon ſagt, hält fi Monti- cola nicht in der flachen, goldgelben Sand— wüſte, ſondern auf den Geſteins- und Bergzügen auf, welche einen großen Theil der Wüſtenlandſchaft ausmachen. In Be— zug auf die Dromolaea- Species bin ich ſicherer unterrichtet. Das Weibchen iſt nicht ſo ſchwarz wie das Männchen, ſondern rußbraun, alſo minder in die Augen fallend. Nach Alfr. Brehm paßt die Dromolaea zu den Gebirgen, wie die Steine ſelbſt, aus denen die Felſen beſtehen. „Sie zieht dunkles Ge— ſteiu dem helleren vor; denn ſie weiß, daß ſie dieſem angehört.“ Den Trauerftein- ſchmätzer ſchützt zum Ueberfluſſe noch die Art ſeines Niſtens. Derſelbe vorzügliche Beobachter ſagt darüber: „An paſſenden Niſtplätzen fehlt es ihm nicht; denn überall findet er in den hohen, ſteilen Felſenwänden eine Höhlung, welche noch von keinem Steinſperlinge in Beſitz genommen wurde und die er alſo benutzen kann . . . Ein ſolches Neſt fand ich im An— fang des Juli 1857 in der Sierra de los Anches bei Murcia. Es ſtand in einer ziemlich geräumigen Höhle, welche durch das theilweiſe Zerbröckeln und Herabfallen des Geſteines gebildet worden war, auf einem breiten, von einem andern überdachten Steine, wie auf einem Geſimſe.“ Daß viele Vögel, welche offene Neſter bauen, nicht beſonders oder gar nicht brillant gezeichnete Männchen haben, beweiſt nichts gegen Wallace's Auseinanderſetzung, welche durchaus nicht verlangt, daß dies der Fall Wi von Reichenau, Die Farbe der Vogeleier. ſein müſſe, ſondern nur hervorhebt, daß dem oft ſo ſei: Entweder ließ die natürliche Zucht— wahl bei beiden Geſchlechtern glänzende Farben nicht aufkommen, oder die geſchlecht- liche Zuchtwahl brachte ſolche bei dem weit weniger exponirten Männchen hervor, indem ſie hier aus unbekannten Gründen ſich bildende Schmuckzeichen fixirte, (wie Darwin in jo ausgezeichneter Weiſe klar gelegt), während ſie dieſe bei dem Weibchen nicht zu Stande kommen ließ (ſexuelle Vererbung). In den Fällen, wo das Weibchen bunt und das Männchen unſcheinbar ausſieht, brütet das letztere, und iſt die Richtigkeit der Wallace'ſchen Anſicht damit bewieſen. Die bunten Männchen ſchützend gefärbter Weibchen betheiligen ſich zwar auch zuweilen beim Brüten und Füttern der Jungen, je doch nur in ſehr beſchränktem Grade: die, welche brüten helfen, thun dies ſelten zu einer andern Zeit, als in der Mittagsgluth, wenn das Weibchen zur Tränke fliegt und ſein Gefieder reinigt. Zu dieſer Zeit aber jagen die meiſten Raubthiere nicht. Es ſcheint die Anſicht vieler Forſcher zu ſein, als ob natürliche Zuchtwahl bei den Vogeleiern ſich gar nicht bethätige, und wenn man bedenkt, daß die Eier faſt andauernd und vollſtändig von dem Weib— chen bedeckt werden, ſo möchte man allerdings zweifeln, wie eine Auswahl da möglich ſein ſollte, wo kein Vortheil zu er— reichen iſt. In Wahrheit aber liegt die Sache anders. In der erſten Zeit, ſo lange noch neue Eier zu den ſchon gelegten hin— zukommen, bleiben dieſe Produkte faſt im— mer unbedeckt und ſind dann den Blicken der eierſuchenden Raubvögel ausgeſetzt. Das eine Weibchen legt dunklere Eier als das andere: die dunklen werden überſehen, die hellen aufgeſpeiſt. Von den Nachkommen des erſteren Weibchens legen wieder einige von Reichenau, Die Farbe der Vogeleier. dunkle Eier und dieſe vermögen ihre Gattung Mit einem Worte, die Eier zu erhalten. brauchen nur zu variiren, und zwar ſelbſt verſtändlich die Eier verſchiedener Weibchen | oder verſchiedener Gelege, was dasſelbe tft, und der natürlichen Zuchtwahl iſt freier Spielraum gelaſſen. Nun ſind aber in der That die Gelege der offen brütenden Weibchen ungleich; die Eier, namentlich die— jenigen verſchiedener Weibchen, variiren. Ich beſchränke mich, da hier von einer un— umſtößlichen Thatſache die Rede iſt, nur auf Anführung einiger Beiſpiele: 1) Die Gelege verſchiedener Neuntödterweibchen (Lanius collurio) ſind in hohem Grade ungleich, ebenſo 2) die der Haidelerche (Chorys arborea.) Ich ſelbſt habe die Eier von zwei Haidelerchen hinweggenommen; das eine Gelege iſtübereinſtimmend gelblich, über und über ſo dicht erdbraun geſprenkelt, daß nur dieſe Färbung hervorſticht, das andere in gleicher Weiſe grünlichbodenfarbig mit eiſen— grauen großen Flecken und Punkten. 3) Die Gelege der Schneeammer (Pleetrophanes nivalis) ſind außerordentlich veränderlich. 4) Ein Kukuksweibchen legt nach überein— ſtimmenden Berichten der verläßlichſten Be— obachter immer ſeine eigens gefärbten Eier, die mit denen anderer Weibchen derſelben Art oft ſtark contraſtiren. 5) Kiebitzeier ſind be kanntlich ſehr variabel; ebenſo 6) Tor— dalkeneier u. ſ. f. Selbſt unſere Haus— hühner legen nicht immer weiße Eier, es kommen auch öfters geſprenkelte vor. Wo im großen Ganzen keine in das Auge des Feindes leuchtenden Eier aufkommen Arten), konnten, wie es bei den nicht wehrhaften, in offenen Neſtern brütenden Vögeln der Fall iſt, wird alſo die Eigenſchaft der Farben- variation bez. Produktion unterſtützt, während bei den Verſtecktbrütern das Gegentheil ſtattfindet. Offenbrüter 213 haben farbige, Verſtecktbrüter weiße Eier! Erſte Abtheilung. Das Neſt ſteht an verborgenem Orte oder es verbirgt durch die Conſtruction ſeiner Materialien das brütende Weibchen und die Eier. Sympathiſche Schutzfärbung war in dieſem Falle weder für das Weibchen noch für deſſen Eier eine Nothwendigkeit, natür— liche Züchtung nach dieſer Richtung hin alſo ſo gut wie ausgeſchloſſen; Folge war, daß 1) der weibliche Vogel die auffallenden Prachtfarben des Männchens annehmen und 2) das Ei meiſt die einfachſte Färbung, die des weißen Kalkes, entweder rein oder mit kleinen Farbſtoffpunkten oder einfarbig grün, blau oder röthlich beibehalten konnte. 1. Rein weiße Eier legen die Mei— ſen (Paridae) mit verſtecktem oder kuppel— oder beutelförmigem Neſt; die Honigvögel (Nectariniae), Neſt eiförmig mit ſeitlichem Eingang; die Kletterdroſſeln (Pha- cellodomi*), Neſt ein Reiſerhaufen mit verſteckter Mulde; die Töpfervögel (Furnarii), Neſt groß backofenförmig; die Gähner (Eurylaemidae), Neſt oben ge— deckt, über Waſſer hängend; die Spechte (Pieidae 320 Arten), Wendehälſe (Yun- gidae), Bartvögel (Megalaemidae 81 Arten), Tukans (Rhamphastidae 51 Arten), Bananenfreſſer (Musophagidae 18 Arten), Raken (Coraciidae 19 Arten), Trogons (44 Arten), die Nashorn- vögel (50 Arten) und Papagaien (386 die ſämmtlich in Baumhöhlen brüten; mehrere gedeckt brütende Roth— ſchwanzarten (Rubicillae); die Bart— kukuke (Bucconidae), Jacamars (Gal- bulidae), Bienenfreſſer (34 Arten), Eisvögel (125 Arten), Waſſeramſeln, Großfußhühner (Megapodidae 20 Ar- ten), Höhlenenten (Cassarca fadorna), Sturmſchwalben (Oceanides), Sturm- tauder (Puffini) , Schmucktaucher (Phaleres) und Papageitaucher (Mor- mon), welche alle in Erd- oder Felshöhlen brüten; die meiſten Emuſchlüpfer (Sti- piturus), die meiſten Schmetterlings— finfen, die Erdkukuke (Centropus), die alle kuppelförmige Neſter haben; die Honigkukuke (Indicator), die ihre Eier in die Neſter von Höhlenbrütern legen; die Segler (Cypselidae 53 Arten), die in Fels- oder Baumlöchern oder an ſchwan— ken Aeſten oder an Felſen über Waſſer ihre glacirten Neſter anbringen; die Ko— libris (Trochilidae 390 Arten), Neſt tief napfförmig; die Tauben (Colum- bidae*) von denen allerdings nur ein Theil in Höhlen brütet; die Hockohühner (Craeidae*) wohl zum Theil Höhlenbrüter; die meiſt in Höhlen brütenden Eulen. 2. Weißgrundige röthlich be— punktete Eier legen: die Laubſänger (Phyllopneustes), die Goldhähnchen (Regulus), einige Emuſchlüpfer (Stipi- turus), die Zaunkönige (Troglodytes), der Hängevogel (Arachnothera), die Baumläufer (Certhia), der Mau er— läufer (Tychodroma), Spechtmei— ſen (Sitta) und ein Theil der Schmetter— lingsfinken, die alle gedeckte Neſter haben oder in Höhlen oder Felsſpalten brüten. 3. Weiß punktige oder ſonſt wie gefleckte Eier haben: Sittella, Eier mit grünlichem Fleckenkranz, Neſt ſehr verſteckt in Baumzweigen, und die Wiedehopfe (Upupidae“) mit nicht conſtanter Nift- weiſe, meiſt in Löchern. 4. Einfarbig ſpangrüne oder blau grüne oder bläulichweiße, alfo von Reichenau, Die Farbe der Vogeleier. ebenfalls leicht ſichtbare Eier haben: ein Theil der Rothſchwänze (Rubieillae), die meiſten Steinſchmätzer (Saxicola), die Steinröthel (Petroeinelus), Trauer— fliegenfäng er (Muscicapa), und Staare, die alle in Höhlen oder gedeckt brüten. 5. Einfarbig röthlich weiße, alſo ebenfalls leicht ſichtbare Eier haben: Schmuckvögel (Ampelidae), Neſt kugel— förmig in Baumlöchern oder im aufgewühl⸗ ten Boden ſtehend, und die Witt wen (Vidua colinpasser) mit ſackförmigem Neſt. Am ſchönſten illuſtriren unſere Theorie die Schwalben (Hirundinidae). Nach ihrer Art zu niſten — ſie bauen über Waſſer an Felſen, geſchützte Neſter an Bäumen, in Erd-, Felſen- oder Baum⸗ ritzen und Löcher — kann man ſie in drei Gruppen unterbringen: 3 1. Neſt wenig geſchützt, doch innerhalb gedeckter Räume: Rauchſchwalben, Eier weiß, aſchgrau und roth— braun bepunktet. 2. Neſt unzugänglicher, meiſt an Fel— ſen: Ariel, Felſenſchwalbe, Fa— denſchwalbe: Eier weiß, ſpärlich roth gefleckt. 3. Neſt ganz kugelförmig, in einem Baumloche oder an ähnlichem Orte (Erd— loch): Mehlſchwalbe, Uferſchwalbe, Purpurſchwalbe: Eier rein weiß. Aus Obigem geht hervor, daß die Verſtecktbrüter in der Regel rein weiße, höchſtens röthlich gefleckte, jedenfalls nach ihrer Farbe mit der Umgegend nicht harmonirende Eier legen. Eine Anzahl Namen ſind mit bezeichnet; von den Beſitzern derſelben hege ich die Meinung, daß dieſelben a priori Höhlenbrüter geweſen ſind und entweder a) durch raſche Vermehrung zum Theil ge— von Reichenau, Die Farbe der Vogeleier. nöthigt wurden, von ihrer Gewohnheit ab— zuſtehen, da ſie ſelbſt nicht im Stande ſind, ſich eigene Höhlen darzuſtellen; b) die Ge— wohnheit des Brütens in Höhlen unnöthig wurde durch Verminderung ihrer natürli— chen Feinde; e) indem ſie verlorene Bruten höchſt leicht zu reproduciren vermögen oder anderen Vögeln, wie der Honigkukuk dies thut, ihre Eier aufbürden; oder d) wehr— hafte Vögel ſind, welche ihren jetzigen Brut— feinden Trotz bieten können, während dies früher vielleicht nicht in gleichem Grade der Fall war. Man könnte nun, auf dieſe Thatſachen geſtützt, wohl verſucht ſein zu ſchließen, ein weißes Ei gehöre einem Verſtecktbrüter an; doch iſt dieſer Satz nur in beſchränktem Grade richtig. Die hauptſächlichſten Ausnahmen — Vögel mit weißen oder doch durch ſehr helle Fär— bung auffallenden Eiern, welche keine Deckung durch die Art des Niſtens haben — wer— den folgende ſein: 1. Padda oryzivora, Reisvogel, baut häufig Neſter, in welche eingeſehen werden kann; doch werden auch viele zwiſchen die Schmarotzer und Schlinggewächſe, welche die Arengapalme umkleiden, untergebracht; die 6—8 Eier find weiß. Die für einen Fink bedeutende Eierzahl zeigt, daß der Mangel einer günſtigeren Neſt- oder Brut- beſchaffenheit hier wohl durch Maſſenpro— duction ſeinen Ausgleich findet; zudem kann es zutreffen, daß die dem Blicke ausge— ſetzten Neſter noch jungen unerfahrenen Vögeln angehören und die Zerſtörung der Nachkommenſchaft in der Folge zur verſteckten Neſtanlage antreibt. 2. Lagonostieta minima, kleiner Senegali, baut ein der Umgebung ſehr ähnelndes Neſtchen und legt weiße Eier hinein. 2. Podargus humeralis, Rieſenſchwalm, 215 baut ein ſehr ſchlechtes, theilweiſe durch— ſichtiges Neſt auf niedere Aeſte und legt weiße Eier hinein. Die leichtſchnäbligen Verwandten dieſes Vogels ſind ſämmtlich Höhlenbrüter und legen weiße Eier; ich halte es für wahrſcheinlich, daß der Podar- gus ehemals gleichfalls Höhlenbrüter war. „Beide Geſchlechter“, heißt es in Brehm's Thierleben, Band 3, S. 685 f., „theilen ſich in das Geſchäft der Brut; das Männ— chen brütet gewönlich nachts, das Weibchen bei Tage. Erſteres ſorgt allein für die ausgebrütete Familie. Iſt das Neſt den Sonnenſtrahlen zu ſehr ausgeſetzt und ſind die Jungen ſo groß, daß die Mutter ſie nicht mehr bedecken kann, ſo werden ſie von den Alten aufgenommen und in eine Baum höhle gebracht.“ Vielleicht ſtanden die Schwalme von ihrer urſprünglichen Niſt— weiſe in Baumhöhlen ab, weil in Auſtralien, ihrem jetzigen Vaterlande, wenig Raub— thiere ſind. Geſchickte Neſtbauer ſind ſie in der That gewiß eben ſo wenig, als die Tauben. Letztere legen ſämmtlich (meiſt 2) weiße Eier, ſind beidergeſchlechtlich geſchmückt und nur in denjenigen Ländern als Offen— brüter häufig, wo baumkletternde Raubthiere und gewiſſe Raubvögel fehlen. In Deutſchland vermag ſich die Hohltaube, Columba oenas, wohl deshalb am häufigſten zu erhalten, weil ſie Höhlenbrüterin iſt. Aus eigener Erfahrung weiß ich beſtimmt, daß die Eier der Ringel- und Turteltaube ſehr häufig dem Eier ſuchenden Häher (Garrulus glan- darius) zum Opfer fallen. Hätten dieſe Tauben nicht die Fähigkeit, wiederholt, oft vier- bis fünfmal hintereinander, die Brut zu erneuern, ſo würde wohl die weiße Färbung ihrer Eier bei offener Niſtweiſe ein baldiges Ausſterben zur Folge haben. 4. Crotophagae, Madenfreſſer, niſten gemeinſchaftlich, legen weiße Eier, ihre nächſten 216 Verwandten bauen kuppelförmige Neſter. Es bedarf wohl kaum der Bemerkung, daß bei gemeinſchaftlichem Brüteſyſtem die Eier dem Blicke ſtets verborgen gehalten werden. 5. Pezoporus formosus, Erdpapagei, iſt ein echter Papagei mit Kletterfüßen; er hat offenbar ſeine ehemalige Lebensweiſe geändert und legt ſeine weißen Eier auf die Erde. Er lebt in Südauſtralien, einem an Raubthieren armen Lande; ſein ähnlich lebender Vetter, der Kakapo (Stringops) niſtet noch in Höhlen, im Boden oder in hohlen niederen Bäumen. 6. Gyps fulvus, Gänſegeier, Hali- aetus, Seeadler, Circus, Weihe, und eine ziemliche Anzahl anderer größerer Raub— vögel legen weiße, übrigens oft variirende Eier, ebenſo viele Störche und größere Schwimmvögel. Die Wehrhaftigkeit ihrer Beſitzer erklärt dieſen Umſtand, wie ich glaube, hinlänglich; außerdem werden die Neſter dieſer Vögel oft an den unzugäng— lichſten Plätzen — auf hohen Felſen, Rieſen— bäumen oder im Sumpfe angelegt und die Sumpf- und Waſſervögel brüten meiſt ge— ſellſchaftlich. Intereſſant iſt auch, daß manche Eier durch die Stärke ihrer Schale geſchützt ſind, z. B. dasjenige des Schwans: der Rohrweih (Circus rukus), ein arger Neſtplünderer, vermag es nicht zu zer— ſtören. Zweite Abtheilung. Die Eier werden in ein Neſt gelegt, welches oben offen iſt und können daher von vorüberfliegenden Eierräubern leicht bemerkt werden. Die nicht wehrhaften offen— brütenden Weibchen tragen in dieſem Falle eine Färbung, welche mit der Umgebung übereinſtimmt (z. B. die des Bodens, dunkler Erde oder hellen Sandes, der Baumäſte oder des Blattgrüns), während ‚(Caprimulgidae), von Reichenau, Die Farbe der Vogeleier. die Männchen, welche entweder gar nicht oder nur ausnahmsweiſe, z. B. in den ſtillen Mittagsſtunden, brüten, ein durch geſchlechtliche Auswahl, fixirtes Pracht- oder Hochzeitsgefieder haben können. Die Eier ſind entweder durch ihren Grundton oder durch Fleckenzeichnung ſchützend gefärbt. 1. Die Vögel, welche auf Bäume und Gebüſche offene Neſter ſtellen, haben Eier, welche ſehr häufig grün oder hellgrau (hellbraun ꝛc.) mit dunkleren Zeichnungen verſehen ſind, der Farbe der Flechten oder der Niſtſtoffe ſich alſo anpaſſen. Dahin gehören die Droſſeln (Turdidae 200 Arten), die meiſten Sänger (Sylviidae 640 Arten), Finken, Ammern und Tangaren, die entweder in beiden Geſchlechtern oder wenigſtens im weiblichen auf dem Rücken ſchützend gefärbt ſind; ferner die Würger (Laniidae 145 Arten), bei denen inter— eſſant iſt, daß bei den ſchwächeren Arten die Weibchen häufiger Schutzfarben tragen, als bei den kräftigeren; die Raben (Corvidae), die theils ſchützend gefärbt, theils wehrhaft ſind und bei denen die verſteckt Brütenden (Dohle und Elſter) minder gefleckte Eier haben; die Kukuke (Cueulus), deren Eier mit der Eierfarbe der Pflegeeltern harmoniren; bei den Falken haben im allgemeinen die kleineren Arten beſſere Schutzfarben an ihren Eiern, als die großen; von den Lärmdroſſeln (Tima- liidae mit 240 Arten) bauen die wenigen, mir nach ihrer Niſtweiſe bekannten Arten entweder ein flaches Neſt mit ſtarkgefleckten Eiern oder ein kuppelförmiges mit weißen ſchwachgefleckten Eiern, welche mithin zur erſten Abtheilung gehören. 2. Die auf der Erde brütenden Ler— chen (Alaudidae 110 Arten), Pieper (Anthus 30 Arten), Ziegenmelker Sandflughühner von Reichenau, Die Farbe der Vogeieier. (Pteroclidae 16 Arten) Streitlauf— hühner (Turnieidae), Waſſerhühner und Rallen (153 Arten), Schnepfen— vögel (121 Arten), Brachſchwalben (Glareolidae 20 Arten), Regenpfeifer (Charadriidae 101 Arten) und Trappen haben alle bodenfarbige Eier und die Thiere ſelbſt tragen eine Schutzfarbe. Beſondere Er— wähnung verdienen von den Bodenbrütern fol— gende: Bei den Tetraoniden (170 Arten) iſt mindeſtens das Weibchen ſchützend gefärbt und die Eier ſind um ſo erdfarbener, je erponirter das Neſt ſteht und umgekehrt; die Faſan hühner, (Phasianidae) und Steißhühner (Tinamidae) legen meiſt weißliche alſo unbeſchützte Eier, gehören alſo unter die Ausnahmen; die Kraniche brüten auf ſumpfigem Boden (wie es ſcheint, mit einigen Ausnahmen, z. B. vom Pfauenkranich, Balearica); das Weib— chen des gemeinen Kranichs ſchafft ſich zur Legzeit nach E. v. Homeyer's Beobachtun— gen, ſein röthliches Schutzgewand ſelbſt durch Auftragen von Sumpferde mit dem Schnabel, und die Eier ſind auf grün— lichem Grunde braun gefleckt, haben alſo die Farbe der Niſtſtoffe, des Schilfes und der Binſen; die Möven und Seeſchwal— ben (132 Arten) legen ſchutzfarbige Eier auf den Boden, aber die Färbung dieſer ſtreitbaren Vögel iſt nur im Jugendkleid bodenfarbig. Aus der Menge der angeführten That⸗ ſachen geht hervor, daß alle Offenbrüter, wenn nicht ganz beſondere Umſtände walten, ſchützend gefärbte Eier legen. Außer den ſchon oben angeführten Ausnahmen, deren ſcheinbaren Widerſpruch mit der aufgeſtellten Theorie ich zu erklären und zu beſeitigen verſucht, giebt es aber noch einige andere: 1) Die Tyrannen-Fliegenfünger (Tyranni— dae) legen in offene Neſter helle Eier; die 217 beiden Gatten, namentlich aber das Männ— chen, ſind höchſt ſtreitſüchtig, greifen ſelbſt Habichte und Adler an, und das Weibchen brütet ſehr feſt. Dieſe Eigenſchaften er— klären, nach meiner Anſicht, die ſcheinbare Aus— nahme hinlänglich. 2) Nicht wenige Hühner aus den tropiſchen Wald- und Dſchungel— gegenden, zu den Phasianidae und Tina- midae gehörig, legen im Dickicht auf den Boden weiße oder doch ſehr helle Eier. An Raubzeug aller Art fehlt es in den dortigen Gegenden nicht. Das Weibchen allein brütet und trägt ein ſchützendes Gefieder, während das Männchen oft prachtvolle Putzent⸗ faltung zur Schau trägt. Der Niſtplatz wird ſehr gut gewählt, wodurch viele Feinde umgangen werden. Die Haupturſache, welche die Erhaltung der Arten ermöglichte, ſcheint mir indeß darin zu liegen, daß die Eier in Menge producirt werden. Die meiſten Hühner legen mindeſtens 6—18 und mehr Eier in ein Neſt und haben die Fähig⸗ keit, fehlende zu ergänzen. Wenn nun blos ein Gelege aufkommt, während acht andere ihren gänzlichen Untergang finden, und das gedachte Neſt wie wir im Durchſchnitt annehmen können, 9 Eier hat, ſo kommen in einem Jahre, ſelbſt wenn die übrigen Hennen, was ganz unwahr— ſcheinlich iſt, nicht mehr brüten ſollten, doch 9 Junge auf. Da nun das durchſchnitt— liche Lebensalter eines Hühnervogels ſicher mehr als drei Jahre beträgt, ſo werden die alten Vögel bald mehr denn erſetzt. Die Ver— hältniſſe müſſen in der That äußerſt ungünſtig für die Hühnervögel liegen, und die Brutweiſe wird hier mit ſchuld ſein, denn ſonſt würde ihre Vermehrung in's Unglaubliche gehen. Die kleinen Meiſen legen ebenfalls eine große Anzahl Eier und bringen ihre Kinderſchaar meiſt zum Ausfliegen, da ſie in ſicheren Höhlen brüten. Bei ihnen liegt wohl eine andere EP PPSESSSESESSEESEESESEEEEEEE 218 von Reichenau, Die Farbe der Vogeleier. Urſache zu Grunde, daß ſie ſich nicht rapid vermehren können: Häher und Sperber nähren ſich zu Zeiten faſt allein mit den eine wirkliche Ausnahme von der Regel, daß Offen- und Erdbrüter, ſelbſt wenn ſie nicht wehrhaft ſind, immer ſchützendgefärbte ſchlechtfliegenden noch jugendlichen Thierchen. Eier legen: Die Erhaltung der Art In geringerem Grade, aber noch oft wird dann erreicht, wenn Maſſen— genug, fallen die ebenfalls ſchlecht fliegenden production an Stelle der ſchützen— Hühner ſtärkeren Raubthieren (Säugethieren den Aehnlichkeit tritt. und Vögeln) zur Beute. — Es giebt alſo An der unteren Grenze des pflanzlichen Gelchlechtslehens. Von Dr. Arnold Dodel- Dort. deren ab — lehrt uns die DAR u) . Höhere ſtammt vom Nie— Biologie an allen ſich das Zuſammengeſetzte. Wir ſelbſt haben uns mit der Wahrſchein— lichkeit vertraut zu machen, daß unſere älteſten Vorfahren mikroſkopiſch kleine Lebe— weſen darſtellten, die vor ungezählten Jahr— tauſenden in den Waſſern der Urmeere ihr Daſein friſteten. Und wenn uns im Thal die Blüthenpracht des Mai erfreut, wenn wir, im Hochſommer die Alpen durchſtrei— fend, die Herrlichkeiten der Gebirgsflora genießen, ſo müſſen wir uns daran erin— nern, daß alle blühenden Gewächſe von blumenloſen, niedrigeren Pflanzen abſtam— men, deren älteſte Vorfahren ebenfalls mi— kroſkopiſch kleine Organismen darſtellten, die kaum den Namen einer Zelle verdien— ten und ebenfalls Bewohner des Salz— waſſers waren. Auch heute noch finden wir die niedrig— ſten Pflanzen und Thiere im Waſſer. Manche derſelben ſind von ſo einfachem Bau, daß wir uns nach ihrer Erſcheinung eine gewiß annähernd richtige Vorſtellung Enden. Aus dem Einfachen entwickelte | von den erſten Lebeweſen überhaupt zu bilden vermögen. Ihre ganze Entwickelungs— geſchichte läßt ſich in zwei Worte zuſammen— faſſen: Wachſen ohne Gliederung und hier— auf folgende Zweitheilung in Hälften, die wieder zu derſelben Größe heranwachſen, um ſich wieder zu theilen. Die Natur iſt aber nicht auf derſelben Stufe ſtehen geblieben. Aus einzelligen Organismen bildete ſie zwei- und mehr— zellige, indem die durch Theilung aus einer Mutterzelle hervorgehenden Tochterzellen ſich nicht mehr von einander trennten, ſon— dern als Zellreihe oder Zellſchicht oder Zellhaufen in einer „Colonie“ vereinigt blieben. Hat dieſer Zellkomplex eine ge— wiſſe Größe erreicht, ſo beginnen die durch weitere Theilung entſtehenden Tochterzellen ſich wieder vom Ganzen abzulöſen und jede für ſich iſolirt ein ſelbſtſtändiges Leben zu führen, wachſend, ſich wiederholt zwei— theilend, um eine neue Colonie, einen neuen Zellkomplex zu bilden, der ſich wieder ebenſo verhält, wie die Muttercolonie. Die vom mütterlichen Organismus ſich ablöſenden, eine ſelbſtſtändige Entwickelung antretenden Tochterzellen ſind die auf dieſer NETTE 250 Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens. Stufe noch ungeſchlechtlichen Fort- Weiſe, wie die vegetativen Zellen der jungen pflanzungszellen. Bei vielen im Waſſer lebenden Pflanzen ſind es kugelige oder birnförmige Körper, die lebhaft um— herſchwimmen und daher den Namen Schwärmſporen erhielten, wegen ihrer thierähnlichen Bewegungsart auch Zo o— ſporen genannt wurden. während einiger Zeit herumgetummelt, ſo ſetzen ſie ſich irgendwo feſt und beginnen entweder ſoſort zu keimen und ſich zu einer neuen mehrzelligen Pflanze zu entwickeln, oder ſie machen erſt eine kürzere oder län— gere Ruheperiode durch, ehe ſie ihre vege- | tative Entwickelung beginnen und je einer neuen Zellcolonie das Daſein geben. Auch hier iſt die ganze Entwickelungs— geſchichte von der Wiege bis zum Grabe immer noch ſehr einfach: Die Pflanze be— ginnt mit einer einzigen Zelle, in unſerem vorliegenden Falle ſpeciell mit einer zur Haben ſie ſich Colonie, einfach durch Zweitheilung. Aber ein kleiner Schritt führt hin— über an die untere Grenze des Ge— ſchlechtslebens. Die vergleichende Entwickelungsgeſchichte hat dem Biologen gezeigt, wie die Natur Schritt um Schritt, langſam vom Ein— fachſten zum Complicirteſten vorſchreitend, nach und nach jene hohe Stufe der Diffe— renzirung zu erreichen vermochte, die wir heute an den höchſten Pflanzen und Thieren bewundern. Natura non facit saltum! Die Na— tur macht keinen Sprung — ſo lautet ein Ruhe gelangten Schwärmſpore, die in der Folge wächſt, ſich dann in zwei Zellen theilt, von denen jede weiter wächſt und ſich ebenfalls theilt, ohne die Tochterzellen aus einander treten zu laſſen, und ſo fort, bis der Zellkomplex, alſo die neue mehr— zellige Pflanze, eine gewiſſe Größe erreicht hat, worauf dann die durch einmalige oder wiederholte Zweitheilung entſtehenden Toch— terzellen letzter Generation aus einander treten und als Schwärmſporen den ge— ſchilderten Entwickelungsgang wieder von Neuem beginnen. Hier zeigt ſich im ganzen Leben der Pflanze noch keine Spur von Geſchlechtlich— keit. Die Fortpflanzung erſcheint nur wie ein ſpeciell für die Vermehrung abgeänder— ter Vorgang, als ein Wachsthumsproceß über die Grenze der gewöhnlichen vegetati-⸗ ven Entwickelung hinaus. Die Schwärm— ſporen bilden ſich ſogar ganz auf ähnliche Ausſpruch Linné's, für welchen die Darwin'ſche Abſtammungslehre die Be— gründung nachlieferte. Die Biologen wer— den darum auch die Aufgabe zu löſen haben, an jeder Stelle im großen Lehrgebäude der neueren Schöpfungsgeſchichte das verbindende Material für die einzelnen Theile als rich— tig erkannte Thatſachen beizubringen. Erſt wenn alle Fugen und Riſſe mit gutem Baumaterial ausgefüllt ſein werden, können wir den Coloſſal-Bau der Descendenz- Theorie getroft allen Unbilden von Sturm und Wetter preisgeben. Die geſchlechtliche Fortpflanzung muß ihren Urſprung aus der ungeſchlechtlichen Vermehrung genommen haben. Der Ueber— gang von der einen zur anderen Fort— pflanzungsart mußte durch zahlreiche Zwi— ſchenſtufen vermittelt werden; ja dieſe Zwi— ſchenſtufen mußten ſo zu ſagen nur als Ergebniſſe eines glücklichen Zufalls ins Daſein treten, die von der überall wal— tenden Macht der natürlichen Zuchtwahl er— griffen und zur weiteren Differenzirung der lebenden Natur nutzbar gemacht wurden. Die Entwickelungsgeſchichte der leben— den Pflanzenwelt hat uns zwiſchen den zwei Extremen in der Reihe geſchlechtlicher Fortpflanzungsarten, zwiſchen der niedrig— ſten Stufe ſexueller Proceſſe — der Co— pulation zweier gleichartiger Zellen zur Bildung einer ſogenannten Jochſpore — einerſeits, und der höchſten ſexuellen Diffe— renzirung in der Bildung von Eizellen und Blüthenſtaubkörnern zur Erzeugung eines in die Samenhüllen eingeſchloſſenen Embryo andererſeits, zahlloſe Uebergangsformen von Fortpflanzungsarten eröffnet, ſo daß ſich heute kein Biologe mehr des Gedankens der Abſtammung erwehren kann, wenn er die ganze Reihe jener Erſcheinungen über— blickt. Aber es bleibt uns unter Anderem noch zu zeigen, wie wir uns den Anfang der geſchlechtlichen Fortpflanzung zu denken haben. Auch hierüber dürfte uns die lebende Natur die beſte Belehrung bieten. Suchen wir danach, ſo werden wir ſie finden. Einiges hat ſie uns bereits offenbart, was die Wiſſenſchaft dankbar regiſtrirte. Zu dem Wichtigſten in dieſer Beziehung gehört unſtreitig die von Prof. Dr. N. Pringsheim zuerſt entdeckte Paarung der Schwärmſporen bei Pandorina Morum, über welche Erſcheinung er im Spätjahr 1869 der Berliner Akademie berichtete. Seine Entdeckung war für die Erforſchung der pflanzlichen Sexualproceſſe wohl ebenſo fruchtbringend und anregend, wie ſeiner Zeit die erſte Entdeckung von Geſchlechtsorganen bei Farnen, die wir Nägeli verdanken. Schon im Frühjahr 1870 beobachtete Prof. Dr. C. Cramer die Copulation von Schwärmſporen auch bei der Kraushaar— Alge (Ulothrix zonata). Zu derſelben Zeit mit jener Alge beſchäftigt, ward ich ebenfalls auf den Paarungs-Vorgang auf— merkſam gemacht, ohne jedoch davon mehr Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens. 221 zu profitiren als zwei colorirte Tafeln mi— kroskopiſcher Zeichnungen und einige wenige Notizen über den dort dargeſtellten Copu— lations-Akt. Cramer war der erſte, der über die Copulation der Ulothrix-Schwärmer einen Aufſatz publicirte (Vierteljahrsſchr. der naturf. Ge. zu Zürich Bd. XV.), während meine aus gleicher Zeit ſtam— menden Zeichnungen die erſten waren, welche über dieſen Vorgang aufgenommen wurden. So viel zur Richtigſtellung eines unfrucht— baren Prioritätsſtreites. Im Frühjahr 1875 ward ich neuer— dings veranlaßt, die Kraushaar-Alge einer Unterſuchung zu unterziehen, die mich wäh— rend 14 Monaten faſt ohne Unterbrechung an die intereſſante Pflanze feſſelte. Dieſe Arbeit brachte eine ſolche Fülle frappanter Reſultate, daß ich mich entſchließen mußte, dieſelben in Geſtalt einer Monographie herauszugeben (vergl. Jahrb. f. wiſſ. Bot. Bd. X. Engelmann, 1876). Hier ein kurzer Abriß der Hauptergebniſſe dieſer Arbeit. Die Kraushaar-Alge (Ulothrix zonata) iſt ein weitverbreitetes Süßwaſſergewächs, welches in älteren Pflanzen-Syſtemen unter den Conferven (Fadenalgen) aufgezählt wurde. Sie erſcheint ſeit vielen Jahren regelmäßig jeden Winter in Form von Fadenbüſcheln an den oberen Baſſins des Springbrunnens vor dem Polytechnicum in Zürich, wo ſie oft während der kalten Nächte in ſtarre Eiszapfen eingefriert um jeweilen am Morgen wieder aufzuthauen, ohne in ihrer Entwicklung und Fortpflanzung dadurch gehemmt zu werden. Die gleiche Alge habe ich übrigens auch in verſchiedenen Brunnenbetten von Zürich und Umgebung in Geſellſchaft mit andern Algen angetroffen, ebenſo in kleineren Bächen, welche während der Schneeſchmelze von den Höhen des eh an 222 Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens. Zürcherberges thalwärts fließen und auf ihrem Grunde oft eine vielgeſtaltige Algen- flora ernähren. Rabenhorſt giebt in ſeiner „Kryptogamen-Flora von Sachſen“ ꝛc. folgende Standorte an: In der Weiſeritz, Biela, bei Elſter, bei Bautzen und Leipzig, bei Zittau. Nach verſchiedenen anderen Kryptogamiſten darf angenommen werden, daß Ulothrix zonata in ganz Mittel- Europa bis zu den Alpen häufig vorkommt. Die Länge der ſattgrünen Ulothrix⸗ Fäden variirt nach Standort und Jahres- Während ſie in den zeit ungemein ſtark. meiſten Fällen kaum mehr als 5— 10 Eenti- meter erreicht, habe ich doch im März 1876 am Springbrunnenbaſſin vor dem zürche— riſchen Polytechnicum Kraushaar-Algen ge— ſehen, welche die anſehnliche Länge von 50 und mehr Centimeter erreichten. Alle Fäden von Ulothrix zonata find unverzweigte Zellreihen, deren einzelne Zellen im vegetativen Zuſtande cpylindriſche oder ſchwach tonnenförmig aufgetriebene Kam— mern darſtellen. Die Querwände zwiſchen den aufeinander folgenden Zellen ſtehen jederzeit ſenkrecht zur Längsaxe des Fadens. Die cylindriſche Wand iſt in den meiſten Fällen kürzer als der Quer-Durchmeſſer der Zelle; nur bei ganz jungen Zellreihen (Fig. 1 A & Hv) übertrifft die Länge der einzelnen Zelle die Fadendicke. Im vegetativen Zuſtand findet ſich in jeder Zelle ein grüner Plasmagürtel, welcher die Mittelzone der cylindriſchen Längswand einnimmt. Er enthält meiſtens auch ein bis mehrere „Chlorophyllbläschen“, die als kugelige Körper von lebhaft grüner Farbe in's Innere der mit farbloſer Flüſſigkeit erfüllten Zelle vorſpringen. Häufig erkennt man auch im Chlorophyllgürtel den wand— ſtändigen farbloſen Zellkern. Die in Fig. 1 A & II dargeſtellten Faden und Faden— ſtücke zeigen die typiſche Form der Kraus— haaralge im vegetativen Zuſtand. Die hiervon abweichenden Formen habe ich an genannter Stelle einläßlich beſprochen; wir können ſie hier übergehen. . Die Fäden wachſen dadurch in die Länge, daß ſich jede einzelne Zelle ſtreckt und nach Erreichung einer gewiſſen Größe ſich durch eine horizontale Querwand in zwei gleich— große Tochterzellen theilt, von denen ſich jede wieder ebenſo verhält, wie die Mutter— zelle. Dieſes allſeitige Längewachsthum dauert ſo lange an, bis der Algenfaden eine beträchtliche Länge erreicht hat und ſich dann anſchickt, Fortpflanzungszellen, d. h. Schwärmſporen zu bilden. Während des Winters pflanzt ſich die Kraushaar-Alge in der Regel nur durch große Schwärmſporen, ſogenannte Ma— krozooſporen fort, die entweder einzeln, oder zu zwei oder zu vier in jeder Faden⸗ zelle entſtehen. f Bevor dieſe Schwärmſporen gebildet werden, vermehrt ſich das grüne Plasma in jeder Fadenzelle derart, daß die ganze Innenwand von demſelben bedeckt wird. Der grüne Gürtel breitet ſich auf die ganze cylindriſche Zellwand aus und ſchließlich werden auch die ebenen Querwände von demſelben bedeckt. Dann kann zweierlei eintreten: Entweder bildet ſich der ganze Zellinhalt in eine einzige große Schwärm— ſpore um, an welcher ſchon in der Mutter— zelle ein rother Pigmentfleck (r in Fig. 1 B) ſichtbar wird, oder es theilt ſich der Zell— inhalt erſt durch eine horizontale Trennungs— fläche in zwei gleich große Portionen, die entweder ſofort in Schwärmſporen ver- wandelt werden oder ſelbſt eine nochmalige Zweitheilung erleiden, wobei vier Makro⸗ zooſporen reſultiren. (Fig. 1 B und C, m“ und m4). A. Stück eines Fadens im vegetativen Zuſtand. Jede Zelle beſitzt ein gürtel— förmiges grünes Band. Stück eines Fadens mit reifen Makrozooſporen, die einzeln oder zu zwei in einer Zelle entſtanden. Am obern Theil dieſes Fadenſtücks entleeren zwei Zellen bereits ihren In⸗ halt in Form je einer großen Makrozooſpore. r rother Augenfleck. 5 C. Stück eines Fadens, in deſſen Zellen ausſchließ— lich Makrozooſporen ent— ſtanden und zwar je 2 oder 4 in einer Mutter⸗ zelle. g“ und g“ ver⸗ ſchiedene Geburtsſtadien je zweier Makrozooſporen. g“ Geburt von 4 in einer Zelle entſtandenen Ma⸗ krozooſporen. gb Geburts⸗ ballen einer ſoeben ent- leerten Zelle, zwei Mafro- zooſporen enthaltend, gb“ ein Geburtsballen mit je 4 reifen Makrozooſporen. D. Vier aus einander tretende Makrozooſporen. uB Um⸗ hüllungsblaſe. eB centrale E Blaſe. E. Eine zur Ruhe gelangende Makrozooſpore. G dieſelbe ſchief von hinten geſehen. H. I iv Makrozooſporen u. die aus denſelben hervor— 2 gehenden Pflänzchen. Bu, r rother Augenfleck der . Zooſpore. Fig. 1. Die Kraushaar-Alge (Ulothrix zonata). Erſcheinungen der ungeſchlechtlichen Fortpflanzung. (Vergrößerung 400 : 1.) 2 5 224 Während des Heranreifens der Schwärm— ſporen nehmen die Mutterzellen viel Waſſer auf und ſchwellen mehr oder weniger ſtark tonnenförmig an. Endlich öffnet ſich die einzelne Fadenzelle ſeitlich an der eylindriſchen Wand durch Zerfließen eines Membran— ſtückes; der raſch noch mehr Waſſer auf— nehmende Inhalt tritt durch die kleine Oeff— nung heraus (Fig. 1 B und C, g, g“, g“) und rundet ſich ſofort zu einem kuge— ligen Geburtsballen ab. Enthält der letztere zwei oder vier Makrozooſporen, ſo erkennt man leicht eine farbloſe, waſſerhelle Um— hüllungsblaſe (u B in Fig. 1 C, gb, g“, g“ und D), welche den ganzen Ballen nach Außen abgrenzt. Im Innern findet ſich nebſt den 2 oder 4 Makrozooſporen noch eine kleinere waſſerhelle Blaſe (e B in Fig. 1 D), die man im Gegenſatz zu jener die centrale Blaſe genannt hat. Alle Be— ſtandtheile des Geburtsballens nehmen während und nach dem Austritt aus der Mutterzelle ſo raſch Waſſer auf, daß die Umhüllungsblaſe ſowohl als auch die centrale Blaſe im Waſſer zerfließen und die ſich abrundenden Schwärmſporen vollſtändig in Freiheit ſetzen. Dieſe letzteren zeigen eine kugelig⸗birnförmige oder eiförmige Geſtalt und tragen am vorderen farbloſen, ſpitzeren Pol vier lange Cilien, die ſich lebhaft in der Fläche eines Kegelmantels bewegen und den ganzen Körper der Zooſpore alsbald in eine raſche Rotation verſetzen, wobei ſich der Schwärmer in der Richtung ſeiner Längsaxe auch von der Stelle bewegt. In geringer Entfernung vom vordern cilten- tragenden Pol bemerkt man im Sporen— körper eine pulſirende Vacuole (py in Fig. 1 B m und D. E), die ſich regel— mäßig alle 12—15 Sekunden plötzlich con— trahirt, um im Verlauf der folgenden 12—15 Sekunden vom unſichtbaren An- | | Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens. a fang bis zum Maximum ihrer Größe wieder heranzuwachſen. Dieſe pulſirende Vacuole — vermuthlich ein Reſpirations— organ der thierähnlichen Primordialzelle — iſt von einem farbloſen, feinkörnigen Plasma umgeben, welches die Funktion der Zu— ſammenziehung und Ausdehnung unter ganz ähnlichen Erſcheinungen vollzieht, wie das gleichartige Gebilde in einem Infuſorium. Der dickere Hintertheil der Makrozooſpore erſcheint zum größten Theil grün gefärbt. An der Grenze zwiſchen dem grünen und dem farbloſen Sporentheil findet ſich ein langgeſtreckter rother Pigmentfleck, der ſo— genannte rothe „Augenpunkt“. . Sobald die Makrozooſporen aus der Umhüllungsblaſe in Freiheit gelangt ſind, treten ſie ihre Reiſe durch's Waſſer an. Sie ſchwärmen wie kleine Thiere lebhaft im Waſſer umher und gelangen erſt nach längerer Zeit, meiſtens nach ca. 20 Minuten zur Ruhe. Da ſie etwas leichter ſind als das Waſſer, ſo ſetzen ſie ſich meiſt an Körper feſt, die von der obern Waſſerfläche beſpült werden. Die Cilien verlieren nach und nach ihre Bewegungsfähigkeit, werden ſtarr und verſchwinden, während der vordere hyaline Pol ſich an der feſten Unterlage niederläßt. (Fig. 1 F, G und III.) Hierauf beginnt ſofort die Keimung der Makrozooſpore. Der bisher nackte Plasmakörper bekleidet ſich mit einer zarten Holzſtoffmembran, ſtreckt ſich in die Länge und nimmt keulenförmige Geſtalt an. Der vordere waſſerhelle, farbloſe Pol der Makro- zooſpore wird zum dünnen wurzelartigen Haftorgan, der hintere grüne Zooſporen— Pol dagegen wird zum Scheitel eines jungen Fadens. Die Keimpflanze ſteht alſo auf dem Kopf. Hat der keulenförmige Körper eine gewiſſe Länge erreicht, ſo theilt er ſich durch eine horizontale Querwand in zwei Zellen (Fig. 1 II m), welche ſich in der Folge weiter ſtrecken und ſich dann ebenfalls theilen (Fig. 1 H m), wobei ein vier— zelliges Pflänzchen reſultirt. Der rothe Pigmentfleck erblaßt in dieſer Zeit. Wachſen und Theilung der einzelnen Zellen folgen nun continuirlich aufeinander, bis die neue Pflanze ſchließlich die Länge der Mutter- pflanze erreicht hat und endlich — aus einigen oder vielen tauſend Zellen beſtehend — ſelbſt zur Schwärmſporenbildung ſchreitet, um, wie die Mutterpflanze, neuerdings un— zähligen jungen Individuen das Daſein gebend, ihr eigenes Leben einzubüßen. Nirgends zeigt ſich bei dieſer Fort— pflanzungsart Etwas, das an irgend einen geſchlechtlichen Vorgang erinnerte. In der That folgen ſich während des Winters nur geſchlechtsloſe Generationen, die ſich bei günſtiger Witterung und an geeigneten Standorten alle 10—14 Tage wiederholen können. Allein mit dem Frühjahr tritt eine neue Phaſe im Entwickelungsgang der Kraushaaralge auf. Es erſcheinen auch Ulothrixfäden, welche in ihren Zellen nicht ausſchließlich große Schwärmſporen bilden, ſondern im Theilungsproceß des Zellinhal— tes Schritt um Schritt weiter gehen, wobei kleine Schwärmſporen, ſogenannte Mikro— zooſporen, zu 8, 16, 32 oder noch mehr in einer Zelle entſtehend, gebildet werden. Dergleichen Algenfäden bieten ein eigenthümliches Bild dar. Da ſehen wir in der einen Fadenzelle 2 große, in einer benachbarten 8 kleine, in einer dritten Zelle 4 große, in einer vierten Zelle 32 kleine, in einer fünften Zelle 16 kleine, in einer ſechsten und ſiebenten Zelle wieder zwei oder vier große Zooſporen u. ſ. w., am gleichen Faden die bunteſte Abwechslung in der | Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens. 225 Zahl der von den einzelnen Mutterzellen gebildeten Makro- und Mikrozooſporen. In der vorgeſchrittenern Jahreszeit (am Ende des Frühlings oder am Ende des Sommers) dagegen treffen wir in der Regel nur noch Ulothrixfäden, die aus— ſchließlich kleine Schwärmſporen, zu 8, 16 und 32 in jeder Zelle bilden. Dieſe Mikrozooſporen entſtehen dadurch, daß ſich der grüne Zellinhalt der einzelnen Faden— zelle wiederholt zertheilt, indem er erſt in zwei, dann in 4, 8, 16 oder 32 Theile zerfällt. Es iſt ſelbſtverſtänd— lich, daß die einzelne Mikrozooſpore um ſo kleiner iſt, je größer die Anzahl der Schweſterſporen, mit welchen zuſammen ſie die Mutterzelle erfüllt. In der That va— riirt die Größe der Mikrozooſporen ebenſo ſtark als die Größe der Makrsozooſporen, da die Größe der Mutterzelle keineswegs zur Anzahl der in ihr entſtehenden Zoo— ſporen in Beziehung ſteht. Die Entſtehungsweiſe, die Form und Organiſation, wie die Art der Bewegung der Mikrozooſpooren, alle dieſe Momente ſtimmen mit den entſprechenden der Makro— zooſporen jo vollſtändig überein, daß es zwiſchen den Makro- und den Mikrozoo— ſporen von Ulothrix zonata keinen andern durchſchlagenden Unterſchied giebt, als die verſchiedene Anzahl der Cilien. Während die Makrozooſporen vier Cilien beſitzen, ſind die Mikrozooſporen nur mit zwei Schwingfäden ausgeſtattet; dafür beſitzen ſie die Fähigkeit, zu zweien eine Paarung einzugehen. Die Mikrozooſporen werden ebenfalls mit einer Umhüllungsblaſe (u B) und einer centralen Blaſe (e B in Fig. 2 K) geboren. Der Geburtsmechanismus und das Frei werden iſt bei Mikro- und Makrozooſporen identiſch. Der rothe „Augenpunkt“ und Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens. Die Kraushaar-Alge (Ulothrix zonata). Geſchlechtliche Fortpflanzung (Vergrößerung 400 : 1). K Fadenſtück mit Mikrozooſporen. g Geburtsſtadien. eB centrale Bahn. gb Geburts— ballen. uB Umhüllungsblaſe. i! Vier in der Mutterzelle gefangen bleibende Mikrozooſporen. i Einzelne Mikrozooſporen während des Schwärmens. i“ Zwei einander gegenüber— ſtehende, ſich nur mit den vorderen Cilienenden berührende und gemeinſam rotirende Mikrozooſporen. co Zwei ſich paarende Mikrozooſporen. i“ Jſolirte (nicht gepaarte) Mikrozooſporen, zur Ruhe gelangend. Cilien ſtarr. I. Fadenſtück mit nur zum Theil entleerten Zellen. ik Keimpflänzchen aus nicht copu- lirten Mikrozooſporen, die in der Mutterzelle gefangen blieben. ik“ Keimpflänzchen aus nicht entleerten und folglich auch nicht gepaarten Mikrozooſporen (16 in einer Zelle ein— geſchloſſen). deg degenerirte Mikrozooſporen. M I. vi Auf einande folgende Copulationsſtadien. vır Eine Gruppe von ſoebeu zur Ruhe gelangten Zygoſporen. NI Auf einander folgende Wachsthumsſtadien der Zygoſporen. P vı-ıx Verſchiedene Zygoſporen, im Innern eine kleinere oder größere Zahl von Zoo— ſporen enthaltend. 2 Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens. die pulſirende Vakuole ſind bei den kleinen Schwärmern ebenſowohl vorhanden, als bei den großen. Aber wenn ſie einmal in Freiheit ge— langt ſind, ſo bieten uns die ſchwärmenden Mikrozooſporen ein Phänomen ganz eigener Art dar, das wir bei den Makrozooſporen umſonſt ſuchen würden: Es iſt die Copu— lation. Für den Mieroſkopiker iſt die Paarung (Copulation) der Mikrozooſporen von Ulothrix zonata jedenfalls eine der inter— eſſanteſten Erſcheinungen. Dieſer prämi— tivſte Zeugungsproceß vollzieht ſich folgen— dermaßen: An einem Faden (K in Fig. 2) entleeren ſich gleichzeitig oder kurz nach einander etliche Zellen, oder es geſchieht dies an zwei oder mehreren benachbarten Fäden zugleich. Nach dem Zerfließen der Umhüllungsblaſen verſchiedener Geburts— ballen (gb in Fig. 2) wimmelt die Flüſſigkeit alsbald von Dutzenden oder Hunderten frei und lebhaft umherſchwär— mender Mikrozooſporen. An verſchiedenen Stellen des Geſichtsfeldes ſieht man ein— zelne Schwärmſporen mit anderen ſcheinbar in Conflikt gerathen. Es kann dies z. B. mit den gegenſeitig ſich berührenden Cilien geſchehen (“ in Fig. 2 K), wobei beide Mikrozooſporen gemeinſam einige Rotationen vollziehen, um hierauf wieder auseinander zu weichen oder ihre gegenſei— tige Stellung zu verbeſſern. In einem anderen Fall ſehen wir eine lebhafte Schwärmſpore eine andere in tollem Tanze umkreiſen, als ob ſie dieſer die Cour machen wollte, bis ſie beide ſchließlich mit dem hyalinen Pol oder auch mit den Sei— ten ſich berühren. In einem dritten Falle prallt eine Mikrozooſpore wie ein Trunkener auf einen anderen Schwärmer gleicher Art 227 und alsbald beginnt ein gemeinſamer, anfangs ſehr lebhafter Tanz, der nach und nach in eine beſonnenere, aber unregelmäßigere Rota- tion übergeht. Damit hat die Copulation den Anfang genommen. Sobald die zwei birnfömigen Körper in eine ſolche Lage zu einander gekommen ſind, daß ihre Längs— axen parallel verlaufen oder in der Rich— tung nach vorn convergiren, beginnt der Verſchmelzungsproceß (Fig. 2 M ı bis Mv) Dieſer nimmt ſeinen Anfang am farbloſen, cilientragenden Pol der zwei nach gleicher Richtung ſchauenden, ſich innig berührenden Mikrozooſporen und ſchreitet von da rück— wärts zum grünen, abgerundeten, dickern Hintertheil. Die Copulationsfläche der beiden Zooſporen iſt in der Regel ganz frei von gefärbtem Plasma, die rothen Augenpunkte ſind einander abgekehrt. Nach einiger Zeit bilden die Copulations-Objekte einen herzförmigen Körper mit je zwei Cilien am vorderen Ende, zwei ſeitlich ge— legenen rothen Pigmentflecken und einer ſeichten Einbuchtung am hintern grünen Pole (Fig. 2. Mu und m). Die Ver⸗ ſchmelzung ſchreitet aber weiter bis das copulirte Paar nur noch einen einzigen birnförmigen oder eiförmigen Körper dar ſtellt, der ſich von einer gewöhnlichen Schwärmſpore nur noch durch die zwei rothen Pigmentflecke unterſcheidet. Die Cilien bewegen ſich immer langſamer, bis nach kürzern und längern Pauſen ſchließlich vollſtändig Ruhe eintritt, indem die Cilien erſtarren und endlich vollſtändig verſchwin— den (Fig. 2 M ıv bis vn). Der ganze Paarungs-Vorgang vollzieht ſich in der Regel ſehr ſchnell, vom beginnenden Schwär— men bis zur eintretenden Ruhe in 10—20 Minuten. Indeſſen habe ich einmal die Copulation dreier zu einem Körper zu— ſammentretender Mikrozooſporen beobachtet, Y 228 Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens. welcher Vorgang mehr als eine Stunde in Anſpruch nahm. Es iſt wohl zu beachten, daß die Paarung nur ſtattfinden kann an Schwärm⸗ ſporen, die aus verſchiedenen Mutterzellen ſtammen, alſo niemals an Schwärmſporen derſelben Fadenzelle, wohl aber copuliren ſich Mikrozoo l poren und benachbarte Zellen eines und deſſelben Fadens. In der Regel ſind die beiden ſich paarenden Mikrozooſporen von gleicher Größe und Beſchaffenheit, ſo daß wir in der äußern Erſcheinung der zwei Zeugungs— zellen keinerlei Geſchlechts-Differenzen er— kennen können. Das Produkt der Paarung nennen wir — entſprechend dem homologen Gebilde bei anderen Kryptogamen mit Copulation — Zygoſpore oder Jochſpore. Die zur Ruhe gelangenden Zygofporen ſetzen ſich, weil ſpeciſiſch ſchwerer als das Waſſer — auf dem Grunde feſt und zwar ſo, daß der hyaline Pol, an welchem die Copulation ihren Anfang nahm, ab— wärts gekehrt erſcheint, während der grüne, dickere Hintertheil ganz ähnlich wie bei den zur Ruhe gelangenden und keimenden Makrozooſporen, aufwärts ſchaut. Die Zuygoſpore bildet nun eine Holzſtoffmembran, nach 2—3 Tagen find die beiden rothen Pigmentflecke erblaßt. Der grüne Inhalt zerſtreut ſich nach und nach im ganzen dickern Theil der Zygoſpore, während der hyaline Pol als Haftorgan oft in ein wurzelartiges Gebilde auswächſt. Das ganze Gebilde — ein geſchlechtlich erzeugtes Pflänzchen darſtellend — wächſt nun lang- ſam heran (Fig. 2 N ibis ın), der grüne Gehalt wird regelmäßig-körnig, die Mem— bran verdickt ſich und wird geſchichtet. Mittlerweile rückt der heiße Sommer heran; alle Ulothrixfäden verſchwinden, von der ganze Vegetation bleiben nur noch dieſe kleinen Zygoſporen-Pflänzchen auf dem Grunde des Gewäſſers übrig. Auch dieſe ſiſtiren für einige Zeit ihr Wachsthum und ent— wickeln ſich erſt weiter, wenn die kältere Jahreszeit wieder heranrückt. (Fig. 2 N ıv und v). Haben die Zygoſporen am Anfang der kalten Jahreszeit eine gewiſſe Größe erreicht, ſo differenzirt ſich ihr grüner Inhalt in 2, 3, 4-10 15 Schwärmſporen von ganz ähnlichem Bau, wie die Zooſporen der Fadengenerationen (Fig. 2 P vr bis ıx), Die reife Zygo— ſpore ſelbſt iſt alſo eine Schwärmſporen bildende Generation ohne Zweifel das An— fangsglied jener Kette raſch aufeinander folgender ungeſchlechtlicher Wintergenerati— onen, in deren Fadenzellen nur Makrozoo— ſporen entſtehen. Noch bleibt uns eine Frage zu beantworten übrig: Welches Schickſal erleiden jene Mikrozoo— ſporen, welche aus irgend einem Grunde die Paarung verfehlten, keine Copulation eingingen, ſon— dern iſolirt — ich möchte ſagen Cölibatäre — blieben? Die Ant— wort, welche uns die mühſam erforſchte Entwicklungsgeſchichte der Kraushaar-Alge auf dieſe wichtige Frage ertheilt, iſt nicht allein an und für ſich ſehr frappant, ſondern für die ganze Theorie vom Ge— ſchlechtsleben der Pflanzenwelt und für die Entwicklungslehre von eminenter Bedeutung. Ich theile in Kürze die von mir conſtatir— ten Thatſachen mit. Beim Schwärmen der Mikrozooſporen geſchieht es häuſig, daß die eine und andere der copulationsfähigen Schwärmſporen kein zweites Ich findet, um eine Paarung ein— gehen zu können, ſei es, daß ſie ſich zufällig abſeits von den übrigen Mikrozooſporen ver— irrt, oder daß ſie nur Schweſterzellen findet, — welche aus der gleichen Mutterzelle mit ihr geboren wurden und daher mit ihr keine Paarung einzugehen gewillt ſind, ſei es, daß ſie etwas länger in der Maſſe der zerflie— ßenden Umhüllungsblaſe eingeſchloſſen blieb | und erſt in Freiheit gelangte, als es zur Copulation zu ſpät war. Alle dieſe iſolirt ſchwärmenden Mikrozooſporen gelangen nach einiger Zeit ebenfalls auf dem Grund des Ge— wäſſers zur Ruhe, ganz ühnlich wie die Zygoſporen. Sie ſetzen ſich ebenfalls mit dem farbloſen Pol feſt, werfen ihre Cilien ab und — beginnen zu Sehr oft find allerdings dergleichen Mikro— zooſporen-Keimlinge ſo ſchwach, daß ſie früher oder ſpäter abſterben; häufig aber entwickeln ſie ſich ganz normal, im Anfang wohl etwas langſamer und unter mancherlei Erſcheinun— gen, die wir hier nicht beſprechen können (vergl. meine citirte Monographie), ſpäter aber wachſen fie ganz ähnlich wie die Keim pflanzen aus Makrozooſporen. Sie ver— mögen auch ſelbſt wieder Zooſporen zu bilden und verrathen alſo keinerlei Schwäche, trotz unterbliebener Copulation. Nicht ſelten findet man auch Ulothrix⸗ Fäden, in denen ſich Mikrozooſporen bilde— ten, ohne daß dieſe alle entleert wurden. (Fig. 1 L). Am häufigſten trifft man vier in einer Fadenzelle gefangen bleibende Grenze des Geſchlechtslebens. Mikrozooſporen (Fig. 2 K i)), die gar nicht zur Copulation gelangen und deshalb in der Mutterzelle ſelbſt zu keimen beginnen keimen. Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens. 229 alle 16 Mikrozooſporen gefangen blieben und trotz des engen Raumes zu keimen ver— mochten, 16 jungen Individuen das Daſein gebend. Nebenan ſehen wir in einer Zelle 16 degenerirte Mikrozooſporen, die bei unter- drücktem Schwärmen zu Grunde gingen. Durch dieſe Thatſachen iſt denn der ſchlagende Beweis geliefert, daß die Mikro— zooſporen von Ulothrix zonata, dieſe pri- mitipſten Geſchlechtszellen, noch nicht ſo weit differenzirt ſind, daß ſie durchaus und unter allen Umſtänden einen Sexualact ein— gehen müſſen, um einem neuen Individuum das Daſein zu geben, ſondern daß ſie, wie die Makrozooſporen, die Fähigkeit haben, auch ungeſchlechtlich an der Fortpflanzung theilzunehmen. Die Copulation erſcheint hier nur wie ein häufig eintretender glücklicher Zu— fall, der ebenſo gut unterbleiben kann, ohne daß die hierzu befähigten Fortpflan— zungszellen nutzlos zu Grunde gehen. In den Mikrozooſporen von Ulothrix wohnen gleichzeitig zwei Fähigkeiten:: Unge— ſchlechtlichkeit, durch Vererbung von den ungeſchlechtlichen Vorfahren überkommen, und Sexualität, letztere gleichſam erſt er— wachend, allmälig aufkeimend und daher (Fig. 2 L ik), während die übrigen, mit ihnen in der gleichen Zelle entſtandenen Schwärmſporen in Freiheit gelangten und eine Paarung eingingen. Dieſe letzteren bilden alſo Zygoſporen, während jene erſteren auf ungeſchlechtlichem Wege, ganz ähnlich wie die Makrozooſporen, neuen Fäden das Daſein geben. In Fig. 2 L ik“ habe ich eine Fadenzelle dargeſtellt, in welcher — — unbeſtimmten, unfertigen Charakters. Dieſe Pflanze ſteht alſo an der untern Ein kleiner Schritt rückwärts im natür- lichen Syſtem führt uns zu jenen niedrigen Gewächſen, die ſich blos durch Theilung fortzupflanzen vermögen. Ein kleiner Schritt vorwärts leitet da— gegen hinüber zu andern, etwas höher or— ganiſirten Pflanzen, bei denen die ſich paa— renden Geſchlechtszellen ſchon morphologiſch und phyſiologiſch ſich verſchieden verhalten und daher in männliche und weibliche Sexualzellen unterſchieden werden können. 850 Und das Räthſel der Partheno— geneſis, bei welcher unbefruchtete Ge— ſchlechtszellen trotz des Unterbleibens einer geſchlechtlichen Vereinigung zu entwicelungs- und fortpflanzungsfähigen Individuen her⸗ anwachſen können, löſt ſich mit einem Male ganz ungeſucht aus den Anfängen des Geſchlechtslebens überhaupt. Hier bei Ulo- thrix zonata erſcheint die Parthenogeneſis als Keimung einer Schwärmſpore, die eine Copulation mit einer andern gleichgearteten Zooſpore nicht eingeht. Dieſe Keimung von nicht⸗copulirten Mikrozooſporen vollzieht ſich in ganz derſelben Weiſe, wie bei den geſchlechtsloſen Makrozooſporen. Der Ge— danke liegt nahe, daß die Parthenogeneſis in letzter Inſtanz zurückzuführen iſt auf jene einfache ungeſchlechtliche Fortpflanzung durch ganz gewöhnliche Schwärmſporen. — Pringsheim hat in ſeiner epochemachen— den Arbeit „Ueber Paarung von Schwärmſporen, die morpholo— giſche Grundform der Zeugung im Pflanzenreich“ (Monatsbericht der Kgl. Acad. der Wiſſenſch. zu Berlin, vom Oktbr. 1869) eine Theorie aufgeſtellt, wo— nach alle die verſchiedenen Geſchlechtsprozeſſe der höheren Pflanzen nur mehr oder weniger modificirte Copulationsproceſſe urſprünglich gleichartiger Sexualzellen darſtellen. In der That bietet die vergleichende Entwickelungs— | geſchichte der Anhaltspunkte genug, um die Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens. Copulation von Schwärmſporen, wie ſie heute noch an manchen niedrigen Gewächſen ſich vollzieht, identiſch oder doch ähnlich war. Wir dürfen uns die Vegetation jener Urzeit nur als eine ſehr niedrig organiſirte, höchſt primitive vorſtellen. Damals waren noch keine höheren Gewächſe vorhanden. Keine Blume öffnete dem warmen Sonnenſtrahl ihren farbigen Kelch; noch taumelte kein Schmetter— ling, keine Biene von Blüthe zu Blüthe, um Honig oder Pollen zu ſuchen und Fremd— beſtäubung zu vermitteln, noch wetteiferten keine Gewächſe mit einander, um durch Far— benpracht, Nectar und Wohlgeruch die Gunſt der Inſekten zu erwerben: Gott Amor war noch nicht geboren — das Geſchlechtsleben der Pflanzenwelt ſchlummerte noch in der ungeſchlechtlichen Fortpflanzung der ſtillen Urmeer-Vegetation. Die Natur träumte noch nichts von der erſt werdenden Schöpfung des allmächtigen Liebelebens, das ſich erſt in den noch folgenden Weltzeiten ans dem Einerlei der ungeſchlechtlichen Fort— pflanzung herausdifferenziren und in den mannigfachſten Prozeſſen auf hunderterlei Weiſe entwickeln ſollte. Nach der Abſtammungslehre muß, wie wir bereits an anderer Stelle bemerkt haben, auch das Geſchlechts- oder Liebe-Leben der Pflanzen- wie der Thierwelt einmal in der | Pringsheim'ſche Anſicht, daß die Paa- rung der Schwärmſporen die morphologiſche Grundform der pflanzlichen Zeugung dar— ſtelle, mehr als bloß wahrſcheinlich erkennen zu laſſen. Wenn aber die Pringsheim'ſche Theorie wahr iſt, ſo müſſen wir den An— fang der Zeugung im Pflanzenreich als einen vor Jahrmillionen zum erſten Mal ſtattgehabten Proceß anſehen, der mit der einfachſten Form begonnen haben; denn die Natur macht keine Sprünge, ſondern ſchreitet in ihrem Vervollkommnungsproceß äußerſt langſam fort, unmerklich, ewig nach etwas Beſſerem taſtend, ſich in tauſend und millio— nen Verſuchen ergehend, um nur aus dem tauſendſten oder millionſten einen kleinen Nutzen zu ziehen. Aus der Summe kleinſter Abänderungen reſultiren die verwickelteſten und ſcheinbar weiſeſten Einrichtungen. Gelingt es uns, ein auch nur einiger— maßen der Wirklichkeit entſprechendes Bild Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens. von dem langſamen Entwicklungsgang der | lebenden Natur zu entwerfen, ſo dürfen wir uns glücklich preiſen. Allein die Vergangenheit, in wel— cher ſich die Entwickelungsgeſchichte der Pflan— zen- und Thierwelt abſpielte, bleibt uns zum großen Theil ein verſchloſſenes Land. Und dennoch dürfen wir die Zuverſicht haben, ihr die wichtigſten Geheimniſſe nach und nach abzulauſchen; denn ſie ſpiegelt ſich — wenn auch mit ſtellenweiſe verwiſchtem Bild — in der Gegenwart. Die Ent— wickelungsgeſchichte hat uns gezeigt, daß es heute noch hochorganiſirte Lebeweſen giebt, die während ihrer individuellen Entwickelung in kurzen Zügen auch die Geſchichte der Vorfahren wiederholen. Die moderne Bio— logie anerkennt mehr und mehr jenen Satz, in welchem Häckel ſein biogenetiſches Grund— geſetz zum Ausdruck brachte. Und die vergleichende Entwickelungsge— ſchichte hat uns offenbart, daß unter den heute lebenden Pflanzen und Thieren in manchen Fällen die verſchiedenen Entwicke- lungsſtufen, welche ein höheres Thier oder eine höhere Pflanze der Reihe nach von der Eizelle an bis zur Geſchlechtsreife zu durch— laufen hat, lebendig repräſentirt werden durch niedrigere Organismen, welche auf jenen tieferen Stufen ſtehen geblieben ſind, während der höhere Organismus bei ſeiner Entwickelung je noch um eine Stufe wei— ter ſchritt. Haben wir daher eine ganze Reihe ſol— cher in faſt unmerklich verſchiedenen Ent— wickelungsſtufen nach einer und derſelben Richtung auf einander folgender, aber der jetzigen Lebewelt angehörender Thiere oder Pflanzen vor uns, ſo ſpiegelt ſich in dieſer Abſtufung gleichſam die in der Vergangen— heit liegende allmälige Vervollkommnung des höchſtorganiſirten Thieres oder der höchſt— — 231 organiſirten Pflanze, wie ſie ſich ſeit den fernſten Vorzeiten aus den niedrigſten An— fängen zur jetzigen Höhe der Entwickelung vollzogen hat. In dieſem Sinne können wir alſo behaupten, daß wir das Höhere erſt dann richtig erkennen und verſtehen, wenn wir auch die Erkenntniß des Niedri— macht, ſondern das wichtigſte geren erlangt haben. Darum hat die Erforſchung der niedrigen Lebeweſen ein ſo großes Intereſſe gewonnen. Es iſt keine Caprice der Zeit, welche ſich in der emſig betriebenen Durchforſchung der niederen Pflanzen- und Thierwelt geltend Poſtulat, welches die Wiſſenſchaft an die moderne Bio— logie geſtellt hat. Den Fortſchritten auf dieſem neuerdings mit ſo großem Erfolg cultivirten Felde biologiſcher Forſchung iſt es zu danken, daß | wir heute ſogar ſchon wagen dürfen, von dieſem und jenem Lebeweſen mit vieler Wahrſcheinlichkeit zu behaupten, daß ſeine Vorfahren der Reihe nach auf dieſer und jener niedrigen Organiſationsſtufe geſtanden haben. So iſt denn auch die Erforſchung der Fortpflanzungsweiſe niedriger Gewächſe und Thiere von unberechenbarer Bedeutung für die Erkenntniß des höheren Geſchlechts— lebens. Nur aus der vergleichenden Entwicklungs— geſchichte konnte Pringsheim geſchöpft haben, als er ſeine Theorie von der Zeugung im Pflanzenreich aufſtellte. Mit der Copulation oder Paarung von Schwärmſporen ſoll das Geſchlechtsleben im Pflanzenreich den Anfang genommen haben. Wenn dem ſo iſt, ſo mußten dereinſt Ge— wächſe exiſtirt haben, bei denen dieſelben Schwärmſporen ſowohl zur Copulation, als auch zur ſelbſtändigen Keimung ohne Paarung befähigt waren. Die Copulation mußte in ihren erſten Anfängen ein ſcheinbar ganz - ©: 232 zufälliger Verſuch geweſen fein, eine vom glücklichen Zufall begünſtigte Erſcheinung, die ebenſo gut unterbleiben konnte, ohne dabei das Stattfinden der Fortpflan— zung durch die gleichen Schwärmſporen in Frage zu ſtellen, oder mit andern Worten: Wenn die Paarung von Schwärm— ſporen die morphologiſche Grundform der Zeugung im Pflanzenreich darſtellt, ſo mußten die erſten ſich copulirenden Zellen nicht allein unter ſich gleichwerthig erſcheinen, ſondern auch mit andern Schwärmſporen, die ſich nicht paarten und dennoch neuen Individuen das Daſein gaben, übereinſtimmen. Wir glauben, daß dieſe Schlußfolge— rung kaum anzufechten ſein wird. Die Frage iſt nur noch dahin zu ergänzen: Können wir Hoffnung haben, jemals den Nachweis zu leiſten, daß es einſtmals ſolche Pflanzen gab, die mit den beſchriebenen Schwärmſporen ausgerüſtet waren? Die Antwort wird entſchieden ver— neinend lauten; denn derartige vorwelt— liche Pflanzen waren zur Petrification kaum geeignet; welcher Palaeontologe wird zu hoffen wagen, jemals petrificirte Schwärm— ſporen zu entdecken, von denen 20—40 Millionen auf der Fläche eines Quadrat- zolles Platz haben? Aber dafür winkt uns eine Hoffnung als Erſatz in der lebenden Natur. Und dieſe einzige Hoffnung, die wir diesfalls hegen durften, wäre die Entdeckung einer lebenden Pflanze unſerer gegenwärtigen Vege— tation, die Entdeckung einer Pflanze, welche | erſt an der Schwelle des Geſchlechtslebens angekommen iſt und vor unſern Augen das wiederholt, was vor Jahrmillionen bei der erſten zum Liebeleben erwachenden Pflanze ſich vollzog. Iſt eine ſolche Pflanze ent: deckt, ſo gewinnt die Theorie Pringsheim's einen neuen kräftigen Stützpfeiler. 8 Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens. In der That haben wir dieſe Pflanze in unſerer Kraushaaralge (Ulothrix zonata) gefunden. Darin liegt die wiſſen⸗ ſchaftliche Bedeutung dieſer bislang unbe— achteten Algenfäden; denn ſie ſind zugleich eines der glänzendſten Belege für die Ent— wicklungstheorie. Sie variiren in fo hohem Grade, daß man früher die verſchieden— artigen Fäden einer und derſelben Art für Dutzende verſchiedener, ſelbſtändiger Species gehalten und ſie mit eigenen Artnamen be— nannt hat. Im Studium ihrer ganzen Entwicklungsgeſchichte, namentlich in der Verfolgung ihrer geſchlechtlichen und unge— ſchlechtlichen Fortpflanzungs-Erſcheinungen lernt der Biologe das Myſterium vom Anfang des pflanzlichen Geſchlechtslebens, wie in einem Spiegel feſt gehalten, zu ent- hüllen. Damit will ich keineswegs geſagt haben, daß die erſten Pflanzen, welche ſich aus der Ungeſchlechtlichkeit zur ſexuellen Fort— pflanzung erhoben haben, ſich genau jo verhielten, wie unſere Kraushaar-Alge. Nur der Entwickelungs-Modus bei dieſem Fortſchritt muß ein ähnlicher, morphologiſch betrachtet, in ſeinem Weſen ein identiſcher geweſen fein, wie wir ihn bei der Kraushaar— Alge nur zu deutlich ſkizzirt ſehen, um uns dieſes Gedankens erwehren zu können. Noch viel weniger möchte ich die Behauptung aufſtellen, das erſte geſchlechtlich ſich fort— pflanzende Gewächs ſei ein Organismus ge— weſen, der mit unſerer Kraushaar-Alge übereinſtimmte. Die Natur iſt überaus erfinderiſch und ſchafft bei übereinſtimmender Fortpflanzungsweiſe durch Zuchtwahl im Kampf ums Daſein aus den ewig ab— änderungsfähigen Organismen die mannig— faltigſten Geſtalten, wie wir dies bei jeder natürlichen Pflanzenfamilie oder Ordnung jederzeit erkennen müſſen. Durch ſolche Abänderungen entſtanden unter dem fortwährend thätigen Correktiv der natürlichen Zuchtwahl aus Jochſporen bilden— den Pflanzen jene höher differenzirten Ge— wächſe, welche Ei-Sporen bilden, indem die einen zur Paarung befähigten Schwärm— ſporen ruhig in ihrer Mutterzelle abwarten, durchaus paſſiv bleiben, bis ſie von den andern Geſchlechtszellen, die wirklich aus— ſchwärmen, aufgeſucht werden und eine Copulation eingehen. Wir nennen die den Paarungs- oder Befruchtungsakt abwartenden Fortpflanzungs— zellen Ei-Kugeln (Ooſphären). Sie ſind in der Regel um das Mehrfache größer, als die anderen allein ſchwärmenden Sexual- zellen, welche jene aufſuchen und gar oft noch unverkennbar die Organiſation von eigentlichen Schwärmſporen beſitzen. Dieſe beweglichen kleineren Fortpflanzungszellen, welche beim Paarungs-Akte allein aktiv find, nennen wir Spermatozoiden oder männliche Geſchlechtszellen, im Gegenſatz zu den paſſiven Eikugeln oder weiblichen Sexualzellen. Der Uebergang von den jochſporenbil— denden Pflanzen zu denjenigen mit typiſch geſchlechtlichen Fortpflanzungszellen, mit gro— ßen aber paſſiven Eikugeln und kleinen aber activen Spermatozoiden, iſt in der jetzt lebenden Vegetation ſo fein abgeſtuft, daß Dodel-Port, An der unteren Grenze des pflanzlichen Geſchlechtslebens. 929 233 ſich der Biologe ſchlechterdings des Gedan— kens der Abſtammung nicht erwehren kann. Andererſeits iſt aber auch die weitere Entwickelung von den eiſporenbildenden Pflanzen an bis hinauf zu den in höchſter Vollendung mit prunkenden Blüthen aus— geſtatteten Dicotyledonen durch alle wünſch— baren Zwiſchenſtufen ſo deutlich vorgezeichnet, daß der Botaniker ſich leicht darüber Rechen— ſchaft zu geben vermag, wie die höchſte Pflanze mit allen ihren coquettirenden Liebes— künſten ſchließlich als Endglied in der Reihe der Geſchlechtspflanzen allmälig reſultiren mußte. Und dennoch welche Kluft zwiſchen der im Waſſer untergetauchten Fadenalge mit ihren thierähnlich-herumſchwärmenden und ſich paarenden Mikrozooſporen einerſeits und dem duftenden, honigabſondernden Veil— chen andrerſeits, das ſich alle erdenkliche Mühe giebt, um gelegentlich von Inſekten beſucht, und der Fremdbeſtäubung unter— zogen zu werden! Aber dieſe Kluft iſt vollſtändig hinrei— chend überbrückt. Der Biologe durchwan— dert den anſcheinend ſchwindligen Steg zwiſchen den beiden Extremen des pflanz— lichen Geſchlechtslebens ſo ſicher, wie der Aſtronom mit ſeinem Teleſkop den Weg zwiſchen Polarſtern und Sirius. Die Anſchauungen des Thomas von Aquin über die Grundlütze der mechaniſchen Phyſik. Von Prof. Dr. S. Bünther. Ir s iſt zweifellos vom höchſten > EN Intereſſe, von dem erhöhten e Standpunkt, auf welchen die AR’ raſtloſe Forſchungsthätigkeit der Jahrhunderte geführt hat, einen Rück— blick auf die vergangene Zeit zu werfen und die naiven Anſichten früherer Forſcher einer vergleichenden Unterſuchung zu unter— ziehen. Vor allem wohl dürfte es den Tendenzen dieſer Zeitſchrift entſprechen, ſolche Excurſionen in's alte romantiſche Land zu unternehmen, und in der That brachte bereits die erſte Nummer derſelben aus der Feder eines der Redakteure einen bemerkens— werthen Artikel über eine originelle Epiſode aus der Vorgeſchichte der Entwickelungs— theorie. Wie aber im Gebiete des Orga— niſchen ſo dürfte ſich Aehnliches vielleicht noch mehr im Bereiche der exakten Natur— wiſſenſchaft empfehlen, wo doch zu keiner Zeit faſt die Auffaſſung in dem Grade getrübt war, wie in der Lehre von der Ent— ſtehung und Wechſelbeziehung der Organis— men. Und ſpeziell die Periode des ſog. Scholaſticismus verdient als eine ſolche hervorgehoben zu werden, welche ein nähe— res Eingehen auf ihre eigenartigen Verhält— niſſe reichlich lohnt. Das alte Vorurtheil, als ſeien die berufenen Vertreter der ſchola— ſtiſchen Lehre durchweg bornirte Köpfe ge— weſen, deren ganze Geiſteskraft beim Nach— denken über die Weſenheit der Engel, über Entität und Übiquität und ähnliche Prin- cipienfragen ſich aufgezehrt habe, dieſe ganz unhiſtoriſche und verfehlte Meinung hat ſeit dem Erſcheinen von Humboldt's Kosmos einen gefährlichen Stoß erlitten; man hat ſich gewöhnt, auch das Geiſtes— leben des dreizehnten Jahrhunderts als ein in ſeiner Art berechtigtes gelten zu laſſen, welches noch dazu in mannigfaltiger Weiſe anregend und befruchtend auf die Folgezeit eingewirkt habe. Daß zumal in naturwiſſenſchaftlicher wie Albertus Magnus und Roger Bacon eifrig und erfolgreich gearbeitet haben, weiß wohl jeder, der ſich überhaupt um das hiſtoriſche Werden unſeres jetzigen Richtung Männer Günther, Die Anſchauungen des Thomas von Aquin. Wiſſens kümmert; Jeſſen hat uns des Erſtgenannten Verdienſt um die Begründung einer rationellen Pflanzenkunde, Peſchel die zahlreichen guten Bemerkungen geſchildert, welche ſich in des vielgereiſten Mannes Schriften über vergleichend-geographiſche Beziehungen vorfinden, und auch darüber iſt man einig, daß in der Lehre vom Lichte kein zweiter Gelehrter des Mittelalters weiter über die griechiſchen Vorlagen hinaus— gegangen ſei, als jener engliſche Franzis— kaner. Gerade des Mannes aber, den uns die Titelworte dieſes Verſuches nennen, geſchieht weit ſeltener würdigende Erwäh— nung. Der Grund liegt freilich nicht eben ferne. Denn des heiligen Thomas — ſchon dieſes Epitheton kennzeichnet eine exceptionelle Stellung — hatte ſich ſchon bald ausſchließend die Gottesgelehrſamkeit bemächtigt, kein anderer Theoſoph der ſcho— laſtiſchen Periode hat auf die bczügliche Wiſſenſchaft einen ſo nachhaltigen Einfluß ausgeübt, als er, den die Kirche mit Stolz ihren Doctor angelieus nannte, und ſo kam unſchwer die Meinung auf, der von ſo vielen anderen und nach damaligem Zuſchnitt unendlich bedeutſameren Aufgaben in Anſpruch genommene Mann habe keine Zeit zur Beſchäftigung mit profanen Dingen übrig behalten. Allein es wäre ein ſchwerer Irrthum, dies zu glauben. An und flir ſich ſtand freilich der Aqui— nate mit der Erforſchung der Natur in keinem ſo engen Contakt wie ſein Lehrer Albert; er vermochte den betreffenden Gegenſtänden keine ſo ausſchließende Thätig— keit zuzuwenden als jener, der es ja auch zu einer weit über ein Menſchenalter höheren Lebensdauer gebracht hat, allein an Geiſt und Auffaſſungsgabe ſtand er ihm in keiner Weiſe nach. Eine ausführliche Dar— ſtellung des phyſikaliſchen Lehrgebäudes der 5 — 235 Scholaſtik kann und ſoll natürlich an dieſer Stelle nicht gegeben werden; wir werden uns vielmehr darauf beſchränken, zu ermit— teln, welche Stellung Thomas zu einigen Hauptfragen der Phyſik einnahm, ſpeziell zu ſolchen Fragen, welche zu den brennen— den der Neuzeit gerechnet werden müſſen. So reizvoll derartige Studien auch ſind, ſo tragen ſie doch gleichwohl in ſich den Keim einer gewiſſen Gefahr, denn nur all— zunahe liegt die Möglichkeit — und zahl— reiche abſchreckende Exempel laſſen ſich der Wiſſenſchaftsgeſchichte entnehmen die Ausſprüche der Vergangenheit mit allzu günſtigem Auge zu betrachten und da, wo es ſich vielleicht nur um unklare inhaltsloſe Redensarten handelt, ſofort Divinationen, wo nicht Anticipationen des Richtigen und Modernen zu erblicken. Mehrfache Uebung ſoll uns, ſo hoffen wir, davor behüten, in dieſen Fehler zu gerathen und nicht minder das andere Extrem, an welchem die neuere Geſchichtsſchreibung nicht ſelten krankt, zu vermeiden: gänzliche Mißkennung früherer Verhältniſſe. Obwohl die meiſten philojophiich-theo- logiſchen Werke des gelehrten Heiligen ge— legentliche Aphorismen über ſolche Punkte bieten, welche uns hier intereſſiren, ſo kommt doch vor Allem für unſeren Zweck der umfängliche Commentar in Frage, mit welchem er das bekannte kosmologiſche Werk!?) des Meiſters Ariſtoteles aus— geftattet hat. An dieſen Commentar wer- den wir uns demzufolge beſonders anzu— ſchließen haben, doch wird dabei ſelbſtver— ) Jene Ausgabe, auf welche wir im Nachſtehenden beſtändig recurriren, iſt folgende: Aristotelis Stagiritae peripateticorum prin- eipis Libri de coelo et mundo una cum divi Thomae Aquinatis praeclarissimo commen- tario, Venetiis MDXLIII. EN 236 Günther, Die Anſchauungen des Thomas von Aquin. ſtändlich auch auf andere gelegentliche | ſelben die Form als geſtaltendes Element Aeußerungen Rückſicht zu nehmen ſein. Und weiterhin werden wir eine Auswahl zu treffen haben betreffs der Materien, welche wir voranſtellen wollen. Die mecha— niſche Phyſik unſerer Tage legt bekanntlich ein Hauptgewicht auf die jetzt völlig außer Zweifel geſtellte Identität zwiſchen Wärme und Arbeit, aus welcher Thatſache dann unmittelbar die Unmöglichkeit einer in's Unendliche ſpontan ſich fortſetzenden Arbeits— leiſtung oder, vulgär zu reden, eines Per— petuum mobile, entſpringt. An dieſe Er— rungenſchaften des neunzehnten Jahrhunderts wollen wir denn auch an dieſer Stelle an- knüpfen; wir wollen erſtens zuſehen, wie ſich der heilige Thomas zu der Frage einer ewig⸗continuirlichen Bewegung ſtellt, und zweitens wollen wir ſeine Doktrinen über Weſen und Entſtehung der Wärme kennen lernen. Intereſſante Vergleichungs— punkte werden uns bei dieſer unſerer Ana— lyſe nicht fehlen können. Die ſcholaſtiſche Phyſik, wie ſie ſich aus den Schriften des Ariſtoteles allmählich herausbildete*) ging von dem Grundſatze aus, daß vom Anfang an, d. h. durch direkten Schöpfungsakt, die Materie als eine chaotiſche Maſſe exiſtire; indem zu der— ) Das Schriftchen des Eichſtädter Lyceal— profeſſors M. Schneid: „Die ſcholaſtiſche Lehre von Materie und Form“ (Programm von 1873, ſeitdem aber in vielfach erweiterter Ge— ſtalt zum zweitenmale herausgegeben) iſt Allen denen auf's Beſte zu empfehlen, welche ſich über die charakteriſtiſche Eigenſchaft peripate— tiſch⸗ſcholaſtiſcher Naturkenntniß unterrichten wollen. Allerdings ſteht der Autor ſelbſt ganz auf dem Boden, den er vertheidigt, in— deß berückſichtigt er auch ziemlich umfaſſend den Standpunkt der Neueren und iſt über— haupt ſo unparteiiſch, als man es nur er— warten kann. hinzutrat, entſtand die Außenwelt. Vorerſt aber noch bewegungslos, ſtarr. Damit ſich auch die Veränderung erklären ließe, bedurfte es noch eines dritten Etwas, wel— ches als „Privatio“ bezichnet ward. Dieſe drei integrirenden Beſtandtheile nun genügten der Scholaſtik, um ſich mit ſämmtlichen be- kannten Erſcheinungen der Natur leidlich auseinanderzuſetzen, und es wird dieſe Art der Syſtematik, ſo fremdartig ſie dem Zeitalter der empiriſchen Naturforſchung immer erſcheinen mag, doch dem vagen Spiel mit nichtsſagenden Qualitäten vor— gezogen werden müſſen, in dem ſich die Naturphiloſophie der Hegel-Schelling'⸗ ſchen Schule gefiel. Die Frage, ob es in der Natur Be- wegungen von ewiger Dauer geben könne, hatte fich bereits Ariſtoteles vorgelegt und mit Nein beantwortet. Daß Thomas, der ſich in ſo fundamentalen Lehren ſelbſtver— ſtändlich gerne an ſein Vorbild anlehnt, zu dem gleichen Schluſſe gelangt, kann uns ſonach gleichgültig ſein, wohl aber iſt ſeine Motivirung von Intereſſe. „Es iſt nicht vernunftgemäß“, ſo argumentirt er (S. 38 der genannten Edition) „irgend einen Körper als ewig dauernd und abſolut unveränder— lich anzunehmen; wenn aber dies richtig iſt, ſo kann auch die Bewegung, welche wir uns ja von dem Körper unmöglich losgelöſt zu denken im Stande ſind, jene Eigenſchaft beſitzen“. Offenbar iſt dieſer Schluß ſelbſt nach damaligen Forderungen noch kein völlig zwingender, denn es wäre ja denkbar, daß jeder Körper die ihm inhärirende Bewegung noch vor ſeinem Vergehen an einen anderen übertrüge, und daß ſolchergeſtalt in einer, unaufhörlichen Vernichtungen und Neubil- dungen unterworfenen, Körperwelt gleichwohl ein ſtetig andauernder Bewegungszuſtand ſich erhielte. Die Behauptung muß ſomit noch durch anderweite Gründe geſtützt wer— den. „Die ſämmtlichen Körper,“ ſo heißt es weiter, „beſtehen aus den vier Elementen, und jedem dieſer vier Urſtoffe iſt von An- fang an eine gewiſſe, nicht mehr zu ändernde Bewegungsform eingepflanzt, und zwar iſt dieſelbe geradlinig“. Würde jedoch ein Körper in gerader Linie ſich ohne Aufhören fort— bewegen können, ſo würde dadurch — dies iſt nicht formell ausgeſprochen, aber ſelbſt— verſtändlich — der oberſte Grundſatz von der Endlichkeit der Welt negirt, und es kann keine ſolche Bewegung geben. Dieſe Art zu ſchließen bedarf für Jeden, dem die übliche Denk- und Redeweiſe der peripatetiſchen Philoſophie nicht klar vor Augen ſteht, einer Erläuterung. Der Kos— mos (Makrokosmos) bildete ein einziges, gewiſſermaßen organiſirtes Ganzes von end— licher, wenn auch unbeſtimmt großer Aus— dehnung. Daß dem wirklich ſo ſein müſſe, dafür hatte der große Albert von Boll— ſtädt mit Aufgebot der feinſten Syllogis— men den „unumſtößlichen“ Beweis erbracht.“) Nicht minder feſt ſtand die Ueberzeugung, daß es fünf „Elemente“ gebe, deren vier ausſchließlich auf der Erde ſich fänden, wäh— rend das fünfte nicht minder ausſchließlich das Material zur Bildung der Himmels— körper abgegeben habe. Von jenen vier erſten waren zwei, Erde und Waſſer, ab— ſolut ſchwer, zwei andere, Luft und Feuer, abſolut leicht; erſtere ſtrebten nach dem ) In ſeiner unlängſt veröffentlichten Schrift „Die Lehre von der Erdrundung und Erdbewegung im Mittelalter“ iſt der Verf. dieſes jener Lehre näher getreten. Es ward dort ferner gezeigt, wie auch der hervor— ragendſte unter den jüdiſchen Scholaſtikern, Moſes ben Maimon, ausſchließlich in dieſen kosmologiſchen Vorſtellungen lebte und webte. Günther, Die Anſchanungen des Thomas von Aquin. 237 Weltcentrum, welches ja mit demjenigen der | Erde identiſch war, hin, letztere ſuchten ſich von ihm zu entfernen; immer aber konnte dieſe ihnen anerſchaffene Bewegung nur in gerader Linie vor ſich gehen. Den Geſtirnen freilich auf der anderen Seite war ebenſo von Anfang an eine „vollkommene“ kreis— förmige Bewegung incorporirt, und ſie werden alſo von den namhaft gemachten Einwänden Thomas' in keiner Weiſe mit betroffen. Allein dies durfte auch nicht geſchehen. Denn die Körper des Himmels waren aus überirdiſcher ätheriſcher Materie zuſammen— geſetzt, eine beſonders zugetheilte Intelligenz“, welche ſich die frommen Scholaſtiker wohl am liebſten unter dem Bilde eines Engels dachten, regulirte ihre Bewegungen, und ſo war nicht abzuſehen, warum dieſe Cirkel— bewegung keine ewige ſein ſollte. Auf den Himmel erſtreckt ſich ſonach die ganze Be— weisführung nicht, für die Erde aber er— hellt: Jede Bewegung muß nothwendig einen Anfang und ein Ende haben, kann nicht ewig andauern, und ſo kann es alſo auch kein Perpetuum mobile geben. Stich- nichts beſſeres zu erlangen, und ſo dürfen wir es immerhin bedauern, daß man den an ſich richtigen Lehrſatz ſo ganz ignorirte. Eine große Summe von Denkkraft und techniſchem Genie, welche beim Verſuche, et— was Unmögliches zu bewältigen, darauf ging, wäre ſo für beſſere und realiſirbare Zwecke aufgeſpart geblieben. Vielleicht iſt es angezeigt, der Begrün— dung des Scholaſtikers diejenige des neun⸗ zehnten Jahrhunderts gegenüberzuſtellen. Von dem bereits vor längerer Zeit erkannten Hinderniß, welches Reibung und Widerſtand des Mittels (welch' letzterer ſich auch der fr 238 Hauptſache nach auf Reibung der bewegten | | Luft⸗ oder Waſſertheilchen zurückführen läßt) jeder Bewegung entgegenſtellen, muß dabei reine Principienfrage handelt. müſſen wir geſtehen: Erſt die letzten Jahre haben uns in den Stand geſetzt, a priori die Unmöglichkeit einer unendlich andauern— den — wenn auch von allen Hemmniſſen befreiten — Bewegung darthun zu können. Indem ein Körper ſich bewegt, leiſtet er eine gewiſſe Arbeit, und durch dieſelbe muß Wärme conſumirt werden; einer in Ewig— keit fortdauernden Arbeitsleiſtung würde alſo die Vernichtung des geſammten Wärme— vorrathes und damit abſolute Erſtarrung nachfolgen müſſen. Abgeſehen von dieſer Thatſache, welche jedoch nur beſteht, wenn eben durch die Bewegung zugleich mechaniſche Arbeit bedingt iſt, würde uns nichts hin— dern, einen (maſſeloſen) Punkt mit gleich— förmiger Geſchwindigkeit ſich ſtetig fortbe— wegen zu denken. Denn wir ſtellen uns den Raum nicht allein als unbegrenzt, ſon— dern auch als unendlich vor. Wer freilich die Möglichkeit oder doch Nothwendigkeit der letzteren Eigenſchaft in Abrede ſtellt, der muß ſelbſt einen ſolchen Bewegungs— modus wie den zuletzt angeführten für un— ſtatthaft erklären und ſich alſo im Weſent— lichen zu der Anſicht des Thomas Aquinas bekennen. Des allgemeinen Intereſſes halber, welches die neueren Raumtheorien vielfach erregten, möge noch einen Augenblick bei dieſem Gegenſtande verweilt werden. Be— kanntlich hat, geſtützt auf gelegentliche Be— merkungen von Ganß, der Göttinger Riemann die Theorie eines „unebenen“ Raumes ausgebildet, der zwar nirgendwo eine Grenze habe, in dem aber gleichmäßige Bewegungsfähigkeit nach allen Richtungen hin nicht nothwendig ſtattzuhaben brauche. Und da | | | | | Günther, Die Anſchauungen des Thomas von Aquin. Gerade Linien laſſen ſich in einem ſolchen Raume überhaupt nicht vorſtellen. Bis vor Kurzem mochte die Lehre vom Riemann'- abgeſehen werden, indem es ſich um eine ſchen Raum einfach als eine metamathe— matiſche Doctorfrage erſcheinen, um welche die im euklidiſchen Raume ſich wohlfühlende Naturwiſſenſchaft ſich nicht zu kümmern brauche; allein ſeit Zöllner's berühmtes Kometenwerk erſchien, iſt das anders ge- worden, denn dieſer Phyſiker hat ſich bei ſeinen Unterſuchungen über die Vertheilung und den Gleichgewichtszuſtand kosmiſcher Maſſen veranlaßt geſehen, die „Welt“ als ein Geſchloſſenes, in ſich Zurückkehrendes aufzufaſſen. In einer ſolchen Welt ver— bietet ſich die Annahme einer continuirlichen, niemals aufhörenden Bewegung von ſelber, und man erkennt ſo, daß die auf die höchſte Spitze getriebene Verfeinerung unſerer kos— mologiſchen Vorſtellungen im Weſentlichen wieder auf jene enge Anſchauung von einer endlichen Welt mit begrenzter Beweglichkeit der Beſtandtheile zurückführt, an welcher ſich das Kindeszeitalter der mechaniſchen Wiſſenſchaft hatte genügen laſſen. — Wenden wir uns nun zum zweiten Theile unſeres Themas und ſtellen wir uns die Frage: Wie dachte die Scholaſtik und ſpeciell deren berufenſter Vertreter Thomas über die Wärme und deren Verhältniß zu an— deren phyſikaliſchen Grundeigenſchaften? Der Commentar zum Ariſtoteles liefert uns hierüber den wünſchenswertheſten Aufſchluß.“) Es erhebt ſich zunächſt das Dilemma: Entſtehen Wärme und Licht gleich— mäßig aus den Geſtirnen, oder hat es mit ihrer Erzeugung eine andere Bewandniß. Dem Meiſter zufolge wäre von Erſterem ganz abzuſehen, und Thomas giebt ihm ) Die Erwägungen, aus denen im Fol- genden eine Analyſe mitgetheilt wird, begin— nen auf Blatt 42 unſerer Vorlage. ER ri, Günther, Die Anſchauungen des Thomas von Aquin. 239 theilweiſe Recht. „Die Sterne“, jagt er, „find an und für ſich nicht von feuriger Natur,“) ſondern ſie produciren Wärme und Licht dadurch, daß ſie bei ihrer Bewegung durch die Himmelsräume die Luft zuſammenpreſſen. Sieht man doch, daß durch Bewegung ſelbſt ſolche Stoffe, wie Stein und Eiſen, erhitzt und ſelbſt in Brand geſetzt werden können, welche dem Elemente des Feuers von Haus aus ſehr ferne ſtehen; wie viel mehr iſt dies alſo von dem nahe verwandten Elemente der Luft zu erwarten.“ Hier bezieht ſich der Scholaſtiker auf faktiſch beobachtete Erſchei— nungen, welche wir fünf Jahrhunderte ſpäter auch von Rumford bei der Conception der mechaniſchen Wärmetheorie verwerthet finden. Ein die Luft durchſchwirrender Pfeil, ſagt er, kann ſo heiß werden, daß „ex vehementia motus“ das Blei von feiner Spitze abzuſchmelzen beginnt — bekanntlich tritt dieſe Erſcheinung bei unſern mit ſo bedeutend größerer Geſchwindigkeit fortge— ſchleuderten Flinten-Projektilen noch weit eklatanter hervor, indem beim Auftreten der Geſchoſſe ein beträchtliches Quantum mecha— niſcher Arbeit mit einem male vernichtet und in Molekular-Arbeit oder Wärme um— ) Principiell ſtand eben Thomas doch noch ganz bei der alten Lehrmeinung, welche in der Materie der himmliſchen Körper etwas Beſonderes, Extratelluriſches erblickte. Schon deshalb konnte ein thomiſtiſcher Philoſoph eigentlich an die feurige Beſchaffenheit der Geſtirne nicht glauben. Und doch war, wie wir uns gleich nachher überzeugen werden, der Stifter dieſer Schule ſo vorurtheilsfrei, fi) theilweiſe von jenen Dogmen zu eman— cipiren; noch weit energiſcher erklärte ſich dagegen ſein Gegner, der als Vater des No— minalismus hochberühmte Duns Scotus. Wir entnehmen dieſe Daten Schneid's intereſſanter Monographie „Ariſtoteles in der Scholaſtik“, Eichſtädt 1875. geſetzt wird. Drum hat Thomas, der das Auftreten der Wärme lediglich aus der Bewegung herleitet, unzweifelhaft den Hergang richtiger erfaßt, als jener Alexan— der,“) gegen deſſen Theorie er polemiſirt, und der dafür hält, die erwärmte Luft er— hitze erſt den Pfeil. Wie kommt es nun aber, ſo lautet ein weiterer Einwurf, daß die Wärme, welche uns aus dem Himmelsraume zugeführt wird, nicht immer quantitativ die nämliche iſt, ſondern ſowohl eine tägliche als jähr— liche Periode einhält? Die Gründe dieſes Wechſels liegen natürlich in der verſchiedenen Entfernung und Stellung der Sonne gegen die Erde, allein es bleibt noch unterſchieden, wie ſich dieſe unleugbare und augenfällige Thatſache aus dem früher normirten Zu— ſammenhang zwiſchen Wärme und Bewegung ableiten läßt. Averross betrachtet es ſchlecht— hin als eine Grundeigenſchaft des Warmen, zugleich ein Bewegliches zu ſein, allein die Troſtloſigkeit dieſer Definition und beſonders deren gänzliche Unzulänglichkeit für die von ihm aufgeworfene Frage leuchtet dem Aqui— naten ſehr deutlich ein. „Beweglich,“ meint er, „iſt jeder Naturkörper, er ſei warm oder kalt, und die in Kreiſen umlaufenden Himmelskörper haben mit Wärme oder Kälte ihrer Weſenheit nach gar nichts zu thun.“ Und zweitens iſt des Arabers Deu— tung ein Hyſteron Proteron; die Bewegung als Urgrund der Wärme betrachten, heißt nichts anderes als den cauſalen Zuſammen— ) Dieſer Alexander ab Hales, ein Britte, gehört zu den älteren Vertretern der wiſſenſchaftlichen Scholaſtik. Obwohl mehr der theologiſchen als der philoſophiſchen Seite dieſer Richtung zugethan, genoß er doch als Doctor irrefragibilis eine große Autorität, und ſpeciell Thomas beruft ſich gern auf ihn, wiewohl nicht durchaus zuſtimmend. 240 hang umkehren und die Wirkung zur Ur— ſache ſtempeln. Für ihn ſelbſt, den hl. Thomas, iſt die Wärme eine „Alteration“ der Körper in Folge der Bewegung. Der eigentliche Begriff, der mit jenem Terminus verbunden wird, erſcheint nun allerdings nach unſerem Gefühle durchaus nicht klar geſtellt, er iſt viel zu ſehr mit Worten umwickelt, die nach heutigen Anſchauungen keinen reellen Inhalt repräſentiren und wohl auch damals nur theilweiſe repräſentirten. Indeß ſcheint es doch ſo ziemlich ſicher, daß jene Altera— tion als eine Zuſtandsänderung der den Körper bildenden Partikeln aufgefaßt wurde, welche ſich nach außen hin als Wärme— Erſcheinung fühlbar machte. Dafür, daß wir in die Worte des Autors nicht einen zu hohen und fremdartigen Sinn hinein⸗ legen, können wir aber glücklicherweiſe noch aus anderen Schriften desſelben einzelne Zeugniſſe beibringen. In ſeiner Diſputation „de potentia“ erklärt er ausdrücklich die Wärme als reine Bewegungserſcheinung, und in der durch ihre philoſophiſchen Aper- eus intereſſanten Abhandlung „von der Seele“ läßt er Licht und Wärme durch Zuſammendrückung und Expanſion eines den Raum erfüllenden Mediums entſtehen. So wenig hiſtoriſch es ſein würde, nun gleich den Thomas von Aquin zum Schöpfer der modernen Euler-Fres— nel'ſchen Lichtlehre zu erheben, jo verdient doch auf der andern Seite die Entſchieden— heit Beachtung, mit welcher er ſich gegen die grobſinnliche Emiſſionshypotheſe und die ſpezifiſchen Licht-Atome des Democrit er— klärt. In Zuſammenhang mit dieſer ſeiner correkteren Auffaſſung der Lichtphänomene mag es auch ſtehen, daß er in eben dieſem Commentar zum ariſtoteliſchen Werk „de Günther, Die Anſchauungen des Thomas von Aquin. reelle Thaͤtſache gegen die dem zuwider— laufenden Velleitäten des Stagiriten ver— theidigt *). Nehmen wir jetzt den Faden unferer Schilderung wieder auf. Thomas tritt, nach— dem die Art und Weiſe der Wärmewirkung der Geſtirne (Sonne) wenigſtens zum Theile feſtgeſtellt iſt, in die Discuſſion der Um— ſtände ein, welche eine Einwirkung der Sternwärme auf unſere Atmoſphäre er— möglichen. Angeſichts der heftigen Kämpfe welche in allerneueſter Zeit die Streitfrage der fernewirkenden Kräfte provocirt hat, iſt die naive und doch durchaus nicht geiſt— loſe Löſung des alten Forſchers recht be— merkenswerth. Der Fabuliſt Plinius erzählt uns — und der arabiſche Natur- hiſtoriker Kazwini betet es ihm getreulich nach — daß ein Fiſch, Stupor oder Schrecken benamſt, wenn er in's Netz ge— räth, dem dieſes Netz in der Hand halten— den Fiſcher einen Schauer einzuflößen ver— mag, von welchem das die Bewegung ver— mittelnde Garn gänzlich unberührt bleibt. So denkt er ſich, müſſe es auch im Kosmos ergehen; die z. B. von der Sonne als Agens ausgehende Alteration überträgt ſich von Sphäre zu Sphäre; dieſe ſelbſt er- leiden gar keine Störung, aber die letzte von ihnen, an welche die irdiſche Lufthülle angrenzt, giebt den ihr zugeführten Ein— druck an dieſe weiter und bewirkt ſo in letzter Inſtanz die mehr oder minder inten— five Wärme -Erregung des Luftkörpers. Wären dem hl. Thomas die Geſetze des ) Für einzelne Individuen tritt, wie Schneid (S. 87) bemerkt, Thomas aller- dings der Ariſtoteliſchen Lehre bei. Jedenfalls bekundet er einen freieren Blick, als der in Fragen der Naturkunde ihm ſonſt überlegene Roger Bacon, der die Seintillation als coelo* das Funkeln der Sterne als eine eine bloße Geſichtstäuſchung anfieht. 0 elaſtiſchen Stoßes bekannt geweſen, er hätte mit allem Fug das beliebte Experiment von den in einer Reihe aufgehängten Billard— kugeln als Analogon dieſer neutralen Be— wegungs- Uebertragung namhaft machen können. — Zu einer Zeit, welche zwiſchen Wärmeleitung und Wärmeſtrahlung noch keinen Unterſchied zu machen verſtand, iſt dieſe Denkweiſe wohl kaum auffällig zu nennen ). Die Phänomene der Diathermanſie ſchaffen unſerem Gewährsmanne überhaupt viel Kopfzerbrechen; es iſt ihm nicht recht erklärlich, wieſo es auf hohen Bergen, die doch dem wärmeſpendenden Organ weit näher ſind, kälter ſein ſoll als in der Ebene. Hätte Simplicius, der Licht und Wärme durch die „Poren“ der Luft ſich verbreiten ließ, das Richtige getroffen, ſo ließe ſich dafür ſchon eher eine Erklärung geben, allein — und damit kommt Thomas auf ſeine Undulationstheorie zurück — der Licht— und Wärmeſtrahl iſt ſicherlich kein „Deflux“ des betreffenden Körpers. Zum Schluß werden auch den gegenſeitigen Wechſelbe— ziehungen zwiſchen Licht und Wärme einige Worte gewidmet, beide ſind unzertrennlich, und jede Lichtgattung hat die Kraft zu er— wärmen (vis calefactiva), ſogar das Mond— licht. Wie lange dauerte es, bis dieſer richtigen Ahnung durch die ſchönen Experi— mente eines Melloni und Piazzi Smith die erfahrungsmäßige Beſtätigung zu Theil ward! ) Es ſcheint wahrſcheinlich, daß Tho— mas die Kryſtallſphären des Ariſtoteles nicht völlig billigte; denn wäre ſeine Ortho— doxie untadelhaft geweſen, ſo hätte die Durch— leitung der Kraftanregung durch die durch— ſichtigen, ja weſenloſen Kugelſchalen wohl kaum Schwierigkeiten verurſacht. So läßt ja auch Dante in ſeinen kosmiſchen Poeſieen Licht und Wärme ohne jedes Hinderniß vom Empyreum zur Erde wandern. Günther, Die Anſchauungen des Thomas von Aquin. 241 Im Allgemeinen iſt die Entwicklungsweiſe unſeres Philoſophen keine ſo leicht dahin fließende, daß es ſehr leicht wäre, ſeine Anſichten in kurzen, präciſen Theſen zu— ſammenzufaſſen. Seine Wärmetheorie jedoch macht eine lobenswürdige Ausnahme, denn mit wenigen markigen Zügen entwirft er von jener folgendes Bild: „Zweifach ſind die Quellen der Wärme; als die eine iſt die Bewegung der Himmelskörper zu be— trachten, welche Wärme erzeugt und den irdiſchen Körpern übermittelt, die andere Quelle iſt das Licht.“ — Der erhabene Standpunkt der modernen Thermodynamik hat allerdings dieſe beiden anſcheinend ver— ſchiedenen Urſachen einheitlich aufzufaſſen gelehrt, und wir wiſſen zur Zeit, daß die Sonnenſtrahlen gewiſſermaßen als der einzige Motor für alle auf unſerem Planeten thätigen Kräfte gelten müſſen, allein zur Zeit des eben erſt aus der Finſterniß der Kreuzfahrerzeit ſich emporſchwingenden ſcho— laſtiſchen Gelehrtenthums war die Erklärung des „engliſchen“ Lehrers eine ſolche, die nicht nur ſeine Zeitgenoſſen, ſondern auch noch manches ſpätere Jahrhundert vollauf zu befriedigen im Stande ſein mußte. Hiermit können wir denn auch unſere Skizze als beendigt betrachten. Die Ge— ſchichtsforſchung auf phyſikaliſchem wie auch auf philoſophiſchem Gebiete hat ſich der unerläßlichen Pflicht, auch die ſcholaſtiſche Uebergangsperiode als ein nothwendiges Glied in der Entwickelungsgeſchichte der Wiſſenſchaft eingehend zu ſtudiren, bislang allzuſehr entzogen; ſie wird das nachholen müſſen, und für junge hiſtoriſche Kräfte findet ſich hier reichſter Arbeitsſtoff für monographiſche Themata. Vorſtehende Zeilen ſollen wenigſtens dazu helfen, das Eis zu zu brechen; wir geben uns der Hoffnung hin, daß das Endreſultat unſerer Unter— 8 Günther, Die Anſchauungen des Thomas von Aquin. | ſuchung von künftigen Bearbeitern der mittel- erſt ſeit Begründung der neueren mechaniſchen alterlichen Wiſſenſchaftsgeſchichte nicht außer Phyſik im richtigen Lichte erſcheinen. Speciell Acht gelaſſen werde. Dieſes Reſultat iſt hervorzuheben iſt ſeine originale und an die folgendes: moderne Schwingungstheorie wenigſtens an— Wenn auch vielfach beengt durch | klingende Definition von Licht und Wärme die ſtarren Dogmen des aprioriſtiſchen als verſchiedenen Ausdrucksformen eines und Ariſtotelismus hat doch Thomas A qui- deſſelben intermolekularen Bewegungszu— nas als der Erſte richtigere Anſichten über ſtandes. ſolche Gegenſtände ausgeſprochen, welche uns ;—Ü— kx — —-—t—̃ P „ * u” e 7 N 7 4 — 7 e Tamarck und Darwin. Lin Beitrag zur Geſchichte der Enkwicklungslehre. Von Dr. Arnold Tang. III. Die „Hydrogeologie* Lamarcks. N 7 RR) 1 12 er, 5 ON ur forſcher, der fo allſeitige Stu— I dien gemacht und über das Q Geſammtgebiet der Natur- wiſſenſchaften ſo umfaſſende Studien auf— geſtellt hat, als Lamarck. Von ſeinem 20. bis 49. Jahre hatte er ſich vorwie— gend mit Botanik beſchäftigt. Außer der „Flore francaise* hatte er das klaſſiſche „Dictionnaire de Botanique“ zur „En- eyelopedie methodique“ von Diderot und d' Alembert geſchrieben, ferner ein großartiges Werk unter dem Titel „Illu— stration des Genres“. Während dieſer Zeit hatte er ſich außerdem mit Phyſik, Che— mie und Meteorologie beſchäftigt. — Die Idee, daß alles, was wir beobachten kön— nen, geſetzmäßig und natürlich vor ſich gehe, hatte ſchon frühzeitig im Geiſte La— marck's Wurzel gefaßt. Als er, der A überhaupt ſein ganzes Leben lang mit Noth und Entbehrung zu kämpfen hatte, unter den kümmerlichſten äußeren Verhält— niſſen von ſeinem 20. bis 24. Lebensjahre in Paris Medizin ſtudirte und ein kleines armſeliges Dachſtübchen bewohnte, welches ihm nur die Ausſicht auf den Sternen— himmel geſtattete, gab er ſich, überzeugt, daß auch in den ſcheinbar ſo ungeordneten und zuſammenhangloſen Veränderungen der Atmoſphäre Geſetzmäßigkeit herrſche, der Beobachtung der Wolken und Witterung hin. Obſchon nun alle meteorologiſchen, chemiſchen und phyſikaliſchen Theorien La— marck's keinen Werth für die exakte Wiſſenſchaft haben, da ſie nicht auf dem Experiment fußen, ſo ſind ſie doch höchſt charakteriſtiſch für ſein Streben, im Wechſel der Erſcheinungen das Geſetzmäßige aufzu⸗ finden. Noch bis zu Anfang dieſes Jahr— A 32 hunderts beſchäftigte er ſich mit den ge— nannten Zweigen der Naturwiſſenſchaft. Er wollte ſeine ſämmtlichen Beobachtungen und Theorien in einem einzigen großen Werke zuſammenfaſſen. Dieſes Werk ſollte den Titel „Physique terrestre“ führen und in drei Theile zerfallen. Im erſten Theile, der „Hydrogéologie“, wollte er die Entſtehung der gegenwärtigen äußeren Erdkruſte erklären; im zweiten, der „Mé— téorologie“, die Atmoſphäre und ihre Veränderungen behandeln, und im dritten, der „Biologie“, ſeine allgemeinen Betrach— tungen und Theorien über die Organismen niederlegen. Dieſes Vorhaben hat Lamarck indeſſen nicht vollſtändig ausgeführt. Die „Meteo- Jahre 4801. rologie“ blieb ungeſchrieben, mehrere kleine Schriften über dieſe Wiſſenſchaft hat er um die Wende des Jahrhunderts heraus— gegeben. Ebenſo hat er auch die „Biologie“ nicht geſchrieben, hat aber in ſeinem kleinen Werke „Recherches sur organisation des corps vivans“ die Anſichten, die er in derſelben ausführlich darlegen wollte, kurz zuſammengefaßt. Wir können indeſſen die „Philosophie zoologique* für feine „Biologie“ halten, da ſich die darin nie— dergelegten Betrachtungen nicht blos auf die Thiere, ſondern zum großen Theile auch auf die Pflanzen erſtrecken. Von allen drei Theilen erſchien in der urſprüng— lich beabſichtigten Form nur die „Hydro- geologie*, die für uns von Intereſſe iſt; denn es iſt klar, daß Verallgemeinerungen über die Entſtehung der Organismen ſich im Einklang befinden müſſen mit den Thatſachen der Geologie und den durch ſie geſtützten Theorien. Wir werden nun ſehen, daß die geologischen Theorien La— marck's, ſo phantaſtiſch ſie zum Theil auch ſein mögen, die Entſtehung der Erd— 2 Lang, Lamarck und Darwin. rinde und Bildung ihrer Oberfläche durch na— türliche, heute noch wirkende Urſachen als eine zuſammenhängende, ununterbrochene Entwicke— lung nachzuweiſen bemüht ſind. Nur unter einer ſolchen Vorausſetzung konnte er auch die Entſtehung der heutigen Organismen— welt als eine zuſammenhängende, allmälige Entwickelung auffaſſen. So lange in der Geologie und Paläontologie die zu ſeiner Zeit allgemein angenommenen und von Cuvier für lange Zeit zum Dogma ge— machten Umwälzungstheorien herrſchend wa— ren, mußte man auf eine Erklärung von der Entſtehung der Organismen vollſtändig vefig- niren oder zu der Annahme ſpontaner Schö— | pfungen ſeine Zuflucht nehmen. Die „Hydrogeologie* erſchien im Lamarck ſtellt ſich darin vier Hauptfragen, deren Löſung ihm für eine richtige, natürliche Geologie von größ— ter Wichtigkeit zu ſein ſchien. Dieſe Fra— gen ſind ſehr gut gewählt. Lamarck be- gnügt ſich aber nicht damit, nur die durch Beobachtung erlangten Antworten darauf zu geben, ſondern er will ſie gleich erſchöpfend beantworten und dadurch das ganze Problem von der Entſtehung der Erdoberfläche löſen; daher die oft wunderlichen und abenteuer— lichen Gedanken, die in feiner „Hydro- géologie“ neben manchen wahren und be— gründeten Anſichten angetroffen werden. Die erſte Frage lautet: „Welches ſind die natürlichen Folgen des Einfluſſes und der Bewegungen des Waſſers auf die Erdoberfläche?“ Lamarck hält dieſe Frage mit Recht für ſehr wichtig, weil ſie, wie er ſagt, der Phantaſie am wenigſten Spielraum laſſe und weil ſich ihre Beantwortung nothwen⸗ diger Weiſe auf die Betrachtung noch heute geſchehender Vorgänge ſtützen müſſe. In Kirn erſter Linie unterſcheidet er die Bewegungen des ſüßen Waſſers auf den Continenten von den Bewegungen des Salzwaſſers im Meeresbecken. Beide bringen in letzter Linie entgegengeſetzte Wirkungen hervor, ſie halten ſich gegenſeitig das Gleichgewicht. Die Bewegungen des ſüßen Waſſers auf dem Feſtlande bewirken eine zunehmende Degradation und Verringerung deſſelben, indem ſie beſtändig Theile von ihm los— löſen, in das Meer tragen und deſſen Becken auszufüllen ſtreben. Die Bewegun— gen des Waſſers im Meere hingegen ſollen nach Lamarck, wie er bei Beantwortung der folgenden Frage darzulegen verſucht, die beſtändige Aushöhlung und Vertiefung des Meeresbeckens zur Folge haben. An den trockenen Theilen der Erde nagen die Winde und Orkane, löſt der Regen und der ſchmelzende Schnee beſtändig kleine Theilchen ab. tigkeit und die Einwirkung der Atmoſphäre zerbröckeln die blosliegenden Theile der Erd⸗ oberfläche. Nichts kann dieſem Wechſel widerſtehen. Alles verwittert. Die zer— bröckelten und losgelöſten Theile werden durch das von der Höhe in die Tiefe ab— fließende Waſſer mitgeführt. Durch dieſe Bewegung des Waſſers ſelbſt werden wie— der Theile losgelöſt. in Quellen hervor und ſammelt ſich zu Bächen, dieſe treten zu Flüſſen zuſammen, die Flüſſe wiederum zu Strömen, die ſich, immer die losgelöſten feſten Theilchen mit— reißend, ins Meer ergießen. Im verhält— nißmäßig ruhigen Meere ſinken dieſe Theil— chen vermöge ihrer eigenen Schwere zu Boden. — Dies ſind die Wirkungen, ſagt Lamarck, welche die Bewegungen des Waſſers auf dem Feſtlande noch heutzu— tage haben. Sie ſind für den Menſchen Der Wechſel von kalt und warm, von Trockenheit und Feuch-⸗ Das Waſſer tritt Lang, Lamarck und Darwin. 245 beinahe unmerklich, im Laufe der Zeiten ſummiren ſie ſich aber und werden höchſt bedeutend. Man ſtelle ſich, ſagt Lamarck, vor, daß jeder Continent urſprünglich eine un— geheure, ausgedehnte Ebene bildete. In dieſer Ebene werden dann lokale Regengüſſe Ver— tiefungen oder Aushöhlungen, in denen ſich das Waſſer anſammelte, hervorgerufen haben. Das Waſſer derjenigen Vertiefungen nun, welche ſich in der Nähe des Meeres be— fanden, wird ſich im Laufe der Zeiten Wege zu dem tiefer gelegenen Meere gebahnt haben. Durch dieſe Wege floß nun das Waſſer ab und vertiefte allmälig die urſpünglichen Rinnen. In dem Maße, als ſo die dem Meere zunächſt gelegenen Vertiefungen be— trächtlicher wurden, konnte ſich auch das Waſſer der vom Meere weiter entfernten Vertiefungen einen Durchbruch zu den tiefer gelegenen Aushöhlungen und Becken in der Nähe des Meeres verſchaffen und durch dieſe in letzteres abfließen. Aus den anfänglich unbedeutenden Rinnen und Furchen entſtanden tiefe Flußbetten, Thäler. Die Ränder der Furchen wurden zu den Ufern der Flüſſe, zu den die Thäler umſchließenden Höhen. Dadurch nun, daß ſich die Bäche, Flüſſe und Ströme ver— mehrten und vermannigfaltigten, entſtanden aus den anfänglichen Hochebenen Gräte, Thäler umgrenzend. Durch Aufſaugung von Feuchtigkeit ſammelte ſich im Innern der Gräte Waſſer an, welches äußerlich in Form von Quellen hervortrat. Durch die Wirkung des Regens, der Atmoſphäre und der aus den Quellen entſtehenden Bäche wurden die Gräte zerklüftet, bildeten Berge. In dieſer Weiſe iſt nach Lamarck die er— ſtaunliche Mannigfaltigkeit in der Boden— geſtaltung der Continente entſtanden. — Lamarck iſt ganz conſequent, wenn er ſagt: 246 „Es iſt alfo meiner Anſicht nach ganz evident, daß jeder Berg, welcher nicht das Reſultat einer vulkaniſchen Eruption oder irgend einer andern lokalen Kataſtrophe iſt, in einer Ebene gebildet wurde, in ihrer Maſſe zu Stande kam und früher ſelbſt einen Theil derſelben ausmachte, ſo daß die Gipfel dieſer betreffenden Berge nur Reſte des alten Niveau's dieſer Ebene darſtellen, wenn die Abwaſchungen und andere Ur— ſachen der Degradation nicht ſeither ihre Verkürzung bewirkt haben.“)“ Lamarck fühlt indeſſen die Unzuläng— lichkeit dieſer ſeiner Theorie über die Ent— ſtehung der Berge, hauptſächlich wenn er an die höhern Gebirge denkt. Er ſieht ſich deshalb noch nach andern Erklärungsprincipien um. Ein ſolches findet er in der vulkaniſchen Thätigkeit und beruft ſich dabei darauf, daß die höchſten bekannten Berge Vulkane ſeien. Wir werden gleich nachher noch andere auxiliäre Erklärungsprincipien bei ihm finden. Die Bewegung des ſüßen Waſſers auf den trockenen Theilen der Erdoberfläche würden, ſagt Lamarck, die fortſchreitende Erniedrigung der Continente zur Folge haben und die Erde würde ſich ſchließlich mit einer gleichmäßigen Waſſerhülle um⸗ geben, wenn nicht die Wirkungen anderer Urſachen dieſe Wirkung der Bewegung des Waſſers auf den Continenten ausgleichen würden. Er findet dieſe Urſachen in ge— wiſſen Bewegungen des Meereswaſſers, durch welche das Meeresbaſſin, das ſonſt durch die von den Flüſſen angeſchwemmten Ma- terialien immer mehr angefüllt und ver- flacht würde, beſtändig wieder vertieft und ausgehöhlt wird. An Hebungen und Sen— kungen des Bodens denkt Lamarck nicht und dieſer Umſtand bedingt, wie wir ſehen ) Hydrogeologie, Seite 14. Lang, Lamarck und Darwin. werden, die größten Irrthümer ſeiner geologiſchen Theorien. — Ueber die von Lamarck ſupponirte Wirkung der Be— wegungen des Meereswaſſers giebt uns Auskunft die Antwort auf die zweite Frage: „Warum hat das Meer beſtän— dig ein Becken und beſtimmte Gren— zen, welche es von den immer über daſſelbe hervorragenden, trodes nen Theilen der Erdoberfläche trennen?“ ) Hat ſich Lamarck ſchon bei der Be- antwortung der erſten Frage keineswegs ſtreng an das Thatſächliche gehalten, ſo thut er dies noch viel weniger bei Beantwortung dieſer Frage. — Das Meer iſt beſtändig in verſchiedenartiger Weiſe bewegt. Die einen Bewegungen deſſelben, es ſind dies die unbedeutendſten, werden durch die Winde verurſacht. Andere werden durch unterirdiſche Vulkane hervorgerufen. — Ferner giebt es beſtimmte Strömungen im Meere. Die einflußreichſten Bewegungen deſſelben aber werden durch die Anziehungskraft des Mondes, zum geringen Theile auch durch die der Sonne hervorgerufen; es ſind dies die regel— mäßigen Oscillationsbewegungen des Meeres, die Bewegungen der Ebbe und Fluth. Alle dieſe Bewegungen bewirken nach Lamarck die beſtändige Aushöhlung des Meeres— beckens und verhindern ſo deſſen Verflachung durch die fortwährend von den Flüſſen zu⸗ geführten, feſten Beſtandtheile. Dieſe werden nämlich ſeiner Anſicht nach an den Küſten wieder durch das Meer ausgeworfen und zwar in Folge einer Urſache, die Lamarck bei der Beantwortung der dritten Frage erörtert, immer an ganz beſtimmten Küſten, welche vom Meere verlaſſen werden. — Die Erhaltung der Meeresbecken ſchreibt alſo ) Hydrogeologie, Seite 26. 1 Lang, Lamarck und Darwin. 247 | Lamarck hauptſächlich der Anziehungskraft dafür, daß es früher an Orten des Mondes, welche die Bewegung der Ebbe und Fluth des Meeres bedingt, zu. Wäre der Mond größer, ſo würden die Meeres— becken an Umfang abnehmen, aber eine viel bedeutendere Tiefe erlangen. Wäre der Mond hingegen kleiner, ſo würden die Meeresbecken im Gegentheil eine viel be— deutendere Ausdehnung bekommen, aber auch entſprechend verflachen. Wenn endlich die Erde gar keinen Satelliten hätte, ſo würde das Waſſer um die Erde herum eine gleich— mäßige, continuirliche Hülle bilden. Bei Beantwortung der zweiten Frage gelangt Lamarck noch zu einer anderen Annahme. Er ſagt, nur wenn das Waſſer um die Erde herum eine gleichmäßige Hülle bildete, würde der Mittelpunkt ihrer Geſtalt mit ihrem Schwerpunkt zuſammenfallen. Da dem nun nicht ſo iſt, ſo müſſen dieſe | beiden Punkte nothwendig etwas von ein— ander entfernt liegen, wenngleich nur ſehr wenig, da die Tiefe des Meeres und die Höhe der Berge im Vergleich zum Erd— radius außerordentlich klein iſt und alſo die Abweichung, die durch das geringere ſpezifiſche Gewicht des Waſſers und das größere ſpezifiſche Gewicht der die Gebirge bildenden Felsmaſſen entſteht, in Anbetracht der ganzen Erdmaſſe ſehr klein und unbe— deutend iſt. Da ſich nun nach Lamarck, wie wir gleich ſehen werden, die Configu— ration der Meere und Continente beſtändig verändert, ſo muß ſich auch der Schwer— punkt der Erde und die Rotationsachſe derſelben verändern. — Seine Anſichten über Lamarck nieder in ſeiner Antwort auf die dritte Frage, welche lautet: „Iſt das Meeresbecken immer da geweſen, wo es ſich gegenwär— tig befindet? Giebt es Beweiſe die Deplacirung der Meere legt war, wo es jetzt nicht mehr iſt? Im bejahenden Falle, welches waren die Urſachen, daß es ſich da befand und warum befindet es ſich gegenwärtig nicht mehr da Obſchon Lamarck annimmt, daß die Bewegungen des Meeres, hauptſächlich die der Ebbe und Fluth, das Meeresbecken, das ſonſt durch die von den Flüſſen ange— ſchwemmten Materialien gefüllt würde, beſtändig aushöhlen, ſo giebt er doch zu, daß ſich die Meeresbecken, trotz dieſer Be— wegungen, mit der Zeit anfüllen würden, wenn ſich die Lage der Meere nicht ver— änderte. Er behauptet nun einerſeits a priori, daß die Meere aus allgemeinen | phyſikaliſchen Gründen ihre Lage verändern müſſen, und anderſeits a posteriori, es ſei bewieſen, daß ſie dieſelbe wirklich verän— dert haben. Das Waſſer der Meere dreht ſich, wie alle Theile der Erdkugel, von | Weſten nach Oſten um die Erdachſe. Da nun das Waſſer vermöge der leichten Ver— ſchiebbarkeit feiner Theile der Anziehungs— kraft des Mondes eher gehorchen kann, als die übrigen, trockenen und feſten Theile der Erde, ſo muß daſſelbe nothwendiger⸗ weiſe immer ein wenig langſamer um die Erde rotiren, als dieſe Theile. Daraus muß ſich nothwendigerweiſe mit Bezug auf das Feſtland eine langſame Bewegung des Meeres nach Weſten ergeben. Dieſe Bewegung iſt unabhängig von den Bewe— gungen der Ebbe und Fluth, die fortlau— fend unter den aufeinanderfolgenden Meri⸗ dianen ſtattfinden. Die Folge derſelben iſt, daß die Waſſermaſſen des Meeres beſtändig gegen die öſtlichen Küſten der Continente ) Hydrogèologie, S. 39. er anprallen, dieſelben alteriven und mit der Zeit immer mehr überfluthen müſſen, wäh— rend die weſtlichen Küſten der Continente nothwendigerweiſe allmälig vom Meere ver— laſſen werden. Lamarck führt zahlreiche Thatſachen an, die für die Richtigkeit dieſer ſeiner Theorie ſprechen ſollen. Wir können hier nicht näher auf dieſelben eingehen. — In Folge der allgemeinen Bewegung des Meeres von Oſten nach Weſten werden die durch die Flüſſe in daſſelbe geſchwemmten Materialien nicht an allen Küſten ausge worfen, ſondern nur an denjenigen, welche das Meer verläßt, d. h. insbeſondere an den weſtlichen Küſten der Continente, welche in Folge vorrücken und höher werden. deſſen Nachdem nun Lamarck bewieſen zu haben glaubt, daß die Veränderung der Lage der Meere eine phyſikaliſche Noth- wendigkeit ſei, will er noch thatſächliche Beweiſe dafür anführen, daß Theile des vom jetzigen Feſtlandes wirklich früher Meere bedeckt geweſen ſeien. An den meiſten Stellen der Erdober— fläche, ſagt Lamarck, auf ſehr hohen Bergen, in der Ebene, in tiefen Brunnen, im Innern der Felſen finden wir authen— tiſche Ueberreſte von Pflanzen und Thieren. Dieſe Foſſilien finden meiſtens ihre Analoga in den heute noch lebenden Formen. Durch ihre Vergleichung mit dieſen laſſen ſich Schlüſſe ziehen auf die Medien, welche die lebenden Organismen, von denen dieſe Foſſi— lien herrühren, bewohnt haben. So können wir, wenn wir eine verſteinerte, zwei— ſchalige Muſchel auffinden, nicht daran zweifeln, daß das dazu gehörige Thier im Waſſer gelebt hat, denn alle bekannten, jetzt noch lebenden zweiſchaligen Muſcheln ſind an das Leben im Waſſer gebunden. In gleicher Weiſe können wir feſtſtellen, Lang, Lamarck und Darwin. ob gewiſſe Organismen, die uns im ver— ſteinerten Zuſtande erhalten ſind, in der Luft (auf dem Feſtlande) oder im Waſſer, im ſüßen oder im ſalzigen Waſſer, in ſtehenden oder fließenden Gewäſſern, am Strande des. Meeres oder auf offener See gelebt haben. — Dieſe höchſt wichtige und richtige Unterſcheidung, beſonders der littoralen Foſſilien von den pelagiſchen, hat Lamarck, wie wohl keiner vor ihm, ſehr genau durchgeführt. Um das Vorhandenſein von Meeres— foſſilien auf dem Feſtlande und ſogar auf hohen Bergen zu erklären, hatte man da— mals gemeiniglich große und allgemeine Cataſtrophen angenommen, in Folge deren die Meeresorganismen oder ihre Verſteine— rungen aus dem Meere an dieſe Orte ge— langt ſeien. — Lamarck beſtreitet dieſe Theorie aufs heftigſte und behauptet, daß ſie allen bekannten Erſcheinungen, ſowie dem bekannten Gange der Natur widerſpreche. Die Organismen, die wir im verſteinerten Zuſtande vorfinden, haben im Gegentheil an den nämlichen Orten gelebt, an denen wir ſie vorfinden, ſagt Lamarck, und mit Recht bemerkt er, daß man nicht alle mög— lichen Arten von Foſſilien bunt zufammten- gewürfelt antrifft, ſondern daß eine be— ſtimmte Ordnung unverkennbar vorhanden iſt, und daß die Thatſache, daß bei den zweiſchaligen Muſcheln gewöhnlich noch beide Schalen vorhanden ſind, ſich mit der An— nahme allgemeiner Cataſtrophen ſchlechter— dings nicht vereinigen laſſe. — Wenn man auf dem Feſtlande Verſteinerungen von Meeresthieren antrifft, jo iſt dies nach La— marck eben ein Beweis dafür, daß die be— treffenden Stellen früher zum Meeresboden gehört haben. Hinſichtlich der Foſſilien von Süßwaſſer- und Landthieren müſſe man allerdings annehmen, daß ſie zufällig durch . i ——ůůů———ů—ů ——ů— Lang, Lamarck und Darwin. 249 die Flüſſe ins Meer geführt und dort ab- man in kalten Gegenden Ueberreſte von gelagert und verſteinert worden ſeien. La- marck ſcheint nämlich anzunehmen, daß ſich in Flüſſen und Seen keine Ablagerungen bilden und keine Organismen verſteinert werden können. — Wenn man an einer Stelle Foſſilien von Strandformen findet, ſo kann man nach Lamarck mit Sicherheit annehmen, daß die betreffende Stelle früher zum Meeresſtrande gehörte; findet man in einer Schicht Hochſeefoſſilien, ſo iſt dieſe Schicht gewiß am Boden des offenen Meeres abgelagert worden. Die Thatſache, daß man überall auf dem Feſtlande Meeresfoſſilien antrifft, hält Lamarck für einen Beweis dafür, daß das Meer in ſeiner Bewegung von Oſten nach Weſten wenigſtens einmal um die ganze Erde herumgewandert ſei. Vielleicht ſei dies, nach gewiſſen Funden zu urtheilen, mehr als einmal geſchehen. Jede Stelle der Erd oberfläche, wo man Foſſilien findet, muß alſo, wie Lamarck ſagt, nothwendigerweiſe zweimal zum Meeresſtrande und einmal zum Grunde des offenen Meeres gehört haben. Wie ſchon früher bemerkt, hält Lamarck mit dem Schwerpunkt natürlicher Weiſe auch die Rotationsaxe der Erde für veränderlich. Der Schwerpunkt der Erde liege nothwen— digerweiſe jeweilen der größten Meerestiefe gegenüber; daraus folge, daß der Schwer— punkt der Erde einen vollſtändigen Kreis— lauf um den Mittelpunkt ihrer Geſtalt ge— macht habe, wenn ſich das Meer einmal um die ganze Erde herum bewegt habe. Wie ſich die Rotationsaxe der Erde dabei nun eigentlich des genaueren verhalten ſoll, darüber giebt uns Lamarck keinen nähern Aufſchluß. Er ſagt nur, daß ſie ſich auch verändere und will damit den Klimawechſel erklären und dadurch die Thatſache, daß Irrwege. Organismen finde, die nur in heißen Kli— maten gelebt haben konnten. Er glaubt, daß ſich Europa gegenwärtig dem Nordpol nähere und daß ſein Klima in Folge deſſen kälter werde. Wir werden gleich ſehen, daß Lamarck auch die außerordentliche Höhe gewiſſer Berge durch dieſe Annahme zu er— klären ſucht. Die vierte und letzte Frage lautet: „Welches iſt der Einfluß der Organismen auf die Stoffe, welche ſich auf der Erdoberfläche vorfin— den und ihre äußere Kruſte zu— ſammenſetzen, und welches ſind die allgemeinen Reſultate dieſes Ein— fluſſes?“ “) Wir können Lamarck nicht in die Einzelheiten ſeiner Beantwortung dieſer Frage folgen. Von grundfalſchen chemiſchen Theorien ausgehend, geräth er auf immer größere Die Organismen haben, wie er ſich ausdrückt, die Fähigkeit, ihre eigene Körperſubſtanz ſelbſt zu bilden. Die Pflan— zen bedürfen dazu nur der Luft, des Waſſers, der Wärme und des Lichts. Die ſo ent— ſtandenen Organismen werden mit der Zeit zu Humus. Der Humus kann zu Felſen werden. So nehmen nach Lamarck die trockenen Theile der Erdoberfläche durch die organiſche Thätigkeit der Thiere und Pflau— zen beſtändig an Höhe zu, indem immer neue Schichten von Humus gebildet werden. Aus der Thatſache, daß gewiſſe mächtige Geſteinsſchichten beinahe auschließlich aus den reſiſten Theilen von Organismen gebildet werden, wie die Korallenriffe, Muſchelbänke, Torf-, Steinkohlenlager u. |. w. zieht er den bedeutſamen, zum größten Theil richtigen Schluß, daß aller Kalk auf der Erdober— *) Hydrogéologie, Seite 91. | 250 Lang, Lamarck und Darwin. fläche durch thieriſche, alle Arten von Kohle durch pflanzliche Thätigkeit entſtanden ſeien. Er geht aber weiter. Seine falſchen chemiſchen Theorien von der Umwandlung der Geſteine bringen ihn auf den Gedanken, überhaupt ſämmtliche Mineralien und Felsarten, welche die äußere Erdkruſte zuſammenſetzen, mit Ausnahme des Quarzes als des Urgeſteins, als direkte oder indirekte Produkte orga— niſcher Thätigkeit zu betrachten. Zum Schluſſe bringt Lamarck noch eine neue und zwar, wie er nunmehr ſagt, die wichtigſte Erklärung von der Entſtehung der hohen Berge. Er erinnert an die Ab— plattung der Erde an ihren beiden Polen und an die Wölbung derſelben unter dem Aequator. die Pole ihre Lage verändern, ſo müſſen an den neuen Polen neue Abplattungen und unter dem neuen Aequator eine neue Wöl— bung entſtehen. Gegenwärtig entferne ſich der Aequator von Europa, deshalb finde man die höchſten Berge nördlich von ihm. Der Erdſtrich, in welchem dieſe Berge lie— gen, ſei früher unter dem Aequator geweſen und dieſe Berge hätten damals einen Theil von der Maſſe der gleichmäßigen Aequa⸗ torialverdickung gebildet. Damals lag dieſer Theil der Erdoberfläche unter dem Meeres— ſpiegel, nachher, als er ſich vom Aequator entfernte, blieb die Wölbung der feſten Theile, das Meer aber ſank auf das ent— ſprechende Niveau zurück und floß von dem nunmehr hervorſtehenden Feſtlande ab. Durch die Wirkung der Atmoſpäre, der Vegeta— tion, der Bewegung des ſüßen Waſſers u. |. w. kam allmälig die jetzige Bodengeſtaltung des betreffenden Erdſtrichs zu Stande. Wir haben die Darſtellung der „Hy- drogéologie“ Lamarcks beendet. Ein kritiſcher Rückblick auf dieſelbe findet ſie unreif. Sie theilt mit ſeinen chemiſchen Wenn die Erdaxe und folglich und phyſikaliſchen Theorien den Grund— fehler, daß ſie auf Grund weniger, dazu oft noch ſchlecht beurtheilter Thatſachen eine umfaſſende Theorie aufſtellen will. Die vielen Widerſprüche, die phantaſtiſchen Ver— irrungen werden dem kundigen Leſer gleich aufgefallen ſein. Einerſeits überſchätzt er die Wirkungen gewiſſer Urſachen viel zu ſehr, anderſeits ſchreibt er ihnen Wirkungen zu, die ſie gar nicht haben. Die Tendenz, die überall in ſeiner Schrift hervortritt, die Entſtehung unſerer Erdoberfläche aus den uns bekannten allgemeinen phyſikaliſchen Kräften zu erklären, iſt ſehr anzuerkennen, aber jeder wird begreifen, daß ein ſolcher Verſuch, zumal zu ſeiner Zeit, nicht ge— lingen konnte; ſind wir ja doch heute noch nicht im Stande, alle geologiſchen Erſchei— nungen auf die phyſikaliſchen Kräfte zurück— zuführen. Vergleichen wir indeſſen La— marck's Hydrogéologie mit den zu ſeiner Zeit in Mode ſtehenden erdgeſchichtlichen Theorien, ſo hat ſie neben vielen andern beſſern Gedanken, die der Leſer leicht heraus- gefunden hat, hauptſächlich das große Ver— dienſt, zur Erklärung blos heute noch wir— kende Urſachen und Kräfte herangezogen und auf das Falſche der Lehre von den allge— meinen und plötzlichen Kataſtrophen hin— gewieſen zu haben. Darin gerade liegt eine fundamentale Uebereinſtimmung ſeiner Theorie nicht nur mit der durch Lyell begründeten modernen Geologie, ſondern auch mit der durch Darwin begründeten Ent- wickelungslehre. Indem ſich nun aber La- marck in Betreff der Erdgeſchichte gegenüber ſeinen Zeitgenoſſen auf den charakteriſirten Boden ſtellte, konnte er auch das Problem von der Entſtehung der jetzigen Organis— menwelt auf der Erde unter einem ganz neuen Lichte betrachten. Wir werden ſehen, in welcher Weiſe er dies that. — — —— —— Kleinere Mittheilungen. Revolutionäre Ideen eines Zoologen über die ſogen. Wurzelwörter an die Adreſſe der Philologen. = | Vekanntlich ſucht die Philologie überall | nach Wurzelwörtern, die eine Eigen- ſchaft, eine Thätigkeit u. dgl. IT ausdrücken ſollen und leitet von dieſen erſt die Wörter, die den Gegenſtand, die Sache bezeichnen, ab. So werden z. B. in der Regel auch die Thier- und Pflanzen- namen auf ſolche, oft nur ſupponirte Wurzel- wörter, die eine Eigenſchaft u. ſ. w. aus⸗ drücken, zurückgeführt. Verhält es ſich aber in der That ſo? Iſt es nicht eher umgekehrt? Man denke ſich ein Volk in ſeiner Kindheit — denn nur in ſeiner Kindheit ſchafft ein Volk wirklich neue Wörter, wie ja unſere Kinder heute noch —, wie wird ſich das— ſelbe den Wortſchatz ſeiner Sprache all— mälig aufbauen? Wird es etwa willkürlich Worte, Laute für Verbalbegriffe, die eine beſtimmte Thätigkeit oder dergl. aus- drücken, erſinnen, darüber übereinkommen und dann aus dieſen Begriffs worten erſt die Worte für die Sachen, Gegen— ſtände, Thiere, Pflanzen ꝛc., die zu jenen Begriffswörtern in Beziehung gebracht werden können, bilden? Iſt das pſychologiſch wahrſcheinlich? Die Abſtraction zuerſt und dann das Concrete? Wird nicht vielmehr ein ſolches Volk zunächſt ganz einfach Namen bilden für die hervorragenden, ihm aus irgend einem Grunde wichtigen Gegenſtände ſeiner Umgebung, für Sachen, Thiere wie Pflanzen u. ſ. f. und dann erſt, durch Abſtraction, aus jenen Namen Zeit und Eigenſchafts-Wörter, d. h. Begriffswörter, bilden, welche eben eine Haupteigenſchaft jener Sache u. |. w. ausdrücken? Ein Beiſpiel mag ſofort erläutern, was wir meinen. Ameiſe — emſig. — Was iſt das Erſte? Nach der philologiſchen Theorie ſtammt der Name „Ameiſe“ ab von einem ſupponirten Wurzelwort, das etwa „ams“, „amos“ oder ähnlich gelautet haben würde und den Begriff: „thätig, fleißig ſein“ bezeichnete. Wir aber glauben, daß emſig, d. h. der Begriff: „fleißig“ ſich erſt ſecundär ableitete von dem ſchon vorhandenen Namen des Inſects, indem es einfach deſſen Haupt eigenſchaft ausdrückte. Einen fleißigen Men— ſchen nannte man einfach einen „ameiſiſchen“ Menſchen. So ſpricht ein Naturvolk und Naturvölker haben ja urſprünglich den Wortſchatz aller, auch der jetzt höchſten Sprachen bilden müſſen. Freilich, es mag ſchwer halten, in den 252 heutigen, ſo vielfach umgeformten und wie alte Münzen abgegriffenen und abgeſchliffe— nen Worten unſerer hochgebildeten Cultur— ſprachen, die noch dazu eine Menge Be— griffswörter von ganz fremden Völkern aufgenommen haben, jene primitiven Wur— zeln, die Namen, noch als ſolche heraus— zufinden. Die einfachen wortarmen Spra— chen der ſogen. wilden Völker wären ſicher hierzu weit brauchbarer, aber wer kennt ſie genau und wer kennt genau genug die her— vorragenden Gegenſtände ihrer Umgebung und ihre Namen (Worte) für dieſelben? Doch glauben wir, daß es einem Philo— logen vom Fach nicht ſchwer ſein müßte, auch in unſeren modernen Sprachen bei vielen Worten jene alten Namen wieder herauszuſchälen, wenn nur einmal das Auge darauf gelenkt iſt. Uns ſei es geſtattet, nur einige Beiſpiele hier anzuführen, die uns beim Durchblättern eines Wörterbuchs der deutſchen Sprache auffielen. „Vidan“, gothiſch = „Weide“, leitet die Philologie ab von einem Wurzelwort „binden“, „umwinden“, Wir dagegen glauben, vidan nannte das ſprachbildende, deutſche Urvolk zunächſt die Weide und leitete davon als Begriffswort das Verbum vidan, (binden, umwinden) ab, indem es damit die für das Volk ſehr wichtige Haupteigenſchaft jener Pflanze, daß man damit binden, umwinden konnte, aus— drückte. Erſt kam die Anſchauung und der Name für das Konkrete, dann die Ab— ſtraction, und Alles, was ſich daran knüpft, — alſo auch z. B. „Vaddja“, gothiſch — „Wand“ (weil die alten Deutſchen die Wände aus Weidengeflecht und Lehm herſtellten) würde, nach unſerem Dafür— halten mittelbar auf jenen urſprünglichen in — Kleinere Mittheilungen. Pflanzen-Namen der Weide „vidan“ zurückzuführen ſein. „Seil“, ſeilen, Seile leitet die Philologie ab von einem Wurzelwort binden. Ebenſo derivirt ſie den Pflanzen-Namen der Sahl— weide von demſelben Begriffswurzelwort „ n, een „silan“ = binden. Iſt nicht die Sache einfacher zu erklären? Der Deutſche (oder das Ariſche Stammvolk, wenn man lieber will) bildete einen Namen für die ihm ſehr wichtige Sahle (Sahlweide) und ebenſo oder ähnlich mit einer kleinen Ab— änderung nannte er dann die gedrehte Sahlweide „Seil“ und daher salan — binden. „Lork“ (von Oken ſehr paſſend als „Lurch“ hergeſtellt) bedeutet im Altdeutſchen eine Waſſerkröte, wahrſcheinlich die Unke (Bombinator igneus). Dies „lork* wird abgeleitet von „lören“ — ſchreien. Wir würden dagegen vermuthen, daß „Lork“ nichts iſt als ein Onomatopoäti- con des bekannten Ruf's der Unke. Dar— nach benannte man zuerſt das Thier, dann ſein Geſchrei, „lören.“ „Schlange“ abgeleitet von „slan— gan“ — „ſchlingen“, „ſchlängelnde Be— wegung.“ Ebenſo das engliſche Wort für Schlange, „snake“, wird abgeleitet von „snikan“, kriechen, (ſchniekiſch, ein deut— ſcher Provinzialismus vou ähnlichem Sinn). Ebenſo das hebräiſche diy (Ariach) „Schlange“ wird abgeleitet von y („ar- ach“) ſchnell dahinfliegen. — Auch bei die— ſen drei Wörtern ſcheint uns die umge— kehrte Ableitung die natürlichere. Baſt (die Faſer unter der Rinde vieler Gewächſe) wird abgeleitet von dem althoch— deutſchen „bestan“ — „zuſammenſchnüren“, Für uns wäre es umgekehrt. f — „Bock“ leiten wir nicht ab von „»bokan“ ſtoßen (ſchwäbiſch „bocken“) ſon— dern umgekehrt. (In „pochen“, „Pochbrett“ iſt das Verbum noch Schriftſprache). „Miethe* = „Motte“ wird abge leitet von dem althochdeutſchen „meit- zan“ — „ſchneiden.“ — Ob die beiden Worte überhaupt zuſammenhängen? Das Beſtreben ſolche Begriffe aus— drückende Wurzelwörter aufzuſuchen, hat die Philologen, wie uns ſcheint, überhaupt öfters irregeführt und ſie veranlaßt, Wörter in Verwandtſchaft zu bringen, die ſich ſchwer— lich bewähren dürften, z. B.: „Miez“, „Miezchen“, unſer be kannter, freundlicher Name für die Katze wird abgeleitet von „mutzen“ — verſtüm— meln. Man habe nämlich urſprüng— lich nur den verſchnittenen, verſtüm— melten Kater ſo genannt. Uns ſcheint Miez, Muz, wieder nur Onomatopos— ticon von der Stimme der Katze, mi, miau, und das Wort mutzen — verſtüm— meln, hängt wohl gar nicht damit zu— ſammen. Natter, gothiſch „Naders“ alt hochdeutſch Nat ha ra wird von dem latein. nare — ſchwimmen, und natrix — die Schwimmerin, abgeleitet. Auch hier glauben wir an keinen Zuſammenhang, denn Natter, oder, wie man in Süddeutſch— land ſagt, Ader, Oader, iſt wohl ein ganz urſprünglich deutſcher Schlangen— Name. Ein Kenner der gothiſchen Sprache würde gewiß unſere obigen Auseinander- ſetzungen noch mit vielen anderen Beiſpielen belegen können. Auch das Hebräiſche, eine, wie uns ſcheint, in einer verhältnißmäßigen Urſprünglichkeit gleichſam erſtarrte Sprache, dürfte zu ſolchen Forſchungen nach Wur— Kleinere Mittheilungen. > 53 N 1 zel-Namen, wie wir ſie neunen möchten, ſich eignen. Dürfen wir bei dieſer Gelegenheit an die bekannte Thatſache erinnern, daß Moſes dem erſten Menſchen, als ihn Gott in's Paradies ſetzte, als allererſte Aufgabe die Benennung der neuerſchaffenen Thiere ertheilt? Geneſis 2, 19 und 20: „Denn als Gott, der Herr, gemacht hatte von der Erde allerlei Thiere auf dem Felde und allerlei Vögel unter dem Himmel, brachte er ſie zu dem Menſchen, daß er ſähe, wie er ſie nennete; denn wie der Menſch allerlei lebendige Thiere nennen würde, ſo ſollten ſie heißen. Und der Menſch gab einem jeglichen Vieh und Vogel unter dem Himmel und Thier auf dem Felde ſeinen Namen.“ Noch ehe Adam eine „Gehilfin“ hatte, noch ehe er mit einem menſchlichen Weſen ſprechen konnte, läßt Moſes ihn Namen bilden. Wir ſind weit entfernt, dies als einen Beweis für unſere obige Hypotheſe anzu— führen, aber merkwürdig bleibt es doch, daß hier die Thiernamengebung als etwas Urmenſchliches und offenbar ſehr wich— tiges dargeſtellt wird und die Zoologen hätten allen Grund, ſtolz darauf zır fein, daß ihre Thätigkeit nach Moſes eine ſo uralte, ächt menſchliche iſt. Jedenfalls glau— ben wir, ſowohl durch Moſes als durch unſere obigen Auseinanderſetzungen eine theilweiſe Identität des Berufsfeldes des Naturforſchers und des Philologen nach— gewieſen zu haben und nehmen dieſe voll— auf in Auſpruch, wenn wir ſchließlich die Philologen, nunmehr als Collegen, um nachſichtsvolle Kritik unſerer obigen Häre— ſien bitten. Wir recapituliren: Unſere Theſe wäre einfach die: Die Wurzelwörter der Sprachen ſind nicht Begriffs— | 254 wörter, die eine beſtimmte Eigen— ſchaft, Thätigkeit u. ſ. w. aus⸗ drücken, ſondern die Wurzelwör— ter ſind urſprünglich einfache Namen für Gegenſtände. Nicht das Begriffswort wurde zuerſt gebildet, um die Sache danach zu benennen, ſondern die Sache wurde zuerſt benannt und aus dem Namen der Sache erſt das Wort für den Begriff, für die eine oder andere Haupt— eigenſchaft der Sache abgeleitet. Dr. D. J. Weinland. Die Ciefſee-Lotſungen und die verſunkene Atlantis. Der Umſtand, daß die Flora und Fauna Europas, welche gegenwärtig eng an diejenige des aſiatiſchen Continents anſchließt, in der Tertiärzeit eine weit größere Aehnlichkeit mit der damaligen und jetzigen Lebewelt Nordamerikas dar— bot, hat bekanntlich eine Reihe von For— ſchern zu dem Schluſſe geführt, daß da— zumal eine Feſtlandbrücke oder wenigſtens eine große Inſel zwiſchen den beiden jetzt ſo weit getrennten Continenten beſtanden haben müſſe, um die Ueberwanderung zu ermöglichen. Oswald Heer war zu einer ſolchen Annahme durch Vergleichung der Küſtenfauna von Europa und Amerika gelangt, Retzius durch Schädelverglei— chungen der Ureinwohner Nordamerikas und Afrikas. Am ausführlichſten hatte Unger dieſe Hypotheſe in einem 1860 erſchienenen Vortrage über „die verſunkene Juſel Atlantis“ vorgetragen. Der Name lehnt an die von mehreren alten Schrift— ſtellern, am ausführlichſten von Plato in ſeinen beiden Dialogen Timäus und Kleinere Mittheilungen. Kritias berichtete Sage an, nach welcher in uralten Zeiten vor den Säulen des Herkules eine Inſel, „größer als Lybien und Aſia zuſammengenommen“, gelegen habe, von der die Seefahrer leicht nach einem jenſeits liegenden Feſtlande kommen konnten. Dieſe ganze und gewaltige Inſel Atlantis, deren Bewohner ganz Europa unterjocht haben würden, wenn Athen nicht ihrem, Auprall Widerſtand geleiſtet hätte, ſollte, wie ein Prieſter von Salis dem Solon erzählt hatte, in einer einzigen Nacht verſunken ſein. Sei es nun, daß dieſe Sage, wie ſo viele ihresgleichen ohne allen thatſächlichen Anhalt aus den Fabeleien von der Seichtheit des atlantiſchen Oceans mit ſeinen Fucusbänken entſtanden iſt, oder daß wirklich die Geſchichte und Erinnerung der Menſchen ſo weit zurückreicht (wie man aus dem Umſtande geſchloſſen hat, daß man unter den Bewohnern Mittelamerikas ähn— liche Sagen angetroffen hat), ſicher iſt, daß ſich Anhaltspunkte für das ehemalige Da— geweſenſein eines atlantiſchen Continents, als deſſen höchſte Gebirgsſpitzen die Azoren noch heute emporragen, durch die Peilungen der engliſchen Schiffe Challenger, Hydra und Porcupine, des amerikaniſchen Dolphin und der deutſchen Fregatte Gazelle ergeben haben. Einem Vortrage, den W. Stephen Mitchell am 31. März é. in South Kenſington (London) über die auf die At- lantismythe beziehbaren Ergebniſſe der Chal— lenger-Expedition gehalten hat, entnehmen wir nach einem Referate der Nature (XV. Nr. 391) nachſtehende Einzelheiten: Der atlantiſche Ozean zeigte an vielen Stellen zwiſchen Südamerika und Afrika eine über 3000 Faden hinausgehende und bis 3450 Faden ſteigende Tiefe. Aber ungefähr in der Mittellinie des Ozeans, über die Inſel Triſtan da Cunja nach As- cenfion, zieht ſich der Challenger— Rücken, eine Bodenerhebung, über welcher die Tiefe nur zwiſchen 1000 — 2000 Fa— den beträgt, und dieſe Erhebung ſetzt ſich nördlich von der letzteren Inſel, über die St. Pauls-Inſeln weſtlich gewendet, bis nach der braſilianiſchen Küſte fort, läuft dann, immer die Mittellinie des Meeres— beckens bezeichnend, nördlich, verbreitert ſich in der Gegend der Azoren zu einem aus— gedehnten ſubmarinen Hochplateau und er— weitert ſich nach einer kurzen Verſchmäle— rung zu der continentalen Hochebene, welche ſich zwiſchen Europa und Nordamerika aus— breitet. Könnte das Meer trocken gelegt werden, ſo würde jener, meiſt in einer Breite von 5 — 10 Graden von Süden nach Norden ſteigende und mehr als 100 Breitengrade durchſchneidende Gebirgsrücken ca. 15000 Fuß über die Thalebene auf— ſteigen, und die Inſeln würden als Berg— ſpitzen von ca. 30000 Fuß Höhe erſcheinen. Die Kuppen dieſes den Anden vergleich— baren Gebirgrückens würden ſelbſt unter dem Aequator wahrſcheinlich mit ewigem Schnee bedeckt erſcheinen. In der eigent— lichen Atlantisgegend zwiſchen Südeuropa und Nordamerika beträgt die Durchſchnitts— erhebung des dort allerdings ziemlich be— wegten Terrains etwa 9000 Fuß über der mittleren Meerestiefe. Der Vortragende zeigte durch dieſe auf einer Atlantiskarte eingetragenen Tiefendaten, daß allerdings ſo zu ſagen ein ungeheurer, lang geſtreckter ſubmariner Continent ſich zwiſchen der alten und neuen Welt hinwindet, welcher bei einer allgemeinen Erhebung des Meeres— bodens um etwa 2000 Faden als zuſam— menhängendes Gebirgsland hervortreten würde, während zu ſeinen beiden Seiten immer noch eine Seetiefe von 1000 Faden Uebrigens und darüber verbleiben könnte. Kleinere Mittheilungen. 255 verwahrte ſich Mr. Mitchell gegen das Mißverſtändniß, als wolle er mit ſeiner Darlegung wirklich das ehemalige Daſein eines ſo lang geſtreckten Continents, wie ihn ſeine Karte andeutete, behaupten. Sein Zweck war nur zu zeigen, wie ſich mancher— lei Ergebniſſe der Wiſſenſchaft begegnen, um der Hypotheſe von der verſunkenen Atlantis eine gewiſſe Stütze zu verleihen, wobei es aber zunächſt vollſtändig unerörtert bleiben muß, welche Theile dieſes ungeheuren Hoch— rückens, wenn überhaupt (und welche bei einem vorauszuſetzenden Senkungsproceſſe zuletzt noch), über die Meeresoberfläche empor geragt haben mögen. Zeigte die Mythe nicht jenen übertreibenden Zuſatz, daß die Rieſeninſel in einer einzigen Erdbeben- und Fluthennacht von dem Meere verſchlungen worden ſei, und ſpräche ſie ſtatt deſſen von einer allmäligen Ueberfluthung, jo würden - die Atlantiden bei dem Zuſammentreffen ſo mancher Einzelheiten gewiß mehr Sym— pathien bei den Forſchern unſerer Zeit finden, denn daß Daſein und Erinnerung des Menſchengeſchlechts bis zur Tertiärzeit zurückreichen könnte, iſt nach dem jetzigen Stande der Wiſſenſchaft nicht abſolut un— wahrſcheinlich. K. Die elektriſchen Kiſche haben ſich als vorzüglich geeignet erwieſen, der Darwin'ſchen Theorie Schwie— rigkeiten zu bereiten und als Ein— würfe gegen dieſelbe zu dienen. Darwin, der niemals irgendwie Neigung gezeigt hat, über die ſeiner Theorie entgegenſtehenden Be— denken mit Stillſchweigen hinweg zu gehen, oder ſie zu vertuſchen, machte vielmehr ſelbſt wiederholt und mit Nachdruck auf die hin— 9 256 ſichtlich dieſer Fiſche ſich darbietenden Räthſel aufmerkſam*). Denn wie ſoll man ſich die allmälige Entſtehung eines Organs, welches erſt nützlich werden kann, wenn es ganz vollendet iſt, durch natürliche Zuchtwahl vorſtellen, von der Vorausſetzung ausgehend, daß dieſes Organ nur vorhanden wäre, um elektriſche Schläge auszutheilen. Aber dieſe Schwierigkeit kann uns, wie Darwin hinzuſetzt, nicht überraſchen, da wir nicht einmal genau wiſſen, worin der allgemeine Nutzen dieſer Organe beſteht. Beim Zitter— aal und Torpedo dienen ſie ohne Zweifel als kräftige Vertheidigungswaffen, vielleicht auch als Mittel, ihre Jagdbeute zu lähmen und dadurch bequemer zu fangen. Unter anderen findet ſich ein analoges Organ im Schwanze der Rochen, welches wie Mat— teucci beobachtet hat, nur wenig Elektrizität, ſelbſt bei ſtarker Reizung des Thieres, ent— wickelt, und zwar ſo wenig, daß dieſelbe kaum den genannten Zwecken dienen könnte. Ueberdies liegt, wie R. M' Donnell ge zeigt hat, außer dem eben erwähnten Organ noch ein anderes in der Nähe des Kopfes, von dem man nicht weiß, daß es elektriſch wäre, welches aber das wirkliche Homologon der elektriſchen Batterie bei Torpedo iſt. Um die Schwierigkeit noch zu erhöhen, bietet etwa ein Dutzend verwandtſchaftlich ſehr weit auseinander ſtehender Fiſcharten ana— tomiſch ganz ähnlich gebaute Organe dar, die man pſeudoelektriſche Organe ge— nannt hat, weil ſie keine merkbaren Schläge austheilen, ohne daß irgend ein anderer Nutzen oder eine beſtimmte Funktion an ihnen erkannt wäre. Sie compliciren da— durch das Problem, weil ſie an ganz ver— ſchiedenen Körperſtellen liegen, alſo nicht untereinander und mit den wirklich elektriſchen ) Entſtehung der Arten 5. Aufl. (deutſche Ausgabe.) S. 206—208. 3 Kleinere Mittheilungen. Apparaten als homolog betrachtet werden können, ſo daß man auch nicht annehmen kann, ſie wären durch Erbſchaft von einem gemeinſamen Vorfahren übrig geblieben, und in einigen Fällen durch Nichtgebrauch außer Thätigkeit geſetzt worden, reſp. in anderen Fällen ganz verſchwunden. Da die Rochen, unter denen ſich die meiſten elektriſchen Fiſche befinden, zu den älteſten Fiſchgeſchlechtern gehören, fo hätte man bei homologer Lage und Bildung leicht an ein gemeinſames Erb— theil der Urfiſche denken können, aber, wie geſagt, die elektriſchen Batterien und ihre unwirkſamen Abbilder treten an den ver— ſchiedenſten Körperſtellen auf, wozu noch kommt, daß nach den neueren Beobachtungen von Prof. Franz Boll das elektriſche Organ des Zitterwels weſentlich verſchieden konſtruirt iſt von demjenigen der Zitter— rohen. Man muß alſo wohl an eine un— abhängige Entſtehung dieſer verſchieden ge— bauten und gelegenen Apparate denken, und es würde dies darauf hindeuten, daß man ſowohl nach einer allgemeinen Grundlage, wie nach einer allgemeineren Entſtehungs— urſache zu ſuchen habe. Ganz ſo troſtlos, wie es im erſten Augenblick ſcheinen könnte, iſt übrigens die Darwin'ſche Theorie den elektriſchen Fiſchen gegenüber nicht. Zu— nächſt hat das Auftreten ſtarker elektriſcher Spannungen im thieriſchen Körper durch— aus nichts Auffallendes, da ſchwächere Ströme nach den berühmten Unterſuchungen Du Bois-Reymond'?s die beſtändigen Begleiter des Muskel- und Nervenlebens ſind. Dieſe Ströme aber, deren Nutzen wir ebenſo wenig kennen, ſtehen in einer ſehr beſtimmten Beziehung zu den Willens— akten, und der genannte Forſcher hat gezeigt, daß man ein Galvanometer, deſſen Draht— enden in zwei Gefäße mit Salzwaſſer tauchen, ſofort in Bewegung ſetzen kann, wenn man ee een EN in jedes Gefäß den Finger einer Hand taucht und den einen derſelben ſtark krümmt. Ja er zeigte ſogar, daß man auf dieſe Salzwaſſer, hundert Meilen weit telegraphi— ren, d. h. Ströme thieriſcher Elektricität durch Drähte ſo weit ſenden könnte. Da dieſe Fähigkeit wahrſcheinlich keinem Wirbel— thiere, vielleicht überhaupt keinem Thiere fehlt, ja ſogar den empfindlichen Pflanzen zukommt, ſo ergiebt ſich, daß eigentlich alle elektriſche Ströme zu verſenden, d. h. Zitterthiere zu werden. Es iſt nun ſehr verſtändlich, wa— rum ſich dieſe gemeinſame Anlage nur bei Salzwaſſerthieren in einigen Fällen aus— gebildet hat, denn einem Luftthiere wäre ihre Ausbildung ganz überflüſſig, und das elektriſche Inſekt aus Braſilien (Arumatia, eine Phasma⸗Art), von dem Maregrav erzählt hatte: „Si hominem feriat, aliquem tremorem exeitat in toto corpore,“ ge— hört ebenfo der Mythe an, wie die Elektri— citätsentwickelung der Scolopendra electrica und wahrſcheinlich auch diejenige eines elek— triſchen Strauches (Phytolacca electrica), welchen Herr Lewy (Hamburger Garten— und Blumen-Zeitung 1877, 1.) entdeckt haben will, und der, des Nachts ruhend, am Tage die Vögel, welche ſich auf dem— ſelben niederlaſſen, und die Menſchen, welche Zweige abbrechen wollen, durch ſtarke elek— triſche Schläge verſcheuchen, ja ſogar ohne Entladung den Compaß ablenken ſoll! Wenn man annehmen könnte, daß be— ſtimmte Seefiſche durch eine zufällige Ab- änderung in den Stand geſetzt worden wären, etwas ſtärkere Elektricitätsmengen als ſonſt willkürlich zu entſenden, ſo hätte ihnen dieſe Fähigkeit bereits nützlich werden können, wenn ſie auch vorläufig nur hin— reichte, ganz winzige Thiere zu lähmen, und Thiere eine Anlage dazu haben, willkürlich natürliche Zuchtwahl vorſtellen können. Dieſe Weiſe durch bloße Fingerbewegungen in Kleinere Mittheilungen. 257 man würde ſich in der That die weitere Vervollkommnung dieſer Apparate durch Hypotheſe würde vorausſetzen, daß die elektriſchen Organe aus Muskeln hervor- gegangen ſeien, durch eine entſprechendere Anordnung derjenigen Gewebstheile, welche die Nerv-Muskelſtröme erzeugen. Es iſt nun in der That ganz vor kurzem Herrn Babuchin der wichtige Nachweis gelungen”), daß die nicht nervöſen, wie die bindegewe— bigen Beſtandtheile der elektriſchen und pſeudoelektriſchen Organe bis zu gewiſſen Entwickelungsſtufen identiſch ſind, mit in der Entwickelung begriffenen Muskelfaſern. Das elektriſche Organ der Fiſche beſteht aus Plattenpaaren ungleicher organiſcher Materie, ganz wie eine voltaiſche Säule; das eine Glied jedes Elementes entſteht aus Muskelprotoplasma, das andere nervöſe Glied kann als eine Ausbreitung des oder der in jedes Plattenpaar eintretenden Nerven betrachtet werden. Die einzelnen Platten— paare ſind durch eine dem feuchten Leiter der voltaiſchen Säule vergleichbare Binde— ſubſtanz getrennt. Der morphogenetiſche Hauptunterſchied zwiſchen elektriſchen und pſeudoelektriſchen Organen würde nach Ba— buchin darin beſtehen, daß bei den erſteren embryonale, wiewohl bereits contraktions— fähige, bei den letzteren aber ſchon ganz entwickelte und funktionirende Muskelfaſern zu dem metaſarkoblaſtiſchen Gliede (wie Babuchin die Subſtanz der nicht nervöſen Plattenſchicht nennt) umgewandelt werden. Dort geht die aniſotrope Subſtanz der Muskelfaſer zu Grunde, hier bleibt ſie er— halten.⸗In Folge deſſen zeigen die pſeudo— elektriſchen Organe in ihrer Subſtanz eine ) Reichard's und Du Bois-Rey— mond's Archiv 1876, Heft 4 und 5. 258 Miſchung von einfach und doppelt brechen— den Elementen, wie die Muskeln, und bilden ſonach eine den letzteren genäherte Uebergangsbildung zu den elektriſchen Or— ganen, die eine ſolche optiſch heterogene Elementarzuſammenſetzung nicht zeigen und eben deshalb als durchaus unvergleichbar mit Muskeln bezeichnet worden waren. Kleinere Mittheilungen. in ſeinen erſt kürzlich“) veröffentlichten Unter— Durch dieſe entwickelungsgeſchichtlichen Stu- dien erſcheint die Frage nach dem Urſprunge der elektriſchen Organe gelöſt, und um dem Wie der Entſtehung näher zu kommen, wird es zunächſt darauf ankommen, ſich darüber klar zu werden, ob die pſeudoelektriſchen Organe Anfänge oder Rückbildungen der elektriſchen darſtellen, und ob ſie ſonſt irgend eine nützliche Funktion zu erfüllen im Stande find. Es erklärt ſich nun aus der Ent— ſtehungsweiſe auch, daß die elektriſchen Or— gane trotz ihres ſo ſehr verſchiedenen, bis in die Elementarbeſtandtheile ungleichen Baues, ſo vielfache Analogieen mit Muskeln darbieten. Insbeſondere hat ſich Mat— teucci bemüht, dieſe Uebereinſtimmungen im Einzelnen nachzuweiſen. Die Thätigkeit beider Organe ſteht unter dem Einfluſſe des Willens, kann aber auch ſowohl reflek— toriſch, als durch künſtliche Reizungen her— vorgerufen werden, was freilich auch von der Thätigkeit der Leuchtorgane, der Drüſen und ſelbſt des Gehirns gilt. Von beſon— derem Intereſſe in dieſer Beziehung war der Nachweis Matteucci's, daß Strych— nin durch Reizung des Rückenmarks re— flektoriſch ebenſowohl elektriſche Entladungen wie ſonſt Muskelzuſammenziehungen her— vorrief, was freilich nur für die Analogie der gleichen nervöſen Erregbarkeit beweiſend iſt. Radeliffe und Marey find noch weiter gegangen, und haben auf gewiſſe Aehnlichkeiten der Zitterrochen-Elektricität mit den Muskelſtrömen hingewieſen. Marey ſuchungen über die Entladung des Zitter— rochens ſagt: Wenn man die freiwillige oder durch einen Reiz hervorgerufene Ent— ladung des Fiſches theilweiſe durch ein Lippmann'ſches Capillar-Elektrometer gehen läßt, ſo ſieht man den Queckſilberfaden in ruckweiſer Bewegung vorwärts ſich bewegen, indem er ſtets weiter vorwärts rückt als er zurückgeht. Es hat ſomit eine Addirung der ſich folgenden Ströme ſtattgefunden, indem jeder einzelne noch nicht aufgehört hatte, wenn der folgende anlangte. Dieſe Addirung bildet eine auffallende Analogie zwiſchen der Entladungsweiſe des elektriſchen Aparates und der Contraktion eines Mus- kels. Elektriſche Strömungen in dem einen Falle, Muskelerſchütterungen in dem andern, folgen ſich in Zwiſchenräumen, die zu kurz find, als daß jeder einzelne Akt. Zeit hätte, abzulaufen, bevor der folgende ankömmt. Schon früher hatte Dr. Rad— eliffe hervorgehoben, daß in dem elektriſchen Apparate des Zitterrochens während der Ruhe eine Ladung vorhanden zu ſein ſcheine, welche derjenigen entſpricht, die in Muskel und Nerv während der Ruhe vorhanden iſt; ſo daß die Entladung bei Torpedo nur die Folge einer Anhäufung der ſich ſonſt langſam vertheilenden Elektricität ſein möchte. Mit dieſer Auffaſſung würde die 1858 von Eckhard und Du Bois-Reymond gemachte Entdeckung, daß das elckktriſche Organ, im Gegenſatze zum Muskel, in der Ruhe ſtromlos erſcheint, nicht im Wider— ſpruche ſtehen. Es iſt nach alledem inter— eſſant, zu erfahren, daß bereits der Entdecker des elektriſchen Organs beim Zitterrochen, Franz Redi, daſſelbe mit einem Muskel verglichen hat. Die Vorgeſchichte der Zitter— ) Comptes rendus. T. LXXXIV p. 354. Kleinere Mittheilungen. rochentheorie iſt überhaupt ſehr lehrreich und es verlohnt ſich, zum Schluße noch mit einigen Worten darauf einzugehen. Die alten Griechen und Römer wendeten be— kanntlich die an ihren Küſten häufigen Arten des Zitterrochen ziemlich allgemein als elek— triſche Heilapparate an, um Rheumatismus und ähnliche Nervenübel zu behandeln: die Elektrotherapie war längſt im Gange, ehe man eine Ahnung von Elektriſirmaſchinen oder gar von Induktionsapparaten hatte. Er⸗ findung der galvaniſchen Säule dem Dr. Volta um eine lange Reihe von Jahr— Die Rochen hatten aber in der tauſenden den Vorſprung abgewonnen. Im Allgemeinen glaubte man bis zu den | Zeiten Aldrovandi's, die Galle der Zitterrochen ſondere einen ſcharfen Saft ab, der ſich im Waſſer verbreite, und in ähnlicher Weiſe wie das ätzende Gift der Quallen und Meerneſſeln einen chemiſchen Reiz ausübe. Franz Redi bewies 1666, daß die Galle des Zitter⸗ rochens gar keine Schärfe beſitze und nicht die ihr von Plinius und Galen zu— geſchriebene Kraft habe: „ut flaceidum et imbelle reddat illud cornu, quo (ut Boccacius noster loquitur) homines arjetant“ wie er ſchalkhaft ſich ausdrückt). Aber die Alten hatten ſchon weitere Beobach— tungen gemacht und wahrgenommen, daß der Schlag des Zitterrochens ſich durch metallene Gegenſtände, ja durch feuchte Netze und Augelſchnuren fortpflanze, ſodaß der merkwürdige Fiſch ſogar den Händen der Fiſcher durch ſeine geheimnißvolle Kraft zuweilen entrann. Ein alter Mathematiker und Phyſiker, Heron von Alexandrien, hatte bereits ſeine philoſophiſchen Betrach— ) Franeiseus Redi, Experimenta eirca varias res naturales. Amstelaedami 1685. p- 57. 259 tungen über ein feines Fluidum angeſtellt, welches ſich von dem Fiſche aus durch die feineren Poren der ihn berühren— den Körper bis zu den menſchlichen Em— pfindungswerkzeugen verbreite. Der ur— ſprünglichſte Entdecker des elektriſchen Or— ganes war, wie uns Athenäus erzählt, der alte Naturkundige Diphilus von Laodicea geweſen, der aus uns unbekannten Gründen behauptet hatte, nicht von dem geſammten Körper des Fiſches gehe ſeine lähmende Kraft aus, ſondern nur von einem Theile deſſelben. Dieſem wahrſchein— lich nur muthmaßenden Entdecker folgte der Vater der Anatomie, indem er das— jenige Organ im Innern des Rochens als das Schläge ausıheilende bezeichnete, welches er in andern Fiſchen nicht gefunden hatte. Er nahm die beiden ſichelförmigen Körper, die man beim Genuße allgemein verwirft, für die Erzeuger der ſchmerzenden Kraft, über deren Natur er ſich ein Urtheil nicht erlaubte: „mihi tune quidem videbatur in his duobus falcatis corporibus vel musculis, potius quam in ulla alia parte residere virtus dolorifica torpe- dinis.“ “) Dieſe Vergleichung mit Muskeln iſt ſeitdem, und, wie wir nun ſehen, nicht ohne Grund, gegen allen Schein feſtgehal— ten worden; Reaum ur glaubte es ſogar mit einem beſonderen Sprungfeder-Muskel zu thun zu haben, der langſam zufammen- gezogen, plötzlich auseinanderſchnelle und ſo mechauiſch den heimtückiſchen Schlag hervor— bringt. Nachdem Adanſon die elektriſche Natur des Schlages vermuthet und J. Walſh ſie dargethan, ſind die elektriſchen Fiſche unendlich oft Gegenſtand wiſſen— ſchaftlicher Unterſuchungen geweſen. Auch hier knüpfen ſich immer mehr Fragen, je O . sr p- 60. = 260 weiter die Wiſſenſchaft vordringt, aber als beſondere Einwürfe gegen die Darwin! ſche Theorie werden ſie kaum eine Rolle mehr ſpielen, ſeitdem die Entſtehung der elektriſchen Organe aus Muskelfaſern nach— gewieſen wurde. So ſchwindet eine Schwie— rigkeit nach der anderen. RK. Schmetterlingsdüfte. Daß die Blumen nicht darum duf— ten, um unſere Naſen zu erfreuen, ſondern um ſich kleineren Weſen trotz der Dunkel— heit und Unſcheinbarkeit ihrer Färbung bei Tag und Nacht bemerkbar zu machen, darauf hat unſer verehrter Mitarbeiter Dr. H. Müller an verſchiedenen Stellen ſeines Hauptwerkes ) aufmerkſam gemacht. Sein Bruder, Dr. Fritz Müller in Blumenau (Braſilien) vermuthet in einer vorläufigen Mittheilung“ *), daß auch die Blumen der Luft, wie Jean Paul ein— mal die Schmetterlinge genannt hat, ſich ebenfalls in die Ferne geſendeter Düfte als einer Art Blumenſprache in Liebes— angelegenheiten bedienen, ſofern allem An— ſcheine nach die Männchen durch charakte— riſtiſche Ausdünſtungen die Weibchen aus beträchtlichen Entfernungen herbeilocken. Er fand nämlich die Männchen verſchiedener Flügeln ausgezeichnet, von denen, ſogar den Menſchen bemerkbar, charakteriſtiſche Gerüche ausſtrömen. Dieſe Haar- und ) Die Befruchtung der Blumen durch ) Inſekten, S. 426—433. a) Jenaer Zeitſchr. f. Naturwiſſenſchaft, 1877, Heft 1. Kleinere Mittheilungen. bilde handeln müſſe. dann Arten von Tagfaltern durch eigenthümliche Haar- und Schuppenbildungen auf den zahl der Fälle dadurch aus, daß ſie für gewöhnlich nicht offen der Luft ausgeſetzt ſind, ſondern eingeſchloſſen liegen, ſei es, und dies iſt der häufigſte Fall, zwiſchen dem Innenrand der Hinterflügel und dem Hinterleibe, ſei es in einem Umſchlage am Vorderrand der Vorder- oder am Hinter— rand der Hinterflügel, ſei es endlich in beſonderen Furchen, Schlitzen oder Taſchen. Zuweilen treten dieſe Gebilde auch frei auf der Flügelfläche auf, aber dann ſtets auf der oberen Seite, ſo daß ſie wenigſtens bei aufrechter Haltung der Flügel einge— ſchloſſen werden. Die Schuppen der be— treffenden Duftflecken pflegen ſehr dicht ge— drängt und aufrecht zu ſtehen, die Haar— büſchel und Pinſel ſcheinen ſogar eines freiwilligen Sträubens fähig zu ſein; wenigſtens war dies bei einem Haarpinſel auf der Mittelzelle der Hinterflügel von Opsiphanis Cassiae der Fall. Schon längſt hatte das häufige Vorkommen dieſer Flecke und Haarbüſchel bei männlichen Fal— tern der verſchiedenſten Gattungen am Vor— derrande der Hinterflügel zwiſchen Coſtalis und Subcoſtalis, wo ſie vom Innenrande der Vorderflügel bedeckt werden, Herrn Fritz Müller die Vermuthung auf— gedrängt, daß es ſich hier um eine beſtimmte, allgemeine Funktion dieſer Ge— Zufällig bemerkte er bei einem Männchen von Calli- dryas Argante, daß von den mähnen— artigen Haaren der Hinterflügel ein deut— licher Moſchusgeruch ausſtröme, bei Pre— pona Laörtes bemerkte er einen anderen Duft, den feine Kinder als Fledermaus— Schuppengebilde zeichnen ſich in der Mehr- Geruch charakteriſirten, bei den Männchen von Dircenna Xantho wurde Vanilleduft feſtgeſtellt, und bei Thecla Atys kehrte der Fledermausgeruch wieder, wobei jedesmal von verſchiedenen Beobachtern die erwähn— Kleinere Mittheilungen. ten Stellen als Ausgangspunkte dieſer Ge rüche erkannt wurden. Mancherlei Gründe ſprechen dafür, daß dieſe Bildungen ſpeciell der Geruchabſonderung und Ausbreitung nicht bei Abend- und Nachtſchmetterlingen in noch größerer Ausdehnung finden ſoll— angepaßt ſind. Bei der erſt- und letzt genannten Art, ſowie in anderen Fällen, zeigte ſich die Unterlage der Duftflecken von baumartig verzweigten durchzogen. Ueberdem kann man ſich kaum ein beſſeres Mittel denken, um ein Parfüm ſchnell durch die Luft zu verbreiten, als einen damit befeuchteten, aus einander ge- ſträubten und luftdurchſpülten Haarpinſel, und daß dieſelben für gewöhnlich der Luft nicht ausgeſetzt ſind, kann dieſe Auffaſſung nur noch unterſtützen. in manchen Fällen ein beſonderer Geruch nicht wahrgenommen werden, aber man kann nicht wiſſen, ob die Schmetterlings— naſen nicht darin empfindlicher ſein mögen. Uebrigens kommen, wie Herr Fritz Müller bemerkt, auch noch anderweite Abſonderungs⸗ organe für riechende Subſtanzen vor, ſei es, daß dieſelben als Anlockungs- oder Abſchreckungsmittel dienen. So fand er bei den Männchen der meiſten Glaucopiden am Ende des Hinterleibes auf der Bauchſeite zwei aufrichtbare und mit ſich ſträubenden Haaren beſetzte Hohlfäden vor, die einen mehr oder weniger ſtarken und widerlichen Geruch abſonderten, der z. B. bei Belem- nia inaurata an eine Miſchung von Blau— ſäure und Chloroform erinnert. ſelbe als Abſchreckungsmittel dient, mag Verfolgung ſchützen, auch wenn das Männ— chen allein ſolche Abſonderungen beſitzt und umgekehrt, ja die Mimicry begünſtigen, von welcher Wallace und Leates ſo merkwürdige Fälle bei Schmetterlingen bes Dieſe intereſſauten Mit⸗ Inſeln erſtreckt. obachtet haben. theilungen ſollen, wie der Verfaſſer an— Allerdings konnte Wo der⸗ pflichtet ſind. die Aehnlichkeit des Weibchens daſſelbe vor Luftröhren 261 deutet, mehr zu weiteren Beobachtungen anregen, als daß ſie eine feſtgeſtellte That— ſache behaupten wollen. Es wäre z. B. merkwürdig, wenn ſich ähnliche Organe ten. N. Die Verbreitung der Menſcheuraſſen durch Luft- und Waſſer-Strömungen. Am Schluſſe eines längeren Vortrages, welchen der Kapitän Freiherr von Schlei— nitz in den Sitzungen der berliner anthro— pologiſchen Geſellſchaft vom 11. und 21. April c. über die anthropologiſchen Ex— kurſionen der „Gazelle“ hielt, ſtellte derſelbe eine aus ſeinen Beobachtungen abgeleitete Theorie über die Richtungen auf, in denen die Inſeln der Südſee bevölkert worden ſein möchten. Es erſcheint ihm aus mancherlei Gründen für ſehr wahrſcheinlich, daß es ſich hierbei um zwei einander faſt entgegen— geſetzte Richtungen handeln möchte, in denen dieſe Bevölkerung ſtattgefunden zu haben ſcheint, und die mit den herrſchenden Luft— ſtrömungen übeinſtimmen. Es iſt klar, daß oceaniſche Inſeln den Winden und Waſſer— ſtrömungen nicht nur für die Zuführung von Pflanzenſamen und Flugthieren, ſondern auch für die unfreiwillige Zuwanderung den Elementen preisgegebener Kahnfahrer ver— Es ließ ſich nun zunächſt aus den Beobachtungen ein keilförmiges melaneſiſches Dreieck conſtruiren, deſſen Baſis Neu-Guinea und der Norden Auſtra— liens bilden, und welches ſich genau in der Richtung des dort während einiger Monate des Jahres wehenden weſtlichen Monſuns mit ſeiner Spitze bis nahe an die Fidſchi— Dieſes Dreieck iſt offen— bar von Neu-Guinea aus, d. h. vom Welten her, mit der Papua-Race bevölkert worden. Die Bewohner aller übrigen Inſeln ge— hören der helleren Polyneſier-Race an, deren Einwanderung von der entgegengeſetzten Seite her, durch den regelrechten O. S. O- Paſſat erfolgt ſein müſſe. Ganz deutlich in der Richtung dieſes Windes erſtreckt ſich parallel jenem melaneſiſchen Zuge eine Reihenfolge kleiner, faſt nur von reinen Polyneſiern bewohnter Inſeln; ein zweiter, ebenfalls rein polyneſiſcher Streifen führt, dem erſteren parallel, in etwas größerem Ab— ſtande über die Gilberts- und Marſchall— inſeln nach den Karolinen und andern In— ſeln mit malayiſcher Bevölkerung. Freiherr v. Schleinitz ſchließt deshalb, daß die Verwandtſchaft der Malayen und Polyne— ſier nicht durch eine direkte Bevölkerung von Aſien aus zu erklären ſei, ſondern daß ſie durch das außertropiſche Gebiet der Weſtwinde über Amerika ihren Weg ge— nommen haben müſſe, da er die Unmög— lichkeit einer Bevölkerung gegen Meeres— ſtrömung und Wind in jenen Gegenden kennen gelernt und als praktiſcher Seemann erprobt habe. Man wird der Anſicht eines praktiſchen Seemannes, der zugleich Anthropologe iſt, in dieſer Frage ein be— deutendes Gewicht beimeſſen müſſen, aber bevor man ſeiner Theorie zuſtimmt, dürfte es doch noch zu erwägen ſein, ob die Ver— ſchlagungs-Chancen nicht dennoch größer für geringere Strecken von Inſel zu Inſel (durch Ausnahmswinde), als für ungeheure ftationg- loſe Meeresweiten durch die herrſchenden Winde ausfallen? Haben in neueren Zeiten nachweislich jemals Landungen amerikaniſcher Boote an polyneſiſchen Eilanden ſtattge— funden? K. Kleinere Mittheilungen. Parthenogeneſis bei einer deutſchen Alpenpflanze. Herr Prof. A. Kerner in Innsbruck erſtattete der Wiener Akademie der Wiſſen— ſchaften vor Kurzem Bericht über die von ihm bei einer deutſchen Alpenpflanze beob— achtete Parthenogeneſis. Geburt iſt bekanntlich im Pflanzenreiche viel ſeltener beobachtet worden, als in der Zoologie und — Religionsgeſchichte, und jeder derartige Erkenntnißbeitrag hat An— ſpruch auf unſer lebhaſtes Intereſſe. Es handelt ſich um eine Compoſite der höhern Alpenregion, die eine nahe Verwandte des allbekannten und allbeliebten Edelweiß oder Löwentätzchens iſt, nämlich um das Alpen— Katzenpfötchen (Autennaria alpina). Dieſe Pflanze iſt gleich dem ſchönen Katzenpfötchen der Ebene (X. dioica) und anderen Schweſtern diöciſch, und wurden männliche Exemplare derſelben nur höchſt ſelten angetroffen. Prof. Kerner, der die weibliche Pflanze ſeit 1874 im botaniſchen Garten von Innsbruck pflegte, hat die männliche Form nie zu ſehen bekommen. auch die Möglichkeit einer Befruchtung durch Inſekten mit Pollen der eignen oder ver— wandten Arten ausſchloß, die Pflanzen brachten dennoch eine Anzahl reifer Samen, die er im Frühjahr 1875 ausſäete. Von dieſen keimten ſechs; vier gingen ein, aber zwei wuchſen ebenſo üppig auf, wie die Mutterpflanzen, ohne ein Zeichen von Ba— ſtardnatur zu zeigen. Da die männlichen Pflanzen im Freien ſo außerordentlich ſelten ſind, ſo glaubt Prof. Kerner, daß ſich auch die wilde Pflanze für gewöhnlich ohne Befruchtung fortpflanze. Indeſſen wird man über dieſe merkwürdige Erſcheinung noch weitere Verſuche anſtellen müſſen, denn ſchon bei einfachen Blüthen iſt es oft ſchwer genug, Die jungfräuliche Aber jo forgfältig er die Abweſenheit aller und jeder Pollen— bildung feſtzuſtellen, bei ſo kleinblüthigen Compoſiten, wie Antennaria, erhöht ſich dieſe Schwierigkeit noch weſentlich. K. Der Formenreichthum der Chinabäume. Unter den Pflanzenfamilien, welche be— ſonders geeignet erſcheinen, die Schwierig— keiten des Artbegriffes zu erläutern, hat Herr Dr. W. O. Focke in ſeiner Arbeit im 2. Heft des „Kosmos“ mit gutem Fug auch auf die Cinchonen hingewieſen. Sie ſind in der That den Botanikern der neuen Welt geworden, was jenen der alten die Weiden, Brombeeren u. ſ. w. geweſen ſind, und die Pharmakologen haben einen beſon— deren Ausſchuß von Chinologen deputiren müſſen, um der ſo ſchwierigen und doch ſo geſchätzten Formengruppe Herr zu werden, was ſodann in zahlreichen Monographien verſucht worden iſt. Der neueſte Bearbei— ter dieſes edlen Geſchlechtes, Herr Dr. Kuntze, iſt hierbei nun zu ganz ähnlichen Ergebniſſen gelangt, wie der oben genannte Kleinere Mittheilungen. Naturforſcher, und führte in den diesjäh— rigen Januar- und Februar-Sitzungen des botaniſchen Vereins der Provinz Branden- burg aus, daß er von dem geſammten großen Heer anſcheinend ſo ſehr verſchiedener Formen nur etwa vier als wirkliche Arten anerkennen könne, nämlich Cinchona Wed- delliana Ktze; C. Pahudiana Howard; C. Howardiana Ktze. und C. Pavoniana Ktze.; alle übrigen ſeien Baſtarde. Nörd- lich vom Aequator kämen beinahe nur Ba— ſtarde vor, zu denen auch die meiſten der in Oſtindien, ſowohl am Himalaya wie auf Java angepflanzten Formen gehören, diejenigen nicht ausgenommen, welche man früher mit für Hauptarten angeſehen hat, wie C. officinalis, laneifolia und cordi- folia. Dieſe Baſtarde bilden ſich ebenfo leicht ſpontan, wie ſie ſich künſtlich erzeugen laſſen, und ſind, was am meiſten bemer— kenswerth erſcheint und die Verwirrung ſteigerte, nicht ſelten völlig fruchtbar. Es ſcheint, daß die Baſtarde ſich leichter akklimatiſiren laſſen, als die reinen Formen, und daß unter ihnen die unfruchtbaren Formen reicher an Chinin ſind, als die fruchtbaren. K. Die geſchichtliche Entwicklung des Farbenſinnes. nter vorſtehendem Titel hat Herr Dr. Augenheilkunde in Breslau, durch 9 feine Forſchungen auf den Gebieten der Phyſiologie und Pathologie des Ge— ſichtsſinnes in weiten Kreiſen bekannt, eine kleine Schrift“) veröffentlicht, in welcher er von ſeinem Standpunkte aus die von Lazarus Geiger auf ſprachlichen Grundlagen ausführlich begründete Anſicht, daß der menſchliche Farbenſinn ſich erſt in hiſtoriſchen Zeiten aus einfachen Anfängen entwickelt habe, weiter auszuführen und phyſiologiſch zu rechtfertigen ſucht. Da die Frage ein allgemeineres Intereſſe bean— ſpruchen darf, und der Beifall eines ſo ge— wiegten Forſchers auf phyſiologiſchem Gebiete der ſprachlichen und hiſtoriſchen Kritik ein Ge— wicht giebt, welches ſie bis dahin nicht be— ſeſſen hat, ſo werden wir der Darlegung unſerer Bedenken eine ausführliche Analyſe des Ganges und der hauptſächlichſten Ge— ſichtspunkte dieſer inhaltreichen Abhandlung vorausſchicken. *) Leipzig, Veit & Co. 1877. 61 Literatur und Kritik. | der Naturmenſchen, die den Kulturvölkern abhanden gekommen iſt, keinen Einwand Hugo Magnus, Privatdocent der Mit Recht hebt der Herr Verfaſſer im Eingange hervor, daß die vielgerühmte und thatſächlich beſtehende Sin nesſchärfe gegen die Annahme, daß die Sinne durch die Kultur entwickelt werden, begründet. Denn jene gerühmte Sinnesſchärfe kommt nur der elementaren Thätigkeit der Organe zu, ſie betrifft die durch fortwährenden Gebrauch geübte Fähigkeit, den fernſten Punkt im Netz— hautbilde richtig zu deuten, das leiſeſte Geräuſch zu hören, wohl gar, wie die Thiere, mit der Naſe die Nähe oder das Dageweſenſein ausdünſtender animaliſcher Weſen zu „wittern“. Aber wie ſchon Geiger und Andere bemerkt haben, geht dem Naturmenſchen der Sinn für angenehme, harmoniſche Farben, Töne, Gerüche und Geſchmacksempfindungen mehr oder weniger ab; ſie würdigen weder die Leiſtungen eines Farbenkünſtlers noch die eines Contrapunk— tiſten, ja nicht einmal die Eſſenzen eines Parfümeurs und die Delikateſſen eines Koch— künſtlers. Auch bringt das Menſchenkind gebildeter Klaſſen nicht die Abneigung gegen Mißgerüche, ſchreiende Farbenzuſammen— ſtellungen, disharmoniſche Muſik, welche ſeine Eltern auszeichnet, mit auf die Welt, ſondern beanſprucht in feinen Sinnegempfin- dungen Erziehung und Ausbildung, worin man gewiß mit wohl verſtandener Beſchrän— kung eine Analogie der Sinnesentwicklung durch die Cultur erblicken darf. In einem ähnlichen Sinne glaubte nun Geiger nachweiſen zu können, daß die Ur- völker nicht für alle Farben des Spektrums die gleiche Empfänglichkeit uranfänglich be— ſeſſen hätten, daß ihnen namentlich die blaue Farbe kaum aus der Dunkelheit aufge— dämmert ſei, weshalb ſie dieſelbe häufig mit Schwarz verwechſelt hätten, und daß nächſt— dem auch Grün in gleicher Weiſe von ihnen mit Grau zuſammengeworfen worden ſei. Den Regenbogen, den wir ſiebenfarbig nennen, bezeichnet enophanes als eine Wolke: purpurn, roth und gelbgrün; Ariſtoteles nennt ihn ebenfalls dreifarbig: roth, grün und blau, bemerkt aber, daß zwiſchen roth und grün ein gelblicher Ton erſcheine. Die Edda ſchildert den Regenbogen als dreifarbige Brücke. Da ſchon in der Farbenbezeichnung des Regenbogens ſichtbare Auffaſſungs-Verſchiedenheiten hervortreten, glaubt der Verfaſſer von den beſtimmten Bezeichnungen abſehen zu ſollen, um die Farben für eine ſolche hiſtoriſche Betrach— tung lediglich nach ihrer Lichtſtärke zu klaſſificiren. Es ergiebt ſich hierbei, daß die Empfänglichkeit für die lichtreichen, dem rothen Ende des Spektrums näheren Farben, alſo beſonders für Roth und Gelb, ſich bis in die älteſten Schriftzeiten verfolgen läßt. In Perioden, in denen keine andren Farben genannt werden, begegnen wir doch ſtets dieſen beiden „Urfarben“. Indeſſen meinte Geiger, daß dieſe Bezeichnungen nicht ſchlechthin mit dem, was wir jetzt darunter verſtehen, zu verwechſeln ſeien; Roth diejenige von Helligkeit, Lichtfülle überhaupt, weshalb es in den Rigveda- Beſchränkung an, obwohl er ſtatt En Literatur und Kritik. Pythagoras, Gelb hatte der ſprachlichen Ableitung nach eher die Bedeutung von Gelbroth und 265 liedern häufig mit Weiß zuſammenfällt. Es wäre alſo nur eine Empfindung des Hellen überhaupt geweſen, die man im Gegenſatz zum Dunkel mit Roth bezeichnete. Nach der Anſicht von Magnus müßte man indeſſen annehmen, daß dieſe beiden Farben nicht allein ihrer Lichtſtärke, ſondern auch ihrer Farbenqualität nach zuerſt unter— ſchieden worden wären. Gladſtone hat bereits 1858 in ſeinen Homerſtudien zu erweiſen geſucht, daß in der Entſtehungszeit der homeriſchen Gedichte nur die lichtreichen Farben Roth und Gelb deutlich klaſſificirt wurden, während die Farben mittlerer und geringerer Lichtſtärke: Grün, Blau, Violett, im Hintergrunde blieben. Die Bezeichnung für Grün fiel mit dem Begriff des Fahlen, Gelblichen (XAwgos), für Blau und Violett mit dem des Dunklen (avaveos) zuſammen. Gladſtone hat ferner darauf hingewieſen, wie Homer eine Unzahl Worte für Helligkeitsunterſchiede verwen— dete und eine Anzahl anderer Philologen hat dieſe auffallende Armuth an Farben— bezeichnung der homeriſchen Schilderungen im Gegenſatze zu ihrer plaſtiſchen Aus— malung zum Gegenſtande ihrer Betrachtungen gemacht. Für Roth, welches am häufigſten vorkömmt, werden dagegen verſchiedene Be— zeichnungen verwendet. Der Verfaſſer er— innert ferner an die Erzählung des Plinius, daß man zuerſt nur einfarbige Ge— mälde und zwar rothe mit Zinnober oder Mennige gemalt habe, ſpäter dann vier— farbige, nämlich mit weißen, ſchwarzen, rothen und ockergelben Pigmenten. In ähnlicher Weiſe führten die alten Philoſophen Timäus Locrus und Empedokles nur vier Hauptfarben: Schwarz, Weiß, Roth und Gelb auf, ja ſelbſt Theophraſt ſchließt fi noch dieſer N 5 266 Literatur und Kritik. Gelbgrün nennt. Ewald in ſeinen neuen Unterſuchungen über die Farbenbewegung findet, daß die Vorliebe der Alten für Gelb eine ungemein große war, während es um— gekehrt bei uns mißliebig geworden iſt durch eine Verſchiebung des Farbengeſchmacks. Die Farben mittlerer Lichtſtärke, dem Grün entſprechend, würden kaum die Empfindung der älteren Kulturvölker angeregt haben. Die zehn Bücher der Rigveda geben nach Geiger der Erde ebenſowenig das uns ſo geläufige Beiwort grün, als ſie am Himmel die Bläue vermerken. Ebenſo werden im Zendaveſta weder die Erde noch die Bäume und Pflanzen jemals als grün bezeichnet. Geiger und Magnus ſchließen daraus, bei den Alten müſſe die Empfäng- lichkeit für die grüne Farbe noch gefehlt haben. Bei den Griechen glauben ſie dann wahr— zunehmen, wie dieſe Farbenempfindung ſich allmälig entwickelt und einerſeits vom Gelben, andrerſeits vom Grauen ſich losringt. Geiger und Schuſter hoben ausdrück— lich hervor, daß 4 ss bei Homer gelb bedeutet und mit 70s, ockerfarbig, als gleichbedeutend gebraucht wird, Heſiod dagegen bereits den belaubten Zweig mit dieſem Worten bezeichnet. Chloros bedeutete übrigens zunächſt immer Gelbgrün und Ariſtoteles ſtellte ihm ausdrücklich das geſättigte Lauchgrün gegenüber. Homer nennt den Honig und die fahle Farbe der Angſt IJ οο, allerdings auch einmal ebenſo die Saat, wodurch die Vermuthung entſteht, als habe dies Wort urſprünglich nur überhaupt einen fahlen gelblichen Ton bezeichnet. Allmälig aber gewann der Aus- druck die Bedeutung von Gelbgrün, ſo— dann von Grün überhaupt, als ob er ſich mit dem Empfindungsvermögen erſt zu einer beſtimmten Bedeutung entwickelt hätte. Aehnlich verhält es ſich mit dem egyptiſchen urſprünglich Worte tehen, welches nach Pietſchmann eine vage Bezeichnung wie chloros iſt und keineswegs bloß Gelb be— deutete, denn Tehennu hießen die hellfar— bigen Völker Lybiens und s-tehen bedeutete „ergrünen laſſen.“ Das ſchon erwähnte Lauch— grün, me«owog oder co, ſchloſſen die Naturkundigen phyſikaliſch an die dunklen Farben an, indem ſie im Gegenſatze zu dem an das lichte Gelb anlehnenden chloros her— vorheben, daß es ſehr viel Dunkelheit und Schwärze enthalte, wobei überall in der Klaſſifizirung das Beſtreben hervortritt, die Lichtſtärke der Farben hervorzuheben. Die Farben geringerer Lichtſtärke, dem ſpektralen Blau und Violett entſprechend, wären nach Geiger und Magnus noch ſpäter als Grün zur ſpecifiſchen Unterſchei— dung gelangt, denn es ſeien im grauen Alter— thume die Bezeichnungen für Lichtblau mit Grau, und für Dunkelblau mit Schwarz zuſammengefallen. Wir ſähen ſie an der Hand der Schriftunterſuchung faſt ſichtbarlich aus der Empfindungsnacht hervortreten. Der Ausdruck yAavaos, den man jetzt nicht ſelten mit Hellblau überſetzt, hätte urſprünglich ebenfalls nur die Be— deutung einer Helligkeitsſtufe gehabt, ein fahles Grau, wie es uns in den blaugrauen oder „glauen“ Augen entgegentritt, nicht aber ein reines Blau. Geiger will ent— deckt haben, daß in den vediſchen Büchern, in dem Aveſta, in der Bibel und ſelbſt noch in dem Koran () der Himmelsbläue eben— ſowenig Erwähnung geſchehe, als in den homeriſchen Schriften. auch erwähnt werde, niemals erhalte er dieſe Bezeichnung, ja in allen dieſen Schriften komme ein Wort für reines Blau über- haupt nicht vor. Das altnordiſche bla, das Stammwort für blau und black be- deutet ſchwarz. In der finniſch⸗tatariſchen So oft der Himmel 7 * — 267 3 Literatur und Kritik. | violetten Farbe gegenüber noch keine ſpezi— Sprachfamilie heißt kek, kök, urſprünglich grau, dann blau und grün. Das Ara— mäiſche hat ebenſowenig wie das Hebräiſche ein ſelbſtſtändiges Wort für die blaue Farbe ausgebildet, und die Bibel, welche des Him— mels 450 Mal erwähnt, konnte ihn nir— gends blau nennen. Das Wort nil, welches über einen großen Theil von Aſien ver— breitet iſt, und jetzt indigblau bedeutet, be— ſagte urſprünglich ſchwarz. Die romaniſchen Sprachen mußten ihre Bezeichnung für blau (biavo, bleu) von dem nordiſchen bla erbor— gen, welches, wie ſchon erwähnt, ſchwarz heißt. Das altchineſiſche Wort hiuan, welches man heute für Himmelbau gebraucht, be— deutete ebenfalls urſprünglich Schwarz: hiuan te heißt nicht blaue Tugend, ſondern dunkle, verborgene Tugend. Ebenſo bezeichnete denn auch das griechiſche Wort xvavsos, welches wir jetzt mit kornblumenblau überſetzen, beim Homer ſchwarz. Er nennt das Haar des Hektor, des Odyſſeus, der Hera und des Zeus kya- neos, und es fällt Niemand ein, die berühmte Stelle, nach welcher Phidias ſeinen Zeus gebildet haben ſoll, etwa zu überſetzen: „Er ſprach es und mit den blauen Augenbrauen winkte er.“ An anderen Stellen gebraucht Homer xvavsos und nel als völlig gleichwerthig, nur um abzuwechſeln, wo er z. B. von dem ſchwarzen Trauergewande der Thetis ſpricht. Odyſſeus mit der dunkelvioletten Hyacinthe, Pindar ſpricht von Veilchenflechten und Veilchenlocken. ſcheinlich hervorzugehen, daß in den homeri— ſchen Zeiten die Netzhaut der blauen und In ähnlicher Weiſe wird Violett mit Schwarz ſozuſagen ver- wechſelt. Homer vergleicht die Haare des Es ſcheint hieraus den er⸗ wähnten und anderen Kritikern als wahr- fiſche Empfindung beſaß, ſondern ſie ihrer Lichtſchwäche wegen einfach mit dem Licht— mangel, der Dunkelheit vermiſchte. Die— ſelbe ſprachliche Unbeſtimmtheit wie den griechiſchen Bezeichnungen für Blau, haftet dem lateiniſchen Worte caeruleus an, welches urſprünglich die ganze Tonleiter von Graugrün und Graublau bis Schwarz bezeichnete und nur allmählig die Bedeutung eines mehr oder weniger reinen Blau's gewann. Noch Virgil gebraucht Wen- dungen wie caeruleus puppis (der ſtygiſche Nachen des Charon), Valerius Flaccus giebt der Finſterniß, Statius der Nacht und dem Schatten daſſelbe Bei— wort, und Servius bemerkt zu einer Stelle des Virgil, in welcher caeruleus als Trauerfarbe figurirt, das Wort ſei auch mit niger gleichbedeutend. Aus den vorſtehend in ihren Haupt— punkten erwähnten Folgerungen vorwiegend 8 ſprachlicher Natur, zieht Magnus folgende Schlüſſe, die ich wörtlich anfüh— ren will: 1) „In feiner erſten und primitivſten Entwicklungsperiode beſchränkte ſich der Farbenſinn nur erſt auf die Empfänglichkeit für Roth; jedoch war auch dieſe Empfin— dung noch keine reine und deutlich ausge— ſprochene, ſondern fiel zum Theil noch mit der des Hellen und Lichtreichen zuſammen, ſo daß Weiß und Noth noch keine ſcharf geſchiedenen Begriffe waren. Da nun aber die Empfindung des Hellen, Lichtreichen und des Dunklen, Schattigen, nicht ſowohl eine Funktion des Farben-, als vielmehr des Lichtſinnes iſt, jo dürfte in dieſer Per riode der Lichtſinn, d. h. die Fähigkeit, die verſchiedenen Lichtquantitäten zu em- pfinden, nur erſt die einzige Funktions äußerung der Netzhaut geweſen ſein, und folglich der Farbenſinn ſich nur erſt in — 5 wi. S 268 wenig charakteriſtiſchen und höchſt unter— geordneten Spuren bemerkbar gemacht haben. 2) In der folgenden Phaſe ſeiner Ent— wicklung tritt der Farbenſinn ſchon in einen ſcharfen und deutlich ausgeſprochenen Gegenſatz zu dem Lichtſinn; die Empfäng— lichkeit für Roth und Gelb löſt ſich von der des Hellen, mit der ſie bis dahin ver- ſchmolzen war, vollſtändig los und ge- ſchen Phyſiker ſie ausdrücklich als Hellig— winnt den Charakter einer ſelbſtſtändigen und ſpecifiſchen Farbenempfindung. 3) Im weiteren Verlaufe geſtaltet ſich die Entwickelung des Farbenſinnes derart, daß an die Fähigkeit, die lichtreichen Far- ben Roth und Gelb zu empfinden, ſich die Empfindlichkeit Lichtſtärke anſchließt. Im Beſondern ent— wickelt ſich die Kenntniß der hellen Töne des Grün aus der allgemeinen Vorſtellung des fahlen Gelb, während die des dunklen Grün aus der allgemeinen Vorſtellung des Dunklen und Schattenreichen her— vorgeht. 4) Das Empfindungsvermögen für die lichtſchwachen Farben Blau und Violett tritt zuletzt auf, indem es ſich ganz all— mählig aus der Vorſtellung des Dunklen, in der es bis dahin vollſtändig aufging, loslöſt. Mithin iſt der Entwicklungsgang, welchen der Farbenſinn eingeſchlagen hat, in der Weiſe erfolgt, daß er, entſprechend der Reihenfolge der prismatiſchen Farben, bei den lichtreichſten Farben begonnen hat und, genau an die allmälige Lichtabſchwä— chung der Spectral-Farben ſich haltend, durch Grün zu Blau und Violett vorge— geſchritten iſt.“ In einem letzten und wichtigſten Ka— pitel fügt der Verfaſſer hinzu, daß jener erſten Stufe der Empfindung des Rothen nach dem Entwicklungsgeſetze noch eine für die Farben mittlerer Literatur und Kritik. niedrigere voraufgegangen ſein müſſe, in welcher die Netzhaut gar nichts von den Lichtqualitäten, ſondern nur ihre Quanti— täten, die Schattirungen zwiſchen Hell und Dunkel, empfand. Dieſe Phaſe würde der ſchriftloſen, vorgeſchichtlichen Zeit angehört haben und die griechiſchen Philoſophen, namentlich Anaxagoras, ſprachen von einer Zeit, in welcher noch keinerlei Farben exiſtirt haben ſollten, während die griechi— keitsquantitäten, als Miſchungen von Hell und Dunkel, wie ſpäter Göthe, erklärten. Aber ſelbſt die gegenwärtige Funktions— fähigkeit unſerer Netzhaut ſpricht, nach Magnus, ſehr deutlich für die Behaup— tung, daß in gewiſſen früheren Perioden die Empfindlichkeit für Farben noch vollſtändig gefehlt haben müſſe. „Denn die Fähig— keit, Farben zu empfinden, iſt auch heut— zutage noch nicht allen Theilen der Netz— haut in der gleichen Weiſe eigenthümlich, vielmehr beſchränkt ſich dieſelbe hauptſächlich nur auf einen mehr oder minder aus— gedehnten, centralen Theil derſelben, wäh— rend die peripheriſche Netzhautzone eine höchſt ausgeprägte Trägheit der Farbenempfindung zeigt. Die in dem mittleren Theile der Netzhaut ſich ſehr kräftig bemerkbar ma— chende Empfindung eines jeden Farbentones wird gegen die Netzhautperipherie hin nicht blos auffallend ſchwächer, ſondern ver— ſchwindet ſchließlich völlig und an dem farbigen Object wird nicht mehr deſſen Farbenwerth unterſchieden, ſondern daſſelbe imponirt dem Auge nur vermitttelſt der _ ihm eigenen Lichtſtärke; ſo daß daher jede Farbe in gewiſſen peripheriſchen Bezirken der Netzhaut als mehr oder minder aus— geſprochenes Grau erſcheint. Wenn wir alſo beobachten, daß der Zuſtand, welchen wir als den urſprünglich der geſammten Literatur und Kritik. Netzhaut eigenthümlichen vorausgeſetzt haben, noch heute für gewiſſe Netzhautbezirke der der Entwickelung begriffen phyſiologiſche ift: jo wird unſere Behaup- | tung, daß dieſer Zuſtand in früheren Peri— oden nicht blos auf einzelne Bezirke der Netzhaut beſchränkt, ſondern allen Theilen der | Netzhaut eigenthümlich geweſen ſei, gewiß erheblich an Wahrſcheinlichkeit gewinnen.“ Damit im Einklang hat der Verfaſſer an kleinen Kindern die Beobachtung gemacht, daß anfangs nur lichtreiche Farben, nament— lich Roth ihre Aufmerkſamkeit erregen, ſo⸗ daß man ſelbſt noch bei Kindern, die über ein Jahr alt ſind, eine auffallende Gleich— gültigkeit gegen alle unbeſtimmten Uebergangs— farben beobachtete. Worin dieſe Vervoll— kommnung der Netzhautthätigkeit nun be— ſteht, läßt ſich vor der Hand nur ahnen und als Steigerung der ſpecifiſchen Ener— gie des Sinnes betrachten. Vielleicht giebt die weitere Unterſuchung der Farben— blindheit, in welcher der Verfaſſer, wie es auch ſchon von anderen Autoren ges ſchehen iſt, uicht abgeneigt wäre, eine Art von Atavismus zu erkennen, d. h. ein Rückſchlagen oder Verbleiben des Sinnes organs auf jenen Stufen, wo die Empfäng— lichkeit für alle Farbentöne noch nicht aus- gebildet, war weiteren Anhalt. Mit dieſer Bor- ſtellungsweiſe im Einklange ſchließt der Ver— faſſer, daß die Entwicklung des Farbenſinnes mit der gegenwärtig erreichten Stufe möglicherweiſe noch keineswegs abgeſchloſſen ſei, „im Gegentheil, wir möchten viel eher glauben, daß im Laufe der kommenden Zeiten der Farbenſinn eine noch weitere Ausbildung erfahren und ſich über das äußerſte violette Ende des Spektrums noch in das Gebiet des Ultravioletten hinein erſtrecken werde. ..... Ohnehin möchten wir glauben, daß die Empfindlichkeit für Violett auch heute noch in dem Stadium 269 = ſei; da fi beobachten läßt, daß das Unterſcheidungs— vermögen für gewiſſe Töne von Blau und Violett ein noch ziemlich ſchwankendes und ungenügend geſchärftes iſt. ..... Ja wir müſſen endlich ſogar auch die Möglich— keit zulaſſen, daß die peripheriſchen Netzhaut— bezirke, welche gegenwärtig für jede Farben— empfindung ſo gut wie unempfindlich ſind, in ſpäteren Perioden auf eine ähnliche Höhe der Farbenempfindlichkeit gelangen kön— nen, wie ſie heutzutage nur den mittleren cetzhautbezirken eigenthümlich iſt . . . .. 1 Was im Vorſtehenden auszugsweiſe wiedergegeben wurde, ſind gewiß im Munde eines Ophtalmologen doppelt gewichtige Gründe für die in Rede ſtehende Auf— faſſung. Aber ſo ſehr dieſelben im Ein— klange zu ſtehen ſcheinen mit den als all— gemein gültig erkannten Geſetzen der Ent- wickelung, kann ich einer ſolchen Hypo— theſe, ſoweit ſie grade den Menſchen betrifft, keineswegs beiſtimmen, und ich werde meine Gegengründe nunmehr in der Kürze ent— wickeln, um dem geehrten Herrn Verfaſſer Veranlaſſung zu geben, ſie vielleicht in dieſen Heften zu entkräften. Meine Haupt- bedenken ſind von der Rangſtufe des Men— ſchen in der Natur hergenommen. Dar— win, nachdem er die den menſchlichen Scharfſinn quälende Zweckmäßigkeit der Naturdinge durch ſein Geſetz der natür— lichen Zuchtwahl erklärt hatte, frug ſich, ob man auf dieſelbe Weiſe auch die Schön— heit der Welt erklären könne. Er mußte dies verneinen und eine andere Schlußfolge erſinnen, und fand ſo die Geſetze der geſchlechtlichen Zuchtwahl, um die Schönheit der Thiere, den Nutzen der pflanz lichen Kreuzbefruchtung durch Inſekten, die Farbenpracht der Blumenwelt zu er— klären. Dieſe Hauptgeſetze, an die ſich einige Nebengeſetze (Mimiery u. |. w.) anlehnen, beruhen im Weſentlichen mit auf der Vorausſetzung, daß die Farben— empfindung eine allgemeine und urſprüngliche, oder ſagen wir, eine ſehr frühentwickelte Fähigkeit des Geſichtsorganes iſt. Dr. Her— mann Müller hat beobachtet, daß ſich die Honig oder Blumenſtaub ſuchenden Juſekten viel mehr durch die Farbe, als durch die Form der Blumen einladen laſſen, ſofern ein Infekt, welches ſich z. B. auf die Ausbeutung einer blauen Blume geworfen hat, von einer blauen Blume zur andern, wenn ſie auch verſchiedener Geſtalt iſt, fliegt. Sir John Lubbock hat ſich vor zwei Jahren experimentell von dem ausgebildeten Farbenunterſcheidungsver— mögen der Inſekten überzeugt. Bei den Reptilien und Vögeln ſcheint ſich der Farbenſinn bereits zu einer Würdigung angenehmer Farbenzuſammenſtel— lungen erhoben zu haben, denn ohne dieſe Annahme läßt ſich z. B. kaum die Pracht des Kolibri's, die Schönheit des Pfauenſchweifes erklären, auf die der Vogel ſo eitel iſt, und um welche Chryſippus das ganze Thier erſchaffen ſein läßt. Von den Schmetterlingen gilt wohl etwas Aehn— liches. Ein Vermögen aber, welches den ältern Wirbelthieren, ja ſogar zahlloſen wirbelloſen Thieren eigen iſt, ſollte dem Naturmenſchen bis zu den Zeiten Homers gemangelt haben? Unglaublich! Indeſſen übereilen wir uns nicht! Wa— rum ſollten nicht gerade die Säugethiere, als würdige Vorläufer des Weſens der grauen Theorie, die lachende Welt ſeit jeher Grau in Grau geſehen haben? Beinahe niemals hat die geſchlechtliche Zuchtwahl bei ihnen Kleider von lebhaften Farben erzeugt, Literatur und Kritik. grasgrüne Säugethiere ſind ebenſo unbe— kannt als himmelblaue, purpurrothe und violette, oder gar buntfarbige. Lebhafte und ſchöne Färbungen treten in der That erſt bei einigen Affen und dem Menſchen auf; die niedern Säugethiere kleiden ſich, wie der moderne Menſch, in ſtumpfe, ge— brochene Farben. Auch muß daran erinnert werden, daß jener lichtempfindliche purpur- rothe Farbſtoff in der Netzhaut, den Prof. Franz Boll erſt kürzlich im Wirbelthier- Auge aufgefunden hat, und der möglicher weiſe zum Farbenſehen in beſtimmten Be— ziehungen ſteht, allerdings kürzlich auch im menſchlichen Auge nachgewieſen worden iſt, daß man ihn aber ſchon viel früher und in größerer Menge in den Augen der Cephalopoden und Seekrebſe entdeckt hat, außerdem in den Augen der Heteropoden, Käfer und Schmetterlinge. Man könnte ferner aus den farbigen Oeltröpfchen in den Augen der Reptilien und Vögel, die dem Wirbel— thierauge fehlen, ſchließen, daß in der That die Wirbelthiere erſt im Kulturmenſchen das Vermögen erlangt haben, die Farben— ſchönheit der Blumen, Vögel und Schmetter— linge, ja der geſammten Natur zu würdigen. Wenn nun auch der Nachweis, daß die Farbenempfindung eine ziemlich allgemeine Fähigkeit der ſehenden Thierwelt iſt, ge— eignet erſcheint, die Vermuthung, daß unſre älteſten Vorfahren vielleicht nicht der ganzen Farbenſkala mächtig geweſen ſeien, lebhaft zu erſchüttern, ſo reicht er doch nicht aus, fie völlig zu widerlegen und wir müſſen zu andern Hilfsmitteln unſre Zuflucht nehmen. Ich will hierbei nur auf einen Punkt hinweiſen, der mir beſonders beweis— kräftig erſcheinen will. In dem geſammten graueſten Alterthume und in den älteſten Schriftdenkmalen wird die Schönheit eines Halbedelſteines, deſſen Farbe ſich der äußer— Literatur und Kritik. 2371 ſten Grenze der Farbenentwickelung (nach Geiger und Magnus) nähert, vor der— jenigen aller andern Steine geprieſen, näm— lich diejenige des indigblauen Lapis lazuli. Es iſt dies der Vaidürya der alten Inder, der Saphir der Bibel und aller älteſten Schriftſteller, nicht zu verwechſeln mit dem Saphir unſerer Zeit. Kein Edelſtein be— ſaß einen ſo großen Ruf im Alterthume und hat ſo lebhaften Bergwerksbetrieb und Handel hervorgerufen, als dieſer Stein, den wir jetzt centnerweiſe künſtlich bereiten. Die Beweiskraft dieſes Steines iſt darum ſo groß, weil er außer ſeiner herrlichen, tief dunkel indigblauen Farbe gar keine Vorzüge beſitzt, die ihm ſonſt in den Augen der Menſchen hätten Werth verleihen können; er iſt undurchſichtig, ohne Farben— ſpiel, ohne bemerkenswerthe Schwere oder Härte, nur die Farbe an ſich konnte an ihm entzücken. Der Ruhm dieſes Steines, der einem ganzen Volke (den Sapiren) ſeinen Namen gab, reicht hin, zu beweiſen, daß die Alten faſt der geſammten Farbenſkala mächtig waren, und es iſt kaum nöthig, zu erwähnen, daß nächſt ihm ein ebenfalls undurchſichtiger, härteloſer, hellblauer oder grünlicher Stein, der Türkis, früh und mehr geſchätzt wurde, als die rothen, gelben und weißen Edelſteine, die erſt durch künſtlichen Schliff ihr Farben— ſpiel und ihre volle Schönheit erhalten. An vielen Stellen der Bibel, wo dieſe beiden Edelſteine neben andern genannt werden, kann man leicht erkennen, daß ſie für die ſchönſten galten, z. B. Hohe Lied 5, 14 wo Türkis und Saphir allein erwähnt werden. Auch der violette Amethyſt wird in der Bibel häufig genannt. Nach dieſem, wie mir ſcheint, unaugreif— baren Beweiſe, welchen der Saphir der Alten an die Hand giebt, müſſen wir nun verſuchen, die ſprachlichen Abſonderlichkeiten der alten Literatur hinſichtlich der Farben— bezeichnung aus der Sprache ſelbſt zu erklären, und das iſt nicht ſo ausſichtslos als es erſcheinen mag. Die Gründe für dieſe Abſonderlichkeiten mögen theils pſycho— logiſcher, theils ſprachlicher, theils ſpekulativ— philoſophiſcher Natur geweſen ſein. Es wird am beſten ſein, bei dieſem erklärenden Commentar in der Reihenfolge des vor— ſtehenden Auszugs zu verfahren. Daß wir erſtens den Regenbogen ſiebenfarbig nennen, welchen die alten Völker dreifarbig fanden, beweiſt nur, daß man uns in der Schule von ſieben Hauptfarben vorgeredet hat, während es doch überhaupt nur vier oder höchſtens fünf giebt, und daß wir uns nunmehr einbilden, alle ſieben Farben im Regenbogen zu ſehen. Blau, Indigo, Violett und Purpur als ebenſo viele Hauptfarben aufzuführen, iſt eine ſchreiende Ungerechtig-— keit gegen Orange, Gelbgrün und Blau— grün. Die einzelnen Farben nehmen im Spektrum einen ſehr ungleichen Raum ein, das Blau und Violett einen ungebührlich breiten, das Grün und Gelb oft einen ſehr ſchmalen, und auf den erſten Blick kann man ſelten mehr als drei wirklich ausge— bildete Farben im Regenbogen erkennen. Die alte Bezeichnung iſt meines Erachtens viel begründeter als die neue. Daß die Alten zweitens Erde und Bäume ſo ſelten grün und den Himmel noch ſeltener als blau bezeichnen, hat m. E. einen pfycholo— giſchen Grund. Man vergeſſe nicht, daß die alten Schriften meiſt unter einem ewig blauen Himmel, in einer immergrünen Natur verfaßt wurden, ſo daß es keinen Sinn gehabt haben würde, dieſe Beiwörter, ſelbſt wenn ſie exiſtirt hätten, immer im Munde zu führen. Wenn wir vom blauen Himmel reden, ſo iſt blau ein Schmuckwort, 272 Literatur ein ſogenanntes Epitheton ornans, weil der Himmel bei uns vorwiegend trübe iſt, und ebenſo ſteht es mit der Bezeichnung des Erdbodens und Baumes, wenn wir ſie grün nennen. Es iſt übrigens obendrein unwahr, wenn Geiger ſagt, in der Bibel werde nirgend der Himmel blau genannt. Es heißt z. B. von der Erſcheinung Jahve's (2. Moſ. 24, 10): „Unter ſeinen Füßen war es wie ein ſchöner Saphir und wie das Ausſehen des Himmels, wenn es klar iſt.“ Hier und an anderen Stellen wird doch ausdrücklich der Himmel als tief dun— kelblau bezeichnet. Allein dieſer Nothbehelf (der Vergleich des Himmels mit dem Saphir) und Kritik. führt uns zu dem Kerne der Sache, welcher pſychologiſch ſehr intereſſant iſt. Es ſcheint mir nämlich daraus hervorzugehen, daß unausgebildeten Sprachen die Farbenbezeich-⸗ nungen durchweg zu fehlen ſcheinen. In während Grün dem Roth an Lichtreichthum der That wird man bei genauerem Nach— denken finden, daß die Bezeichnung der einzelnen Farbentöne erſt dringend wurde, nachdem man zu einem gewiſſen Kleider— und Wohnungsluxus gelangt war, ſeitdem der Färber ſein Amt begonnen hatte. Einem ganz analogen Falle begegnen wir bei dem verwandten Sinne des Ohrs. Hier hat uns nichts genöthigt, den einzelnen Tönen, die den Farben ſo vielfach verglichen wor— den ſind, beſondere Namen beizulegen, wir unterſcheiden ſprachlich nur tiefe und hohe Töne, wie das Alterthum nur von dunklen und leuchtenden Farben redete. Ganz das Verhältniß, welches Geiger beim Studium der alten Schriftſteller in Erſtaunen ſetzte, fand Schweinfurth bei den nubiſchen Moslemin's in Afrika: ſie haben für grau und grün nur ein Wort (achdär) und ein anderes für blau und ſchwarz (äsrak) ). ) Im Herzen Afrika's, Leipzig 1874. Bd II S. 175 5 Es würde aber für einen Reiſenden nicht allzu ſchwierig ſein, ſich zu überzeugen, ob dieſe Naturkinder blos ſprachlich oder thatſächlich außer Stande ſind, blau von ſchwarz zu unterſcheiden, und da hierüber, wie dieſe Zeilen beweiſen, Zweifel beſtehen, wäre es dankenswerth, wenn ein Reiſender in Zukunft ſie beſeitigen wollte. Hinſichtlich der Reihenfolge, in welcher die Farbennamen in Gebrauch gekommen ſind, theile ich ganz die Anſicht von Dr. Magnus, daß dieſe Einführung neuer Bezeichnungen in der Reihenfolge der Spek— tralfarben geſchehen ſei. Allein meine Gründe für dieſe Meinungsübereinſtimmung ſind weſentlich anderer Art. Zuvörderſt muß ich bemerken, daß ich der abnehmenden Helligkeit hierbei einen weſentlichen Einfluß nicht zuſchreiben kann. Im Spektrum iſt nicht Roth die hellſte Farbe, ſondern Gelb, kaum nachſteht. Ueberhaupt halte ich die Lichtquantität der Farben in Bezug auf ihre Unterſcheidung für untergeordnet gegen— über der Lichtqualität, der Schwingungszahl ihrer Wellen. Hierbei zeigt ſich nun als allgemeine Erfahrung, daß das Auge der Vögel, Säugethiere und Menſchen durch ein feuriges Roth am ſtärkſten erregt wird; ich erinnere nur an die Aufregung des Trut- hahns, der Stiere in den Schaugefechten durch rothe Tücher, und an das Gefallen der Landleute an brennend rothen Kleidern, der Kinder an rothen Bildern. Die Be— merkung des Plinius, daß man zuerſt in Roth gemalt habe, iſt durchaus pſycho— logiſch wahrſcheinlich, und ſollte es ſich dabei auch nur um die rothe Bemalung des eignen Körpers der Wilden handeln. Es iſt bis zu einem gewiſſen Grade wahrſcheinlich, daß dieſer erregende Reiz des Rothen in der langſamen, den Wärmeſtrahlen zunächſt len, Schattigen, Dunkeln, und nicht weniger Literatur und Kritik. verwandten Schwingungsart liegt, allein auch ſchon der Umſtand, daß die ganze Natur in blau, grün und gelb gekleidet iſt, mußte zur Bevorzugung der ſeltener ver— tretenen Zinnober- und Purpurfarbe führen. Dazu kommt, daß ſich die rothen und gelben Farbſtoffe in Thieren, Früchten, Blumen und Farbhölzern von ſelbſt dar— bieten, während die grünen und blauen in der Erde geſucht werden müſſen und aus den Pflanzen nur durch umſtändliche Prozeſſe gewonnen werden können. Hier ſind offen— bar Sprache und Färberei ſelbander ge— gangen; die Gewänder ſind gewiß lange Zeit nur roth und gelb gefärbt worden, bis man auch blaue und grüne Zeugfarben mühſam ermittelte. Nach alledem iſt nichts natürlicher, als daß das Roth auch die erſte Farbe geweſen ſein mag, die ihren beſondern Namen er— halten hat, und obwohl die Autorität Geiger's für mich ziemlich ſtark erſchüt— tert worden iſt, glaube ich ihm doch völlig, wenn er ſagt, daß der Begriff des Rothen urſprünglich mit dem des Leuchtenden, Weißen und Hellen faſt zuſammenfiel. Wir ſelbſt ſprechen beſtändig von einem glühen— den, brennenden, feurigen Roth, während wir höchſtens in übertragener Ausdrucks— weiſe von einem brennenden, feurigen Blau ſprechen würden. Die Sonne erhebt ſich glühendroth am Morgen, das Feuer leuchtet roth durch die Nacht, ſo daß ſogar die rothen Thiere als Symbole des Feuers und der Sonne gebraucht wurden. Ein Aehnliches aus ähnlichen Gründen gilt für das leuchtende, feurige Gelb. Je mehr nun dieſe Farben ſich dem Lichte und Feuer verſchmelzen, um ſo natürlicher haftete ſich an die gegenüberſtehenden Gruppen der blauen und violetten Farben der Begriff des Küh— 273 naturgemäß verſchmilzt ihr Begriff, fo lange ein beſtimmter Name nicht in Ge— brauch genommen war, mit dem des Dunklen überhaupt. Ueberall in der Natur grenzt Blau an die Dunkelheit. Das Licht ſchim— mert gelb oder roth durch den Nebel, die Dunkelheit aber dämmert, wenn man ſo ſagen darf, überall bläulich durch den Schleier dünner Wolken und Vorhänge, ſei es die Dunkelheit des Weltabgrundes, der Meerestiefe, der Ferne, des Auges x. Dazu kommt das allgemeine Verſchmelzen des Schattens mit dem blauen Reflexlicht des Himmels im Süden. Alle im Schatten liegenden Klüfte und Riſſe der Berge er— ſcheinen im Süden, je nach dem Stande der Sonne, blau oder violett. Ich kann mir nichts phyſikaliſch und pſpychologiſch Nothwendigeres vorſtellen, als daß ein Volk, welches noch kein beſonderes Wort für Blau gebildet hat, daſſelbe mit dem Worte „dunkel“ (denn jo und nicht „ſchwarz“ muß wohl kya- neos überſetzt werden) bezeichnen wird. Wir haben übrigens noch heute, trotzdem wir es doch nicht mehr nöthig haben, denſelben Sprachgebrauch. Die dunkelviolette Hya— cinthe, der einſt Homer, und vielleicht nicht weniger der lockigen Perigonzipfel, als der dunklen Farbe wegen, das Haar ſeines edlen Dulders verglich, führen unſre Gärt— nerkataloge als „ſchwarze“ Hyacinthe auf, die dunkelblaue Gewitterwolke nennen wir ſchwärzlich, wir ſprechen von „dunklen“ Veilchen u. ſ. w. Aus dieſen natürlichen Grundlagen bil— dete ſich nun jene Farbentheorie heraus, welche von den älteſten Griechenzeiten bis auf Newton die herrſchende war, und dann von Goethe noch einmal erweckt wurde, jene Theorie, welche lehrte, daß das Gelb und Roth aus vielem Licht und wenig Dunkelheit, Blau und Violett aus ne 274 Licht und vieler Dunkelheit gemiſcht ſeien, eine Theorie, welche der einfachſten Beob— achtungsgabe entſpricht, und für welche, jo weit ſie ihrem Werthe nach den religiöſen Mythen an die Seite geſtellt werden muß, Literatur und Kritik. I, Haupttönen ift meiſtens ein Werk der jüng— ſten Zeit, zum Zeichen, wie ſpät ſich die Goethe als Dunkelmann, trotz ſeines eminenten Verſtändniſſes der Farbenwirkung, in die Schranken trat. in dieſer Theorie eine eigenthümliche Mittel— ſtelle ein, es iſt gleichſam halb Licht und halb Dunkelheit, halb Weiß, halb Schwarz (aus der gelben Lichtfarbe und der blauen Dunkelheit miſchbar), daher die Verſchmel— zung mit grauen, fahlen Mitteltönen, fo | lange das beſondere Wort dafür fehlt. Wenn man bei Betrachtung einer grünen Landſchaft die grünen Strahlen durch ge | eignete Gläſer abblendet, was man durch Lommel's Erythroſcop erreicht, ſo erſchei— nen Raſen und Laub leuchtend zinnober— roth. In dieſer Färbung müßte den Alten die Vegetation erſchienen ſein, wenn ihnen das Empfindungsvermögen des Grünen Das Grün nimmt gemangelt hätte, und da fie für die Em pfindung und Bezeichnung des Rothen frü— her befähigt geweſen ſein ſollen, würden ſie uns das gewiß nicht verſchwiegen haben, wenn ihnen der Wald zinnoberroth erſchienen wäre. Der ſprachliche Entwickelungsgang war offenbar derart, daß man ſich mit Ver- gleichungsobjekten behalf, ſo lange das be— ſondere Wort fehlte, wie z. B. in der Bibel der Himmel öfter mit dem Saphir verglichen wird. Vielleicht ſetzten ſich einige dieſer Vergleichungsworte als Nenn- und Atavismus. Sprachen in dieſer Richtung vollendeten. Aber wenn die Farbbezeichnungen Lila, Violett und Penſce die allerjüngſten dar— unter ſind, ſo leite ich das nicht daher ab, daß dieſe Farben erſt in neuerer Zeit zur Geltung gekommen wären, ſondern daher, weil man erſt in unſerer Zeit die Flieder-, Veilchen- und Stiefmütterchenfarbe als Kleider- und Modefarbe zur Herrſchaft bringen konnte und in der Küpe ſicher zu treffen lernte. Der blaue Purpur der Alten mag etwas Aehnliches geweſen ſein. Doch aus der Kritik wird eine Ab— handlung, und ſo viel noch über dieſe Dinge zu ſagen wäre, muß ich mich darauf be— ſchränken, noch kurz zwei Punkte zu berüh— ren. Hinſichtlich der geringeren Farben— empfindlichkeit der peripheriſchen Theile der Netzhaut giebt Dr. Magnus ſelbſt zu, daß ſie wohl mehr dem Nichtgebrauch zu— zuſchreiben ſei. Der andere Punkt betrifft die Auffaſſung der Farbenblindheit als Wenn unſere Anſchauungs— weiſe richtig iſt, daß nämlich die erwähn— ten Ausdrücke mehr für eine Unvollkommen— Unterſcheidungsworte feſt, wie karmin, roſig, orange, indigo u. |. w., welche nur Ab kürzungen von Wendungen wie „roſen— fingrige Eos“, „ſafranfarbiger Morgen“, „lauchfarbiger Grund“ u. ſ. w. vorſtellen. Die Bezeichnung der Nüancen zwiſchen den heit der Sprache als des Auges der Naturvölker ſprechen, ſo fällt dieſe Deutung in ſich ſelbſt zuſammen. Damit ſteht in vollem Einklange, daß nicht Blaublindheit, ſondern Rothblindheit am häufigſten vor— kommt. Eine weitere Entwickelungsfähig— keit des Empfindungsvermögens nach der violetten Seite des Spectrums will ich nicht in Zweifel ziehen; in Wahrheit ſehen ſchon jetzt einige Perſonen das ſogenannte Lavendelgrau, was aber keine nennenswerthe Bereicherung unſerer Skala zu ſein ſcheint. Aber obwohl ich faſt alle Aufſtellungen dieſer kleinen inhaltreichen Schrift habe be— kämpfen müſſen, muß ich ſagen, daß mir Literatur und Kritik. 275 dieſelbe ſowohl wegen der darin niedergelegten ſieht, ſo hat ſicherlich dieſes liebenswürdige Beleſenheit, als auch durch die geiſtvolle kleine Buch einen erheblichen Antheil an Behandlung des Themas das lebhafteſte dieſer erfreulichen Thatſache. In der leich— Vergnügen gewährt hat. Und nicht allein ten und gefälligen Art Sir John Lubbock's Sprachforſcher, die meine Anſchauungsweiſe und mit der ausgeſprochenen Abſicht ver— etwa näher zu prüfen ſich veranlaßt ſehen faßt, bei ſeinen Kindern jene Liebe zur möchten, werden aus derſelben die ſtärkſte Naturbeobachtung hervorzurufen, der er „ſo Anregung erhalten, ſondern auch Natur- viele glückliche Stunden“ verdankt, eignet forſcher überhaupt. Denn wenn die oben es ſich vorzugsweiſe für alle diejenigen, mitgetheilten Sätze des Verfaſſers auch auf | welche nicht jo tief in das „entdeckte den Menſchen keine Anwendung finden ſoll- Geheimniß der Natur“ eindringen wollen, ten, ſo muß doch die Farbenempfindung wie ſie es vermittelſt der umfang⸗ irgendwo einmal im Thierreiche ihren An— fang gehabt haben, und es wäre eine ver— ſprechende Aufgabe für einen Forſcher, zu verfolgen, ob etwa die obigen Sätze hier ihre Anwendung fänden, und ob wirklich Roth nicht allein die reizendſte, ſondern auch die zuerſt und am allgemeinſten be- wundertſte Farbe in der Stufenfolge der Thiere iſt. K. Sir John Lubbock, Blumen und Inſekten in ziehung. ſchnitten. Berlin, 1877. träger (Ed. Eggers). Zur erſten Einführung und Orientirung über den Gegenſtand, welchen das vor- erwähnte Werk behandelt, und um die Luſt zur Selbſtbeobachtung, für die gerade | dieſes Feld unzähligen Naturfreunden reich— liche, angenehme und dankenswerthe Ernten verſpricht, zu wecken, kann es keine beſſere | Anleitung geben, als das vorliegende Buch, und wenn man in den naturwiſſenſchaft— lichen Zeitſchriften Englands den Bienen- fleiß der Beobachter auf dieſem Gebiete mit dem Bienenfleiße der Honigſucher wetteifern S. 154: ſtatt Samen berichtigen. Die Ausſtattung iſt wahrhaft ſplendid. ihrer Wechſelbe⸗ Nach der zweiten Auflage überſetzt von A. Paſſow. Mit 130 Holz⸗ Gebr. Born⸗ reicheren Werke von Charles Darwin und Hermann Müller vermögen, oder die einer leichteren Einleitung dazu bedürfen. Leider find bei der Reviſion einige recht ſinnſtörende Fehler unbemerkt geblieben, von denen wir S. 43 nämliche ſtatt männ⸗ liche Form, S. 121 elektriſche Ströme ſtatt Schläge, ebenda 1772 ſtatt 1872, Früchtchen der Boragineen Profeſſor Dr. Ernſt Häckel, Anthro— pogenie oder Entwicklungsge— ſchichte des Menſchen. Gemein— verſtändliche wiſſenſchaftliche Vorträge über die Grundzüge der menſchlichen Keimes- und Stammesgeſchichte. Mit 15 Tafeln, 330 Holzſchnitten und 44 genetiſchen Tabellen. Dritte umgearbeitete Auflage. Leipzig, Wilhelm Engelmann 1877. Beim Anblick der dritten Auflage dieſes Buches dürften den klaſſiſch gebildeten Gegnern ſeines Verfaſſers jene beiden Schriften Plutarch's einfallen, die überſchrieben ſind: „Vom Glücke Alexander des Großen“, in denen der als Gerechtig— keitsmuſter berühmte Erforſcher und Ver— 276 gleicher der menſchlichen Werthe erwägt, ob Alexander ſeine Ruhmestitel mehr dem Glücke verdanke oder ſeiner Tapferkeit, und das Ergebniß dieſer Betrachtung iſt dann, daß eben dem Muthigen das Glück ge— bühre, und daß man wagen müſſe, um zu gewinnen. Als Häckel in ſeinem Werke über die Kalkſchwämme die Ga— ſträatheorie aufſtellte, da ſchlich ſich gar mancher ſeiner Mitkämpfer ob dieſer Kühn— heit bei Seite, und hielt es für beſſer zurück— zubleiben, ja ſich feierlich loszuſagen von dem allzukühnen Heerführer. Heute, wie wir aus der neuen Auflage der Anthropogenie erſehen können, iſt die Gaſträa-Theorie abgerundet, wie nur wenige zoologiſche Theorien es ſind und was ihr Urheber im Anfange kaum ſelbſt zu hoffen gewagt hat, iſt geſchehen, er hat lebende Gaſträaden aufgefunden und Andere haben die Gaſtrula-Form bis zu den höchſten Wirbelthieren hinauf in ihrer Entwicklungs— geſchichte nachgewieſen. Der kühnſte Hand— ſtreich aber, hinſichtlich deſſen ſeine Gegner die Fortuna des ſtärkſten Nepotismus be— ſchuldigen, wurde in der erſten Auflage der Anthropogenie ſelbſt ausgeführt. Für eine beſtimmte Entwicklungsperiode des Menſchen ließen den Verfaſſer nämlich alle bisherigen Beobachtungen im Stiche. Man hatte niemals feſtſtellen können, wie die kindliche Placenta urſprünglich ausſieht, und Häckel mußte daher ſeinen Spiritus familiaris, d. h. den Genius der ver— gleichenden Anatomie citiren, um ſich das Niegeſehene im Spiegel der Wiſſenſchaft zeigen zu laſſen. Sofort große Aufregung unter den lauernden Gegnern. Endlich hat man ihn bei einem Recognoscirungs— Zuge ergriffen! Hochnothpeinliche Anklage: Prof. His, Vorſitzender der heiligen Literatur und Kritik. Vehme. Aber Fortuna verläßt die Muthigen nicht. Sie ſendet zur Zeit der höchſten Bedrängniß das Niegeſehene dem Prof. Krauſe in Göttingen zur Prüfung, und ſiehe da, die Erſcheinungsform iſt genau ſo, wie ſie Häckel entworfen hatte. Es ſteifen ſich nun zwar die Ankläger auf einen alten Paragraphen der heiligen Vehme, in welchem es heißt, daß Wahrſagen deb dee Aber es ſcheint, daß das ein Schreibfehler iſt, und daß in der Wiſſenſchaft vielmehr das Unwahrſagen eine üble Nachrede nach ſich zieht. Bei einer vorherverkündeten und wohlberechneten Sonnenfinſterniß, ſtehen die Zweifler am ärgſten im Schatten, und vorſichtige Zoo— logen, welche eine wortſpielende Vergleichung mit einem gewiſſen Zoilus vermeiden wollen, ſchmähen daher immer erſt, wenn ſie ihrer Sache böllig ſicher ſind, und die Rechnung ſich ſchon als falſch erwieſen hat. Wir rechnen dieſe Entdeckung der urſprünglichen menſchlichen Allantoisform keineswegs zu denjenigen Entdeckungen, welche amerikaniſche Ingenieure mit dem Beinamen „Eclipſe“ zu bezeichnen pflegen, weil, fie alle andern zu verdunklen geeignet ſind, aber lehrreich iſt ihre Geſchichte ſehr für diejenigen, die ſie angeht. Auch glauben wir, daß in der An- thropogenie noch mehrere ſolcher über— raſchenden Vorgreiflichkeiten ſchlummern, denn wenn es auch im praktiſchen Leben und nach der materiellen Seite wahr ſein mag, daß den Dummen immer die größten Kartoffeln wachſen, in der Geſchichte der Wiſſenſchaften hat man keine verbürgten Beweiſe für die Wahrheit dieſes Sprich wortes finden können. In der Wiſſenſchaft haben nur diejenigen Glück und Erfolge zu verzeichnen, die dieſelben wirklich ver— dient haben. K. — — —́uq—k—— Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig. 4 Aeber Philoſophie der Darwin'lchen Lehre von Otto Caspari. 1. Was iſt Darwinismus im Gebiete der Philoſophie? über die Verhältniſſe und Be— ER ce wegungen des organiſchen Lebens, wie ſie durch die Theorien Dar— * win's angebahnt wurde, kann nicht ohne Rückwirkung ſein auf die allgemeinen Grundſätze der Philoſophie, und mit Recht erheben wir daher die Frage: Was ver— ſtehen wir vom Geſichtspunkte der Philo— ſophie unter Darwinismus? Um dieſe Frage aufzuhellen, erſcheint es räthlich, von vornherein auf beſtimmte philoſophiſche Grundanſchauungen hinzu— weiſen, mit denen ſich die moderne Lehre der Biologie im Sinne Darwin's und jede ſog. Descendenzlehre in keinem Falle verträgt. Die Darwin'ſche Lehre vereinigt ſich nicht mit der Anſicht, nach welcher ein über das ganze Univerſum hinauslie— gender Weltſchöpfer als deus ex machina das Weltall künſtlich und über- weltlich leitet und gängelt. Dieſer abſolute Schöpfer, den man, um ihn zu illuſtriren, oft mit einem Regiſſeur ver⸗ glichen hat, ſtände hinter den Decorationen * des Welttheaters, ſähe unter die Verſenk— Nine ſo tief eingreifende Lehre ſion), und hätte außerdem das ſchon vor Aufgang des Vorhangs (ante rem) ungen (die Zöllner'ſche vierte Dimen— fertig geſchriebene Drama (den Welt— plan und den unfehlbaren hiſtoriſchen Ver— lauf, d. i. die Teleologie) ſtets in der Hand, um die Acteurs richtig hiernach durch den Souffleur (d. i. die höhere ſpiritiſtiſche In— ſpiration) zu unterrichten. Nach dieſer kindlichen Weltanſchauung fällt das All künſtlich auseinander, das natürliche Welt⸗ getriebe wird zerriſſen. Hier auf der einen Seite der myſtiſche Führer des Alls, auf der anderen die todte paſſive Welt mit ihren übernatürlichen Eingriffen von oben. Es iſt überflüſſig, dieſen unmöglichen Dua⸗ lismus näher zu kritiſiren. Ein Schöpfer hinter und über dem Univerſum, dort wo es nichts mehr zu denken giebt, hebt ſich ſelbſt auf. Dieſer in ſich zwieſpaltigen 278 Anſicht gegenüber iſt der Darwinismus Einheitslehre (Monismus). Nach dieſer moniſtiſchen Lehre giebt es keinen ſog. Welt— ſchöpfer und keinen ſchon vor dem All ge— zeichneten Weltplan (Weltzweck), die Con— ſtructionen ante rem jedweder Art find (ſo ideal ſie mit Plato ausgedacht wer— den mögen) daher zu verwerfen. Dieſer teleologiſche Weltplan für Bau und Drama der Bühne des Univerſums beſteht auch nicht in re, wie man ſich mit Rückſicht auf Ariſtoteles ausdrücken darf. Das will ſagen: Man kann den Regiſſeur hin— ter den Couliſſen fortlaſſen, meinetwegen auch den Souffleur und kann nun ver— ſuchen, das Stück dennoch nach allen Kunſt— regeln abzuſpielen. Die Schauſpieler kön— nen alle ihre Rollen gut auswendig, ſie erſcheinen zur rechten Zeit auf der Bühne, ohne des Anſtoßes vom Regiſſeur zu be— dürfen, ſie haben ihre Sache gut im Kopfe; indem ſie ſo alle richtig ſpielen, iſt das Stück unter ihnen im ariſtoteliſchen Sinne in re. Sie ſpielen, und da ſie nichts Sinnloſes ſpielen dürfen und können, ſpielt ſich eben nothwendig das Weltdrama ab. Ein anderes Beiſpiel: Es ſoll ein Haus gebaut werden. Hierzu kann man vorher einen Plan fertigſtellen, den die Bauleute nicht genau überſehen und kennen, ſo wird ein Bauführer nöthig, der künſtlich leitet; oder die Bauleute, die alle beſtändig gewöhnt ſind zu bauen und ſchon viel und immer gebaut haben, können dieſen Bauingenieur entbehren, haben alle Regeln der Baukunſt ſo feſt in ſich, daß ſie ſtets bauen und nothwendig bauen müſſen, als ſei ein Plan und ein Plan— macher vorhanden, obwohl er ihnen allen eben nur im Kopfe ſteht. Indem fie nun pünktlich und kunſtgerecht in einander greifend bauen, entſteht ein Haus nach Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre. den Regeln der Kunſt, feſt gefügt mit ein für allemal fixirten und am beſtimmten Orte feſtſtehenden Wandungen, Zimmern und Etagen. Dieſe Wände und Zimmer— räume (Klaſſen, Gattungen u. ſ. w.) können nicht beliebig verſetzt werden in— nerhalb dieſes Baues, denn damit ginge das feſt geordnete Gefüge (der teleologiſche Plan ante rem oder in re) in Stücke, ja das ganze Gefüge ginge völlig zu Grunde. Mit beiden teleologiſchen Grundanſichten, möge man ſie zu ſerviren verſuchen à la Plato oder à la Ariſtoteles, läßt ſich der Darwinismus, wie leicht zu erſehen iſt, nicht mehr vereinigen. Denn in dem Darwiniſtiſchen Hauſe des Weltalls ſteht eben keine einzige Zimmer— wand für immer feſt. Im Gegen— theil, die Bauleute ſcheinen hier gar keinen abſolut feſten Plan zu kennen, denn indem ſie zugleich den Bau bewohnen, werden ſie mit ewigen Abänderungen und Umformungen darin gar nicht fertig. Hier führen ſie jetzt eine Wand auf und trennen ſich von ihren Nachbarn (weil dieſe unverträglich wurden), dort find die Nachbarn mit Rück⸗ ſichten für größere Geſelligkeit und Annehm— lichkeit übereingekommen, gemeinſchaftlich ihre Zwiſchenräume niederzureißen, um inniger zuſammen ſein zu können. Malt man ſich dieſes Bild weiter aus, ſo kommt man zu durchgreifend anderen Anſchauungen. Ging dort alles ſtreng, ſteif und regelrecht zu, alles dem Plane gemäß, ſo ſchie— nen ſich dennoch die Bauleute einander fremd zu ſein, ſie arbeiteten zwar genau einander in die Hände (entweder weil es fo vom Ingenieur commandirt wurde nach Plato, oder weil fie auf den Plan dreſſirt waren [nah Ariſtotelesl), dennoch ſchienen ſie nur Automaten und Streber des Planes zu ſein. Mindeſtens Plato's waren ſie alle Schauſpieler, die ihre Rolle kannten und folgerecht ſpielen mußten. Da- mit aber waren dieſe Glieder keine Faktoren mehr, die natürlich auf einander wirken konnten, um ſich einander dem Moment gemäß, d. h. improviſirend, an— zupaſſen oder zu bekämpfen und zu reiben, zu ſtören, zu reizen, oder aber ſich zu er— gänzen und zu vertragen u. ſ. w. Die Begriffe: Störung, Hemmung, Kampf — damit haben wir getroffen, was die An— hänger des Weltplaus ſchreckt. Wer den Plan (die Teleologie) behauptet, im Sinne ebenſo wie im Sinne des Ariſtoteles, wird es niemals erklärlich finden können, daß dem Ingenieur als Führer des Ganzen plötzlich durch eine Revolte der Arbeiter ins Handwerk ge— pfuſcht wird. Sein Plan iſt unfehlbar. Auch die Schauſpieler im Sinne des A ri— ſtoteles müßten aus der Rolle fallen, wenn Mephiſto nicht vorgeſehen wäre im Weltdrama. Wie aber, wenn Me— phiſto, der im Stücke nothwendig wird, von den Acteurs vorzeitig hinausgeworfen würde, dann wäre doch offenbar das Stück geſtört, die Schauſpieler wären aus der Rolle gefallen, hätten improviſirt und hier— mit den Plan vernichtet. Mephiſto, der Ent- zünder des Streites, der offenbar wird, und nur deshalb Mephiſto ift, weil er ab- und zugehen kann, ohne daß er vermuthet wird, iſt eben die ſchwierige Perſon, die mit keiner Unfehlbarkeit und Allwiſſenheitsteleologie verträglich erſcheint. Wir wiſſen, daß die verneinende Macht im Weltdrama als die Erſcheinung des Uebels auftritt und ſchon hier ſei vorab bemerkt, daß die Teleologie (und das überſehen meiſtens die ihr an— hängenden Theologen) keine genügende Theo— rie des Uebels und der ſich hieran anknüpfen— 2 den Erſcheinungen von extremen Störungen, Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre. Dieſe Anſicht Hemmungen und verneinenden zerſtörenden Gewalten (als welche Uebel erſcheinen) zu geben im Stande iſt. Es bleibt mit Rückſicht auf den unverbrüchlichen Welt— plan immer nur die Wahl zwiſchen Regie, Präſtabilismus und Drama, in welchem mit Hülfe typiſch feſtſtehender Figuren (darunter muß alsdann auch Mephiſto fein) ſich alles ſo nothwendig abſpielt, wie es im vorgeſehenen Ausgange des Stückes veranlagt iſt. Mitten im Stück darf alſo unter ſolcher Anſchauung Mephiſto nicht hinausgeworfen werden, er iſt vor Aus— gang des Stückes un entbehrlich. aber bietet keine richtige Theorie des Uebels: Das Uebel (mögen wir es im Gleichniß Mephiſto nennen) muß zu beſeitigen fein noch vor Aus— gang des Stückes; denn das Welt— drama ſpielt ewig. immer auf der Bühne, um bald mit einander ſich zu ſtreiten, bald nur gegen einander zu agitiren, bald ſich zu vertragen, bald ſich zu hemmen, bald ſich zu fördern, wie es die Umſtände des hiſtoriſchen Ver⸗ laufes mit ſich bringen. Die Acteurs (die Kräfte) ſind eben keine Automaten oder präſtabilirte Nußknacker, ſondern natürliche Kräfte, die auf einander wirken. Durch dieſe den Umſtänden angemeſſene Aufeinander— wirkung der Kräfte geſchieht es eben, wie wir im Folgenden zu zeigen gedenken, daß ſich Uebel (näher charakteriſirt als extremſte Unluſtzuſtände) erzeugen, die unter an— deren (näher zu unterſuchenden) Umſtänden wieder beſeitigt werden können. Wir ſehen, daß nur die cauſal-mechaniſche Grundanſchauung, welche alle Teleologie perhorrescirt, das Problem über das Uebel zu löſen im Stande iſt. Die Acteurs find . er 5 du we a FE 85 * 280 2. Kampf, Agitation und canjal- mechaniſche Wirkung. Wiederholentlich iſt es ausgeſprochen worden, und mit Nachdruck muß man es immer von neuem wiederholen, daß die biologiſche Weltanſchauung, wie ſie durch den Darwinismus zur Geltung gekommen iſt, nur deshalb ſo raſch und ſo vielen Beifall bei den Naturforſchern fand, weil es ſehr bald einleuchtete, daß die ausge— ſprochenen Lehren über den genealogiſchen Zuſammenhang alles Organiſchen, über Bewegung und Transmutation aller Dr- ganismen und organiſchen Theilchen eine Auffaſſung zuließen, die mit den Grumd- annahmen mechaniſcher Regeln vereinbar war. Die Geſetze der Vererbung und An— paſſung im Hinblick auf die beſtändige gegenſeitige Reibung der Individuen und Arten gegen einander, und im Kampfe ferner gegen die äußeren Exiſtenzmittel von Nahrung, Boden, Klima und kosmiſche Bedingungen, waren hergeleitet aus jener Grundanſchauung, welche das Spiel der Kräfte mit allen ſeinen mechaniſchen Er— ſcheinungen von Kraft und Gegenkraft (Widerſtand) deutlich ins Auge zu faſſen weiß. Centrifugal und centripetal wirkende Kräfte ließen ſich feſtſtellen, die Gravita— tion ſchien deutlich erkennbar in den Wir— kungen und Nachwirkungen der Ver— erbung, und die von außen eingreifen— den Anſtöße der Naturumgebung als Rei— bungen und Hemmniſſe aller Art (ſogen. natürliche Zuchtwahl) wirkten dem entgegen als tangentiale Kräfte und manifeſtirten ſich in den Formen der Anpaſſung. Die äußere geographiſche Verbreitung der Arten und Gattungen, die Wanderungen der Spe— cies, die Lebensweiſe, die Struktur und Bauart der Organismen ließen ſich hier— 5 Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre. mit dem großen, erhabenen Bilde einver— leiben, das wir uns über den Bau unſeres Planeten und über das mechaniſch-phyſika⸗ kaliſche Leben und Wirken der innewohnen— den Kräfte zu machen verſuchen. — Im äußeren Leben der Individuen unter einander ſehen wir Erſcheinungen zu Tage treten, die wir uns gewöhnt haben in ver— geiſtigter Weiſe anzuſchauen, da ſie dem von uns erlebten Staats- und Familien⸗ leben nahe treten. Für ſolche ſind wir gewöhnt, Bezeichnungen zu wählen, die rein pſychologiſcher Natur ſind. Wir ſprechen hier von Haß und Liebe, Abſcheu und Verehrung, Hingabe und Entziehung, Ver— träglichkeit und Unverträglichkeit, Schutz und Verfolgung, Lüſternheit und Ekel! ), Einſchmeichelung und Annäherung gegen— über von Anwiderung und Trennung u. |. w. Wenn wir nun die Individuen zu organi⸗ ſchen Theilchen zerlegen, ſo ſtoßen wir zunächſt immer wieder auf kleinſte Individuen (Zellen), die in ihrem Leben und Daſein Erſcheinungen aufweiſen, die in eine ver— ſtändliche Verbindung zu bringen ſind mit den hervorgehobenen pſychologiſchen Phänomenen des äußeren hiſtoriſchen Lebens der Individuen unter einander. Wie die Individuen in Staaten, Gruppen, Horden und Familien, ſo treten die Zellen ver— einigt auf in Organen, Organſyſtemen und Geweben; Auswanderungen und Einwan— derungen finden auch unter ihnen ſtatt, fortwährende Veränderungen, bedingt durch veränderte Nahrungszufuhr, und demgemäße Anpaſſungen, treten auch im mikroſkopiſchen Kleinleben auf. Verträglichkeit und ) Siehe Heft 1 dieſer Zeitſchr. S. 17 ff. Jäger, Phyſiologiſche Briefe. I., und ver— gleiche hierzu: Caspari, Die Urgeſchichte der Menſchheit. I. 2. Auflage. Leipzig, 1877. S. 55 ff. Brockhaus. — Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre. Un verträglichkeit find daher Erſchei— nungen, die auch im Innern eines Orga— nismus eine hervorragende Rolle ſpielen. Auch im inneren Leibe der Individuen herrſcht ſomit ein ähnliches Leben wie unter den Individuen gegen einander. Das Ab— ſterben und Sichauflöſen der Stoffe, plasma— tiſche Neubildung und Rückbildung, mit einem Worte der ſog, chemiſch-phyſikaliſche Stoffwechſel, der alle Zellen und deren Theilchen (die ſog. Plaſtidulen) durchdringt, läßt leicht erkennen, daß ſich in den feinſten organiſchen Theilchen nur wiederholt und widerſpiegelt, was im Groben uns vor Augen tritt im Leben der Individuen unter einander. Mit Recht kann man da— her cum grano salis von einem Kampfe ums Daſein auch der Zellenwelt im Kleinen reden. Doch iſt bei dieſer an ſich nicht unberechtigten Anſchauung wohl zu beach— ten, daß der Begriff „Kampf“ nur im Allgemeinen das Grundverhältniß von Kraft und Widerſtand ausdrücken ſoll. Es iſt daher wohl zu bedenken, daß der Kampf in dieſem Sinne ſeine verſchiedenen Grade hat. Gemildert iſt dieſer Effekt eben nur eine bloße natürliche Reaction von Bewe— gung und Reibung der Zellen und Plaſti— dulen gegen einander. Unter dieſer Form drückt der ſog. „Kampf“, wie erwähnt, nur die natürlichen, Aufeinanderwirkungen der Factoren aus, die unaufhörlich und nothwendig mit der Exiſtenz aller Einzelnen verbunden ſind. Sollen die Theilchen nicht erſterben und ſich auflöſen, ſo müſſen ſie ſtets dieſe Reactionen der Selbſterhaltung vollziehen, ſich aneinander reiben, bewegen, reizen und in chemiſch-phyſikaliſcher Weiſe auf einander wirken. In dieſer ihrer Wirkungsweiſe beſteht alles Leben überhaupt, das eben kein Leben mehr wäre, wenn dieſe cauſal-mechaniſchen und Umformungen aller Art im großen Betheiligten eine Reihe von heftigen Schä— n 281 Bedingungen fortfielen, um dem Stillſtande und der Veränderungsloſigkeit Platz zu machen; denn letztere bedeutet den Tod. Selbſt wenn wir die Zellentheilchen als ſog. Plaſtidule noch weiter zerlegen, um zu der Ordnung der Moleküle überzugehen, würden wir auch hier dieſelben Bedingungen des Lebens, Veränderns, Reizes u. ſ. w. wiederfinden müſſen. In allen Verhältniſſen ſuchen daher die Theil— chen auf einander zu reagiren, und dieſe ihre gegenſeitige chemiſch-phyſikaliſche Reac— tivität und Reizbarkeit weiſt hin auf den Kampf um die Exiſtenz, welchen fie führen. Faſſen wir den ſog. Kampf ums Daſein der Moleküle daher als chemiſch-phyſikaliſche Selbſterhaltung und Aufeinanderwirkung auf, ſo haben wir bei dieſer Vorſtellungs— weiſe nicht durchaus nöthig an die For— men eines Kampfes zwiſchen menſchlichen In- dividuen zu denken, wie er etwa ſich unter Völkern im Kriege abſpielt. Die einheit— liche Weltbetrachtung zwingt uns freilich auch dieſe Erſcheinungen des Kampfes ins Auge zu faſſen. Nur wolle man be— denken, daß ſich dieſe Erſcheinungen dadurch verändern, daß hier ſtets große Maſſen und Einzelne unter außergewöhnlichen Be— wegungen und Anreizungen auf einander ſtürzen, um hiermit ebenſo außerge— wöhnliche Folgen von Veränderungen Maßſtabe herbeizuführen, die für die daran digungen an ihrer Exiſtenz und eine große Summe von Unluſtzuſtänden in der Ab— wickelung ihrer Lebensverhältniſſe mit ſich bringen. Man darf ſich der Betrachtung nicht verſchließen, daß es Umſtände aller Art giebt, die im Zuſammenleben der In— dividuen dahinwirken, daß ſich die Reibun— gen, Ungleichheiten und Unverträglichkeiten — 8 282 in hohem Maße mehren; damit verknüpfen ſich tiefgehende Verſtimmungen und Unluſt⸗ zuſtände der Weſen, die man ſich gewöhnt hat als „Uebel“ zu bezeichnen. Alle hierher gehörigen Erſcheinungen bilden das tiefere Studium des Ethikers. Derſelbe verſucht durch genaueren Einblick in die pſychologiſchen Grundverhältniſſe von Luft und Unluſt die Urſachen zu erforſchen, die zur Anſammlung von Unverträglich— keiten und hiermit verknüpften Unluſtreac⸗ tionen führen; er überblickt die Folgen dieſer Wirkungen und erkennt wie ſich, um ihnen zu entgehen, hieran Lageverſchiebungen außergewöhnlicher Art anlehnen. Er weiſt nach, wie ſich neue Parteiungen zwiſchen Verträglichen und Unverträglichen bilden und die natürlichen Reactionen der Indi— viduen und Theile hiermit extreme und krankhafte Grade annehmen. Hand in Hand mit dieſer Steigerung der Reactionen und Bewegungen geht eine neue Vertheilung der unterliegenden Subſtanzen und Theilchen, und mit dieſer außergewöhn— lichen Umformung treten dem Ethiker ebenſo ſehr wie dem Pathologen alsdann alle die Mißformen entgegen, die er deshalb als Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre. und Bewegung) erfordert, zwingt daher, die extremen Grade des Kampfes als anormale (vorübergehende) Ausnahme— zuſtände zu betrachten.“) Wenn wir daher im darwiniſtiſchen Sinne an dem Satze feſthalten, daß wir allerwegen im Kosmos den Kampf ums Daſein gewahren, ſo ſoll das eben mit Rückſicht auf das Vorausgeſchickte zunächſt nur bedeuten, daß ſich alle Theilchen reagirend und affi— cirend (veränderungsfähig und aufernander- wirkend im mechaniſchen Sinne) verhalten. veränderte Inhalt Dieſe cauſal-mechaniſche (kämpfende) Auf⸗ einanderwirkung (die Afficirung) der Theil- chen finden wir allerdings ausnahmslos im ganzen All, von ihr kann nicht abgeſehen werden, — ſie bildet die lebendige Wir- kungsweiſe der Einzelnen unter einander und die Bewegung der Parteien und Maſ— ſen gegen einander, ſie bildet die natürliche Agitation, die wie das All ſelbſt un— endlich ſein muß, da ſie den erlebnißvollen deſſelben bildet. Mangelt dieſe Agitation der Dinge, Atome und Weſen gegen einander, dächte man ſich aus dem Weltall alle wechſelwirkenden Reizeinflüſſe, Uebel bezeichnet, weil die an ihnen betheis ligten Träger ſich naturgemäß danach ſehnen, dieſen extremen, außergewöhnlichen Zuftän- den und Unluſtverhältniſſen ein Ende zu machen. Wie erwähnt, werden die auf— tretenden Formen und Erlebniſſe, welchen die darau gebundenen Weſen hiermit unter— liegen, als tiefe Unluſt, als Schmerz und Uebel empfunden, und fo arbeiten alle daran theilnehmenden Weſen und Theilchen darauf hin, dieſen Zuſtänden keine Dauer zu ſichern, ſondern ſie raſch zu beenden. Selbſterhaltung und das natürliche Luſt— ſtreben des Einzelnen, das ein beſtimmtes Durchſchnittsmaß von Veränderung (Ruhe Die alle Affektionen überhaupt fort, jo man- gelte alles Bewegen und Leben, wir hätten einen todten Kosmos vor uns, den vorzu— ſtellen wir nicht im Stande ſind. 3. Das Uebel und die Allbarmherzigkeit eines überweltlichen Regenten. Die Agitationen und Selbſterhaltungs— maßregeln der Einzelnen zu ihrer Exiſtenz haben je nach Umſtänden die verſchiedenſten Grade und können übergehen in jene ) Vegleiche hierzu: Caspari, Die Ur- geſchichte der Meuſchheit. 2. Aufl. Theil. I. S. 61. er Extreme, die ſich leicht als ſolche gegen- über dem dauernden Durchſchnittszuſtande aller übrigen Bewegungen charakteriſiren. — Um das zu erkennen ein Beiſpiel: Betrachtet man die Witterungsverhältniſſe der verſchiedenen geographiſchen Breiten und Klimate, ſo überſieht man mit der Zeit, daß die Durchſchnittsmenge an atmoſphäri— ſchen Niederſchlägen ſich berechnen läßt, auch die durchſchnittlich vorhandenen Wind— ſtrömungen ſind nach Wahrſcheinlichkeits— angaben annähernd für die verſchiedenen Jahreszeiten zu beſtimmen; außergewöhn— liche meteorologiſche Ereigniſſe hingegen, wie Cyclone, Orkane und ähnliche hervor— ragende Störungen treten den angenommenen Durchſchnittsverhältniſſen gegenüber als Aus— nahmen auf. Ließen ſich alle Einzel— urſachen in einem gegebenen Moment von einem über alle Thatſachen hinaus- liegenden Punkte überſehen, und gäbe es für irgend ein Theilchen einen ſolchen außer- oder überuniverſellen Standpunkt, den Punkt des Archimedes, ſo würde die abſolute Vorausſage auch dieſer ſein. Aber man bedenke wohl, welche Conſequenzen dieſe Betrachtung (die von in ſeinem bekannten Vortrag über die Gren— zen der Naturerkenntniß angeſtellt hat) nach ſich ziehen müßte. verſums auf jenem Punkte des Archimedes!) ſtände, um alle Ereigniſſe überhaupt nach Regel und Ausnahme allwiſſend voraus zu u ) Bekanntlich ift das jener überwelt— liche Punkt, von dem man künſtlich mit einem Hebel das ganze Univerſum aus den Angeln heben könnte. Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre. Ausnahmeverhältniſſe allerdings ermöglicht = 0 * 283 erkennen, hätte ein Intereſſe daran, die von ihm überſehenen Weſen vor Uebeln und extremen Unluſtzuſtänden, unter deren un— ſäglichen Qualen ſie entſetzlich leiden, zu bewahren, ſo würde eben dieſes allbarm— herzige Weſen einzugreifen verpflichtet ſein, um dieſe Zuſtände abzuwenden, die Uebel wären hiernach unmöglich. Die That— ſachen hingegen lehren, daß Uebel im oben— bezeichneten Sinne als weitgreifende Unluſt— zuſtände vieler Weſen vorkommen, woraus folgen muß, daß kein ſolches warmherziges, intereſſevolles Weſen ſich irgendwo auf dem abſoluten Punkte des Archimedes befand oder befindet, um von hier aus inhibirend zu wirken. Man muß ſich daher zu der Ein— ſicht bequemen, daß wenn Uebel lals tief— gehende und weitgreifende Unluſtzuſtände u. ſ. w.) Thatſachen ſind, die cauſal— mechaniſche Aufeinanderwirkung der Factoren dieſelben unter Umſtänden herbeiführt, und | die Allwiſſenheit und Allbarmherzigkeit eben als keine Thatſache erſcheint. Wir ſehen, die Transmutationsanſchauung lehrt mit Rückſicht auf eben dieſe Thatſachen nichts anderes, als daß die cauſale Wechſel— wirkung, die ſich als gegenſeitige Reaction und Affection der Theilchen darſtellt, zu rein materialiſtiſchen Geſichtspunkten aus erſt vor kurzem Du Bois-Reymond Angenommen nämlich, dieſes Weſen, das als Beſchauer des Uni erhöhten Graden der Reibung und Veränderung übergehen kann, ſo daß ſich die natürlichen durchſchnittlichen Agitationen - zum Kampfe im engeren Sinne mit ſeinen unäſthetiſchen Folgen erheben. Nun drängt ſich die Frage auf: Hat der Anhänger der cauſal-mechaniſchen Weltanſchauung, wie ſie der Darwinismus anſtrebt, die Formen der höchſten Unluſt und Uebel als nothwen— dige oder zufällige zu betrachten, oder aber hat er überhaupt gar kein Recht, dieſe Formen von ethiſch-äſthetiſchen Geſichts— punkten anzuerkennen, ſondern find fie in ihren Unterſchieden ganz abzuleugnen, 255 N N Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre. ähnlich wie es die Vertreter der Büch— ner-Mo leſchott'ſchen Schule vielfach verſucht haben? Sieht man die Theil— chen als todte Kugeln an, die als Corpus— die Theorie des Uebels von dieſem Geſichts— punkte aus zu entſcheiden. J. Die Conftructionen des Kosmos keln im leeren Raume ſchwimmen, ohne jedes innere Gefühl und Leben, jo mögen ſich dieſelben in irgend einer Lage gegen einander bewegen, gleichgültig in welcher, alle ſind abſolut einflußlos für das innere Gefühl, ſowie für lebensvolle Selbſterhal tung und erlebte Luſt oder Unluſt der Theilchen; denn alle Corpuscular-Atome find | eben nichts als todte Stoffabſoluta, getrennt durch den abſolut leeren Raum. Wohl und Wehe, Güte und Uebel als ſolche werden hier nicht wahrgenommen und empfunden, alle Conſtellationen ſind daher den in ſich indifferenten Corpuskeln abſolut gleich- gültig, unter allen Lagen giebt es hier keine Uebel. Erheben wir indeſſen, ähn lich wie Leibniz und ſeine Schüler dies thaten, die Corpuscular-Atomtheorie zu einer tonadologie oder Animulartheorie, d. h.“ ſehen wir alle Theilchen als pſychiſch belebte (Monaden) an, begabt mit inne— ren Zuſtänden der Selbſterhaltung, die ein beſtimmtes Maß innerer Veränderung nö— lebniſſe von Luſt und Unluſt in ihnen rich— ten, ſo ſtellt ſich dieſe Weltanſchauung zur Theorie des Uebels völlig anders. hätten in dieſem Falle eine Art von An— ſchauung vor uns, die man mehrfach Pan— pſychismus genannt hat. Das heißt alle Theil— chen dieſes Panpſychismus ſind irgendwie ſeeliſch belebt, erſcheinen reizbar und pſychiſch— reagirend, ſomit Luſt und Unluſt empfin— dend. Nun wird aber alles darauf an— kommen, den Panpſychismus richtig zu conſtruiren; denn nur wenn dies geſchieht und den Thatſachen Rechnung getragen Wir als Panpſychismus und die Zöllner'ſche vierte Raum dimenſton. Man kann ſich nun den Panpſychismus in zweierlei Art zurecht legen. Ein— mal kann das geſchehen, daß feine Einzel- theilchen, aus denen er ſich conſtituirt, unter die natürlichen Wirkungen der cauſal— mechaniſchen Grundanſchauung fallen, daß ſie mit einem Worte einen Kraftconſtitu— tionalismus) repräſentiren, innerhalb deſſen die relativ ſelbſtſtändigen Einzel— theilchen nicht künſtlich und hyper— mechaniſch durchdrungen und ſomit durch— griffen ſind von einem prädominirenden Weſen, das über den Mechanismus als Conſtitution und deren Geſetzesverfaſſung hinausgeſtellt iſt. Andererſeits kann man ſich aber den Panpſychismus als ein Syſtem des Abſolutismus vorführen. Dieſes hat dem gegenüber folgende Form: Die Einzeltheichen werden völlig ihrer relativ thig haben, nach deſſen Inhalt ſich die Er ſelbſtſtändigen cauſal-mechaniſch wirkenden Exiſtenz entkleidet. Sie ſinken herab zu bloßen Scheinträgern cauſaler Kraft und müſſen nun aufgefaßt werden als ſog. Modi und Modificationen des einen Ab— ſoluten (des All-Einen), aus dem das Sy— ſtem im Grunde beſteht. Alle dieſe Modi ſind hier aber im Grunde nur Scheintheile; denn ſie ſind trotz ihrer Theilung mit einander identiſch, weil ein und daſſelbige Weſen, ſie ſind daher eins und im ſelben Athem nicht=eing, folglich Pſeudoweſen. Beſten— falls kann man in dieſen Schattenweſen nur Vergleiche Heft 1 dieſer Zeitſchrift wird, kann man es verſuchen wollen über S. 16. Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre. die willenloſen Diener des omnipotenten Grundweſens erblicken, das eben in allen Theilen ſteckt; nur dieſes lebt wahrhaft, alle Theile und Einzelweſen führen ſomit ein unſelbſtſtändiges Scheinleben. Dieſe ſo conſtruirten Theile ſind Schein— theile, die automatiſch vom Grundweſen, das in ihnen ſteckt, bewegt werden. Alle dieſe Theilchen erſcheinen daher nicht als coordinirte Theile, um Wechſelwirkungen auszuüben, ſondern ſie ſind vielmehr künſt— lich eingeſchachtelt in einer höheren Sphäre, welche die natürliche Grundcoordinirung hindert, und ſie zu Gunſten der Ein— ſchachtelung aufhebt. (Vergleiche hierzu des Verfaſſers Aufſatz: Philoſophie und Transmutationsphiloſophie in der Zeitſchrift „Das Ausland“, Jahrg. 1874, Nr. 32, S. 630 ff.) So, ſehen wir, entſteht die Pſeudo⸗ Vielheitsauffaſſung. Mit Hülfe einer ſolchen conſtruirt ſich neuerdings bei— ſpielsweiſe von Hartmann ſeinen Pan— pſychismus, und alle diejenigen, welche in den Neu-Platonismus und in ähnliche mittelalterliche ſcholaſtiſche Lehren zurück— fallen, werden ihm leicht hierin folgen. Dies thut im ausdrücklichen Hinweis auf Plato in der That neuerdings ſelbſt Zöllner in Leipzig. Es iſt verwunder— lich, wie dieſer in den Grundregeln der Mechanik wohlgeſchulte Kopf, aller Mechanik zum Trotz, dennoch ſich eine ſog. vierte Raumdimenſion zurecht macht, durch welche er ſich offenbar in ein Gebiet des Myſti— ſchen und Hypermechaniſchen erhebt. Selbſt wenn wir Zöllner zugeben woll— ten, daß die Zahl der Dimenſionen für die raum zeitlichen Weſen vielfach wechſeln könnte, ſelbſt wenn wir annehmen (und der Verfaſſer dieſer Zeilen ſtimmt in dieſer Anſicht mit Zöllner überein), daß im pan— pſychiſtiſchen Univerſum Weſen auf irgend einem verödeten Geſtirn nur Flächenwahrneh— mung beſitzen und daher nur zwei Raumdimen— ſionen erkennen, während anderswo, etwa auf einem ſehr hell leuchtenden Geſtirn, die Weſen durch ſtarken geiſtigen Glanz innerlich tiefer erhellt ſind, um an allen wahrnehmbaren Objekten mehr als drei Raumdimenſionen zu erfafſen, ſo könnte die hiermit weitergreifende äußere Durch— dringung, die ein tieferes Ineinander der Weſen ermöglichte, doch niemals ſo weit führen, daß die in ihrem äußeren Zu— ſammenhange tiefer durchſchauten Theil— chen zu bloßen unſelbſtſtändigen Schein— und Schattengeſtalten herabſänken für das— jenige Weſen, dem die Sonne des vierten Dimenſionserkenntniſſes aufgegan— gen wäre. Hier iſt zu bedenken, daß bei der Zu- und Abnahme der räumlichen Dimenſionsverhältniſſe für die Auffaſſung zwar ſelbſtverſtändlich auch eine Zu- und Abnahme der Wahrnehmung und Erkennt— niß eintreten müßte, ſich alſo auch der geiſtige Horizont mit der räumlichen Di— menſions-Anſchauungsweiſe der wahrnehmen— den Weſen verengert und erweitert. Aber niemals wird dieſe Ab- und Zunahme der Erkenntniß jenen Sprung herbeiführen, auf den Zöllner hinweiſt, indem er das bekannte Beiſpiel des göttlichen Plato herbeizieht über die Erſcheinung der Schatten— geſtalten in der dunklen Höhle gegenüber dem klaren Schauen der Geſtalten in der lichten Sonne. Mögen in der That Weſen exiſtiren, die nur zwei Dimenſionen erken— nen, während wir uns ſelbſt bewußt ſind, drei Dimenſionen von den Dingen zu erkennen, ſo wiſſen wir ja aus der Er— fahrung an Blindgeborenen, die operirt wurden, welche Zunahme die Erkenntniß erfährt, indem wir Einſicht gewinnen in eine neue Raumdimenſion. Dieſe Zunahme 286 — iſt gegenüber von vielen Sinnestäuſchungen, denen man bei Unkenntniß von anderen Di— menſionen ausgeſetzt iſt, gewiß nicht zu unterſchätzen, aber es iſt andererſeits auch zu warnen vor einer Ueberſchätz- ung dieſer Zunahme. Hier bei dieſer Zunahme iſt zu beachten, daß auf Grund derſelben die Dimenſionen der Rauman- ſchauung (mit der ja die Grundregeln der Mechanik gegeben ſind) nur eine Erweite— rung des Grades erfahren, nicht aber ein Wechſel der Qualität in der Erkenntniß dieſer empiriſchen Grundverhältniſſe herbei— geführt wird. — Weſen und Theilchen, die ſich gegenſeitig nur in zwei Dimenſionen wahrnehmen, mögen vielfach in ihren Gegeneinanderbewegungen mit einander col— lidiren, weil ſie ſich eben vielfach gegen— ſeitig täuſchen. Dies mag leichter ab— gehen und mit viel weniger Täuſchungen verknüpft ſein bei ſolchen Weſen, die ſich gegen einander in ſehr vielen Dimenſionen wahrnehmen. Das Ineinander ihrer Be— wegungen mag hier daher feiner und in— niger, vielleicht ſelbſt harmoniſcher ſein, aber immer müſſen dieſe Bewegungen ſtattfinden auf Grund der erſten gegebenen räumlichen Grundlagen, auf welchen die Grundregeln der Mechanik ruhen. Dieſe mechaniſchen Grundregeln würden ſich aber aufheben bei der etwaigen Annahme nur einer Dimenſionz denn wären alle Weſen nur in dieſer gelegen, ſo könnten ſie alle nicht einander völlig ausweichen, folglich könnten auch hiermit ſehr weſentliche mechaniſche Grundunterſchiede der Richtung von Kraft und Widerſtand nicht exiſtiren. Dieſe Grund- regeln der Mechanik würden ſich ferner aber auch aufheben bei der Annahme von irgend welchen überempiriſchen Dimenſionen und Richtungen, die der Qualität nach den em— piriſchen widerſtreiten und ſie aufheben. Von Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre. dieſer Art aber iſt die poſtulirte vierte Dimenſion Zöllner's. Dieſelbe liegt nicht in der gegebenen denkbaren Skala der erſten drei geſetzten Raumdimenſionen, ſon— dern durch einen salto mortale verſucht Zöllner ſich einzubilden, daß mit Ein- tritt dieſer Dimenſion ſo ſehr neue Ver— hältniſſe eintreten, daß die hier im Irdi— ſchen angeſchauten ſinnlichen, mechaniſchen Grundverhältniſſe ſich zu bloßen Schemen verflüchtigen gegenüber einer neuen Art von Beziehungen, in welchen die Dinge ſich ſpiegeln. Mit dieſen ſollen die vorher ge— ſetzten natürlich-mechaniſchen Bedingungen des dreidimenſionalen Raumes überboten werden durch eine völlig über natürlich neue. Während die natürlichen Grund— regeln der Mechanik beiſpielsweiſe bedingen, daß die Dinge von Theilchen zu Theilchen wirken, weil fie bei ihrem relativen Wider- ſtand nicht völlig durchdringlich ſind und durchgriffen werden können, wird hier die übernatürliche, höhere, hypermechaniſche Fernwirkung angenommen, die keinerlei mechaniſche Widerſtände von Zwiſchenglie— dern kennt, ſondern das Entfernteſte mit dem Nahen hypermechaniſch vermittelt, gleich— ſam durch eine Leere hindurchgreifend, in— nerhalb deren alle mechaniſchen Widerſtände geſchwunden ſind. Durch dieſe Annahmen thut ſich hier eine weite Kluft auf zwiſchen den Grundverhältniſſen der Gliederung der Dinge unter dem Licht der erſten drei Raumdimenſionen (wie ſie uns ſinnlich ge— geben find) und derjenigen der hinzukom⸗ menden vierten, die wie mit einem Zauber⸗ ſchlage die Situation verändert. In dieſer Kluft eben liegt, wie hervorgehoben, der Widerſpruch. Mit ihm zerfällt das All in unvereinbare Hälften. Das Ganze ſinkt in klaffenden Dualismus. Auf der einen Seite die hohlen Schattenbilder der Welt, 3 die als bloße Erſcheinungen kein Weſen an ſich haben, ſondern den Seifenblaſen gleichen, welche der erſte Hauch zerreißt. Auf der anderen Seite hingegen das Weſen an ſich, von dem man nicht abſieht, wie es erkannten Gegenſtände zu bloßen zuſammen— jemals Erſcheinung werden kann unter ſo öden hinfälligen Formen, die einander derartig reiben, daß ſie beſtändig ſich verflüchtigen und aufheben. Wir können an dieſem Orte den überſchraubten und falſchen erkenntniß— Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre. theoretiſchen Gegenſatz zwiſchen Weſen und Erſcheinung nicht kritiſiren.) Ein We | fen an ſich, das hinter den Erſcheinungen liegt, ohne ſich mit ihnen und durch ſie völlig zu offenbaren, hat offenbar keinen cauſalen Zuſammenhang mehr mit alle dem, was wir in den Erſcheinungen erleben. Ferner aber nehmen wir die unumſtößliche That⸗ ſache wahr, daß gewiſſe Erſcheinungen ſo conſtant und wiederholentlich in der beſtimmteſten, für uns unverrückbaren Weiſe auftreten, daß wir ihnen ein Weſen ſelbſt in der Erſcheinung nicht abſprechen dürfen. Können aber Erſchei— nungen ihr Weſen beſitzen, ſo muß auch das Weſen erſcheinen und cauſaliter ſich mit den Erſcheinungen vermitteln. Ver⸗ folgen wir dieſe Argumentationen weiter, ſo erkennen wir, daß eine Unterſcheidung toto genere zwiſchen Erſcheinung und Weſen an ſich und daran anknüpfend zwiſchen Sein und Schein überhaupt (wie es die griechi— ſchen Philoſophen thaten und mit ihnen viele Scholaſtiker aus der alten und neuen Zeit) nicht geſtattet iſt. So viel Schein, ebenſo viel Hinweis auf ein Sein und um⸗ gekehrt. Nehmen wir nur dieſen Satz ernſt genug, wozu erkenntniß⸗theoretiſch alle Be— rechtigung vorliegt, ſo werden wir leicht ) Vergleiche hierüber: Caspari, Die Grundprobleme der Erkennißthätigkeit (Berlin 1876, bei Theobald Grieben). 287 dahin gelangen einzuſehen, daß die Zöll— ner'ſche Zerfällung des Alls in drei an— ſchauliche (erſcheinbare) Dimenſionen und eine Dimenſion, welche die erſten geſetzten dermaßen überbietet, daß alle unter ihnen hängenden Schattengeſtalten herabſinken, un— denkbar erſcheint. Es iſt überhaupt auffällig und verwunderlich, wie neuerdings einige Philoſophen in Leipzig die Raumlehre be handeln. Nicht als ſei ihnen im Sinne eines Kant der Raum ein nur ideales Phänomen im Innern der raumanſchauen⸗ den Weſen, ſondern als ſei derſelbe viel— mehr etwas an ſich ſelbſt, d. h. ein reales Gefäß, das aus drei Dimenſionen beſteht. Nun aber nach Zöllner wird uns mitgetheilt, daß dieſer reale Behälter als Unterlage des Dinges an ſich (Hyper— weſen) ſogar vier concrete Dimenfionen beſitzen ſoll. Das heißt allerdings Kant mißverſtehen, und man muß wohl dem geiftvollen Kant-Interpreten in Graz Recht geben, wenn er durchblicken läßt, daß man in Leipzig hier und da mit Kant im Kriege lebt. Mit Rückſicht auf die kriti⸗ ciſtiſche Raumlehre (miemann-Helm— holtz), der übrigens Schreiber dieſer Zeilen ebenfalls anhängt,*) muß man daher unter- ſcheiden zwiſchen Möglichem und Unmög⸗ lichem. Unmöglich erſcheint aber dieſe Raum⸗ lehre in der überſinnlichen Form jenes pla— toniſchen panpſychiſchen Abſolutismus, wie ihn Zöllner ausführt.) Ein ſolcher Pſychiker tritt auf als myſtiſcher Hellſeher und ſchaut das Univerſum an als ein durchſichtiges Glockenſpielwerk, das gefertigt iſt aus Glas und Kryſtall. Alle einzelnen Glocken find klar durchſichtig, alle werden in ihren Be— ) Siehe: Grundprobleme der Erkenntniß⸗ thätigkeit S. 99. %% Vergl.: Zöllner, Elektrodynamik. 288 wegungen völlig durchſchaut vom Ding an ſich, das über dieſe durchſichtige Welt ſich Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre. erhebt. Dieſes höchſte Abſolutum beherrſcht und durchdringt die Glasglocken und bes dient ſich ihrer wie ein Spielmann, der ſich eines paſſiven Werkzeuges bedient | und hypermechaniſch handhabt. Kunſt wie in der Naturforſchung, erkannte ſehr raſch den Unterſchied, der hier bezüg- lich des Begriffs hypermechaniſch deut lich gemacht werden ſoll. In ſeinem be— rühmten Traktate über die Malerei ſagt er Folgendes: „Man ſagt, daß eine Kennt⸗ niß mechaniſch ſei, welche von der Er— fahrung erzeugt iſt, daß eine Kenntniß wiſſenſchaftlich ſei, welche in dem Geiſte entſpringt und eine Kenntniß halbmechaniſch (in un⸗ ſerem angedeuteten Sinne hypermechaniſch) ſei, die in dem Denken entſpringt und mit einer Ausübung durch die Hand endigt. Aber mir ſcheint, die ſind, und die nicht in der Erfahrung endigen.“ Wir ſehen, der ſcharfſinnige ſtand, den uns Kunſtobjekte leiſten, die wir menſchlich mit den Fingern und durch die Hand bewegen, kein vollgültiger activer Widerſtand im mechaniſch-empiriſchen Sinne ſei. Er nennt dieſen Widerſtand halb— mechaniſch, richtiger aber iſt hypermechaniſch; denn die hier angewandte Mechanik tritt in den höheren Dienſt eines künſtlichen Zwi— ſchenmittels, das keine eigenen Bethä— tigungen ausübt, ſondern nur arbeitet wie Hammer und Meißel in der Hand ihres ee endigt, und daß Leo⸗ nardo da Vinci, ein Mann, der ebenſo ſehr zu Hauſe war in der Ausübung der 1 | Lenkers. Fügen wir die anuthropomorphi— ſtiſche Betrachtung, die ſich hier bezüglich des paſſiven Arbeitens der Werkzeuge er— giebt, in den Grundzuſammenhang des me— chaniſchen Ganzen nicht ein, ſondern be— ſchränken wir dieſe Betrachtung hinſichtlich des Beginnens und Endigens der mechani— ſchen Arbeit zwiſchen dem menſchlichen Kopf bis zur Hand und umgekehrt, ſo hebt ſich dieſer Zirkel der Betrachtung in das von uns ſcharf betonte Gebiet des Hyper— mechaniſchen. Wir ſehen aus dieſen Be- trachtungen, daß wir einen Panpſychismus nicht im Sinne ſolcher Anthropomorphismen und nach dem Muſter obiger Beiſpiele con⸗ ſtruiren dürfen. Leicht aber wäre es, den „Nachweis zu liefern, daß ſchon vor Jahr— tauſenden ein Plato ebenſo ſehr wie in neueſter Zeit Zöllner, nicht minder auch Hartmann, der Philoſoph des Unbe— wußten und ſeine Anhänger, ſich einen Panpſychismus zurechtlegten, der auf das oben gegebene Beiſpiel des Hypermechaniſchen zurückzuführen iſt. — Wollen wir uns Wiſſenſchaften ſeien eitel und voller Irrthü⸗ mer, die nicht aus der Erfahrung, der Mutter aller Gewißheit, entſprungen einen klaren Panpſychismus auf Grund des Kraftconſtitutionalismus, d. h. auf Grund der natürlichen, cauſal-mechaniſchen Lehre vor Augen führen, fo muß jeder Abſolu— tismus, der ins hypermechaniſche Gebiet Verſtand Leonardo da Vinci's erkennt hier klar, daß der bloße paſſive Wider- überſpielt, vermieden werden. Der leben— dige Mittelpunkt des conſtitutionellen Sy⸗ ſtems beſitzt keine durchbohrende omnipotente Gewalt an ſich, mit der aller Widerſtand der untergebenen Theile zum Pſeudowider— ſtande herabſinkt. So gewinnen hier die Theilchen jene natürliche Autonomie, welche die alltägliche Erfahrung lehrt und den Thatſachen, ſowie den Grundregeln der Mechanik gemäß für ſie in Anſpruch ge— nommen werden muß. Was die Theilchen hier an der Abſolutheit ihrer Durchdring— lichkeit verlieren, gewinnen ſie ſelbſt an — Aprilheft.) relativer Selbſtſtändigkeit, vermöge deren fie allein ſich unter einander mechaniſch— activen, natürlichen Widerſtand leiſten kön- nen. Nur dadurch erheben ſich alſo die Theilchen des Panpſychismus zu realen me- chaniſchen Factoren, daß ſie ſelbſt für den höchſt gelegenen Punkt im Syſtem etwas relativ Undurchdringliches (Selbſtſtändiges, Eigenartiges, Individuelles) an ſich behalten. Wer daher den Begriff der Individuation gebraucht, muß ſich die Alternative zwiſchen den Syſtemen eines Spinoza und Leib— niz genau klar gemacht haben. Es gilt hier einzuſehen, daß der Accent des Indi— viduellen die relative Undurchſichtig— keit der Einzelnen gegen einander be— dingt. Aller gegen Alle iſt eben die wirkliche In— dividuation, ſie fordert eine eigenartige Auto— nomie für alle Einzelnen, ſelbſt dem der Lage nach höchſten Punkte im Syſtem ge— genüber. Dieſe Autonomie der Individuen ſchauen, ein völliges Durchgreifen und ein | ift es ſomit, welche ein abſolutes Durch— | hypermechaniſches Durchbohren durch die Exiſtenz der anderen hindurch vom höchſten Punkte aus unmöglich macht. Alle an den Spinozismus anſtreifenden Grundan- ſichten, welche ſogar verlangen, daß die Vielheit und Mannigfaltigkeit der äußeren Erſcheinungen ſich decken muß mit der Ein— heit, welche ihnen von innen parallel geht, um fie fo durchdringend zu umfaſſen, müſſen Gleichen im daher aufgegeben werden.“) ) Hartmann ſchmeichelt ſich, die In— dividuationslehre mit Hinblick auf den Leib— nizianismus verbunden zu haben mit der abſoluten Einheitslehre (Spinozismus). (Siehe Zeitſchrift: Die Gegenwart, Jahrgang 1877, Offenbar beweiſt Hartmann, indem er dieſe Einbildung hegt, daß er nicht Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre. 289 Panpſychismus nach dem Muſter des Ab— ſolutismus die ſog. Individuationen und Einzeltheilchen todten', hohlen Seifenblaſen, welche die Strahlen des Mittelpunktes wie die Leere abſolut durchdringen und durch— | bohren, jo gleichen die Individuationen des— jenigen Panpſychismus, den wir zu charak— teriſiren unternommen haben, nach dem Dieſe relative Undurchdringlichkeit Muſter des Conſtitutionellen, den bewegten, lebendigen Wellen, welche das Licht nicht völlig hindurchlaſſen, ſondern einen Theil deſſelben in feinen Formen reflectiren, um hiermit das Product jenes wunderbaren Farbenſpieles hervorzurufen, in deſſen Be— wegungen und Erſcheinungen Weſen und Atome in ihren Erlebniſſen ſich erquicken. Durch tiefere Ausführung dieſes letzteren Gleichniſſes wird die Auſchauung des Kos— mos eine völlig andere. Die indi— viduellen Theilchen des Ganzen gewinnen durch den Accent der Autonomie, die ihnen mit ihren ſelbſtſtändigen Reactionen zuge— ſprochen werden muß, nun jene Prägnanz, die fie zu thatſächlichen, mechaniſchen Fac— toren macht, während ſie in jeder Art von Spinozismus (als Modi) im Grunde nur Scheinfactoren ſind, die gegen einander genug ermeſſen hat, warum es ſich hier han— delt. Die Antinomie zwiſchen Einheit und Vielheit wird ſo leichten Schrittes nicht ge— löſt, es ſei denn, daß man vorgebe, das Un— vereinbare vereinigen zu können. Das Räth— ſel: wie Gott zugleich ſein Teufel ſein kann (vergleiche unten S. 292), wußte Hartmann allerdings zu löſen, die rationale Anſchaulichkeit, wie 1 im ſelben Athem 3 ſein kann, wäre durch ihn noch zu erweiſen. In obigen Aus— führungen ſoll zunächſt nur darauf hinge— wieſen werden, daß ſog. Zwittereinheiten, wie etwa ſiameſiſche Zwillinge oder Drillinge, gegen einander mechaniſch ſtets nur paſſiv, nicht aber (ohne ſich aufzulöſen) im vollen Sinne activ auftreten können. N S 290 Spiegelfechterei treiben. philoſophiſche Abſolutismus zur Selbſt— beſpiegelung, weil ſich alles nur um den Mittelpunkt oder das abſolute All-Eine dreht, ſo vertheilen ſich die Spiegelungen im Syſtem des philoſophiſchen Conſtitutio— nalismus unter die Summe der autonomen Einzeltheile als conſtitutive Glieder des Ganzen. Die Selbſtbeſpiegelung des ab— ſoluten All-Einen geſtaltet ſich hier zur Widerſpiegelung und zum gegenſeitigen Aus— tauſch, ſowie zur Ergänzung aller Glie— der unter einander. Dort ſind die Ein— zelnen nur ephemere Scheinexiſtenzen der vergänglichſten Art, gleichſam nur Seifen— blaſen, die aus dem Sumpfe des Ur-Einen aufſteigen, hier hingegen ſind die Einzelnen Glieder von wirklicher Selbſtſtändigkeit, gleichſam ſolide Tropfen, in denen ſich die Erſcheinungen nicht nur flüchtig, ſondern beſtändig und dauernd widerſpiegeln müſſen. Iſt jene Gliederung des Abſoluten im beſten Falle eine ſolche, wie ſie an den ſiameſiſchen Zwillingen (um jenes vielfach gebrauchte Beiſpiel herbeizuziehen) zur Geltung kommt, ſo iſt die Gliederung des Conſtitutionellen geordnet nach dem Vorbilde einer in ſich verträglichen Familie. Dort ſind die Glie— der unſelbſtſtändige Zwittergebilde, hier ſind ſie harmoniſch geordnete, ſelbſtſtändige Theile des Ganzen. Ein Panpſychismus, wie ihn Hartmann conſtruirt, im Hinter- grunde das Ur-All-Eine, nämlich das Un— bewußte, fällt unter die von uns charak— teriſirte Kategorie des philoſophiſchen Ab— ſolutismus. 5. Abſolutismus und Conſtitutionalismus des Panpſychismus. Der Abſolutiſt, der das Spiel der 5 auflöſt in ein mechaniſches Schein— Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre. Führt jeder manöver, muß in Verlegenheit gerathen, wenn es ſich darum handelt, die phyſika— liſchen Thatſachen zu erklären, er wird hier ſtets myſtiſch und die tangentialen Bewegun- gen zerfließen ihm neben den Gravitationen unter der Hand. Unſchwierig wird es dem Conſtitutionaliſten, paſſende Beiſpiele für ſeine phyſikaliſche Grundanſchauung zu lie⸗ fern. Der Naturforſcher, der die Reflexionen der Farben und Lichter, den Grundſtreit der elektro-magnetiſchen Kräfte, die Summe der mechaniſchen Vermittelungen und der mit ihnen verknüpften Vorgänge von An- ziehung und Abſtoßung in den Natur- erſcheinungen unterſucht, hat Beiſpiele zu dieſer Weltanſchauung ſtündlich vor ſich und zur Genüge vor Augen. Seinem Forſchungs— geiſte thut ſich die Grundconſtitution der Kräfte auf von den tiefſten Gliederungen bis zu den allerhöchſten. In der Gravi— tation fühlt er das Schwingen tangen— tialer und feſtknüpfender Kräfte, er erkennt centripetal und centrifugal wirkende Gewal— ten, er ſieht wie unter dieſen Einflüſſen die Theilchen und Maſſen in der Verthei— lung ſich verſchieben, um ſich zu nähern und zu entfernen. So löſt ſich ihm das myſtiſche Weſen der unvermittelten Fern— wirkungen auf in die cauſal-mechaniſche Aufeinanderwirkung durch überall nachweis— bare Vermittelungen und cauſale Beziehun- gen der Dinge, die unter einander Ketten- glieder bilden, welche an keiner Stelle ab— ſolut durchbrochen ſein können. Die Wirkungen, die wir im phyfifa- liſchen Leben Gravitation nennen, finden wir von neuem wieder im Staate und in der Familie; auch hier ſehen wir die Kräfte ſich geſtalten nach den gleichen Grundregeln der kosmiſchen Geſetzesverfaſſung. Auch unter dieſen Formen höherer Ordnung be— merken wir, wie die Weſen zu einander Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre. gravitirend ſich an einander ſchließen und ſich in Liebe und Freundſchaft verketten, oder aber ſich in Gleichgültigkeit, in Haß und Verfolgung von einander abſtoßen und entfernen. Selbſt der eentralſte und höchſte Lagepunkt dieſes conſtitutionellen Syſtems, deſſen weitgreifender Intellect immerhin ſo vorgeſtellt werden kann, daß ihm mehr, weitreichende und eigenartigere Sinne als uns Menſchen zu Gebote ſtehen (wenn wir hierbei nur immer im Auge behalten, daß auch dieſen höchſten Sinnen wiederum gewiſſe empiriſche Schranken ge— zogen ſind), iſt nicht im Stande die Geſetz— gebung, die ſich das Ganze gegeben, um— zuſtoßen. Dieſer höchſte Intellect nähme daher nur als erſter Diener des kosmiſchen Geſammtſtaates theil an der Grundform, in welche ſich das Ganze gegliedert hat. Kann dieſer höchſte Intelleet die Glieder dieſes Syſtems, ſo weit ſie autonom und ihm ſomit relativ fremd ſind, nicht abſo— (ut durchſchauen, um fie zu gängeln, ſo kann er bei höherem Ueberblick dennoch recht wohl eine Lage einnehmen, die ihm die Möglichkeit gewährt, in ſehr hohem Grade für die Selbſterhaltung des Ganzen einzutreten und die Einzelnen in Bezug auf ihr Verhalten zu den Grundformen und Geſetzen zu ſchätzen und zu beurtheilen. Aber wir erkennen leicht, daß der Schwerpunkt des Syſtems nach dem Muſter des Conſtitutiven, ſobald die Theile mit einan- der ſtreiten, nicht abſolut fixirt iſt. In jedem Syſtem muß es einen realen Schwer— punkt geben, ſo auch hier. Da derſelbe aber im Conſtitutiven zugleich gebunden iſt an die Form und Verfaſſung als höheren, idealen Mittelpunkt, an welchem auch die Uebrigen theilnehmen, ſo kann ſich der reale Schwerpunkt, hier gezogen von den Anderen, bewegen und übertragen, und wird 291 ſich jeweils bei demjenigen „erſten“ Diener des Ganzen thatſächlich befinden, der es den übrigen Parteien und Einzelnen gegenüber am tiefſten verſteht, Form und Verfaſſung des Ganzen zu ſchützen gegen die Schwan— kungen, denen ein in ſich durch und durch bewegliches Syſtem variabler Kräfte fort— an ausgeſetzt iſt und ausgeſetzt ſein muß, wenn es nicht zu einem todten Schema erſtarren will. Die Theile, die im Syſtem des Abſoluten als todter Cadaver oder flüch— tiger, ſelbſtloſer Schatten dem einzig leben— den Mittelpunkte gegenüber erſcheinen, treten hier im Conſtitutiven alſo mit eigener beweg— licher Selbſtſtändigkeit auf, die ihnen wirkliches Leben und die Möglichkeit verleiht, den Trieben zur Transmuta— tion und Adaption thatſächlich zu ge— horchen. Iſt der höchſte Lagepunkt im con— ſtitutiven Weltſyſtem ſeiner Natur nach nicht abſolut vorauswiſſend (er könnte ja ſonſt durch die Parteilage nicht gewechſelt werden) und ſomit nicht unfehlbar, bleibt ihm vielmehr der Natur der Dinge nach vieles Einzelne verborgen, ſo weit dieſe Vor— gänge ſich nämlich innerhalb der autonomen Theilchen vollziehen, die für den conſtitu— tiven Mittelpunkt nicht mehr abſolut durchdringlich (undurchſichtig) ſind, ſo trägt dieſer höchſte Lagepunkt, als perſön— liches, individuelles Weſen aufgefaßt, auch hiermit nicht mehr die völlige Verantwort— lichkeit in ihrer ganzen ertödtenden und er- drückenden Laſt für das Zuſtandekommen aller derjenigen Formen, die als extreme Unluſtzuſtände, als Diſſonanzen und Aus— geburten des Teufels, wie ſie der Volks— mund nennt, d. h. als Thatſachen des Uebels das Welt- und Parteigetriebe der Weſen und Kräfte zuweilen durchziehen. Der ſog. Pſychismus, der, wie beiſpiels— weiſe der des Herrn von Hartmann, — . 292 mit der Form des Abſolutismus identiſch iſt, hat, wie früher dargethan, keine Er— klärung für die mechaniſchen, Grundverhältniſſe von Kraft und Wider— ſtand. Ferner ſetzt derſelbe ſeinen höchſten Schwerpunkt,“) als geiſtiges Weſen aufgefaßt, abſolut vorauswiſſend, die Weltgeſchichte anticipirend und ſomit unfehlbar. Da- mit ſinkt das geſchichtliche Weltdrama der Parteien zur bloßen Farce herab; denn alle Spieler ſind alsdann nur Marionetten mit einſtudirten Rollen. Ja, mehr noch, alle ) Man bemerke wohl: Innerhalb der Form der Conſtitution fällt der ideale Mittel— punkt der Form in die ſog. Verfaſſung, der reale Schwerpunkt in den jeweiligen höchſten Vertreter derſelben, ſei dieſer nun Fürſt, Miniſter oder Präſident u. ſ. w. In der Form des Abſolutismus hingegen fällt der ideale Mittelpunkt der Form (Verfaſſung) zuſammen mit der Perſon des abſolut regierenden Fürſten. Im Abſoluten iſt daher die Perſon des Tyrannen die verkörperte Verfaſſung ſelbſt. Es verhält ſich hier me— chaniſch wie mit einem Syſtem von Körpern, die alle von abſolut gleicher Dichte ſind; hier (aber nur in ſolchen) fällt alsdann der ideale Mittelpunkt der Form mit dem realen Schwerpunkt zuſammen. Wir ſehen, die Abſolutheit ſetzt die völlige Gleichheit im Weſen der Theile voraus, welchſelbige die Individuation eben ausſchließt. Caspari, Ueber Philoſophie der Darwin'ſchen Lehre. tharſächlichen dieſe Unfehlbarkeitstheorien des Spiritualis- mus, die ſich auf der Unterlage einer ſpi— ritualiſtiſchen, hypermechaniſchen Einheits— lehre aufbauen, kommen in conſequenter Weiſe hinſichtlich der Erſcheinungen des Uebels zu dem Schluß, daß das höchſte Urweſen (ſei es eine Gottheit oder ein Un— bewußtes) ſein eigener Mephiſtso iſt. Sehen wir dieſem Nonſens gegenüber im Folgenden zu: ob es uns gelingt, dieſer Hypereinheitslehre als Abſolutismus gegen— über, eine Lehre über den Zuſammenhang der Dinge zu entwickeln, die ſich beſſer mit den Thatſachen in der Naturlehre (veip. der Darwin'ſchen Lehre), beſſer mit un⸗ ſeren modernen Staats- und Rechtsanſchau⸗ ungen, und endlich beſſer mit einer philo— ſophiſchen Doktrin über den Verlauf der Geſchichte verträgt. Alle tiefer durchgeiſtig— ten Lehren von Seite der Abſolutiſten münden genauer betrachtet dem praktiſchen Zeitgeiſte zuwider in jene Unfehlbarkeit, die zugleich im Widerſpruch mit ſich da- hin führen muß, in dem ſchöpferiſchen, gött— lichen Weſen ſeinen eigenen Mephiſto zu ſuchen. Weder die wahre Religion, weder die wahre Ethik, noch die wahre Philofo- phie kann den modernen ae und dieſe Conſequenzen dulden. (Fortſetzung folgt.) Bathybins und die Moneren. Von Ernft Häckel. er vielbeſprochene Bathybius 5 exiſtirt nicht; ſeine Annahme beruhte auf Täuſchungen. So werden auch die übrigen Moneren nicht exiſtiren; auch dieſe angeblichen Urorganismen werden das Erzeugniß irrthümlicher Beobachtungen ſein. Mithin iſt einer der wichtigſten Grund— pfeiler der modernen Entwickelungslehre gefallen; und ſo werden auch ihre übrigen Stützpfeiler auf Täuſchungen und Irrthum gegründet ſein. Der ganze Darwinismus iſt ein großes Luftſchloß, die Selections— theorie eine Seifenblaſe, und die Ab— ſtammungslehre iſt überhaupt nicht wahr.“ So ungefähr iſt der Gedankengang zahlreicher Artikel, denen wir ſeit einem Jahre in den verſchiedenſten Zeitſchriften begegnen. Einzig und allein auf die an— gebliche Nichtexiſtenz des Bathybius ge— ſtützt, behauptet man kurzweg, daß es überhaupt keine Moneren gebe, und daß damit die ganze Entwickelungslehre den ſchwerſten Stoß erhalten habe. Am lieb— ſten wird dieſe Behauptung natürlich von den Gegnern der Entwickelungslehre vor— getragen und in den mannigfaltigſten Ton— arten variirt. Der Clerus triumphirt bereits über den völligen Untergang der Deſcen— denztheorie. Aber ſelbſt bei vielen An— hängern der Entwickelungstheorie gilt die Nichtexiſtenz des Bathybius als ausgemacht und es wird daraus eine Reihe von Schluß⸗ folgerungen gezogen, die als mehr oder minder gewichtige Einwürfe gegen hervor— ragende Hauptpunkte des Darwinismus Bedenken erregen. Dieſe Umſtände, ſowie die Unklarheit, in welcher ſich der größte Theil des dafür intereſſirten Publicums über den eigentlichen Thatbeſtand befindet, beſtimmt uns, hier die Moneren-Frage mit beſonderer Rückſicht auf den Bathybius zu erörtern. Ich ſelbſt erſcheine zu dieſer Erörterung inſofern beſonders be— rechtigt, ja ſogar verpflichtet, als ich das zweifelhafte Glück genieße, bei dem „be— rüchtigten Urſchleim der Meerestiefen“ Ge— vatter geſtanden zu haben. Als mein Freund Thomas Huxley 1868 ihm bei der Taufe den Namen Bathy b ius Haeckelii beilegte, konnte er freilich nicht ahnen, daß der arme Täufling, einem Icarus gleich, in kürzeſter Zeit zu einer biologiſchen Celebrität werden, die Sonnen— 294 höhe irdiſcher Berühmtheit erlangen und noch vor Ablauf ſeines erſten Decenniums in den dunkeln Hades der Mythologie hin— abſtürzen werde! Sehen wir denn zu, ob er wirklich todt iſt, ob er überhaupt nicht exiſtirt hat. Und wenn wir wirklich ſeine bloß mythologiſche Schein-Exiſtenz zugeben müßten, ſehen wir weiter zu, was daraus für die Moneren folgt! 1. Zur Geſchichte der Moneren. Im Frühling des Jahres 1864 be— obachtete ich im Mittelmeere bei Villafranca unweit Nizza ſchwimmende winzige Schleim— kügelchen von ungefähr einem Millimeter oder einer halben Linie Durchmeſſer, die mein höchſtes Intereſſe erregten. Vorſichtig unter das Mikroskop gebracht, erſchien näm— lich jedes dieſer Kügelchen wie ein kleiner Stern, deſſen Mitte aus einem viel kleineren ſtructurloſen Kügelchen beſtand, während von der Oberfläche ringsum mehrere Tauſend äußerſt feine Fäden ausſtrahlten. Die ge— naue Unterſuchung bei ſtarker Vergrößerung lehrte, daß der ganze Körper des ſtern— förmigen Weſens aus einfacher eiweißartiger Zellſubſtanz, aus Sarcode oder Proto— plasma beſtehe, und daß die Fäden, welche allenthalben von der Oberfläche aus— ſtrahlten, keine beſtändigen Organe ſeien, ſondern ihre Zahl, Größe und Geſtalt be— ſtändig ändern. Sie erwieſen ſich als ebenſo wechſelnde und unbeſtändige Fort— ſätze des centralen Protoplasma-Körpers, wie die längſt bekannten „Scheinfüßchen oder Pſeudopodien“, welche die einzigen Organe der Wurzelfüßler oder Rhizo— poden darſtellen. Während aber bei dieſen letzteren Zellenkerne im Protoplasma zerſtreut ſind und ihre Körper ſomit den Formwerth von einer oder mehreren Zellen Häckel, Bathybius und die Moneren. beſitzt, iſt das bei jenen in Nizza be— obachteten Protoplasma-Kügelchen nicht der Fall. Im Uebrigen war kein Unterſchied hier und dort zu finden bezüglich der Be— wegungsform der fließenden Schleimfäden und der Art und Weiſe, in welcher die— ſelben als Taftorgane zum Empfinden, als Contractionsorgane zum Kriechen, und als Ernährungsorgane zur Nahrungsaufnahme benutzt wurden. Um die Naturgeſchichte des kleinen Protoplasmakügelchens von Nizza, das zu vervollſtändigen, fehlte es nur noch an der Beobachtung ſeiner Fortpflanzung. Auch dieſe glückte ſchließlich. Nach eini— ger Zeit zerfiel das kleine Weſen durch einfache Theilung in zwei Hälften, von denen jede ihr eignes Leben in der— ſelben Weiſe weiterführte, wie das erſtere. Ich hatte ſomit den vollſtändigen Lebens— cyclus eines denkbar einfachſten Organismus erkannt, und nannte denſelben in Anerkennung ſeiner fundamentalen Bedeutung Proto- genes primordialis, den „Erſtge— bornen der Urzeit.“ ſchreibung gab ich im XV. Bande der Zeit- ſchrift für wiſſenſchaftliche Zoologie (S. 360, Taf. XXVI., Fig. 1, 2). Schon im folgenden Jahre wurden zwei verſchiedene, dem Protogenes ſehr ähnliche, höchſt einfache Organismen von dem aus— gezeichneten Mikroſkopiker Cienko wski beſchrieben. Im erſten Bande des Archivs für mikroſkopiſche Anatomie (S. 203, Taf. XII. - XIV.) veröffentlichte derſelbe ſehr intereſſante „Beiträge zur Kenntniß der Monaden.“ Unter den verſchiedenen Protiſten, die Cienkowski hier unter dem alten, vieldeutigen und daher ſehr unſicheren Begriffe der „Monaden“ zu- ſammenfaßt, befinden ſich zwei mifvoffopi- ſche Bewohner des ſüßen Waſſers, welche ich auf das Genaueſte unterſuchte, Seine genaue Ber — ö Fr re in der vollkommen einfachen und ſtructur— loſen Beſchaffenheit ihres kernloſen, ſtrahlen⸗ den Protoplasma-Körpers dem Proto— genes gleichen, die Gattungen Proto- monas Monas amyli) und Vampy- rella (letztere mit drei verſchiedenen Arten). Sie unterſcheiden ſich aber von dem erſteren durch die Art und Weiſeihrer Fortpflanzung. Während der Protogenes, nachdem er durch Wachsthum ein gewiſſes Größenmaß er reicht hat, dieſes nicht weiter überſchreitet, ſondern ohne Weiteres in zwei Stücke zer— fällt, ziehen Protomonas und Vampyrella ihre Strahlen ein und gehen in einen Ruhezuſtand über, in welchem ſich die kleine Protoplasmakugel einkapſelt oder encyſtirt, mit einer Hülle („Cyſte“) um⸗ giebt. Innerhalb dieſer kleine Hülle zerfällt die Protomonas in ſehr zahlreiche Kügelchen, die Vampyrella in vier Stücke (Tetraſporen). Alle dieſe Theilſtücke werden ſpäter frei und entwickeln ſich durch einfaches Wachs⸗ thum zu der reifen Form. Inzwiſchen hatte ich ſelbſt eine vierte ähnliche Gattung von höchſt einfachen Or⸗ ganismen im ſüßen Waſſer bei Jena be⸗ obachtet, welche einer gewöhnlichen Amoebe ganz gleich ſich verhält, aber von dieſer letzteren durch den Mangel eines Zellkerns und einer contractilen Blaſe unterſcheidet. Ich nannte ſie daher Protamoeba primitiva. Während bei den drei erſt— erwähnten Schleimkügelchen (Protogenes, Protomonas, Vampyrella) überall zahlreiche Fäden aus der Oberfläche des centralen Proto— plasma⸗Körpers ausſtrahlen, ſehen wir ſtatt deren bei Protamoeba — ganz wie bei der gewöhnlichen Amoeba — wenige kurze, fingerförmige Fortſätze ausſtrecken, welche ihre Geſtalt beſtändig ändern; ſie werden eingezogen und an einer andern Stelle wieder vorgeſtreckt. Hat die Protamoeba Häckel, Bathybius und die Moneren. 295 durch Nahrungsaufnahme (die ebenfalls wie bei Amoeba erfolgt) eine gewiſſe Größe erreicht, ſo zerfällt fie durch Theilung iu zwei Hälften. Ich machte die erſte Mit⸗ theilung darüber in meiner generellen Mor⸗ phologie (Bd. I. S. 133). Später habe ich von Protamoeba primitiva Abbildungen gegeben, welche u. A. in die „Natür⸗ liche Schöpfungs geſchichte“ (VI. Aufl. S. 167) und in die Anthropogenie (III. Aufl. S. 414) aufgenommen ſind. Geſtützt auf dieſe Beobachtungen, die ſpäterhin durch die Unterſuchungen an— derer Forſcher, wie durch meine eigenen noch beträchtlich erweitert wurden, gründete ich 1866 in der „Generellen Morphologie“ für alle dieſe Organismen von ein— fachſter Beſchaffenheit eine beſondere Claſſe unter dem Namen der Moneren, d. h. der „Einfachen“. Im erſten Bande (S. 135) ſagte ich damals: 5 „Um dieſe einfachſten und unvoll⸗ kommenſten aller Organismen, bei denen wir weder mit dem Mifroffop, noch mit den chemiſchen Reagentien irgend eine Differenzirung des homogenen Plas⸗ makörpers nachzuweiſen vermögen, von allen übrigen, aus ungleichartigen Theilen zuſammengeſetzten Organismen beſtimmt zu unterſcheiden, wollen wir fie ein für alle mal mit dem Namen der „Einfachen oder Moneren“ belegen. Gewiß dürfen wir auf dieſe höchſt intereſſanten, bisher aber faſt ganz vernachläſſigten Organismen be— ſonders die Aufmerkſamkeit hinlenken und auf ihre äußerſt einfache Formbeſchaffen⸗ heit bei völliger Ausübung aller weſent⸗ lichen Lebensfunctionen das größte Gewicht legen, wenn es gilt, das Leben zu er— klären, es aus der fälſchlich ſogenannten „todten Materie“ abzuleiten, und die übertriebene Kluft zwiſchen Organismen 296 und Anorganen auszugleichen. Indem bei dieſen homogenen belebten Naturkörpern von differenten Formbeſtandtheilen, von „Or⸗ ganen“ noch keine Spur zu entdecken iſt, vielmehr alle Moleküle der ſtructurloſen Kohlenſtoffverbindung, des lebendigen Ei— weißes, in gleichem Maaße fähig erſcheinen, ſämmtliche Lebensfunctionen zu vollziehen, liefern fie klar den Beweis, daß der Be— griff des Organismus nur dynamiſch oder phyſiologiſch aus den Lebensbewegungen, nicht aber ſtatiſch oder morphologiſch aus der Zuſammenſetzung des Körpers aus „Organen“ abgeleitet werden kann.“ In den folgenden Jahren wurde der Kreis unſerer Erfahrungen über dieſe wunderbaren „Organismen ohne Organe“ weſentlich erweitert. Auf meiner Reiſe nach den canariſchen Inſeln (1866 und 1867) richtete ich natürlich meine ganze Aufmerkſamkeit auf dieſelben und war denn auch ſo glücklich, noch mehrere neue Moneren— Formen zu entdecken. Auf den weißen Kalkſchalen eines merkwürdigen Cephalopoden (Spirula Peronii), die zu Tauſenden an den Küſten der canariſchen Inſeln an⸗ getrieben zu finden find, bemerkte ich zu— weilen zahlreiche rothe Pünktchen, welche ſich unter der Lupe als zierliche Sternchen und bei ſtarker Vergrößerung als orange— rothe Protoplasma -Scheiben oder Kugeln zu erkennen gaben, von deren Umfange zahl— reiche baumförmig veräſtelte Fäden aus— ſtrahlten. Die genauere Unterſuchung zeigte, daß auch dieſe (verhältnißmäßig coloſſalen) Protoplasmakörper kernlos und ſtructurlos waren und ſich in ähnlicher Weiſe wie Pro— tomonas fortpflanzten, nämlich dadurch, daß der kugelig zuſammengezogene und ein— gekapſelte Körper in zahlreiche kleine Stücke zerfiel. Ich nannte dieſe intereſſante neue Moneren-Gattung Protomy xa auran— Häckel, Bathybius und die Moneren. Bi: tiaca und habe fie auf Taf. I. der „Natürl. Schöpfungsgeſchichte“ abgebildet. Eine ähnliche ſtattliche Monerenform ent— deckte ich ſodann in demſelben Jahre (1867) im Schlamme des Hafenbeckens von Puerto del Arrecife, der Hafenſtadt der canari- ſchen Inſel Lanzarote und bezeichnete ſie als Myxastrum radians. Sie iſt da⸗ durch ausgezeichnet, daß die Theilſtücke oder Sporen, in welche der kugelige Körper bei der Fortpflanzung zerfällt, ſich radial gegen den Mittelpunkt der Kugel ordnen und ſpindelförmige Kieſelhüllen ausſchwitzen, aus denen ſpäter das junge Moner aus— ſchlupft. Geſtützt auf alle dieſe Beobachtungen, veröffentlichte ich 1868 in der „Jenaiſchen Zeitſchrift für Naturwiſſenſchaft“ eine aus— führliche Monographie der Moneren. (Bd. IV, S. 64, Taf. II und III). Hier ſind alle eigenen und fremden Be— obachtungen ausführlich zuſammengeſtellt und erläutert. Es ergaben ſich damals ſieben verſchiedene Gattungen von Moneren. Durch ſpätere Beobachtungen iſt die Zahl der Arten auf 16 geſteigert worden, worüber ich in den „Nachträgen zur Monographie der Moneren“ berichtet habe. (Jenaiſche Zeitſchr. für Naturw. 1877. Bd. VI. S. 23) Die Unterſchiede aller dieſer Moneren beruhen nur darauf, daß die weiche ſchleimige Körper— maſſe in verſchiedener Form ſich ausbreitet und bewegt, und daß die ungeſchlechtliche Fortpflanzung (durch Theilung, Sporen— bildung u. ſ. w., auf verſchiedene Weiſe geſchieht. 2. Zur Geſchichte des Vathybius. Das hohe Intereſſe, das die Moneren in morphologiſcher ſowohl, als phyſiologiſcher Beziehung darbieten, wurde noch geſteigert, Häckel, Bathybius und die Moneren. als 1868 der erſte Zoologe Englands, der berühmte Thomas Huxley, eine neue, ganz eigenartige Moneren Gattung unter dem Namen Bathybius Haeckelii beſchrieb (im Journal of mieroscop. ee, von r, N. 8. p. 1% Fl. IV). Abweichend von den übrigen Moneren ſollte dieſer Bathybius eigenthümlich geformte mikroſkopiſche Kalkkörperchen ein— ſchließen: Coceosphaeren und Coccolithen (Diseolithen und Cyatholithen); die formloſen Protoplasma-Klumpen deſſelben aber, von ſehr verſchiedener Größe, ſollten in ungeheuren Maſſen die tiefſten Abgründe des Meeres bedecken, unterhalb 5000 Fuß bis zu 25,000 Fuß hinab. Mit dieſem formloſen Ur-Organismus einfachſter Art, der zu Milliarden vereinigt den Meeres— boden mit einer lebendigen Schleimdecke überzieht, ſchien ein neues Licht auf eine der ſchwierigſten und dunkelſten Fragen der Schöpfungsgeſchichte zu fallen, auf die Frage von der Urzeugung, von der erſten Entſtehung des Lebens auf unſerer Erde. Mit dem Bathybius ſchien der berüchtigte „Urſchleim“ gefunden zu ſein, von dem Oken vor einem halben Jahr— hundert prophetiſch behauptet hatte, daß alles Organiſche aus ihm hervorgegangen, und daß er im Verfolge der Planeten-Ent— wickelung aus anorganiſcher Materie im Meeresgrunde entſtanden ſei. Der Tiefſeeſchlamm, welcher die Bath y— bius⸗Maſſen enthält, wurde zuerſt bei Gelegenheit der großartigen Tiefgrundunter— ſuchungen entdeckt, die ſeit dem Jahre 1857 behufs Legung des transatlantiſchen Tele— graphen-Kabels angeſtellt wurden. Man fand ſchon damals das „atlantiſche Tele— graphen-Plateau“, jene mächtige Tiefſee— Ebene, welche ſich in einer durchſchnitt— lichen Tiefe von 12,000 Fuß von Irland 297 bis Neufundland erſtreckt, allenthalben mit einem eigenthümlichen, grauen, äußerſt fein— pulverigen Schlamme bedeckt: Derſelbe zeichnete ſich durch zähe, klebrige Beſchaffen— heit aus und zeigte bei mikroſkopiſcher Unter— ſuchung Maſſen von kleinen kalkſchaligen Rhizopoden, insbeſondere Globigerinen, und ferner, als Hauptbeſtandtheile, die ſehr kleinen, als Coccolithen bezeichneten Kalkkörperchen. Aber erſt elf Jahre ſpäter, als Huxley 1868 mittelſt eines ſehr ſcharfen Mikroſkops eine erneute genaue Unterſuchung deſſelben Schlammes, auch in chemiſcher Beziehung vornahm, entdeckte er darin die nackten, freien, formloſen Protoplasma-Klumpen, welche neben den genannten Theilen die Hauptmaſſe des Schlammes bilden. „Dieſe Klumpen ſind von allen Größen, von Stücken, die mit bloßem Auge ſichtbar ſind, bis zu äußerſt kleinen Partikelchen. Wenn man fie der mikroſkopiſchen Analyſe unter— wirft, zeigen ſie — eingebettet in eine durch— ſichtige, farbloſe und ſtructurloſe Matrix — Körnchen, Coccolithen und zufällig hineingerathene fremde Körper.“ Lebender Bathybius wurde zuerſt 1868 von Sir Wy ville Thomſon und Profeſſor William Carpenter, zwei ebenſo erfahrenen als ſcharfſichtigen Zoologen, während ihrer nordatlantiſchen Tiefſee-Expedition auf dem Kriegsſchiffe „Porcupine“ beobachtet. Sie berichten über den friſch heraufgeholten lebendigen Tiefſee— Schlamm: „Dieſer Schlamm war wirklich lebendig; er häufte ſich in Klumpen zuſammen, als ob Eiweiß beigemiſcht wäre; und unter dem Mikroſkope erwies ſich die klebrige Maſſe als lebende Sarcode.“ (Annals and magaz. ot nat. hist. 1869, Vol. IV, p. 151). Ferner ſagt Sir Wyville Thomſon in ſeinem höchſt intereſſanten Werke über die Meeres— tiefen (The depths of the Sea II. Edit. 1874. p. 410): „In dieſem Schlamm (Globigerinen-Schlamm aus 2,435 Faden — oder ca. 14,600 Fuß Tiefe, aus der Bay von Biscaya), wie in den meiſten anderen Schlamm-Proben aus dem atlantiſchen Ocean-Bett, war eine beträchtliche Quantität einer weichen, gallertigen, organiſchen Materie nachweisbar, genug, um dem Schlamme eine gewiſſe Klebrigkeit zu geben. Wenn der Schlamm mit ſchwachem Wein- geiſt geſchüttelt wurde, fielen feine Flocken nieder, wie von geronnenem Schleime; und wenn ein Wenig von demjenigen Schlamme, an welchem die klebrige Beſchaffenheit am deutlichſten hervortritt, in einem Tropfen Seewaſſer unter das Mikroſkop gebracht wird, können wir gewöhnlich nach einiger Zeit ein unregelmäßiges. Netzwerk von eiweißartiger Materie ſehen, unterſcheidbar durch ſeine beſtimmten Umriſſe und nicht mit Waſſer miſchbar. Man kann ſehen, wie dieſes Netzwerk feine Form allmählig ändert, und die eingeſchloſſenen Körnchen und fremden Körper ihre relative Lage darin verändern. Die Gallert-Subſtanz iſt daher eines gewiſſen Grades von Bewegung fähig, und es kann kein Zweifel ſein, daß ſie die Er— ſcheinungen einer ſehr einfachen Lebensform zeigt.“ So wörtlich Sir Wyville Thomſon (a. a. O. S. 411). Meine eigenen Unterſuchungen des Bathy— bius-Schlammes betrafen, ebenſo wie die— jenigen von Huxley, nur todtes, in Wein— geiſt conſervirtes Material. Das Fläſchchen, in welchem ich denſelben von den Far-Oer⸗ Inſeln zugeſandt erhielt, trug die Aufſchrift: „Dredged of Professor Thomson und Dr. Carpenter with the Steamer Poreupine on 2435 fathoms. 22. July 1869. Lat. 47038“. Long. 124 “.“ Es war alſo ve Sa Er Häckel, Bathybius und die Moneren. dieſer Bathybius-Schlamm derſelbe, an welchem die genannten Forſcher ihre Beobach- tungen über amöboide Bewegungen angeſtellt hatten. Die Reſultate meiner Unterſuchung habe ich ausführlich in meinen „Beiträgen zur Plaſtiden-Theorie“ mitgetheilt (2. Bathybius und das freie Protoplasma der Meerestiefen. Jen. Zeiſchr. für Naturw. 1870. Bd. V. S. 499. Taf. XVII.) Die 80 Figuren, welche ich daſelbſt (auf Taf. XVII) von den verſchiedenen formloſen Protoplasma-Stücken des Bathybius und den geformten Kalkkörperchen, die er einſchließt, gegeben habe, find bei ſehr ſtarker Ver— größerung mit Hülfe der Camera lueida . ganz genau gezeichnet. Einige dieſer Figuren find auch iu den Aufſatz über „das Leben in den größten Meerestiefen“ übergegangen, welchen ich 1870 in Virchow-Holzendorff's Sammlung publicirt habe. (Nr. 110). Indem ich dieſen, in ſtarkem Alkohol ſehr gut conſervirten Bathybius⸗Schlamm mit Hülfe der neueſten Methoden möglichſt genau unterſuchte, und namentlich die vor— theilhafte (von Huxley früher nicht ange— wandte) Methode der Färbung mit Carmin und Jod übte, ſuchte ich vor Allem die Quantität und Qualität der formloſen Protoplasma-Stüde näher zu beſtimmen, die überall in Maſſe zwiſchen den geformten Kalktheilchen ſich vorfanden. Dieſe eiweiß— artigen, durch Carmin roth gefärbten Stücke waren ſehr gleichmäßig durch den ganzen Schlamm verbreitet und ſchienen in den meiſten unterſuchten Proben mindeſtens ein Zehntel bis ein Fünftel des geſammten Volums zu betragen; in manchen Präparaten ſelbſt die größere Hälfte. Dieſelben Maſſen, welche durch Carmin ſich mehr oder minder intenſiv roth färbten, nahmen durch Jod — und ebenſo durch Salpeterſäure — eine gelbe Färbung an und zeigten auch im Häckel, Bathybius Verhalten gegen andere chemiſche Reagentien ganz dieſelben Eigenſchaften, wie das gewöhn— liche echte Protoplasma der Thier- und Pflanzenzellen. Die Form der meiſten Stückchen war unregelmäßig, rundlich oder mit ſtumpfen Fortſätzen, einer Amoebe ähnlich; andere Stückchen bildeten unregel— mäßige kleine und größere Sarcode Netze, ähnlich denen der Myxomyeeten. Ob die kleinen geformten Kalktheilchen, die Coccolithen und Coccoſphaeren, welche in fo großen Maſſen im Bathybius-Schlamme vorkommen, — und zwar ebenſo wohl zwiſchen den Protoplasma-Stückchen, als innerhalb derſelben, von ihnen umſchloſſen, — wirklich zu ihnen gehören, oder nicht, dieſe Frage mußte ich um ſo mehr offen laſſen, als ich ſchon vorher ganz ähnliche Kalkkörperchen in dem Körper mehrerer pelagiſchen, an der Oberfläche des canariſchen Meeres ſchwimmenden Radiolarien gefunden hatte („My xobrachia von Lanzerote“). Dieſe ſonderbaren Kalkkörperchen, welche bald die Geſtalt einer einfachen, concentriſch geſchichteten Scheibe, bald eines Hemd— zuſammengeſetzten Kugel u. ſ. w. hatten, konnten ebenſowohl Ausſcheidungen der Bathy— bius⸗Sarcode ſein, als fremde Körper, die zufällig (oder bei der Nahrungsaufnahme) in das Protoplasma hinein gelangt waren. In neueſter Zeit hat ſich die größere Wahrſcheinlichkeit zu Gunſten der letzteren Annahme herausgeſtellt und die meiſten Biologen nehmen jetzt an, daß alle dieſe Körperchen mikroſkopiſche Kalk-Algen ſeien, verkalkte einzellige Pflanzen. Durch dieſe Unterſuchungen, die von 299 und die Moneren. Tiefen zwiſchen 5000 und 25000 Fuß, ein feinpulveriger Schlamm ſich findet, welcher u. A. große Mengen einer eigen— thümlichen, noch kaum individualiſirten Mo— neren-Art enthält. Der Fehler, den wir nun begingen, beſtand darin, daß wir die Reſultate dieſer nordatlantiſchen Tiefſee-Un⸗ terſuchungen allzuraſch generaliſirten und überall den Boden des tiefen Oceans mit ähnlichen Moneren bedeckt zu ſehen erwar— teten. Dieſe Erwartung wurde vollſtändig getäuſcht. Die ſehr genaue und umfaſſen— de Unterſuchung der großartigen Chal— lenger-Expedition, welche in 3½ Jahren die Erde umkreiſte und in den Tiefen der verſchiedenen Oceane ſorgfältig nach dem Bathybius ſuchte, hat ihn nirgends wieder— gefunden und erzielte nur negative Reſul— tate. Wir haben keinen Grund, in die Sorgfalt und Genauigkeit der ausgezeichne— ten Naturforſcher der bewunderungswürdi— gen Challenger - Expedition irgend einen Zweifel zu ſetzen, um ſo weniger, als ja der vorzügliche Direktor derſelben, Sir Wyville Thomſon, ſelbſt zuerſt die 5 4 | B Y ' = de viele Sheibihen. | ewegungen am lebenden Bathybius wahr genommen hatte. annehmen, daß an den vom Challenger Wir müſſen alſo wohl unterſuchten Stellen des tiefen Meeresbo— dens die Bathybius-Moneren wirklich fehl— ten. Folgt aber daraus, daß alle jene früheren Beobachtungen und Schlüſſe un— richtig waren? Wie es ſehr häufig in ſolchen Fällen | zu gehen pflegt, fo ging auch jetzt plötzlich die einſeitig übertriebene Anſicht in das entgegengeſetzte Extrem über. Vorher hatte man gehofft, überall im Schlamme des tiefen Meeresbodens die Protoplasma-Klum⸗ mehreren andern Forſchern beſtätigt wur-“ pen des Bathybius in Maſſe zu finden; den, ſchien feſtgeſtellt, daß auf dem Boden des nordatlantiſchen Oceans, und zwar in jetzt wollte man fie mit einem Male nir- gends mehr anerkennen. Suebefonterch Häckel, Bathybius 300 glaubte man ſich zu der Annahme berech- tigt, der früher in Weingeiſt unterſuchte Bathybius-Schlamm ſei weiter nichts, als ein feiner Gyps-Niederſchlag, wie er über— all bei der Miſchung von Weingeiſt mit Seewaſſer entſteht. hin widerrief Profeſſor Huxley — wie mir ſcheint, zu frühzeitig — ſeine frühere Anſicht vom Bathybius. In der „Nature“ (vom 19. Aug. 1875) und im „Quarter- ly Journal of microscop. science“ (1875, Vol. XV. p. 392) ſagt derſelbe wörtlich: „Profeſſor Wyville Thom fon, theilt mir mit, daß die beſten Be⸗ mühungen der Challenger-Forſcher, lebenden Bathybius zu entdecken, fehlſchlugen, und daß ernſtlich vermuthet wird, das Ding, dem ich dieſen Namen gab, ſei wenig mehr als ſchwefelſaurer Kalk, in flockigem Zu— ſtande aus dem Seewaſſer durch den ſtar— ken Alkohol niedergeſchlagen, in welchem der Tiefſeeſchlamm aufbewahrt wurde. Das Sonderbare iſt aber, daß dieſer unorgas | niſche Niederſchlag kaum von einem Eiweißniederſchlag zu unterſchei— den iſt, und er gleicht, vielleicht noch mehr, dem keimführenden Häutchen an der Ober— fläche fauliger Aufgüſſe, das ſich unregel- mäßig, aber ſehr ſtark, mit Carmin färbt, Stücke von beſtimmtem Umriß bildet und in jeder Weiſe ſich wie ein organiſches Ding verhält. Profeſſor Thomſon ſpricht ſehr vorſichtig und ſieht das Schickſal des Bathybius noch nicht als ganz entſchieden an. Aber da ich hauptſächlich für den eventuellen Irrthum verantwortlich bin, dieſe merk— würdige Subſtanz in die Reihe der leben— den Weſen eingeführt zu haben, ſo glaube ich richtiger zu verfahren, wenn ich ſeiner Dieſe Anſicht wurde zuerſt von einigen Naturforſchern der Chal- lenger-Expedition ausgeſprochen und darauf und die Moneren. oben mitgetheilten Anſicht größeres Gewicht beilege, als er ſelbſt.“ Dies find die Worte des Profeſſor Huxley, welche ſo großes Aufſehen erreg— ten, und nach weit verbreiteter Anſicht dem armen Bathybius den Todesſtoß verſetzt haben. Je mehr aber hier die eigentlichen Eltern des Bathybius ſich geneigt zeigen, ihr Kind als hoffnungslos aufzugeben, deſto | mehr fühle ich mich als Taufpathe verpflichtet, ſeine Rechte zu wahren und womöglich ſein erlöſchendes Lebensfünkchen wieder zur Gel— Und da finde ich denn glücklicherweiſe einen werthvollen Bundes— genoſſen in einem vielgereiſten deutſchen Naturforſcher, der erſt in neuerer Zeit wieder lebenden Bathybius, und zwar | an der Küſte von Groenland, beobachtet hat. Der bekannte Nordpolfahrer Dr. Emil Beſſels aus Heidelberg, Schiffbruche der Polaris glücklich zurück— kehrte, macht bei Gelegenheit ſeiner Beſchrei— bung der Haeckelina gigantea (eines coloſſalen Rhizopoden, der vielleicht mit der früher von Sand ahl beſchriebe⸗ nen Astrorhiza identiſch iſt) folgende wichtige Angaben: „Während der letzten amerikaniſchen Nordpol-Expedition fand ich | in 92 Faden Tiefe in dem Smith-Sunde große Maſſen von freiem, undifferenzirtem homogenen Protoplasma, welches auch keine Spur der wohlbekannten Coccolithen ent— hielt. Wegen ſeiner wahrhaft ſpartaniſchen Einfachheit nannte ich dieſen Organismus, den ich lebend beobachten konnte, Proto- bathybius. Derſelbe wird in dem Reiſewerk der Expedition abgebildet und beſchrieben werden. wähnen, daß dieſe Maſſen aus reinem tung zu bringen. der von dem Ich will hier nur er⸗ Protoplasma beſtanden, dem nur zu fällig Kalktheilchen beigemiſcht waren, aus welchen der Seeboden gebildet iſt. Sie 4 er N a ** ſtellten äuß erſt klebrige, maſchenar— tige Gebilde dar, die prächtige amöboide Bewegungen ausführ— ten, Carminpartikelchen ſowie andere Fremdkörper aufnahmen und lebhafte Körnchenſtrömung zeigten. 1875. Bd. IX. S. 277. Vgl. auch: Annual Report of the Secret. of the navy for 1873). An einem an— deren Orte, in den von Packard publi- cirten „Life histories of ani— mals“ (New- York, 1876 p. 3) iſt eine Abbildung der Protoplasma-Netze des Protobathybius von Dr. Beſſels publicirt. Hiernach möchte ich annehmen, daß derſelbe von unſerm echten Bathybius nicht verſchieden iſt. Der Unterſchied, daß letzterer gewöhnlich viele geformte Kalkkör— perchen (Coccolithen ꝛc.) umſchließt, der er— ſtere dagegen nicht, verliert ſeine Bedeutung durch die immer wachſende Wahrſcheinlich— keit, daß dieſe Kalkkörperchen einzellige, als Nahrung aufgenommene Kalkalgen ſind. 3. Zur Kritik des Bathybius. Nachdem wir jetzt die hiſtoriſchen An— gaben über den Bathybius zuſammengetra— gen und die wichtigſten wörtlich angeführt haben, wenden wir uns zur Kritik deſſelben. Verſuchen wir, aus einer unpartheiiſchen Würdigung jener Angaben uns ein ſelbſt— ſtändiges unbefangenes Urtheil über den vielverſchrieenen und jetzt faſt aufgegebenen Urſchleim der größten Meerestiefen zu bil— den! Bezüglich des todten Bathybius, des in Weingeiſt conſervirten Tiefſeeſchlam— mes aus dem nord⸗atlantiſchen Ocean, find alle Beobachter, die denſelben genau unter— ſucht haben, einig, daß derſelbe mehr oder (Jenaiſche Zeitſchr. f. Naturw. Häckel, Bathybius und die Moneren. 301 minder anſehnliche Mengen von geronnenem Protoplasma enthält, welche im mor— phologiſchen und chemiſch-phyſikaliſchen Ver— halten die größte Aehnlichkeit mit gewiſſen Moneren beſitzen. Die Reſultate, welche Huxley an feinem „Porcupine“ -Material erhielt, und die ich ſelbſt beſtätigen und ergänzen konnte, ſind von allen anderen Be— obachtern, die denſelben Schlamm unter— ſuchten, als richtig anerkannt worden. Bezüglich des leben den Bathybius liegen poſitive Angaben über die cha— rakteriſtiſchen rhizopoden-artigen Bewegungen deſſelben von drei bewährten Beobachtern vor, von Sir Wyville Thomſon, Pro- feſſor William Carpenter und Dr. Emil Beſſels. Alle drei ſtellten dieſe Beobachtungen an Tiefſeeſchlamm aus dem nord⸗atlantiſchen Ocean an. Dagegen lieferten die Bemühungen der Challenger— Forſcher, in verſchiedenen Meeren jene äl— teren Beobachtungen über Bewegungs-Er- ſcheinungen zu wiederholen und zu beſtäti— gen, nur negative Reſultate. Was folgt nun aus allen dieſen An— gaben, denen wir ſämmtlich dieſelbe Glaub— würdigkeit zuerkennen müſſen, und die ſich doch theilweiſe zu widerſprechen ſcheinen? Angenommen, daß alle dieſe Angaben rich— tig ſind, ſo folgt daraus einfach weiter gar nichts, als daß der Bathybius-Schlamm eine beſchränkte geographiſche Verbreitung beſitzt, und daß es eine voreilige Verallgemeinung war, alle tiefen Meeres-Abgründe mit demſelben zu bevöl— kern. Daraus aber, daß die Challenger- Expedition den lebenden Bathybius nicht wieder finden konnte, iſt doch wahrlich nicht zu folgern, daß die an anderen Orten angeſtellten Beobachtungen der Porcupine⸗Expedition über lebenden Bathy⸗ bius unrichtig waren! Oder ſollen wir da— 40 = 302 raus, daß die Challenger-Expedition den merkwürdigen „Radiolarien-Schlamm“ nur finden konnte, den Schluß ziehen, daß der— ſelbe überhaupt nicht exiſtirt? Wir wiſſen, daß die einen beſchränkten Verbreitungs-Bezirk haben. tung des Bathybius beſchränkt ſein? Ich bekenne daher, nicht zu begreifen, wie Huxley ſeine Anſicht über den Ba— thybius ſo raſch und ſo vollſtändig ändern konnte. Noch viel weniger freilich begreife ich die Art und Weiſe, wie auf der letzten Deutschen Naturforſcher-Verſammlung in Hamburg (im September 1876) der Ba— thybius öffentlich zu Grabe getragen wer— den konnte. Ich finde darüber in der Ber— liner Nationalzeitung folgende merkwürdige Mittheilung (datirt Hamburg 21. Sep⸗ tember), betreffend einen, von Profeſſor Möbius aus Kiel gehaltenen trefflichen Vortrag über die Marine Fauna und die Challenger-Expedition: „Ueber dieſe Ebenen (— Tiefſee-Ebenen von 3700 bis 4000 Meter Tiefe —) ſollte ſich der geheimniß— volle Urſchleim, der Bathybius, ausbreiten, den der berühmte Huxley zu Ehren ſeines genialen Freundes in Jena Bathybius Haeckelii genannt hat. Leider aber paſ— ſirte der Naturforſchung ein böſes Mißge— ſchick. Der Bathybius, der ſo gut zu den modernen Anſchauungen von dem Beginne des organiſchen Lebens paſſte, erwies ſich als ein Kunſtprodukt, als Niederſchlag von im Meere gelöſtem Gyps, in Folge des den Proben zugeſetzten Alkohols. Ueberall wo man die friſchen Proben an Bord un— terſuchte, war keine Spur von ihm zu ent— decken. Es machte einen geradezu erſchüttern— auf einen verhältnißmäßig engen Verbrei- tungs-Bezirk des pacifiſchen Oceans bee ſchränkt fand, und ſonſt nirgends wieder- allermeiſten Organismen-Arten Weingeiſt conſervirte Bathybius-Schlamm Warum ſoll denn nicht auch die Verbrei- weisführung macht auf alle Mitglieder Häckel, Bathybius und die Moneren. den Eindruck auf die Zuhörer, als Herr Möbius den Bathybius nach einem ſo einfachen Recepte vor ihren Augen in einem mit Meerwaſſer gefüllten Glaſe durch Alkohol-Zuſatz erſcheinen ließ!“ In der That eine merkwürdige Logik! Weil Weingeiſt in Seewaſſer einen Gyps— Niederſchlag erzeugt, deshalb iſt der in nur ein Gyps⸗Niederſchlag! Und dieſe Be— einer deutſchen Naturforſcher-Verſammlung „einen geradezu erſchütternden Eindruck!“ Daß ſtarker Weingeiſt in Seewaſſer einen dünnen flockigen Gyps— Niederſchlag erzeugt, weiß Jeder, der See⸗ thiere in Weingeiſt geſammelt hat. Ebenſo weiß aber auch Jeder, der den Bathybius⸗ Schlamm der Porcupine-Expedition gleich Huxley und mir genau unterſucht hat, daß die darin maſſenhaft enthaltenen mo— neren-artigen Eiweißkörper wirklich aus einem eiweiß artigen Körper und nicht aus Gyps beſtehen. Sie färben ſich in Carmin roth, in Salpeterſäure und in Jod gelb, werden durch concentrirte Schwefel— ſäure zerſtört und geben alle übrigen Re— actionen des Protoplasma, was be— kanntlich beim Gyps nicht der Fall iſt. Wenn man gewiſſe Kreide-Arten oder kreidigen Mergel fein pulveriſirt, ſo erhält man ein feinkörniges, weißes Mehl, welches zum Verwechſeln dem merkwürdigen „Ra- diolarien-Schlamm“ ähnlich iſt, den die Challenger-Expedition in einem beſchränkten Bezirke des Paeifiſchen Oceans (und nur hier!) in einer Tiefe von 12,000 — 26,000 Fuß gefunden hat. Dieſer „Navdiolarien- Ooze“, den ich eben jetzt unterſuche, beſteht faſt ausſchließlich aus den zierlichſten und man— nigfaltigſt geformten Kieſelſchalen von zahl— loſen Radiolarien. Mit bloßem Auge aber 7 Häckel, Bathybius und die Moneren. iſt dieſer getrocknete Schlamm — ein wun- dervolles, mikroſkopiſches Radiolarien-Mu— ſeum — nicht zu unterſcheiden von jenem pulveriſirten Kreide-Mergel, der nicht eine einzige Radiolarien-Schale enthält. Ich ſchlage nun vor, auf der nächſten deutſchen Naturforſcher-Verſammlung (im September 1877 in München) den experimentellen Be— weis zu führen, daß jene coloſſalen und höchſt merkwürdigen, vom Challenger ent— deckten Radiolarien-Lager in den Tiefen des Pacifiſchen Oceans nicht exiſtiren. „Das Recept iſt höchſt einfach.“ Man zer— ſtößt in einem Mörſer vor den Augen der verſammelten Naturforſcher einen von jenen Kreide-Mergeln, die keine Radiolarien ent— halten. Das ſo erhaltene weiße Pulver enthält kein einziges Radiolar — alſo exi— ſtirt auch der pacifiſche (blos aus Radio— larien beſtehende) Tiefſee-Schlamm nicht — denn beide ſind mit bloßem Auge nicht zu unterſcheiden. Quod erat demonstran— dum! Wir ſind überzeugt, das ſchlagende Experiment wird auf alle Zuſchauer „einen geradezu erſchütternden Eindruck machen“ — und der Radiolarien-Schlamm exiſtirt nicht mehr! 4. Zur Kritik der Moneren. Wir glauben in Vorſtehendem gezeigt zu haben, daß die Nicht-Exiſtenz des Bathyb ius nicht erwieſen iſt. Viel⸗ mehr bleibt es ſehr wahrſcheinlich, daß die Beobachtungen von Wy ville Thom- ſon, Carpenter und Emil Beſſels über die Bewegungen des lebenden Bathy— bius richtig ſind. Wir wollen nun aber einmal das Gegentheil annehmen und wol— len zugeben, daß Bathybius kein Moner und überhaupt kein Organismus ſei. Folgt daraus, — wie jetzt ſehr oft gefolgert 303 wird, — daß auch die Moneren über— haupt nicht exiſtiren? Oder dürfen wir daraus, daß die bekannte Rieſen-See— ſchlange der Fabel nicht exiſtirt, den Schluß ziehen, daß es überhaupt keine Seeſchlangen giebt? Bekanntlich giebt es deren eine Menge, die Familie der lebendig gebären— den, ſehr giftigen Hydrophiden (Hy- drophis, Platurus, Aepysurus ete.), welche meiſtens im indiſchen Ocean und Sunda Archipel leben, aber keine beträcht— liche Größe erreichen. Es würde unnütz ſein, hier nochmals darauf hinzuweiſen, daß meine eigenen, viele Jahre ſpeziell auf dieſen Gegenſtand ge— richteten und möglichſt ſorgfältigen Unter— ſuchungen die Exiſtenz von mehr als einem Dutzend verſchiedener Moneren-Arten theils im Süßwaſſer, theils im Meere nachge— wieſen haben. Um ſo mehr will ich aber hervorheben, daß dieſe Beobachtungen ſeit- dem von einer Anzahl bewährter Forſcher wiederholt und beſtätigt worden ſind. Einige von dieſen Moneren ſcheinen ſogar im ſüßen Waſſer ſehr verbreitet zu ſein, ſo namentlich die Gattungen Protamoeba und Vampyrella. P. agilis und V. spi- rogyrae kommen in Jena faſt jeden Some mer gelegentlich zur Beobachtung. P. pri— mitiva und V. vorax ſind von mehreren verſchiedenen Beobachtern in ſehr entlegenen Gegenden geſehen worden. Andere neue Moneren-Formen ſind erſt ganz neuerdings von Cienkowski und Oskar Grimm beobachtet. Wenn erſt die allgemeine Auf— merkſamkeit der Mikroſkopiker ſich mehr dieſen höchſt einfachen Organismen zuwen— det, ſteht zu erwarten, daß unſere Kennt— niß derſelben ſich noch beträchtlich erweitern und vertiefen wird. Ganz abgeſehen alſo davon, ob Bathy— bius ein echtes Moner iſt oder nicht, kennen 9200 wir jetzt bereits mit Sicherheit eine An— zahl echter Moneren, deren fundamen— tale Bedeutung von erſterem ganz unab— hängig iſt. Wir wiſſen, daß noch heute eine Anzahl von niedrigſten Lebensformen in den Gewäſſern unſeres Planeten exiſtiren, welche nicht nur die einfachſten unter allen wirklich beobachteten Organismen, ſondern überhaupt die denkbar einfachſten lebenden Weſen ſind. Ihr ganzer Körper beſteht in vollkommen entwickeltem und fortpflanzungsfähigem Zuſtande aus nichts weiter als aus einem ſtrukturloſen Proto— plasma⸗Klümpchen, deſſen wechſelnde, form— veränderliche Fortſätze alle Lebensthätigkeiten gleichzeitig beſorgen, Bewegung und Em— pfindung, Stoffwechſel und Ernährung, Wachsthum und Fortpflanzung. Morpho- logiſch betrachtet iſt der Körper eines ſol— chen Moners ſo einfach wie derjenige irgend eines anorganiſchen Kryſtalls. Ver— ſchiedene Theilchen ſind darin überhaupt nicht zu unterſcheiden; vielmehr iſt jedes Theilchen dem anderen gleichwerthig. Dieſe wichtigen Thatſachen und die daraus ſich ergebenden weitreichenden Folgerungen gelten für alle Moneren ohne Ausnahme — mit oder ohne Bathybius! — und es iſt daher für die Theorie ganz gleichgültig, ob der Bathybius exiſtirt oder nicht. Wenn wir dieſe Moneren als „abſolut einfache Organismen“ bezeichnen, ſo iſt da— mit natürlich nur ihre morphologiſche Einfachheit, der Mangel jeder Zuſam— menſetzung aus verschiedenen Organen, aus— geſprochen. In chemiſch-phyſikaliſcher Be- ziehung können dieſelben noch ſehr zuſam— mengeſetzt ſein; ja wir werden ihnen ſo— gar auf alle Fälle eine ſehr verwickelte Molecular - Structur zuſchreiben müſſen, wie allen eiweißartigen Körpern überhaupt. Viele betrachten den ſchleim— Häckel, Bathybius und die Moneren. artigen Eiweißkörper dieſer Moneren als eine einzige chemiſche Eiweißverbindung, Andere als ein Gemenge von mehreren verſchiedenen ſolchen Verbindungen, noch Andere als eine Emulſion oder ein feinſtes Gemenge von eiweißartigen und fettartigen Theilchen. Dieſe Frage iſt für unſere Auf— faſſung und für die allgemeine biologiſche Bedeutung der Moneren von untergeord— neter Bedeutung. Denn auf alle Fälle — mag dieſe oder jene Anſicht richtig ſein — bleiben die Monereu in anatomiſcher Hinſicht vollkommen einfach: Orga⸗ nismen ohne Organe. Sie beweiſen un— widerleglich, daß das Leben nicht an eine beſtimmte anatomiſche Zuſammenſetzung des lebendigen Körpers, nicht an ein Zuſam— menwirken verſchiedener Organe, ſondern an eine gewiſſe, chemiſch-phyſikaliſche Be— ſchaffenheit der formloſen Materie gebunden iſt, an die eiweißartige Subſtanz, welche wir Sarcode oder Protoplasma nennen, eine ſtickſtoffhaltige Kohlenſtof f— verbindung in feſtflüſſigem Aggre— gatzuſt ande. Das Leben iſt alſo nicht Folge der Organiſation, ſondern um— gekehrt. Das formloſe Protoplasma bildet die organiſirten Formen. Da ich die außerordentlich hohe Bedeutung, welche die Moneren in dieſer Beziehung wie in vielen anderen Beziehungen beſitzen, bereits in den früher angeführten Schriften aus— führlich erörtert habe, kann ich hier einfach darauf verweiſen. Nur die fundamentale Bedeutung, welche die Moneren für die hochwichtige Frage von der Urzeugung behaupten, ſei hier nochmals ausdrücklich hervorgehoben. Die älteſten Orga— nismen, welche durch Urzeugung aus anorganiſcher Materie ent- ſtanden, konnten nur Moneren ſein. ER e eee e ne EL RE Bazar R d 5 5 ER Gerade dieſe allgemeine Bedeutung der Moneren für die Löſung der größten bio— logiſchen Räthſel iſt es, welche ſie zu einem beſonderen Steine des Anſtoßes und Aerger— niſſes für die Gegner der Entwickelungs— lehre macht. rühmten Eozoon canadense geſchah, jener vielbeſtrittenen älteſten Verſteinerung der laurentiſchen Formation. Die erfah— renſten und urtheilsfähigſten Kenner der Rhizopoden-Klaſſe — an ihrer Spitze Pro— feſſor Carpenter in London und der verſtorbene berühmte Anatom Max Schultze in Bonn — haben überein— ſtimmend die feſte Ueberzeugung gewonnen, daß das echte nordamerikaniſche Eozoon (aus den laurentiſchen Schichten in Canada) ein wirklicher Rhizopode, und zwar ein dem Polytrema nächſtverwandtes Po- lythalamium iſt. Ich ſelbſt habe mich viele Jahre hindurch ganz ſpeciell mit dem Studium der Rhizopoden beſchäftigt. Ich Häckel, Bathyhius und die Moneren. Natürlich benutzen die Letz teren jede Gelegenheit, ihre Exiſtenz zu be- ſtreiten, ähnlich wie es auch mit dem be | habe die zahlreichen, ſchönen Eozoon-Prä— parate von Carpenter und von Max Schultze ſelbſt genau unterſucht und hege danach nicht den mindeſten Zweifel mehr, daß daſſelbe wirklich ein echtes Polythala— mium und kein Mineral iſt. Aber gerade wegen der außerordent— lichen principiellen Bedeutung des Eozoon, weil dadurch die Zeitdauer der organiſchen Erdgeſchichte um viele Millionen Jahre hin— auf gerückt, die uralte ſiluriſche Formation als verhältnißmäßig junge erkannt und ſo der Entwickelungslehre ein großer Dienſt geleiſtet wird, deshalb fahren die Gegner der letzteren fort, unbeirrt zu be— haupten, daß Eozoon kein organiſcher Reſt, ſondern ein Mineral ſei. Wie aber die hohe Bedeutung des Eozoon durch dieſe fruchtloſen Angriffe unkundiger Gegner erſt recht in ihr volles Licht geſetzt worden iſt, ſo gilt daſſelbe auch von den Moneren — mit oder ohne Bathybius! Die echten Mo— neren bleiben ein feſter Grundſtein der Entwickelungslehre! Phyſiologiſche Briefe von Prof. Dr. Guſtav Jäger. II. Ueber Vererbung. 3 Fr J aben wir uns im erſten Briefe 7 die Bedeutung der ſpezifiſchen 7 g u Stoffe für den Nahrungstrieb > und den Aſſimilationsvorgang in das nüthige Licht zu ſtellen geſucht, ſo ſoll im heutigen Briefe daſſelbe für das Fortpflanz ungsweſen. ge ſchehen. Ich knüpfe hierbei an die intereſ— ſante Mittheilung von Dr. Fritz Müller über Schmetterlingsdüfte an, über die im dritten Hefte des Kosmos S. 260 Bericht erſtattet wurde. Stellt man ſich im Mai in einem lich— ten Buchenwalde zur Seite eines Stammes auf, an welchem man ein Weibchen des Buchenſpinners entdeckt hat, ſo wird man bald beim Ausſpähen dieſes oder jenes Männchen da oder dort in gaukelnd revie— rendem Fluge dahineilen ſehen. Nähert es ſich auf ſeinem Wege nicht zufällig auf geringere Diſtanz als 20—30 Schritt dem Stamme, ſo zieht es vorüber. Hat es dagegen ſein Flug näher herangebracht — und wenn es unter den Wind kommt, ſo genügt auch eine Diſtanz von über 40 Schritten — ſo ändert es plötzlich ſeine Flugrichtung und ſtürzt ſchnurgerade auf den Stamm los, umkreiſt ihn ſuchend und gaukelnd ein und das andere Mal, bis es das Weib— chen entdeckt hat, um ſich dann bei ihm niederzulaſſen. Daß das Männchen nicht durch den Geſichtsſinn auf die angegebene Entfernung von der Anweſenheit des Weib— chens Kunde erhält, wird durch die Fälle bewieſen, in welchen das Weibchen auf der entgegengeſetzten Seite des Stammes ſitzt. Es kann alſo auf der einen Seite nur der Geruchsſinn, auf der andern nur der Beſitz eines ſpezifiſchen, auf jo weiten Ab- ſtand wirkenden Ausdünſtungsgeruches die Vereinigung herbeiführen. Auch noch in anderer Weiſe erhält der Schmetterlingsſammler Beweiſe hiefür. Hat man ein friſchgefangenes Weibchen eines Schmetterlings in eine Umhängſchachtel ge— ſteckt, ſo kann es einem begegnen, daß ſich ein Männchen der gleichen Art zudringlich auf die geſchloſſene Schachtel ſetzt: es hat das Weibchen durch den Deckel hindurch gewittert. Hat man das Weibchen eines Schwär— mers gefangen, ſo kann man, ſelbſt mitten in Städten, entfernt von jeder Vegetation, Männchen und zwar oft in ſtaunenswerther Zahl fangen, wenn man das lebende Weib— chen Nachts im Zimmer an einem Faden um den Leib aufhängt; die Männchen ſtür— men ins Zimmer herein, und zwar nur ſolche der gleichen Art, und man macht dabei die Erfahrung, daß der Anflug zum Weibchen erſt tief in der Nacht, in der Regel erſt nach Mitternacht beginnt, die Zeit der Dämme— rung wird nur zum Nektarſchmaus auf Blüthen benutzt. Hat man nun auch den größten Reſpekt vor der Befähigung der Nachtthiere, im Dunkeln zu ſehen, ſo wäre es doch eine ſtarke Zumuthung, zu glauben, daß es etwa dem dahinſtürmenden Männ— chen eines Liguſterſchwärmers gelinge, ein vielleicht ebenfalls in raſchem Flug vorbei— eilendes Weibchen ſeiner Art von dem ihm jo ähnlichen Windigweibchen in ſtockfinſtrer Nacht zu unterſcheiden, oder die Unterſchei— dungsmöglichkeit zwiſchen ſo ähnlich gefärb— ten Arten anzunehmen, wie es Wolfsmilch— und Labkrautſchwärmer, oder die Wein— ſchwärmer ſind. Selbſt bei Tagſchmetter— lingen beſteht für mich kein Zweifel da— rüber, daß der Geruchsſinn die Zuſammen— führung der Geſchlechter vermittelt, denn bei Betrachtung der einander ſo äußerſt ähnlich gefärbten und gezeichneten Arten der Bläulinge, der Perlmutterfalter, Scheck— falter und Augfalter muß man doch billiger— weiſe zweifeln, daß ſich die Arten mittelſt des Geſichtsſinns unterſcheiden. Hierzu kommt noch folgende Erwägung: das Schmetterlingsmännchen hat ja bezüg— lich Farbe und Zeichnung des zu ihm ge— hörigen Weibchens lediglich keine Er— fahrungen. Weder als Raupe, noch als Puppe ſieht es dasſelbe und wenn es nach Jäger, Phyſiologiſche Briefe. 5 7 307 dem Ausſchlüpfen das Weibchen erblickt, woher ſoll es dann wiſſen, daß dieſer oder jener winzige Unterſchied in Farbe und Zeichnung das Kennzeichen ſeines Weibchens iſt? Dies würde Detailkenntniſſe voraus— ſetzen, die nur auf dem Wege langer Er— fahrung und comparativer Beobachtung zu gewinnen ſind. Im Gegentheil, es iſt nur das Werk des chemiſchen, durch den Geruchsſinn vermittelten Inſtink— tes, der chemiſchen Wahlverwandtſchaft der ſpezifiſchen Stoffe. Als letzter Grund iſt für mich dabei noch maßgebend, daß ich nach dem Bau ihrer Augen die Inſekten, ich will zwar nicht ſagen für kurzſichtig im Sinne menſchlicher Kurzſichtigkeit, jedoch für nicht befähigt halte, aus der Ferne ſolche Einzelheiten wahrzunehmen, wie es nöthig wäre, um auch nur auf einige Meter Diſtanz das eigene Weibchen von anderen ähnlichen zu unterſcheiden. Sehen wir uns bei anderen Thier— gruppen um, fo treten uns überall That— ſachen entgegen, welche den Ausdünſtungs— geruch zum Träger. des Paarungsinſtinktes ſtempeln. Unter den Wirbelthieren ſind es am un— verkennbarſten die Säugethiere, die im eminenten Sinne Riechthiere ſind. Bei allen Säugethieren, die ich in der betreffenden Lage im Wiener Thiergarten zu beobachten Gelegenheit hatte, geht der Paarung ausnahmslos ein Beſchnüffeln voraus. Hier läßt ſich auch noch ein anderer Umſtand als Beweis für die Rolle der Riechſtoffe bei der Fortpflanzung bei— bringen. Die Paarung iſt bei den meiſten Säu— gethieren an eine ganz beſtimmte Zeitperiode, die Brunſtzeit, geknüpft. Es zeigt ſich nun deutlich, daß in dieſer Periode eine Varia— Br 308 tion des Ausdünſtungsgeruches und zwar ohne Zweifel in qualitativer Weiſe auftritt. Am leichteſten beobachtet man die Sache beim Hund. Der männliche Hund verhält ſich ge— gen die Fährte eines nichtbrünſtigen Weib— chens ziemlich gleichgültig, nimmt dagegen die einer brünſtigen Hündin ſofort auf, und dasſelbe gilt von allen Säugethieren. Der Hund belehrt uns darüber, daß auch der Menſch in dieſer Beziehung ſich wie die Säugethiere verhält. Zunächſt muß ich bemerken, daß nicht blos zwiſchen den beiden Geſchlechtern einer und derſelben Art Sympathiebeziehungen beſtehen, ſondern auch zwiſchen denen verſchie dener Arten. Am leichteſten kann dies der Menſch an ſich ſelbſt beobachten. lingt die Zähmung des Männchens einer Frau leichter, Bei wilden Thieren ges | | Jäger, Phyſiologiſche Briefe. ſame kann nur der Ausdünſtungsgeruch ſein. Dies zeigt ſich denn auch am Hund ganz deutlich in dem Umſtand, daß die männlichen Hunde in der Menſtruations— periode ihren Herrinnen gegenüber viel lie— die eines Weibchens dem Manne; meine beiden zahmen Wölfinnen z. B. waren an mich und meine Kinder anhänglich wie Hunde, für Frau und Magd hatten ſie nur Knurren und böſe Blicke. Eine Hündin attachirt ſich viel inniger und leichter einem Manne, als ein Rüde, während es ſich bei der Frau um— gekehrt verhält. Mancher Hundefreund würde viel lieber eine Hündin halten, da die Frau aber nicht mit ihr auskommt, muß er ſich mit dem Rüden begnügen. Daß die männlichen Stiere von einer Magd ſich viel leichter behandeln laſſen, als von einem Knechte, iſt eine nicht minder bekannte Thatſache. Meine Erfahrungen erſtrecken ſich über Marder, Füchſe, Bären, Antilo— pen, Hirſche, Katzenarten, Zibethkatzen und Papagaien, bei welchen letzteren die kreuzweiſe Sympathie oft ganz eklatant ſich kund giebt. Daß dieſe Thatſachen auf die dem Ge— ſichtsſinne zugänglichen morphologiſchen Un terſchiede der Geſchlechter beim Menſchen ſpielt. weibliche Perſonen, denen er, auch bei Abwe— benswürdiger ſind und in demſelben Falle auch anderen weiblichen Weſen nachziehen, die ſie ſonſt ganz unbeachtet laſſen. Auf der anderen Seite iſt daſſelbe ein Beweis dafür, daß auch beim menſchlichen Weibe während der Brunſtzeit (denn als ſolche iſt die Menſtruation aufzufaſſen) der Ausdün— ſtungsgeruch variirt wird. Uebrigens giebt es auch ſehr viele Männer, welche dieſe Variation ebenfalls wahrnehmen. Bezüglich der internen ſexuellen Be— ziehungen beim Menſchen läßt ſich leicht conſtatiren, daß trotz des überwältigenden Einfluſſes rein pſychiſcher Faktoren der Aus— dünſtungsgeruch noch immer ſeine Rolle Es begegnen dem Manne oft genug ſenheit jeder etwa durch Unreinlichkeit ent— ſtehenden Emanation, einen abſtoßendeu Aus— dünſtungsgeruch zuſpricht. Dieſe Erfahrung läßt ſich namentlich auf Bällen machen, wo die durch Körperbewegung vermehrte Haut— ausdünſtung einen intenſiveren Eindruck bewirkt. Ueber einen Kretinen wurde mir mitgetheilt, daß derſelbe öfters eine junge Dame feiner Umgebung, die ſich feiner be— ſonderen Zuneigung zu erfreuen hatte, mit wohlgefälliger Miene beſchnüffelte und da— zu ſagte: „Riekele, du ſchmeckſt (riechſt) ſo gut!“ — Wenig Sprichwörter bergen ſo viel naturwiſſenſchaftliche Wahrheit als das, daß die Liebe blind ſei, ich möchte aber daſſelbe dahin ergänzen, daß die Liebe eine ſehr feine Naſe hat und daß bei einer großen Zahl ſogenannter Nei— gungsehen, ohne daß die Betreffenden u beziehen wären, iſt undenkbar, das wirk- nur eine Ahnung davon hätten, das wahre 3 zieh ‚ . ) ‚ u. Motiv die in dem individuellen Ausdünſtungs— geruch gegebene chemiſche Wahlverwandtſchaft iſt, und umgekehrt, daß das Verunglücken mancher Vernunftehen nur auf das Fehlen der richtigen chemiſchen Wahlver— wandtſchaft zurückzuführen iſt. Die Rolle, welche die Kosmetik beim Menſchen ſpielt, iſt deshalb meiner Anſicht nach eine zweifache: Einmal wirken die mei— ſten angenehmen Gerüche allgemein und da— mit auch geſchlechtlich anregend, dann aber dienen dieſe Fremdgerüche zur Maski— rung der Individualgerüche, wo— durch ſich das Gebiet, auf welchem ein weibliches Weſen erotiſch zu wirken vermag, vergrößert. Dem entſpricht auch durchaus die Anwendung, welche das weibliche Geſchlecht von der Kosmetik macht. Den größten Conſum an Kosmetika haben die im Dienſte der Venus vulgivaga ſtehenden Frauen— zimmer, dann kommen die heiratsluſtigen Mädchen und gefallſüchtigen Frauen, während die ſittſame Ehefrau mit völlig richtigem Gefühl die kosmetiſchen Künſte verſchmäht und verachtet. Ueber die enorme individuelle Differen- zirung des Ausdünſtungsgeruchs beim Men— ſchen, für welche dieſe interſexuellen Wahl— verwandtſchaftsverhältniſſe mir ein eben ſo guter Beweis ſind als die Thatſache, daß der Hund mittelſt des Geruchsſinns das Ju— dividuum ſo ſcharf unterſcheidet, wie wir mittelſt der phyſikaliſchen Sinne, will ich mich hier nicht äußern, ich behalte mir das für einen ſpätern Brief vor. Wohl aber muß ein Punkt, der aus den oben mitgetheil ten Thatſachen hervorgeht, conſtatirt wer— den. In meinen früheren Auslaſſungen über die ſpezifiſchen Stoffe habe ich nachgewieſen, daß ein ganz genauer Zuſammenhang zwi— ſchen der Verſchiedenheit der Riech- und Jäger, Phyſiologiſche Briefe. _ 309 Schmeckſtoffe ſowie der durch die Syſtema— tik zum Ausdruck gebrachten morphologi— chen Differenz der Thierarten beſteht. Hierzu tritt die neue Thatſache, daß auch die zwi— ſchen den beiden Geſchlechtern einer und der— ſelben Thierart beſtehende morphologiſche Differenz von einer Differenz im Bereich der ſpezifiſchen Stoffe, ſpeziell der Riech— ſtoffe, begleitet ift, jo daß meine Behaup— tung, alle und jede morphologiſche Differenz ſei von einer chemiſchen begleitet, auch von dieſer Seite geſtützt wird. Ferner ſcheint mir die hohe Bedeutung der ſpezifiſchen Stoffe für die Vererbung ganz außerordentlich durch die Thatſache geſtützt zu werden, daß die ſpezifiſchen Ge— ſchlechtsgerüche der verſchiedenſten Thierarten etwas Gemeinſchaftliches haben, denn das geht unwiderleglich aus den oben mitgetheilten Thatſachen über die inter— ſexuelle Anziehung hervor, die jo verſchie— dene Thiere wie Menſch und Papagai ver⸗ kuüpft. Dem Satze, daß jede morphologiſche Verſchiedenheit von einer Verſchiedenheit des Ausdünſtungsgeruches begleitet iſt, wird der ergänzende Satz an die Seite geſtellt, daß jeder morphologiſchen Aehnlichkeit — denn eine ſolche beſteht zwiſchen den Weibchen verſchiedener Thiere — auch eine Aehnlich— keit im Ausdünſtungsgeruch entſpricht. Wir müſſen nun aber der Geruchs- differenz zwiſchen Männchen und Weibchen noch etwas näher treten. Aus dem Obigen folgt, daß der Riechſtoff einer jeden Spezies in zwei Modifikationen exiſtirt, als männ- licher und als weiblicher. Die männliche Modifikation wirkt als Aphrodiſiacum auf das weibliche Thier, die weibliche als eben ſolches auf das männliche Thier; wir kön⸗ nen alſo die Differenz aus Mangel einer exakt chemiſchen Definition ex effeetu die — aphrodiſiſche Differenz nennen und uns die Frage vorlegen: Was lehrt uns die biologiſche Beobachtung über die Natur der Differenz? Wir werden am leichteſten zur Beantwortung dieſer Frage gelangen, wenn wir ſie mit der im erſten Briefe beſprochenen Aſſimilations diffe— renz vergleichen. Damals mußten wir bei den ſpezifiſchen Schmeck- und Riechſtoffen zwei einander gegenüberſtehende, aber in einander überzuführende chemiſche Modifi— kationen eines und deſſelben Spezifikums annehmen: Es iſt der Lüſternheits— ſtoff, welcher die Nahrung dem Thiere an— genehm und begehrenswerth macht. Bei der Aſſimilation aber verwandelt das Spezi⸗ fikum ſich in den Ekelſtoff, welcher be— wirkt, daß der Pflanzenfreſſer das Raub— thier flieht. Wir ſahen weiter, daß der Ekelſtoff dem Lüſternheitsſtoff chemiſch über— legen iſt. Die Frage iſt nun: Sind Anzeichen vorhanden, daß es ſich bei der aphrodiſiſchen Differenz um etwas Aehnliches handelt wie bei der Aſſimilations— differenz? Dieſe Frage iſt zu bejahen, wenn eine Ungleichheit in Bezug auf chemiſche Wirkung, ein chemiſches Sub— ordinationsverhältniß beſteht, und wenn der anziehenden Wirkung des chemiſch ſchwächeren Stoffes (Lüſternheitsſtoffes), eine gewiſſe abſtoßende Wirkung des ſtärkeren Stoffes (Ekelſtoffes) gegenüberſteht. Prüfen wir die Thatſachen. Beim Säugethier ſteht unbedingt feſt, daß der weibliche Ausdünſtungsgeruch auf das männliche Thier eine ganz entſchieden ſtärkere Anziehung ausübt als der des Männchens auf des Weibchen: Während das männliche Säugethier ſofort die Fährte des brünſtigen Weibchens aufnimmt, ignorirt das letztere die Fährte des Männchens 310 Jäger, Phyſiologiſche Briefe. vollſtändig. Beim Schmetterling verhält es ſich ebenſo: Während man mit einem weiblichen Schmetterling die Männchen her— beilocken kann, gelingt das Umgekehrte nicht. Daß bei den Käfern dasſelbe Verhältniß beſteht, trage ich hier nach. Hat man z. B. das Weibchen eines Hirſchkäfers gefunden, ſo kann man damit Männchen anlocken, während das Umgekehrte nicht gelingt. Es liegen aber auch auf der andern Seite Anhaltspunkte genug dafür vor, daß die inſtinktive Wirkung des Männchens auf das Weibchen eine gewiſſe Ab- ſtoßung iſt. Jedermann hat ſchon beobachtet, wie eine läufige Hündin den ſie verfolgenden Rüden entflieht und nach ihnen beißt. Bei den Füchſen ſieht man zur Ranzzeit Fuchs und Füchſin tagelang ums her ſchnüren: ſie voraus fliehend, er dicht hinter drein verfolgend. Jeder Jäger kennt das Sprengen bei Reh und Hirſch: das weibliche Thier flieht, das männliche verfolgt — dasſelbe Verhältniß wie zwiſchen Raubthier und Beute. Mir iſt kein Thier bekannt, bei welchem das weibliche Ge— ſchlecht das verfolgende, überwältigende, das männliche das verfolgte und Wider- ſtand leiſtende wäre, es iſt ſtets umgekehrt, auch in ſolchen Fällen, in denen, wie bei den Spinnen, das weibliche Thier das ſtärkere iſt und nach der Begattung ſogar oft genug das Männchen auffrißt. Trotz aller Maskirung, die der In— ſtinkt beim Menſchen durch erzieheriſche Ein— flüſſe erfährt, verläugnet ſich dasſelbe auch bei ihm nicht: die Sprödigkeit iſt eine Eigen— ſchaft des Weibes, die Zudringlichkeit kommt dem Manne zu. Die Aehnlichkeit der aphrodiſiſchen Diffe— renz mit der Aſſimilationsdifferenz tritt ſogar noch ausgeſprochener in dem Umſtande hervor, daß das Männchen ſehr häufig das Weibchen in der Wollufterregung beißt, daß alſo von dem Ausdünſtungsgeruch — fo glaube ich es auffaſſen zu müſſen — in ähnlicher Weiſe ein indirekter Reflexreiz zu den Beißmuskeln geht, wie vom Nahrungsgeruch. Ich habe dieſes Beißen geſehen bei Pferden, Eſeln, Quagga, Katzen— arten, Mardern, Enten, Hühnern ꝛc., wenn es auch freilich in manchen Fällen nur ein Halten des Weibchens mit den Beißwerk— zeugen iſt. Dabei iſt das Charakteriſtiſche, daß das Beißende immer das Männchen, nie das Weibchen iſt. Eine weitere Aehn— lichkeit beſteht in der Wirkung auf die Speicheldrüſen: In der Wolluſt— erregung geifern die männlichen Säugethiere, ſo weit ich es kenne, mehr oder weniger deutlich. Eine andere Aehnlichkeit beſteht darin, daß das Weibchen überhaupt ſtets das Er— griffene, Gehaltene, Umklammerte, Gerittene oder ſonſt wie durch Muskelkräfte phyſiſch Ueberwältigte iſt, und es iſt mir kein Fall bekannt, in dem das Umgekehrte ſtatt findet. R Damit kommen wir zur zweiten Parallele zwiſchen aphrodiſiſcher und Aſſimilations- differenz: Es beſteht offenbar ein chemiſches Subordinationsverhältniß. Bei der Aſſimi— lation zeigt ſich dies, wie wir ſeiner Zeit ſahen, darin, daß der Efelftoffträger den Küſſternheitsſtoffträger chemiſch überwältigt. Auf dem Gebiet der ſenſitiven Beeinflußung iſt dies allerdings bei der aphrodiſiſchen Differenz nicht ſo deutlich, wie auf dem ſpäter zu beſprechenden Gebiet der Be— fruchtungswirkung, allein es iſt doch auch auf dem erſteren nicht zu verkennen. Schon der Ausdruck „das Weibchen ergiebt ſich dem Männchen“ iſt ganz bezeichnend, denn warum ſagt man nicht umgekehrt? Es geht eben vom Männchen ein den Jäger, Phyſiologiſche Briefe. Widerſtand des Weibches lähmender in— ſtinktmäßiger Einfluß aus, der dadurch ſeine Bedeutung erhält, daß der aphrodiſiſche Ein— fluß, den das Weibchen auf das Männchen aus— übt, gerade das Gegentheil von Lähmung und Bewegungshemmung, näm lich Beſchleunigung und Anregung, zu den heftigſten Kraftentfaltungen iſt. Haben wir im Bisherigen die Aehn— lichkeit zwiſchen der Aſſimilationsdifferenz und der aphrodiſiſchen Differenz der Spezifika beſprochen, ſo müſſen wir jetzt auch die Unterſchiede hervorheben. Auf dem Gebiete der ſinnlichen Be— einfluſſung, das wir bisher allein beſprochen haben, tritt als ein Hauptunterſchied hervor, daß die aphrodiſiſche Differenz in ihren Wirkungen geringer iſt als die Aſſimilationsdifferenz. Dies zeigt ſich nach beiden Seiten hin: Die aufregende, anziehende, Bewegung auslöſende Wirkung des weiblichen Sexualgeruchs auf das Männchen iſt geringer als die des Nahrungsgeruchs, er treibt dasſelbe zwar zur Ueberwältigung, aber nicht zur Ver— nichtung des Weibchens, und die abſtoßende, lähmende Wirkung des männlichen Sexual— geruchs auf das Weibchen erreicht nie die Höhe der Tödtlichkeit. Ein weiterer Unterſchied iſt qualitativer Natur. Bei der Aſſimilationsdifferenz löſt der Lüſternheitsſtoff Thätigkeit der Er- nährungsapparate (Freß-, Kau- und Ber- dauungsarbeit) aus, der Ekelſtoff wirkt auf dieſe Apparate gerade entgegengeſetzt. Bei der aphrodiſiſchen Differenz geht die Wirkung auf einen andern Organapparat, die Geſchlechtswerkzeuge, über, und auf dieſem Gebiet iſt die Wirkung auf die beiden in Betracht kommenden Theile nicht entgegen— geſetzt (d. h. bei dem einen hemmend, beim an— dern beſchleunigend), ſondern gleichartig, d. h. beſchleunigend, die Organthätigkeit erhöhend. 312 ſeun müſſen wir uns aber einem an- dern Punkte, nämlich den Befruchtungs⸗ vorgängen zuwenden. behandelte, Gebiet der Sinnesempfindungen, akte und Reflex-Erſcheinungen iſt in mancher Beziehung ein ſchlüpfriger Boden, Das bis jetzt vom Nervenleben beeinflußte Willens⸗ weil hier die durch Erziehung geſchaffene pſychiſche | Beeinflußung ein ſehr ſchwer zu berechnen— der, weil gar zu unbekannter Faktor iſt. Bei der Befruchtung, d. h. der Einwirkung des männlichen Samens auf das weibliche Ei, liegen die Verhältniſſe viel einfacher. Nur erhebt ſich hier der andere Uebelſtand, daß dieſe Verhältniſſe noch viel zu wenig be— obachtet ſind, theils weil die Wiſſenſchaft ſie in dieſer Richtung allzu ſehr ignorirt, theils weil hier die Beobachtung mit viel größeren Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Ich hatte beabſichtigt, in den nächſten Herbſt— ferien hierüber Beobachtungen anzuſtellen und erſt dann mich darüber zu äußern, wenn ich die nöthige empiriſche Grundlage mir verſchafft. Da ich mich aber ſchon jetzt an der Ausführung dieſes Vorhabens verhin— dert ſehe, ſo lege ich hier mein Raiſonnement, von dem ich bei den Unterſuchungen aus— gegangen wäre, in der Hoffnung nieder, daß ein glücklicher ſituirter College die An— regung aufnimmt und die nöthigen Ver— ſuche und Beobachtungen anſtellt. Ich richte jedoch dieſe Einladung nicht nur an die Zoologen, ſondern auch an die Botaniker, weil bei den Pflanzen die nöthigen Ver— ſuche unendlich viel leichter anzuſtellen ſind als bei den Thieren. Die eine Frage iſt die: Kommt dem männlichen Samen eine gewiſſe Diſtanzwirkung auf das Ei zu, die auf die Emanation ſpecifiſcher Schmeck- und Riechſtoffe zurück— zuführen iſt? u Jäger, Phyſiologiſche Briefe. Hier iſt zuerſt die Thatſache zu erwähnen, daß der männliche Samen einen ſehr leb— haften, ganz eigenthümlichen Ausdünſtungs— geruch hat, der zwar bei den Thierarten, die ich darauf prüfen konnte (Menſch, Schwein, Pferd, Kaninchen, Hund), entſchieden ähnlich, aber auch deutlich verſchieden iſt; der erſtere Punkt iſt ein Seitenſtück zu der Aehnlichkeit der Hautausdünſtung der weiblichen Thiere, die wir oben kennen lernten. Der Geruch iſt ſo auffallend, daß be— kanntlich vor der Keber'ſchen Entdeckung vom Eindringen der Samenfäden in das Ei dieſer Samengeruch, „Aura seminalis“, von vielen für das befruchtende Princip ge— halten wurde. So wenig es mir einfällt, dieſe | jedenfalls einſeitige Befruchtungstheorie wieder nöthig halte ich es, aufleben laſſen zu wollen, für ſo dringend die der Vergeſſenheit anheim gefallene aura seminalis wieder aufs Tapet zu bringen und die Behauptung aufzuſtellen, daß ſie der Träger des Be— fruchtungsinſtinktes iſt, und zwar ſo: Daß überhaupt eine Befruchtung ſtatt— findet, iſt die Folge der Vermiſchung der Ei⸗ und Samenſubſtanz, allein daß dieſe Vermiſchung zu Stande kommt und zwar nur zwiſchen den Geſchlechtsprodukten der— ſelben oder nahe verwandter Arten, halte ich für die Wirkung der aura seminalis — und einer aura ovalis, wenn ich dieſen Ausdruck gebrauchen darf. Bei denjenigen Thieren, bei welchen die Befruchtung im Innern des Körpers ſtatt— findet, iſt die Conſtanz des Befruchtungsver hältniſſes Schon durch den von der Hautaus⸗ dünſtung getragenen Begattungsinſtinkt ge— ſichert und bei Inſtinktverirrungen, die ja bekanntlich vorkommen, werden ſchon durch die morphologiſchen Differenzen Hinderniſſe geſchaffen. Allein bei den zahlreichen Thieren, bei denen die Befruch— Ks Jäger, Phyſiologiſche Briefe. tung äußerlich vor ſich geht, fällt dieſe Sicherung gegen Mesallianz vollſtändig fort: Man hat darauf aufmerkſam gemacht, daß 313 1) Kann er die Quellung des Eiproto— plasmas beſchleunigen. Daß die Quellung auf eine mechaniſche Anziehung der Samen— die Oeffnung der Eizelle (Mikropyle) hier | fäden hinausläuft, kann man bei den ſtets genau den gleichen Durchmeſſer habe wie der Kopf des Samenfadens. Daß dies aber eine höchſt unvollkommene Sicherung iſt, liegt auf der Hand, inſofern hier nur die größern, nicht aber auch die ſchmächtigeren Samenfäden ausgeſchloſſen wären, und die erſteren nur, wenn die Köpfe der Samen— fäden völlig unelaſtiſch wären. Es kann ſich mithin nur um chemiſche Wirkungen handeln, die wiederum nur von den ſpezifiſchen Be— ſtandtheilen der chemiſchen Miſchung ausgehen können, denn die gegenſeitige Befruchtungs— fähigkeit iſt ſtreng an die ſpezifiſche Zuſammen— gehörigkeit geknüpft. Auch aus einem allgemeinen Grunde müſſen wir die Unterſuchung der aura seminalis wieder aufnehmen, denn daß eine fo conſtante Erſcheinung ein lediglich gleich— gültiges Begleitungsphänomen ſei, iſt von vornherein höchſt unwahrſcheinlich, fie muß einen Zweck oder, anders geſagt, eine wichtige phyſiologiſche Wirkung haben. Wie ſoll man ſich nun, ehe das Experiment ſein entſcheidendes Wort geſprochen hat, die Wirkung des Samen— geruches auf das Ei denken? (Dabei möchte ich auf einen formalen Ein wand antworten: Manche Forſcher ſtellen das Experiment voran und ſparen ſich das Nachdenken auf nachher. Ich halte das nicht für richtig; wer ſich die Frage, die ihm das Experiment beantworten ſoll, nicht zum voraus klar legt, hängt vom Zufall ab.) Wenn der Samengeruch überhaupt eine Wirkung auf das Ei hat, ſo muß es eine die Befruchtung d. h. die Vermiſchung von Samen und Ei vorbereitende ſein. Hier iſt folgendes möglich: Forelleneiern deutlich ſehen, denn die Be— fruchtungsfähigkeit des Eies iſt erloſchen, ſobald die ſehr bedeutende Quellung des aus dem Körper ins Waſſer gelangten Eies vorüber iſt. Hier hätten wir alſo zu be— obachten, ob das Ei eines ſolchen Thieres bei Anweſenheit von Samen raſcher aufquillt als bei Abweſenheit deſſelben, und ob, wenn dem ſo iſt, dieſe Beſchleunigung nur Wirkung der aura iſt, alſo auch eintritt, wenn Samen und Ei durch eine, zwar die aura, nicht aber die Samenfäden durchlaſſende Scheidewand getrennt ſind. Dann muß die Prüfung mit einem fremden Samen gemacht und unterſucht werden, ob eine fremde aura die Quellung hemmt oder ganz verhindert oder aber übertreibt. 2) Kommt es darauf an, ob neben den paſſiven noch aktive Quellungsbewegungen, d. h. Contraktionen im Protoplasma des Eies durch die aura ausgelöſt werden und wie ſich die adäquate und die fremde aura in dieſer Beziehung verhalten. Wir können uns z. B. hinſichtlich die— ſer zwei Punkte folgende Vorſtellung machen. Auf dem ſenſitiven Gebiete haben wir geſehen, daß der vom männlichen Thiere ausgehende Geruch auf das Weibchen einen lähmenden, widerſtandsbrechenden, über— wältigenden Einfluß ausübt. Das Ranke'- ſche Imbibitionsgeſetz lehrt uns, daß jede Schwächung der Lebensenergie die Quellungs— fähigkeit des Protoplasmas ſteigert, daß alſo der Quellung ein aktiver Widerſtand von den contraktilen Elementen des Proto- plasmas entgegengeſetzt wird. Dadurch iſt die Vermuthung äußerſt nahe gelegt, daß die Wirkung der adäquaten aura auf - Ü Maar r 314 das Eiprotoplasma eine lähmende und dadurch die Quellung befördernde iſt. Iſt dem ſo, ſo kann die Erfolgloſigkeit der Einwirkung einer fremden aura zweierlei Urſachen haben: Entweder iſt der lähmende Einfluß zu ſchwach: Das Eiprotoplasma giebt ſeinen Widerſtand gegen die Imbibition nicht auf und ſo fällt die in der Quellung liegende Anziehung der Samenfäden weg, ſolche Samenfäden aber, die trotzdem heran— kommen, finden die Poren des Protoplasmas, welche bei der Quellung ſich öffnen, geſchloſſen; hierbei denke ich nämlich nicht blos an die Mikropyle, deren Weite von der Quellung beeinflußt werden muß, ſondern auch an die Strukturporen des Protoplasmas ſelbſt. O der der lähmende Einfluß der fremden aura auf das Ei iſt zu ſtark: Es wird (durch Ueberquellung oder ſonſt wie) getödtet — die— Differenz iſt zur Aſſimilations— differenz geworden. Hier wären namentlich künſtliche Befruchtungsverſuche zwiſchen Raubthieren und ihren Beutethieren zu machen, um feſtzuſtellen, ob die aura der Raubthiere eine ebenſo überwältigende, ver— nichtende Wirkung auf das Ei der Pflanzen— freſſer beſitzt, wie die andern Riechſtoffe derſelben. Und wenn man dann die Wirkung der Raubthier-aura auf das Pflanzenfreſſer— Ei mit der Wirkung der Pflanzenfreſſer— aura auf das Raubthier-Ei vergleicht, fo muß ſich ein tiefer Einblick, nicht nur in die Phyſiologie der Befruchtung, ſondern gerade in den Theil der Phyſiologie eröffnen, der die räthſelhafteſten Erſchein— ungen birgt. Wir können uns auch noch einen weiter— gehenden Einfluß des Samengeruchs denken, der uns der alten Befruchtungstheorie von der aura seminalis allerdings noch näher aphrodiſiſche Jäger, Phyſiologiſche Briefe. brächte. Hierbei muß ich jedoch Einiges vorausſchicken: Warum entwickelt ſich ein Ei nicht, wenn es unbefruchtet bleibt? Meiner Anſicht nach geſchieht es deshalb: Das Ei beſteht aus zweierlei Beſtandthei— len, aus aktivem, amöboid contraftilem _ Protoplasma — gebrauchen wir für das— ſelbe den Namen Bildungsdotter — und einem paſſiven, nicht erregbaren Material, das eine Verbindung von Ei— weiß und Lecithin, eine ſogenannte Nu— cleinverbindung (Vitellin, Emydin, Ichthidin ꝛc.) iſt. Dieſes Material — nen⸗ nen wir es Nahrungsdotter oder Dotterkörner — iſt inaktiv und dem Bildungsdotter gegenüber Hemmungs— material, jo daß wir es auch Hem— mungsdotter und im Gegenſatz dazu den andern Theil den Beſchleunigungs— dotter nennen können. Iſt Vertheilung und Mengeverhältniß der beiden antagoni- ſtiſchen Dotterarten derart, daß der Be— ſchleunigungsdotter die Oberhand hat, dann entwickelt ſich das Ei parthenog ene— tiſch, d. h. ohne vorgängige Befruchtung. Halten ſie ſich dagegen die Wage oder überwiegt die Hemmung die Beſchleunig⸗ ung, ſo iſt Befruchtung nöthig, und dieſe beſteht darin, daß der aktive Beſchleunig— ungsdotter die Oberhand gewinnt. Hierbei liegen aber zweierlei Möglich— keiten vor: Entweder wird vom Befrucht— ungsanſtoß ein Beſchleunigungsreiz auf den aktiven Dotter ausgeübt, oder es wird, was mir angeſichts der lähmenden Wirk— ung der aura masculina wahrſcheinlicher dünkt, die Hemmung durch Zerſtörung (des miſche Zerſetzung) des paſſiven Dotters vermindert. 3 Wir haben nun bei Beſprechung der Aſſimilationsdifferenz gefunden, daß die Er- ſcheinungen uns zur Annahme zwingen, es handele ſich um zwei ſpezifiſche Stoffe, von denen der eine (Ekelſtoff) eine überlegene Anziehungskraft für den Eiweißkern beſitzt. Wir ſahen oben, daß bei der aphrodiſiſchen Differenz eine ähnliche chemiſche Ueberlegenheit des männlichen Ausdünſtungsgeruches drin— gend vermuthet werden darf. Könnte es nun nicht ſein, daß der aura die Fähigkeit zukäme, den Nucleinförper des Eiprotoplas— mas in Lecithin und Eiweiß zu ſpalten und ſo wahrhaft befruchtend zu wir— ken, aber vielleicht mit der Einſchränkung, daß der von der aura ausgehende Anſtoß nicht ausreicht? Wir können durch das Experiment hie— rüber ſehr wohl Aufſchluß erhalten, wenn es uns gelingt, eine Verſuchsmethode zu finden, bei welcher nur die aura auf das Ei wirken kann, nicht aber die Samenfä— an dieſen nur von der aura beeinflußten Eiern mit ſolchen, die mit Samen in toto in Berührung kamen, ſowie mit an— dern, die ganz unbefruchtet blieben, ſo muß ſich ergeben, ob an meiner Vermuthung et— was richtiges iſt. Beſtätigt ſie ſich — das wäre der Fall, wenn an den nur „auratiſch“ befruchteten Eiern ein Theil wenigſtens die erſten Ent— wickelungsſtadien durchmachte, während alle unbefruchteten dies unterließen — ſo han— delte es ſich bei dem Mißerfolg der Fremdbefruchtung dann entweder da— rum, daß die aura unfähig iſt, die Spal- tung der Eiernucleine in Eiweiß und Lecithin zu bewirken oder — bei Aſſi— milationsdifferenz — darum, daß nicht nur dieſe Spaltung, ſondern auch noch die Spaltung des Eiweißes in Pepton und Spezifikum, gewiſſermaßen Zerſtörung durch Verdauung, eintritt. Jäger, Phyſiologiſche Briefe. den. Vergleicht man dann die Veränderungen 315 Nun müſſen wir uns aber auch noch in Betreff des Ei's die Frage ſtellen, ob nicht auch von ihm eine ähnliche Fern wir— kung auf die Samenfäden ausgeht, wie es bei dem Ausdünſtungsgeruch des Geſammt— thieres in ſo hohem Maße ſtattfindet. Davon, daß die Eier der verſchiedenen Thiere verſchieden ſchmecken, kann ſich jeder leicht überzeugen und zwar iſt dabei dreierlei aus einander zu halten: 1) das Ei eines Thieres ſchmeckt ſtets anders als das Fleiſch deſſelben; 2) die Eier verſchiedener Thiere ſchmek— ken ſtets deutlich verſchieden, auch bei ſehr nahe verwandten Thieren, und um ſo ver— ſchiedener, je größer die morphologiſche Ver— ſchiedeuheit der Thiere iſt, aber die Unter— ſchiede ſind ganz entſchieden geringer als beim Ausdünſtungsgeruch; 3) die Eier verwandter Thiere haben bei aller Verſchiedenheit des Geſchmacks doch auch eine ganz entſchiedene Aehnlichkeit. Es wird Niemandem die Geſchmacksähnlichkeit der Vogeleier, der Fiſcheier, der Schildkrö— teneier oder die Aehnlichkeit des Geſchmacks von Spinneneiern und Krebseiern entgehen. Bezüglich des Geruchs weiß ich nur anzugeben, daß die Eier viel ſchwächer auf unſere Geruchswerkzeuge wirken als der männliche Samen, daß ſie aber keinenfalls geruchlos ſind, davon kann man ſich am Dotter jedes Hühnereies überzeugen. Da bei den Thieren die Befruchtung ſtets in einem wäſſrigen Medium vor ſich geht, in welchem die Geſchmacksſtoffe ſich ebenſo verbreiten können, wie die Stoffe, welche bei uns nur auf den Geruchsſinn wirken, ſo iſt die Möglichkeit einer chemi— ſchen Fernwirkung des Eies auf den männ— lichen Samen nicht in Abrede zu ſtellen. Kommt nun dieſer aura ovalis, wie ich fie nennen will, ein Antheil an der Spezifität r 5 316 der gegenſeitigen Befruchtungsfähigkeit zu, fo muß ſich das bei künſtlichen Befruchtungs- verſuchen zeigen. Am beſten wird man von Kreuzbefruchtungsverſuchen zwiſchen Naub- | thier und Beutethier ausgehen. Wenn z. B. Beutethierſamenfäden bei Contakt mit einem Raubthier-Ei früher abſterben, als wenn man ſie getrennt hält, ſo würde das ganz ent— ſchieden für eine chemiſche Fernwirkung ſprechen. quater Befruchtung das Benehmen der Sa— menfäden in der nächſten Umgebung des als in weiterer Entfernung davon, würde für einen vom Ei ausgehenden, in die Ferne wirkenden Beſchleunigungsreiz ſprechen und es würde ſich weiter beſtätigen, wenn bei inadäquater Zuſammenſtellung dieſe Er— ſcheinung ausbliebe oder in ihr Gegentheil umſchlüge. So viel ſteht für mich jedenfalls feſt: Wenn auch nur ein kleiner Theil der Thä— tigkeit, welche die jetzigen Zoologen der zur Modeſache gewordenen Unterſuchung der Dotterfurchung und Embryonalentwickelung widmen, auf die Anſtellung künſtlicher Be— fruchtungsverſuche in der angedeuteten Rich— tung verwendet würde, ſo würde damit der biologiſchen Wiſſenſchaft auf ihrem gegen— wärtigen Standpunkt entſchieden mehr ge— nützt, als durch die nahezu langweilig gewordene, immer und immer ſich widerho— lende Unterſuchung der morphologiſchen Embryonalentwickelung. Ich ſchließe dieſen Brief mit dem Ab— druck eines Schreibens, das mir in Folge des erſten phyſiologiſchen Briefes zuging und eine andere Rolle der ſpezifiſchen Di— ſtanzſtoffe bei der Fortpflanzung, nämlich bei der Jungenpflege, behandelt, zu— gleich auch den Gegenſtand meines dritten Briefes vorbereitet, der von der Rolle der Jäger, Phyſiologiſche Briefe. Auch der Fall, wenn bei adü- | — ſpezifiſchen Stoffe bei der individuellen Va— riation handeln wird: Sehr geehrter Herr Profeſſor! Soeben habe ich den Auszug Ihrer Arbeit über „die Geſchmack- und Geruchſtoffe in ihrer Bedeutung für die Biologie“ (Ausland Nr. 2, 1877) geleſen und will, ſelbſt auf die Gefahr hin, etwas in dem mir nicht zur Hand befindlichen Original Stehendes zu erwähnen, Ihnen Thatſachen mittheilen, welche genügend für das Vor— handenſein individueller Geruchseigenthüm— Eies deutlich anders z. B. lebhafter iſt, lichkeiten bei Wiederkäuern ſprechen und mir in meiner vieljährigen landwirth— ſchaftlichen Laufbahn wiederholt bemerkbar geworden, wie auch jedem Schäfer be— kannt ſind. Bei Beginn der Weidezeit im Früh— jahr werden ſehr häufig die Mutterſchafe von ihren Lämmern getrennt und allein zur Weide getrieben, während letztere im Stalle bleiben. Kommt die Mutterheerde Mittags oder Abends nach Hauſe, ſo werden die Lämmer wieder dazwiſchen ge— laſſen und nun beginnt ein allſtimmiges Geblöke, wärend deſſen die Mütter und Lämmer durch einander laufen, um ſich zu finden. Die Lämmer laufen ſehr häufig auf das nächſte beſte Schaf zu und verſuchen zu ſaugen, werden aber von demſelben ſofort abgeſtoßen, wenn dieſes nach dem vorgewandten Hintertheil gerochen und das Lamm als nicht ihm gehörig erkannt hat. Die Schafe laufen und beriechen jedes begegnende Lamm, bis ſie das ihrige gefunden haben und ihm das Euter bieten können. Näſcher, d. h. fremde Lämmer, werden ſtets abgeſtoßen. Ferner: Oft kommt es vor, daß ein Lamm ſtirbt; um dann nicht die Milch— periode ſeiner Mutter ungenützt vorüber— gehen zu laſſen und Mutterſchafe mit Zwil— Jäger, Phyſiologiſche Briefe. lingen zu entlaſten, ſucht man eines der letzteren von der lammloſen Mutter adop- tiren zu laſſen. Oft gelingt dies ſchon durch mehrtägiges Zuſammenſperren, ſicher und ſofort aber, wenn man das dem todten Lamme abgezogene Fell dem zu adop— tirenden Lamm überbindet und dieſes dann zu jener Mutter ſetzt. Mit dieſer vielleicht willkommenen Mittheilung den Ausdruck meiner Hoch— achtung verbindend, zeichne ergebenſt Dr. F. Rehm, k. Lehrer f. Naturgeſchichte u. Landwirthſchaft. Lichtenberg bei Nürnberg. Dieſer Mittheilung, die für mich aller— dings nur in dem Stücke neu war, als ich die Manier des Verwitterns des Jungen 317 durch das übergezogene Fell bisher nicht kannte, iſt deshalb ſo beweiskräftig für das von mir behauptete allgemeine Vor— kommen von individuellen endogenen, d. h. dem Organismus des Thieres ſelbſt ent— ſtammenden Gerüchen, da hier die dem Menſchen ſo ſehr nahe liegende Vermuthung wegfällt, als handele es ſich bei den Indi— vidualgerüchen um äußerliche Zufälligkeiten, alſo z. B. darum, daß zwei Menſchen in Folge ihrer verſchiedenen Aufenthaltsorte, verſchiedener Ernährung und Kleidung ſich äußerlich mit verſchiedenartigen Geruchſtoff— miſchungen umgeben, die ihnen eine Unter— ſcheidbarkeit für einen ſo feinen Geruchsſinn wie den des Hundes ſichern. An derartiges kann bei den Lämmern einer und derſelben Heerde, die unter faſt abſolut gleichen äußeren Verhältniſſen leben und ſich nähren, nicht gedacht werden. Carus Sterne. > lich tiefſehendſte Pſychologe gl unter den Seelenmalern un— HR ſerer Zeit, hat in einem — kleinen — übrigens tragiſch endenden — Idyll, „das Glück des Brül— lerthals“ betitelt, mit ſeiner wunderbaren Plaſtik geſchildert, wie die Geburt und erſte Erziehung eines alsbald verwaiſten Kindes eine Bande von Lumpen und Verbrechern, welche die Geſellſchaft ausgeſtoßen hat, und die in Spielſucht, Rauferei und Rohheit jeglicher Art leiſten, was man in ſo einer culturvergeſſenen Goldſucherſchlucht irgend leiſten kann, plötzlich zu zärtlichen Adoptiv- vätern macht, die nur noch dem einen Ge— danken nachgraben, das Glück ihres „Glücks“ denn jo haben fie bedeutſam die kleine Bes ſcheerung getauft — durch ihrer Hände Arbeit zu ſichern. Nicht ganz ſo draſtiſch, aber mit demſelben genialen Zuge illuſtrirte der californiſche Dichter das Paradoxon: „Wie Erwachſene durch Kinder erzogen werden“ in mehreren Kapiteln ſeines Ro— mans Gabriel Conroy, deſſen Held durch eu Die Zähmung der Alten durch die Jungen. Eine Betrachtung über Selbſterziehung in der Natur von feine Kinderliebe zu einem förmlich auf- opferungswüthigen Menſchen wird, während er auf der anderen Seite den Militärarzt Duchesne, einen ledigen Spieler, den ſein nervenerregendes Geſchäft krank gemacht hat, durch Kinderumgang kuriren läßt. „Ich habe Sie wenigſtens einen Monat hindurch mit keinem Kinde reden ſehen“, ſagt dieſer praktiſche Arzt zu dem profeſſionellen Spie⸗ ler Jack Hamlin, „und ich hätte große Luſt, Sie nach einem Findelhauſe zu ſchicken, zum Nutzen und Frommen der Ba⸗ bies, wie zu Ihrem eigenen Vortheil. Suchen Sie einen armen Ranchero mit einem Dutzend Kinder ausfindig zu machen. und geben Sie letzteren Singftunde. .... dann wird dieſe Mattigkeit bald aufhören, Sie werden ſchmerzensfrei werden und ſich wieder ſo wohl und munter fühlen, wie je zuvor.“ Dieſe mir erſt kürzlich vor Augen ge— kommenen Anſichten eines großen Herzens⸗ kündigers geben mir den Muth, eine Mei- nung auszuſprechen, die ich ſtets gehegt habe, und die darin beſteht, daß jedes 8 Sterne, Die Zähmung der Alten durch die Jungen. 319 Kind einen großen Theil der Liebe, die ihm ſeine Eltern erweiſen, ſchon dadurch zurückvergilt, daß es ſie ſelbſt zu beſſeren, vollkommneren Weſen macht, als ſie vor ſeinem Eintritt in die Familie waren. In der That, die Menſchen erhalten den letzten Schliff und die glänzende Politur ihrer Bildung nicht in ihrem Elternhauſe, noch in der Schule oder Kirche, ſondern erſt von ihren eigenen Kindern, und ſollten ſie das Unglück haben, keine zu bekommen, ſo werden ſie Mühe haben, den durch dieſe Lücke hervorgebrachten Mangel ihrer Her— zensbildung anderweitig zu ergänzen. Sehen wir uns z. B. einen jungen Mann an, der, nachdem er eine vorzügliche Erziehung im Elternhauſe genoſſen, eine glänzende Schul- und Univerſitätsbildung erworben hat, in's Leben tritt, und deſſen Bildung nunmehr, wie die Poeten ſagen, die Liebe vollenden ſoll. Auf die Gefahr hin in poötieis der Ketzerei geziehen zu werden, muß ich dagegen ſagen, daß meiner Erfahrung nach glückliche Liebe eher über— müthig, roh, ja gefühllos und blind für die daraus entſpringenden Leiden macht, als beſſer. Oder wäre jenes allerwärts ge— übte frevle Spiel mit den Herzen unerfah— rener Mädchen, welches unſre Kulturwilden alle Tage in Scene ſetzen, nicht, wie unſre geſellſchaftlichen Verhältniſſe nunmehr lie— gen, der Gipfel aller Schlechtigkeit? Dieſe jungen Männer find fo wohl erzogen und barmherzig, daß ſie einem Wurme auf ihrem Wege ausweichen, aber ſie ſchrecken nicht davor zurück, ein Weſen ihres Glei— chen unter dem Deckmantel der Liebe und Zärtlichkeit für's Leben unglücklich zu machen, ja ſie halten in achtzig von hundert Fällen nicht einmal den Verſuch angebracht, den Geſchädigten irgend einen Erſatz zu ge— währen. Es übt alſo die Geſchlechtsliebe offenbar an ſich keine veredelnde Wirkung auf das Gemüth; ſie verleitet eher zur Gemüthsverhärtung, Grauſamkeit und Zer- ſtörungsſucht, wie nicht blos die ſogenann— ten Don Juan's beweiſen. Eine gute Nach⸗ wirkung der Geſchlechtsliebe tritt vielmehr nur in denjenigen Fällen ſicher ein, in de— nen ſie zu einem feſten, gegenſeitige Ent— äußerung und Aufopferung bedingenden Bunde geführt hat. Indeſſen wird dieſer Erſatz auch dann nur mit einiger Sicher⸗ heit erreicht, wenn Nachkommenſchaft leben⸗ dige Unterpfänder dafür liefert. In kinder— loſen Ehen hält der Enthuſiasmus der Aufopferung nicht immer vor, ſobald aber die Mittler da ſind, werden aus den Kul— turwilden Menſchen im edleren Sinne, welche die Schlechtigkeiten des ledigen Stan— des verabſcheuen und ſchwerlich zu beſchö— nigen geneigt find, was ſie ſelbſt in dieſer Richtung auf dem Gewiſſen haben. Worin liegt dieſe gewaltige Macht eines ohnmächtigen Kindes? Zunächſt offenbar mehr in feiner Schwäche und Hilflofigfeit als in ſeinem Aeußern, welches oft mehr einem geſottenen Krebſe als einem Kauka⸗ ſier bez. Neger gleicht. Bei der Mutter kommen vielleicht in der Nothwendigkeit, ihren Nahrungsüberfluß abzugeben, körper— liche Zuſtände hinzu, die ihr den kleinen Abnehmer angenehm machen. Jedenfalls iſt es mehr die Ahnung künftiger Freuden, als die perſönliche Liebenswürdigkeit des kleinen Ankömmlings, welche, die Eltern einnimmt, und bei Raubthieren wird der erſte Wurf nicht ſelten — aber kaum aus Liebe — gefreſſen! Nachdem jedoch die kleinen Weſen aus der erſten Unbeholfen— heit heraus ſind und die erſten Zeichen der erwachenden Pſyche geben, nachdem man ihnen halb mit Gewalt das erſte Lächeln entlockt hat, entfalten fie eine Liebenswür— 320 digkeit, eine Anmuth des Mienenſpiels und der Bewegungen, daß die Eltern von ihren Miniaturbildern förmlich bezaubert werden, und die Mutter alles, was ſie als Kind am Phantome d. h. an der Puppe gelernt hat, mit Entzücken an einem lebendigen Spielzeuge in's Praktiſche über— ſetzen kann. Es iſt ein Kurſus der ſelbſt— loſeſten Hingebung, welcher damit beginnt. Der Vater, welcher dem Kinde zunächſt ferner ſteht, und in der Thierwelt oftmals ſo ferne bleibt, daß die Mutter ſeine eignen Nachkommen vor ihm ſchützen muß, wird bei den Menſchen nicht allein durch ſeine Vernunft, ſondern noch durch andere Um- ſtände unmerklich in dieſen Zauberkreis mit hineingezogen. Zunächſt iſt es wohl jener Heiligenſchein der Wöchnerin, jener unbe— ſchreibliche Ausdruck glückverklärter Mattig— keit, wie ihn Rubens in ſeinem dem Leben der Maria von Medicis gewidmeten Bildereyklus und Jordan in einem Genre— bilde von der Zuyderſee zum vollendeten künſtleriſchen Ausdruck gebracht haben, und womit die Kette jener Gemüthswandlungen eingeleitet wird, durch welchen das Baby aus ſeines Vaters Nebenbuhler auch zu ſeinem Herrn und damit zum unbeſchränk— ten Gebieter des Hauſes wird. Hiermit beginnt zugleich und wahrlich mit ganz anderer Eindringlichkeit als durch den Katechismus und die Kanzel die re— ligiöſe Erziehung des Menſchen. Aus der Eltern- und Kinderliebe erblüht, ſelbſt in noch wenig vorbereiteten Gemüthern, die Frucht der allgemeinen Menſchenliebe: Das Kind wird zum Erlöſer; der leibliche Vater zum Vorbilde eines allgütigen, vor— ſorglichen Vaters im Himmel. Und darum iſt es ein tiefempfundenes und pſychologiſch wohl gerechtfertigtes Moment der Entwicke— lung chriſtlicher Dogmatik, daß ſie früh Sterne, Die Zähmung der Alten durch die Jungen. die Mutter in den Kreis des Göttlichen hineinzuziehen ſtrebte und die Mutter mit dem Säugling auf ihrem Schoße endlich als Madonna zum Mittelbilde der Altäre erhob. Die „heilige Familie“, welche durch Raphael zu ihrem tuypiſchen Ausdruck gebracht wurde, gewinnt noch jetzt die Her— zen auch in proteſtantiſchen Ländern, wie man ſehr überzeugend auf der letzten Ber— liner Kunſtausſtellung beobachten konnte. Die von geflügelten und ungeflügelten Kindergeſtalten umſpielte Madonna von Knaus, deſſen Genius eine glückliche Kreuzung von Correggio und Murillo mit einer Doſis Rembrandt zu Stande gebracht hatte, entzückte mit Recht auch die, welche nur Gefühl an Stelle des Kunſtgeſchmacks beſitzen. Und gewiß iſt die „heilige Fa— milie“ ihres Ehrenplatzes am Altare wür— dig, denn fie bezeichnet mit Grund die Kin— derſtube als das Heiligthum, von welchem die keuſche Flamme der Nächſten- und Gottesliebe ausgegangen iſt, und aus wel— chem ſie beſtändig ihre Nahrung empfängt. Faſt alle unſere glücklich machenden, oder vielmehr über das Unglück hinweg— helfenden, religiöſen Verheißungen: der Glaube an die Unſterblichkeit, an die Auf- erſtehung und das Wiederſehen nach dem Tode, ſie beruhen auf der Familie und dieſe ihrerſeits auf der Nachkommenſchaft. Es geht aus dieſen Betrachtungen ohne Weiteres hervor, einen wie großen Kultur- fortſchritt die monogamiſche Ehe vorſtellte, indem ſie auch dem männlichen Geſchlechte die veredelnden Einflüſſe der Kindererziehung zugänglich macht, und wie die Geſellſchaft alle Urſache hat, gegen das Evangelium der ſogenannten freien Liebe anzukämpfen, welches jenſeits des Oceans ſo begeiſterte Propheten und Prophetinnen findet. Die erwähnten Segnungen der Einzelehe ſind nimmt. vielmehr ſo groß, daß ich es für keinen legislatoriſchen Mißgriff halten würde, wenn der Staat das Hageſtolzenthum be— ſonders beſteuern wollte, wie es einzelne römiſche Kaiſer mit der Fettleibigkeit ge— than haben ſollen. Was obige ſentimentale Betrachtungen in einem darwiniſtiſchen Journale zu ſchaffen haben? Vielleicht doch mehr, als es im erſten Augenblick den Anſchein hat. Mir will es nämlich ſcheinen, als ob der thie— riſche Egoismus, der im Menſchen alle Schranken zu überſteigen droht, eine cen— trifugale Tendenz äußert, die ſich ins Un— endliche ſteigern müßte, wenn ihr nicht eine centripetale Kraft das Gleichgewicht hielte, und den Alles für ſein Eigenthum erklä— renden Menſchen ſo weit verinnerlichte, daß er ſich dem Ganzen wieder freiwillig unter— ordnet. Bei allen Thieren, welche lebendig gebären, oder ihre Eier ausbrüten, begeg— nen wir dieſem veredelnden Verkehr mit den Jungen, der z. B. bei der wegen ihres Egoismus geradezu verſchrieenen Hauskatze ſo weit geht, daß ſie in der Zeit, in wel— cher ſie eigene Junge ſäugt, ohne daß der Milchandrang dazu nöthigte, auch fremde Junge, als Füchſe, Kaninchen, Häschen, ja die ſonſt von ihr eifrig verfolgten, jun- gen Ratten und Mäuſe an ihre Bruſt Das Raubthier im verwegenſten Sinne, die Tigerin, wird zu einem harm— los ſpielenden, jeder Aufopferung fähigen Weſen, ſobald ſie die in der Unzurechnungs— fähigkeit der Geburtsſtunde vielleicht das erſte Mal aufgefreſſenen Jungen nach Er— kenntniß ihres Irrthums beim nächſten Male als ihre verjüngten Ebenbilder er— kannt und an die Bruſt genommen hat. Freilich giebt es denn auch nichts drollige— res, als junge Thiere aller Gattungen; der Zauberreiz der täppiſchen Kindheit läßt in Sterne, Die Zähmung der Alten durch die Jungen. unſeren Augen ſogar die Kleinen der häß— lichſten Beſtien liebenswürdig erſcheinen. Und auch die Mutterthiere gewinnen bei aller ſonſtigen Antipathie unſer Herz, wenn wir Zeugen ihrer Aufopferung ſein können. Wir ſehen die Mutterthiere ihre Bruſt der Haare und Federn berauben, um den Kleinen ein warmes und weiches Lager zu bereiten, ja der lebendig gebärende Skorpion, dem man gewiß keine zärtlichen Triebe zuſchreibt, läßt ſich allem Anſcheine nach von ſeinen zahlreichen Jungen den Lebensſaft ausſaugen, denn er ſchwindet ſichtlich im Kreiſe der ſchnell wachſenden Brut dahin. In ähnlichem Sinne wurde der Pelikan, von dem man glaubte, daß er ſeine Jungen mit dem eigenen Herzblut tränke, zum Symbol der göttlichen Liebe erwählt. Daß Raubthiermütter ihre Jun⸗ gen mit Heldenmuth ſelbſt gegen den Gat- ten vertheidigen, finden wir natürlich, aber wie ſelbſt ſcheue und friedfertige Thiere durch Gefahren, die ihren Jungen drohen, zu Heldinnen werden, muß unſere Bewun⸗ derung erwecken. Kaum iſt die Gefahr abgewendet, ſo erſcheint die Heldin-Mutter wieder ein Kind unter Kindern; ſie ſpielt mit ihnen, wie man mit Puppen ſpielt, und ſo iſt denn auch das menſchliche Kind das Spielzeug der Spielzeuge, welches die verknöcherten Herzen öffnet, die Alten zu Kindern macht, denen das Himmelreich offen ſteht. Dem Vater geht im Thier- reiche dieſer veredelnde Einfluß der Kinder— erziehung in allen den Fällen verloren, wo er nicht ſelber Theil daran nimmt, und das iſt der häufigere Fall. Aber für die Ge- ſammtheit iſt dieſer Verluſt nicht groß, denn wenn die verinnerlichende Kraft der Kindererziehung überhaupt dauernde Folgen beim Weibchen zurückläßt, woran man kaum zweifeln kann, ſo wird ſie dieſelbe 2 322 auch auf ihre männlichen Jungen übertragen, ſo daß auch ſie des regulirenden Einfluſſes der Kinderpflege nicht verluſtig gehen. In meinem Buche: „Werden und Ver— gehen“ habe ich dem Nutzen, welchen der Verkehr der Jungen mit den Alten für beide Theile abwerfen muß, einen weſent— lichen Antheil an dem rapiden Aufſchwunge zugeſchrieben, welchen das Denkorgan bei den höheren Wirbelthieren nimmt. Bei den niederen Thieren beſchränkt ſich die Sorge um die Nachkommenſchaft meiſtens auf eine geſchickte Bergung der von ſelbſt auskommenden Eier an einem paſſenden, Schutz und Nahrung bietenden Ort, ein Vorgang, dem wir kaum bewußte Abſicht— lichkeit beilegen möchten, vielmehr in einem ebenſo zwingenden Triebe zu ſuchen geneigt ſind, wie er den übrigen Aeußerungen des Fortpflanzungstriebes zu Grunde liegt. Die meiſt in einer unausgebildeten Form heraustretenden Jungen müſſen ohne weitere Unterſtützung ſeitens der vielleicht längſt verweſten-Eltern den zu ihrer körperlichen Ausbildung erforderlichen Nahrungsſtoff ſelbſt ſuchen, und im Durchſchnitt mögen dabei neunzig Prozent und darüber zu Grunde gehen. So iſt der Hergang noch bei den meiſten Fiſchen und Amphibien, obwohl ſich bei ihnen die Fälle weitergreifen— der Fürſorge mehren. Die Reptilien und die Vögel verſorgen jeden Einzelnen ihrer jungen Nachkommen im Ei mit ſo viel Nahrungsſtoff, daß ſie ohne weiteres Nah— rungsbedürfniß alle ihre Verwandlungen durchmachen können, um in nahezu voll— endeter Geſtalt, nur noch eines weiteren Wachsthums bedürftig, hervor zu treten. Allein wenn die Eier an einem paſſenden Orte abgelegt ſind, ſo kümmern ſich die Reptilien häufig nicht weiter um dieſelben. Die älteſten Vögel werden es nicht viel Sterne, Die Zähmung der Alten durch die Jungen. FR anders gemacht haben, wie ſich ſchon dar— aus ſchließen läßt, daß einige der älteren Abtheilung angehörige Vögel noch immer die Wirkung der Erd- oder Sonnenwärme beim Brüten in Anſpruch nehmen. Schließ— lich wurde indeſſen das Brüten zur allge— meinen Gewohnheit, aber auch hierbei laſſen ſich noch Unterſchiede erkennen, ſofern bei der tiefer ſtehenden Abtheilung der ſogen. Neſtflüchter das Junge bald ſelbſtſtändig wird, nachdem es das Ei verlaſſen hat, während bei den unleugbar höher ſtehenden Neſthockern die Jungen einer wochenlangen Pflege bedürfen, ehe ſie das Neſt verlaſſen können. Mit dieſer durch die Unbehilflichkeit der Neſthocker in Anſpruch genommenen ſtren— geren Pflegepflicht ſtehen ganz gewiß die vielfachen Aeußerungen von Barmherzigkeit und Mitgefühl gegen fremde Junge, die man bei ihnen antrifft, im Zuſammenhange. Die Singvögel haben einen wahren Drang der Aufopferung und man hat beobachtet, daß Junge, denen ihre Eltern geraubt wur- den, zwei bis drei mal im Wiederholungs- falle von Nachbarn adoptirt und groß— gefüttert wurden, ja einige lockere Vögel nützen bekanntlich dieſe Pflegeſucht der gut— herzigen Singvögel regelmäßig in der un— verſchämteſten Weiſe aus. Ebenſo hat man erblindete Vögel von ihresgleichen füttern ſehen, kurz eine Anzahl von Handlungen bei ihnen beobachten können, für welche die Menſchen Ehre auf Erden und Wohlge— fallen im Himmel beanſpruchen, auch eine innere Befriedigung nicht eher empfinden, als bis außen ein Orden die betreffende Stelle der Bruſt markirt. N Ich glaube nicht, daß man ähnliche Handlungen bei niederen Thieren, die nicht gewöhnt find, ihre Jungen zu pflegen, be obachten wird, und hier wäre es mithin, wo man den Beginn jenes Kampfes mit dem Egoismus beobachten könnte, der ſchließlich zur Selbſtaufopferung und Selbſt— überwindung, die man den ſchwerſten Sieg genannt hat, führt. Aus dieſem Kampfe den höchſten Nutzen zu ziehen, blieb den Säugethieren vorbehalten, nachdem bei ihnen die Vereinigung von Mutter und Kind immer weitere Fortſchritte gemacht hatte, bis ſie jene an Uebertreibung grenzende Stufen erreichte, die man den Müttern als „Affenliebe“ vorwirft. Nicht blos körper— lich verwächſt das Kind mit der Mutter, ſondern auch im geiſtigen Sinne wächſt es ihr ans Herz, und bekanntlich um ſo feſter und inniger, je mehr Sorgen und Mühe ihr ſeine Pflege verurſachte. Als große Hauptſache erſcheint, daß in dieſem Verhältniſſe die Pädagogik wurzelt. Die niedern Thiere ſind ſämmtlich Auto— didakten, und höchſtens die geſelliglebenden unter ihnen, die Termiten, Ameiſen, Bienen u. ſ. w. mögen etwas für den Jugend— unterricht thun, wie fie ja auch einer aus- gebildeten Brutpflege obliegen. Nun kann aber ein Autodidakt doch nur in ſeltenen Ausnahmefällen das leiſten, was ein Schüler leiſtet, der ſich ſorgſamer Lehrer erfreut, eine Thatſache, die man alle Tage, bei von Ihresgleichen oder menſchlichen Lehrern geſchulten Singvögeln beobachten kann. Ich habe mich ſchon an obengenanntem Orte dahin ausgeſprochen, daß ich mir theilweiſe durch die Einführung des regelmäßigen Jugendunterrichts bei den Säugethieren, das wahrhaft erſtaunliche Wachsthum des Ge— hirns in dieſer Thierklaſſe erkläre. Man darf nur eine Katze beobachten, wie ſie ihre Jungen unterrichtet, und faſt fyfte- matiſch vom Spiel zur Arbeit, vom Leich⸗ teren zum Schwereren übergeht. es die Schwanzſpitze, mit der ſie, die eine Erſt iſt. Sterne, Die Zähmung der Alten durch die Jungen. | 299 32 Hälfte ihres Wurfes ſäugend, die andere zum Beobachten und Feſthalten lebender Dinge anregt. Dann weiß ſie lebendige Thiere einzufangen, um den Kleinen die Elemente der niedern Jagd beizubringen. Die höhere auf Vögel und Kletterthiere dürfte einer letzten Stufe vorbehalten ſein. Aber — ich komme immer wieder darauf zurück — nicht blos lernen die Jungen von der Alten, ſondern dieſe lernt bei der Pflege der Jungen den eitlen Lebensgenüſſen zu Gunſten Anderer entſagen, und tiefer nachwirkenden Genüſſen nachzujagen. Wie weit das führt, kann man an Charakterzügen aller höheren Thiere ſtudieren. Wir wollen den Elephanten als Beiſpiel nehmen. Nicht um ſeines Fleiſches willen, mit demſelben der Menſchen Nothdurft zu befriedigen, ſondern wegen eines geckenhaften Gefallens an Kleinigkeiten, die aus den Stoßzähnen dieſes edlen Thieres geſchnitzt und ge— drechſelt werden, erſcheint ſeine ſchleunige Austilgung beſchloſſene Sache. Um es deſto ſicherer und müheloſer zu erlegen, zündet man die Ufergebüſche an, in denen das Thier ſich verbirgt. Rings von der Lohe umſpült, liefert es, dem ſicheren Ber- derben preisgegeben, Proben eines erſchüttern— den Heroismus. Es achtet nicht der fein Fell röſtenden Hitze, ſondern ſaugt, wie Schweinfurth erzählt, den Rüſſel voll Waſſer und beſpritzt ſein Junges über und über, um wenigſtens dies dem drohenden Verderben zu entreißen. Ich wünſchte, daß man dieſe Geſchichte in allen Schulen er⸗ zählte, um wenigſtens einem Bruchtheil der künftigen Generation den Geſchmack an elfenbeinernen Knöpfen, Stock- und Regen⸗ ſchirm-Griffen zu verleiden. Wir gewahren in dieſem Falle deutlich, wie die Jungen— liebe ein Thier erfinderiſch macht, wie es das Kühlungsmittel, welches es im afrikani— = — — 394 ſchen Sonnenbrande ausprobirt hat, in der unvorhergeſehenen Gefahr anwendet, wie ein Funken höherer Triebe entzündet wurde, dem ohne dieſe Verbindung alle Nahrung und anfängliche Entſtehungsurſache gemangelt haben würde. Und ſo ſchließe ich denn auch, daß die Regungen des Gemeinſinnes, die wir bei geſellig lebenden Thieren beobachten, urſprünglich aus ihrer Kinderzucht empor— geſproßt ſind, wie der Menſch ſelbſt für die höhere Religion der werkthätigen Men— ſchenliebe erſt in ſeiner Kinderſtube die rechte Weihe empfängt. Ohne Zweifel iſt ein gut Theil davon längſt in Fleiſch und Blut übergegangen, wie man aus den in— ſtinktwven Regungen des Gemeinſinnes und der Hilfsbereitſchaft erkennt, die nicht ſelten vorkommen, wenn z. B. Jemand, der gar nicht ſchwimmen lann, einem Ertrinkenden ins Waſſer nachſtürzt. Der hier beſchriebene Regulator des thieriſchen Egoismus giebt vielleicht die höchſten Proben ſeiner Leiſtungsfähigkeit, wenn die Eltern verſuchen, dasjenige, was gewöhnlich erſt die Kinderſtube und das Leben lehrt, die Unterdrückung natürlicher Neigungen, ihren Kindern zwangsweiſe beizubringen. Gewiß leiden bei ſolchen für Sterne, Die Zähmung der Alten durch die Jungen. wohlthätig erachteten Züchtigungen die Eltern in der Regel mehr als die Kinder; es handelt ſich um eine Ausführung des Kampfes mit ſich ſelber auf der edel— ſten Stufe, wenn nicht etwa Zorn und Entrüſtung die Sache erleichtern. Aber die eminent moraliſche Bedeutung ſolcher Handlungen hat der Menſchenfreund tief gewürdigt, der dieſes Erziehungsmittel ſo— gar auf ſein höchſtes Ideal, auf Gott, übertrug und ausrief: Wen Gott lieb hat, den züchtiget er! Es will mir erſcheinen, als wenn dieſer unerſchöpfliche Quell reli— giöſer Gefühle, welcher im Familienleben aufſprudelt, bei unſeren Pſychologen — den einzigen Caspari ausgenommen — nicht in dem Maße Beachtung gefunden hätte, wie er ſie verdient, und vorſtehende kurze Skizze wird das Höchſte erreicht haben, was ſie anſtreben konnte, wenn ſie die Ahnung zu erwecken vermag, daß auch die Religion der Liebe im Grunde eine Natur⸗ erſcheinung iſt, die nach allen ihren Ent- wickelungsformen, bis zur Verehrung des ewig Weiblichen im Madonnenkultus, im Familienleben die ſtarken Wurzeln ihrer Kraft gefunden hat. as jo überaus dunkle Problem über den Urſprung der Sprache iſt in den letzten Monaten wiederholt Gegenſtand der Er— * örterung in fachmänniſchen Kreiſen geweſen. Die nachſtehenden Betrach— tungen — ich ſchicke dies zur Beruhigung des geneigten Leſers ſogleich voraus — ſollen anſtreben. Ich bin nicht Sprachforſcher, habe daher kein Recht in ausſchließlich lin— guiſtiſche Dinge dreinzureden, maße mir demnach auch nicht an, neue Pfade auf fremdem Gebiete betreten zu wollen. Da— gegen wird Jeder, der anthropologiſchen und ethnologiſchen Studien obliegt, von den Reſultaten der Sprachforſchung Notiz nehmen, ja nothgedrungen ſich damit ver— traut machen müſſen und mit hohem Juter— eſſe ihrer Entwickelung folgen, dort wo fie noch nicht zu feſten Anſichten gelangt iſt. Niemandem ſage ich Neues damit, daß ge— Meinungen der Linguiſten noch lange nicht geklärt ſind. ſchenden Anſichten muß aber auch den Nicht— linguiſten um fo mehr geſtattet fein, als indeß keine neue Löſung dieſer heiklen Frage Eine Prüfung der herr Der ſprachlole Armeulch. Fr. von Hell wal. das gedachte Problem ſtreng genommen gar nicht der Entſcheidung der Linguiſtik anheimfält. Sehr richtig ſagt in einem Aufſatze, auf den ich in der Folge, wenn auch nur ſelten wie jetzt beipflichtend, zu⸗ rückkommen werde, Prof. E. Trumpp: „Die Sprachwiſſenſchaft hat es nur mit den gegebenen Sprachen zu thun; wo ihr keine ſprachlichen Documente mehr vorliegen, hört ihre exacte Forſchung auf. Die Frage nach dem Urſprunge der menſchlichen Sprache gehört daher an und für ſich gar nicht in ihr Gebiet, und wenn ſie ſie ſtellt, ſo be— tritt fie damit das Gebiet der philoſophi— ſchen Speculation und der Naturwiſſen— ſchaften, denen dieſe Frage, weil ſie nur im Zuſammenhange mit der Frage nach dem Urſprunge des Menſchen zu löſen, ſpe— ziell zuzuweiſen iſt. Die Sprachwiſſenſchaft kann allerdings zur Löſung dieſes Problems einen nicht unwichtigen Beitrag liefern; ſie kann das Reſultat ihrer Forſchungen über rade über die Entſtehung der Sprache die die gegebenen Sprachen, das fie auf induc— | tiven Wege gewonnen hat, zuſammenfaſſen und daraus einen Rückſchluß auf den Ur- ſprung und die Entwickelung der Sprache machen; etwas Poſitives aber kann ſie \ —— — 326 darüber nicht ausſagen, weil es ihr an Sprachen hinlänglich erklärt wäre. jedem feſten Anhaltspunkte fehlt.“) Dies müſſen wir feſt im Auge behalten, weil’ ſich daraus auch für den Nichtſprachgelehrten die Berechtigung einer eigenen Meinung auf das Evidenteſte ergiebt. Als bekannt darf ich wohl die An— nahme des homo alalus, des ſprachloſen Urmenſchen, vorausſetzen. Angeſichts der klaffenden Verſchiedenheit der auf dem Erden— rund geſprochenen Idiome iſt bisher jeder Verſuch, die Spuren eines Urquells menſch— licher Rede zu entdecken, negativ ausgefallen. Die einſt allgemein gehegte Idee einer all— gemeinen menſchlichen Urſprache fand, je mehr man in der vergleichenden Sprach— forſchung fortſchritt, immer weniger An— hänger, und jede Möglichkeit einer ehema— ligen Sprachgemeinſchaft ward und wird auch heute noch geleugnet. Es lag nahe, ſagt ein ſich mit unſerem Thema befaſſen— den Schriftſteller, daß man aus dieſer fun⸗ damentalen Verſchiedenheit der Sprachen den mächtigſten Beweis gegen den einheitlichen Urſprung des Menſchengeſchlechts zimmerte. Da trat Darwin auf mit ſeiner Lehre, deren nothwendige Conſequenz die Einheit des Menſchengeſchlechtes iſt. Natürlich mußte in Folge dieſer Erkenntniß die Sprach— forſchung mit ihren negativen Reſultaten ins Gedränge kommen. Jetzt war nur ein aut-aut möglich: Entweder haben ſich aus der Sprache jenes erſten Menſchenvereines die ſämmtlichen heute geſprochenen Idiome, trotz aller Verſchiedenheit, entwickelt, oder aber jener erſte Menſchenverein beſaß noch keine Sprache, dieſe iſt vielmehr erſt nach den Wanderungen in den getrennten Gebieten entſtanden, womit die Verſchiedenheit der ) Die moderne Sprachwiſſenſchaft und der Urſprung der Sprache (Beilage zur All— gemeinen Zeitung vom 28. April 1877). alalus, dieſem Sinne nere. 3 8 N X Die Unmöglichkeit des erſten Satzes galt für erwieſen, jo erübrigte nichts als die Hypo— theſe eines ſprachloſen Urmenſchen, des homo den zuerſt Häckel, aber auch zunftmäßige Sprachforſcher erſten Ranges wie Schleicher und Friedrich Mül- ler, poſtulirten.“) Dieſer ſprachloſe Urmenſch fängt nun an, allen Jenen im hohen Grade unbequem zu werden, welchen die Darwin'ſche Descen— denzlehre ein Dorn im Auge iſt; denn ſie erkennen, daß es eine mächtige Stütze für die neue Lehre wäre, wenn ſich in dem homo alalus ein Mittelglied nachweiſen ließe zwiſchen dem richtigen, ſprechenden Menſchen und dem menſchenähnlichen, aber ſprachloſen Affen. Es gilt daher den ſprach— loſen Urmenſchen wieder zu beſeitigen, was nur möglich iſt, indem man die alte Idee einer gemeinſchaftlichen Urſprache wieder ein⸗ mal aufnimmt. Nicht weniger denn drei in ſich erhebende Stimmen, darunter zwei, deren Namen Beachtung gebieten, haben ſich in der letzten Zeit ver— nehmen laſſen, und ſie ſind es, welche die folgenden Bemerkungen veranlaſſen. Den Reigen eröffnet Prof. Dr. G. Gerland, welcher diesmal in Behm's neueſtem „Geo⸗ graphiſchem Jahrbuch“ (1876) den „Be richt über den Stand der anthropologiſch— ethnologiſchen Forſchung“ an Stelle Fried- rich Müller's, des früheren Referenten, verfaßt hat und in dem Abſchnitt, welcher die Sprache und deren Urſprung behandelt, zu dieſem in ziemlich ſchroffen Widerſpruch geräth, was ſich im „Geographiſchen Jahr— buch“ etwas ſonderbar ausnimmt. Daran ſchließe ich den ſchon oben erwähnten Auf- *) Joſeph Kuhl, Darwin und die Sprachwiſſenſchaft. Leipzig u. Mainz, 1877 80. S. 8.10. von Hellwald, Der ſprachloſe Urmenſch. von Hellwald, Der ſprachloſe Urmenſch. atz des Tübinger Prof. Dr. E. Trumpp 9 in der mit Vorliebe antidarwiniſtiſchen Tendenzen huldigenden „Beilage zur All— gemeinen Zeitung“; Friedrich Müller's großes, epoche— machendes Werk: „Grundriß der Sprach wiſſenſchaft“ (Wien, 1876) an und po lemiſirt gegen den homo alalus, ſowie natürlich gegen die ſich daraus ergebenden Schlüſſe. Eine eigene Schrift: „Darwin und die Sprachwiſſenſchaft“ widmete der nämlichen Frage endlich Herr Dr. Joſeph Kuhl, Rektor in Jülich. tragen und muſtern. Nach Gerland iſt die Sprache kein Organismus für ſich, vielmehr nur als organiſches Produkt eines Organismus organiſchen Geſetzen unterthan. folgt ihm, daß Müller's Schluß nach allen Seiten hin völlig falſch ſei, wenn dieſer ſagt: „Wir müſſen annehmen, daß es einmal eine Zeit gegeben hat, in welcher zwar Racen aber keine Völker exiſtirten. Es gab alſo damals noch kein Volksthum, mithin auch nicht die daſſelbe begründenden Faktoren, Sprache und Sitte.“ Sobald es Racen gab, menſchliche Racen, meint der Straßburger Ethnologe, gab es auch Sprachen, denn mit der Menſchennatur iſt auch Sprache — nicht bloße Lautung — gegeben; nur daß freilich bei der erſten Entſtehung der Racen Race und Volk zu- ſammenfallen. „Natürlich, fügt Gerland hinzu, ſind auch die ſogenannten Alalen man— cher Forſcher eine völlig haltloſe Annahme.“ Nun, ſo ganz natürlich iſt die Sache eben doch nicht, wie ſich ſpäter zeigen wird. Dann wendet ſich Gerland zu der Frage, ob es einen genctiſchen Zuſammenhang für alle oder nur für einige Sprachen gebe, und wenn er exiſtirt, wie er ſich nachweiſen Ich will in Kürze die Anſichten der Genaunten vor | derſelbe kuüpft an laſſe. Da er den Alalen ſchon für eine „völlig haltloſe Aunahme“ erklärt, ſo erüb— rigt ihm ſelbſtverſtändlich nichts anderes, als einen ſolchen genetiſchen Zuſammenhang, der nur eine Umſchreibung für „menſchliche Urſprache“ iſt, zu ſupponiren. Er kehrt ſich Daraus deshalb wieder gegen Prof. Müller, wel— cher ſich auf's Strengſte für vielheitlichen Urſprung der Sprache ausſpricht, und ge— gen Schleicher, deſſen Annahme einer viel größeren Zahl von Urſprachen, als wir heute Sprachen haben, gleichfalls als „völlig haltlos“ bezeichnet wird. Er erklärt, die Ungleichheit der Sprachwurzeln könne nie gegen urſprüngliche Verwandtſchaft der betreffenden Sprachen zeugen, und die Be— hauptung, die Verſchiedenheit der älteſt er— kennbaren Sprachſtämme — welche er ſcharf von den erſten Sprachelementen ſcheidet — mache eine urſprüngliche Einheit der Spra— Alles. chen unmöglich, ſei hinfällig. So findet er in ſeinen Unterſuchungen nichts, was für eine Verſchiedenheit der ſprachlichen erſten Anfänge ſpräche, wohl aber die Mög— lichkeit, ja Wahrſcheinlichkeit, daß die Ur— ſprache des Menſchengeſchlechts eine einheit— liche war. Was nun dieſe letztere Anſicht anbelangt, ſo muß ich bekennen, daß deren „Wahr— ſcheinlichkeit“ nach keiner Seite hin durch Gerland's Ausführungen mir erwieſen däucht. Die einfache Möglichkeit einer ein— heitlichen Urſprache will ich dagegen nicht beſtreiten; in abstracto können wir uns eine ſolche wohl denken, das iſt aber auch Dies geht aus den Worten des Profeſſor Trum pp ſelbſt hervor, der doch gewiß dem Alalen nicht wohl will: „Ueber die letzte Form der Sprache, und ob es nur eine oder mehrere Urſprachen gegeben hat, kann die Sprachwiſſenſchaft aus nahe— liegenden Gründen nichts ausſagen; es gilt 328 hier ein ehrliches: non liquet. Die Sprach- wiſſenſchaft kann ſich negativ nur dahin ausſprechen, daß von ihrer Seite kein Hin— derniß im Wege ſteht, eine gemeinſame Ur— ſprache anzunehmen, die wahrſcheinlich ein— ſilbig geweſen iſt. Wenn die moderne dar— winiſtiſche Sprachphiloſophie aus der theil— weiſe nicht mehr nachweisbaren Verwandt— ſchaft einzelner Sprachen und Sprachſippen den Schluß gezogen hat, daß dieſer Umſtand die Suppoſition einer gemeinſamen Urſprache unmöglich mache, ſo iſt dagegen einfach zu erwidern, daß wir die Mittelglieder der Sprachentwickelung nicht mehr kennen; würden dieſe uns vorliegen, ſo dürfte der Schluß vielleicht ganz anders ausfallen.“ Vielleicht, vielleicht aber auch nicht, d. h. mit anderen Worten: Wir wiſſen nichts da— rüber, und für die Urſprache iſt nichts weiter als die Möglichkeit, keine Spur einer Wahrſcheinlichkeit einer ſolchen dargethan. Da uns alſo die Sprachforſchung die Lö- ſung des Problems nicht bieten kann, ſo von Hellwald, Der ſprachloſe Urmenſch. bleibt nichts anderes übrig, als ſie auf einem anderen Wege zu ſuchen, und wird ſie auf dieſem gefunden, ſo iſt es klar, daß | die Sprachwiſſenſchaft ſich vor dem ander— weitig geſicherten Reſultate zu beugen, das— ſelbe rückhaltslos anzunehmen hat, da ſie ja ſelbſt ohnmächtig iſt den Gegenbeweis zu liefern. Gleichviel ob man ſich für eine oder für verſchiedene Urſprachen entſcheide, wer immer an ſprachwiſſenſchaftliche Stu— dien herantritt, wird dies nur auf Grund einer dieſer beiden Annahmen thun können, ſonſt hängt ſein ganzer Bau einfach in der Luft. Trumpp thut daher ſehr Unrecht, zu beklagen, daß „Sprachforſcher ihre vor— gefaßten darwiniſtiſchen Ideen auf die Sprach— wiſſenſchaft übertragen und a priori den verſchiedenen Urſprung des Menſchenge— ſchlechts und der Sprachen behaupten.“ Urſprung der Sprachen wird behauptet, Denn wenn ſie nicht dieſe Ideen, ſo müſſen ſie jene von der Urſprache haben, und dieſe iſt eben jo gut, eine „vorgefaßte“ a priori-Behauptung wie jene. Da nun ein ſprachwiſſenſchaftliches Syſtem unter allen Umſtänden auf einer außerhalb der Sprach— wiſſenſchaft gewonnenen Anſchauung fußen muß, ſo wirkt es einigermaßen erheiternd, wenn Prof. Trumpp „im Intereffe un⸗ ſerer Wiſſenſchaft und einer exacten Forſchung dieſen Bund ein für alle mal ablehnen“ zu müſſen glaubt, den Bund natürlich „mit den vorgefaßten darwiniſtiſchen Ideen.“ Liegt da nicht der Gedanke ungemein nahe, daß der Bund mit anderen als darwini— ſtiſchen Ideen, etwa mit der Annahme einer Urſprache ihm weniger ablehnenswürdig dün— ken möchte? Uebrigens ſcheint der Tübinger Sprachgelehrte in die Geheimniſſe des Dar— winismus nicht ſehr tief eingedrungen zu ſein, ſonſt würde er nicht den groben Ver— ſtoß begehen und dieſem zumuthen, den ver— ſchiedenen Urſprung des Menſchengeſchlechts und der Sprachen zu lehren. Die Descen— denztheorie predigt vielmehr, wie wir alle wiſſen, den einheitlichen Urſprung des Menſchengeſchlechts; nur der verſchiedene was ſehr zweierlei iſt. Deshalb iſt Trump p auch in einem tiefen Irrthume befangen, wenn er behauptet, daß Friedrich Mül⸗ ler verſchiedene Urmenſchen vorausſetze, „weil er die Einheit des Menſchengeſchlechts auf ſeinem philoſophiſchen Standpunkt ſchlecht— hin negirt“! — Ganz im Gegentheile ent— ſcheidet ſich Müller mit Darwin für die Anſicht, daß der Menſch nur eine Species bilde und die Racen den Werth von Subſpecies haben, eine Anſicht, welche er in ſeiner „Allgemeinen Ethnographie“ durch Thatſachen zu erhärten ſucht. Auf die Feage: Bildete der Menſch von Anfang an mehrere diſtincte oder nur eine Race? — giebt Müller die von dieſem Standpunkte einzig mögliche Antwort: „Nachdem wir uns für die Einheit des Menſchen als Species ausgeſprochen und die einzelnen von Hellwald, Der ſprachloſe Urmenſch. Racen als Subſpecies bezeichnet, ferner auch die allmählige Entſtehung der Arien mit Darwin angenommen haben, müſſen wir uns auch ſolgerecht zur Anſicht einer all— mähligen Entwicklung der menſchlichen Ra⸗ cen aus einer ihnen zu Grunde liegenden Urform bekennen.“) Dies, fügt er hinzu iſt auch die Anſicht Häckel's, welcher die verſchiedenen Racen auf eine Stammart, den ſogenannten ſprachloſen Urmenſchen (homo priwigenius alalus) zurückführt. Es fällt alſo Müller nicht im Traume ein an verſchiedene Urmenſchen ) zu denken. Die Erklärung, wieſo aus dieſem ſprachloſen Urmenſchen der ſprechende Menſch ſich entwickelt habe, das iſt das große Problem, worüber die Gelehrten ſich die Köpfe zerbrechen. Trumpp fragt ſich, ob das Alles, was die höchſte Vernunft be— kundet, von einem homo priwigenius alalus ſeinen Urſprung genommen haben kann, und beruft ſich auf den bekannten Satz in der alten indiſchen Wirkung kann nicht größer ſein als ihre Urſache“, wobei er nur die umgekehrt ) Friedrich Muller, Ethnographie. S. 23. . 5 * rt ich 0 5 3 y * e 1 7 0 F Boll 0 lichen Kindern die Entwickelung der Sprache N 2 Aa: „ a f aus dem Alalen vor ſich gehen! Daß das damit nicht die Abſtammung von nur Einem Paare zu verſtehen iſt, bedarf wohl keiner beſonderen Erwähnung. Unter Einheit ift natürlich Einheit der Gattung, nicht Einheit des Individuums gemeint. Es gab alſo nicht verſchiedene, wohl aber mehrere oder viele Exemplare der einen Species: Urmenſch, — genau jo wie bei jeder anderen zoologiſchen Species. 2 Philoſophie: „Die Allgemeine lautende deutſche Weisheitsregel vergißt: kleine Urſachen, große Wirkungen. Und Hr. Kuhl, der im Weſentlichen die bisher vorgetragenen Ideen vertritt, ſagt gar mit Emphaſe: „Die Sprache, d. h. die Ver— bindung bewußter Vorſtellung mit be— wußten und beſtimmten Lauten gehört ſo ſehr zum Weſen des Menſchen, daß wir uns keinen Menſchen denken können ohne die Sprache, und daß wir dem Weſen, welchem dieſe Fähigkeit fehlte, den Namen Menſch verſagen müßten. Wir wollen auch nicht das Wort des franzöſiſchen Philo— ſophen hier wiederholen: homme a tou- jours parle, ou il n’aurait jamais parlé. Ein Weſen, welches ohne Sprache (d. h. ohne das, was wir Sprache, nicht bloße Gefühlsäußerung nennen) war, war nicht Menſch, ſondern Thier, und hätte nie die Fähigkeit erlangt, ſich zur Menſchlichkeit emporzuarbeiten.““) Ich habe ſchon eingangs erklärt, daß es nicht meine Abſicht ſein kann, zur Löſung der Frage nach der Sprachentſtehung einen neuen Beitrag zu liefern; wie alſo die Sprache aus dem Alalen entſtanden, unter— ſuche ich nicht; daß ſie aber aus dem Alalen wenigſtens entſtanden ſein kann, ſollte nicht mit ſo viel Geräuſch in Abrede geſtellt werden. Wohl darf man mit Goethe fragen: „Wozu der Lärm? was ſteht dem Herrn zu Dienſten?“ Sehen wir doch alle Tage un ſer unſeren Augen an unſerer leib— veugeborne Menſchenkind im vollſten Sinne ſyrachlos iſt, jo ſprachlos, wie nur je der Urmenſch gedacht werden kann, wird wohl Niemand läugnen wollen. Nach Hru. Kuhl's oben entwickelter Anſiche iſt das ) Kuhl. A. a. O. S. 11. „ 329 \ Mn 330 ſprachloſe Kind kein Menſch, ſondern ein Thier, wogegen ich nichts einzuwenden habe, ſo wenig als dagegen, daß man den homo alalus der Urzeit für ein Thier halte, aber für ein Thier in durchaus menſchlicher Geſtalt, gerade jo wie unfere | Kinder auch. Ja, ich bin mit dem Ge— nannten der Anſicht, daß das Kind Menſch erſt werde mit der Erlernung der Sprache, was wiederum erſt mit der Erlernung des aufrechten Ganges möglich iſt. Guſtav Jäger und Otto Caspari haben wohl zur Evidenz bewieſen, daß die aufrechte Gangart das erſte Erforderniß zur Sprach- entwickelung ſei, und ich finde das Thier homo alalus ſogar nur unter der Vor— ausſetzung begreiflich, daß daſſelbe auf allen Vieren kroch — gerade ſo wie unſere heutigen Kinder. Nur lernen dieſe das Aufrecht— gehen und das Sprechen freilich erſt mit Hülfe ihrer Nächſten. Zweierlei Thatſachen ſtehen aber doch jedenfalls feſt: Einmal, daß es ſprachloſe Menſchenthiere wirklich giebt, dann, daß ſich aus dieſen ſprachloſen Menſchenthieren die ganze gebildete und hochgeſittete Menſch— heit mit ihrer Sprache entwickelt. Aber nicht blos unſere Säuglinge ſind ſolche ſprachloſen Menſchenthiere, ſondern es iſt be— kannt und durch genügende Beiſpiele be— glaubigt, daß das ohne Erziehung in der Wildniß, ohne menſchlichen Umgang auf— wachſende Menſchenthier ſprachlos bleibt, es höchſtens zu unartikulirten Lauten, zu einfachen Gefühlsäußerungen bringt. Ja noch mehr; Sprach- und vernunftbegabte Menſchen, welche der vollſtändigen Iſolirung preisgegeben werden, büßen allmählich das Sprachvermögen ein. Solche Fälle von offenbarer Verwilderung ſind in jüngſter Zeit wiederholt beobachtet worden. Von den Taubſtummen, die nur eine anormale Erſcheinung ſind, rede ich gar nicht. Aber 8 von Hellwald, Der ſprachloſe Urmenſch. Thatſache iſt es, daß es in der Gegenwart Alale giebt und geben kann, und es iſt gar nicht einzuſehen, warum ſolche Zu— ſtände nicht in der Urzeit geherrſcht haben ſollen. Ja nach meinem Dafürhalten iſt die Sprachloſigkeit der Kinder einer der ſchlagendſten Beweiſe zu Gunſten der Dar⸗ win' ſchen Theorie und zugleich der noth— wendigen Annahme eines einſtigen homo alalus. Sowie die Ontogenie die abgekürzte Wiederholung der Phylogenie iſt, ſo muß auch — ich habe dieſen Satz in meiner „Culturgeſchichte“ aufgeſtellt und vertreten — jetzt noch jedes einzelne Individuum in ſeiner geiſtigen Entwickelung in abgekürz— ten Zügen die ganze geiſtige Entwickelungs— geſchichte der Menſchheit durchlaufen. Der Spruch des franzöſiſchen Philoſophen: homme a toujours parlé ou il n aurait parlé, iſt gelinde gejagt ein Nonſens, denn unſere Kinder ſind wiederum da, um das Gegentheil ad oeulos zu beweiſen. Wäre aber die Sprache an ſich ein un— lösliches Attribut der Menſchheit, hätte es nie einen ſprachloſen Urmenſchen gegeben, ſo müßten wir uns von deſſen Gegnern eine ganz präciſe Erklärung für die Sprachloſigkeit der Kinder ſprechender Eltern, für die Sprach— einbuße bei completter Verwilderung aus— bitten. Hie Rhodus, hie salta. Ich bin der Anſicht, daß über den homo alalus ſo jamais lange nicht zur Tagesordnung geſchritten - werden kann und darf, bis die erwähnten Phänomene eine beſſere Erklärung gefunden haben. Die Sprachloſigkeit der Kinder lehrt uns auch, was von Kuhl's Meinung zu halten iſt, daß der ſprachloſe Urmenſch nie die Fähigkeit erlangt hätte, ſich zur Menſchlichkeit emporzuarbeiten, und beant- wortet Trumpp's Frage, ob Alles was die höchſte Vernunft bekundet, von einem homo primigenius alalus ſeinen Urſprung 5 Ka a BT Nr genommen haben könne. Sicher ift, das die größten Genien der civiliſirten Menſchheit aus ſolch einem ſprachloſen Menſchenthiere ſich entwickelten und Niemand bei einem neugeborenen vernunftloſen Kinde entwickelnde Menſch dereinſt erklimmen werde. So wie die Dinge jetzt liegen, haben wir demnach — ich recapitulire in Kurzem Weiſe aus dieſer Urſprache ſich die verſchiedenen Sprachwiſſenſchaft zu Grunde gelegt werden das Geſagte — zwei Theorien, welche der können: Eine einheitliche Urſprache oder den homo alalus, der erſt ſpäter an verſchiedenen Planetenſtellen ſich zum ſprechenden Menſchen emporſchwang, womit zugleich die Verſchieden— heit der Sprachen befriedigend erklärt iſt. Weder die gemeinſame Urſprache, noch der homo alalus der Vergangenheit iſt uns bekannt. Sollen wir aber zwiſchen beiden Möglichkeiten wählen, ſo werden wir zweifels— ohne die höhere Wahrſcheinlichkeit jener Hypotheſe beimeſſen, für welche wir nicht blos negative, ſondern auch poſitive Anhalts— punkte beſitzen. Die Urſprache iſt, wie geſagt, eine Möglichkeit, aber weiter nichts; für die Wahrſcheinlichkeit ihrer einſtigen Exiſtenz liegen keine Gründe vor; für den ſprachloſen Urmenſchen tritt die Sprachloſigkeit ſagen kann, welche geiſtige Höhe der ſich daraus ſprache zur Wahrſcheinlichkeit zu erheben, von Hellwald, Der ſprachloſe Urmenſch. 331 der Kinder wirkſam in die Schranken. Dieſen poſitiven Zeugen vermag die Urſprach— theorie kein, auch nur halbwegs gleichwerthiges Argument gegenüberzuſtellen. Ihren An— hängern liegt demnach nicht blos die Ver— pflichtung ob, die ehemalige einheitliche Ur— indem ſie die bisher dagegen vorgebrachten linguiſtiſchen Bedenken hinwegräumen und den klaren Nachweis führen, auf welche Sprachſtämme herausdifferenzirten, ſondern ſie müſſen noch obendrein für unſere ſprachloſe Kindheit eine genügende Erklärung beibringen. Geſetzt aber ſogar, es gelänge Alles dieſes, ſo iſt damit das Problem der Sprachent— ſtehung noch keineswegs gelöſt, ſondern nur um ein Kettenglied hinausgerückt; denn die Folge erhebt ſich dann: Wie iſt denn die einheitliche Urſprache entſtanden? Und wenn wir uns nicht der Myſtik in die Arme werfen wollen, indem wir die Sprache als eine dem Menſchen nothwendig inhärente Fähigkeit betrachten — und anderes als Myſtik, weil nichts erklärend, iſt eine ſolche Auffaſſung der Sprache nicht — ſo werden wir am Ende doch wieder auf einen ſprach— loſen Urmenſchen zurückgeführt. Die Entſtehungsgelchichte der Kodkunk. Ein Vortrag, gehalten im Winter 1874/75 im Roſenſaale zu Jena von Prof. Dr. Fritz Schultze. enn einer unſerer größten ſchen der Philoſophie und der Kochkunſt V deutſchen Denker, Immanuel nicht eben fehlt an Berührungspunkten, ya Kant, in den Geſchäften des welche, auch ganz abgeſehen von der Kochens und den Angelegen- ſocialen Wichtigkeit des Gegenſtandes, Ge heiten der Küche fo ſehr be- einen Philoſophen bewegen können, dieſes wandert war, daß ſein Freund Hippel Gebiet menſchlicher Thätigkeit ſeiner Be— jagen konnte, Kant könne ebenſo gut eine trachtung zu unterziehen. Ich glaube daher, „Kritik der Kochkunſt“ ſchreiben, wie eine daß ich mein Unternehmen rechtfertigen kann, „Kritik der reinen Vernunft; — wenn wenn ich es wage, einmal von dem höhe- ein bekanntes Buch „Der Geiſt der Koch- ren Kothurn platoniſcher Ideen und aus kunſt“, wie ſchon der Titel zeigt, dieſer den lichten Wolken des Abſoluten herabzu— Kunſt ſelbſt das Höchſte, was wir kennen: ſteigen zu dem nicht ganz unintereſſanten Geiſt zuſchreibt, und ein Brillat-Sa- Zwiſchenſpiel einer kleinen anthropologiſchen varin ſie ſogar, was mehr ſagen will, Topfguckerei. mit Geiſt in philoſophiſcher Weiſe behan— Die Entwickelungsgeſchichte des Kochens delt; — wenn die phyſiologiſche Pſychologie iſt ein Theil der Entwickelungsgeſchichte der bemüht iſt, den Zuſammenhang zwiſchen Menſchheit. Wer ſich mit der letzteren der Verſchiedenheit der Nahrungsmittel und beſchäftigt, darf auch die erſtere nicht ver— den verſchiedenen Stimmungen des Gemüthes nachläſſigen, wer das Ganze haben will, nachzuweiſen; — wenn endlich eine materia; muß es aus den auch noch ſo gering ſchei— liſtiſche Philoſophie dieſen Zuſammenhaug | nenden Theilen aufbauen, oder er verſtößt ſo weit übertrieben hat, daß ſie zu dem gegen den induktiven Charakter moderner in ſeinen Conſequenzen höchſt fatalen Satze | Wiſſenſchaft. Auch die Methode der kam: „Der Menſch iſt, was er ißt“: — Wiſſenſchaft verlangt alſo, daß ſich der jo können wir aus alledem wenigſtens jo | Philoſoph dieſem Gegenftande zuwende. viel mit Sicherheit ſchließen, daß es zwi- Das Kochen iſt die Zubereitung der Nahrungsmittel mit Hülfe des Feuers zum Zwecke leichterer Aſſimilation. Das Kochen iſt alſo ein künſtlicher Proceß; es erfordert Feuer, Geſchirre, künſtliche Werkzeuge. Aber eben weil es ſo vielen künſtlichen Apparat vorausſetzt, ſo werden wir vermuthen kön— nen, daß die Menſchen nicht von Uranfang an gekocht haben, daß mithin das Kochen erſt Erzeugniß einer höheren Entwickelungs— ſtufe iſt. Daß die Menſchen ohne Koch— kunſt leben konnten, ja, daß Menſchen noch heute ohne ſie, alſo von rohem Fleiſch und Früchten, leben könnten, beweiſen die That— ſachen. Es würde mich indeſſen zu weit von meinem eigentlichen Thema abführen, wenn ich dieſe hier erörtern wollte. In Oskar Peſchel's Völkerkunde findet ſich das Beweismaterial dafür in reicher Fülle zuſammengeſtellt. Das erſte, zum Kochen nothwendigſte Hülfsmittel iſt das Feuer. Hätte es je eine Zeit gegeben, wo der Menſch das Feuer überhaupt noch gar nicht verwendete, ſo wäre damals ja auch vom Kochen noch keine Rede geweſen. Haben wir Gründe, eine ſolche Zeit anzunehmen? In der That beſitzen wir ältere und neuere Berichte von Menſchen, denen das Feuer noch nicht be— kannt geweſen ſein ſoll. Hören wir dieſe Angaben und prüfen wir fie.) Der Miſſionar Pater Lafiteau ſagt in feinem Buche: „Moeurs des sauvages Américains“ vom Jahre 1724 ſchlechthin, daß es in Amerika feuerloſe Menſchen gebe. Einen Beweis dafür liefert er nicht. Der Pater Lombard von der Geſellſchaft Jeſu, der im Jahre 1730 aus Kourou in Fran— zöſiſch-Guyana ſchreibt, ſchildert den Stamm der Amikuanen vom Fluſſe Oyapok. „Dieſes Volk,“ ſagt er, „das bisher un— ) Vergl.: Edw. Tylor, Urgeſchichte, deutſch von Mülker, S. 292 ff. Schultze, Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt. 333 bekannt geweſen, iſt äußerſt wild; es hat keine Kenntniß vom Feuer.“ Auch dieſe Angabe bleibt unbewieſen. Ebenſo wenig Beweiskraft können wir der Ausſage Plu- tarch's: daß es Menſchen ohne Feuer gebe, zuerkennen. Die nun ausgeſtorbenen Ureinwohner der Canariſchen Inſeln, die Guanches, ver— ſtanden zur Zeit der europäiſchen Expedi— tionen im 14. und 15. Jahrhundert Feuer zu machen und zu benutzen. Dennoch er— klärt Antonio Galvano in einem um die Mitte des 16. Jahrhunderts geſchrie— benen Buche, „daß ſie in vergangenen Zei— ten aus Mangel an Feuer rohes Fleiſch aßen.“ Derſelbe Schriftſteller weiß noch eine andere Geſchichte von feuerloſen Men— ſchen zu erzählen. Als im Jahre 1529 Alvaro de Saavedra von den Mo— lukken nach der Weſtküſte Mexikos ſegelte, entdeckte er unter dem 10. oder 12. n. B. eine Menge kleiner, ebener Inſeln, bewach— ſen mit Gras und Palmen, die er „Los Jardines“, die Gärten, nannte. „Die Ein— geborenen hatten keine Hausthiere, ſie waren in ein weißes Zeug aus Gras gekleidet, aßen ſtatt des Brotes Kokosnüſſe und rohe Fiſche, die ſie in den Praus, ihren Fahr— zeugen, fingen, welche ſie aus Treibholz mit ihren Muſchelwerkzeugen verfertigten. Sie fürchteten ſich vor dem Feuer, denn ſie hatten es nie geſehen.“ Dieſe Schil— derung ſteht, bis auf die Angabe hinſicht— lich des Mangels an Feuer, mit dem, was wir ſonſt von den Bewohnern der Korallen— inſeln des ſtillen Oceans wiſſen, durchaus im Einklang und rührt alſo wohl von einem Augenzeugen her. Wir dürften da— her dieſe Angabe nicht ohne Weiteres für eine Erdichtung erklären, wenn nicht, wie wir gleich ſehen werden, alle anderen Zeugniſſe unter dem ſcharfen Blick der 44 334 Kritik ſich als unrichtig erwieſen hätten, und dieſe Angabe demnach ganz vereinzelt daſtände. Im Jahre 1700 erzählt der Jeſuiten— pater Le Gobien in ſeinem Buche „Hi- stoire des Isles Marianes“ von den Bes wohnern der Marianen Folgendes: „Was am erſtaunlichſten war und was man kaum glaublich finden wird, iſt, daß ſie niemals Feuer geſehen hatten. Dieſes ſo nothwen— dige Element war ihnen gänzlich unbekannt. Sie kannten weder ſeinen Nutzen, noch ſeine Eigenſchaften; und fie waren aufs höchſte überraſcht, als ſie es zum erſten Male bei Magelhaens' Landung auf einer ihrer Inſeln ſahen, wo jener etwa fünfzig ihrer Häuſer verbrannte, um dieſe Inſulaner für die Beunruhigung zu ſtrafen, die ſie ihm verurſacht hatten. Anfangs betrachte— ten ſie das Feuer als eine Art Thier, das ſich an das Holz klammerte, wovon es ſich nährte. Weil die erſten, die ihm zu nahe kamen, ſich verbrannt hatten, waren die anderen eingeſchüchtert und wagten es nur noch von ferne anzuſehen, aus Furcht, ſagten ſie, von ihm gebiſſen zu werden, und da— mit dieſes ſchreckliche Thier ſie nicht mit ſeinem heftigen Hauche verletzen möchte. ..“ — Woher hat denn Le Gobien dieſe Angaben? Die Marianen nebſt den Phi— lippinen wurden 180 Jahre früher im Jahre 1521 von Magelhaens entdeckt. Magelhaens' Gefährte Antonio Pi— gafetta hat die Sitten und Gebräuche der Eingeborenen ausführlich beſchrieben, hat aber nirgends auch nur eine Andeu— tung, daß das Feuer ihnen fremd geweſen ſei. Eine ſo merkwürdige Thatſache würde ihm ſicher nicht entgangen ſein, und er würde ſie gewiß mitgetheilt haben. Aber im Jahre 1652, alſo 130 Jahre nach Pigafetta, führt Horn in einem F — nn Schultze, Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt. Werke über die amerikaniſchen Urzuſtände die Menſchenſtämme an, welche des Feuers entbehren. Er erwähnt die vorhin bereits berührten, von Galvano verdädtigten Bewohner der Canariſchen und der Garten- Inſeln und fügt dann auf eigene Fauſt die Bewohner der Philippinen hinzu. Nun hatte ja aber Magelhaens Philippinen und Marianen zuſammen entdeckt. Was alſo von den Philippinen gilt, ſo ſchließt Le Gobien, muß auch von den Marianen gelten, und ſo ſetzt denn 50 Jahre nach Horn der Pater auch die Marianen auf die Liſte. Alſo auch dieſer Bericht löſt ſich in eine Fiction auf. Ja, wir können hier ſogar nachweiſen, woher der Jeſuit die einzelnen Züge ſeiner Dichtung genommen hat. „Anfangs“, hieß es bei ihm, „bes trachteten die Bewohner das Feuer als eine Art Thier, das ſich an das Holz klammerte, wovon es ſich nähre.“ Dieſer Zug führt ſich auf Herodot's Bericht über die Aegypter zurück: „Die Aegypter haben auch geglaubt, das Feuer ſei ein lebendiges Thier und verſchlinge alles, was es ergrei— fen könne; nachdem es ſich aber mit Nah— rung gefüllt, ſterbe es an dem, was es verſchlungen habe.“ Der andere Zug, daß die Bewohner ſich dem Feuer zuerſt ohne Furcht und voller Staunen nähern und erſt zurückweichen, nachdem fie von ihm ge- biſſen ſind, erinnert an die Erzählung des alten Geographen Pomponius Mela: „In Aethiopien giebt es Leute, denen Feuer vor der Ankunft des Eudoxus ſo gänz— lich unbekannt war, und die ſich ſo außer— ordentlich freuten, als ſie es ſahen, daß es ihnen das größte Vergnügen machte, die Flammen zu umarmen und brennende Dinge in ihrem Buſen zu bergen, bis ſie verletzt waren.“ 5 Die letzte Angabe, die uns vorliegt, Schultze, Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt. 335 ſtammt erſt aus den dreißiger Jahren die— ſes Jahrhunderts. In dem Werke über die Forſchungsexpedition der Vereinigten Staaten unter Commodore Wilkes leſen wir in der Schilderung der Inſel Fakaa— fo: „Es fand ſich keine Spur von Stel— len zum Kochen, auch war nichts von Feuer zu ſehen und man glaubt, daß ſie alle ihre Lebensmittel roh eſſen. In dieſer An— ſicht wurde man beſtärkt durch die Beſorg— niß, welche die Eingeborenen blicken ließen, als ſie ſahen, wie aus Stahl und Stein Funken ſprangen, und wie Rauch aus dem Munde derjenigen hervorging, die Cigarren rauchten.“ Gleichwohl werden in demſel— ben Werke Angaben gemacht, welche be— weiſen, daß die Einwohner mit dem Feuer vertraut waren. Hale, der Ethnograph der Expedition, erwähnt nicht blos das Erſcheinen von Rauch auf der benachbarten Duke of Vork-Inſel als Zeichen, daß fie bewohnt ſein müſſe, ſondern giebt auch in ſeinem Vocabularium der Sprache von Fakaafo das Wort für Feuer: ali. Ja, einige Jahre ſpäter erzählt uns der Miffio- nar George Turner ſogar einen unter den Eingeborenen verbreiteten Mythus über den Urſprung des Feuers, der an die grie⸗ chiſche Prometheusſage erinnert, und den wir nachher mittheilen werden. Er ſpricht ferner von merkwürdigen Verordnungen hinſichtlich des Feuers, aus denen ſich dann auch erklärt, wie Wilkes in den Irrthum verfallen konnte, den Fakaafoanern die Kenntniß des Feuers abzusprechen. Die religiöſen Gebräuche geſtatten nämlich den Eingeborenen nicht, Nachts in den Häuſern Licht oder Feuer anzuzünden; zum Kochen diente ferner ein gemeinſames Kochhaus, ſo daß in den Wohnungen ſelbſt allerdings die Spuren des Feuers gänzlich fehlten. Dieſe Umſtände, dazu das Eſſen roher Fiſche, das Staunen der Eingebore— nen über das Rauchen der Fremden und über die Eigenſchaften des ihnen unbekann— ten Feuerſteins und Stahls erweckten in Wilkes die Vorſtellung, die Inſulaner kennten das Feuer überhaupt nicht. Wenn wir ſomit die Erzählungen von Menſchen, welche ſelbſt in neuerer Zeit noch gar nicht im Beſitze des Feuers ſein ſollten, als unrichtig zurückweiſen können, ſo ſind wir nicht im Stande, daſſelbe zu thun bei einigen Berichten, welche uns von einem eigenthümlichen Uebergangszuſtande erzählen: von Menſchen, welche das Feuer zwar kennen und benutzen, es aber nicht ſelbſt zu entzünden verſtehen. Backhouſe hörte von einem Einge— borenen von Vandiemensland, daß ſeine Vorfahren vor ihrem Bekanntwerden mit den Europäern kein Mittel gehabt hätten, das Feuer ſelbſt zu entzünden; ſie hätten daſſelbe als ein Geſchenk vom Himmel be— kommen, hätten auf ihren Wanderungen ſtets Feuerbrände mit ſich herumgetragen, und ſeien dieſe durch einen unglücklichen Zufall erloſchen, jo hätten ſie dieſelben ent- weder an der noch glühenden Aſche des letzten Lagerplatzes wieder entzündet oder, wenn das nicht mehr möglich geweſen ſei, ſich neues Feuer von einem anderen Stamme geholt. Dieſer ſeltſame Bericht wird von einem anderen Forſcher Milligan völlig beſtätigt. Nach ihm haben die Vandiemens— länder den Mythus, daß das Feuer gleich einem Sterne durch zwei Eingeborene vom Himmel geworfen ſei; die Feuerbringer ſtehen jetzt ſelbſt am Himmel; es ſind die von uns Caſtor und Pollux genannten Zwillingsſterne. So ſind die Tasmanier zwar im Beſitze des Feuers, können es aber nicht ſelbſt erzeugen, ſondern tragen es von einem Lagerplatz mit ſich zum EN 336 andern. — Und in der Verſammlung der Britiſh Aſſociation vom Jahre 1864 ev klärte Mac Donall Stuart, die Ein- geborenen Süd -Auſtraliens könnten Feuer durch die Reibung von zwei Stücken Holz über einem Häufchen dürren Graſes erzeu— gen, im Norden ſei aber dies Verfahren unbekannt, die Eingeborenen trügen die Feuerbrände ſtets mit ſich, und wenn die— ſelben verlöſchten, ſo hätten ſie oft eine weite Reiſe zu unternehmen, um von einem anderen Stamme Feuer zu erbitten. Für uns, die wir vermittelſt unſerer Reibhölzer im Nu Feuer zu machen ver— ſtehen, klingen nun dieſe Berichte, obgleich ſie von durchaus glaubwürdigen Beobachtern herrühren, unglaubhaft. Wenn wir aber bedenken, daß unſer Zündholz nur deshalb uns blitzſchnell mit Feuer verſieht, weil es die complicirte, vorbereitende Arbeit un— zähliger Hände, eine ganze Induſtrie be— reits in ſich trägt; daß noch vor 50 Jahren bei uns die Erzeugung des Feuers durch Stahl und Stein eine langwierige Arbeit war, ſo daß man vorzog, das Feuer Nachts Rauf dem Herde unter der Aſche fortglim— men zu laſſen, wie es noch heute auf dem Lande vielfach Sitte iſt; wenn wir wei— ter in Rechnung ziehen, daß bei wilden Völkern die Feuererzeugung durch Reibung zweier Holzſtückchen noch viel ſchwieriger iſt und oftmals ſtundenlange Arbeit meh— rerer kräftiger Männer erfordert; daß deshalb auch viele andere wilden Stämme das Feuer beſtändig glimmend zu erhalten ſuchen, z. B. die Andamanen in hohlen Baumſtämmen, ähnlich die Sioux und viele andere Indianer Amerikas; daß wegen dieſer Schwierigkeit „Feueranmacher“ der Name für die Prieſter der Muskoge— Indianer war; daß eben deshalb bei den rohen Damaras in Afrika die Töchter des Schultze, Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt. Häuptlings fortwährend ein als heilig verehrtes Feuer in Brand erhalten mußten; wenn wir bedenken, daß hier ſich uns der wahre Urſprung der Veſta— linnen des heidniſchen Tempels, wie der ewigen Lampe in der katholiſchen Kirche entdeckt; wenn wir ſomit die Rudi— mente jener Periode, wo das Feuer jo zu ſagen erſt halb vom Menſchen gezähmt war, ſelbſt heute noch vor uns haben, ſo daß demnach zu der Unantaſtbarkeit jener Gewährsmänner noch viele Gründe beſtä— tigend hinzutreten, ſo wird uns dann auch ein ſolches Uebergangsſtadium wie das eben geſchilderte weniger zweifelhaft erſcheinen. Aber wir ſind dann auch berechtigt, noch weiter zu ſchließen, nämlich wirklich auf eine Zeit, wo die Menſchen vom Feuer überall noch keinen Gebrauch machten. Was ſpricht dafür? Erſtens alles, was für die moderne Entwickelungstheorie ſpricht. Hat dieſelbe Recht, ſo iſt die Annahme feuerloſer Men— ſchen in der Urzeit eine nothwendige Fol— gerung aus der Theorie. Zweitens ſpricht für eine ſolche Zeit der Umſtand, daß die Feuerzündung bei allen Völkern, die höchſt civiliſirten nicht ausgenommen, eine wirklich ſchwierige, com— plicirte Kunſt iſt, deren Verfahren mit ſeinen roheren oder feineren Werkzeugen irgend einmal irgendwo erfunden ſein muß, wie das einer jeden anderen Kunſt. Drittens ſpricht dafür die Heilig— haltung des Feuers, die wir bei allen Völkern auf geringer Entwidelungsftufe finden, und die bei dieſen keineswegs erſt eine ſecundäre Folge der Verehrung der Sonne iſt. Je vertrauter nämlich und bekannter der Menſch mit irgend einer ihm zuerſt imponirenden Naturerſcheinung wird, um ſo mehr verliert er das ihn beängſti— gende Grauen oder das ihn erhebende Staunen, welches ihn anfangs mit heiliger Scheu vor der Erſcheinung erfüllte und ihn zu religiöſer Verehrung derſelben trieb. Je neuer aber und fremder dieſe Erſcheinung ihm noch iſt, um ſo mehr ehrerbietige Scheu flößt ſie ihm ein. So beweiſt uns denn gerade die Allgemeinheit der religiöſen Verehrung des Feuers in früheſter Zeit, daß dieſe Erſcheinung dem Menſchen noch verhältnißmäßig neu war, daß alſo die Zeit, wo das Feuer anfing, dem Menſchen wohlthätig zu werden, verhältnißmäßig noch nicht ſo weit zurücklag, d. h. aber, daß es eine Zeit gab, wo der wilde Menſch das Feuer noch nicht benutzte. Viertens ſprechen für eine ſolche Zeit alle jene Berichte von feuerloſen Menſchen, die wir oben anführten. Aber haben wir nicht vorhin dieſelben alle als unrichtig zurückgewieſen? Allerdings! Jeder einzelne Bericht in ſeiner Anwendung auf dieſen oder jenen heute noch lebenden Stamm erwies ſich als falſch. Aber wenn wir fragen, was denn der Entſtehungs— grund aller dieſer Berichte ſei, die im Alterthum wie in der Neuzeit an allen Orten der Erde aufgetaucht ſind, da erhal— ten dieſelben plötzlich eine ganz andere Be— deutung. Werfen wir zur Erklärung einen Blick auf Verwandtes! Die über die ganze Erde verbreiteten Sagen von Drachen und Lindwürmern ſind Märchen: es giebt ja keine Drachen. Aber dieſe Sagen ſind überall auf der Erde aufgefunden. Und haben nicht die aus der Erde gegrabenen verſteinerten Funde uns gezeigt, daß es in Wirklichkeit früher ſolche ungeheuere Thier— geſtalten gab? Dieſe Sagen enthalten alſo doch etwas Hiſtoriſches, die Erinne— rung an jene Thierformen. Wir wollen ſelbſtverſtändlich nicht damit Schultze, Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt. 337 behaupten, daß dieſe Sagen direkt ſich herleiteten aus jener Secundärzeit, welche von den Sauriern bevölkert war — eine ſolche Behauptung ſchlüge allen Ergeb— niſſen der Paläo-Anthropologie ins Geſicht. Aber daß in der That eine Menge jener Sagen in allen Erdtheilen veranlaßt find durch Auffindung von Saurier-Ueber— reſten in früherer Zeit, hat bereits der ſcharf— ſinnige und überaus vorſichtige Edward Tylor unanfechtbar in ſeiner vortrefflichen Abhandlung über hiſtoriſche Traditionen und Beobachtungsmythen bewieſen. Wie mit dieſen Sagen, die in ihrer Anwendung auf das Zeitalter eines drachentödtenden Dietrichs von Bern u. ſ. w. alle falſch find, und in ihrer Geſammtheit doch auf thatſächlich in der Vorzeit Beſtehendes zu— rückweiſen — wie mit dieſen Sagen iſt es auch mit jenen Berichten über feuerloſe Wilde. In ihrer vereinzelten Anwendung auf heute oder in hiſtoriſcher Zeit noch lebende menſchliche Weſen ſind ſie alle falſch, — in ihrer Geſammtheit aber ſind ſie der verhallende Nachklang aus jener Zeit, wo das Feuer noch nicht des Menſchen Diener geworden war. Mit dieſen inſofern wahren Berich— ten hängen fünftens eng zuſammen die Mythen über das Feuer, welche die— ſelbe Bedeutung haben wie jene Be— richte, ja die man als eine Unterart derſelben betrachten könnte. Ich erinnere nur an Prometheus oder an den Feuer— vogel, Mythen, wie wir ſie nicht blos bei den Griechen, ſondern in China, in In— dien, bei den ariſchen Völkern überhaupt finden; aber ebenſo, wie wir oben ſchon ſahen, bei den Vandiemensländern und in der Mythologie der polyneſiſchen Inſeln. Auch in dieſen Mythen finden wir bei allen Völkern die Vorausſetzung einer feuer— loſen Zeit, und inſofern können wir auch ſie als eine von Geſchlecht zu Geſchlecht durch die Jahrtauſende hindurch getragene Erinnerung an dieſelben betrachten. Wann dieſe Zeit geweſen ſei, darüber kann natürlich gar nichts Beſtimmtes ausgeſagt werden. Aeſchylus legte in dem verlorenen Schlußſtücke ſeiner Trilogie dem Prometheus die Worte in den Mund: „Dreißig Jahrtauſende habe er in Feſſeln geſchmachtet.“ Der Feuerraub, um deſſent— willen Prometheus gefeſſelt wurde, wird alſo ſchon hier weit über die Grenzen menſchlicher Zeitrechnung hinaus verlegt. Aber an der Schuſſenquelle in Schwaben ward ſchon zur Eiszeit künſtlich von Men— ſchen Feuer erzeugt, alſo noch Jahrzehn- tauſende vor dem von dem Aeſchyleiſchen Prometheus angegebenen Zeitpunkte. Wie kam denn der Menſch zum Feuer? Die Frage ſcheint leicht beantwortet werden zu können, findet ſich doch Feuer an ſo vielen Stellen der Erde vor. Der Blitz ſchlägt in den Baum, dieſer geht in Flam— men auf. Indeß die vergleichende Pſycho— logie lehrt uns, daß der wilde Menſch ſeinem Charakter nach der Art iſt, daß er wie das wilde Thier vor einer ſolchen plötzlich auflodernden Flammenerſcheinung vielmehr erſchreckt entfliehen als ſich der— ſelben furchtlos nähern wird. Angenom— men aber er näherte ſich auch derſelben, ſo würde er, bisher völlig unbekannt mit den Eigenſchaften des Feuers, gar nicht daran denken, es ſich zu bewahren — und bewahrte er es auch, ſo würde es doch wieder verlöſchen, ohne daß er ſelbſt im Stande wäre, es wieder zu entzünden — aber gerade dies iſt ja die Hauptſache, daß er ſelbſt die Kunſt, es zu erzeugen, ausübe. Vielerwärts auf der Erde finden ſich ſogen. Feuerquellen, d. h. Erdölbrunnen, Be Schultze, Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt. welche entzündliche Luftarten, nämlich Kohlen— waſſerſtoffgas, aushauchen. Ich erinnere nur an derartige Erſcheinungen in den Vereinigten Staaten, in China, in Italien, vor allem aber an die heiligen Feuer der Halbinſel Abſcheron bei Baku am Caspi⸗ ſee, zu denen die frommen Parſi wall— fahrteten, „um ihrer Flammengottheit ins Antlitz zu Schauen“. Endlich wird ja unſer Erdball umzogen von einem Gürtel feuer— ſpeiender Berge, deren Lavaergüſſe den Menſchen mit den Wohlthaten des Feuers bekannt machen konnten. Alexander von Humboldt berichtet, daß man noch zwanzig Jahre nach dem Ausbruche des Jorullo in feinen Hornitos oder Miniatur- kratern Späne an der glühenden Lava ent— zünden konnte. — Wenn nun auch viel- leicht ein Menſchenalter hindurch die Lava ſtets neues Feuer ſpendete, zuletzt erkaltete ſie doch und ließ den Menſchen im Stich. Die Kunſt, das Feuer ſelbſt zu entzün⸗ den, worauf Alles ankommt, konnte alſo der Menſch auch hier nicht lernen. Das— ſelbe gilt aber von den flammenden Naphta— quellen. Betrachten wir, um der Löſung des Räthſels näher zu kommen, die primitiven Methoden des Feuermachens, wie ſie bei Naturvölkern noch jetzt gebräuchlich ſind und auch bei unſeren Altvorderen überall im Schwange waren. Das verbreitetſte Verfahren iſt das Aneinanderreiben zweier Holzſtücke von verſchiedener Härte, ſei es nun, daß das härtere von beiden einfach auf dem weicheren gerieben wird, oder daß das härtere in das weichere hinein— gebohrt und quirlartig darin herumgedreht wird, bis das weichere ſich entzündet. Neben dieſem Verfahren findet ſich ein anderes, aber nur in Amerika, nämlich bei den Feuerländern, einigen nordamerikaniſchen Indianern und manchen Eskimos: nämlich ein Feuerſtein und ein Stück Eiſen— pyrit an einander geſchlagen und ſo Funken erzeugt werden, die dann, mit dürrem Gras oder Moos als Zunder aufgefangen, die Flamme erzeugen. Endlich hat man in Weſtafrika beobachtet, daß Neger einen Feuerſtein und ein Stückchen Holz, nachdem ſie etwas Sand dazwiſchen geſtreut, auf einander rieben und ſo Feuer entzün⸗ deten. Stein und Holz ſind alſo bei allen Naturvölkern die zur primitiven Feuer- zündung benutzten Stoffe, und zwar in der dreifachen Verbindung von Holz mit Holz, von Stein mit Stein und von Holz mit Stein. Nun wiſſen wir, daß dem Metall— zeitalter das Steinzeitalter voranging, d. h. eine Zeit, wo die Menſchen die Ver— wendung und Bearbeitung der Metalle noch gar nicht kannten, ſondern alle ihre primi⸗ tiven Geräthe lediglich aus Stein und Holz und aus thieriſchen Knochen und Horn verfertigten. Innerhalb der Steinzeit unterſcheiden ſich aber deutlich die beiden Perioden der ungeſchliffenen und ge— ſchliffenen Steingeräthe — erſtere die Zeit, wo der Menſch den Stein ſo roh als Geräth verwendete, wie die Natur ihn dar- bot, und ihm höchſtens durch das Abſchla— gen ſeiner Kanten und Ecken eine brauch— bare Form gab; letztere die Zeit, wo ſeine Geſchicklichkeit bereits beträchtlich ge— ſtiegen war, und wo er die Steine durch Aufeinanderreiben zierlich ſchliff und polirte und aus ihnen Waffen und Geräthe von zierlicher Form herſtellte. Nun beſteht die überwiegende Mehrzahl gerade der frühe⸗ ſten Steingeräthe aus Feuerſtein, theils wegen der weiten Verbreitung deſſelben, theils wegen der Leichtigkeit, mit der man ihn durch einen bloßen Schlag in ziemlich Schultze, Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt. daß und Holzwerkzeuge; auch im Holze konn— 339 regelmäßige, klingenartige, meſſerſcharfe Späne und Splitter zerſpalten kann. Aus dieſen unzweifelhaften Thatſachen ergiebt ſich nun die Hypotheſe, welche uns die Feuer— erfindung völlig erklärt. Bei dem Zer— ſpalten und Zerſchlagen der Steine ſpran— gen bereits Funken hervor. So wurde der Urmenſch aufmerkſam gemacht auf dieſe leuchtende Erſcheinung; auch konnte er ja dieſelbe herſtellen nach Belieben, ſo oft er wollte. Aber man ſpaltete nicht blos die Steine, ſondern ſpäterhin ſchliff man ſie in der einfachſten Weiſe, d. h. man rieb ſie an und auf einander. Nun braucht man nur zwei Quarzkieſel feſt gegen ein— ander zu reiben, um ſich auf der Stelle zu überzeugen, daß ſie zu leuchten beginnen. Steinſchleifereien zeigen dieſes Leuchten der Steine im höchſten Grade und je nach der Verſchiedenheit der Steinart in mannigfachem Wechſel prächtiger Farben— ſpiele, worüber u. a. der Mineraloge Nög— gerath ausführlich berichtet hat. Man braucht ferner nur einen Blick auf die ſchön gearbeiteten Steinwaffen zu werfen, um zu erkennen, daß man denſelben einen großen Arbeitsaufwand von Reiben und Schleifen widmete, denn alle Form konnte ja damals lediglich durch Schlagen und Reiben her— geſtellt werden. So rieb und ſchliff man denn Stein auf Stein, und ſo erzeugte man das Leuchten. Man bearbeitete ja aber auch das Holz entweder mit Stein oder auch eine weichere Holzart mit einer härteren, denn man hatte ja nur Stein- ten feinere Formen, wie die Abrundung oder ein Bohrloch, nur durch Schleifen und | Reiben hergeſtellt werden. So rieb man alſo Holz mit Stein oder weicheres Holz mit härterem — da ward aber aus blo— ßem Leuchten das Glimmen, und dieſem ar bung die Flamme. Feuerzündung faſt nur noch hartes Holz auf weichem rieb, geſchah deshalb, weil man die Erfahrung machte, daß ſich da— durch thatſächlich am leichteſten und ſicher— ſten Feuer machen ließ. So kam alſo der Menſch bei der Bereitung ſeiner erſten Werkzeuge auf die Bereitung des Feuers, und ſo allein erklärt ſich die Hauptſache bei der Feuerfindung, daß nämlich der Menſch nicht mehr vor dem Feuer wie vor der oder des donnernd ſpeienden Vulkans zu— rückſchreckte, ſondern ſich allmälig daran gewöhnte, indem er zuerſt nur die kleinſte Erſcheinung des Feuers, das bloße Funken— ſprühen, dann das Leuchten, darauf das Glimmen, zuletzt die Flamme entdeckte; daß er zweitens dies Element hervorzaubern konnte, wann und wo er wollte; daß er drittens alſo wirklich Herr und Ge— bieter des Feuers wurde, was alles jene früher gegebenen Erklärungsverſuche ganz unerklärt ließen. Die Entdeckung der Feuerzündung fällt alſo chronologiſch nach der Zeit des erſten Gebrauches der Steine und Hölzer als primitiver Werkzeuge. Ein Blick auf die Natur zeigt uns ein Ana- logon, das zu weiterem Beweiſe dafür dienen könnte, nämlich den Umſtand, daß die anthropoiden Affen das Feuer natür— lich nicht verwenden, wohl aber bereits Steine und Hölzer gebrauchen, theils als Werkzeuge, z. B. zum Aufknacken von Nüſſen, theils als Waffen zur Vertheidig— ung. Ehe nun der Menſch alle Eigen— ſchaften des Feuers kennen und ehe er es ſo mannigfach verwenden lernte, wie wir es jetzt thun, darüber verſtrich ohne Zweifel noch ein ungeheurer Zeitraum. Aber daß dieſe Erfindung der Feuerzün— entſprang naturgemäß bei fortgeſetzter Rei- Daß man zuletzt zur Flamme des plötzlich auflodernden Baumes ſcheräh Schultze, Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt. dung zu den größten Erfindungen über— haupt gehört, ja daß ſie geradezu einen Wendepunkt in der Geſchichte der Menſch— heit bildete, das kann eine einfache Betrach— tung klar machen. Denken wir uns plötz— lich der Benutzung des Feuers beraubt; die Folge wäre, daß alle unſere Induſtrie, unſer Handel, unſer Verkehr, unſere Künſte und Wiſſenſchaften, alle Bequemlich— keiten und Nothwendigkeiten eines civiliſirten Lebens aufhörten, und daß wir nach wenig Jahren auf eine Stufe zurüd- gelangt wären, welche unter der des Pe— läge, denn dieſer benutzt ja das Feuer. — — — Auf der oben erwähnten Inſel Faka⸗ afo lautet die einheimiſche Prometheusſage folgendermaßen: Das Feuer war im Beſitz einer alten blinden Frau, die in den unter⸗ irdiſchen Regionen wohnte. Talangi, der Prometheus, ging zu ihr hinab und bat ſie, ihm etwas von ihrem Feuer zu geben. Sie weigerte ſich. Als er aber drohte, ſie zu tödten, gab ſie nach. Zugleich ließ er ſich ſagen, welche Fiſche mit dem Feuer zu kochen und welche roh zu eſſen ſeien. „Und nun,“ ſchließt die Sage, „begann die Zeit, wo man Speiſen kochte.“ Um nun die Geſchichte der Kochkunſt, deren Beginn dieſe Südſeeſage richtig an die Feuerfindung anſchließt, darzulegen, müſſen wir zunächſt zwei Arten der Speiſe— bereitung mittelſt des Feuers unterſcheiden, nämlich das Röſten oder Braten und das Kochen oder Sieden. Zum Sieden gehören Geſchirre, in denen man ſiedet. Die Töpferkunſt iſt aber eine verhältnißmäßig ſpäte Erfindung. Des- halb iſt das bloße Röſten, d. h. das Er- hitzen und Erweichen des Fleiſches unmit— telbar an oder über dem Feuer ohne Ge— ſchirre das ältere und urſprüngliche. Dies geht noch daraus hervor, daß die niedrig— ſten Menſchenſtämme, nämlich die Auſtralier, die Feuerländer nebſt einigen anderen ſüd— amerikaniſchen Stämmen und die Buſch— männer, noch nichts vom Sieden und Kochen wußten, auch nicht im Beſitz von irgend welchem Töpfergeſchirr waren, als die Europäer ſie zuerſt kennen lernten. So erzählt uns Lichtenſtein von den Buſch— männern, daß ſie Stücke Fleiſch einige Minuten lang unmittelbar in die glühende Aſche legten und ſie dann bedeckt mit Aſche und geronnenem Blute, halb verbrannt und halb roh, gierig hinunterſchlangen. Einen Fortſchritt über dieſe Buſchmannsart hinaus ſehen wir bei den Auſtraliern, welche die Fleiſchſtücke auf Stäbe ſteckten und ſo ins Feuer hielten und brieten. Sie hatten mit— hin die Erfindung des primitiven Brat- ſpießes gemacht. Man kann nicht ſagen, daß ſelbſt dieſe beiden roheſten Arten zu braten un mittelbar mit der Feuerfindung gegeben geweſen ſeien. Irgend ein glück— licher Zufall mußte erſt lehren, daß Fleiſch, vom Feuer erhitzt, weicher und ſchmackhaf— ter wird, und dann erſt begann man mit Abſicht zu braten. Aus dem Röſten über dem Feuer ver— Form das ſogen. Bucaniren entwickelt. Wenn nämlich Fleiſch viele Stunden lang über einem gelinden Feuer bleibt, ſo wird es zugleich geröſtet und geräuchert. Es kommt dadurch in einen Zuſtand, worin es ſich ſelbſt in den Tropenländern lange Zeit hält. Dieſes Verfahren fand ſich in ſchatka, in Afrika, im indiſchen Archipel und auf den Pelew-Inſeln. Der Name „Bucaniren“ kommt von einem Worte einer braſilianiſchen Indianer⸗ ſprache. So nannten nämlich nach Jean \ mittelſt des Bratſpießes hat ſich als dritte Schultze, Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt. Nord- und Südamerika, in Aſien in Kamt- | Feuer entzündete. boucan, I 341 de Lery's Bericht vom Jahre 1557 die Indianer ein aus Stöcken geflochtenes Git ter, einen hölzernen Roſt, der auf vier ſenkrecht in die Erde geſteckten, gabelförmi— gen Pfählen lag. Auf dieſen Roſt wurde das Fleiſch gelegt, und unter demſelben das Feuer zum Bucaniren angezündet. Die franzöſiſchen Jäger von San Domingo, welche ſich deſſelben Verfahrens bedienten, erhielten daher den Namen Boucaniers, und von hier aus bekam dieſes Wort all— mälig die Bedeutung eines unſtät umher— ſchweifenden Jägers und Räubers und wurde endlich, wie bekannt, ſpezielle Benen— nung der ſpaniſchen Seeräuber des Oceans. Auf Haiti war der Name für jenen höl— zernen Roſt barbacoa, und dieſem Namen verdankt das engliſche Wort to barbecue ſeinen Urſprung, welches im heutigen Eng— S liſch freilich ſo viel heißt wie „ein ganzes Thier auf einmal braten“. Daß auch bei der Urbevölkerung Euro— pas das Bucaniren im Schwange geweſen ſei, könnte man aus dem noch heute bei uns gebräuchlichen Verfahren des Räu- cherns des Fleiſches ſchließen, welches ja nichts anderes iſt, als eine weiter ent— wickelte Form des Bucanirens. Eine fünfte, bei weitem höhere Form des Bratens, als die am primitiven Spieß, und die deshalb von größter Bedeutung iſt, weil von ihr aus der Uebergang zum eigentlichen Kochen gemacht wurde, iſt die, daß man ein Loch in die Erde grub, das ſelbe z. B. bei den Polyneſiern mit Blät- tern auskleidete, dann das Fleiſch oder die Pflanzenkoſt hineinlegte, die Grube wieder zuſchüttete und nun über derſelben ein Dieſe Art, das Fleiſch in einem Loch in der Erde zu braten, in dem primitiven Erdofen, wie man es be zeichnen könnte, fand ſich (abgeſehen von vielen anderen Völkern) z. B. bei den Gu- anchen der Canariſchen Inſeln und bei den Auſtraliern. Auf Sardinien verfährt man bisweilen ähnlich noch heutigen Tages. der natürlich das Fleiſch oben ſtärker als weiter nach unten gebraten wurde, war dann ſechstens die, daß man in die Grube ſelbſt unter und zwiſchen das durch ein gleichmäßigeres Durchbraten er— zielt wurde. Dieſe Verbeſſerung des „Steinbratens“, wie ich es nennen will, wandten an die Südſee-Inſulaner, die Bewohner von Madagaskar, Süd- und Nordamerikaner, viele Auſtralier und ſogar heute noch oftmals die Beduinen. Daß in Afrika manchmal die Eingebo— renen einen großen Ameiſenbau ausräumen, die Ameiſen tödten und dann die Lehm— wände des Baues durch Feuer glühend heiß machen, um zwiſchen denſelben wie in einem Backofen ihre Rhinozeros— keulen zu braten, iſt nur ein gelegentliches Auskunftsmittel und im Prinzip von dem bisher geſchilderten Verfahren nicht verſchie— den, wie denn auch unſere Backöfen im Prinzip nichts anderes ſind als die beſtän— dig gemachten „primitiven Erdöfen“. Die Entwickelung des Röſtens oder Bratens hat demnach ſechs Stufen durch— laufen: 1) das Röſten in der Aſche; 2) das Röſten am primitiven Bratſpieß; 3) das Bucaniren; 4) das Räuchern; 5) das Bra— ten im Erdofen; 6) das Steinbraten. Bei weitem intereſſanter als dieſe kurz ſtizzirte Geſchichte des Röſtens iſt nun die des eigentlichen Kochens, welche uns nach den verſchiedenſten Seiten hin ungeahnte Perſpectiven eröffnen wird. Wir werden ſehen, wie die Kunſt, in einem Topfe zu kochen, die uns jetzt ſo ſelbſtverſtändlich L Eine Verbeſſerung dieſer Methode, bei | Fleiſch glühend gemachte Steine legte, wo- | Schultze, Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt. erſcheint, erſt das letzte Glied einer längeren Entwickelungsreihe iſt, die langſam und continuirlich, ohne Sprung und Eile, durch kleinſte Unterſchiede hindurch endlich bis zu jener höchſten Form des Kochens im Topfe und damit zur Entwickelung von Induſtrie und Kunſt uns führt. Das Kochen iſt hervorgewachſen aus jener Stufe des Röſtens, die ich das Braten in einem Loch in der Erde nannte. Wir ſahen, wie man zum gleichförmigeren Durchbraten des Fleiſches heiße Steine mit in die Erdgrube legte. Daraus entſtand nun die niedrigſte Art des Kochens, die auf der Erde überall verbreitet geweſen iſt, und die in der Anthropologie den Namen des „Steinkochens“ erhalten hat. Um das Verfahren des Steinkochens deutlich zu machen, will ich den Bericht eines directen Beobachters mittheilen. In Nord-Amerika giebt es einen Indianerſtamm, mit Namen Aſſiniboins. Dieſer Name bedeutet „Steinkocher.“ Catlin hat aus eigener Beobachtung ihr Verfahren folgender- maßen beſchrieben: Man gräbt ein Loch in den Boden. An die Wände desſelben wird ein hinlänglich großes Stück von der friſchen Haut des zu kochenden Thieres an— gedrückt. In dieſe ſo ausgekleidete und nunmehr waſſerdichte Grube gießt man Waſſer und legt das Fleiſch hinein. In einem Feuer daneben werden Steine glühend gemacht und dieſe ſo lange in die Grube geworfen, bis das Waſſer ſiedet und das Fleiſch gekocht iſt. — Das nicht eben reinliche Verfahren iſt nach Catlin „unge— ſchickt und langwierig.“ Als die Aſſiniboins von den Europäern Töpfe kennen lernten, gaben ſie es daher auf, „ausgenommen“, wie Catlin ſagt, „bei öffentlichen Feſten, wo ſie wie andere Glieder der menſchlichen Familie Vergnügen daran zu finden ſcheinen, ihre alten Gebräuche mit Vorliebe zu hegen und zu verewigen.“ Nur bei den Auſtraliern am untern Murray hat man beobachtet, daß fie die Grube, ftatt fie mit der Haut auszukleiden, mit Thon ausſtrichen. Um des Vortheiles einer kurzen Bezeichnung willen nenne ich dieſe unterſte Stufe des Steinkochens Grube.“ Der nächſte Fortſchritt, der gemacht wurde, beſtand in der Einſicht, daß, da ja das eigentliche, das Waſſer haltende Gefäß die Haut in der Grube war, man eine Grube gar nicht mehr zu graben brauchte. Wenn man die Haut zwiſchen vier in den Boden befeſtigten Pfählen muldenartig aufhing und in dieſe Waſſer, Fleiſch und glühende Steine legte, ſo erſparte man ſich die Mühe des Grabens und kam raſcher zum Ziel. Dieſes „Steinkochen in der Haut“ war Brauch unter den Sioux- oder Dacota- Indianern, die den Aſſiniboins nahe verwandt ſind. Sie bedienten ſich zwar, als ſie mit den Europäern zuerſt bekannt wurden, bereits einer um einen Grad höheren Form des Steinkochens, — die wir gleich kennen lernen werden — indes ihre eigene Tradition berichtete, daß ihre Väter das Steinkochen in der Haut ausgeübt hätten. in Aſien bei den Oſtiaken, den Renthier— Koriaken und den alten Schythen dieſes Verfahren urſprünglich im Schwange war, geht aus den weiter unten mitzutheilenden Berichten mit großer Wahrſcheinlichkeit hervor. Die höchſte Form des Steinkochens entſtand folgendermaßen. Die älteſten Ge— fäße, lange vor der Erfindung von Thon— gefäßen, waren die Schalen von kürbis⸗ und melonenartigen Früchten, wie ſie als Kalebaſſen in ganz Afrika noch heute in Gebrauch ſind, dann auch die Schalen von „das Steinkochen in der Daß auch Schultze, Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt. 343 Kokosnüſſen oder ſelbſt von Straußeneiern. Allmählich traten hinzu korbartige Ge— fäße, die aus Wurzeln und biegſamen Zweigen ſo feſt geflochten waren, daß ſie ſogar als waſſerdichte Gefäße dienten. Solche z. B. aus den eng verwebten Wurzeln der Pech— tanne geflochtenen Töpfe fertigten noch vor wenig Jahren viele Indianerſtämme Nord— Amerikas und heutzutage noch die Betſchu— anen und Kafirn Süd-Afrikas. Endlich bereitete man ähnliche Geſchirre aus zu— ſammengenähter Baumrinde in Aſien und Amerika, aus Palmenſpathen in Süd⸗ Amerika, aus geſpaltenem Bambus in Indien und dem indiſchen Archipel, und natürlich überall auch aus Holz, welches man napf— artig aushöhlte. Statt nun in der Erdgrube oder in der Haut des Thieres mit Steinen zu kochen, nahm man die bequemeren und dauerhafteren Holzgefäße und warf in dieſe die glühenden Steine hinein. Dieſe höchſte Art des Steinkochens hat man nun als die verbreitetſte in allen Erdtheilen entdeckt. So an der Weſt-Küſte und in der ganzen Nordhälfte von Nord-Amerika bei Indianern und Eskimos; in Aſien bei den Kamtſchadalen, welche, auch nachdem die Ruſſen ſie bereits mit eiſernen Töpfen bekannt gemacht hatten, noch lange Zeit hindurch das Steinkochen in Holztrögen beibehielten, weil ſie der Anſicht waren, die Speiſen geriethen ſchmack⸗ hafter, wenn ſie nach der alten Weiſe bereitet würden. Auch Neuſeeländer und die Bewohner vieler polyneſiſcher Inſeln wie Tahiti, Anamuka, Huaheine, Mar- queſasinſeln waren Steinkocher. Ja, die Funde, welche man in Frankreich in der Landſchaft Perigord, Departement Dordogne, in der Cro-Magnon-Höhle gemacht hat, laſſen nach Oscar Peſchel vermuthen, daß auch die Bewohner Frankreichs zur Zeit, 344 als noch das Renthier in der Nähe der Pyrenäen ſtreifte, alſo vor vielen Jahrtau— ſenden, Steinkocher dieſer Art waren. Ja, Ueberreſte dieſes uralten Verfahrens fanden fi) ſogar noch in Europa im vorigen Jahr— hundert. So machte Linné während ſeiner berühmten lappländiſchen Reiſe im Jahre 1732 die Bemerkung, daß in Oſt-Bothland „das finniſche Getränk, genannt Lura, wie anderes Bier bereitet, jedoch nicht gekocht wird, denn ſtatt deſſen wirft man glühende Steine hinein.“ In Irland wurden noch um das Jahr 1600 glühende Steine zum Er— wärmen von Milch angewendet. Und Edward Tylor meint, daß die große Menge verkalkter Steine, die man in Europa an den Stätten ehemaliger uralter Wohnſitze findet, möglicherweiſe zum Steinkochen gedient und daher ihren Kalküberzug hätten. Das Steinkochen iſt in allen Fällen eine langwierige Operation. Konnte man denn nicht das Fleiſch mit Waſſer in einem Gefäße unmittelbar über das Feuer ſetzen, wie wir es jetzt thun? Aber man hatte ja noch keine unverbrennbaren Gefäße, weder von Thon, noch gar von tetall. Nun kann aber jeder leicht ein einfaches und lehrreiches Experiment machen. Wir biegen die Ränder eines Kartenblattes aufwärts, gießen Waſſer hinein und halten dies ſo gefüllte Käſtchen über die Flamme eines Lichtes. Die Flamme umzüngelt das Kartenblatt; ſchnell beginnt das Waſſer zu ſieden, ohne daß das papierne Keſſelchen verbrennt. Wir nehmen ein Stückchen Leder und verfahren mit ihm in gleicher Weiſe: Der Verſuch gelingt auch da — endlich kochen wir ſogar in einer Schachtel aus dünnem Holz. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß dieſe Gefäße wenig dauerhaft ſind, aber bis zu einem gewiſſen Grade, vorzüglich wenn man ſie nicht unmittelbar Schultze, Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt. der Flamme, ſondern nur der Hitze derſelben oder der Gluth von Kohlen ausſetzt, ſind ſie doch haltbar. Nun, der erſte Fortſchritt, den der Menſch vom Steinkochen aus machte, war der, daß er ſeine Gefäße unmittelbar über oder an das Feuer ſetzte. Dieſe Gefäße waren aber bisher nur die zum Gtein- kochen benutzten, alſo keine andren als die muldenförmig aufgehängte Haut des Thieres und hölzerne Gefäße. Daß ich Ihnen kein Märchen erzähle, werden die Berichte beweiſen. Von den Bewohnern der Heb— riden erzählt George Buchanan im Jahre 1528: „In Nahrung, Kleidung und allen häuslichen Dingen beobachten ſie die Sparſamkeit der alten Zeit. Jagd und Fiſcherei verſorgt ſie mit Fleiſch. Das Fleiſch kochen ſie mit Waſſer im Wanſte oder in der Haut des geſchlachteten Thieres; auf der Jagd eſſen ſie es bis— weilen roh, nachdem das Blut ausgepreßt iſt.“ Die Oſtiaken Sibiriens kochten das Blut in dem Wanſte des Thieres; daſſelbe thaten die Renthier-Koriaken, und Herodot erzählte uns von den Scythen, daß fie, wenn ſie keinen geeigneten Keſſel hatten, das Fleiſch des geopferten Thieres in deſſen eigenem Wanſte zu kochen pflegten. Von denſelben Oſtiaken, die wir ſoeben als Hautkocher kennen gelernt haben, erzählt der holländiſche Gefandte YJsbraud Ides im Jahre 1710: daß er unter ihnen Keſſel von zuſammengenähter Rinde geſehen habe, „worin ſie über den glühenden Kohlen, jedoch nicht in der Flamme des Feuers, Speiſen kochen können.“ Madenzie erzählt von einem, in der Nähe des Felſengebirgs am Unijah oder Friedensfluße wohnenden Indianerſtamm, daß ſie zum Steinkochen Körbe gebraucht hätten, geflochten aus den Wurzeln der Pechtanne, — „doch hatten no * Schultze, ſie auch Keſſel, aus Tannenrinde gefertigt, die ſie über das Feuer hingen, jedoch in einer ſolchen Entfernung, daß ſie die Hitze empfingen, ohne von den Flammen erreicht zu werden. Eine ſehr langweilige Operation,“ fügt Mackenzie hinzu. So werden noch heute in Süd-Amerika Speiſen in Palmenſpathen gekocht; die Bewohner von Sumatra und die Stiens von Combodja kochen ihren Reis in geſpaltenen Bambusſtücken; auf den Radakinſeln kocht man in Kokosſchalen und ebenſo auf Tahiti, nach Cool's Bericht. Dieſe Holzgefäße waren natürlich nicht feuerfeſt. Wie konnte man ſie vor dem zu leichten Verbrennen bewahren? Dieſe Frage trieb nun zu einem Fortſchritt, zwar einfach in ſeiner Art und ſehr nahe liegend, wie wir denken möchten, und doch gewaltig und großartig in ſeinen Folgen. Wenn man die korbartigen und die Holzgefäße ringsum mit Thon beſtrich, ſo wurden ſie ja durch dieſen Ueberzug gegen den verzehrenden Einfluß der Flamme geſchützt, und eben dieſe kleine Verbeſſerung, die nun ſchnell zu einer neuen, bisher unbekannten Kunſt führen ſollte, brachte man an. Im Jahre 1503 ſegelte Capitain Gonneville von Honfleur ab, er landete an einer ſüdatlan— tiſchen Küſte, wahrſcheinlich in Braſilien. Dort fand er ein freundliches Volk fe: | von Jagd, Fiſcherei und ein wenig Ackerbau lebte; er beſchreibt ihre Mäntel aus Matten und Häuten, ſchildert ihr Federwerk, ihre Bogen und Pfeile, ihre Betten von Matten, ihre Dörfer von 30—80 aus Pfählen und Flechtwerk gebauten Hütten u. ſ. w. Dann ſagt er: „Ihre Hausgeräthe ſind von Holz, ſelbſt ihre Kochtöpfe, aber einen guten Finger ſtark mit einer Art Thon bedeckt, welcher das Feuer verhindert, ſie zu verbrennen.“ Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt. 345 Daß wir nun in dieſem Beweis nicht eine bloß vereinzelte Thatſache, ſondern einen Hinweis auf den urſprünglichen Zuſtand überhaupt beſitzen, haben die ſonſtigen anthropologiſchen Forſchungen über die Eutſtehung der Töpferei bewieſen. Goguet war wohl der erſte, der im vorigen Jahr— hundert die Anſicht aufſtellte, man ſei zur Töpferei gelangt, indem man jene verbrenn— lichen Gefäße, um ſie zu ſchützen, mit Thon beſtrich, bis man fand, daß ja der Thon allein genüge, und man nun die Gefäße bloß aus Thon formte. Dieſe Anſicht wurde beſtätigt durch die Unter— ſuchungen, welche der Reihe nach Price, Squierund Davis, PrinzMaximilian von Neuwied, Klemm und Carl Rau anſtellten, wobei es ſich ergab, daß auf der erſten Stufe der Töpferei, wie ſie auf den Fidſchi-Inſeln, bei den fortgeſchritteneren Indianern Nord-Amerikas und anderwärts— noch in hiſtoriſcher Zeit beſtand, die Geſchirre weder aus freier Hand, noch gar mit der Töpferſcheibe hergeſtellt wurden, ſondern daß man den Thon über die Außenſeite von Fruchtſchalen und von geflochtenen Körben formte, oder auch die Innenſeite dieſer Schalen und Körbe mit Thon ausſtrich, und dann dieſelben entweder zuerſt an der Sonne trocknete und darauf in's Feuer ſetzte oder auch ſie gleich in's Feuer ſetzte. In beiden Fällen verbrannten dann die Schalen und Holztheile, alſo das eigentliche Modell, während das bloße Thongeſchirr blieb — und an dieſem blieben natürlich die Eindrücke des Flechtwerks der Korbmodelle, die nun als eine regelmäßige Ornamentik das Thongefäß umgaben. Als man ſpäter die Korbmodelle nicht mehr gebrauchte, ſondern bereits aus freier Hand formte, ahmte man gleichwohl noch die alte Flechtwerk-Ornamentik nach, indem man 346 Schultze, Die Entſtehungsgeſchichte der Kochkunſt. flechtwerkartige Reihen von Nägeleindrücken alles ſich Entwickelnde auch der menſchliche an der Außenſeite des Gefäßes eingrub. So erklärt ſich das häufige Vorkommen dieſer flechtwerkartigen Zierrathe auf den älteſten Urnen und Geſchirren. French hat, indem er das angegebene Verfahren einſchlug, ſowohl Geſchirre als die Orna— mentik davon ganz den alten Geſchirren und ihren Ornamenten ähnlich hergeſtellt. Die Entwickelung war alſo dieſe: Von bloßen verbrennlichen Fruchtſchalen und Holzgefäßen kam man zu Holzgefäßen mit Thon überzogen — dann zu bloßen Thon— gefäßen. Dieſe wurden zuerſt über Modelle geformt, ſpäter aus freier Hand gebildet, bis endlich durch die Erfindung der Töpfer— ſcheibe ein Werkzeug gewonnen wurde, das nun die Herſtellung der vollendetſten Gefäße ermöglichte. Um nun auf die Kochkunſt zurückzu- kommen, ſo durchlief dieſe demnach die folgenden ſechs Stufen: Der Uebergang vom Braten zum Kochen wurde gebildet durch das „Braten mit heißen Steinen in der Erdgrube.“ Die erſte Stufe des Kochens war dann „das Steinkochen in der mit der Haut des Thieres ausgekleideten Grube.“ Die zweite Stufe war: „Das Stein— kochen in der Haut allein.“ Die dritte Stufe: „Das Steinkochen in geflochtenen oder gehöhlten Holzgefäßen.“ Die vierte: „Das Kochen ohne Steine unmittelbar über oder an dem Feuer in der Haut oder in Holzgefäßen.“ Die fünfte: „Das Kochen in den mit Thon beſtrichenen Holz— gefäßen.“ Die ſechſte Stufe: „Das Kochen in bloßen Thongefäßen,“ an die fi viel ſpäter dann die Metallgefäße anſchließen. Wenn die Ihnen vorgeführte Ent— wickelung ſchon pſychologiſch intereſſant iſt, inſofern ſie das Geſetz beſtätigt, daß, wie Bedürfniß des Lebens dienten. Geiſt ganz langſam und allmählig, aus den kleinſten Anfängen heraus, ganz ohne jähe Sprünge ſich entfaltet, ſtets anknüpfend an das Vorhergehende, zur Zeit immer nur ein wenig durch kleinſte Unterſchiede hindurch fortſchreitend, und daß ſo aus dem kleinen Keime zuletzt jenes wunder— bare Geiſtesweſen bis zum Genius hin ſich erhebt, ſo erweckt doch dieſe Entwickelung noch mehr Intereſſe, wenn wir den weitern Verlauf und die ſecundären Folgen derſelben einmal raſch beleuchten. Der Ausgangspunkt der ganzen ee wickelung des Kochens war das Loch in der Erde, in dem man zuerſt nur briet, dann mit Steinen briet, zuletzt mit Steinen kochte. Das Ende der Reihe iſt das erſte fertige Töpfergeſchirr. Aber dieſes erſte Töpfergeſchirr iſt wieder nur der Anfang einer anderen gewaltigen Reihe. Aus dem erſten rohen Topfe wurden allmählig feinere Gefäße, Schalen, Urnen bis hin zu jenen prächtigen Vaſenformen, die das Alterthum auf der Höhe ſeiner Kunſtentwickelung hervorbrachte und die Neuzeit mit Geſchick nachbildet. Zuerſt formte man den Thon nur zu Gefäßen, die dem unmittelbaren Aber in dieſer Arbeit um das tägliche Brot wurde die Hand allmählig geſchickter, das Auge geübter. Man ſah der Natur neue Formen ab, man begnügte ſich nicht mehr nur Töpfe zu formen, man bildete aus dem Thon nun auch Geſtalten von Thieren und Menſchen. Und ſo ſehen wir zuletzt aus dem Töpfer den Thonmodelleur, aus ihm den Bildhauer werden, der uns endlich jene wonnigen Göttergeſtalten hervorzaubert, vor denen wir noch jetzt mit andächtiger Be— wunderung als vor unerreichbaren Meiſter— werken der Kunſt uns beugen. Es iſt kein wurde ihm die Haut abgezogen. Schultze, Die Entſtehungsge Paradoxon, es iſt eine Thatſache: Einer der Ausgangspunkte für die Entſtehung der höchſten Formen der plaſtiſchen Kunſt, abgeſehen natürlich von allen anderen, iſt jenes „Loch in der Erde.“ So hat die Kochkunſt nicht bloß den phyſiſchen Hunger geſtillt, ſondern auch mitgeholfen an der Befriedigung der aeſthetiſchen Bedürfniſſe des Menſchen. Aber noch eine andere Perſpective können wir in dieſer Hinſicht eröffnen. Bei der Zubereitung eines Thieres zum Kochen Wenn man nun dieſe Haut wieder in der Weiſe zuſammenlegt, wie ſie den Körper des Thieres bekleidet und ſie mit irgend einem Stoff z. B. Moos ausfüllt, in der Art, wie unſere Thierausſtopfer verfahren, ſo ſtellt ſich die Geſtalt des Thieres wieder her. Wenn man nun die Haut des Thieres auf dem Boden ausbreitet und ein Stück dünnes, biegſames blechartiges Metall, etwa Gold— blech, genau nach den Umriſſen dieſer Thier— haut zuſchneidet und darauf dieſes Blech ſo zuſammenlegt wie vorher die Haut beim Ausſtopfen, ſo erhält man natürlich in Blech nachgebildet die Geſtalt des Thieres wieder, die ſich auch ohne durch die Elaſticität des Metalls in pla— ſtiſcher Wölbung erhält. Daß es nun eine Stufe der Kunſt gegeben hat, wo man nach dem Modell der Thierhaut die Thier geſtalten bildete, bewieſen die ganz ohne Zweifel auf die beſchriebene Art herge— ſtellten, noch vorhandenen rohen Thiernach- bildungen, wie z. B. das germaniſche Mu— ſeum in Jena eine aufbewahrt. noch einen Einblick in die Entſtehung eines Zweiges der plaſtiſchen Kunſt. Ob man etwa auch den Fortſchritt machte, die er— haltene hohle, blecherne Form zum Eingießen Füllung können wir alſo auch ſie als wahrhaft So ge | währen uns die Manipulationen der Küche flüſſigen Metalls und alſo zur Herſtellung ſolider, gegoſſener Thiergeſtalten zu be— nutzen, iſt mir nicht bekannt, iſt aber an ſich nicht unwahrſcheinlich. Ein anderes: Unſer modernes Leben in der Eigenthümlichkeit, die es von dem aller vorhergehender Zeiten unterſcheidet, baſirt auf unſerer wunderbaren Induſtrie und dem ſtaunenerregenden Handels- und Verkehrsweſen. Dieſer ganze großartige Aufſchwung iſt aber erſt entſtanden durch die Erfindung der Dampfmaſchine und des Dampfkeſſels, und dieſe Erfindung führt die Sage zurück auf einen Kochtopf, deſſen hüpfender Deckel jenen erſten Erfinder auf den Gedanken brachte, die Kraft des Dampfes zu techniſchen Zwecken zu ver— werthen. Ein Kochtopf war es, der die Welt völlig veränderte, iſt doch auch der heutige Dampfkeſſel nichts anderes als ein großer Kochtopf. topf, wiſſen wir, führt ſeinen Urſprung zurück auf jene primitive Kochgrube im Boden, ſodaß wir in etwas paradoxer Redewendung ſagen könnten, „jenes Loch in der Erde“ ſei einer der Keimpunkte unſerer Induſtrie und unſeres modernen Lebens. Wie vorhin die plaſtiſche Kunſt, Erdgeborne betrachten. Daſſelbe Schlaglicht ſehen wir auf die Chemie fallen. Die Retorte, dieſes Univerſal— inſtrument des Chemikers, iſt auch nur ein Abkömmling des Kochtopfes, welchen der Alchemiſt, „Der in Geſellſchaft von Adepten Sich in die ſchwarze Küche ſchloß,“ allmählich zu der heutigen Retortenform umbildete. Und ſo kann auch die Chemie ihr Autochthonenthum nicht leugnen. Ja, ſelbſt die Muſik hat der Küche etwas zu verdanken. Ich meine nicht die Aber dieſer Koch- 5 348 lieblichen Weiſen, die der ſiedende Keſſel ſummt, und die ſo reizend von Dickens in ſeinem herzigen „Heimchen am Heerd“ beſchrieben ſind, — es iſt ein roherer Klang, ein roheres Inſtrument, das der Küche entnommen und heute der Muſik unent— behrlich geworden iſt, ich meine die Trommel. In der That iſt die Trommel urſprünglich nichts geweſen als ein Holzgefäß, mit einer Thierhaut überſpannt. Beweis dafür die noch heute in Afrika gebräuchlichen trommel— artigen Lärminſtrumente bei Eskimos und vielen Indianern. der Keſſelpauken, ihren plebejiſchen Urſprung hin. Die Wiſſenſchaft hat uns gelehrt, daß wunderbaren Formen entſtehen, Organismen nennen, und deren complicirtes Der Unkundige entdeckt zwar einem entwickelten Organismus vorlegt. zwiſchen er findet es wohl gar unglaubhaft, daß jene complicirten Gebilde aus mikrofkopi— ſchen Körperchen erwachſen ſein ſollen. Aber Schultze, Die Entſtehungs Ja, der Name der höchſten Ariſtokratie in der Trommelwelt, deutet noch heute auf aus einfachen Zellen heraus allmählig jene die wir Weſen dem Forſcher ſtets neue Probleme und der einfachen Zelle keine Aehnlichkeit; geſchichte der Kochkunſt. der kundige Forſcher zeigt ihm Stufe für Stufe der Umbildung und ſtellt ſomit den Zuſammenhang zwiſchen der einfachſten Geſtalt der Zelle und dem verwickelten Organenkomplex als eine unleugbare That- ſache feſt. Jenes „Loch in der Erde“ iſt auch eine ſolche einfache Zelle. Wir haben die Entwickelung derſelben verfolgt, und wenn es auch unſere Bewunderung erregt, ſo wird es uns nun doch nicht mehr Wun— der nehmen, daß großartige Culturgebilde einen ihrer Keimpunkte, abgeſehen natür- lich von vielen anderen Keimpunkten, in jener einfachen Zelle haben, welche der Menſch in Urzeiten zur Stillung ſeines Hungers in die Erde grub, und die ſeine erſte Küche bildete. Unter dem forſchenden und keine Er— ſcheinung gering achtenden Blicke der mo— dernen Anthropologie wirft die Kochkunſt ihr von Rauch und Ruß geſchwärztes Aſchenbrödelgewand plötzlich ab, und phönix— artig hebt ſie ſich zu einer mächtigen Königin empor. Wer wollte aber einer Königin den Zutritt in den Tempel der Wiſſenſchaft verſagen?! — Kleinere Mittheilungen. Die Lücken der Kant'ſchen Weltbildungs-Theorie. * | ieſe Theorie zeigt, wie Freiherr du rel im vorigen Hefte nachwies, eine Reihe weſentlicher Lücken, von denen keine ſo empfindlich erſcheint, als die Ungewißheit, durch welche Kraft der erſte Anſtoß zur Rotation der einzelnen Syſteme hervorgebracht ſein könnte. Der Referent hatte ſeine Meinung ſchon früher dahin ausge— ſprochen, daß dieſe Kraft in einem durch die Anziehungskraft hervorgerufenen excen— triſchen Stoße geſucht werden müſſe, und freut ſich, eine ausführliche Begründung dieſer Meinung in einer Abhandlung zu finden, die von Mr. Jacob Ennis im Philosophical Magazine (Vol. III. Nr. 18. April 1877) veröffentlicht worden iſt, und von der wir im Folgenden einen kurzen Auszug geben. Durch Zuſammenziehung des in dem un— endlichen Raume vertheilt geweſenen gas— förmigen Weltſtoffes mußte eine unendliche Anzahl getrennter, nebelförmiger Maſſen ſich bilden und, ähnlich den Wolken in unſerer Atmoſphäre, mußten ſie von ungleicher Größe und Geſtalt ausfallen, und ſich in unregel— mäßigen Entfernungen von einander befin— den, wie dies ſchon Newton erörtert hat. Durch die Wirkung der Gravitation werden ſodann diejenigen, welche einander nahe waren, in einander gefallen ſein, bis die entſtandenen Maſſen ſoweit von einander entfernt wa— ren, daß ſie außerhalb der Grenzen merk— licher Gravitation gegen einander lagen. So lange aber ein Nebel in einen andern fiel, konnte er niemals in der Richtung des Gravitationscentrums fallen, weil er ſich gleichzeitig unter dem Einfluſſe anderer benachbarter Nebel befand, welche ihn von. der direkten Richtung abzogen, und Vverur- ſachten, daß er ſchräge auffiel. Wenn wir eine ſchwebende Kugel in der Richtung des Mittelpunktes anſchlagen, ſo fliegt ſie ge— radeaus vorwärts, wenn wir ſie aber ſchräg anſchlagen, dann wird ſie ſich drehen. Ein ähnlicher Effekt muß durch das ſchräge Gegeneinanderfallen der Nebel entſtehen, nur daß die Drehung ſich hier nicht ſo— gleich der ganzen Maſſe gleichmäßig mit— theilen, ſondern vielleicht ſehr langſam von außen nach innen dringen wird, ſo daß erſt ſehr ſpät dieſe Anfangsbewegung auf die geſammte Maſſe vertheilt und natürlich ent— ſprechend verlangjamt werden wird. Wie langſam aber auch dieſe Rotation dadurch geworden ſein mag, daß ſie auf die geſammte Maſſe übergegangen iſt, durch die Gravitationskraft wird ihre Geſchwin— digkeit wieder beſchleunigt werden, bis an der Aequatorialzone die Centrifugalkraft Kleinere Mittheilungen. der centripetalen gleich geworden. Bei der Zuſammenziehung der langſam rotirenden Nebelkugel wird nämlich jedes Oberflächen— theilchen ſich in der Richtung einer geneig— ten Ebene bewegen, und die Gravitation wird ſeine Bewegung beſchleunigen. Die Zunahme der Geſchwindigkeit für jeden einzelnen Punkt der Oberfläche iſt gleich der, welche er bei einem direkten Fall von dem früheren Abſtande vom Mittelpunkte zu dem neuen Abſtande erreichen würde. Wenn z. B. von der Drehungsgeſchwindigkeit unſres Sonnennebels, als er ſich noch bis zur Neptunsbahn erſtreckte, ausgegangen wird, Geſchwindigkeitsvermehrung, ſo wird die welche durch die Zuſammenziehung bis zur Uranusbahn erzielt wird, dieſelbe ſein, wie die, welche durch einen direkten Fall durch den zwiſchen dieſen beiden Bahnen befindlichen Raum erzeugt werden würde. Die Rechnung ergiebt, daß die reſpektiven Geſchwindigkeiten des Neptun und Uranus ziemlich genau in dieſem Verhältniſſe ſtehen, nur iſt die des letzteren etwas geringer, weil beſtändig ein Theil der äußeren Ge— ſchwindigkeit durch Reibung gegen die lang— ſamer rotirende innere Maſſe ging. Man findet daß dieſe Beſchleunigung groß genug iſt, und ſogar mehr als ausreichend, um in dem äußern Theile einer Nebelmaſſe eine ſolche Rotationsgeſchwindigkeit zu erzeugen, daß die Centrifugalkraft der centripetalen gleich wird, ſodaß ſich Nebelringe von der Aequatorialzone loslöſen. Indeſſen wird dieſe Beſchleunigung immer mehr durch die Reibung gegen die innere Maſſe verzehrt, je mehr man ſich dem nicht rotirenden Centrum der ganzen Maſſe nähert. Daher kommt es, daß die Sonne, deren Aequa— torialgeſchwindigkeit,, als fie ſich noch bis ferner durch Rechnung, | verloren Mondringe abgeſchleudert haben; zur Merkursbahn erſtreckte, 110000 engl. Meilen pro Stunde betrug, jetzt nur noch 4500 Meilen beträgt, und es erklärt ſich ferner dadurch leicht, weshalb kein neuer Planetenring innerhalb der Merkursbahn abgeſchleudert worden ſein kann. Dieſe dem urſprünglichen Zuſtande entſprechende Ruhe im Innern der Nebelmaſſen bildet, wie man ſieht, ein wichtiges Moment dieſer nach vielen Richtungen fruchtbaren Vertiefung der Nebeltheorie. Da die Theile des abgelöſten planeta— riſchen Ringes eine ungleiche Geſchwindig— keit beſitzen, ſo erklärt ſich wohl im All— gemeinen, wie durch die Zuſammenziehung derſelben zu einer Kugel eine Rotation der geſchwinder bewegten Theile um die langſame— ren, alſo des Weltkörpers um ſich ſelbſt, ent— ſtehen mußte, aber der Umſtand, daß aus jedem Ringe nur ein Planet entſtand, ſcheint noch nicht hinreichend erklärt zu ſein. Sehr wohl aber erklärt ſich aus die ſer Theorie, weshalb nur die größeren Planeten zum Theil in häufiger Wiederholung die Ne⸗ belmaſſe der Erde reichte gerade noch aus, um durch ihre eigene Zuſammenziehung die dazu nöthige Aequatorialgeſchwindigkeit zu erzeugen; bei Mars, Venus und Merkur fand dieſer Prozeß nicht mehr ſtatt, weil die Maſſe nicht hinreichend groß genug war. Die Venus iſt zwar nur etwa um die Mondmaſſe kleiner, als die Erde war, da der Mond ihr noch zugehörte, aber dieſer Unterſchied reichte gerade aus, um uns den Mond zu geben, der ihr fehlt. Am Schluſſe ſeiner Abhandlung ſtellt Jacob Ennis noch folgende, für die Kos— mogenie im weiteren Sinne wichtige Sätze auf. 5 1. Ein ſehr ausgedehnter Nebel, deſſen urſprüngliche Rotation ſeine ganze e Maſſe durchdringt, kann eine Centrifugal— kraft erlangen, um faſt alle ſeine Materien weit ab von ſeinem Centrum zurückzulaſſen; und wie die Contraktion fortſchreitet, werden ſeine Ringe zerbrechen, und ſich zu Sternen kondenſiren, die ein ringförmiges Syſtem bilden, ähnlich dem in der Leyer, oder ähnlich unſerem eigenen Fixſternſyſtem, deſſen Sterne hauptſächlich in dem Milchſtraßen— ringe liegen. 2. Ein Nebel mit einem anfänglich geringeren Rotationswerthe in ſeinem Innern wird ſeine hauptſächlichſten Maſſen nicht ſo weit vom Centrum zurücklaſſen. Aber es konnte dann eine gleichmäßigere Vertheilung vom Mittelpunkte zum Um— fange ſtattfinden, und ein Sternſyſtem ent— ſtehen, welches aus großer Entfernung als ſogenannter planetariſcher Nebel erſcheint. 3. Ein Nebel mit einer noch geringe- ren Größe urſprünglicher Rotation in ſei— nem Innern wird eine noch geringere Maſſe ſeiner Subſtanz an der Peripherie, eine größere Menge hingegen in der Nähe des Centrums zurücklaſſen, und wird ein Sternſyſtem mit ſehr vielen, gegen das Cen- trum dichter ſtehenden Sternen bilden. Wird ein ſolches Syſtem ſchräge von uns | geſehen, jo wird es ein „elliptiſcher Nebel“ genannt. 4. Ein Nebel mit einer nur ſeichten Oberflächen-Rotation im Anfange wird den | größten Theil feiner Maſſe in einem gro— ßen Centralkörper ſammeln. Seine zurück— gelaſſenen Ringe können zwar Millionen von Sternen bilden; aber aus ſehr großer Entfernung werden ſie als Nebelmaſſe rings um einen großen Centralkörper er— ſcheinen. Ein ſolches Sternſyſtem werden wir einen „Nebelſtern“ nennen. Nicht alle Sternſyſteme, die durch die Wirkung der Gravitation auf langſam ſich Kleinere Mittheilungen. 351 Nebelmaſſen zuſammenziehende wurden, brauchen regelmäßige runde oder gebildet elliptiſche Formen zu haben. So kön— nen Millionen von einzelnen Sonnen um ihr gemeinſames Gravitationscentrum krei— ſen, aber unregelmäßig liegen, gerade ſo wie unſer Sonneuſyſtem aus der Entfer— nung als ein ſehr unregelmäßiger Stern— haufen erſcheinen muß. Zum Schluſſe er— klärt ſich Ennis als Anhänger der Lockyer'ſchen Hypotheſe, nach welcher die urſprünglichen Nebel für ungeheure chemiſche Laboratorien angeſehen werden müſſen, in denen ſich die Modifikationen der Materie, die wir als die ſogenannten Elemente be— trachten, erſt bilden. Ein neues Schnabelthier auf Neu-Guinea. Die bisher aus nur drei Vertretern gebildete Klaſſe der niederſten Säugethiere iſt durch die Ermittlung einer neuen, auf Neu⸗Guinea vorkommenden Art durch Herrn Bruijn auf der Inſel Ternate um ein Haupt vermehrt worden. Herr Bruijn hat zwar das Thier weder lebend, noch todt geſehen, aber ſeine Sammler haben von den Gebirgs-Papua's zwei Schädel er— halten, von denen dem einen noch Reſte verrotteten Fleiſches anhafteten, zum Be— weiſe, daß das Thier nicht etwa bereits ausgerottet iſt. Auch verſicherten die Ein— gebornen, daß das hundegroße, rauhhaarige Thier in den Höhlen der Arfak-Berge nicht ſelten ſei, und von ihnen ſeines Fleiſches wegen zuweilen gejagt werde. Auf Grund des freilich etwas defekten und der untern Kinnlade entbehrenden Schädels, deſſen Ab— bildung wir nachfolgend derjenigen des auſtra— „% wer Kleinere Mittheilungen. . . >> Schädel des auſtraliſchen Landſchnabelthieres. liſchen Landſchnabelthieres gegenüberſtellen, Thieres mit den neuholländiſchen Landſchnabel— haben Dr. W. Peters und Marquis G. thieren feſtgeſtellt, daſſelbe aber wegen der Doria in Genua die Verwandtſchaft des ſchon bei oberflächlicher Vergleichung hervor— Kleinere Mittheilungen. 303 tretenden Abweichungen als beſondre Art | unterſchieden und Tachyglossus (Echidna) Bruijnii getauft: Sie verwerfen nämlich den Namen Echidna, weil derſelbe bereits 1778 von Foſter einer Fiſchgattung bei— gelegt worden war. Die wiſſenſchaftliche Beſchreibung iſt im neunten Bande der Annalen des ſtädtiſchen naturhiſtoriſchen Muſeums von Genua enthalten. Die Ent— deckung iſt nicht allein für die vergleichende Anatomie von hohem Intereſſe, ſofern es ſich um ein neues Glied der ſo ſehr dezi— mirten Thiergruppe handelt, welche Reptile, Vögel und Säugethiere mit einander zu verknüpfen ſcheint und möglicherweiſe be— merkenswerthe Aufſchlüſſe für die Trans— mutations⸗Theorie liefern kann, ſondern noch ganz beſonders für die Thiergeographie. Von den drei bisher bekannten Kloaken— thieren lebt das Waſſerſchnabelthier im Südoſten Auſtraliens, das langſtachlige Landſchnabelthier ebendaſelbſt und das kurz— ſtachlige auf Vandiemensland. Während alſo aus dem Innern, dem Norden und Weſten Auſtraliens kein hierher gehöriges Thier bekannt geworden iſt, ſchließt ſich dreißig bis vierzig Grade nach Norden den ſüdlichen Arten eine nördliche an und er— weckt Hoffnungen, daß auf dem großen Zwiſchengebiete in Zukunft noch ein oder das andere Mitglied des zuſammenge— ſchmolzenen Uebergangsſtammes anzutreffen ſein möchte. Außerdem iſt obiger Fund ein weiterer eklatanter Beweis für die Richtigkeit der Auffaſſung, die Auſtra— lien mit Neu-Guinea und den benachbarten kleineren Inſeln längſt als ein beſondres zoologifches Reich betrachtet hatte, welches ſich merkwürdig ſcharf gegen das der (zum Theil ſehr nahen) Sunda⸗Inſeln abgrenzt. Die Grannen von Ariſtida. Das Hochland der Provinz Santa Catharina iſt reich an Gräſern mit dreh— baren Grannen. Auf zwei Ausflügen da— hin, im Vorſommer (November, December) des vorigen und im Nachſommer (Februar, 65 März) dieſes Jahres habe ich gegen zwan— zig Arten ſolcher Gräſer geſehen. Indem die Grannen je nach der wachſenden oder abnehmenden Feuchtigkeit der Luft ſich rechts oder links drehen, bohren ſich die unten mit harter, ſcharfer Spitze und einem ſchief aufwärts gerichteten Barte ſteifer Haare verſehenen Aehrchen in den Boden ein, wie es Francis Darwin vor kurzem bei Stipa ausführlich beſchrieben hat (Trans. Linn. soc. vol. I. part. 3. p. 149. 1876). — Unter dieſen Gräſern unſeres Hochlandes finden ſich auch mehrere Arten der Gattung Aristida, bei wel- chen die das Einbohren in die Erde ver— | mittelnden Einrichtungen den höchſten Grad der Vollkommenheit erreichen. Es iſt näm— lich bei ihnen die Granne mehr oder we— niger tief, bisweilen faſt in ganzer Länge, in drei Aeſte geſpalten, die ſich beim Trock⸗ nen ziemlich wagerecht ausbreiten (den Sa— men ſenkrecht ſtehend gedacht). So kann das trocken zu Boden fallende Aehrchen niemals flach auf denſelben zu liegen kom— men, was natürlich das Einbohren erleich- tert. Je länger im Verhältniß zur Frucht und zum ungeſpaltenen Theile der Granne deren Aeſte ſind, um ſo ſteiler wird ſich daſſelbe ſtellen müſſen; faſt ſenkrecht ſteht es bei einer Art, deren Grannenäſte etwa Spannenlänge (0,2 M.) erreichen. Man hat oft Gelegenheit, die in den Boden einge— bohrten Früchte dieſer Art zu ſehen. Am 7. März kam ich auf der nordwärts nach der Provinz Parana führenden Straße in 354 Kleinere Mittheilungen. der Nähe des Rio das Pedras an einen kahlen, dürren Abhang, der faſt ausſchließ— lich mit dieſer Aristida bewachſen war. In Folge anhaltender Dürre war der Boden ungewöhnlich hart und ſeit Monaten nicht von Regen benetzt worden, und doch war — ein ganz eigenthümlicher Anblick — die Erde zwiſchen den Grasbüſchen wie beſät mit eingebohrten Früchten, die alleſammt ſenk— recht ſtanden und die langen Grannenäſte wagerecht ausbreiteten. Hier und da ſproß— ten ſchon die jungen, grünen Grasblättchen an der Seite der Grannen hervor. Auf der Erde liegend würden an ähnlichen Stellen bei trockenem Wetter die Samen nie keimen können, während der Thau der Nacht genügt, ſie in die zum Keimen hin— reichende Feuchtigkeit bietende Erde einzu— ſenken. Unſerem feuchten Küſtengebiete ſcheinen Samen mit Drehgrannen ganz zu fehlen. Dagegen iſt wohl die ganze Gat— tung Stipa vorzugsweiſe in übertrockenen Gegenden und an übertrockenen Standorten heimiſch. Merkwürdig iſt es, daß eine der Ari— ſtida-Arten die hochentwickelten Formen zum Einbohren der Früchte wieder verloren und ſich in ganz eigenartiger Weiſe der Ver— breitung durch den Wind angepaßt hat. Der dünne Halm dieſes Graſes wird etwa ſpannenhoch und trägt vom erſten Drittel ſeiner Höhe ab paarweiſe geſtellte, in ver— ſchiedenen Richtungen ſich ausſpreizende, gegen 0,1 M. lange, haardünne Aeſte, welche ihrerſeits in gewöhnlich zwei bis drei Zweige ſich theilen. Jeder Zweig trägt ein dünnes Aehrchen, das Aehrchen gegen 12 Millim. lang, eine ungefähr gleich lange, ungedrehte, gerade Granne mit ſeitlichen, nur etwa ein Viertel dieſer Länge erreichenden Aeſten, die mit dem mittleren Aſte einen ganz ſpitzen Winkel von nur wenigen Graden bilden. Im Ganzen ſind etwa ſechs Hauptäſte des Halmes und 24 bis 30 Aehrchen vorhanden. Zur Zeit der Reife fällt nun der ganze Halm ab und wird vom Winde über die Grasfluren (Campos) hingetrieben. In Fußpfaden fand ich hier und da völlige Heuſchichten dieſer ſparrig veräſtelten Ariſtida-Halme zu⸗ ſammengeweht. Die Aehrchen ſcheinen ſich nie von den Halmen zu löſen. Bricht man fie ab, jo ſieht man noch die für bohrende Samen ſo bezeichnende Spitze mit dem Barte ſchief aufwärts gerichteter Haare, als Beweis, daß die Vorfahren auch dieſer Ariſtida einſt das Vermögen ſich einzubohren beſaßen. Itajahy, April 1877. Fritz Müller. Ueber den Mutzen der Blattdrüfen für die Pflanzen hat Herr Francis Darwin in jüng⸗ ſter Zeit in verſchiedenen engliſchen Jour⸗ nalen eine Reihe intereſſanter Studien und Betrachtungen veröffentlicht, aus denen wir zuſammenfaſſend das Folgende entnehmen. Durch die Unterſuchungen ſeines Vaters über inſektenfreſſende Pflanzen auf dieſes noch viele Ausbeute verſprechende Feld ge— lenkt, hatte es ſein Erſtaunen erregt, daß der Adlerfarn (Pteris aquilina), der in England äußerſt wenig Feinde zu beſitzen ſcheint, an der Baſis ſeiner jungen Wedel reichlich mit Honig ausſondernden Drüſen beſetzt iſt, welche Ameiſen, insbeſondere Myrmica-Arten, anlocken, ohne daß dadurch irgend ein Vortheil für das Gewächs er— reicht zu werden ſcheint.?) Der Nutzen, ) Linnean Society's Journal Bd. XV. Kleinere Mittheilungen. einer ſolchen Einrichtung kann indeſſen oft ſehr verſteckt ſein, wie das klaſſiſche, von Obriſt Newmann aufgeſtellte Beiſpiel des Nutzens der Hauskatze für das Samen— tragen des rothen Klees (durch Vertilgung der Feldmäuſe als Hauptfeinde der die Befruchtung vermittelnden Hummeln) be— weiſt. In der That theilte Dr. Fritz Müller dem Genannten hinſichtlich des auch in Brafilten einheimiſchen Adlerfarns mit, daß die Honigausſchwitzungen deſſel— ben ohne Zweifel dazu dienen, die jungen Wedel vor den Angriffen einer blattzer— freſſenden Ameiſe (Oecodoma) zu ſchützen, wie etwas Aehnliches bei der Paſſions— blume, der Luffa und vielen anderen Pflan zen nach den Beobachtungen von Delpino, Belt und Fritz Müller ſtattfindet. Die Drüſen des braſilianiſchen Adlerfarns werden nämlich eifrig von einer kleinen, ſchwarzen Ameiſe (Crematogaster) beſucht, mit welcher die Erſtgenannte auf dem Kriegsfuße lebt. Dr. Fritz Müller beobachtete ſelbſt, daß wenn jene für den geſpendeten Honig anſcheinend Wächter— dienſte verrichtende Ameiſe nicht auf dem Poſten war, die Oecodoma erſchien und das junge Laub zernagte. Hier wie in ähnlichen Fällen iſt es nur das junge Laub, welches eines ähnlichen Schutzes bedarf, der ältere Wedel kann ohne Gefahr feine Drüſen einbüßen, weil er keine Lieb— haber mehr findet. Francis Darwin, indem er dieſen Brief mittheilt*), bemerkt, daß ſich allerdings annehmen laſſe, der Adlerfarn könne in einem Lande zuerſt aufgetreten ſein, wo er der Ameiſen oder anderer Thiere als Schutzwachen bedurfte, aber er hält es mit feinem Vater!“) für ) Nature No. 397, June 1877. ) Die Wirkungen der Kreuz- und Selbſt— befruchtung. Deutſche Ausgabe, 1877, S. 389. wahrſcheinlicher, daß die Abſonderung von Zuckerſäften durch die Blätter und Stengel mit irgend einem unbekannten Ernährungs- vorgange in Verbindung ſtehe und ſich allerdings einigemale zur Anlockung von Thieren bewährt habe, welche höchſt eifer— ſüchtig ihre Nutzpflanzen vor Angriffen aller Art ſchützen, wie es insbeſondere bei der von Belt ſo ſchön beſchriebenen Aca- cia sphaerocephala und der von Fritz Müller ſtudirten Ceeropia peltata der Fall iſt. Zu der eben angedeuteten Auffaſſung, nach der die Drüſen des Adlerfarns eine Erbſchaft aus früheren Zeiten ſein könnten, bemerkt Mr. Thomas Belt“): „Prof. Heer hat gezeigt, daß in den miocänen Pflanzen-Ablagerungen von Oeningen und Radoboj die Ameiſen unter den foſſilen Inſekten die größte Zahl ausmachen, und im Jahre 1849 konnten bereits mehr als 66 Arten von dieſen beiden Fundſtellen beſchrieben werden. . . . . Unter den foſ— ſilen Ameiſen von Radoboj befinden ſich Arten der jetzt im tropiſchen Amerika vor— kommenden Gattungen Atta und Ponera, insbeſondere eine, die der ſeltſamen Atta cephalotes Südamerikas in dem Flügel— Geäder wie in der allgemeinen Geſtalt ähnlich iſt. Da nun jetzt überhaupt nur 40 Ameiſen-Arten in ganz Europa exiſtiren, ſo iſt deutlich, daß ſie in der Miocän— Epoche eine wichtigere Rolle geſpielt haben als jetzt. Es mögen alſo damals Pflau— zen den Angriffen von Feinden ausgeſetzt geweſen ſein, die mit der allgemeinen Ver— armung der Flora und Fauna, welche in den nachpliocänen Zeiten ſtattfand, unter— gegangen ſind. Damals aber mag die Beſchützung der jungen, unentfalteten und ) Nature No. 398, June 1877. 356 zarten Blatttriebe durch von Nektardrüſen herbeigelockte Ameiſen einigen Pflanzen in Europa ebenſo wichtig geweſen ſein, wie ſie ſich heute noch manchen Pflanzen der inſekten— reicheren Gegenden Südamerikas erweiſt. Bezüglich der Ausdauer der Nektardrüſen bis zur Jetztzeit in Europa muß bemerkt werden, daß viele Pflanzen identiſch ſind mit ſolchen, die ſchon in der Miocän-Zeit lebten, und die weltweite Verbreitung der Pteris aquilina deutet in der That dar— auf hin, daß ſie eine ſehr alte Art iſt. Wenn aber eine Pflanze nicht anderweitig abgeändert hat, ſo beſteht auch kein aus— reichender Grund, warum ſie es hinſichtlich der ihr poſitiv nicht ſchädlichen Honigabſon— derung gethan haben ſollte. Ich habe kürzlich in meinem Garten beobachtet, daß die Ameiſen, welche die Drüſen an dem Blattgrunde der Kirſchen, Pflaumen, Pfir— ſiche und Aprikoſen ausbeuten, mit ihren Antennen diejenigen Drüſen welche ſie bei ihrer Ankunft nicht fließend finden, gerade wie ſie bei den Blattläuſen verfahren. ken können, ob fie damit eine Nektarabſon— derung erzielten, aber ſeit ich ein Schüler Darwin's geworden bin, habe ich mich überzeugt, daß der unbedeutendſte Neben— umſtand der Beachtung werth iſt, und es mag ſein, daß die leichte Reizung der Drüſen hinreichen mag, eine wenn auch nutzlos gewordene Einrichtung weiter zu erhalten. Es iſt indeſſen vielleicht zu kühn, anzunehmen, daß die Drüſen europäiſcher Pflanzen überhaupt nutzlos wären. Dar— win weiſt vielmehr auf die große Wahr— ſcheinlichkeit hin, daß die Abweſenheit der Drüſen an den Blättern von Pfirſichen, Nektarinen und Aprikoſen zu Mehlthau— bildung Anlaß gäbe.“ So weit Th. Belt in ſeinem Briefe vom 9. Juni 1877. ſtreicheln, Ich habe nicht wirklich bemer- Kleinere Mittheilungen. Eine andere Unterſuchung, Francis Darwin über eine beſondere Art von Drüſenhaaren der gewöhnlichen welche Kardendiſtel (Dipsacus silvestris) au- ſtellte, lieferte höchſt merkwürdige Reſul— tate.“) Die gegenüberſtehenden Blätter dieſer Diſtel bilden nämlich durch Ver— wachſung ihrer Ränder, im zweiten Jahre, in welchem die Pflanze zum Blühen kommt, Waſſerbehälter, in denen ſich die atmbſphäriſchen Niederſchläge ſammeln, von welcher Eigenthümlichkeit die Pflanze ihren uralten Namen Dipsaeus (divaxog, die Durſtige) erhalten hat. Man nannte ſie auch wegen der in mehreren Abſätzen des Stengels ſich wiederholenden Becken La- brum Veneris, d. h. Venus' Waſchbecken. Wir haben ſchon früher im Kosmos **) der ſehr wahrſcheinlichen Meinung von Prof. Kerner erwähnt, nach welcher dieſe Waſſerbecken dem Stengel vor dem Emporkriechen flügelloſer Infekten Schutz gewähren. Mit dieſer Meinung verträgt ſich ganz vortrefflich eine weitere Bildungs— eigenthümlichkeit des mit Stacheln beſetzten Stengels. Seine Stacheln enden nämlich plötzlich über dem Spiegel des Waſſers in den Tellern und verhindern ſomit, daß die ertrinkenden Opfer eine Leiter zum Entweichen finden. Ganz dem an letzt— genannter Stelle erwähnten Falle bei Po— lygonum amphibium entſprechend, ſind die im erſten Jahre, in welchem ſie kein Waſſer auffangen können, von langen, ſcharfen Haaren rauhen Blätter nunmehr faſt völlig glatt, ſo daß die Inſekten, welche den abſchüſſigen Rand eines Beckens erreicht haben, dadurch um ſo ſicherer ihrem naſſen Grabe zugeführt werden. Quarterly - Journal of microscop. 0 Science, April 1877. **) Heft 1, 1877, S. 80. Kleinere Mittheilungen. 357 Auf denſelben Beckenblättern finden ſich aber 0,01 Millim. lange Drüſenhaare, die auf einer cylindriſchen Hohlzelle ein viel— zelliges, birnförmiges Köpfchen tragen, aus deſſen domförmiger Wölbung zu Zeiten ein zitternder, bis einen Millimeter langer Protoplasma-Faden bis in das Waſſer hervorſchießt, ſich zu einem Häkchen biegt, oder in mehrere Fäden mit Knötchen ver— theilt, dabei unausgeſetzt die zitternden Brown'ſchen Bewegungen zeigt. Die Maſſe dieſer Fäden iſt gallertartig, durchſichtig, ſtark lichtbrechend und körnchenfrei, dagegen zeigen die chemiſchen Reactionen, daß ſie ſuspendirte Harztheile enthält. Die merk— würdigſte Eigenthümlichkeit dieſer Fäden iſt ihre Fähigkeit, lebhafte Einſchnürungen an einer Reihe von gleich abſtehenden Punk— ten, die in der Nähe des freien Endes beginnen, auszuführen, worauf der Inhalt des Fadens ſich, wie es in der Kriegs— ſprache heißt, rückwärts concentrirt und auf dem Knöpfchen der Drüſe anſammelt. Da abgebrochene Fäden ihre Vitalität behalten und fähig bleiben, ſich zuſammenzuziehen, ſo muß man ſchließen, daß dieſe Lebens— äußerungen der Protoplasma-Maſſe ſelbſt angehören. Dieſelben konnten außerdem künſtlich hervorgerufen und geſteigert wer— den durch Anwendung der verſchiedenſten chemiſchen und phyſikaliſchen Reizmittel, ohne daß es ſich um ein Gerinnen des Protoplasmas handelte. Beſonders merk— würdig war das Verhalten gegen die kohlenſauren Salze des Ammonium, Ka— lium und Natrium in ſehr verdünnten, viertel- bis halbprocentigen Löſungen, ſo— wie gegen eine kalt bereitete Fleiſchbrühe. In dieſen Flüſſigkeiten nämlich, über deren Einwirkung auf die Drüſen des Sonnen— thaus Darwin ſo ergebnißreiche Verſuche angeſtellt hat, ziehen ſich die Protoplasma— Fäden der Kardendiſtel nach den Unter— ſuchungen ſeines Sohnes zuſammen, wer— den dann von Neuem hervorgeſchleudert und verwandeln ſich ſchließlich in eine ballon- oder wurſtförmige Maſſe von ſehr durchſichtiger und ſtrahlenbrechender Sub— ſtanz, in der man merkwürdige, freiwillige Formveränderung und gleichſam amöben— artige Bewegungen beobachtet. Fleiſchaufguß hat denſelben bewirkt das Entſtehen ganz erſtaunlicher Mengen dieſer durchſichtigen Subſtanz. Da nun dieſe Fäden ſich in das ſtets Ammoniakſpuren enthaltende Thau- und Regenwaſſer der ſogenannten „Venus— Waſchbecken“ der Kardendiſtel erſtrecken, deſſen ſalziger Geſchmack bereits den alten Naturforſchern“) aufgefallen war, und in denen meiſt auch die Körper ertrunkener Inſekten verweſen, ſo liegt es nahe, anzu— nehmen, daß dieſe Fäden einem Ernährungs- prozeſſe, einer Aufnahme der ſtickſtoff— haltigen Subſtanzen dieſer kleinen, ſich in den verſchiedenſten Höhen des Stengels wiederholenden Waſſerbecken angepaßt haben. Daß ſie dagegen urſprünglich ausſondernde Drüſen der verbreiteten Art waren, darauf ſcheint der Harzgehalt des ausgeſonderten Schleimes hinzudeuten, wie denn dieſe Drüſen ganz analog anderen Harzdrüſen mit einer Schicht Harz bedeckt zu ſein pflegen, in welcher ſich Spuren der ab— geſtorbenen Protoplasmaſubſtanz befinden. Man darf alſo etwa annehmen, daß ur— ſprünglich bloßen Abjonderungs- prozeſſe dienende Drüſen ſich hier der Nahrungsaufnahme bis zu einem ge— wiſſen Grade angepaßt haben. Indeſſen finden ſich genau ähnliche Fäden empor— ſchleudernde Drüſen auch an den Samen— blättern von Dipsacus silvestris und Plinius, h. n. XXVII. S. 43. Verdünnter Effekt und einem 47 er De rm m 358 D. pilosus, und da in keinem dieſer beiden Fälle Becken gebildet werden, ſo können dieſe Fäden kaum in Zuſammenhang ge- betreffenden Gegend die Oberhand gewinnen bracht werden mit der Aufnahme anima- Die einzige liſcher Verweſungsprodukte. Auſicht, welche ſich hier aufdrängt, iſt, daß die Fäden aus den dieſe Blätter treffenden Thau- und Regentröpfchen Ammoniak ab- ſorbiren. Neuere Unterſuchungen haben gezeigt, daß manche Blätter die Fähigkeit beſitzen, unendliche Mengen von Ammoniak zu abſorbiren, und man kann ſich dann allerdings wohl vorſtellen, daß dieſe An— paſſung in den Drüſenhaaren der Becken weitere Fortſchritte gemacht hat. Die wilde Karde unſrer Wälder iſt durch dieſe Unterſuchungen zu einem höchſt intereſſanten Verſuchsobjekte der Wiſſenſchaft geworden, während die durch die Kultur aus ihr hervorgegangene Schweſter, die Weberkarde, ihre praktiſche Bedeutung eingebüßt hat. Schleunige Vervielfältigung einer Mißbildung durch Erbſchaft. In der Sitzung der Pariſer Akademie der Wiſſenſchaften vom 30. April dieſes Jahres lenkte Herr Martinet die Auf— merkſamkeit der Mitglieder auf einen bemer— kenswerthen Fall von Erblichkeit einer Miß— bildung. Im Jahre 1871 zeigten mehrere Hühner einer Pachtung eine Polydactylie, die ſie von einem fünfzehigen Hahn geerbt hatten, bei dem dieſelbe freiwillig aufge— treten war. Die Mißbildung pflanzte ſich rapide fort, bis im Jahre 1873 eine Epi⸗ demie den Geflügelhof verwüſtete. konnte nur einen einzigen Hahn und einige Hennen der anormalen Sorte retten. Heute aber iſt, ohne irgend eine Auswahl, dieſe Abänderung bereits wieder ſehr zahlreich vertreten, ja ſie hat ſich in Folge eines — ——— —E—— ũ-— Kleinere Mittheilungen. Man Eier-Austauſches auf mehrere benachbarte Pachtungen ausgedehnt, ſo daß ſie in der wird, wenn nicht irgend ein natürliches oder künſtliches Hinderniß dazwiſchen tritt. Die Lebenszähigkeit des menfd)- lichen Embryo. Bei Gelegenheit einer neueren Beobach⸗ tung von A. Zuntz über die auffallende Lebenszähigkeit der Keime des ſpäter ſo „anſtößigen“ Menſchen, erzählt Profeſ— ſor Pflüger in ſeinem Archiv für Phyſiologie (Band XIV. S. 628), daß ihm an einem Novemberabend des Jahres 1861 ein vor einigen Stunden gebornes Menſchenei gebracht worden ſei, welches nach ſeiner Größe etwa achtzehn bis zwanzig Tage alt ſein mochte. Er legte es zwiſchen zwei Uhrgläſer in die Schublade einer in einem kalten Zimmer ſtehenden Kommode, um es erſt am näch⸗ ſten Morgen zu unterſuchen. Bei der Er- öffnung des Eies auf der Objektplatte fei- nes Mikroſkopes bemerkte der Beobachter plötzlich zu ſeinem nicht geringen Erſtaunen, daß das einen 8 förmig gekrümmten Schlauch darſtellende Herz ſich in Pauſen von zwanzig bis dreißig Sekunden regel— mäßig zuſammenzog, wie er es an andern Thierembryonen in dieſer Periode oftmals geſehen hatte. Dieſe, wie die entſprechende Beobachtung von A. Zuntz zeigen, „daß ein ſo verletzbares Geſchöpf wie der Menſch, in feinen allerjüngſten Zuſtänden an Lebens⸗ zähigkeit kaum den niedern Thieren oder gar deren Keimen nachſteht, — wie in morphologiſcher Entwickelung, ſo auch in der funktionellen Entfaltung ſeinen Stamm⸗ baum bezeugend.“ Darwin versus Galiani.“) s war vor hundert Jahren“ — «> al U zählt Du Bois-Rey mond — AR un Tiſch im Salon des Grand-Val. Da war beiſammen jene geiftreich-über- müthige Geſellſchaft, die wir aus Diderot's Briefen an Mlle. Voland kennen, als wären auch wir Gäſte unter dem Holbach'ſchen Dache geweſen. Da war Diderot ſelber, der deutſcheſte der Franzoſen, und Grimm, der franzöſiſchſte der Deutſchen, der gräm— liche Schotte Hoop und der kleine neapo— litaniſche Abbé Galiaui, deſſen luſtige Beweglichkeit oft tiefen Sinn barg. Da waren jene Frauen, deren gefährlichen Rei⸗ zen Rouſſeau's „Confessions“ Unfterb- lichkeit verliehen, wie Ilias und Odyſſee denen der Helena. Man ſprach nach der Gewohnheit jener guten Zeit, in der die Feſſeln des Aber- glaubens zerſprengt ſchienen — und die, Sonne des ſchönſten Tages die geiftige Welt“ erleuch— tete und erwärmte — viel von dem großen ) Rede, in der öffentlichen Sitzung der königl. preuß. Akademie der Wiſſenſchaften zur Feier des Leibniz'ſchen Jahrestages am 6. Juli 1876 gehalten, von Emil Du Bois- Reymond. Berlin, Verlag von A. Hirſch— wald. Titeratur und Kritik. Friedrich und dem allerwärts angebeteten Voltaire. Trotz aller Anbetung aber konnte man's nicht verwinden, daß er eigentlich ein „unverbeſſerlicher Deiſt ſei“. „Um's Himmelswillen keine Metaphyſik!“ rief eines Tages Galiani, als dieſe Anſicht wieder erörtert wurde, dazwiſchen, und er— zählte von einem Taſchenſpieler, der in ſeiner Anweſenheit gewettet habe, mit ſeinen Würfeln jedesmal einen Sechſerpaſch zu. werfen — und die Wette gewonnen hätte. „Ihr habt uns zum Beſten!“ rief es von allen Seiten. „Oder die Würfel waren falſch!“ N „Natürlich waren fie falſch — und das war ja eben der Spaß. Der Taſchen e. ſpieler hatte gar nicht geſagt, daß er mit richtigen Würfeln jedesmal einen Sechſer— paſch werfen werde. Wer ſeine Sinne beiſammen hatte, konnte im Voraus rathen, daß die Würfel falſch ſeien, und die, welche erſt darauf kamen, nachdem ihnen ihr Geld abgenommen war, wurden tüchtig ausge lacht. Aber da habt Ihr's! Fallen zwei Würfel einmal nach einander auf dieſelbe Seite, ſo haltet Ihr es, denn Ihr ſeid keine Lazzaroni, für unmöglich, daß dies Zufall ſei. Ihr ſchließt mit zweifelloſer Gewißheit, daß eine geheime, auf dieſe Wirkung be— rechnete Urſache in Geſtalt von etwas Blei den Würfeln einverleibt wurde. Seht Ihr aber um Euch her dies Weltall mit feinen unzählbaren Sonnen, Planeten und Mon— den, die im Leeren aufgehangen, rhythmi— ſchen Schwunges Jahrtauſende lang ihre Bahn vollenden, ohne je einander zu treffen; ſeht Ihr auf dieſem Erdballe Veſte, Meer und Luft, Sonnenſchein und Regen ſo ver— theilt, daß tauſend Pflanzen, Land-, Waſſer⸗ und Luftthiere fröhlich wimmelnd gedeihen; ſeht Ihr den Wechſel von Tag und Nacht, von Winter und Sommer allen dieſen Weſen genau mit den nöthigen Bedingungen zu Thätigkeit und Ruhe, zu Stillſtand und Wachsthum ſegensreich begegnen; ſeht Ihr in Eurem eigenen Körper jedes Theilchen ſeines unſagbar verwickelten Baues gerade das leiſten, was des Ganzen Wohl erheiſcht, wie umgekehrt es allein im Ganzen zu be— ſtehen vermag; ſeht Ihr in Euren Glied— Literatur und Kritik. Ihr die Biene, trotz dem gelehrteſten Aka— demiker, ihr Zellenproblem löſen, die Spinne ihr Seilpolygon ſpannen, den Maulwurf ſeine Minenhöhlen, den Biber ſeine Deiche ziehen; ſeht Ihr noch dazu in dem Allem mit dem Nützlichen das Ange— nehme verbunden, Pracht, Zier und An— muth verſchwenderiſch darüber ausgegoſſen; Flora's Kinder lieblich ſich ſchmücken, den Schmetterling ſchimmernd ſie umgaukeln, den Pfau ſein Rad ſchlagen; zeigt Euch endlich Herr Needham unter ſeinen Linſen jeden Tropfen Eſſig oder Kleiſter wieder von ſo viel Weſen belebt, wie Herr von Caſſini mit feinem Rohre Welten Euch erblicken ließ, ſo ſagt Ihr getroſt, es iſt maßen, Eurem Auge, Eurem Ohre, des Mechanikers, des Optikers, des Akuſtikers tiefſte Weisheit ſo weit überflügelt, daß Freund d' Alembert, daß dort in Petersburg der große Euler e tutti quanti wie Narren davor ſtehen; ſeht Ihr dieſe Maſchine, neben welcher Eures Le Roy's feinſte Uhr wie ein plumpes Mühl— werk, Vaucanſon's ſinnreichſte Androide wie eine armſelige Spielerei ſich ausnehmen, durch Uebung ſich ſelber vervollkommnen, und wenn beſchädigt, ſelber ſich ausbeſſern; ſeht Ihr ſie gar ſich ſelber vervielfältigen, Mann und Weib auf das Reizendſte, Mutter und Kind auf das Liebevollſte einander ange— paßt; zeigt Euch im Jardin du Roi Herr von Buffon in hundert Thiergeſtalten, vom Elephanten bis zur Spitzmaus, eben— ſoviele Ebenbilder Eurer eigenen Organiſa— tion, alle in ihrer Weiſe befähigt, ihr Leben zu genießen, ihrer Beute nachzuſtellen, ihrer Feinde ſich zu erwehren, ſich fortzu— pflanzen und ihre Brut zu pflegen; ſeht Zufall. Und doch bietet uns die Natur dasſelbe Schauſpiel, als würfe einer mit unendlich viel Würfeln jeden Augen- blick einen vorher angekündigten Paſch. Ich, meine Damen und Herren, urtheile anders. Ich ſage, die Würfel der Natur ſind gefälſcht, und dort oben ſpottet unſer der größte der Taſchenſpieler!““) „Der Apolog der des pipés machte einen gewaltigen Eindruck auf die Encyklo— pädiſten, wie aus einer Stelle im Systeme de la nature zu erſehen iſt, wo ſich Hol— bach vergebens von demſelben zu befreien ſucht, die Molekeln der Materie ſelbſt mit falſchen Würfeln vergleicht und endlich zum Schluſſe kommt, daß der Kopf Homer's und Virgil's nichts als Aggregate von ) In den Memoires (inedites) de ’Abbe Morellet ift die Geſchichte von Galiani's Apolog, und dieſer ſelber etwas anders er— zählt. Kenner der damaligen Zuſtände, die über die geſchichtliche Genauigkeit der Erzäh— lung rechten möchten, ſeien in aller Beſchei— denheit auf Schiller's Anmerkung zu ſeinem „Graf von Habsburg“ verwieſen. E. D. B-R. N Molekeln, d. h. derart gefälſchten Würfeln waren, daß ſie die Ilias und Aeneis her— vorbringen mußten. Er betont alſo, daß es in der Natur wie in einer Spiel— hölle nicht mit rechten Dingen zugehe — ſo ſehr er ſich vorher gegen Galiani Literatur und Kritik. 361 Natur. So heißt es an einer Stelle: „Die wenn auch nur von ferne gezeigte Möglichkeit, die ſcheinbare Zweckmäßigkeit, aus der Natur zu verbannen, und überall blinde Nothwendigkeit an Stelle von End— ſträuben mochte — ſtatt darzulegen, wie „nicht für einen beſtimmten Zweck vorge— richtete materielle Theilchen dennoch zu die— ſem Zweck zuſammenwirken.“ „Hier iſt der Knoten“, — ſagt darüber Du Bois-Reymond — „hier die unge— heure, den Verſtand, der die Welt begrei— fen möchte, auf die Folter ſpannende Schwierigkeit. Denn einen Mittelweg giebt es nicht... Wer der Teleolo— gie nur den kleinen Finger reicht, langt ral Theology“ an.“ 5 Sind die Würfel der Natur gefälſcht? Wirft ſie wirklich mit ungezählten fal— ſchen Würfeln jeden beliebigen Paſch? Sind ihre Würfel, d. h. die Molekel wirklich „präformirt“, um einen alt hergebrachten Ausdruck zu gebrauchen? Giebt es in ihr Vorherbeſtimmung, Vorbereitung zu ganz beſtimmten Zwecken; giebt es in ihr ein höheres Regiment, das Alles zu beſtimmten Zwecken zurechtlegt, eine Art „Hochdruck von Oben“, oder jene Teleologie, um deren Beweis ſich die Gelehrſamkeit von Jahr— tauſenden nicht ohne Erfolg abgemüht hat? Dieſe Fragen legt uns Herr Du Bois— Reymond, an den Apolog der des pipes von Galiani anknüpfend, vor, und beſchäftigt ſich mit dieſer brennenden Frage der heutigen Philoſophie in ſeiner Schrift „Darwin versus Galiani“. Vor Allem bekämpft er nun den ein— gewurzelten Glauben an End-Urſachen und tritt ein für die blinde Nothwendigkeit gegen die ſcheinbare Zweckmäßigkeit in der urſachen zu ſetzen, erſcheint deshalb als einer der größten Fortſchritte in der Ge— dankenwelt, von welchem in der Behandlung dieſer Probleme ſich eine neue Epoche her— ſchreiben wird. Jene Qual des über die Welt nachdenkenden Verſtandes in etwas gelindert zu haben, wird, ſo lange es philoſophiſche Naturforſcher giebt, Charles Darwin's höchſter Ruhmestitel ſein.“ Mit wenigen treffenden Zügen charak— teriſirt Hr. Du Bois-Reymond den | Zuſtand der Naturwiſſenſchaften unmittelbar folgerichtig bei William Paley's „Natu- | vor dem Auftreten Darwin's und es wird ihm wohl niemand beſtreiten wollen, daß deſſen „Origin of species! Zoologie, Botanik und Palaeontologie in einer „ge— wiſſen doctrinären Erſtarrung“ traf, daß, während die Kenntniß organiſcher Geſtalten in geradezu „ſinnverwirrender Weiſe“ wuchs, an Deutung der aufgeſpeicherten Thatſachen und Umſtoßung der alten Dogmen kaum gedacht wurde. Schon hatte man ſich ge— wöhnt zu glauben, daß das Problem auf natürlichem Wege unlösbar ſei. An Hand— langern der Wiſſenſchaft fehlte es nicht, aber die ſtille Gemeinde der Zweifler an den alten untrüglichen Dogmen wurde von dem’ Leuten der Schule verketzert. Da trat Darwin auf. „Es war ein Schlag, wie die Ge— ſchichte der Wiſſenſchaft noch keinen ſah: ſo lange vorbereitet und doch ſo plötzlich, ſo ruhig geführt und doch ſo machtvoll treffend; an Umfang und Bedeutung des erſchütterten Gebietes, an Wiederhall bis in die fernſten Kreiſe menſchlicher Erkenntniß eine wiſſen— ſchaftliche That ohne Gleichen. Wie nach 77 855 Literatur und Kritik. dem Umſturze von Königreichen in deren Grenzlanden noch lange Erregung und Wirrſal herrſchen, wenn im Erſchütterungs— herde ſchon neue Geſtaltungen ſich zu be— feſtigen anfangen: ſo iſt in Folge der Darwin'ſchen Bewegung der ſtets unſichere Grenzſtrich zwiſchen Naturwiſſenſchaft und Philoſophie noch in wilder Gährung be— griffen, welche faſt täglich in den trüglichen Farben dünner Blättchen ſchillernde Literatur- blaſen aufwirft. Im Lager der Wiſſenſchaft iſt indeſſen die erſte Beſtürzung ruhigerer Ueberlegung gewichen. Schon beginnt ein neues, inmitten der Umwälzung erwachſenes Geſchlecht friſchen Muthes die Führung zu übernehmen.“ Du Bois-Reymond beſtreitet im folgenden die weitverbreitete Anſicht, daß Darwin's eigentlichſte Leiſtung ſei, den Sieg der Abſtammungslehre-erfochten zu haben, und ſagt, daß das Ziel, welches jener uns zeigt, weit über dieſelbe hinausliege, inſofern uns durch dieſelbe, inſofern ſie die Ent— wickelung der organiſchen Natur allein durch ihre Bildungsgeſetze erklären will, nur wenig geholfen wird. Ueberhaupt ſeien die Geſetze der Morphologen bloße Regeln, die nach Art grammatikaliſcher Regeln vermöge eines daß auch den beſten organiſchen Bildungs— ſcheinlichkeit zuſtehe. Der Grund iſt, daß ſie reine Erfahrungsſätze ſind, in denen kein ſolcher „in den letzten Gründen wur— zelnder, logiſch zwingender Inhalt erkannt iſt, wie in phyſikaliſch-mathematiſchen Ges | ſetzen.“) Daher komme es, daß im Ab— weichen der Natur von jenen Regeln nichts Widerſinniges und Unmögliches liege. (?) ) Daß ein zureichender Grund auch hier vorhanden ſein müſſe, leuchtet wohl Jedem ein, und es ſcheint ſehr gleichgiltig für das * geſetzen nur größere oder geringere Wahr Indem Herr Du Bois-Reymond gegen die Anwendung des ſogenannten biogenetiſchen Grundgeſetzes im einzelnen Falle eifert, eine ſolche, „wenn auch das Princip im Allgemeinen zugegeben ſein möchte“, ſehr bedenklich findet, und den Schlüſſen der Ontogenie auf Phylogenie größere Wahrſcheinlichkeit abſpricht, überläßt er es gleichzeitig dem ſubjektiven Meinen, ſich den Weg „im Gewirr unzähliger ſich verzweigender Möglichkeiten“ nach Belieben zu wählen und ſich das Werden der orga— niſchen Natur ſo oder ſo zu denken. Wenn es mir ſchon ſcheinen will, daß Herr Du Bois-Reymond im Laufe dieſer Spekulation ſich widerſpricht und die bedeutende Nachwirkung und Folgerichtigkeit der Abſtammungslehre in einem Athem verficht und anficht, ſo muß ich gegen das letztere Toleranzedikt einwenden, daß ich daſſelbe nur ſchwer mit dem ſonſt bis zur Härte decidirten Weſen Du Bois-Rey⸗ mond's reimen kann. Merkwürdigerweiſe wird das Anathema der Gelehrſamkeit ganz unvermittelt dem Toleranzedikt der Wiſſenſchaft angereiht. Denn unmittelbar darauf folgt der inhalts— ſchwere Satz: „Jene Stammbäume unſeres Cirkelſchluſſes dienen. Ebenſo ſei gewiß, Geſchlechtes, welche eine mehr künſtleriſch angelegte als wiſſenſchaftlich geſchulte Phan— taſie in feſſelloſer Ueberhebung entwirft, ſie ſind etwa ſo viel werth, wie in den Augen der hiſtoriſchen Kritik die Stamm⸗ bäume homeriſcher Helden. Will ich aber einmal einen Roman leſen, jo weiß ich mir etwas Beſſeres als Schöpfungsgeſchichten.“ Allerdings wird uns gleich darauf ge— ſagt, daß dies nicht der Punkt ſei, auf den es hier ankomme. Dennoch muß es uns Beſtehen einer Geſetzmäßigkeit, ob ſie von den Menſchen begriffen wird oder nicht. ' Anm. d. Red. ſcheinen, als wäre nur zu gern die Gelegen— heit benützt worden, um den Bannſpruch in einer ſchicklichen Weiſe (?) an den Mann zu bringen. Scheint es doch, als ob auch höher organiſirte Gelehrte es nicht laſſen könnten, ins Horn der überaus zahl— reichen Handlanger unſerer Naturalienka— binete, Muſeen und Katheder zu ſtoßen, die als verknöcherte Specialiſten es für ihre heiligſte Pflicht halten, einen ernſten Forſcher, der ihnen, was die Verbreitung und Fort— entwickelung der Darwin'ſchen Lehren be— trifft, weit den Rang abgelaufen und in hervor— ragender Beziehung zum Aufbau einer moder— nen Naturphiloſophie beigetragen hat, ja, inſoweit als eine ſolche ſchon gleichſam im Rohprodukt exiſtirte, und nur auf den Be— arbeiter, Ordner und Vollender wartete, ſogar als Ausbilder derſelben zu betrachten iſt, — ſo lange zu verketzern und zu läſtern, bis nichts mehr von ihm übrig bleibt als ein Marktſchreier und falſcher Prophet, der die größten Errungenſchaften der Wiſſenſchaft Literatur und Kritik. in ſelbſtbereiteten Mixturen auf den Jahr markt getragen hat, um ſie dort als Wun⸗ der ſeines Erfindungsgeiſtes anzupreiſen. Entdeckungen Darwin's und die Herr Du Bois-Reymond ſagt uns des Weiteren, daß, ſelbſt wenn wir das Schema der Abſtammungslehre als aus— gefüllt annehmen, gleichzeitig aber nur Bildungsgeſetze die Entwickelung beſtimmen laſſen, das Räthſel der Geſtaltung der organiſchen Natur ſo ungelöſt bleibt wie vordem. „Durch Bildungsgeſetze allein er— klärt ſich kein zweckmäßiges, organiſches Werden. Das alte, der Menſchheit auf- gegebene Räthſel bleibt alſo auch bei ganz fertiger Abſtammungslehre, wenn nicht noch etwas Anderes hinzutritt, in unveränderter Dunkelheit beſtehen. Unbezwungen dräut nach wie vor von ihrer Klippe die Sphinx der Teleologie. .. Wir ſind alſo in der 363 Hauptſache um nichts gebeſſert, ſondern haben nur das Problem umgeformt, ohne es ſeiner Löſung näher zu bringen.“ Was iſt es alſo mit dem urewigen Räth— ſel? Sind die Würfel der Natur gefälſcht? Dieſelbe Frage hat kürzlich Moriz Carriere, durch die Du Bois ' ſche Schrift dazu angeregt, erörtert und ſich in ganz anderem Sinne entſchieden, als der Verfaſſer der letzteren. Herr Du Bois— Reymond findet nämlich in der natür— lichen Zuchtwahl eine „einigermaßen an— nehmbare“ Auskunft. „In Verbindung mit den Bildungsgeſetzen würde ſie mit einem Schlage verſtändlich machen, warum die organiſchen Weſen einander und der Außenwelt ſo bewunderungswürdig ange— paßt ſind; warum ſie in ſich ſelber zweck— mäßig ſind und doch ſo manche Zweck— widrigkeit aufweiſen; warum ſie gruppen— weiſe, ſcheinbar unbeholfen, aus ſtets denſelben Stücken gefügt, dieſe aber dem jedesmaligen Zweck entſprechend umgeformt ſind.“ Sehr richtig werden dem Satz Maupertuis' von der kleinſten Wirkung die intereſſanten des Herrn Wallace auf dem Gebiete der ge— ſchlechtlichen Zuchtwahl insbeſondere entgegen geſtellt. „Mit einem Worte, an Stelle der Endurſachen in der organiſchen Natur träte zwar eine höchſt verwickelte, aber blind wirkende Mechanik, und das Weltproblem wäre auf die beiden Räthſel zurückgeführt: was ſind Materie und Kraft, und wie vermögen fie zu denken.“ . . . Ob er im deſſen mit dieſer Einführung von » und W in die Gleichung, für das vorherige x und y, viel zur Verdeutlichung oder nur etwas zur Auflöſung beiträgt, müſſen wir doch dahingeſtellt ſein laſſen. Es ſcheint über— haupt, als ob es Herr Du Bois-Rey⸗ mond nach Art der Algebraiker manchmal en © 364 mit den ſogenannten Kunſtgriffen Transformation einer Gleichung hielte, eine Operation, die bekauntlich große Vorſicht erheiſcht, um nicht zu einer identiſchen Glei— chung geführt zu werden. Wer weiß übrigens, ob die identiſche Gleichung nicht wirklich das Ende des alten Liedes iſt, was beſagen will, daß man mit all dem Problemiſiren zu keiner neuen Größe, zu keiner frucht— baren Erkenntniß kommt. Dann freilich hätte Herr Du Bois-Reymond Recht, den Caſus für ſehr einfach zu halten, wenn man das Weltproblem auf die von ihm einge— ſetzten unbekannten Größen zurückführte. Wenn aber auch Herr Du Bois— Reymond auf der einen Seite keinen ge— nügenden Erſatz für das bietet, was er uns nimmt, ohne dieſe Hinwegnahme vollſtändig zu motiviren, ſo widerlegt er auf der andern zur Seite ebenſo kurz als treffend die Ein- | würfe gegen die natürliche Zuchtwahl, unter denen der gegen das Ausſterben der Zwiſchen— formen von Ch. Darwin ſelbſt auf das Beſte widerlegt wurde. es, zu fordern, daß die natürliche Zucht— Literatur und Kritik. wahl alle Bildungen erkläre und hier weiſt Herr Du Bois-Reymond mit größerem Scharfſinn nach, wie nur der Compromiß zwiſchen den Forderungen der Bildungs— geſetze und den Wirkungen der natürlichen Zuchtwahl eine befriedigende Erklärung für die Bildung der Organismen geben könne. Ebenſo weiſt er ganz richtig nach, daß, ſo— = verlangt er, daß der Naturforſcher jeden Weg einſchlage, um nur die Zweckmäßigkeit aus der Natur zu verbannen und ſich daher an die Lehre von der natürlichen Zucht— wahl wie der Ertrinkende an die Plane, anklammere. Was iſt's aber mit der oben aufgeworfene Frage? Sind die Würfel der Natur ge— fälſcht oder nicht? „Wir könnten jetzt Ga— liani darauf antworten“, meint Herr Du Bois-Reymond, „denn Herr Darwin hat uns verſtehen gelehrt, warum auch mit nicht gefälſchten Würfeln die Natur meiſt (nicht immer) ihren Paſch wirft.“ Es iſt ſehr richtig zu ſagen, daß der Name „Zweckmäßigkeit“ nichts Unheimliches mehr für uns hat. Mir ſcheint nur, als ver— geſſe er das erlöſende Wort, das all dieſem Zwieſpalt auf die kürzeſte Weiſe ein Ende macht. Wir wollen ihm gerne beipflichten, wenn er die Teleologie aus der Natur verbannt, inſoweit es ſich um eine Präformi— rung des Gegebenen zu beſtimmten Zwecken Ebenſo irrig iſt der Menſchheit oder eines beſtimmten Lebe— weſens handeln würde, wie denn von den Meiſten Teleologie in dieſem ſehr engher— zigen Sinne verfochten wird. Iſt aber die Zweckmäßigkeit oder „Zielſtrebigkeit“ wie ſie Ernſt von Bär, dem verhaßten teleo— bald die Lehre von der natürlichen Zucht wahl als aus richtigen Vorderſätzen richtig abgeleitet erkannt wird, das Wirken der— ſelben im einzelnen Falle nachzuweiſen nicht mehr nöthig ſei. Indem er ferner zeigt, daß es Abſicht des theoretischen Naturforſchers iſt, die Natur zu begreifen, die Zweckmäßigkeit der Natur ſich aber nicht mit ihrer Begreiflichkeit vertrage, die zelnen zur Erhaltung des Ganzen. logiſchen Loſungsworte ausweichend, nannte, nichts anders als das Wirken von Kräften im Sinne und zum Zweck des organiſchen Lebens im Großen und Ganzen, ſo wird es uns ſelbſt in den Augen des radicalſten Anti⸗Teleologen, nicht erniedrigen können, wenn wir von Zwecken der Natur ſprechen, ſo lange wir überhaupt den Namen der letzteren noch im Munde führen, und von einem großen Zweck, der da iſt Erhaltung, Entwicklung und Fortſchreitung des Ein— Ich möchte das, inſofern wir unter Natur den Literatur und Kritik. Inbegriff aller uns bekannten organiſchen (und unorganiſchen) Lebenserſcheinungen und Kräfte verſtehen, bildlich als Selbſterhaltungstrieb der Natur bezeichnen, und damit ſagen, daß es dem menſchlichen Erkennen und Forſchen nicht möglich iſt, weiter zu gelangen als bis zu einer Anerkennung jener in allen Einzelheiten wirkenden und von Herrn Du Bois- Reymond verfochtenen Cauſalität aus Naturnothwendigkeit, daß aber auch dieſe nicht anders als „zum Zwecke eines un- beſchadeten Beſtehens des Weltganzen“ gedacht werden könne. Inwiefern Leibniz mit den Reſultaten der neueren Forſchung übereinſtimmt, hat Herr Du Bois-Reymond mit großem Verſtändniß in einer anderen akademiſchen Rede dargeſtellt, die in den Abhandlungen der königl. Akademie der Wiſſenſchaften zu Berlin (1859. 40. S. 128 ff.) erſchienen iſt. Daß auch der Standpunkt des Natur⸗ forſchers gegenüber dem letzten Grunde der Dinge nur Entſagung ſein kann, wird ihm nicht ſobald jemand ganz widerlegen können. Nur das Eine möchte ich dem conſequenten Bekämpfer jeder Zweckmäßigkeit entgegenhalten, daß unbeſchadet und unge— achtet der vorkommenden Zweckwidrigkeiten und Ueberflüſſigkeiten, von denen doch Niemand, auch Herr Du Bois-Rey— mond nicht, behaupten kann, daß ſie noch als einem beſtimmten Zwecke dienend, er— kannt worden ſind, alle Kräfte zu einem nahe— liegenden, meiſt leicht erkennbaren Zwecke wirken, und daß auch ein Endzweck denkbar iſt, wenn wir darunter eben nur das Wirken der einzelnen Lebenserſcheinung zum Ganzen und nicht umgekehrt verſtehen. Vielleicht wird es mir in nicht allzulanger Zeit möglich ſein, was ich hier nur halb und dunkel den lichtvollen Darſtellungen des Herrn Du Bois-Reymond, denen 365 ich in vielen Dingen, ja vielleicht — indem über dem berührtem Punkt vielleicht nur ein Mißverſtändniß waltet — im Großen und Ganzen beipflichte, entgegenhalten konnte, in einem ausführlichen Werke darzulegen. Vorher aber hoffen wir, daß Herr M. Carriere ſein Verſprechen, in einem Werke über die ſittliche Weltordnung neue Geſichts— punkte zu dieſer Frage zu eröffnen, erfüllen werde. Friedrich von Bärenbach. Dr. Martin Schultze, Altheidniſches in der Angelſächſiſchen Poeſie, ſpeziell im Beowulfsliede. Ber⸗ lin, S. Calvary u. Co., 1877. Der bewährte Sprach- und Mythen⸗ forſcher hat in dieſer intereſſanten kleinen Schrift die hauptſächlichſten heidniſchen Ueber— bleibſel in der von chriſtlichen Schrift⸗ ſtellern herrührenden altangelſächſiſchen Poeſie überſichtlich zuſammengeſtellt, indem er die Vorſtellungen von den Schickſals- und den elementaren Mächten, die heidniſchen Sitten in Bezug auf die Lebenden und Todten in vier Kapiteln behandelt. Um die Reich- haltigkeit der Anregungen zu erläutern, die von ſolchen Studien ausgehen, wollen wir kurz dasjenige hervorheben, was der Ver— faſſer über den Urſprung des Namens eines Seeſternes anführt, der in der Darwin’ ſchen Theorie eine hervorragende Rolle ſpielt, der Gattung Brisinga. In der heutigen Welt ſtehen die echten Seeſterne und die ſogenannten Schlangenſterne einander ſo un— vermittelt gegenüber, daß man ein vollſtän— diges Ausſterben zahlreicher Mittelformen annehmen mußte, bis vor ca. 20 Jahren der ſchwediſche Naturforſcher As björnſen aus einer großen Tiefe des Hardanger 366 Fjords einen elfarmigen Seeſtern emporzog, der eine deutliche Uebergangsform zwiſchen beiden Familien er nur in der fernſten Vorwelt Verwandte beſaß. welches man aus ſogleich zu erörternden Gründen Brisinga taufte, iſt vor zwei Jahren von G. O. Sars, dem Sohne des berühmten norwegiſchen Naturforſchers, der den Generationswechſel der Quallen entdeckte, eine Monographie erſchienen, in welcher er zu der einzigen bisher bekannten Art eine zweite, Brisinga coronata, fügt, | die er in der Nähe der Lofoten, in einer Tiefe von 250 bis 300 Faden entdeckt hat. Beide Arten ſind aber durch die neueren Tiefeforſchungen auch in anderen Bezirken des nordatlantiſchen Ozeans, Br. coronata zwiſchen Schottland und den Faröer-Inſeln (500 Faden), ferner bei Irland (800 Faden), die ſüdlicher gehende Br. endecacnemos ſogar an der Küſte von Portugal worden. Der Verfaſſer betrachtet Brisinga als eine Urform im Sternthierreiche, hebt die Aehnlichkeit mit den älteſten foſſilen Seeſternen (Protaster) hervor, und ſtellt darſtellt und daher in keiner von ihnen unterzubringen war, weil Ueber dieſes merkwürdige Thier, } Literatur und Kritik. win'ſche Theorie genommen ift, und Herrn | Dr. Schultze dankbar für den Nachweis ſein, den wir deshalb wörtlich wiedergeben wollen. Nachdem der Vortragende von den Schwertern Siegfried's und Wittich's geſprochen, fährt er fort: „Ein anderes Elfen⸗ werk wird Beowulf 1199 erwähnt. Unter den Geſchenken, die Beowulf in Heorot er— hält, wird daſelbſt ein Halsring beſonders hervorgehoben und für das ſchönſte Kleinod dieſer Art erklärt: „ſeitdem Heime entführte — Zu der glänzenden Burg den Broſinger Schmuck“ (Brösinga mene). Dieſer Bro⸗ ſinger Schmuck iſt längſt mit dem Briſin⸗ ger Geſchmeide (Brisinga men), d. h. der Halskette Freyjas, verglichen worden, deren Verfertiger, wie wir aus der Edda wiſſen, vier Zwerge, alſo Elfen, waren. Sie wurde dann durch Loki weggeführt, gerade wie das Broſinger Gold durch Heime, den (1000 Faden) gefunden dieſe Gattung damit ziemlich an den Anfang eines Stammbaumes, deſſen Verzweigung zu den übrigen Klaſſen der Strahlthiere er kurz darſtellt. Nebenbei bemerkt, glaubt Brisinga die Arme ſehr leicht ablöſen und zuſammen einen weit größeren Theil des Körpers, als die verhältnißmäßig kleine Scheibe bilden, eine Stütze für Häckel's Hypotheſe, nach welcher die Echinodermen urſprünglich zuſammengeſetzte Thiere, Thier- ſtöcke, ſeien, zu finden. logen werden wiſſen, woher der Name 9 nern Sars in dem Umſtande, daß ſich bei Waffenbruder Wittichs, der alſo mit deſſen Vater, dem Schmied Wieland, in gewiſſem Zuſammenhange ſteht. — Was ſind nun die Broſinge oder Briſinge, die den berühmten Schatz verfertigen oder hüten? Doch wohl die Leute des Bris-Gaues, die bei Bris-ach, Breiſach, das Gold aus dem Rheinſand waſchen. Der Name erklärt ſich aus dem angelſächſiſchen brys -an, zertrümmern, bros - nian, ſich zerbröckeln. Das Rheingold findet ſich in kleinen Kör— oder „Bröſelchen“ (Broſame ahd. pros-amo, aſ. bros-mo, gehört ebenſo zu agſ. brys-an, brechen) und jene Bröckchen— form war gewiß diejenige, in der das Edel— metall den Germanen zuerſt bekannt wurde.“ Dieſe Ableitung des vielbeſungenen Bri- singa-men erſcheint glücklicher, als diejenige Grimm's von dem mhd. brisen, breis, Nur wenige Zoo⸗ | bohrten Gelenken verfertigt gedacht wird. dieſes wichtigen Zeugen für die Dar⸗ 8 durchſtechen, ſofern die Halskette aus durch⸗ K. Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig. nn m on F GR NEN N Biographiſche Skizze eines Kleinen Rindes von Charles Darwin. * er ſehr intereſſante Bericht, welchen Herr Taine über die geiſtige Entwickelung eines Kindes veröffentlichte,) hat mich veranlaßt, ein Tagebuch . welches ich vor ſiebenund— dreißig Jahren über eines meiner eigenen Kinder führte. Ich hatte ausgezeichnete Gelegenheit zu genauen Beobachtungen und ſchrieb, was beobachtet wurde, ſofort nieder. Mein Hauptaugenmerk war der ) Der Artikel von Taine erſchien in der Revue philosophique (1876, Nr. 1) und beſchäftigt ſich hauptſächlich mit der Ent- wickelung der Sprache und Ideenwelt eines kleinen Mädchens. Als erſter artikulirter Laut wurde ein mim mit geſchloſſenen Lippen beobachtet, dann ein kraaaan in tiefen Gut- turalen, endlich papapapapa in unendlichen Wiederholungen. Im Alter von vierzehn Monaten und drei Wochen waren ihm fol— gende Worte zugleich als Begriffe geläufig: bebe (Kind), papa, tete (Amme), oua-oua (Hund), koko (Hühnchen), dada (Wagenpferd) und mia (Katze). Sehr intereſſant im Ver— gleiche zu den mythologiſchen Vorſtellungen der Kindheitsvölker ſind die Beobachtungen Taine's über die Gewohnheit des Kindes, Ausdruck, und meine Notizen haben in meinem Buche über dieſen Gegenſtand Ver— wendung gefunden; da ich aber gleichzeitig auf mehrere andere Punkte achtete, dürften meine Beobachtungen möglicher Weiſe für einen Vergleich mit denen des Herrn Taine einiges Intereſſe bieten, ſowie mit den Beobachtungen, die zweifelsohne ſpäter noch werden gemacht werden. Nach dem, 0 was ich an meinen eigenen Kindern ge- ſehen, bin ich gewiß, daß die Zeit der Entwickelung der einzelnen Fähigkeiten bei verſchiedenen Kindern verſchieden iſt. alle Dinge zu perſonificiren. Es frug unauf— hörlich: „Was ſagt das Pferd? Was ſagt der große Baum?“ u. ſ. w. Das ſchimmernde Waſſer feſſelte ſtets ſeine Aufmerkſamkeit, und als man ihm ſagte, der Mond, den es ebenfalls mit den Blicken verfolgte, ſo lange er da war und „mitſpazierte“, gehe unter (da lune se couche), frug es ſogleich, wo die Bonne des Mondes ſei? Die deutſche Literatur beſitzt ebenfalls eine derartige Arbeit („Das Kind“, Tagebuch eines Vaters. Leip— 75 H. Hartung u. Sohn, 1876), in welchem ſich ſchätzenswerthe Beobachtungen in dieſer Richtung befinden. An merk. der Redaction. 368 Während der erſten ſieben Tage wur— den von meinem Kinde verſchiedene Reflex— thätigkeiten, nämlich Nießen, Schlucken (d. h. Aufſtoßen), Gähnen, Sich-recken und natürlich Saugen und Schreien gehörig vollzogen. Am ſiebenten Tage berührte ich die nackte Sohle ſeines Fußes mit einem Papierſchnitzel, welches es wegſchleu— derte, indem es ſeine Zehen gleichzeitig ein— zog, wie wenn ein älteres Kind gekitzelt wird. Die Vollkommenheit dieſer Reflex— bewegungen zeigt, daß die äußerſte Un— vollkommenheit der willkürlichen Bewegun— gen nicht dem Zuſtande der Muskeln oder der vermittelnden Centren, ſondern dem des Sitzes des Willens beizumeſſen iſt. Schon zu derſelben Zeit, ſchien es mir klar zu ſein, daß, wenn man ihm eine warme, weiche Hand auf das Geſicht legte, in ihm der Wunſch zu ſaugen rege wurde. Es muß dies als eine Reflex— oder inſtinctive Thätigkeit betrachtet werden, denn man kann unmöglich glauben, daß fo, frühe ſchon Erfahrung und die Verknüpfung mit dem Gefühlseindruck von ſeiner Mut— ter Bruſt in Thätigkeit getreten wären. Während der erſten vierzehn Tage fuhr es oft auf, wenn es ein plötzliches Geräuſch hörte und zwinkerte mit den Augen. Der- ſelbe Umſtand wurde während der erſten vierzehn Tage auch bei einigen meiner anderen Kinder beobachtet. Als es 66 Tage alt war, nießte ich einmal zufällig, worauf es heftig zuſammenfuhr, das Geſicht verzog, ganz erſchreckt ausſah und laut zu ſchreien anfing; eine ganze Stunde lang befand es ſich in einem Zuſtande, den man bei einer ältern Perſon nervös nennen würde, indem es bei jedem geringen Geräuſche zuſammenfuhr. Wenige Tage vorher fuhr es zum erſten Male bei einem plötzlich geſehenen Gegenſtande zuſammen; dagegen Darwin, Biographiſche Skizze eines kleinen Kindes. ließen es Töne noch lange nachher weit häufiger zuſammenfahren und mit den Augen blinzeln, als es Geſichtseindrücke vermochten; ſo ſchüttelte ich z. B., als es 114 Tage alt war, eine Pappſchachtel mit Zuckerwerk nicht weit von ſeinem Geſichte, und es fuhr zuſammen, während, wenn man dieſelbe Schachtel leer oder irgend etwas Anderes ebenſo nahe oder noch näher an ſeinem Geſichte ſchüttelte, dies keine Wirkung hervorbrachte. Wir dürfen aus dieſen einzelnen Thatſachen ſchließen, daß das Zwinkern mit den Augen, welches offen— bar dazu dient, fie zu ſchützen, nicht durch. Erfahrung erworben war. Obwohl fo empfindlich gegen Geräuſche im Allgemeinen, war es jedoch ſelbſt im Alter von 124 Tagen noch nicht im Stande hinreichend leicht zu unterſcheiden, woher ein Laut kam, um ſeine Augen nach der Quelle des Ge— räuſches zu richten. f Was das Geſicht betrifft, ſo hefteten ſich die Augen des Knaben ſchon mit dem neunten Tage auf ein (brennendes) Licht und bis zum 45. Tage ſchien nichts An— deres ſie in gleicher Weiſe zu feſſeln; am 49. Tage wurde aber ſeine Aufmerkſamkeit durch eine lebhaft gefärbte Troddel ge— weckt, was ſich daran zeigte, daß ſeine Augen ſtarr wurden und die Bewegungen ſeiner Arme ſich einſtellten. Es war er— ſtaunlich, wie langſam er die Fähigkeit erlangte, mit den Augen einem nur einiger— maßen ſchnell ſchwingenden Gegenſtande zu | folgen; denn er vermochte dies kaum, als er ſchon achtehalb Monate alt war. Im Alter von 32 Tagen gewahrte er die Bruſt ſeiner Mutter, wenn er drei bis vier Zoll derſelben nahe war, wie ſich daran zeigte, daß er ſeine Lippen vorſtreckte und ſeine Augen ſtarr blickten; ich zweifle aber ſehr, ob dies irgend etwas mit dem Geſichte Darwin, Biographiſche Skizze eines kleinen Kindes. zu thun hatte; jedenfalls hatte er die Bruſt nicht berührt. Ob er nun durch den Geruch, oder das Gefühl der Wärme, oder durch die natürliche Aſſociation mit der Lage, in der man ihn hielt, geleitet wurde, will ich allerdings nicht entſcheiden. Die Bewegungen ſeiner Glieder und ſeines Körpers waren lange Zeit hindurch unbeſtimmt und zwecklos und wurden ge— wöhnlich zuckend ausgeführt; jedoch fand bei dieſer Regel eine Ausnahme ſtatt, die nämlich, daß er von ſehr früh an und jedenfalls lange ehe er noch 40 Tage alt war, ſeine Hände nach dem Munde führen konnte. Im Alter von 77 Tagen nahm er die Flaſche (mit der er zum Theil ge— ſtillt wurde) in feine rechte Hand, gleich— viel, ob ihn feine Wärterin auf dem rech— ten oder linken Arme hielt, und war, trotz wiederholter Verſuche, während der nächſten acht Tage nicht dazu zu bringen, ſie in die Linke zu nehmen; ſo war alſo die rechte Hand um eine Woche der linken voraus. Dennoch ſtellte ſich ſpäter heraus, daß dieſes Kind linkshändig war, ohne Zweifel nach ererbter Neigung — ſein Großvater, ſeine Mutter und ein Bruder waren oder ſind ebenfalls „links“. Als er 80 bis 90 Tage alt war, zog er allerhand Gegenſtände nach ſeinem Munde und konnte dies nach zwei bis drei Wochen mit einem gewiſſen Ge— ſchicke thun; oft aber berührte er mit dem Gegenſtande erſt ſeine Naſe und zog ihn dann erſt nach ſeinem Munde herab. Meinen Finger packte er und wollte ihn in den Mund nehmen, ſeine eigene Hand hinderte ihn aber daran zu ſaugen; als er jedoch am 114. Tage auf dieſe Weiſe verfuhr, glitt er mit ſeiner Hand herab, ſo daß er meine Fingerſpitze in den Mund bekommen konnte. Dieſes Verfahren wiederholte er verſchiedene Male, und offenbar war es 369 nicht Zufall, ſondern vernünftige Abſicht. Die abſichtlichen Bewegungen der Hände und Arme waren alſo denen des Körpers und der Beine weit voraus, obwohl die zweckloſen Bewegungen der letzteren von ſehr früh an wechſelweiſe wie beim Gehen geſchahen. Als er vier Monate alt war, richtete er den Blick oft feſt auf ſeine Hände und andere ihm ganz nahe Gegenſtände, wobei ſeine Augen ſtark nach innen ge— richtet waren, ſo daß er dabei entſetzlich ſchielte. Vierzehn Tage ſpäter (d. h. im Alter von 132 Tagen) bemerkte ich, daß wenn ein Gegenſtand ſeinem Geſichte auf Aermchenslänge nahe gebracht wurde, er ihn zu ergreifen ſuchte, aber oft verfehlte, daſſelbe verſuchte er jedoch nicht mit weiter entfernten Gegenſtänden. Ich denke, man kann kaum zweifeln, daß ihm die Conver— genz ſeiner Augen den Schlüſſel gab und ihn reizte, feine Arme zu bewegen. Ob— wohl nun aber dieſes Kind ſchon ſo frühe ſeine Hände zu brauchen angefangen, zeigte es ſpäter in dieſer Beziehung doch keine be— ſondere Geſchicklichkeit, denn im Alter von 2 Jahren und 4 Monaten hielt es Blei— ſtifte, Federn und andere Sachen weit un— geſchickter und unſicherer, als ſeine damals erſt 14 Monate alte Schweſter, die übri— gens große angeborne Geſchicklichkeit in Handhabung alles Möglichen zeigte. Zorn. — Es war ſchwer zu entſcheiden, wie früh der Knabe Zorn empfand; den achten Tag zog er, bevor er ſchrie, die Augenbrauen zuſammen und runzelte die Haut um ſeine Augen; dies mag indeſſen eher aus Schmerz oder aus Unbehagen, als gerade aus Zorn geſchehen ſein. Als er aber einmal, ungefähr zehn Wochen alt, etwas zu kalte Milch bekam, behielt er die ganze Zeit über, während er ſaugte, die Stirn gerunzelt, wie etwa ein Erwachſener, der ſich darüber ärgert, daß er zu etwas gezwun— gen wird, was er nicht gerne thut. Als er beinahe vier Monate zählte und viel— leicht noch früher, konnte man, nach der Art, wie das Blut nach Kopf und Antlitz ſtrömte, nicht daran zweifeln, daß er leicht in heftigen Zorn gerieth. Ein kleiner An— laß reichte dazu hin; ſo ſchrie er, kaum ſieben Monate alt, vor Wuth, weil ihm eine Citrone entglitt und er ſie nicht mit ſeinen Händen greifen konnte. Wenn man ihm, als er elf Monate alt war, ein fal— ſches Spielzeug gab, pflegte er es fortzu— ſtoßen und zu ſchlagen; ich vermuthe, dieſes Schlagen war ein inſtinktives Zeichen von Zorn, wie das Schnappen mit den Kinn— laden bei einem eben aus dem Ei gekom— menen Krokodil, und nicht etwa, daß er dachte, er könne dem Spielzeug dadurch etwas zu Leide thun. Im Alter von 2½ Jahren war er gleich bei der Hand, wenn es Jemand bei ihm verſah, mit Büchern oder Stöcken und dergleichen nach dem Betreffenden zu werfen; und daſſelbe war bei mehreren meiner anderen Söhne der Fall. Andererſeits habe ich nie eine Spur dieſer Fertigkeit bei meinen Töchtern wahrnehmen können, ſo daß ich mich zu der Meinung veranlaßt ſehe, daß Knaben eine Neigung mit etwas zu werfen angeboren iſt. Furcht. — Dieſes Gefühl wird wahr— ſcheinlich mit am früheſten von Säuglingen empfunden, wie aus ihrem Zuſammen— fahren mit darauf folgendem Schreien bei einem plötzlichen Geräuſche, wenn ſie kaum einige Wochen alt ſind, hervorgeht. Noch ehe der in Rede ſtehende Knabe fünftehalb Monate alt war, pflegte ich dicht in ſeiner tähe mancherlei laute Geräuſche hervorzu— bringen, die ſämmtlich als vortreffliche Späße aufgenommen wurden. Um dieſe Zeit aber fing ich eines Tages, was ich nie . Darwin, Biographiſche Skizze eines kleinen Kindes. zuvor gethan, laut an zu ſchnarchen; er wurde ſofort ſehr ernſt und brach dann in Thränen aus. Zwei oder drei Tage dar— auf vergaß ich mich und machte daſſelbe Geräuſch, was wiederum dieſelbe Wirkung hatte. Um dieſelbe Zeit (am 137. Tage) kam ich rückwärts auf ihn zu und blieb dann regungslos ſtehen: er ſchaute ſehr bedenklich drein, ſchien verwundert und würde bald geſchrieen haben, hätte ich mich nicht umgedreht, worauf ſich die Spannung ſeines Geſichtes augenblicklich in ein Lächeln verlor. Es iſt wohlbekannt, wie ſehr ältere Kinder durch die Furcht vor dem Unbe— ſtimmten, wie z. B. der Dunkelheit, leiden können, oder wenn ſie an einem finſtern Winkel in einer großen Halle vorbei müſ— ſen u. ſ. f. Ich könnte als ein Beiſpiel anführen, daß ich denſelben Jungen, als er 24, Jahre alt war, in den zoologiſchen Garten mitnahm, wo er ſich ſehr über alle Thiere, die den ihm bekannten glichen, wie Hirſche, Antilopen u. ſ. w., ſowie über alle Vögel und ſelbſt den Strauß freute, vor den verſchiedenen grö— ßeren Thieren in Käfigen ſich aber fürch— tete. Er ſagte ſpäter oft, daß er wieder hingehen aber nicht „die Thiere in Häuſern“ ſehen möchte, und wir konnten uns dieſe Furcht auf keine Weiſe erklären. Dürfen wir nicht muthmaßen, daß bei Kindern eine in ſo vielen Fällen unerklärliche, aber ſehr beſtimmte Furcht, die mit ihrer eigenen Erfahrung in keinem Zuſammenhange ſteht, eine ererbte Folge von wirklichen Gefahren und tiefem Aberglauben aus frühen Zeiten eines wilden Urzuſtandes ſei? Mit dem, was wir von der Vererbung eines früher gut entwickelten Typus wiſſen, ſtimmt es ganz, daß dieſe Furcht eben in einem früheren Lebensabſchnitt erſcheint und ſpäter wieder verſchwindet. Empfindungen der Luſt. — Man darf annehmen, daß die Kinder beim Saugen Luſt empfinden, und der Ausdruck, wie ſie dabei die Augen ver— drehen, ſcheint zu zeigen, daß dies der Fall iſt. Dieſer Knabe lächelte, als er 45 Tage, ein zweites Kind, als es 46 Tage alt war, und es war dies ein wirkliches Lächeln, wie es die Luſt ausdrückt, indem ihre Augen leuchteten und die Lider ſich leicht— hin ſchloſſen. zugsweiſe ein, wenn ſie ihre Mutter an— ſahen, und war ſonach wahrſcheinlich geiſti— gen Urſprungs; auch lächelte der Junge einige Zeit hindurch aus einem innern Luſtgefühl, denn es geſchah Nichts, was ihn irgendwie hätte erregen oder beluſtigen können. Als er 110 Tage alt war, be— luſtigte es ihn ausnehmend, wenn ein Tuch über ſein Geſicht geworfen und dann ſchnell weggezogen wurde, und ebenſo, wenn ich bei demſelben Spiel plötzlich mein Ge— ſicht entmummte und auf ihn zufuhr. Er ſtieß dabei leiſe Töne aus, die der An— ſatz zum Lachen waren. Hier war Ueber— raſchung die Haupturſache zur Beluſtigung, wie dies in überwiegendem Maße auch bei dem Witze Erwachſener der Fall iſt. Drei oder vier Wochen, glaube ich, vor der Zeit, wo er ſich freute, wenn man plötz— lich ein Geſicht entmummte, nahm er es als einen guten Spaß auf, wenn man ihm die Naſe oder die Backen kniff. Ich war zuerſt überraſcht, daß Scherz von einem kaum drei Monate alten Kinde ver— ſtanden würde; wir dürfen jedoch nicht ver— geſſen, wie ſo frühzeitig junge Hunde und kleine Katzen zu ſpielen anfangen. Als er vier Monate alt war, zeigte er unzweideutig, daß er gern Klavier ſpielen hörte, womit alſo das erſte Anzeigen einer äſthetiſchen Empfindung vorzuliegen Das Lächeln fand ſich vor- Darwin, Biographiſche Skizze eines kleinen Kindes. 371 ſcheint, wenn man nicht etwa die viel früher gezeigte Freude an lebhaften Farben dafür nehmen will. Zuneigung. — Dieſe entſtand wahr— ſcheinlich ſchon ſehr früh im Leben des Säuglings, wenn wir danach urtheilen dürfen, daß er, noch nicht zwei Monate alt, diejenigen, welche mit ſeiner Pflege be— traut waren, anlächelte; obwohl ich deutliche Beweiſe davon, daß er irgend Jemanden unterſchied und erkannte, erſt bekam, als er faſt vier Monate alt war. Im Alter von fünf Monaten zeigte er entſchieden, daß er zu ſeiner Wärterin wollte. Er war aber ſchon etwas über ein Jahr alt, als er aus eigenem Triebe Zuneigung in offen— kundigen Handlungen an den Tag legte, indem er wiederholentlich ſeine Wärterin küßte, die kurze Zeit fortgeweſen war. Was das verwandte Gefühl der Sympa- thie betrifft, ſo zeigte ſich daſſelbe klar im Alter von 6 Monaten und 11 Tagen durch ſein trauriges Geſicht mit deutlich niedergezogenen Mundwinkeln, ſobald ſeine Wärterin that, als ob ſie weinte. Eiferſucht erſchien deutlich, als er 15½ Monate alt war, wenn ich mit einer großen Puppe ſchön that oder ſein kleines Schweſterchen im Arme wiegte. Da bei jungen Hun— den Eiferſucht ein ſo ſtarker Affekt iſt, würden ſie wohl auch Kinder in einem weit früheren als dem eben angeführten Alter zeigen, wenn man ſie in angemeſſener Weiſe reizte. Ideenaſſociation, Vernunft x. — Der erſte Akt, der nach meiner Beob— achtung eine Art praktiſcher Ueberlegung aufwies, iſt bereits angeführt worden, wo er nämlich mit ſeiner Hand an meinem Finger entlang glitt, um ſo deſſen Ende in ſeinen Mund zu bringen; und zwar fiel dies auf den 114. Tag. Als er fünfte— Darwin, Biographifche Skizze eines kleinen Kindes. halb Monate alt war, lächelte er wieder— holentlich über mein und ſein Bild in einem Spiegel und ließ ſich ohne Zweifel täuſchen, ſo daß er ſie für wirkliche Gegen- ſtände hielt; er zeigte aber Verſtand, in— dem er offenbar überraſcht war, daß meine Stimme von hinter ihm herkam. Wie alle Kinder ſah er ſich ſehr gerne im Spie— gel und verſtand in weniger als zwei Mo— naten vollkommen, daß das ein Bild war; denn wenn ich ganz lautlos irgend ein ſonderbares Geſicht ſchnitt, verfehlte er nicht, ſich auf einmal umzudrehen und mich Er war, im Alter von ſieben anzuſehen. Monaten, jedoch in Verlegenheit, als er mich von draußen durch eine große Spiegel— fenſterſcheibe ſah und ſchien zweifelhaft, ob es ein Bild ſei oder nicht. Eins von meinen anderen Kindern, ein Mädchen, war bei weitem nicht ſo klug und ſchien ganz verblüfft über das Spiegelbild einer von hinten auf ſie zu kommenden Perſon. Die höheren Affen, bei denen ich mit einem kleinen Handſpiegel Verſuche anſtellte, benahmen ſich anders; ſie fuhren mit der Hand hinter den Spiegel und zeigten fo Verſtand, aber weit entfernt, ſich mit Ver— gnügen anzuſehen, wurden ſie böſe und wollten nicht mehr hineinſehen. Als der Knabe fünf Monate alt war, ſetzten ſich in ſeiner Seele mit einander verbundene Vorſtellungen feſt, die un— abhängig von irgend welcher Anleitung entſtanden; ſo z. B. wurde er, ſobald er ſeinen Hut und ſein Mäntelchen um bekam, ſehr ungehalten, wenn man nicht ſofort mit ihm hinausging. Als er genau ſieben Monate zählte, that er den großen Schritt, ſeine Wärterin mit ihrem Namen zu verbinden, ſo daß er, wenn ich ihren Namen rief, ſich ſofort nach ihr umſah. Einer von den anderen Jungen pflegte zum VV Scherz ſeinen Kopf zeitweiſe zu ſchütteln; wir lobten es und ahmten ihm nach, in— dem wir dabei ſagten: „Schüttle mit dem Kopf“, und als er ſieben Monate alt war, that er es manchmal, wenn man es ihm knüpfte ſagte, auch ohne alle andere Anleitung. Während der nächſten vier Monate ver- dann das in Rede ſtehende Kind viele Dinge und Handlungen mit Worten; ſo ſtreckte er ſtets, wenn man von ihm ein Küßchen verlangte, die Lippen vor und hielt ſtill; oder er ſchüttelte mit dem Kopfe und ſagte in ſcheltendem Tone „Ah“ zum Kohleneimer, oder wenn ein Tropfen Waſſer vergoſſen war, u. ſ. w., weil man ihn gelehrt, dies als garſtig anzuſehen. Ich kann noch hinzufügen, daß er im Alter von neun Monaten weniger ein paar Ta— gen ſeinen eignen Namen mit ſeinem Bilde im Spiegel verknüpfte und ſich, gerufen, nach dem Spiegel umdrehte, ſelbſt wenn er weiter davon entfernt war. Einige Tage über neun Monate alt, merkte er ſelbſtändig, daß er eine Hand oder einen anderen Gegenſtand, der ſeinen Schatten auf die gegenüberliegende Wand warf, hinter ſich ſuchen mußte. Als er noch nicht ein Jahr alt war, reichte es hin, irgend einen kurzen Satz in Zwiſchenräumen zwei oder dreimal zu wiederholen, um in ſeiner Seele eine ge— wiſſe Verknüpfung von Vorſtellungen ſicher zu befeſtigen. Bei dem von Herrn Taine beſchriebenen Kinde ſcheint die leichte Ver— knüpfung von Vorſtellungen erſt in einem beträchtlich vorgerückteren Alter ſtattgefunden zu haben, wenn nicht etwa die früheren Fälle überſehen worden ſind. In der Leichtigkeit, mit welcher die einer Anleitung verdankten und andere, ſelbſtändig entſprun⸗ gene Ideen-Aſſociationen erworben wurden, ſchien mir der bei Weitem am ſtärkſten ausgeprägte Unterſchied zwiſchen der Kin⸗ Av Darwin, Biographiſche Skizze eines kleinen Kindes. desſeele und der des klügſten erwachſenen Hundes zu liegen. Welchen Gegenſatz bietet die Seele eines Säuglings gegenüber der des von Prof. Möbius (die Bewegungen der Thiere, 1873. S. 11.) beſchriebenen Hechtes, der volle drei Monate lang bis zur Betäubung gegen eine Glaswand ſchoß, die ihn von einigen Elritzen ſchied, und der dann, als er gelernt hatte, daß er dieſe nicht ungeſtraft angreifen konnte, wieder zu jenen in das Aquarium geſetzt, ſinnlos be— harrlich jeden weiteren Angriff unterließ. Neugier wird, wie Herr Taine be— merkt, von Säuglingen ſehr früh gezeigt und iſt höchſt wichtig für ihre geiſtige Ent: wickelung; ich habe jedoch keine beſondere Beobachtung über dieſen Gegenſtand ge— macht. Nachahmung greift ebenfalls ein. Als unſer Junge erſt vier Monate alt war, glaubte ich, daß er Laute nachzuah— men ſuche; ich mag mich aber wohl ge täuſcht haben, denn erſt als er zehn Mo— nate alt war, konnte ich mich vollkommen | davon überzeugen. Im Alter von 111%, Monaten hatte er eine gewiſſe Fertigkeit in der Nachahmung von allerlei Handlungen, wie mit dem Kopfe ſchütteln und „Ah“ jagen bei etwas Garſtigem, oder ſorgſam und ſachte den Zeigefinger in die Mitte des andern Handtellers legen zu den Kinderreimen: „Pat it and pat it and mark it with T.“ Es war unterhaltend den wohlge— fälligen Ausdruck zu ſehen, wenn er ein derartiges Kunſtſtück erfolgreich ausgeführt hatte. Ich weiß nicht, ob es erwähnenswert) iſt, inſofern es etwas über die Stärke des Gedächtniſſes bei einem Kinde erkennen ließe, daß dieſer Junge im Alter von 3 Jahren und 23 Tagen, als man ihm ein Bild ſeines Großvaters zeigte, denſelben augenblick— lich erkannte und eine ganze Reihe von Bege— benheiten erwähnte, die ſich zugetragen hatten, während er das letzte mal bei ihm war, und die in der Zwiſchenzeit thatſäch— lich nie erwähnt worden waren. Sittliches Gefühl. — Das erſte Anzeichen von ſittlichem Gefühl wurde im Alter von beinahe 13 Monaten bemerkt. Ich ſagte: „Doddy (ſein Schmeichelname) will dem armen Papa keinen Kuß geben, — böſer Doddy“. Dieſe Worte ſchienen ihm ohne Zweifel ein leichtes Unbehagen zu verurſachen; und endlich, als ich zu meinem Stuhl zurück gegangen war, ſtreckte er ſeine Lippen vor, als ein Zeichen, daß er bereit wäre, mich zu küſſen; dann ſchüttelte er ärgerlich ſeine Hand, bis ich kam und ſeinen Kuß empfing. Nahezu derſelbe kleine Auftritt wiederholte ſich we— nige Tage darauf, und die Verſöhnung ſchien ihm eine ſolche Genugthuung zu ge— währen, daß er in der Folge mehrere mal that, als ob er böſe wäre, mir einen Schlag gab und dann dararauf beſtand, mir einen Kuß zu geben. Hierin haben wir einen Zug jener Schauſpielerkunſt, die bei den meiſten Kindern ſo ſtark aus— geſprochen iſt. Um dieſe Zeit wurde es leicht, auf ſeine Gefühle zu wirken und ihn, wozu man wollte, zu beſtimmen. Als er 2 Jahre und 3 Monate alt war, gab er ſeinen letzten Biſſen Pfefferkuchen ſeiner kleinen Schweſter und rief dann mit hoher Selbſtbilligung: „O guter Doddy, guter Doddy“. Zwei Monate ſpäter, wurde er äußerſt empfindlich gegen Spott und war ſo argwöhniſch, daß er oft dachte, Leute, die ſich lachend unterhielten, lachten über ihn. Ein wenig ſpäter (im Alter von 2 Jah- ren 7½ Monaten) begegnete ich ihm, als er mit ungewöhnlich leuchtenden Augen aus dem Speiſezimmer kam. Da er dabei ein ſonderbares, unnatürliches oder erregtes Weſen zeigte, ſo ging ich in das Zimmer mich, und jede Spur von Schüchternheit um zu ſehen, wer darin wäre, und fand, daß er daran geweſen war, geſtoßenen Zu— cker zu nehmen, was man ihm verboten hatte. Da er nie irgend wie beſtraft wor— den war, rührte ſein ſonderbares Weſen ſicher nicht von Furcht her, und ich glaube, daß es eher eine angenehme Aufregung im Kampfe mit dem Gewiſſen war. Vierzehn handen iſt. Nach einiger Zeit iſt der Laut je nach der Urſache verſchieden, wie bei Tage darauf traf ich ihn, wie er aus demſelben Zimmer kam; er beſah ſein Lätzchen, das er ſorgfältig zuſammengerollt hatte. Sein Weſen war wiederum ſo ſeltſam, daß ich nachzuſehen beſchloß, was in ſeinem Lätzchen wäre, ungeachtet er ſagte, es wäre nichts nach Willkür ſchreien zu lernen, oder je— darin, und mir wiederholentlich „zu gehen“ befahl. Ich fand es mit Pickleſauce befleckt, ſo daß hier eine ſorgfältig überlegte Täuſchung | vorlag. Da dieſes Kind einzig durch Ein- wirkung auf ſeine guten Gefühle erzogen wurde, wurde es bald ſo wahrheitsliebend, offen und zärtlich, als nur irgend Jemand wünſchen konnte. Unbewußtheit, Schüchternheit. — Niemand kann ſich mit kleinen Kindern befaßt haben, ohne daß ihm die unbefan— gene Art aufgefallen wäre, mit der ſie, ohne mit den Augen zu blinken, feſt und ſtarr in ein neues Geſicht ſehen; ein Erwachſe— ner kann auf dieſe Weiſe nur ein Thier oder einen lebloſen Gegenſtand anſehen. Es kommt dies, glaube ich, daher, das kleine Kinder durchaus nicht über ſich den— ken, und daher gar nicht ſchüchtern ſind, obwohl ſie ſich bisweilen vor Fremden fürchten. Ich ſah bei meinem Kinde die erſten Zeichen von Schüchternheit, als es faſt 2¼ Jahre alt war: ſie zeigte ſich mir gegenüber nach einer zehntägigen Ab— weſenheit von Hauſe, hauptſächlich dadurch, daß ſich ſeine Augen um ein Geringes von mir abgewandt hielten; bald kam er Darwin, Biographiſche Skizze eines kleinen Kindes. aber, ſetzte ſich auf mein Knie und küßte verſchwand. Mittel der Mittheilung. — Das Geräuſch des Weinens oder vielmehr Schreiens, da lange Zeit hindurch keine Thränen vergoſſen werden, wird natürlich in inſtinktiver Weiſe ausgeſtoßen, dient aber dazu, um anzuzeigen, daß Leiden vor— Hunger oder bei Schmerz. Dies wurde bemerkt, als der Knabe elf Wochen alt war und, wie ich glaube, noch früher bei einem anderen Kinde. Uebrigens ſchien er bald nachdem ſein Geſicht zu verziehen, um dadurch anzuzeigen, daß er etwas wolle, Als er 46 Tage alt war, gab er zum erſten Male leiſe Laute von ſich, ohne Bedeu— tung, zu feinem Vergnügen, und dieſe wur⸗ den bald mannigfach. Ein Anſatz zum Lachen wurde am 113. Tage, bei einem anderen Kinde aber weit früher beobachtet. Zu der Zeit glaubte ich, wie ſchon be— merkt, daß er anfinge, zu verſuchen, Laute nachzuahmen, wie er es zu einer beträcht— lich ſpäteren Zeit ſicher that. Im Alter von 5½ Monaten ließ er ein artiku⸗ lirtes „da“ hören, aber ohne irgend welche Abſicht damit zu verbinden. Als er etwas über ein Jahr war, ge— brauchte er Geberden, um ſeine Wünſche zu erklären; ſo las er, um ein einfaches Beiſpiel zu geben, ein Stückchen Papier auf und wies, indem er mir es gab, auf das Feuer, da er oft hatte Papier ver— brennen ſehen und dies gerne ſah. Ge— rade im Alter von einem Jahre that er den großen Schritt ein Wort für Eſſen zu erfinden, nämlich „mum“, was ihn aber Wenn darauf brachte, entdeckte ich nicht. ik a Aare 7 7 Darwin, Biographiſche Skizze eines kleinen Kindes. er nun hungrig war, brauchte er, ſtatt zu weinen, dieſes Wort in einer de— monſtrativen Weiſe als ein Verbum, das da ausdrückte „Gieb mir Eſſen“. Dieſes Wort entſpricht alſo dem „ham“, das Herrn Taine's Kind in dem ſpätern Alter von 14 Monaten gebrauchte. Er gebrauchte je— doch „mum“ auch als ein Subſtantiv von weiter Bedeutung, z. B. nannte er Zucker ſhu-mum, und etwas ſpäter, als er das Wort „black“ gelernt hatte, nannte er Lak— ritzen black-ſhu-mum, ſchwarzes Zucker-Eſſen. a Es fiel mir beſonders der Umſtand auf, daß wenn er nach Eſſen mit dem Worte „mum“ verlangte, er dieſem (ich will die damals niedergeſchriebenen Worte ab— ſchreiben) „einen ſehr ſtark ausgeprägten fragenden Ton am Ende“ gab. Auch dem „Ah“, das er zuerſt vorzugsweiſe brauchte, wenn er irgend Jemand oder ſein eigenes Bild in einem Spiegel erkannte, gab er einen Ton des Ausrufs, wie wir ihn ge— brauchen, wenn wir überraſcht ſind. In meinen Notizen bemerkte ich, daß der Ge— brauch dieſer Betonungen inſtinktmäßig ent— ſtanden zu ſein ſcheine, und ich bedaure, daß über dieſen Gegenſtand nicht mehr Beobachtungen gemacht wurden. Ich be— richte dagegen nach meinen Notizen, daß er zu einer ſpäteren Zeit, im Alter von 18 bis 21 Monaten, wenn er etwas durchaus nicht thun wollte, ſeine Stimme durch ein trotziges Winſeln modulirte, um jo aus— zudrücken, „das will ich nicht“; und an— drerſeits drückte ſein zuſtimmendes „Hm“ aus „Ja gewiß“. Herr Ta ine legt eben— falls großen Nachdruck auf die höchſt aus— drucksvollen Betonungen der Laute, die fein Töchterchen brauchte, ehe ſie hatte ſprechen lernen. Der fragende Ton, welchen mein Junge dem Worte „mum“ gab, wenn er Eſſen verlangte, war beſonders merkwür— dig; denn wenn Jemand ein einzelnes Wort oder einen kurzen Satz in dieſer Weiſe brauchen will, wird er finden, daß die muſikaliſche Höhe ſeiner Stimme am Schluſſe beträchtlich ſteigt. Ich ſah damals nicht, daß dieſe Thatſache die Anſchauung ſtützt, die ich anderswo aufgeſtellt habe: daß der Menſch, ehe er ſich artikulirter Rede bediente, Töne in einer wahrhaft mu— ſikaliſchen Tonleiter ausſtieß, wie dies der Menſchenaffe Hylobates thut. Es machen ſich alſo die Bedürfniſſe des Kindes zuerſt durch inſtinktive Schreie kund, die nach einiger Zeit modificirt werden, theils unbewußt, theils, wie ich glaube, will— kürlich als ein Mittel der Mittheilung, durch den unbewußten Ausdruck der Geſichtszüge — durch Geberden, und in einer ausgeprägten Weiſe durch verſchiedene Betonungen — endlich durch von ihm ſelbſt erfundene Wörter allgemeiner Art, dann von be— ſtimmterer Beſchaffenheit, die denen nach— gemacht ſind, die er hört; und zwar werden dieſe letzteren mit wunderbarer Schnelligkeit erworben. Ein Kind verſteht innerhalb gewiſſer Grenzen und, wie ich glaube, in einem ſehr frühen Lebensabſchnitt, die Ab— ſicht oder die Gefühle derer, die es warten, an dem Ausdruck ihrer Geſichtszüge. Es kann hierüber, ſoweit es das Lächeln betrifft, kaum ein Zweifel walten, und es ſchien mir, daß das Kind, deſſen Biographie ich hier gegeben, im Alter von etwas über fünf Monaten einen theilnehmenden Ausdruck verſtand. Als es 6 Monate 11 Tage alt war, zeigte es ſicher Mitgefühl mit ſeiner Wärterin, wenn ſie that, als ob ſie weinte. Wenn ſich der Knabe, als er faſt ein Jahr alt war, freute, wenn er ein neues Kunſtſtück ausgeführt, ſtudirte er augen— ſcheinlich den Ausdruck ſeiner Umgebung. Wahrſcheinlich rührte es auch von Verſchie— denheiten im Ausdruck und nicht blos in der Form der Geſichtszüge her, daß ihm gewiſſe Geſichter offenbar viel beſſer als andere gefielen, ſelbſt ſchon in dem frühen Alter von etwas über 6 Monaten. Ehe er ein Jahr alt war, verſtand er Betonun— gen und Geberden, wie auch mehrere Wör— ter und kurze Sätze. Er verſtand ein Wort, nämlich den Namen ſeiner Wärterin, genau fünf Monate, bevor er ſein erſtes Wort „mum“ erfand; und es ließ ſich dies auch erwarten, da wir wiſſen, daß die niederen Thiere geſprochene Wörter leicht verſtehen lernen! In Bezug auf die in dieſer Zeitſchrift begonnene und im vorliegenden Hefte fort— geſetzte Kritik der Geiger'ſchen Farben— theorie, hatte der Verfaſſer des obigen Ar— tikels die Güte, uns brieflich noch folgende Beobachtungen über die Entwickelung des Farbenſinnes bei ſeinen Kindern mitzu— theilen, um zu ferneren Beobachtungen dar— über anzuregen: „Während ich ſorgſam die geiſtige Ent— wickelung meiner kleinen Kinder verfolgte, war ich erſtaunt, bei zweien oder, wie ich glaube, bei dreien, bald nachdem ſie in das Darwin, Biographiſche Skizze eines kleinen Kindes. * Alter gekommen waren, in welchem ſie die Namen aller gewöhnlichen Dinge wußten, zu beobachten, daß ſie völlig unfähig er— ſchienen, den Farben colorirter Stiche die richtigen Namen beizulegen, obgleich ich wiederholentlich verſuchte, ſie dieſelben zu lehren. Ich erinnere mich beſtimmt, erklärt zu haben, daß ſie farbeublind ſeien, aber dies erwies ſich nachträglich als eine grund— loſe. Befürchtung. Als ich dieſe Thatſache einer andern Perſon mittheilte, erzählte mir dieſelbe, daß ſie einen ziemlich ähnlichen Fall beobachtet habe. Die Schwierigkeit, welche kleine Kinder, ſei es hinſichtlich der Unterſcheidung oder, wahrſcheinlicher, hin— ſichtlich der Benennung der Farben empfin— den, ſcheint daher eine weitere Unterſuchung zu verdienen. Ich will hinzufügen, daß es mir ehemals ſchien, als wenn der Ge— ſchmacksſinn, wenigſtens bei meinen eigenen Kindern, als ſie noch ſehr jung waren, von demjenigen erwachſener Perſonen ver— ſchieden geweſen ſei; dies zeigte ſich dadurch, daß ſie Rhabarber mit etwas Zucker und Milch, welches für uns eine abſcheuliche, ekelerregende Miſchung iſt, nicht zurück— wieſen, und ebenſo in ihrer ſonderbaren Vorliebe für die ſauerſten und herbſten Früchte, wie z. B. unreife Stachelbeeren und Holzäpfel.“ Rritilches über die Arzengume. Von Profeſſor M. Preyer. u der Zeit, als noch die Lehre von der Wechſelwirkung der Naturkräfte ihre wiſſenſchaftliche Begründung nicht gefunden hatte, galt das Suchen nach Perpetuum mobile für vollkommen be— rechtigt auch in wiſſenſchaftlichen Kreiſen. Vorzügliche Köpfe verwendeten ihren ganzen Scharfſinn darauf, Maſchinen zu erfinden, die ohne erneuerte Kraftzufuhr von außen ununterbrochen Arbeit leiſten ſollten. Ja noch heute verſteht es ſich keineswegs von ſelbſt bei Laien, daß eine Uhr nicht erfun— den werden kann, die durch den eigenen Pendelſchlag ſich ſelbſt aufzöge. Die Er— kenntniß der Tragweite des Geſetzes von der Erhaltung der Kraft nicht allein, ſon dern ſchon das Verſtändniß deſſelben wird erſt in Zukunft, ſo ſcheint es, in den Schulen Wurzel faſſen. Ganz ähnlich verhält es ſich mit dem Geſetz der natürlichen Entwickelung. Heute noch gilt es bei ſehr vielen, auch in wiſſen ſchaftlichen Kreiſen, nicht für thöricht, Expe— rimente zum Beweiſe einer Urzeugung au einem ſpruch mit der Continuität des Lebens ſteht. Einige Forſcher beſchäftigen ſich in der That exuſtlich damit, unter Ausſchluß der Vermittelung alles Lebenden etwas Leben— diges künſtlich herzuſtellen. Und wenn auch immer wieder und wieder Andere die Fehler— quellen ihrer vermeintlich zu poſitiven Er— gebniſſen führenden Verſuche aufdecken, jene laſſen nicht ab, fahren vielmehr mit einer Beharrlichkeit fort, die an die Geduld des nach dem Stein der Weiſen ſuchenden Al— chymiſten erinnert. Es ſcheint, daß zu allen Zeiten ein Bruchtheil der denkenden Männer in eigenthümlicher Verblendung mit eiſernem Fleiße thätig ſein muß, um durch Irrthümer, die den Widerſpruch und Einſpruch anderer wecken, einen wiſſenſchaft— lichen Fortſchritt herbeizuführen. So ſteht es zur Zeit mit der Lehre von der Urzeugung. Ich habe bereits ge— zeigt“), daß die Wahrſcheinlichkeit, ein leben— des Weſen ohne Eltern entſtehen zu ſehen, verſchwindend klein iſt, nämlich ſo gering wie die Wahrſcheinlichkeit eines lebenden ) Deutſche Rundſchau, April 1875: Die Hypotheſen über den Urſprung des Lebens. 378 Preyer, Kritiſches über die Urzeugung. Weſens, das nicht ſtürbe. des Todes jedes einzelnen Organismus be— zweifelt Niemand, obſchon ſie nur inductiv iſt. Die Thatſache der Entſtehung (der Geburt) jedes einzelnen Organismus aus anderen Organismen iſt durch mehrtauſend— jährige Erfahrung gefunden worden, ſie iſt gleichfalls inductiv feſtgeſtellt, da noch niemals ein lebendes Weſen beobachtet wurde, welches nicht von anderen lebenden Weſen abſtammte. Es iſt ſogar im letzteren Falle die Zahl der Einzelweſen, welche der inductiven Generaliſation unterliegen, noch größer, als im erſten; nämlich um die Ge— ſammtzahl aller noch jetzt lebenden Orga— nismen größer, alſo die Wahrſcheinlichkeit der Urzeugung ſtreng genommen noch gerin— ger als die Wahrſcheinlichkeit eines unſterb— lichen Organismus. Nichts deſto weniger wird immerzu experimentirt, um niedere Thier- oder Pflanzenformen ohne Vermittelung von Lebensproceſſen entſtehen zu laſſen. Um ſo auffallender iſt dieſes Verfah— ren, als man gemeiniglich nur dann in einer Wiſſenſchaft etwas Unbewieſenes an— zunehmen oder zu dulden pflegt, wenn da— durch Thatſachen mit einander in einen na— türlichen Zuſammenhang gebracht werden, die ſonſt unvermittelt daſtänden. Bei den Urzeugungs-Experimenten trifft dieſes aber ganz und gar nicht zu. Denn ſelbſt wenn! in einem der von dem Engländer Charl- ton Baſtian, oder dem Franzoſen Oni— mus, oder dem Holländer Huizinga angeſtellten Verſuche — ſetzen wir einen Augenblick den unmöglichen Fall — Leben— diges entſtanden wäre, ſo würde doch das eigentliche Problem vom Lebensurſprung um nichts gefördert ſein, weil die von den genannten Forſchern beobachteten Mikrozoen in der Natur nicht in dieſer Weiſe zum Die Gewißheit erſten Male entſtanden ſein können. Käſe, Fleiſch, Blut, Peptone gab es damals noch nicht. Auch wäre es viel ſchwieriger, das Eutſpringen der fertigen, ſchon ſehr com— plicirten Bakterien, Vibrionen u. dgl. aus unlebendigem Material zu begreifen, als eine Erklärung ihres Urſprungs ohne die Urzeugung zu verſuchen, wie ich es vorſchlug. Höchſtens dürften alſo die erwähnten Verſuche zum Beweiſe der Urzeugung den Werth beanſpruchen, zu zeigen, daß einzelne niedere Lebensformen bei Miſchung von Kohlenſtoffverbindungen auch ohne Eltern auftreten, nicht daß ſie einſtmals in der freien Natur ſo entſtanden ſein können. Da aber eine ſolche elternloſe Zeugung in der Gegenwart eine überflüſſige Annahme iſt und im Widerſpruch mit der Erfahrung ſteht, ſo ſind derlei Experimente unberech— tigt. Es verhält ſich mit ihnen alſo fol— gendermaßen: | 1. Ein poſitives Ergebniß können Die Verſuche, mit Ausſchluß alles Lebenden Le— bendes zu erzeugen, nicht liefern, weil aus logiſchen Gründen die Unwahrſcheinlichkeit des Vorkommens einer elternloſen Geburt jo groß iſt, daß man ſie praktiſch der Un— möglichkeit gleichſetzen muß. 2. Selbſt wenn die Verſuche der ge— nannten Experimentatoren ein poſitives Er- gebniß liefern könnten, würde die erſte na— türliche Entſtehung der künſtlich erzeugten Weſen nicht begreiflicher ſein, weil die zu den Verſuchen verwendeten Ingredientien, ſelbſt Producte von höheren Organismen, zur Zeit des erſten Auftretens jener Mikro— zoen nicht exiſtirten, demnach, jo wie im Ya- boratorium die betreffenden niederen Lebens— formen, ſicher nicht entſtanden ſein können. Ich muß ſomit überhaupt dieſe Ver— ſuche, Lebendiges darzuſtellen, von vornherein für verfehlt erklären. Solche Experimente nützen nur anderer Richtung unſere Kenntni erweitern können, namentlich in Betreff der Lebens zähigkeit und Verbreitung niederer Orga— nismen. Unter dieſen Umſtänden hat es ein be ſonderes Intereſſe, die Anſichten hervor ragender Denker über die Urzeugung mit einander zu vergleichen. Ich will hier nur einige wenige zuſam menſtellen, in der Hoffnung, daß die bei gefügten Bemerkungen ausreichen, ſolche jüngere Forſcher, die ſich mit Experimenten zum Beweiſe der Urzeugung abgeben wollen, davon abzuhalten und fie zu veranlaſſen, ihre Kraft und Zeit rationeller zu ver— werthen. Es ſei nur noch die Bemerkung voraus— geſchickt, daß in der Gegenwart namhafte Forſcher, die durch ihre Leiſtungen ſich als auf der Höhe wiſſenſchaftlicher Kritik ſtehend zeigen, nur inſoweit mit Experi— menten an der Discuſſion über die Ur— zeugung ſich betheiligen, als ſie die Fehler quellen nachweiſen, die den Vertheidigern der Selbſtzeugung entgangen waren. In Deutſchland befaßt ſich kein Forſcher erſten Ranges mit Anſtellung von Experi- menten zum Beweiſe der Urzeugung. Hören wir nun einige von denjenigen Denkern, welche nicht ſelbſt zu Gunſten derſelben experimentirten, aber für ſie ein— traten. Zöllner ſagt in feinem Buche über die Natur der Kometen (S. XXVII): „Da bei der hohen Temperatur des primitiven Gluthzuſtandes organiſche Keime in unſerem heutigen Sinne nicht beſtehen konnten, ſo muß es auf unſerem Planeten einſt eine Zeit gegeben haben, in welcher ſich aus unorganiſcher Materie Organismen ent— wickelten.“ | Preyer, Kritiſches über die Urzeugung. ü 379 indirect, ſofern fie nach art ausgeſchloſſen wäre. „Der Streit über die Exiſtenz einer generalio aequivoca und die neuerdings zu ihrer Widerlegung angeſtellten Verſuche zeigen . . . ., daß wir bei der Beſchränktheit unſerer Mittel und unſeres Verſtandes gegenwärtig nicht im Stande ſind, die erforderlichen Bedingungen zur ſpon— tanen Bildung organiſcher Zellen aus unorganiſcher Materie derartig zu realiſiren, daß jede Möglichkeit einer anderen Zeugungs Daß aber einſt wirklich eine generatio aequivoca ſtatt— gefunden habe, kann für den menſchlichen Verſtand nicht anders, als mit Aufhebung des Cauſalitätsgeſetzes geläugnet werden.“ Alſo Urzeugung iſt nach Zöllner ſpontane Bildung von organiſchen Zellen aus anorganiſcher Materie und wird vom Cauſalitätsgeſetz poſtulirt! Somit verlangt ihm zufolge das Cauſalitätsgeſetz etwas Spontanes, d. h. etwas Freiwilliges, was mit unſeren Mitteln und unſerem Verſtande z. Z. nicht erzielt werden kann. Sollte in Zukunft etwa der Verſtand ſo weit kommen, ſein Cauſalitätsgeſetz lieber als die ſpontane Entſtehung der Zelle zu opfern? Oder wird er es lernen, dieſe ſpontane Bildung als eine nothwendige Folge eben des Geſetzes der Cauſalität zu faſ— ſen, welches gerade alles Spontane in der Natur ausſchließt? Der Widerſpruch iſt ſtarl. Er beruht auf dem Irrthum: Die Generatio, spontanea ſei nicht realiſirbar, aber ſie ſei nothwendig. Ebenſo könnte man ſagen: Das Perpetwum mobile fe nicht realiſirbar, aber nothwendig. Zöll— ner meint, daß das Leben der Pflanzen und Thiere, alſo das Leben des gegen— wärtigen Protoplasma, das einzig mögliche Leben ſei. Daher der kraſſe Dualismus, daher die Zerreißung der Continuität des Lebens und die willkürliche Annahme, daß vor dem Erſcheinen des erſten gegenwärti— gen Protoplasma alles anorganiſch war. Weniger entſchieden tritt Brücke für die Urzeugung ein, nicht die gegenwärtige, aber die einſtmalige Entſtehung von Or— ganismen aus „unbelebten und anorganiſchen Dingen“, wenn er bei Beſprechung der vermeintlichen Unterſchiede der Organismen und Maſchinen (in ſeinen „Vorleſungen über Phyſiologie“, Wien 1874, II. Bd. S. 2) ſagt: „Vielleicht mit mehr Glück hat man als Kriterium aufzuſtellen verſucht, daß jeder Organismus von ſeinesgleichen erzeugt, ſein, oder doch von ſeinesgleichen abſtammen muß. Das iſt ein Kriterium, das aller— dings auf alle jetzt exiſtirenden Organismen paßt. Das iſt aber nicht genug. Das Kri terium, welches wir ſuchen, ſoll auf alle Organismen paſſen, nicht nur auf diejeni gen, die jetzt exiſtiren, ſondern auch auf alle, die exiſtiren werden und auf alle, die exiſtirt haben. Auf dieſe letzteren aber können wir dieſes Kriterium nicht anwen den, denn wir würden dadurch zu dem Schluſſe gelangen, daß alle Arten von Organismen, die jetzt exiſtiren, auch von Ewigkeit her exiſtirt hätten, eine Annahme, welche aller Erfahrung wider ſpricht, und zu welcher keine der Schöpfungs— theorien von den älteſten bis auf die neue— ſten gelaugt iſt.“ Wie man durch die Annahme des au gegebenen Kriterium zu dem erwähnten Schluſſe gelangen muß, iſt nicht erſichtlich. Vielmehr zeigt die Thatſache, daß die Eltern den Kindern niemals gleichen, ſondern nur ähneln, alſo in mancher Hinſicht von ihnen verſchieden ſind, die Nothwendigkeit, daß durch Summirung der vielen Unähnlichkeiten von Generation zu Generation rückwärts ſchließlich von den jetzt lebenden Organis— 5 Preyer, Kritiſches über die Urzeugung.“ men durchaus abweichende Formen exiſtirt haben müſſen, womit die Erfahrung über— einſtimmt. Man gelangt alſo nicht zur Conſtanz, ſondern zur Variabilität der Art und damit zur Entſtehung der gegenwärti— gen Arten aus anderen früheren. Das Kriterium iſt vollgültig. Es führt zu keiner unmöglichen Conſequenz, bildet viel— mehr die Baſis meiner Hypotheſe vom Ur— ſprunge des thieriſchen und pflanzlichen Lebens. Aber es ſchließt die Urzeugung ein für allemal aus. Wer indeß ſich ſcheut, es anzuerkeunen — hierin nicht der Erfahrung, die eben das Kriterium gab, folgend — verfällt nothwendig dem Urzeugungsglauben. Dem ſtreng inductiv verfahrenden Empi riker kaun die Wahl, ob das Kriterium gültig ſei oder nicht, keine Schwierigkeit bereiten, aber wie, wenige verfahren auf dieſem Gebiete correct inductiv wie auf anderen Gebieten ihrer Forſchung! Selbſt Virchow nicht. Ohne Bei ſpiel iſt die Stellung, die er in dieſer Frage einnimmt. Einmal kann er ſich von der vermeintlichen Nothwendigkeit einer einſt— maligen plötzlichen Entſtehung lebender Körper aus anorganischen Stoffen nicht be— freien, dann wieder verwirft er die Ur— zeugung. Für ihn muß ſie früher einmal ſtattgefunden haben, als er ſchrieb: „War nun damals eine Spontaneität der Erregung? wurde damals, am fünften und ſechſten Tage unſeres Weltkörpers das „Es werde“ der Schöpfung geſprochen?“— und folgerte: PS „Wenn es richtig iſt, was man von der Conſtanz der Materie und von der Con— ſtanz der Kraft geſagt hat, ſo folgt dar— aus auch die Conſtanz der Bewegung, und es bleibt uns dann nichts weiter übrig, als anzunehmen, daß bei den großen Re— volutionen der Erde Momente eingetreten Preyer, Kritiſches über die Urzeugung. 1 find, wo die bis dahin beſtandene Beweg- Abhandlungen zur wiſſenſchaftlichen Medi— ung, vielleicht durch die Beziehungen, welche der Erdkörper zu anderen Theilen unſeres Sonnenſyſtems erlangte, plötzlich große Veränderungen erfuhr, wo die Bedingungen zur Manifeſtation der chemiſchen und phy— ſikaliſchen Eigenſchaften der Körper in einer ganz neuen Weiſe auftraten und“ . . . „das Wunder d. h. die momentane Offen— barung des ſonſt latenten Geſetzes geſchah.“ Virchow fährt fort: „Es iſt damit keineswegs geſagt, daß die Perioden der Schöpfung geſchloſſen ſind . f el oder daß es .. niemals gelingen werde, dieſe kleinen ungewöhnlichen Bedingungen im Maßſtabe willkürlich zu ſetzen, wirklich ein— mal produktiv zu werden und Eiweiß, Stärke oder Zellen zu „machen“. Aber es iſt damit wohl geſagt, daß bis jetzt die neue Zelle aufbauen könne. Wo eine Zelle Bedingungen für das Umſchlagen der gewöhnlichen mechaniſchen Bewegungen in vitale vollkommen unbekannt ſind, daß die ungewöhnlichen Bedingungen, unter denen in den Zeiten der gewaltigſten Erdrevolu⸗ tionen die zu neuen Verbindungen zurück- tretenden Elemente in statu nascente die vitale Bewegung erlangten, jetzt nirgend vorhanden ſind und daß alles Leben, das uns gegenwärtig erkennbar wird, nur ein mitgetheiltes, von Einheit zu Einheit ſich fortpflanzendes iſt.“ Dieſer Auffaſſung zufolge fand alſo irgend einmal plötzlich die Entſtehung lebendiger Körper aus anorganiſchen ſtatt, indem die „mechaniſche“ Bewegung in „rvi— tale“ umſchlug. Bemerkenswerth iſt da— bei namentlich, wie das „Wunder“ der Urzeugung als eine Folge der Conſtanz der Materie und Kraft aufgeſtellt wird. Dieſes geſchah in der im Jahre 1862 in Berlin veranſtalteten zweiten Ausgabe der Ab- handlung „Das Leben“ (in den geſammelten « ein von Rudolf Virchow, S. 25). Und in demſelben Jahre ſtellt derſelbe Vir— cho w in der 13. Auflage ſeiner Cellular— pathologie (Berlin 1862, S. 22) es als allgemeines Princip hin, „daß überhaupt keine Entwicklung de novo beginnt, daß wir alſo auch in der Entwicklungsgeſchichte der einzelnen Theile, gerade wie in der Entwicklung ganzer Organismen, die Ge- neratio aequivoca zurückweiſen. So we— nig wir noch annehmen, daß aus ſaburra— lem Schleim ein Spulwurm entſteht, daß aus den Reſten einer thieriſchen oder pflanz— lichen Zerſetzung ein Infuſorium oder ein Pilz oder eine Alge ſich bilde, ſo wenig laſſen wir in der phyſiologiſchen oder pa— thologiſchen Gewebelehre es zu, daß ſich aus irgend einer unzelligen Subſtanz eine entſteht, da muß eine Zelle vorausgegangen fein (Omnis cellula e cellula), ebenſo wie das Thier nur aus dem Thiere, die Pflanze nur aus der Pflanze entſtehen kann. Auf dieſe Weiſe iſt, wenngleich es einzelne Punkte im Körper giebt, wo der ſtrenge Nachweis noch nicht geliefert iſt, doch das Princip geſichert, daß in der ganzen Reihe alles Lebendigen, dies mögen nun ganze Pflanzen oder ganze thieriſche Organismen oder integrirende Theile der— ſelben fein, ein ewiges Geſetz der continnir— lichen Entwicklung beſteht.“ Man wird es gewiß einem Natur- forſcher nicht zum Vorwurf machen, wenn er, durch Erfahrung und Denken belehrt, ſeine Anſichten ändert — ich ſelbſt habe noch im Jahre 1869 in einem populären Vortrage mich zu Gunſten der Urzeugung beiläufig ausgeſprochen — hier aber wer— den von demſelben Forſcher zu gleicher Zeit in zwei feiner bedeutendſten wiſſenſchaftlichen | Werke über eine fundamentale Frage zwei ſich völlig ausſchließende Anſichten behaup— tet. In dem einen Werk wird unter der Ueberſchrift: „Mechaniſcher Urſprung des Lebens (S. XI)“ die Urzeugung verlangt, in dem anderen die Urzeugung geleugnet. Der berühmte Ausſpruch Harvey's: „Vos autem asserimus omnia ommno animalia .. ex 0v0 progigni; primosque eorum conceptus, e quibus foetus fiunt, ova quaedam esse, ut el semina plan- tarum ommium“ (Exercitationes de ge- neratione animalium , exerc. J.) iſt vor nun beinahe einem Vierteljahrhundert, ge- rade von Virchow zu dem obigen epoche— machenden Satz erweitert worden: Ommis cellula e cellula. Da jedoch unmöglich angenommen wer- den kann, daß die Zellen von Ewigkeit her als ſolche exiſtiren, wie es dieſem Satze zufolge ſein müßte und wirklich von Einzelnen verlangt wurde, obwohl es keine Befriedigung giebt — ſagte doch nament- lich H. E. Richter 1865: Omne vivum ab aeternitate e cellula — fo muß der Satz noch mehr verallgemeinert werden und heißen: Omne vivum e vivo. Vor den Zellen gab es Protoplasma, d. h. ein Gemenge von Stoffen in leb— hafter Wechſelwirkung begriffen, welches, ohne thieriſche oder pflanzliche Organiſation zu zeigen, lebte. Vor ihm war ein ähn- liches Gemenge da und ſo fort. Sehr wohl können zu jeder Zeit an der Erd— oberfläche ſolche Gemenge, je nach den Temperaturzuſtänden verſchiedenartig, exiſtirt haben. Man nennt ſie nur dann nicht mehr Protoplasma oder Bioplasma, ob— wohl man die Flamme nicht mit anderen Namen nennt, je nachdem Kohle und Waſſerſtoff oder Eiſen und Kieſel ver— brennen. Das Verbrennungsmaterial iſt Preyer, Kritiſches über die Urzeugung. ein anderes, ohne daß das Feuer aufhört feurig zu ſein. So iſt auch das dem Lebensproceß unterworfene Material einſt ein anderes geweſen, aber das Leben ſelbſt, d. h. ein Complex gewiſſer, in hohem Grade von der Temperatur abhängiger Bewegungserſcheinungen blieb beſtehen. Demnach kommt es darauf an, nicht Protoplasma künſtlich aus Unorganiſchem ohne Lebensfähiges zu erzeugen — das iſt ebenſo unmöglich wie ein Feuer aus Aſche ohne brennbares Material zu erzeugen — ſondern darauf, zu erforſchen, welche Be— ſchaffenheit die Vorſtufen des Protoplasma und ſeine Urahnen auf dem feurigflüſſigen Erdball gehabt haben können, als ſie noch lebten. N Ganz anders freilich E. du Bois— Reymond. Er ſagt vom Leben (Gren— zen des Naturerkennens 1872. S. 13): „Wo und in welcher Form es zuerſt er— ſchien, ob auf tiefem Meeresboden als Bathybius -Urſchleim, oder unter Mitwir⸗ kung der noch mehr ultraviolette Strahlen entſendenden Sonne bei noch höherem par- tiärem Drucke der Kohlenſäure in der At- moſphäre, wer ſagt es je? .. . Es iſt da- her ein Mißverſtändniß, im erſten Erſchei⸗ nen lebender Weſen auf Erden etwas Supranaturaliſtiſches, etwas Anderes zu ſehen, als ein überaus ſchwieriges mechani— ſches Problem.“ Alſo auch hiernach zuerſt eine anorga— niſche Natur ohne das geringſte Leben, dann Eintritt jener myſteriöſen Bedingungen, die ſich hinter dem ultravioletten Licht und der Kohlenſäure-Spannung verbergen, und der todte Staub wirbelte ſich zuſammen, ſodaß das Lebendige aus ihm entſtand. Im März 1848 ſcheint du Bois— Reymond ſogar die gegenwärtige Ur⸗ zeugung noch für möglich gehalten zu ha— ben, da er ſchrieb (Unter. üb. thieriſche Elektricität, Berlin 1848. I. S. XLVIII): „So wird es wohl auch Umſtände gegeben haben, unter welchen die organiſchen Weſen entſtanden, und wer darf ſagen, daß wir nicht vermöchten, dergleichen zu verfertigen, wenn wir vermögend wären, jene Umſtände herzuſtellen? Gegen ſolche freilich, die es vorziehen, ſich die Entſtehung der Orga— nismen zu erklären durch einen willkürlichen Eingriff in die Naturgeſetze wie ſie noch heute ſind, gegen ſolche iſt mit Gründen nichts auszurichten.“ Ich will nun zeigen, daß gerade der— jenige, welcher die Urzeugung verlangt, einen willkürlichen Eingriff in die Naturgeſetze, wie ſie noch heute ſind, verlangt, alſo mit ſeinem Verlangen abzuweiſen iſt. Ein Naturgeſetz mag wie immer defi— nirt werden, ſämmtliche Naturgeſetze, wie ſie heute beſtehen, ſind nichts als kurze Ausdrücke für allgemeine Thatſachen *). Eine ſolche allgemeine Thatſache iſt die, daß jedes bis jetzt beobachtete lebende Weſen von einem anderen lebenden Weſen direct abſtammt. Das Gegentheil iſt unſerer Beobachtung niemals vorgekommen, wir ſchließen alſo, daß es überhaupt nicht vor— kommt, und daß es auch nicht vorkommen wird, und ſagen: Wer die Reihe der auf— einanderfolgenden Generationen der Orga— nismen durch die Setzung einer Geueration ohne vorhergegangene Eltern unterbricht, wer alſo die Continuität des Lebens leug— net, macht ſich einer Willkür ſchuldig, an— erkennt nicht das jetzt beſtehende Naturge— ſetz, einerlei, ob es ein Gott geweſen ſein ſoll, der ſchuf, oder ein anderes nicht an— gebbares räthſelhaftes Agens, Urzeugung ) Preyer, Ueb. d. Aufgabe der Na— turwiſſenſchaft. Ein Vortrag. Jena, Dufft, 1876. Preyer, Kritiſches über die Urzeugung. 383 genannt. Eine Schöpfung der lebenden Na— turkörper aus nicht Lebendem liegt in dem einen wie in dem anderen Falle vor. In vollkommenem Einklang mit der Beobachtung, mit dem Geſetz, ſteht dagegen die Annahme einer natürlichen Entwicklung. Da iſt keine Unterbrechung, keine Schöpfung, keine Urzeugung nöthig. Man muß ſich nur freimachen von den in der Schule in früher Ingend eingeimpften Lehren, als wenn die Moſaiſche Legende wenigſtens den Sinn hätte, daß das Lebende nicht von Ewigkeit her exiſtirt. Wie kann Todtes ſein, wo nicht vorher Leben war? Das Anorganiſche iſt aber todt, iſt das Uebrig— gebliebene, Erſtarrte, von der Zeit her, als noch der heißere Erdball ein viel in— tenſiveres Leben zeigte. Und wenn man mir einwendet: die natürliche Entwicklung zugegeben, ſo muß doch das Protoplasma, aus dem die gegenwärtigen Organismen ſchließlich herzuleiten ſind, zu einer gewiſſen Zeit aus Körpern, die nicht Protoplasma waren, ſich zuſammengeſetzt haben, ſodaß die Urzeugung wieder da iſt, dann ant— worte ich: Das Protoplasma der Ge— genwart entſtand nicht aus Körpern, die nicht Protoplasma waren, ſondern aus Pro— toplasma, das ihm ähnlich war. Aehnliche Dinge unterſcheiden ſich aber von einander in Einzelheiten, und ſo gelangt man auch hier, wie oben bei der Organismenreihe immer weiter rückwärts die Geſchichte un— ſeres Planeten verfolgend, ſchließlich zu Stoffgemengen, die erheblich vom Proto— plasma abweichen, darin aber ihm gleichen, daß ſie leben. Ich kann hierfür als ſchlagend— ſtes Analogon unſere eigene Entwicklung anführen. Unſer Zuſtand in jedem gegebe— nen Zeitmoment unſeres intra- wie extra— uterinen Lebens iſt ſehr ähnlich unſerem Zuſtande in dem unmittelbar vorhergegan— 384 genen Zeitmoment. Wenn wir aber von der Gegenwart an rückwärts blicken, immer den einzelnen ſpäteren Zuſtand mit dem unmittelbar vorhergegangenen, ihm ſehr ähn— lichen vergleichend, ſo gelangen wir zu er— heblich verſchiedenen Zuſtänden. Zwiſchen dem Manne in ſeiner Vollkraft und dem Säugling iſt die Aehnlichkeit noch groß, aber worin ſtimmt das Ei und der Held, der aus ihm ſich entwickelt, überein — abgeſehen davon, daß beide Naturkörper ſind — wenn nicht allein darin, daß beide leben? Wende ich mich nun zu den Forſchern, welche in der Gegenwart aus wiſſenſchaft— lichen Gründen ohne Einmiſchung irgend welcher religiöſen Momente, die hier ſo we— nig wie an irgend einem andern Platz der Biologie berechtigt ſind, die Urzeugung ver— werfen, ſo iſt es namentlich H. E. Richter geweſen, der zuerſt ſich mit Entſchiedenheit gegen die gegenwärtige und vergangene Generatio primitiva ausſprach und etwas anderes an die Stelle ſetzte, nämlich die Einwanderung fertiger Zellen aus dem Weltraum vermitteſt der Aörolithen und Weltwinde. Richter veröffentlichte ſeine Anſicht, die ich in etwas kritiſcherer Form als die kosmozoiſche Hypotheſe vom Lebensurſprung bezeichnete, an ſo verſteckten Stellen (m Schmidt's Jahrbüchern der geſammten Medicin, 1865. Leipzig 126. Bd.: „Zur Darwin'ſchen Lehre“ S. 248, 249, ſowie 148. Bd. S. 60 in dem „Be⸗ richt über mediciniſche Meteorologie und Klimatologie“ 1870, zweiter Nachtrag, endlich 151. Bd. S. 321 u. 322 in dem 3. Artikel über „die neueren Kenntniſſe von den krankmachenden Schmarotzerpilzen“ 1871), daß der Ruhm der genialen Idee noch ſechs Jahre, nachdem er ſie ausgeſpro— Preyer, Kritiſches über die Urzeugung. Thomſon und Helmholtz zufiel, welche ſie beide ſelbſtändig im Jahre 1871 noch einmal ausſprachen, letzterer gleichfalls zu— erſt in einem Werk, wo man am wenig— ſten etwas über Urzeugung zu leſen erwar— ten würde, nämlich in dem Handbuch der theoretiſchen Phyſik von W. Thomſon und P. G. Tait (Autoriſirte deutſche Ueberſetzung von Dr. H. Helmholtz und G. Wertheim, Braunſchweig, 1. Bd. 2. Theil, 1874, S. XI bis XIII). Dieſe Stelle wurde zum Theil ſpäter wieder ge— druckt in einem Zuſatz zu einem 1871 gehaltenen, damals nicht veröffentlichten Vor— trage (Populäre wiſſenſchaftliche Vorträge von H. Helmholtz 3. Heft. Braunſchw. 1876 S. 138 u. 139), In dem Vor⸗ trage ſelbſt, der vom Urſprung des Pla— netenſyſtems handelt, heißt es (S. 135): „Die Meteorſteine enthalten zuweilen Koh— lenwaſſerſtoffverbindungen; das eigene Licht der Kometenköpfe zeigt ein Spectrum, welches dem des elektriſchen Glimmlichtes in kohlenwaſſerſtoffhaltigen Gaſen am ähn— lichſten iſt. Kohlenſtoff aber iſt das für die organiſchen Verbindungen, aus denen die lebenden Körper aufgebaut ſind, charak— teriſtiſche Element. Wer weiß zur jagen, ob dieſe Körper, die überall den Weltraum durchſchwärmen, nicht auch Keime des Le— bens ausſtreuen, ſo oft irgendwo ein neuer Weltkörper fähig geworden iſt organiſchen Geſchöpfen eine Wohnſtätte zu gewähren? Und dieſes Leben würden wir ſogar viel— leicht dem unſerigen im Keime ver— wandt halten dürfen, in ſo ab— weichenden Formen es ſich auch den Zuſtänden ſeiner neuen Wohn— ſtätte anpaſſen möchte.“ Ich habe (a. a. O.) gezeigt, daß dieſe von Hermann Eberhard Richter zuerſt chen hatte, nicht ihm, ſondern Sir William ausgeſprochene Hypotheſe keine Thatſache 8 Preyer, Kritiſches über die Urzeugung. gegen ſich hat. Der beſcheidene Mann dankte mir noch kurz vor feinem Tode,“) daß ich ihr Anerkennung angedeihen ließ, ſchrieb auch noch mehreres darüber, ohne aber den urſprünglichen Gedanken weſent⸗ lich zu ſtützen oder ihm neues Hinzuzufii- Das haben aber auch Helmholtz Und es iſt gen. und Thom ſon nicht gethan. zu verwundern, daß in einer ſo fundamen— talen Frage es bei den wenigen Sätzen ge- blieben iſt. Uebrigens iſt die Hypotheſe, wenn auch zuläſſig, doch unzulänglich. Sollen die kosmiſchen „Keime“ den jetzigen pflanzlichen und thieriſchen Keimen ähnlich ſein, ſo iſt die Frage nach dem Urſprung des Lebens nicht beantwortet, ſondern nur vertagt, wie auch Zöllner richtig bemerkt. Ich behaupte daher (1872), da weder die Annahme der Kosmozoen, noch die der Urzeugung ausreicht, den Fragetrieb zu be— ruhigen, daß die Frageſtellung umzukehren ift | und frage: wie iſt das Anorganiſche ge— worden? und ſetze voraus, daß, ehe es war, Lebensthätigkeit es bildete. Hierbei muß ich ſtehen bleiben. Es ſcheint mir in der That dieſe Auffaſſung nicht nur zuläſſig, ſondern die einzige befriedi— gende zu ſein, wenn ſie auch als phanta— ſtiſch von manchen verworfen wird. Denn ſchon allein der eine Ausſpruch von Helm— holtz: „Die richtige Alternative iſt offenbar: organiſches Leben hat entweder zu irgend einer Zeit angefangen zu beſtehen, oder es beſteht von Ewigkeit“ — zeugt davon, daß die allerſtrengſte Wiſſenſchaftlichkeit es zuläßt, daß nicht zu allen Zeiten das Le— ben gerade nur an Thieren und Pflanzen und deren Zwiſchenformen haftete. Sodann ſind die eigenthümlichen Ans ſichten Fechners in Einzelheiten im Ein— Richter ſtarb am 24. Mai 1876. 385 klang mit meiner Auffaſſung, ſoweit ſie z. B. den einen Hauptpunkt betreffen, daß das Leben nicht nothwendig ausſchließlich uns das Dutzend der gegenwärtigen organi— ſchen Elemente allezeit gebunden geweſen ſei; aber es iſt im Ganzen mehr die Un— befriedigung über die Annahme der Urzeu— gung, was Fechner und mich vereinigt, als eine Uebereinſtimmung in dem, was an ihre Stelle geſetzt wird. Eher iſt, was Tyndall geltend macht, mit meiner Hypotheſe im Einklang. Er verwirft die Generatio spontanea und die Nothwendigkeit einer radicalen Reform deſſen, was wir Stoff nennen, betonend ſpricht er die Möglichkeit aus, daß die le— benden Weſen dem Feuer entſtammen. Von der Hypotheſe der natürlichen Entwicklung redend ſagt Tyndall („Fragmente aus den Naturwiſſenſchaften“ überſ. v. A. H. Braunſchweig 1874, S. 187 fg.): „Worin beſteht der eigentliche Kern und das Weſen dieſer letzteren Hypotheſe? Eutkleidet man ſie ihrer ſämmtlichen Hül— len, ſo bedeutet ſie nichts Anderes, als daß nicht allein die roheren Formen des infuſo— ſoriſchen oder des thieriſchen Lebens, nicht allein .. der wunderbar verfeinerte Mecha— nismus des menſchlichen Körpers, nein, daß auch der Geiſt des Menſchen, Empfindung, Verſtand, Willen in allen ihren Erſchei— nungen einſt latent in einer feurigen Wolke enthalten waren.“ Dieſer Ausſpruch, ſo paradox er klingt, iſt nicht ſo unberechtigt wie die ihm ent gegengeſtellte Archibioſe. Denn wie Tyn— dall (a. a. O. S. 568) treffend ſagt: „Das Leben iſt eine Welle, die niemals im Laufe ihrer Exiſtenz auch nur während zwei aufeinanderfolgender Momente aus deuſelben Theilchen beſteht.“ Mit derartigen Aeußerungen iſt ſachlich — 386 allerdings wenig gewonnen, aber ſie zeigen, wie auch exacte Forſcher ſich mit der An— nahme einer Urzeugung im bisherigen Sinne nicht mehr zufrieden geben und ſich bemühen, etwas anderes an ihre Stelle zu ſetzen, ohne dem Myſticismus auch nur die geringſte Annäherung zu geſtatten. Lie— ber die ganze Wiſſenſchaft vom Stoffe und vom Leben revolutioniren und neugeſtalten, als zugeben, daß ein göttlicher Schöpfungs— act ſtattgefunden habe, oder daß die Con— tinuität der natürlichen Entwicklung einen Riß durch eine Urzeugung erhalte, das iſt der bewegende Gedanke. Seine nächſte Conſequenz iſt das Auf— geben des ſtarren Vorurtheils, als wenn das Leben nur an dem Protoplasma wie es jetzt iſt hängen könne, als wenn nicht auch noch andere Organismen außer den Pflanzen und Thieren vor dieſen gelebt haben könnten. Was iſt überhaupt Proto— plasma? Was iſt Eiweiß? Jedenfalls et— was höchſt Veränderliches, jedenfalls keine chemiſche Verbindung, ſondern ein überaus complicirtes Gemenge von feſten und flüſ— ſigen Körpern, die in fortwährender Zer— ſetzung, in ſtets wechſelnden Diſſociationen, Subſtitutionen, Syntheſen begriffen ſind. Wer weiß, ob nach Subſtitution eines Theiles des Kohlenſtoffs im Protoplasma, etwa durch Silicium, eines Theiles des Waſſerſtoffs durch Metalle, nicht ein ande— res Protoplasma erhalten werden kann, ein anderes exiſtirt hat, welches auch lebte? Das Eiweiß iſt in jedem Ei ein anderes, es iſt nicht durch ſeine Kohlenſtoff-, Waſ— ſerſtoff-, Stickſtoff-, Sauerſtoff- und Schwe— fel-Atome fähig beim Erwärmen ſich in den Organismus umzuwandeln, ſondern durch ſeine moleculare Bewegung. Bewegung dieſer und anderer Elemente, Wes⸗ halb ſoll nun nicht eine ähnliche moleculare Preyer, Kritiſches über die Urzeugung. ehe das Eiweiß beſtehen konnte, bei höhe— rer Temperatur zu Vorſtufen deſſelben ge— führt haben? Wenn man lebendes Protoplasma in größerer Menge beſchaffen könnte, würde ſich wohl eine Modification deſſelben künſt— lich durch Einführung neuer Radicale in einige ſeiner integrirenden Beſtandtheile herſtellen laſſen, die auch bei der Tempe⸗ ratur des noch glühenden Erdballs ſich wie unſer jetziges Protoplasma bewegte, athmete, ernährte, theilte, die mit einem Worte lebte. So ſchwer es iſt, am lebenden Pro— toplasma chemiſche Eingriffe vorzunehmen ohne es zu tödten — ich habe wenigſtens am Myxomycetenprotoplasma bis jetzt vergeb— lich expperimentirt — die Möglichkeit bleibt beſtehen. Und wenn man ſich über ſeine erſte Entſtehung aufklären will, ſo müſſen jene chemiſchen Eingriffe, ſeine ſogenannten Eiweißmoleküle zu verändern, gemacht wer— den. Der einzige einſtweilen vorliegende Verſuch, wiſſenſchaftlich ſich darüber Rechenſchaft zu geben, wie dasjenige Ei— weiß, ohne welches wir in jetziger Zeit uns kein Leben anſchaulich machen können, entſtanden fein kann, iſt der von Pflüger. In ſeiner Abhandlung über die phyſiolo— giſche Verbrennung in den lebendigen Or— ganismen, welche Anfang April 1875 in ſeinem „Archiv für die geſammte Phyſiolo— gie des Menſchen und der Thiere“ erſchien, finde ich in einer mir höchſt erfreulichen Weiſe viele Betrachtungen und Thatſachen angegeben, die in vollem Einklang ſtehen mit meiner in akademiſchen Vorträgen ſeit 1872 vorgetragenen und Ende März 1875 veröffentlichten Anſicht vom Urſprung der gegenwärtigen Lebensprozeſſe. Mit Recht ſagt Pflüger: „Man ſieht, wie ganz außerordentlich und merkwürdig uns alle Preyer, Kritiſches über die Urzeugung. Thatſachen der Chemie auf das Feuer hinweiſen, als die Kraft, welche die Con- ſtituenten des Eiweißes durch Syntheſe Das Leben entſtammt von der Beſchaffenheit des gegenwärtigen erzeugt hat. alſo dem Feuer, und iſt in ſeinen Grundbedingungen angelegt zu einer Zeit, wo die Erde noch ein glühender Feuerball war. Pflüger zweifelt jedoch an der Ge- tige Zeit. Wenn man aber ſich losmacht von dem ganz und gar willkürlichen und factiſch durch nichts wahrſcheinlich gemachten Gedanken, als wenn nur Protoplasma leben könnte, jo wird man den einen gro— ßen Schritt weiter nicht ſcheuen, auch die einſtmalige Urzeugung fallen zu laſſen und neratio spontane nur für die gegenwär— | die Anfangloſigkeit der Lebensbewegung anerkennen. Omne vivum e vivo! Beobachtungen an braſilianilchen Achmetterlingen von Dr. Fritz Müller. J. Die Flügeladern der Schmetterlingspuppen. n Schmetterlingspuppen, die ſtreift haben, ſieht man häufig durch die noch weichen Flügel— decken die zarten, weißen Luft— röhren durchſchimmern, welche die erſte Anlage des Adergerüſtes der Vorderflügel bilden. Bisweilen laſſen ſich auch die tiefer liegenden Luftröhren der Hinterflügel er— kennen, doch vielleicht nie deutlich genug, um ein vollſtändiges, zuſammenhängendes Bild ihres Verlaufes zu gewinnen. Mit dem Erhärten der Puppenhaut pflegt dieſes Adergerüſt der Puppenflügel undeutlich oder völlig unſichtbar zu werden; ſelten nur, beſonders bei grünen Puppen mit glatten Flügeldecken, z. B. Siderone Ide, bleibt es für eine Reihe von Tagen ſicht— bar. Der Verlauf der Luftröhren in den Flügeln der jungen Puppen pflegt nun nicht unerheblich abzuweichen von dem ſpä⸗ teren Adergerüſt der Schmetterlingsflügel, und wie jo häufig Jugendzuſtände Auf- klärung geben über die Stammesgeſchichte, ſo iſt unverkennbar auch in dieſem Falle der Aderverlauf des Puppenflügels weit urſprünglicher, dem des Urſchmetterlings weit näher ſtehend, als das Adergerüſt des Schmetterlingsflügels. Gerade für die Ordnung der Schmet— terlinge muß aber jeder neue Anhalt zur Feſtſtellung ihrer verwandtſchaftlichen Be— ziehungen unter einander und zu anderen Inſekten und ſomit ihres Stammbaumes hoch willkommen ſein. Sagte doch ſchon Latreille: „Lepidopterorum ordo en- tomologorum scopulus“, und daß dieſer Ausſpruch noch heute gilt, beweiſt unter Anderem die geringe Uebereinſtimmung zwiſchen den der neueſten Zeit angehörenden Anordnungen der Tagfalter von Herrich— Schäffer, von Kirby und von Butler. Doch beſſer als durch allgemeine Betrach— tungen veranſchauliche ich wohl durch Vor— führen einiger Beiſpiele die Bedeutung des Flügelgeäders der Puppen. Ich zeichne zu- nächſt in Fig. 1 den Vorderflügel der Castnia Arda- lus und ſtelle in Fig. 2 den der Si- derone Ide da⸗ runter. Die große Verſchiedenheit des Adergerüſtes ſpringt 2. ſofort in die Augen. derone eine ein— Bei Siderone zige einfache Innen— eine einfache Mittel- a SI vandsader (1b), zelle und die von ihr während Castnia nach dem Rande des deren drei beſitzt Flügels gehenden Längsadern, alle anſchei- | (La, 1b, Le), von denen die beiden hinte— nend aus zwei Stämmen entſpringend, und ren (la und 1b) durch einen Queraſt zwar 2 bis 4 aus der Mediana, 5 bis 11 verbunden find. aus der Subcoſtalis. Bei Castnia Welches der beiden Adergerüſte iſt nun dagegen entſpringen nur 2 und 3 aus der das urſprüngliche, dem des Urſchmetterlings Mediana, 7 bis 11 aus der Subcoſtalis, näherſtehende? — Gerſtäcker, welcher während die dazwiſchen liegenden 4 bis 6 dem Flügelgeäder der Kleinſchmetterlinge als Aeſte der bei der Siderone fehlen- wegen der drei Innenrandsadern der Hinter— den Discoidalis erſcheinen, durch welche die | flügel größere „Vollkommenheit“ zuſchreibt, Mittelzelle der Länge Außerdem wird durch einen Queraſt zwi— ſchen 8 und 9 eine kleine Nebenzelle ge— bildet. Zwiſchen Mittelzelle und In— verläuft bei Side- Fig. 2. Vorderflügel von Siderone Ide. (2 : 1.) nach getheilt wird. nenrand der Flügel . 390 Müller, Beobachtungen an braſilianiſchen Schmetterlingen. würde wohl das weit einfachere Adergerüſt der Siderone für unvollkommener und daher wohl auch für älter erklären, als das viel verwickeltere der Castnia. — Dr. A. Speyer, der den Saturnien, mit nur einer Innenrandsader der Hinter— flügel, hoch entwickelten Flügelbau zuſchreibt, und den Weidenbohrer (Cossus), deſſen Fig. 3. Flügelgeäder der Puppe von Siderone Ide. (3: J.) Das Flügelgeäder der Puppe von Si— derone Ide (Fig. 3), das ich am erſten Tage nach der Verpuppung (10. Juni 1876) zeichnete, entſcheidet ſofort die Frage. Das— ſelbe gleicht weit weniger dem des Schmet— terlings, der aus der Puppe hervorgeht, als dem der Castnia. Wie bei dieſer finden ſich drei Innenrandsadern (1a, 1b, le), eine Mediana mit zwei (2 und 3), eine Discoidalis mit drei (4 bis 6) und eine Subcoſtalis mit fünf (7 bis 11) Aeſten. Queradern fehlen noch. — Nach einigen Tagen verſchmelzen, jenſeits des Urſprungs der Ader 11, die beiden Hauptäſte der Subcoſtalis auf eine kurze Strecke, ſo daß dann auch die von den Aeſten der Sub— coſtalis umſchloſſene Nebenzelle der Cast- nia Ardalus nicht fehlt. Später ver- einigt ſich dieſe Nebenzelle mit der Mittel— zelle, indem die ſie trennende Ader ver— kümmert und ſchwindet. An den Flügeln Vorderflügel im Adergerüſt ſich kaum von denen der Castnia unterſcheiden, als eine Form bezeichnet, deren Flügelgeäder dem der Haarflügler (Phryganiden) und fo- mit wahrſcheinlich der Urform der Schmet— terlinge beſonders nahe ſteht, wäre ohne Frage entgegengeſetzter Meinung. 1% Fig. 4. Flügelgeäder der Puppe von Callidryas Argante. (3 : 1.) verſchiedener Schmetterlinge iſt dieſes ver— kümmerte Stück des hinteren Hauptaſtes der Subcoſtalis noch deutlich wahrzunehmen, häufiger noch der verkümmerte Stamm der Discoidalis und die vordere Innenrands— ader (Ic). Als zweites Beiſpiel gebe ich (Fig. 4) das Flügelgeäder einer jungen Puppe von Callidryas Argante; von dem der Siderone Ide unterſcheidet es ſich da— durch, daß, wie bei dem Schmetterling, die beiden hinteren Innenrandsadern (la und 1b) nahe der Wurzel ſich vereinigen, daß die beiden Hauptäſte der Subcoſtalis ſchon zur Zeit der Verpuppung verſchmolzen ſind und ebenſo faſt bis ans Ende die Aeſte 8 und 9; endlich dadurch, daß die Discoida— lis nur zwei Aeſte hat. Es iſt alſo ſchon in der Puppe, wie beim Schmetterling und wie bei vielen anderen Pieriden, eine Ader weniger vorhanden, als bei Siderone. Müller, Beobachtungen an braſilianiſchen Schmetterlingen. So viel ich weiß, nimmt man bis jetzt allgemein an, daß die fehlende Ader ein Aſt der Subcoſtalis ſei; Doubleday wenigſtens beſchreibt die Subeoſtalis als nur vieräſtig und bezeichnet die Ader 7 als erſte Discoidalader. Ein Blick auf die Puppe widerlegt dieſe Annahme und zeigt, daß die Subcoſtalis ihre gewöhn- lichen fünf Aeſte vollzählig beſitzt, daß da— gegen ſtatt der beiden vorderen Aeſte der Discoidalis (5 und 6) nur ein einziger vorhanden iſt. Ich hoffe, dieſe wenigen Beiſpiele wer— den genügen, dem Verlaufe der Luftröhren in den Flügeln junger Schmetterlingspuppen Düfte. die verdiente Beachtung zuzuwenden. 2. Die Duftſchuppen der männlichen Maracujäfalter. Der Geruchsſinn ſpielt im geſchlecht— lichen Verkehr vieler Thiere eine wichtige Rolle. Zu dieſen gehören auch die Schmet- terlinge. Männchen mancher Schwärmer und Nachtſchmetterlinge riechen auf unglaub— liche Entfernung ihre der Begattung har renden Weibchen. Aber auch ihrerſeits ver— breiten viele Schmetterlingsmännchen Ge— rüche, die jedenfalls den Weibchen angenehm ſind und ihre Geſchlechtsluſt reizen. Von den Männchen des Liguſter- und des Win— denſchwärmers weiß man ſeit lange, daß ſie einen im Fluge beſonders ſtark hervor— tretenden Moſchusgeruch entwickeln, ohne daß man bisher die Stelle, von der dieſer Geruch ausgeht, ermittelt hätte. Die En— tomologen in Europa haben eben Wichtigeres zu thun. Die Männchen einer Motte der Gattung Cryptolechia und die der Glaucopiden, den deutſchen Blutflecken (Zygaeniden) verwandter Schmetterlinge, ſtülpen am Ende des Hinterleibes ein Paar 391 hohle, behaarte Fäden aus, bisweilen von Körperlänge, von denen ein oft ſehr ſtar— ker, für uns bald widerlicher, bald ange— nehmer (3. B. wie aus Chloroform und Bittermandelöl gemiſchter) Geruch ausgeht. Ebbenſo können bei den prächtigſten der ſüd— amerikaniſchen Schmetterlinge, den rieſigen Morpho, die Männchen am Ende des Hinterleibes jederſeits eine behaarte, riechende Wulſt hervortreten laſſen; bei dem im prachtvollſten Blau ſchillernden M. Adonis und dem ähnlichen M. Cytheris iſt der Geruch vanilleähnlich. — Weit häufiger als der Hinterleib ſind die Flügel der Sitz der das Männchen auszeichnenden Um nur einige wenige der durch beſonders ſtarken Geruch ausgezeichneten Arten zu nennen, ſo iſt bei dem Männchen des Papilio Protesilaus, eines dem Segelfalter ähnlichen Falters mit ſchuppen— armen, durchſichtigen Flügeln, der Innen- oder Hinterrand der Hinterflügel breit nach oben umgeſchlagen; werden dieſe Flügel ſtark nach vorn gezogen, jo öffnet ſich der Umſchlag und es kommt ein ſich ſträuben— der, dichter Bart aus langen ſchwarzen Haaren zum Vorſchein, und zugleich wird ein lebhafter Geruch bemerkbar. In der Familie der Weißlinge (Pierinen) zeich— nen ſich in dieſer Beziehung aus Lepta- lis Thermesia und der durch leicht ge— ſchwänzte Hinterflügel merkwürdige Gelb ling Callidryas Cipris; bei beiden geht der Geruch aus von einem mit eigen— thümlichen Schuppen bedeckten Fleck, der auf der Oberſeite der Hinterflügel nahe dem Vorderrande liegt und bei Calli- dryas Cipris noch von einer Mähne langer Haare bedeckt wird. Bei den Männ- chen faſt aller Braſſoliden, großer, den Morpho ähnlicher, aber minder glänzend gefärbter Falter, die beſonders am 392 find die Hinterflügel mit ſehr verſchieden— artig gelegenen und gebildeten Duftwerk— zeugen ausgeſtattet. Einen ungewöhnlich ſtarken Biſamgeruch bemerkte ich bei einer auf der Höhe der Serra gefangenen Da- syophthalma; hier trägt das Männ— chen auf der bläulich ſchwarzen Oberſeite der Hinterflügel einen eirunden, ockergelben Fleck, welchen die Discoſtalader durchſchnei— Müller, Beobachtungen an braſilianiſchen Schmetterlingen. frühen Morgen und gegen Abend fliegen, ungemein große Verdunſtungsfläche ent— | falten. Man iſt wohl berechtigt, allen ähnlichen unter den Tagfaltern ſehr verbreiteten Vor— richtungen dieſelbe Deutung zu geben, auch wenn bis jetzt ein Geruch noch nicht be— obachtet wurde und ſelbſt wenn ein ſolcher für menſchliche Naſen überhaupt nicht wahr- nehmbar wäre. det, und dahinter in der Mittelzelle einen Schmetterlinge nicht plötzlich in ihrer jetzigen langen Pinſel lehmgelber Haare, den der Falter willkürlich aufrichten und ausſpreizen kann. Bei den Männchen vieler Thecla- Arten findet ſich auf der Oberſeite der Vorderflügel am Ende der Mittelzelle ein meiſt dunkler Fleck, aus ſehr feſt haftenden, abweichend geſtalteten Schuppen gebildet; bei größeren Arten pflegt ein von dieſem Fleck ausgehender Geruch wahrnehmbar zu ſein; ſehr ſtark (fo daß er auffällt, ſobald man das Thier in den Käſcher bekommt) und dabei widerlich, fledermausähnlich, iſt derſelbe bei der prachtvollen Thecla Atys. Gemeinſam iſt allen dieſen und anderen Duftwerkzeugen, daß ſie, ſo lange der Schmetterling ruht, wohl geborgen und vor Verdunſtung geſchützt ſind, ſei es zwi— ſchen den Flügeln, oder zwiſchen Flügel und Hinterleib, ſei es in beſonderen Rin— nen oder durch Umſchlag des Randes ge— bildeten Taſchen der Flügel (dahin z. B. der ſogenannte „Coſtalumſchlag“ am Vor— derrande der Vorderflügel bei vielen Dick— köpfen), ſei es im Innern des Leibes, wie die ausſtülpbaren Wülſte und Fäden der Morpho und der Glaucopiden. Beſonders wirkſame Räuchervorrichtungen bilden die Pinſel und Mähnen, die wäh— rend der Ruhe mit Riechſtoff ſich ſättigen und dann plötzlich, ſich ausſpreizend, eine | Natürlich find dieſe überaus mannig— faltigen Duftvorrichtungen der männlichen Vollkommenheit zu Tage getreten; ſie haben ſich aus einfacheren Zuſtänden entwickeln müſſen. Und da nun viele derſelben ver— hältnißmäßig junge Bildungen ſind, wie ihre ſehr abweichende Geſtaltung in nahe ſtehenden Gattungen, oder ſelbſt innerhalb derſelben Gattung (z. B. Papilio) be— weiſt, ſo dürfte die Hoffnung nicht unbe— rechtigt erſcheinen, noch ſolche einfachere Zu— ſtände aufzuſinden. Da bisweilen ſelbſt wohlentwickelte Duftflede (3. B. bei Calli- dryas Philea c') oder Haarbüſchel (z. B. Mechanitis Lysimnia c') keinen für uns ſicher wahrnehmbaren Geruch verbrei— ten, ſo mußte man ſelbſtverſtändlich von vornherein bei derlei einfachen Formen auf Erkennen durch die Naſe verzichten und ihre Deutung anderweitig ſicher ſtellen. Es laſſen ſich nun in der That auf den Flü— geln verſchiedener Schmetterlinge Schuppen— bildungen nachweiſen, die man mit Wahr— ſcheinlichkeit als einfachere, urſprünglichere Duftwerkzeuge betrachten kann. Unter dieſen ſind beſonders merkwürdig, weil ihre Deu— tung als ſolche wohl kaum einem Zweifel unterliegen kann, die Duftſchuppen der männlichen Maracujafalter. Die Maracujafalter, wie ich ſie nach den Pflanzen nenne, an welchen, ſo— weit bekannt, die Raupen aller Arten le— Müller, Beobachtungen an braſilianiſchen Schmetterlingen. ben,) bilden eine auf das wärmere Südame— rika beſchränkte Gruppe engverwandter Ar— ten. ihnen ein ganz eigenartiges Ausſehen, ihre meiſt ſchönen, reinen, ſatten Farben machen fie, wie die Morpho, zu einer wahren Zierde ſüdamerikaniſcher Landſchaften. Man hat aus ihnen vier Gattungen gebildet, Heliconius, Eueides, Colaenis und Dione (-Agraulis) und dieſe Gattun gen bisher allgemein — unbegreiflicherweiſe möchte man ſagen, wenn bei der landläu— figen Syſtematik überhaupt etwas unbe— greiflich wäre, — in zwei verſchiedene Un— terfamilien oder Familien, die Heliconinen und die Nymphalinen vertheilt; man hat Colaenis und Dione oder ſelbſt Eueides von dem nächſtverwandten He- liconius losgeriſſen, um ſie mit Age— ronien, mit Apaturen, mit Sidero— nen zuſammenzuwerfen! Unter ſich durch ihre geographiſche Verbreitung, durch den Bau der Raupen wie der Falter, ja ſelbſt durch ihre Liebhaberei für beſtimmte Blu— men**) auf's Engſte verbunden, ſcheinen ſie keiner anderen Tagfaltergattung beſon— ders nahe verwandt zu ſein. Am nächſten ) Von den hieſigen Arten wurden auf Maracuja (Passiflora) gefunden die Raupen von Heliconius Eucrate, EueidesIsa- bella und Aliphera, Colaenis Julia und Dido, Dione Vanillae und Juno ) Poinsettia pulcherrima wurde im vorigen Jahre in meinem Garten außer von zahlreichen Theela- Arten und einigen Eryeiniden nur ſelten und zufällig von anderen Tagfaltern beſucht, mit Ausnahme der Maracujäfalter; dieſe fanden ſich regelmäßig ein und verweilten andauernd bei der Pflanze, und zwar faſt alle hieſigen Arten. Es fehlten nur Eneides Pavana, den ich überhaupt erſt drei- oder viermal, ſowie Dione Moneta, den ich erſt einmal geſehen habe. Ihre langen ſchmalen Flügel geben dachziegelartig deckt. 393 ſteht wohl noch Acraea, deren Raupen in allem Weſentlichen mit denen der Ma— racujafalter übereinſtimmen. Bei allen darauf unterſuchten Mäun— chen der Maracujafalter nun finden ſich auf der Oberſeite der Hinterflügel nahe dem Vorderrande, beſonders zahlreich längs der Coſtal- und Subcoſtalader, zwiſchen den gewöhnlichen Schuppen einzelne andere von ſehr auffallender Geſtalt, wie ich ſie ähnlich nur bei den Männchen eines Weiß— lings der Gattung Hesperocharis geſehen habe. Ihr meiſt ziemlich ſtark gewölbter Endrand iſt dicht mit Franzen beſetzt, welche wie durch einen fremden Stoff mehr oder minder mit einander verklebt ausſehen. Faſt noch rein erſchienen die Franſen bei einem Männchen von Eueides Ali- phera, das ich dieſer Tage aus der Puppe erhielt und im Laufe des erſten Tages tödtete. — Die Schuppen erſcheinen bis auf einen hellen Saum längs des befran— ſten Randes trüb und undurchſichtig; ihr Stiel iſt, im Gegenſatze zu dem gewöhn— licher Schuppen, dünn, dünnhäutig, und ſchlaff; das Grübchen, dem er eingefügt iſt, iſt mehrfach größer als bei den anderen Schuppen, kuglig und dabei breit und dun— kel gerandet, als enthielte es einen ſtark lichtbrechenden Stoff. Im Uebrigen iſt, wie nachſtehende Figur zeigt, die Geſtalt der Schuppen eine ziemlich wechſelnde. Bei den Männchen von Colaenis Dido kommen dieſe Schuppen auch ander— wärts auf der Oberſeite der Flügel vor. Genauer habe ich ihre Anordnung erſt bei Heliconius Besckei mir angeſehen. Wie bekannt, bilden die Schuppen der Tagfalter Querreihen, von denen jede der Flügelwurzel nähere die Einfügungsſtellen des folgenden In jeder Ouerreihe wechſeln zweierlei Schuppen miteinander ab, 0 Müller, Beobachtungen Fig. 5 a, Heliconius Apsendes. Duftſchuppen männlicher Maracujaäfalter. b Heliconius Besckei. (Vergrößerung 180 : 1.) ce Eueides Aliphera. d Colaenis Dido. e Dione Juno. die einen, der Flügel— haut aufliegenden (Unterſchuppen), ſind meiſt breiter und kürzer, die anderen darüberliegenden (Deckſchuppen) ſchmä— ler und länger. Wo nun an der bezeich— neten Stelle dieſe regelmäßige Schup- penſtellung vollſtändig ausgeprägt iſt, pfle— gen die Duftſchuppen den Ort von Deck— ſchuppen einzunehmen. Doch liegen ihre Fig. 6. a Unterſchuppen. b Deckſchuppen. e Duftſchuppen. Linie mit denjenigen der anderen Schup— pen, vielmehr meiſt der Flügelwurzel näher. Namentlich längs der Coſtalader, wo die Duftſchuppen am dichteſten ſtehen, iſt die Anordnung der Schuppen eine minder regelmäßige und hier ſind auch die Duft— ſchuppen anſcheinend ganz regellos zwiſchen die anderen eingeſtreut. Was nun die Deutung als Duftſchup— pen betrifft, ſo ſpricht dafür: 1) ihre Beſchränkung aaf das männ⸗ liche Geſchlecht; 2) ihr Vorkommen an der Stelle, die vor allen anderen häufig von Duftvorrich— tungen eingenommen wird. Hier, d. h. auf dem vom Hinterrande der Vorderflü— gel bedeckten Theile der Oberſeite der Hin— terflügel, finden ſich unter den Danaiden . I e A m a cc 0 1 NN] 0 | I ı | HIN) | | Anordnung der Duftſchuppen bei Heliconius Besckei. unter den Morphinen: die Duftvorrichtun— gen bei Arten von Euploea, hier die _ langen Haarpinſel von Ithomia, Mechanitis und den meiſten heliconier⸗ ähnlichen Danatden; unter den Satyri⸗ nen: der große weiße Duftfleck von Haar⸗ Gnophodes Morpena, der büſchel verſchiedener Mycalesis-Arten; ein Fleck mit langeu ſchwarzen ſeidenartigen Haaren Einfügungsſtellen nur ſelten in derſelben bei Bia Actorion; unter den Elym— niinen: der Haarbüſchel von Elymnias; der eirunde le—⸗ derbraune Fleck von Zeuxidia, ſowie ein Haarbüſchel von Tenaris, Clerome und Thaumantis; unter den Braſſo— linen: der eirunde Fleck von Das yo— phthalma, unter den Nymphalinen: der Fleck von Lachnoptera; unter den Pierinen: der Duftfleck verſchiedener Ar— ten von Leptalis, Callidryas, Na- thalis u. ſ. w.; unter den Heſperiden der Haarbüſchel von Caeeina; endlich unter den Motten (Hyponomeutiden) der lange graublonde Haarbuſch von Trichostibas. x 3) die Franſen am Endrande, welche, wie andere Duftvorrichtungen, ſowohl die Anſammlung von Riechſtoffen begünſtigen, fo lange die Flügel auf einander liegen, als auch eine raſche Verdunſtung derſelben, ſobald die Flügel ſich von einander ent— fernen; 4) das Grübchen, in welchem der Stiel ſitzt, und welches man von ganz ähnlichem Ausſehen in unzweifelhaften, ſtarken Geruch verbreitenden Duftflecken antrifft. Von Gattungen, die man in die Nähe der Maracujafalter zu ſtellen pflegt, habe ich nur Acraea, Arg ynnis und Me— litaea (von letzteren beiden alpine Arten, die mein Bruder Hermann geſammelt hat) unterſucht, aber an den Flügeln der Männchen nichts den Duftſchuppen von Heliconius, Eueides, Colaenis und Dione Aehnliches finden können. Selbſt dieſes ſo unſcheinbare Merkmal beſtätigt auf's Neue die enge Verwandtſchaft unter ſich und die Abgeſchloſſenheit der Maracu— jafaltergruppe. Außer den Düften, durch welche männ— liche Schmetterlinge dem umworbenen Weib— chen ſich angenehm machen, erzeugen manche Schmetterlinge Gerüche, die Inſecten freſſen— den Vögeln oder anderen Feinden zuwider ſind und dadurch gegen deren Verfolgung ſchützen. Man kann ſie von erſteren leicht dadurch unterſcheiden, daß ſie bei beiden Geſchlechtern in gleicher Weiſe auftreten und daß der Schmetterling ſie losläßt, ſobald er in Gefahr kommt, ſobald er alſo z. B. angefaßt wird. Auch die Maracujafalter beſitzen einen ſolchen, und zwar einen recht ſtarken ſchützenden Geruch. Fängt man ir— gend eine Art, fer es Männchen oder Weib: chen ſo erſcheinen am Ende des Hinterleibes gelbe Wülſte, je nach dem Geſchlechte ver— ſchieden geſtaltet und gelegen, aber bei Männ— Müller, Beobachtungen an braſilianiſchen Schmetterlingen.“ 395 chen und Weibchen genau denſelben wider— lichen Geruch verbreitend. Es könnte dieſer Umſtand gegen die eben gegebene Deutung der Duftſchuppen Bedenken erregen; es könnte befremden, daß das Männchen neben dem ſehr ſtarken, die Feinde abſtoßenden, noch einen anderen ſehr ſchwachen, für uns völlig unmerklichen, die Weibchen anlocken— den Geruch erzeugen ſollte. Darauf läßt ſich ſagen, daß man bereits wenigſtens einen Fall kennt, in welchem gleichzeitig und noch dazu dicht bei einander die bei— derlei Gerüche vorkommen. Didonis Biblis, ein hübſcher, mittelgroßer, ſchwar— zer Falter mit breitem rothen Bande längs dem Saume der Hinterflügel, beſitzt in beiden Geſchlechtern auf dem Rücken des Hinter— leibes, zwiſchen viertem und fünftem Ringe, eine ſchwärzlich behaarte Doppelwulſt, die hervorgeſtülpt wird, wenn man das Thier ergreift; außerdem beſitzt das Männchen eine dem Weibchen vollſtändig fehlende weißbehaarte, von dem ſchwarzen Hinter— leib grell abſtechende Doppelwulſt zwiſchen dem fünften und ſechſten Hinterleibsring, die das gefangene Thier niemals freiwillig hervortreten läßt. Man kann mit einiger Vorſicht bald die vordere, bald die hintere Wulſt allein hervordrücken und ſich ſo von der Verſchiedenheit der Gerüche überzeugen, von welchen auch für uns der der vordern Wulſt unangenehm, der der hintern ange— nehm iſt. Durch dieſen Fall verliert die überdies kaum zu umgehende Deutung der Duftſchuppen auf den Flügeln der männ— lichen Maracujafalter das Befremdliche, was ſie für einen vereinzelt ſtehenden Fall haben könnte. Ueber Turbeupracht und Größe der Alpenblumen“) von Dr. Arnold Dodel- Port. Cr die moderne Naturwiſſenſchaft * ER erheben, ift wohl feine begrün⸗ deter und wahrer als diejenige, daß die neuere Biologie mit den Göttern in der Natur aufgeräumt habe, aber zu— gleich kein Vorwurf ungerechter, als der, daß die ſtrenge Wiſſenſchaft ſich mit einer äſthetiſchen Naturanſchauung nicht ver— trage und gleichſam darauf ausgehe, die Menſchheit um den Sinn für das Natur— ſchöne zu bringen. Mit dieſer Anklage ſteht in direktem Widerſpruch die That ſache, daß in keinem Zeitalter mehr als in der Gegenwart die Freude am Natur— * Wir dürfen über dieſes anziehende Problem hoffentlich bald genauere Aufſchlüſſe erwarten, da der gründlichſte Kenner der Wechſelbeziehungen zwiſchen Blumen und Inſekten, Oberlehrer Dr. H. Müller in Lippſtadt, ſeit einer Reihe von Sommern die Hochalpenflora in dieſer Richtung ſtudirt, und eben wieder auf ſeinem Beobachtungsfelde weilt. Schon im nächſten Hefte werden wir einige diesbezügliche Specialbeobachtungen mittheilen können. Anm. d. R. „ genuß ihren intenſiven Ausdruck gefunden hat im Aufſuchen der ſchönſten Himmels— ſtriche unſeres Planeten. Und heute mehr als je find es gerade die exacten Natur- forſcher, welche an der Spitze jener Co— lonnen marſchiren, deren Streben im Auf- finden neuer Punkte für erhabene Natur⸗ genüſſe gipfelt. Freilich verfolgt hierbei der ernſte Forſcher ſtets auch ſeine ernſten wiſſenſchaftlichen Zwecke. Er hat vor allen anderen Naturfreunden noch das voraus, daß er an tauſend Enden die unzähligen Lettern zu erkennen vermag, durch welche die Natur dem Eingeweihten ihre Offen— barungen, ihre ewigen Wahrheiten enthüllt. Bei ihm geſellt ſich zum Genuß am Natur- ſchönen auch der Genuß der Erkenntniß — und die Freude an letzterer wird ſtets größer ſein, als die Erregung, welche das Naturſchöne allein in uns hervorzubringen vermag. Beiderlei Genüſſe ſchließen ſich gegenſeitig keineswegs aus, ſondern ſie er— gänzen und erhöhen ſich beim Naturkenner eben zu jenem einzigen Hochgenuß, der die Miſeĩre unſeres eigenen Daſeins vergeſſen Naturwiſſenſchaft macht. Die moderne empfindet die Aufgabe, mehr und mehr in weiteren Kreiſen das richtige Natur— erkennen auszubreiten, wie eine Pflicht und zu jenen geiſtigen Genüſſen, welche bis heute faſt ausſchließlich den Männern der Wiſſenſchaft vorbehalten blieben, alle Welt einzuladen. Für heute mag uns eine Alpenwan— derung auf die Blumen aufmerkſam machen, welche bei einer Beſteigung des Pilatus ſeit den mittelalterlichen Zeiten, in denen dieſer Berg zuerſt das Wallfahrtsziel from— mer Seelen wurde, bis heute, wo er auch bei den Weltkindern in die Mode gekom— men iſt, von Tauſenden an ihrem Wege erblickt worden ſind, aber gewiß nur bei den Wenigſten tiefere Betrachtungen ange— regt haben. Ein Dampfboot führt uns auf dem Spiegel des Sees hinüber an den Fuß des ſteinernen Domes. Auf einſamem Feldweg erſteigen wir leicht den dunkeln Tannen— wald, der den Rieſen vom Fuß an bis über die halbe Höhe hinauf umgürtet. Waldbäche rauſchen in felſigem Bett her— nieder, Hummeln und Bienen ſchweben von Blume zu Blume, Schmetterlinge wiegen ſich taumelnd durch die Lüfte. Der Weg wird ſteiler, beſchwerlicher, bald kühl ſchattig, bald brennend heiß von der hochſtehenden Juli-Sonne. Ja, es iſt Sommer, das ſagt uns nicht allein die hohe Temperatur am Bergabhang, das ſagen uns vielmehr die Tauſende aufge⸗ ſcheuchter Inſekten, die Honigſammelnden und Blutſaugenden. Ihr Tiſch iſt reich gedeckt. Da blühen ſie, die unzähligen Kinder Floras, im reichſten Schmuck, am Fuße des Berges in wahrhaft üppigem Wuchs. Klee in mehreren Arten, Akelei, Eiſenhut, Labkräuter, Sternmieren, Min— zen, Thymian, Johanniskraut und wie ſie Dodel-Port, Ueber Farbenpracht und Größe der Alpenblumen. 397 alle heißen, die wilden Flachland- und Vorderalpen-Pflanzen. Weiter oben führt uns der Weg zwiſchen verwetterte Tannen, in deren Schatten zahlloſe Farnwedel ihre Millionen Sporen zur Reife bringen; da blüht der Alpendoſt, der Bergwohlverleih, die Bergminze, der ſilberglänzende Alpen— frauenmantel, mehrere Hahnenfuß- und Vergißmeinnicht-Arten. — Bald erreichen wir — ſteiler und ſteiler anſteigend — die Region der Alpenroſen. Wie's da leuchtet an allen Enden, an den rauhen Felswän— den, von dieſen rothen Blumenbüſchen! Und dort das gelbe Veilchen, dann ver— ſchiedene Enziane, Glockenblumen, Horn— kräuter, Mannsſchild (Androsace); das zierliche Alpenglöcklein hat für uns nur noch Samenkapſeln, dagegen blüht hier oben noch — mitten im Sommer! — die bekannte große Schlüſſelblume (Primula elatior) in einigen wenigen Nachhinkern und eine ganze Menge von Kopfblüthlern und Dolden— gewächſen. Blumen an allen Enden und auch reichlich Inſekten. Die Natur hält hier oben, einige tauſend Fuß über dem blauen Seeſpiegel, erſt im Juli ihre Hochzeitstage. Aber welch intenſives Leben erwacht da mit einem Schlag! Da iſt kein feuchter Felsblock, kein abgeſtorbener Baumſtamm, keine zerriſſene Steinwand, an denen nicht das grüne Leben in vollen Zügen erwachte. Drunten am See und draußen im Hügel— land ſchimmern die reif gewordenen Ernte— felder, hier oben iſt erſt der Frühling ein— gezogen. Der angehende Botaniker, der den Pi- latus zum erſten Mal im Juli beſucht, wird durch die Fülle des Dargebotenen höchlichſt überraſcht. Er weiß in den erſten Stunden kaum, wo er eigentlich mit ſeinen Studien beginnen ſoll. — 398 Wir kommen ins Gebiet der Wetter— tannen: zu Füßen ein arg zerriſſenes Erd— reich; verwitterte Felsblöcke rechts und links am ſteilen Bergpfad. Ein ſchmäch— | tiger Raſen, ſaftgrün, über und über mit | Blumen bedeckt, bekleidet die weniger ſteil abfallenden Halden und Terraſſen. Gräſer ſind kurzblätterig, gedrungen, mit vielen Ausläufern verſehen, die ganze Pflanzendecke dem Erdboden dicht ange- ſchmiegt, die Sträucher — an geſchützten Stellen noch kräftig entwickelt — nehmen hier oben, allen Unbilden einer rauhen Witterung ausgeſetzt, eine zwerghafte, ver— krüppelte Geſtalt an. Die Laubbäume ſind Die Dodel-Port, Ueber Farbenpracht und Größe der Alpenblumen. blumen, Rapunzelarten (Phyteuma), Augen- troſt, Ehrenpreis, Veilchen, Hahnenfuß, Anemonen, Fahnenwicken (Oxytropis), Berg— linſen (Phacea), Schwarzſtändel, der Alpen- mohn, der goldgelbe Pipau (Crepis aurea), die Habichtskräuter und hundert andere Geſchlechter der blühenden Alpenflora, die uns faſt ohne Ausnahme durch die leb— haft gefärbten, weithin ſchimmernden Blü— then auffallen. Man erſtaunt über dieſe Verſchwendung in der Blüthenregion ſo verſchwunden; Nadelhölzer allein behaupten noch einige Zeit das Feld; allein auch ihre Reihen werden immer lichter. Sturm und Hagel, Blitzſchlag und Geröllefall, Kälte und Feuchtigkeit, Nebel, Reif und Schnee— geſtöber während neun Monaten im Jahre: all dieſe feindlichen Elemente haben den ſchlanken Bäumen mit ihrer dunkeln Blätter— krone den Charakter des Kummers und Elends aufgedrückt. Wie ſtruppig, borſtig ſtehen die halbdürren Aeſte mit den Nadel— büſcheln! Da und dort ein abgedorrter Aſt, im Nebel vermodernd, von grauweißen Flechten ganz bedeckt; drüben ein abgeſtorbener Baum, als Leiche noch aufrecht ſtehend, entblättert, zum Theil auch entrindet, oben im Aſtwerk mit zahlloſen Bartflechten, die herniederhängen, wie die Graubärte der Patriarchen: ein Bild des Zerfalles! Und doch wie ſo reich an hehrer Naturſchönheit! Die Natur zerſtört das Leben fortwährend, um Leben zu ermöglichen. Aber mehr als dieſe verwetterten Ge ſellen mit ihren maleriſchen Phyſiogno— mien überraſcht uns die Pflanzenwelt zu unſeren Füßen: Enzianen, Primeln, Andro— ſace, Soldanella, Pedicularis, die Glocken— zwerghafter Pflanzen, die oft kaum den Muth oder die Kraft zu beſitzen ſcheinen, ihren prächtigen, großen Blumen einen entſprechend langen Stengel zu bilden, gleichſam als fürchteten ſie ſich, die Organe der Fortpflanzung den Unbilden der ewig bewegten Bergluft auszuſetzen. Sehen wir uns dieſe Blumenwelt etwas genauer an, ſo muß uns auffallen, daß überall, bei allen Gattungen der blühenden Alpenpflanzen, die ſicherſten Vorkehrungen getroffen ſind, um die Befeuchtung der eigentlichen Geſchlechtsorgane jeder Blüthe vor der Verſtäubung, reſpective vor der Befruchtung zu verhindern. ſind es die männlichen Sexualorgane, die Staubblätter, Blumenkrone oder durch irgend einen an— deren Theil der Pflanze vor dem Zutritt von Regen, Schnee, Thautropfen u. dergl. geſichert werden. 5 Bei ſehr vielen Alpenpflanzen ſind die Blüthen zur Zeit, da der Pollen entleert und die Befruchtung vollzogen werden ſoll, nickend, alſo abwärts geöffnet, nach oben gegen den Einfall der Regentropfen durch die Kron- und Kelchblätter wie mit einem Dach geſchützt. Ich erinnere an die in un— ſeren Alpen und Voralpen ſehr verbreitete niedere Glockenblume (Campanula pusilla) und andere Arten derſelben Gattung, an Namentlich welche entweder durch die 8 die Drottelblume (Soldanella), an manche Primeln und Veilchen. Bei anderen Blüthen iſt die nach oben geöffnete Blumenkrone abwärts ſo verengt, daß nur ein enger Garal zu den Geſchlechts— organen führt. Ein Regen- oder Thau— tropfen, der die offene Blüthe trifft, kann dort liegen bleiben, ohne durch den Canal abwärts dringend den Pollen oder die Narbe zu erreichen, ſo bei den prächtigen Mannsſchildarten (Androsace), welche mit zu den ſchönſten Erzeugniſſen der Pflanzen— welt unſerer Berge gehören. Wieder an— dere Pflanzen beſitzen in der Blüthenregion periodiſch bewegliche Blätter, welche bei dunkler Witterung (Regen, Nebel) gewiſſe Bewegungen ausführen, die zum Schutze des Pollens dienen. Es wird für Jedermann ein Leichtes ſein, ſich an ein Dutzend Pflanzen zu er— innern, die ihre Blüthen abwechſelnd öffnen und ſchließen, je nach dem Charakter der Witterung. Wozu denn aber das Oeffnen der Blume überhaupt? — Die nahe liegende Antwort: „Damit die Sonne in die Blüthe hinein ſcheinen könne“, iſt leider nicht ſtichhaltig. Denn — ſo fragen wir — was ſoll denn der Sonnenſchein in der Blume aus— richten? Giebt es nicht eine Menge Pflan— zen, die ohne Sonnenſchein blühen und fructificiren? Ein Jeder kennt ja Blumen, die ſich erſt nach Sonnenuntergang öffnen und nur während der ſtillen Sommernacht ihre Schönheit entfalten. Wir wiſſen, daß bei der Befruchtung der großblumigen Pflanzen nicht die Sonne, wohl aber die geſchäftigen Inſekten eine Hauptrolle ſpielen. Aber erſt wenn der Zutritt zum Honigſaft ermöglicht iſt, kann das Inſekt die Beſtäubung vermitteln. Von Regen triefende Blüthen werden von Dodel-Port, Ueber Farbenpracht und Größe der Alpenblumen. 399 den Inſekten meiſt übergangen, weil der Honig in ſolchen verwaſchenen Blumen ſehr wäſſrig oder gar gänzlich ausgewaſchen iſt. Es liegt alſo im Intereſſe der Blüthe, reſpective der Samenbildung, daß die honig- bereitenden Blumen ſich nicht allein wegen ihrer empfindlichen, zarten Geſchlechtsorgane vor Befeuchtung ſchützen, ſondern auch um der Fremdbeſtäubung durch Inſekten willen. Dieſe letzteren ſchwärmen zum Theil wohl auch aus dieſem Grunde nicht während ſanfterer atmoſphäriſcher Niederſchläge, die ſie ſonſt am Fliegen nicht behindern wür— den. Ja ſie leben in einer böſen Welt, dieſe herrlich blühenden Alpenpflanzen. Früh⸗ ling, Sommer und Herbſt ſind für ſie in drei Monate zuſammengedrängt, und ge— rade in dieſer Zeit des Blühens und Fruchtbildens müſſen fie die meiſten atmo- ſphäriſchen Niederſchläge ertragen. Triefen- der Thau, ſonnige Morgen, neblige Vor— mittage, Gewitter und Platzregen am Nach- mittag, Abends Nebel oder auch Sonnen— ſchein, oft beides raſch mit einander ab— wechſelnd, Nachts wieder klarer Himmel und froſtiger Thau oder gar Reif und Eis — das ſind die Ringe in jener Kette, welche in buntem Wechſel ohne vermittelnde Bindeglieder in den ſchroffſten Gegenſätzen einander berühren und das goldene Zeit— alter der Alpen-Vegetation repräſentiren. Keine Pflanze mit ſchnell vergänglichen Blüthen vermag ſich wegen dieſer ungün— ſtigen Witterungsverhältniſſe auf die Dauer hier oben zu erhalten. Jede Alpenblume muß vielmehr tage-, ja wochenlang ausſchauen, um die günſtige Stunde der Beſtäubung abwarten zu können. Oft ſind es während eines Sommermonats bloß einige wenige Stunden des trockenen Sonnenſcheins, da ſich die Blüthenkelche öffnen können, um 400 Dodel-Port, Ueber Farbenpracht und Größe der Alpenblumen. die ebenfalls nur bei trockener Luft ſchwär— menden Inſekten anzulocken. Und dieſe wenigen Stunden ſollen hinreichen, um den Honigſammlern zu ermöglichen, alle die tauſend einladenden Blüthen zu beſuchen, Fremdbeſtäubung zu vermitteln und den unzähligen, in hunderterlei Farben ſchim— mernden Kindern der Flora Nachkommen— ſchaft zu ſichern. Hierin aber liegt allem Anſchein nach der Schlüſſel zu jenem My— ſterium von der Blüthenpracht der Alpenpflanzen. Wir ſind bereits über der Baumgrenze angelangt; es umgeben uns nur noch die niedrigen Kräuter und Gräſer, welche — dem Erdboden ſich dicht anſchmiegend — die vielbeſungene Sammetdecke der Berg— weiden bilden. Drüben am Fuße der allmälig in Trümmer zerfallenden Fels— wand, auf dem in ewiger Bewegung be griffenen Brockengeſtein der Schutthalde, ſind es nur wenige Pflanzen, die den Kampf ums Daſein an wüſter Stätte der Ver— witterung zu beſtehen vermögen: etliche großblühende Veilchen, der Alpenmohn, einige Wucherblumen, Anemonen und Hahnenfußgewächſe. Aber wie hell leuch— ten ihre Blumen heraus aus dem fahlen Geſtein! Hier oben, in der baumloſen Region der allmälig in Ruinen zerfallenden rauhen Welt geborſtener Felskoloſſe überraſcht uns die Natur mit den ſchärfſten Gegenſätzen. In der grauſigen und öden Umgebung tre— ten die Effecte der Blüthenwelt um ſo ſchimmernder hervor. Wohl erſcheint es uns natürlich, daß eine armſelige Nahrung und ein rauhes Klima die Vegetation nieder- und zuſam⸗ mendrückt wie ein Häuflein frierender Kin⸗ der. Der gedrungene Wuchs der Alpen- pflanzen iſt wie geſagt ſo ſelbſtverſtändlich, wie derjenige der nahe verſchwiſterten Polar— pflanzen. Deſto mehr muß der Luxus in der Blüthen-Ausſchmückung überraſchen. Es iſt alſo das pflanzliche Geſchlechts— leben, welches uns dieſen draſtiſchen Gegen— ſatz zwiſchen der kümmerlichen vegetativen und üppigen Blüthen-Entwickelung der Gebirgsflora erklärt. Wir wiſſen heute, Dank dem befruch— tenden Einfluß der Darwin'ſchen Zucht— wahltheorie auf alle Zweige der botaniſchen und zoologiſchen Forſchung, daß die meiſten farbigen, wohlriechenden und honigabſon— dernden Blüthen durchaus von Inſekten beſucht und mit fremdem Blüthenſtaub be— fruchtet werden müſſen, wenn ſie kräftige, entwickelungsfähige Samen bilden ſollen. Der Inſektenbeſuch wird bei dieſen Pflan— zen zur Exiſtenzfrage der Nachkommenſchaft; bleibt er aus, ſo ſtirbt das Individuum ohne Nachkommen dahin; trifft dieſe Ca— lamität alle Individuen derſelben Art, fo ſtirbt die ganze Pflanzenſpecies aus, um nie wieder auf dem Schauplatz der Schö— pfung zu erſcheinen. Im Wettlauf um die Gunſt der Inſekten iſt aus der zum größ— ten Theil ausgeſtorbenen Schöpfung nicht luxurirender Blüthenpflanzen vor Zeiten die ſchöne Welt der buntblühenden Gewächſe hervorgegangen. Die damals ſo beſcheide— nen, meiſt grünlichen Blüthen fingen an, mit bunten Farben zu coquettiren, Honig abzuſondern und Gerüche zu verbreiten. Erinnern wir uns nun der Thatſache, daß der Inſektenbeſuch und die dadurch be— wirkte Fremdbeſtäubung für ſo unendlich viele Pflanzen ſich als Wohlthat erwies, wie er es auch heute noch iſt, ſo leuchtet ein, daß von den tauſend und tauſend um denſelben Platz kämpfenden Pflanzen nicht wenige ihren Sieg gerade dem Umſtand zuzuſchreiben hatten, daß fie durch Farben— Dodel-Port, Ueber Farbenpracht und Größe der Alpenblumen. 401 pracht, Honig und Aroma ihrer Blüthen die Mitbewerber im Kampf ums Daſein überboten und darum am eheſten und ſicherſten ſich der Wohlthat des Inſekten— beſuches ausſetzten. 3 Nun ergiebt ſich auch von ſelbſt die weitere Schlußfolgerung: Da die Alpenpflanzen in der Regel viel größere und intenſiver gefärbte Blüthen beſitzen, als ihre Vettern und Baſen im Thale — mit denen ſie auf einen gemein— ſamen Stammvater zurückzuführen ſind — ſo muß dort oben der Wettbewerb um den Inſektenbeſuch ſeit alten Zeiten ein viel in— tenſiverer geweſen ſein als in der Ebene, zumal die Inſekten hier oben mit weniger zufrieden ſind als unten im Flachland. Es dürfte demnach ſofort einleuchten, daß diejenigen Alpenpflanzen, welche nur unter Mithül fe der Inſekten durch Fremd— beſtäubung Samen zu bilden vermögen, zur Blüthezeit als die heftigſten Rivalen um die Gunſt der wenigen in dieſer Ge— birgsregion ſchwärmenden Honigſammler einander gegenüberſtehen; wer ſich dann nicht aufs glänzendſte mit bunten und großen, oder mit weithin duftenden Blüthen auszuſtatten vermöchte, würde eben von den wenigen dort ſchwärmenden Inſekten über— ſehen und ſeine Nachkommenſchaft wäre unmöglich geworden. Nun giebt es in der That eine Anzahl ganz hervorragender Botaniker, welche die Alpen aus mehrjährigem Beſuch hinlänglich kennen, um in dieſer Frage ein gewichtiges Wort mit zu reden, und wirklich haben mehrere derſelben es auch ausgeſprochen, daß die honigſuchenden Inſekten in den Gebirgsgegenden thatſächlich relativ ſchwä— cher vertreten, in kleinerer Anzahl vorhan— den ſind, als in der Ebene. Die Theorie von der Schönheit der Alpenflora ſchien ſomit hinlänglich bewieſen, was mich denn auch veranlaßte, in der „Alpenpoſt“ (1874, 25. Januar) etliche kurze Notizen niederzulegen und die ganze Frage einem weiteren Publikum, hauptſächlich den vielen Laien unter den begeiſterten Alpenfreunden, nahezubringen. Allein wie überall, ſo fand auch hier der Jünger unſerer Abſtammungs— lehre nebſt den Freunden richtiger Natur- erkenntniß zähe Anhänger der alten Zweck— mäßigkeitslehre, wonach der liebe Gott die Bäume grün gemacht hat, „weil grün gut für die Augen des Menſchen iſt“, jener Zweckmäßigkeitslehre, welche hinter allem Nützlichen das Uebernatürliche erkennen will, die weisheitsvolle Güte, welche die Blumen zur Freude der Menſchen erſchaffen hat. Das fromme Gemüth, welches aus dieſer kindlichen Weltanſchauung ſpricht, ſträubt fi) gegen jeden Fortſchritt der Wiſſenſchaft, ſobald dieſer auch dort den Vorhang zu lüften beginnt, wo bisher der menſchliche Verſtand vor einem ungelöſten Räthſel ſtehen blieb und daher dem „Glauben“ vollen Spielraum ließ. Ich conſtatire hierzu folgende That— ſachen: Es war im Sommer 1868, als ich mit einem Studiengenoſſen von einer deut— ſchen Univerſitätsſtadt aus für zehn Tage in ein einſames, ödes, vom Fremdenſtrom ge— miedenes Hochgebirgsthal des Graubündtner— landes flüchtete, um dort — fern vom großen Weltlärm — eine Urwelt kennen zu lernen, wie man ſie eben nur in ent- legenen, faſt ausgeſtorbenen Bergthälern finden kann. Unſer Wanderziel war Cani— cül im ſtillen Aversthal, links der Splügen— ſtraße, jenſeits der gigantiſchen Via mala. Dort im armen Bergdörfchen, das nur von wenigen Geishirten bewohnt wird, zu dem keine Straße, kein Saumpfad, ſondern 402 nur ein elender Gebirgsfteig führt, herrſcht noch die ſeltene, auf den Ausſterbe-Etat geſetzte romaniſche Sprache. Dagegen iſt die Sprache der Blumenwelt in dieſen Höhen eine gemeinverſtändliche, dem Bo— taniker jeder Zunge ſich leicht erſchließende. An einem Julitage brachen wir mit Bota— niſirdoſen und munterer Lebensluſt am frühen Morgen auf, um die nächſtgelegenen Felskämme zu erſteigen und fleißig einzu— ſammeln. Der Morgen war ſonnenhell und klar, der Vormittag wurde heiß; wir ſtiegen von Fels zu Fels, hoch über die Baumgrenze hinauf; da waren Pflanzen, Blumen und Inſekten immer noch in reichlicher Menge anzutreffen. Auf einem Schneefeld nahmen wir unſer Frühſtück und ſtiegen dann bis Nachmittags 2 Uhr höher und höher über Schutthalden und Felskämme. Die Pflanzen wurden ſeltener, auch die Inſekten traten zurück, bis oben, etwa 10,000 Fuß über dem Meer, nur noch an geſchützten Stellen einige wenige Blüthenpflanzen anzutreffen waren. Dort machten wir Halt auf einem ſchmalen Fels— kamm zwiſchen dem Val di Lei und dem Val d' Emet. Die Sonne ſchien — aber lange Zeit war auch nicht ein einziges Inſekt mehr zu entdecken, obſchon die At- moſphäre ſo ruhig lag wie in der Region der Calmen. Und doch prangten neben uns an ſonniger Stelle zwiſchen zwei Fels— trümmern, auf einer Hand voll Erde ihr Daſein friſtend, ein Dutzend ſtielloſer Blü— then im zierlichſten Raſen einer zwerghaften Vergißmeinnicht-Art, die den poetiſchen Namen „Himmelsherold“ trägt (Erithri- chium nanum, Schrad. = Myosotis nana L.). Endlich trug ein warmer Wind- hauch, der von den unter uns liegenden Schutthalden bis zu uns heraufſtieg, einen taumelnden Schmetterling daher. Es war Dodel-Port, Ueber Farbenpracht und Größe der Alpenblumen. als habe ſich dieſer Bote des Sommers in unſere Höhe verirrt. In längeren Zwiſchen— räumen ließ ſich auch das Geſumme einer Diptere erkennen, die hier oben — in der Region des ewigen Schnees — nach den wenigen Blüthen ſpähte. Wir weilten dort eine volle Stunde, die Sonne ſtand hoch am Himmel und doch bemerkten wir an dieſem Juli-Nachmittag nur wenige Inſek— ten. Wir dürfen daraus ſchließen, daß in dieſen Höhen in der That ebenſo wohl wenige Inſekten, als auch wenige Blüthenpflanzen vorhan— den ſind. Aus dieſer Beobachtung folgt aber mit Nothwendigkeit, daß ſich die natür— liche Zuchtwahl geltend machen muß. In der Region der öden, zerriſſenen Felswände und auf den Todtenfeldern der langſam verwitternden Schutthalden über der Grenze des ewigen Schnees iſt das Pflanzenleben auf ein Minimum reducirt. Das Gleiche gilt von der Inſektenwelt, denn dieſe iſt doch wohl unbedingt von der Vegetation abhängig. Wie nun, iſt es nicht ſelbſtverſtändlich, daß die wenigen zwerghaften Blüthenpflanzen, die unter dem Geſetz der nothwendigen Fremdbeſtäubung des Inſektenbeſuches abſolut bedürfen, nur dann ihre Gattung zu erhalten vermögen, wenn fie alle möglichen Mittel in Anwen- dung zu bringen im Stande ſind, welche die Aufmerkſamkeit der wenigen, in ihrer Umgebung ſchwärmenden Inſekten auf ſich - lenken? i Hier haben wir den ſchroffſten Gegen- ſatz zu den Repräſentanten der Mimicry in der Thierwelt, zu jenen Schmetterlingen, Blattläuſen, kleinen und ſchwachen und doch ſo ſehr verfolgten Thieren aller Klaſſen, die ſich nur dadurch vor ihren ſtärkeren Verfolgern, den Raubthieren aller Art, — ſchützen, daß ſie die Farbe der Unterlage annehmen, auf der ſie ſich bewegen. Unſer Schneewieſel, im Sommer von bräunlicher Farbe, beſitzt im Winter einen weißen Pelz, um ſich dem Blicke ſeiner Verfolger zu entziehen, d. h. das Schneewieſel hat allgemein durch natürliche Zuchtwahl im Verlauf der vielen Generationen jenen ſchützenden, periodiſchen Farbenwechſel an— genommen, weil diejenigen, die dieſen Kleiderwechſel nicht vollführten, ausgerottet wurden. Den Gegenſatz hierzu bilden jene großblühenden, weithin ſchimmernden Blumen unſerer zwerghaften Alpenpflanzen, die auf den öden Trümmerfeldern zerfallen- der Gebirge nur in wenigen Individuen vertreten ſind und doch von den wenigen Inſekten ihres Wohnortes beſucht werden müſſen, wenn ſie fruchtbare Samen reifen ſollen. Wer vermöchte hier die natürliche Zucht wahl zu verleugnen? Hier blüht in den glänzendſten Farben der zwerghafte Him— melsherold (Erithrichium nanum, Schrad.); ſeine himmelblauen Blüthen auf blaß— grünem Raſen werden von den wenigen Honigſammlern ſeines Reviers alsbald be— achtet und die Fremdbeſtäubung iſt geſichert; — dort drüben aber blüht ein anderer kleiner Raſen in viel beſcheidenerem Schmuck: er wird von den Inſekten nicht beachtet, Fremdbeſtäubung unterbleibt und ſeine Nachkommenſchaft iſt in Frage geſtellt. Während auf dieſe Weiſe ganz natürliche Verhältniſſe den Ausjätungsproceß der we— nig luxurirenden Pflanzenindividuen in Per⸗ manenz erhalten, ſehen wir gleichzeitig die beſſer ausgeſtatteten Individuen zahlreiche Nachkommenſchaft hinterlaſſen, unter welcher ſich im folgenden Jahr derſelbe Proceß der natürlichen Ausleſe, das Geſetz der natür— lichen Zuchtwahl geltend macht. Ich meine, daß es kaum ein günſtige— | Dodel-Port, Ueber Farbenpracht und Größe der Alpenblumen. 40: res Feld gibt, um das Prinzip der Na- turausleſe an lebenden Pflanzen zu demon— ſtriren, als dieſe Hochalpenregion, wo auf großen Trümmerfeldern fahlen Geſteines und an ſterilen Felswänden nur da und dort, in ſehr weiten Abſtänden, einige we— nige Blüthenpflanzen ihr Daſein zu er— kämpfen vermögen und nur dann entwick— lungsfähige Samen zu bilden im Stande ſind, wenn ſie durch weithin ſchimmernde Blumen ihre beſten Freunde und größten Wohlthäter, die honigſuchenden Inſekten, anzulocken wiſſen. Das Gleiche gilt von den durch intenſive aromatiſche Gerüche aus— gezeichneten Blüthenpflanzen. Hier vermag oft das weithin duftende Aroma daſſelbe zu bewirken, wie eine brillante Blumen— krone. Die Pflanzenwelt iſt unter dem Correctiv der natürlichen Zuchtwahl auf verſchiedene Mittel gerathen, um ſich das— ſelbe Reſultat zu ſichern. Wir verſtehen demnach auch jene Thatſache, daß manche Alpenkräuter ſich durch intenſivere Gerüche auszeichnen, als die Verwandten im Thale. Und was von den Alpenpflanzen, das gilt auch von den erſten Frühlingsblumen des Tieflandes. Wir verſtehen, warum das erſte Veilchen, daß an ſonniger Halde und am Waldesrande blüht, während unten am ſchattigen Abhang der Schnee erſt zu ſchmelzen beginnt, eine wohlriechende Art, das wohlriechendſte Veilchen des ganzen Jahres iſt. Wir verſtehen, warum die erſten, aus kaum aufthauender Erde her— vorſproſſenden Frühlingsboten, die Anemo— nen, Primeln, Winterlinge (Eranthis), Crocus- und Seilla-Arten ſo unverhältniß— mäßig große Blumen darbieten. Alle dieſe Pflanzen der Ebene und Voralpen ſtehen zur Blüthezeit unter ähnlichen Verhält— niſſen, wie die großblühenden oder ſtark— duftenden Hochalpenpflanzen. 404 Wir ſehen alſo, daß unſere Theorie von der Blüthenpracht der alpinen Pflan- zenwelt wenigſtens für die öden Gegenden über der Schneegrenze, für die Region der inſektenarmen eigentlichen Hochalpen— flora gerettet iſt. Für dieſe wunderbare Welt der extremſten Gegenſätze ſteht unſere Theorie unantaſtbar feſt. Sehen wir zu, wie wir mit den Ein- wänden eines bewährten Entomologen auch für jene Regionen der Alpenwelt fertig werden, in welchen zur Blüthezeit wirklich auch unzählige Inſekten zur Dispoſition geſtellt ſind; daß nämlich da, wo die Mut⸗ ter Natur mit einem Male ihr reiches Füllhorn der bunteſten Alpenblumen über die Sammetgründe der Weiden, Triften und Abhänge unſerer Berge ausgeſchüttet hat, die Welt auch von Inſekten in glei- chem oder gar in günſtigerem Verhältniſſe belebt ſei, wie unten im Flachlande, wenn der Frühling erwacht iſt und Hain und Flur, Feld und Wald im Blüthen- ſchmuck erglänzt. — Selbſt wenn wir dies, jedoch mit der Einſchränkung, die wir in obiger Betrachtung gegeben, zugeſtehen wollten, ſind wir doch weit entfernt, daraus zu folgern, daß unſere Theorie blos für die eigentliche Hochalpenflora zutreffe und in etwas tieferen Bergregionen keine Au— wendung finden könne. Wir werden im Gegentheil den Beweis zu leiſten vermögen, daß jene Theorie von der Farbenpracht der alpinen Blüthenpflanzen für die ganze Alpenflora Geltung beanſpruchen kann und muß. Wir ſtützen uns auf folgende That— ſachen: Einmal iſt die eigentliche Frühlings⸗ zeit der Alpenpflanzen, in den Gebirgs— Thälern ſowohl als auf den Höhen, in einen ſehr kurzen Zeitabſchnitt zuſammen— gedrängt; die ganze Vegetationsperiode, Frühling, Sommer und Herbſt, umfaßt Dodel-Port, Ueber Farbenpracht und Größe der Alpenblumen. nur die drei Monate Juni, Juli und Auguſt. Häufig erwacht der Frühling auf den höhern Alpenweiden erſt dann, wenn bereits die längſten Sommertage hinter uns liegen. Der Pilatus, deſſen höchſte Spitze (das Tomlishorn) ſich nicht mehr als 6565 Fuß über das Meer erhebt, alſo noch anderthalbtauſend Fuß unter der Schneelinie der Alpen liegt, wird von den meiſten Botanikern erſt im Juli, höchſt ſelten ſchon um die Zeit des längſten Ta— ges beſucht. Vier oder ſechs Wochen nach— her hat hier meiſtens das Blühen ein Ende. Was aber vom Pilatus geſagt wird, das gilt von den meiſten Gebirgen diesſeits der Waſſerſcheide. Hier ſind die Flitterwochen der Vegetation wie der In⸗ ſektenwelt ſehr kurz zugemeſſen. Aber welch ein Bild entfaltet ſich da beim Erwachen der lebenden Natur, wenn der Lenz über die Höhen ſchreitet und die Bergthäler aus ihrer Ruhe weckt! Wie auf ein mächtiges Zauberwort werfen ſich Triften und Wäl— der in den ſchönſten Schmuck. „Alles will ſich mit Farben beleben.“ — Und da ſoll die Inſektenwelt mit einem Mal allen An⸗ forderungen gerecht werden! Gewiß thun fie ihr Möglichſtes, dieſe fleißigen Honig— ſammler, ebenſo gut als ihre Verwandten im Flachlande les während des blühenden Mai gethan haben. Aber hier in der Gebirgswelt wirken andere Faktoren erſchwerend auf die ruhige Abwickelung des ungeheuren Prozeſſes der Fremdbeſtäubung an den Millionen und Milliarden Blüthen und Blümchen. Oft verſtreicht eine ganze Woche, oft ſogar ein halber oder ganzer Monat, ehe die Berge ihren Schleier abwerfen, ehe die Nebel und Regenwolken weichen, ehe der erſehnte Augenblick herbeikommt, in welchem die Fortpflanzung geſichert wird. 7 WWW . Jeder Alpen-Reiſende, der bei ſonſt heiterm Wetter die Bergſpitzen nur zu oft im Nebel gehüllt erblicken muß, kann ſich ſagen, wie viel ſeltener dort oben die Ho— nigtage blühen werden, als im ſonnigen Thale. Ebenſo ſparſam wie dort oben Tage mit ſchöner Ausſicht blauen, ebenſo ſelten lächelt, da Reiſe- und Blüthezeit zuſammen— fallen, den Blumen eine „ſchöne Ausſicht“, und die ſparſam zugemeſſenen Stunden müſſen eben ausgenutzt werden. der Tagesordnung. Dazu kommt, daß kalte Morgen und kühle Abende in den Gebir— gen auch während des Sommers nicht zu den Seltenheiten gehören. Sie ſind, ſelbſt wenn fie ſonnig und heiter ſich geſtalten, dem Schwärmen der Inſekten nicht zu— träglich. Weiterhin iſt, wie bekannt, auch der Wind ein Freund der Alpenregion. Iſt aber die Atmoſphäre ſehr bewegt, ſo ver— laſſen manche Inſekten, ſelbſt bei hellem Wetter, ihre Schlupfwinkel nicht und unter— laſſen jeden Beſuch bei Blumen, bis die Luft ruhig iſt. Faſſen wir das Alles zuſammen, ſo ergiebt ſich, daß die Inſekten der Alpenwelt eine ungleich größere Aufgabe in ungleich kürzerer Zeit zu bewältigen haben, als ihre Verwandten im Flachlande. Nehmen wir einmal beiſpielsweiſe an, daß in der Alpenregion während der Blü— thezeit dortiger Vegetation die Stunden lachenden Sonnenſcheines, die Zeitabſchnitte, während welcher die Blüthenpflanzen wirk— lich ihre Blumenkronen öffnen und der Fremdbeſtäubung ausſetzen konnen, doppelt ſo kurz zugemeſſen ſind, wie im Tiefland, ſo muß daraus geſchloſſen werden, daß Dodel-Port, Ueber Farbenpracht und Größe der Alpenblumen. Die Nie⸗ derſchläge find dort oben grade im Hoch- ſommer, wo im Thale Dürre herrſcht, an größere, als in der Ebene. ai; dort entweder doppelt jo viele Inſekten nö— thig ſind, als in der Ebene, wenn das Verhältniß zwiſchen „Angebot und Nach— frage“ in Sachen der Frembeſtäubung an beiden Orten ein ungefähr gleiches ſein ſoll, oder aber: daß in den Alpen viel mehr blühende Pflanzen von honigſuchenden In— ſekten nicht beſucht, alſo der Fremdbeſtäu⸗ bung entzogen werden, als im Flachland. Die Anzahl der nach Inſektenbeſuch ver— langenden Blumen iſt faktiſch in den Al— penthälern während warmer, ruhiger Som— mertage eine ebenſo große, wenn nicht viel Iſt aber zur Bewältigung der Aufgabe eine doppelt kleinere Stundenzahl eingeräumt, ſo folgt mit mathematiſcher Gewißheit, daß eine doppelt größere Zahl von Inſekten auf dem Arbeitsfelde thätig ſein muß, wenn derſelbe Effekt erzielt werden ſoll wie dort, wo den Honigfreunden doppelt ſo viel Zeit für die Ernte zugemeſſen iſt. Ferner wird die Durchſchnittszeit, wäh- rend welcher die Alpenpflanzen ihre Blüthen entfalten und dem Inſektenbeſuch ausſetzen, durch den Umſtand noch weiter herabge— drückt, daß ein großer Bruchtheil dieſer Pflanzen, vielleicht die Hälfte, zum minde— ſten ein Drittel, während ſonniger Tage entweder am Vormittag oder am Nach— mittag im kühlen Schatten, an Felswän— den oder an den von benachbarten Bergen beſchatteten Abhängen ſteht, woſelbſt ſie entweder gar nicht von den ſonnenfreund— lichen Inſekten beſucht werden, oder den Beſuch nicht zulaſſen wegen Mangel an trockener Luft, Licht und Wärme. Man denke den ſchroffen Gegenſatz hin— zu: die meilenweite Haide, die ausgedehn— ten Sümpfe, die monotone Hochebene des Lechfeldes oder die üppige lombardiſch ve— netianiſche Tiefebene, wo vom frühen Mor- 406 gen bis zum ſpäten Abend, jeden Tag 12-16 Stunden lang, die Sonne für alle Creaturen leuchtet. Schließlich erinnern wir auch an die Thatſache, daß hauptſächlich die an wüſten, felſigen Orten, nicht in großen Beſtänden, ſondern meiſt iſolirt ſtehenden Alpenpflan— zen es ſind, welche ſich durch großen Luxus in der Entfaltung der Blüthen auszeichnen. Wer ſie einmal an Ort und Stelle geſe— hen hat, der vergißt ſie nicht ſo leicht; die Steinbrecharten, Antherieum, Linaria al- pina, Lilium bulbiferum, jene große weit— hinleuchtende Feuerlilie, die im Klönthal an den ſterilen, faſt unzugänglichen Fels— wänden ihr Daſein friſtet, die Sedum- und Sempervivum- Arten, die wilden Nelken und alle jene gefeierten Repräſentanten der Alpenflora, die um ſo größern Glanz ent— falten, je größer die todte Stein- oder Felswüſte, welche ſie rings umgibt. Hier, in den tieferen Gebirgsregionen, machen ſich an den wüſten Standorten ganz ähn— liche Verhältniſſe geltend, wie wir ſie eben über der ewigen Schneegrenze kennen ge⸗ lernt haben. Die Inſekten, welche bei die— ſen zerſtreuten, weit von einander abſtehen— den Alpengewächſen Frembeſtäubung zu vermitteln haben, müſſen bei dieſem Ge— ſchäft die weiten unwirthbaren Felswände und Schutthalden nach allen Richtungen durchmuſtern, wenn ſie ihrer Aufgabe ge— recht werden ſollen. Dieſes Abſuchen nimmt Zeit in Anſpruch. Die honigſuchenden Inſekten ſind aber wäh— rend ihrer Erntezeit ſehr haſtige Sammler, die ſich keineswegs auf ein gemüthliches Schlendern einlaſſen, ſondern emſig und unausgeſetzt ihrem Geſchäfte nachgehen: was iſt nun natürlicher, als daß gerade dort, im Revier tuypiſcher Alpenpflanzen, Dodel-Port, Ueber Farbenpracht und Größe der Alpenblumen. riechenden Gewächſe von den Blumenfreun— den der Inſektenwelt nicht beachtet und da— her dem Ausſterben preisgegeben werden. Auch gehört das Abſuchen großer Trümmerfelder und himmelanſtrebender, ſpärlich bewachſener Felswände nicht zu den Paſſionen jedes geflügelten Honigfreundes; denn je ſteiler und unwirthlicher das dies— fallſige Excurſionsgebiet, deſto launenhafter das tückiſche Spiel des Windes. Selten wagt ſich ein Schmetterling hinauf an die ſenkrechte Felswand, jeder Windhauch fegt ihn weg und entführt ihn der Region ſeiner geliebten Blumenwelt. Und drunten, an ſonniger, ſaftiggrüner Halde, wo Pflanze an Pflanze dicht ge— drängt in tauſend Blumen die unzähligen Lieblinge der Inſekten, ihren bunten Teppich ausbreiten, dort muß ſich der Wettbewerb um die Gunſt der flatterhaften, honigſam— melnden, haſtigen Geſellen nicht minder inteuſiv geltend machen, als droben an öder Felswand. Es mag dort unten von Inſekten wimmeln, ſie haben auch nur we— nige Stunden zum Einſammeln des Honigs; ſie ſind um ſo hungriger, je länger ſie auf den lachenden Sonnenſchein warten mußten. Darum iſt ihre Eile und Verlangen ſo groß, daß ſie gewiß zuerſt den leuchtenden, ſtark duftenden Blumen zueilen, ehe ſie ſich Zeit nehmen, auch den kleinern oder weniger duftenden Blüthen Beſuche abzuſtatten. Auch hier, auf dem blumenreichen Teppich der tieferen Alpenweiden, werden die luxurirenden Blüthen viel eher befruchtet, als die min— der günſtig ausgeſtatteten; es kann nicht ausbleiben, daß ſich auch hier ein heftiger Wettbewerb um die Gunſt der Inſekten geltend macht, eine Zuchtwahl, die um ſo rigoroſer eingreift, je größer die Anzahl gleichzeitig blühender Pflanzen und je kür— die unſcheinbar blühenden bez. ſchwach | zer die Anzahl der Stunden, in welchen die Inſekten — und wären es ihrer noch jo viele — ihre Honig-Ernten feiern. Man könnte uns entgegenhalten, daß die Blüthenpracht der Alpenpflanzen ebenſo gut durch die reinere Luft und das damit zuſammenhängende intenſivere Sonnenlicht in den Gebirgsgegenden erklärt werden könne. In der That hat dieſe Anſicht bis in die neueſte Zeit ſehr viele Anhänger gefunden; ſie iſt aber unhaltbar. Wohl beſteht eine Beziehung zwiſchen dem Sonnenlicht und dem Blattgrün der vegetativen Pflanzenorgane. Bekanntlich bildet ſich das Chlorophyll (mit einigen wenigen Ausnahmen) nur unter der Ein— wirkung des Sonnen- oder diffuſen Tages— lichtes. Allein die Blumenfarben ent— wickeln ſich auch im tiefſten Dunkel; das lehren uns alljährlich im Frühling die tief— blauen Veilchen und Enzianen, die violet— ten und goldgelben Blüthen mancher Cro— cus-Arten und Hahnenfußgewächſe, die ihre Farben in völliger Dunkelheit zu bereiten wiſſen, um beim erſten ſonnigen Lenzes— morgen damit die erſten wenigen Inſekten anzulocken. Und ebenſo bilden Tauſende der brillant blühenden Sommergewächſe ihre Blumenfarbſtoffe im dunkeln Innern mehrfach eingehüllter Knospen. Alpenpflanzen, die aus der reinen Berg⸗ luft in die Ebene verſetzt werden, behalten durch zahlreiche Generationen hindurch ihre wunderbar glänzenden Blüthen bei, obſchon ſie in ganz andere Beleuchtungs- und At— moſphären-Verhältniſſe gebracht wurden. Das bezeugen die Kunſtgärtner, welchen es Dodel-Port, Ueber Farbenpracht und Größe der Alpenblumen. 407 N gelungen iſt, die reizendſten Bergpflanzen mit Erfolg zu züchten. (Man vergl. Verlot, les plantes alpines. Paris 1873). Und was hat die reine Bergluft, das intenſive Sonnenlicht mit der Größe der Blumenblätter zu ſchaffen? Die Phyſiolo— gie hat zur Evidenz dargethan, daß das Sonnenlicht dem Wachsthum der Zellen und dem Zelltheilungsprozeß hemmend ent— gegentritt. — Die längſten Pflanzenzellen bilden ſich im Dunkeln, die Bildung neuer Zellen findet zumeiſt während der Nacht ſtatt. Nicht durch das intenſive Sonnen— licht, ſondern durch die Dunkelheit wird das Wachſen der Pflanzenorgane begünſtigt. Das iſt eine Thatſache, welche der uns entgegengeſetzten Theorie direkt wider— ſpricht. Auch Aroma und Honigbildung ſteht zur reinen Atmoſphäre und zum grelleren Sonnenlicht in keinem cauſalen Verhältniß. Das wohlriechende Frühlingsveilchen bildet ja ſeine ätheriſchen Oele und ſeine Zucker— ſäfte in nebeligkalter Frühlingsluft, im Schatten einiger dürrer Blätter, die im Herbſt von der Hecke fielen. So ſehen wir denn, daß alle Einwände, welche gegen obige Theorie von der Far— benpracht alpiner Blüthenpflanzen laut ge— worden ſind, durch unzählige Thatſachen widerlegt werden, während anderſeits alle bis jetzt bekannt gewordenen Erſcheinungen nur für die eine Anſicht ſprechen, die wir in dem vorliegenden Verſuch auseinander geſetzt haben. Sr Pape KO 54 Lamarck und Darwin. Lin Beitrag zur Geſchichle der Enkwicklungslehre. NG ach der Darſtellung der Phi— loſophie und Geologie La— N 1 marck's wenden wir uns Fer nun zu der Betrachtung feiner biologiſchen Verallgemeinerun— gen und betreten das Gebiet, auf welchem dieſer Forſcher ſich ſo glänzend ausgezeichnet hat. Seine ſyſtematiſchen Arbeiten in der Zoologie und Botanik haben Lamarck den Namen des franzöſiſchen Linné ein— gebracht, und in der That ſind er und dieſer große ſchwediſche Naturforſcher die einzigen, welche ſowohl in der Zoologie wie in der Botanik umfaſſende und höchſt wichtige, ſyſtematiſche Arbeiten geliefert haben. Während ſich aber Linné mit der Be ſchreibung und überſichtlichen, aber künſt— lichen Claſſification der verſchiedenen Thiere | und Pflanzen begnügte, war das für La— IV. Lamarck's Anſichten über das Verhälkniß der organiſchen zur unorganifchen Natur. — Seine Annahme der Urzengung. — Pflanzen und Chiere. Von Dr. Arnold Rang. mard nur ein Mittel zu einem anderen höheren Zweck. Zu wiederholten Malen betont er, daß der Naturforſcher nicht nur darauf ausgehen ſolle, neue Arten zu ent— decken, ſie genau zu beſchreiben, abzubilden und in das Syſtem einzureihen, ſondern daß er auch unabläſſig beſtrebt ſein ſolle, den inneren Bau der Organismen, ihre Beziehungen zu einander und zu den übri— gen Naturkörpern zu erforſchen, die man— nigfaltigen Erſcheinungen, die ſie uns dar— bieten, zu erklären und die Urſachen ſowohl ihrer Exiſtenz und Mannigfaltigkeit, als ihrer zweckmäßigen Organiſation zu ergrün— den. „Man weiß, daß jede Wiſſenſchaft ihre Philoſophie haben muß. Nur dann macht ſie wahre Fortſchritte. Vergebens werden ſonſt die Naturforſcher ihre ganze Zeit darauf verwenden, neue Arten zu 2 Ra: * „„ 0 BIS „ logiſchen Aufgaben zu machen. Lang, Lamarck und Darwin. 409 beſchreiben, alle Nüancirungen und die ge- ſtellt.“) Mit Recht beſtreitet Lamarck ringſten Eigenthümlichkeiten ihrer Abände— rungen aufzufinden, um die ungeheure Liſte A 1 nach, daß naturgemäß den Mineralien dd der verzeichneten Arten zu vermehren. . . Lamarck war nun gewiß zu ſeiner Zeit gerade der Mann dazu, einen Anfang zur Löſung der angedeuteten allgemeinen bio— Mit einem immenſen Schatz von Kenntniſſen in Zoo logie und Botanik, mit dieſer nothwendigen Vorbedingung zur Aufſtellung biologiſcher Verallgemeinerungen, verband er einen die Probleme ſcharf erfaſſenden, klaren Geiſt, verband er das Beſtreben, ſich von dog— matiſchen Ueberlieferungen jeder Art mög⸗ lichſt vollſtändig loszureißen. Wir dürfen uns daher nicht wundern, wenn er auf dem Gebiete der Biologie ſchon Anſichten von weitreichender Bedeutung klar und deutlich ausſprach, zu deren Anerkennung man erſt in der neueſten Zeit durch die überwältigende Macht der Thatſachen g zwungen wurde. Anderſeits werden wir in Anbetracht des in der Einleitung kurz charakteriſirten damaligen Standes der Wiſſenſchaft und des allzugroßen Beſtre— 02 . 0 i bens Lamarck's, gleich alles zu erklären, ein Beſtreben, das nicht ganz ohne Begrün— dung „Originalitätsſucht“ genannt wurde, zum Voraus erwarten können, daß er ſich auch in der Biologie vielfach in große Irrthümer verwickelte. Wir beginnen unſere Darſtellung natur— gemäß am beſten mit der Erörterung der Lamar ck'ſchen Anſichten über das Ber- hältniß der organiſchen zur unorganiſchen Natur. Linné hatte in ſeiner bekaunten Diagnoſe „Lapides ereseunt; plantae» vivunt et erescunt, animalia vivunt et erescunt et sentiunt“ die Mineralien, die Pflanzen und die Thiere einander als gleichwerthige Naturreiche gegenüber ge— dieſe Eintheilung der Körperwelt in drei gleichwerthige Reiche und weiſt überzeugend als lebloſen Körpern die Orga— nis men als belebte Körper gegen— über geſtellt werden müſſen. Erſt in zweiter Linie zerfallen die Organismen wieder in zwei große Hauptabtheilungen, die Thiere und Pflanzen. — Nicht minder enſchieden tritt Lamarck einer anderen Anſicht entgegen, die insbeſondere von Ari— ſtoteles, Leibniz, Bonnet und vie len Anderen vertreten wurde, nämlich der Anſicht, daß ſich alle Naturkörper in eine einzige ungetheilte Reihe bringen laſſen, welche mit den Mineralien beginnend, ſich durch die einfachſten Pflanzen zu den voll— kommenſten fortſetze und durch dieſe zu den unvollkommenſten Thieren übergehe, um mit den vollkommenſten unter dieſen Geſchöpfen ihren Abſchluß zu finden. Dieſe Anſicht, an der merkwürdiger Weiſe noch heute von grob teleologiſchen, ſpeculativen Philoſophen feſtgehalten wird, obſchon ſie allen bekannten Thatſachen, allen Ergeb- niſſen der Naturforſchung Hohn ſpricht, weiſt Lamarck auf's Entſchiedenſte zurück. Ausdrücklich leugnet er das Vorhandenſein von Uebergängen zwiſchen den höchſten Pflanzen und den niederſten Thieren und bemerkt, wie wir ſehen werden, ganz rich— tig, daß der Zuſammenhang zwiſchen beiden Organismenreichen, wenn ein ſolcher über— haupt exiſtire, ganz anders zu denken ſei. Nicht nur fehlen ſeiner Meinung nach dieſe Uebergänge zwiſchen Pflanzen und Thieren, ſondern ſie fehlen auch vollſtändig zwiſchen ) Später ſtellte Linné die Steine als Congesta den Pflanzen und Thieren als Organisata gegenüber, eine Unterſcheidung, die jedoch keine Verbreitung fand. 410 den Organismen und Mineralien und ſpe— ciell, wie obige Anſicht behauptet, zwiſchen den Pflanzen und Mineralien. Die Welt der Organismen hält er durch eine große Kluft, einen gewaltigen Abſtand, von der Welt der Mineralien, der Anorgane, ge— ſchieden. Wir müſſen indeſſen gleich hier betonen, daß Lamarck nicht eine abſo— lute Verſchiedenheit in der Natur der Organismen und der Anorgane behauptet. Der Unterſchied ſei zwar ſehr groß, aber nur relativ. Das materielle Subſtrat der Organismen ſei das nämliche wie das der Anorgane, nur ſeien die chemiſchen Verbind— ungen bei den Organismen unendlich viel complicirter. — Es exiſtirt alſo nach Lamarck kein beſonderer Lebens- ſtoff. — Auch die Geſetze ſind nach La— marck für die Organismen wie für die Anorgane die nämlichen, allgemein gülti⸗ gen, unveränderlichen; die Kräfte dieſelben. „Man hat in der That behauptet, daß die Organismen die Fähigkeit haben, den Ge— ſetzen und Kräften, denen alle lebloſen oder todten Körper unterworfen find, zu wider- ſtehen, und daß ſie durch beſondere Geſetze regiert werden. Nichts iſt unwahrſchein— licher und in der That unbegründeter, als dieſe vorgebliche Fähigkeit der Organismen, den Kräften, denen alle anderen Körper unterworfen ſind, zu widerſtehen. Dieſe ziemlich allgemein angenommene, in allen neueren, einſchlägigen Werken dargelegte Anſicht ſcheint mir aufgeſtellt worden zu ſein, einerſeits in Folge der Verlegenheit, in welcher man ſich bei der Erklärung der verſchiedenen Lebenserſcheinungen befunden hat, anderſeits in Folge der innerlich ge— fühlten Betrachtung der Fähigkeit der Or— ganismen, ihre eigene Körperſubſtanz ſelbſt zu bilden, die Verluſte, welche die ihre Theile bildenden Stoffe erleiden, wieder Lang, Lamarck und Darwin. zu erſetzen und endlich Verbindungen her— vorzubringen, welche ohne fie nie exiſtirt hätten. So hat man in Ermangelung anderweitiger Mittel die Schwierigkeit durch die Annahme beſonderer Geſetze, die man nicht einmal zu beſtimmen bemüht war, beſeitigt.““) Es giebt alſo nad La— marck keine beſondere Lebens- kraft. Daß diejenigen Bewegungen und Vorgänge, die man allgemein unter dem Collectivnamen Leben zuſammenfaßt, den fundamentalen Unterſchied zwiſchen den Or— ganismen und Anorganen bilden, das be— hauptet natürlich auch Lamarck. Allein das Leben iſt nach ihm eine ganz natür— liche, den allgemeinen Naturgeſetzen unter- worfene Erſcheinung. — Bei Betrachtung der philoſophiſchen Anſichten Lamarck's haben wir geſehen, daß derſelbe mit dem Worte „Natur“ die an ſich unveränder— liche Geſammtſumme der immer geſetz— mäßigen Bewegungen der Materie verſteht. Das Leben iſt nun ſeiner Anſicht nach eine beſchränkte Summe beſtimmter geſetzmäßiger Bewegungen innerhalb der Geſammtſumme, der Natur, und von dieſer abhängig, alſo recht eigentlich ein Stück Natur, eine „na- tura naturata“ im Sinne Spinoza's. — Die Principien, die Lamarck beim Verſuche der Löſung der Frage nach dem Weſen des Lebens leiten, ſind ſehr richtig und bezeichnend. Es herrſchen zwar, ſagt er einleitend, überall in der Natur dieſelben Geſetze und Kräfte, aber eine und dieſelbe Urſache bringt nothwendiger Weiſe verſchie— dene Wirkungen hervor, wenn ſie auf Ge— genſtände einwirkt, die ihrer Natur und den Verhältniſſen nach, in denen ſie ſich befinden, verſchieden find.” **) Ferner: „Die Natur complicirt ihre Mittel niemals, ) Zool. Philoſ. S. 286. % Zool. Philoſ. S. 284. Lang, Lamarck und Darwin. 411 wenn es nicht nöthig iſt; wenn ſie alle Erſcheinungen der Organiſation, mit Hülfe der Geſetze und Kräfte, denen alle Körper allgemein unterworfen ſind, hat hervor— bringen können, ſo hat ſie dies ohne Zwei— fel gethan und hat nicht, um einen Theil ihrer Erzeugniſſe zu regieren, Geſetze und Kräfte geſchaffen, die denen, welche ſie an— wendet, um den anderen Theil zu regieren, entgegengeſetzt ſind.“?) Lamarck ſpricht hier als conſtitutiven Grundſatz daſſelbe aus, was ja auch insbeſondere Kant als regulativen Grundſatz, als Maxime der Vernunft ausdrücklich hervorhebt, „Prin— cipia praeter necessitatem non sunt multiplicanda.“ Von der Ueberzeugung der Einheit der Geſetze, Kräfte und des materiellen Sub— ſtrats in der anorganiſchen wie in der or— ganiſchen Natur geleitet, machte nun La- marck Erwägungen über das Weſen des Lebens, indem er zuerſt ſich über die da— bei zu verfolgende Methode ins Klare zu ſetzen ſuchte. „Wir müſſen bei der aller— einfachſten Organiſation unterſuchen, worin in Wahrheit das Leben beſteht, welches ſeine nothwendigen Exiſtenzbedingungen ſind, aus welcher Quelle daſſelbe die beſondere Kraft ſchöpft, welche die ſogenannten Lebens— bewegungen erregt. Man kann in der That erſt nach der Unterſuchung der ein— fachſten Organiſation wiſſen, was wirklich für die Exiſtenz des Lebens in einem Kör— per weſentlich iſt; denn bei einer complicir— ten Organiſation iſt jedes hauptſächliche innere Organ derſelben für die Erhaltung des Lebens nothwendig, wegen ſeiner inni— gen Verknüpfung mit allen anderen Theilen des Organſyſtems und weil dieſes Syſtem nach einem Plane gebildet iſt, welcher dieſe Organe erfordert. Daraus folgt aber J Zool. Philoſ. S. 286. nicht, daß dieſe Organe für die Exiſtenz des Lebens in jedem Organismus noth— wendig find.” *) Indem nun Lamarck dieſen richtigen Weg einſchlägt, gelangt er dazu, das Leben, wie oben bemerkt, als eine Summe beſtimmter, ſehr complicirter Bewegungen der Beſtandtheile eines Orga— nismus aufzufaſſen und dieſe complicirten Bewegungen zurückzuführen auf die phyfi- kaliſche und complicirte chemiſche Beſchaffen— heit des materiellen Subſtrats des Orga— nismus. Etwas Näheres und Beſtimm— teres über die Lebensbewegungen vermag uns Lamarck ebenſo wenig zu ſagen, als unſere heutige Phyſiologie. — Zu einem höchſt fruchtbaren Ergebniß gelangt er aber, indem er gewiſſe phyſikaliſche Eigenſchaften des materiellen Subſtrats, zunächſt der ein— fachſten Organismen, vergleicht mit ent— ſprechenden phyſikaliſchen Eigenſchaften der anorganiſchen Körper. „Ein anorganiſcher Körper,“ ſagt Lamarck, „bildet entweder eine vollſtändig trockene, feſte Maſſe, oder eine vollſtändig flüſſige Maſſe, oder ein gasförmiges Fluidum. Kein Körper aber kann Leben beſitzen, wenn er nicht von zwei Arten weſentlich coexiſtirender Theile gebildet wird, von denen die einen feſt, aber biegſam und enthaltend, die anderen flüſſig und enthalten ſind, unabhängig von den unſichtbaren Fluida (Lamarck meint die Wärme, Ekektricität u. ſ. w. und dann Gaſe), welche ihn durchdringen und welche ſich in feinem Innern entwickeln.“ “) Daß Lamarck hier das meint, was wir als feſtflüſſigen Aggregatzuſtand bezeichnen, leuchtet ein. Er betrachtet dieſen Zuſtand mit Recht als eine der weſentlichſten inneren Bedingungen für das Auftreten der Lebens— bewegungen. Durch ſeine Erkenntniß von 9 Zool. Philoſ. S. 200. % Zool. Philoſ. S. 208. der großen Bedeutung dieſes phyſikaliſchen Zuſtandes, wurde es ihm, wie wir gleich ſehen werden, möglich, ſich die Haupt— funktionen des Organismus: die Ernährung, das Wachsthum und die Fortpflanzung verſtändlicher zu machen. Lamarck ſpricht dann ferner auch von den weſentlichen äuße— ren Lebensbedingungen und betrachtet als ſolche die Feuchtigkeit (das Waſſer), die Wärme und die Elektricität. — Von der Elektricität wiſſen wir nicht, ob ſie eine nothwendige, äußere Lebensbedingung iſt; Wärme und Feuchtigkeit hingegen ſind nach— gewieſenermaßen unentbehrlich; das Licht hält auch Lamarck für unweſentlich. Im letzten Jahrhundert hatten Bon— net, Fontana, Spallanzani und viele Andere durch ihre Wiederbelebungs— verſuche eingetrockneter Thiere und Pflanzen allgemeines Intereſſe erregt. Allerhand bizarre Anſichten wurden zur Erklärung aufgeſtellt. Auch Lamarck widmete ſeine Aufmerkſamkeit dieſem Gegenſtand. Er ſprach die Anſicht aus, die uns auch heute noch die einzig plauſible zu ſein ſcheint, daß nämlich z. B. durch das Eintrocknen bei den Verſuchen die innere Anordnung der gröberen und feineren Theile nicht alterirt, wohl aber dem Organismus eine nothwendige, äußere Lebensbedingung ent— zogen worden ſei. Gebe man nun dem Organismus dieſe Bedingung wieder zu— rück, ſo könne natürlich auch das Leben wieder zurückkehren. Wir ſchließen unſere Erörterung der Anfihten Lamarck's über das Verhält— niß der anorganiſchen zur organiſchen Na— tur, indem wir von ſeinen theils falſchen, theils begründeten Sätzen über dieſes Ver— hältniß die wichtigſten anführen: „Die Anorgane wachſen durch Appoſition und entwickeln ſich nicht; die Organismen Lang, Lamarck und Darwin. wachſen durch Intusſusception und ent— wickeln ſich. Bewegung in den Theilen eines auorganiſchen Körpers zerſtört den— ſelben, Bewegung in den Theilen eines Organismus iſt für die Erhaltung feines Lebens abſolut nothwendig. Die Anorgane können ſich nicht ernähren, die Organismen müſſen ſich ernähren. Die Anorgane haben keinen gleichartigen Ur- ſprung; die Organismen haben einen gleichartigen Urſprung (un méme genre d'origine), mit Ausnahme derjenigen, welche durch Urzeugung ent— ſtehen. Die Anorgane pflanzen ſich nicht fort, die Organismen pflanzen ſich fort, u. D. Als Schlußreſultat ſeiner Erwägungen über das Verhältniß der anorganiſchen zur organiſchen Natur ſtellt Lamarck den Satz auf: „Der Unterſchied, welcher zwi— ſchen einem belebten und einem anorgani⸗ ſchen Körper exiſtirt, liegt alſo in Wirk— lichkeit nur darin, daß der Zuſtand der Theile des erſteren in ihm die Erzeugung der Lebenserſcheinungen ermöglicht, deren Auftreten nur einer erregenden Urſache be— darf, während bei letzterem die Yebens- erſcheinungen trotz der Einwirkung irgend einer erregenden Urſache unmöglich ſind.“ *) Es iſt von nicht geringem Intereſſe, nunmehr zu ſehen, wie Lamarck die all— gemeinen Lebensthätigkeiten der Organismen zu erklären verſucht. Wir müſſen bei die— ſer Gelegenheit ſeine höchſt wichtige Unter— ſcheidung der allgemeinen, allen Organismen ohne Ausnahme zukommenden Lebensfune— tionen von den beſonderen, nur einem mehr oder weniger großen Theil der Organismen zukommenden Functionen hervorheben. Alsall— gemeine Functionen oder Lebenserſcheinungen * He natur. des animaux sans vertebres, Introd. p. 60. bezeichnet Lamarck 1) die Ernährung, 2) das Wachsthum und 3) die Fort— pflanzung. Von dieſen drei Functionen bezwecken die beiden erſten die Erhaltung des Individuums, die letzte die Erhaltung der Art. In letzter Linie entſpringen auch die beiden letzten Functionen aus der erſten, der Ernährung. „Alle Theile des Or— ganismus,“ ſagt Lamarck, „find in beſtän— diger Veränderung und Zerſetzung. Der Organismus würde deshalb bald zu Grunde gehen, wenn die zerſetzten und unbrauchbar gewordenen Theile nicht aus ihm entfernt und durch andere, brauchbare erſetzt wür— den. Dies wird aber bewerkſtelligt durch die Ernährung, welche ihrerſeits durch den feſtflüſſigen Zuſtand ermöglicht wird. Feſte Stoffe können in das Innere des Körpers eingeführt, aufgelöſt und zu Beſtandtheilen der Leibesmaſſe umgewandelt werden. Die nicht verwendbaren und die Zerſetzungs— producte werden ausgeſtoßen. Wenn nun in Folge der Ernährung mehr Stoffe in den Körper aufgenommen und aſſimilirt werden, als ſich aus demſelben ausſcheiden, ſo nimmt derſelbe nothwendiger Weiſe an Größe und Maſſe zu; daher das Wachs— thum durch Intusſusception.“ Vom Wachsthum zur Fortpflanzung über— gehend betrachtet Lamarck dieſelbe in ihrer einfachſten Form, wie fie bei den niederſten, gallertartigen oder ſchleimigen Organismen vorkommt. Bei dieſen geſchieht die Fort— pflanzung durch Zerfall, Theilung des Körpers in zwei Hälften, von denen jede fortfährt zu leben. Nun die Erklärung dieſer einfachſten Art der Fortpflanzung! Der Körper der einfachſten, gallertartigen oder ſchleimigen Organismen, ſagt La— marck, hat eine gewiſſe beſchränkte Zähig— keit, vermöge deren er eine beſtimmte Größe nicht überſchreiten kann. Wird nun Lang, Lamarck und Darwin— = 415 durch ſtarkes Wachsthum in Folge über- reichlicher Ernährung dieſe Größe über— ſchritten, jo zerfällt der Körper in zwei Theile, d. h. er pflanzt ſich fort. Die Stelle bei Lamarck lautet: „Die Ver— mehrung und Fortpflanzung dieſer Körper (nämlich der einfachſten, durch Ur- zeugung entſtandenen Organismen) iſt das Product des Wachsthums über die Zähigkeitsgrenze hinaus, wo— durch die Theilung bewirkt wird.“?) — Es iſt unnöthig, hier auf die weitgehende Uebereinſtimmung zwiſchen Lamarck und der neueren Biologie, hauptſächlich Häckel's, des Näheren aufmerkſam zu machen. Bei Gelegenheit der Erörterung der einfachſten Fortpflanzungsweiſe durch Thei— lung weiſt auch Lamarck darauf hin, daß ſich nur hier die Vererbung als eine ganz natürliche, unmittelbare Folge der Fortpflanzung zeige. Den Tod der Organismen hält La— marck für eine nothwendige und natürliche Folge des Lebens. Von falſchen Vorſtel— lungen über die Aſſimilation ausgehend, glaubt er die Urſache deſſelben darin zu finden, daß durch die Ernährung mehr feſte als fluide Stoffe in den Körper ein— geführt werden, während ſich mehr fluide als feſte Stoffe ausſcheiden. In Folge deſſen ſollen die weichern und biegſamen Theile der Organismen mit zunehmendem Alter immer ſteifer werden und ſchließlich, vermöge ihrer zu großen Steifigkeit die Lebensbewegungen unmöglich machen und ſo den Tod herbeiführen. — Wie die neuere Naturphiloſophie Haeckel's und anderer, ſo nahm auch Lamarck die Entſtehung von Organismen durch Urzeugung an. Die moniſtiſche Na— ) Hist. natur, des animaux sans ver- tebres, Introd. p. 148. —— — 5 414 turphiloſophie behauptet, die Urzeugungs- hypotheſe ſei eine nothwendige Conſequenz aus der allgemein anerkannten Kant— Laplace'ſchen Theorie von der Entſtehung unſeres Sonnenſyſtems einerſeits und aus der Descendenztheorie andererſeits, ein noth- | wendiges Poſtulat der mechaniſch-moniſtiſchen Auffaſſung der Natur. gelangt aus allgemeinen Gründen zur An— nahme der Urzeugungshypotheſe. Da ſeiner Anſicht nach alle Körper auf natürlichem, mechaniſchem Wege hervorgebracht ſind, ſo können auch die Organismen nur auf die— können wir uns aber naturgemäß nur fo denken, daß alle exiſtirenden Thiere und Pflanzen durch Umbildung und Fortpflan⸗ zung aus einfachſten Organismen und dieſe wieder durch Urzeugung unter ausſchließ— licher Mitwirkung der allgemeinen phyſika— liſchen und chemiſchen Kräfte aus anorga— niſcher Materie entſtanden ſind. Das iſt der eine Grund, weshalb Lamarck die Urzeugung annimmt. Ein anderer und zwar der wichtigſte Grund, der Lamarck zur Annahme der Urzeugungshypotheſe nö— thigt, iſt der, daß er ſeiner Descendenz— theorie zu Folge die Exiſtenz noch heute lebender niederer Thiere und Pflanzen nicht anders als durch noch heute erfolgende Ur— zeugung erklären kann. Lamarck hält übrigens die Urzeugung als eine erwieſene Thatſache, indem er es für rein unmöglich hält, daß ſo zarte und ſchleimige Organis— men, wie z. B. die Infuſorien, jo dauer- hafte und reſiſtente Sporen und Keimknos— pen erzeugen können, daß ſie den Winter zu überdauern vermögen. Dies iſt indeß bekanntlich durchaus nicht richtig und kein Beweis. Es iſt auch bis zur heutigen Stunde weder der direkte Beweis für, noch der direkte Beweis gegen die Urzeu— Auch Lamarck Lang, Lamarck und Darwin. gung erbracht. Der letztere kann überhaupt, wie Haeckel richtig bemerkt, gar nicht mit Sicherheit geliefert werden. — Wir müſſen noch bemerken, daß Lamarck ausdrücklich die Annahme von der ſpontanen Entſtehung hochorganiſirter Thiere und Pflanzen, wie ſie bis zu Redi von Inſekten, Würmern und ſogar von Fiſchen behauptet worden war, verwirft. Nur die allereinfachſten Thiere und Pflanzen können ſeiner Anſicht nach aus anorganiſcher Materie enſtehen oder entſtanden fein. (Autogonie Haeckel's.) In ſeiner zoologiſchen Philoſophie und in ſem Wege hervorgebracht worden ſein. Dies der Einleitung zur Naturgeſchichte der wir- belloſen Thiere lehrt er, daß unter den Thieren die einfachſten Infuſorien und zwar die Monaden durch Urzeugung entſtehen und entſtanden ſeien, hält aber auch die ſpontane Entſtehung (generatio aequivoca) der nie— derſten Eingeweidewürmer für möglich und wahrſcheinlich, eine Anſicht, die er indeß ſpä— ter wieder fallen zu laſſen ſcheint. Wie ſich Lamarck den Prozeß der Urzeugung im Einzelnen vorſtellt, hat für uns kein Intereſſe. Es ſind natürlich bloße Ver— muthungen. Die geſammte organiſche Welt wird ſeit den älteſten Zeiten der Naturforſchung in zwei Reiche eingetheilt, in das Reich der Thiere und in das Reich der Pflan— zen. Zu den Zeiten, wo man nur die größern Organismen kannte, war es leicht zu beſtimmen, ob ein organiſches Weſen ein Thier oder eine Pflanze ſei. Die Grenzſcheide der beiden Reiche erſchien ſcharf und durchgreifend. Als abſolute Unterſcheidungsmerkmale, durch welche ſich die Thiere von den Pflanzen auszeichnen ſollten, galten beſonders ſeit Linné die Em— pfindung und die willkürliche Bewegung. „Plantae vivunt, non sentiunt, anima- lia vivunt et sentiunt, sponteque se Lang, Lamarck und Darwin. movent“ ſagte Linné. Dieſe Anſicht blieb bis gegen die Mitte unſeres Jahr— hunderts die allgemein angenommene und herrſchende. Erſt in den letzten Decennien wurde ſie in Folge der fortſchreitenden, ge— naueren Unterſuchungen über Bau und Entwickelung der niederſten Organismen aufgegeben. Je mehr dieſe Unterſuchungen unſere Kenntniſſe bereicherten, um ſo grö— ßer wurde die Schwierigkeit, Organismenreiche an ihrer Wurzel ſcharf zu trennen und durchgreifende, ſich einerſeits auf alle Pflanzen, andererſeits auf alle Thiere erſtreckende Charactere aufzufinden. Bei ſehr vielen niederſten Orgauismen blieb man in Zweifel, ob man ſie eher zu Pflanzen oder zu den Thieren zählen müſſe. Empfindung und erkannte man als durchaus unzureichende Unterſcheidungsmerkmale. Bis zur Stunde iſt die Frage über die Grenzſcheide der bei— den organiſchen Reiche trotz mannigfaltiger Löſungsverſuche von Botanikern und Zoo— logen eine offene geblieben. Einen großen Schritt weiter hat unſtreitig Haeckel ge— than, indem er, dem Prinzip nach offenbar völlig naturgemäß, ein neutrales Zwiſchen— reich, das Reich der Protiſten, grün— dete, deſſen Umgrenzung und Charafterifi- rung jedoch beim dermaligen Stande der Biologie neue Schwierigkeiten in der prak— tiſchen Durchführung darbietet. — Nach dem Geſagten muß es uns überraſchen, daß Lamarck ſchon im erſten Decennium dieſes Jahrhunderts ganz energiſch gegen die Anſicht proteſtirt, daß ſich die Thiere von den Pflanzen durch Empfindung und willkürliche Bewegung abſolut unterſcheiden. Schon 1802 ſagte er: Anſicht, daß jedes Thier von jeder Pflanze durch die Fähigkeit der Empfindung und der freiwilligen Bewegung unterſchieden ſei, die beiden willkürliche Bewegung 415 ſcheint mir nicht richtig zu fein. Die Em- pfindung kann nur da vorkommen, wo ein beſonderes Organ für dieſe Fähigkeit vor- handen iſt, und der Wille kann ſich nur in Folge eines Verſtandesprozeſſes bilden, welchen man Urtheil nennt und welcher be— ſtimmt.““) Nichtsdeſtoweniger glaubt La— mark, daß zwiſchen den Pflanzen und den | Thieren ein durchgreifender Unterſchied vor— handen ſei. Er beſtreitet, daß das Reich der Pflanzen irgendwo in das Reich der Thiere übergehe. — Zu ſeiner Zeit war die Meinung vielfach verbreitet, daß die Zoophyten eine Zwiſchenſtufe zwiſchen den Pflanzen und den Thieren bildeten. Lamarck tritt dieſer Anſicht mit Recht entgegen und erklärt die Zoophyten für echte Thiere, die mit den Pflanzen nichts gemein haben als die Stockbildung. Wie ſehr ſich feine An- ſichten auch in dieſem Punkte den heutigen nähern und ſeiner Zeit vorauseilen, zeigt uns folgender Satz: „Es iſt gewiß, daß, wenn die Pflanzen an irgend einer Stelle ihrer Reihe mit den Thieren zuſammen— hingen und in dieſelben übergehen könnten, dies nur bei denjenigen möglich wäre, de— ren Organiſation am einfachſten und unvoll— kommenſten iſt. In dieſem Falle würde die Natur einen unmerklichen Uebergang von den unvollkommenſten Pflanzen zu den un— vollkommenſten Thieren bewirkt haben. Alle Naturforſcher haben dies gefühlt und es ſcheinen in der That an dieſer Stelle, d. h. an derjenigen, welche beiderſeits die größte Einfachheit der Organiſation darbietet, die „Die allgemeine Pflanzen ſich am meiſten den Thieren zu nähern. Wenn an dieſer Stelle ein Ueber— gang vorhanden wäre, ſo müßte man an— nehmen, daß die Pflanzen und Thiere, au- ſtatt eine Kette zu bilden, zwei unterſchie— ) Recherches sur Porganisation des corps vivans, p. 186. 416 Lang, Lamarck und Darwin. dene und an ihrem Grunde wie die beiden Striche des Buchſtabens V verbundene Zweige darſtellten. Ich werde aber zeigen, daß an der angeführten Stelle kein Zu— ſammenhang ſtattfindet, daß wirklich jeder Zweig vom andern am Grunde getrennt iſt und daß ein poſitives Merkmal, welches durch die chemiſche Beſchaffenheit der Kör— per, auf welche die Natur eingewirkt hat, bedingt wird, einen ausgeſprochenen Unter— ſchied zwiſchen den zu dieſen beiden Zwei— gen gehörenden Körpern aufſtellt.““) La- marck nimmt an, daß durch Urzeugung ſowohl einfachſte Thiere, als einfachſte Pflanzen enſtehen und entſtanden ſeien. Aus den durch Urzeugung entſtandenen Thieren ſeien durch Fortpflanzung und Umbildung alle andern Thiere hervorgegangen, aus den einfachſten, durch Urzeugung entſtande— nen Pflanzen alle andern Pflanzen. Schon die allereinfachſten Thiere unterſcheiden ſich ſeiner Anſicht nach von den allereinfachſten Pflanzen durch die Reizbarkeit. Er glaubt, daß dieſer Unterſchied bedingt ſei durch verſchiedene chemiſche Zuſammenſetzung, indem bei den Thieren der Stickſtoff, bei den Pflanzen der Kohlenſtoff vorwiege. Indeß vermag er natürlich das Vorhanden— ſein oder Fehlen der Reizbarkeit aus die— ſer verſchiedenen chemiſchen Zuſammenſetzung nicht zu erklären. Mag dem nun ſein, wie ihm wolle: die Reizbarkeit iſt nach La- marck das untrügliche Kriterium, nach welchem man die Thiere, auch die einfach— ſten, ganz ſcharf von den Pflanzen unter— ſcheiden kann. Wir wiſſen heute, daß die Reizbarkeit oder Contractilität eine allge— meine Eigenſchaft des Protoplasmas iſt und kein durchgreifendes Unterſcheidungsmerkmal zwiſchen Thieren und Pflanzen abgiebt. Nichtsdeſtoweniger liegt dem Lamar ck'ſchen ) Introduction. Seite 75 —76. Kriterium eine tiefere Bedeutung zu Grunde. Bei den Thieren bleiben nämlich die Zel— len meiſt nackt, während ſie ſich bei den Pflanzen gewöhnlich in eine ſtarre Cellu— loſehülle einſargen und ſo die Reizbarkeit verlieren. Wenn wir daher das Lamarck'ſche Kriterium, die Reizbarkeit, mit dem vor und nach ihm allgemein herrſchenden, der Empfindung und willkürlichen Bewegung, vergleichen, ſo können wir nicht umhin, in erſterem einen großen Fortſchritt zu erken— nen, der leider, das allgemeine Schickſal der Lamarck'ſchen Theorien theilend, un— beachtet blieb. Wir müſſen ſeine Einſicht in dieſer Beziehung um ſo mehr bewundern, als zu ſeiner Zeit die Zellentheorie noch nicht aufgeſtellt war. Lamarck ſelbſt ſpricht zwar ſehr oft von „Zellgewebe“ und „Zellen“ und widmet in der zool. Philo- ſophie dem „Zellgewebe“ ein beſonderes Ca- pitel, er nennt es ſogar „die Grundlage aller Organiſation“ und wir könnten ihn deshalb auch als Mitbegründer der Zellen- theorie bezeichnen, allein das Wort „Zell— gewebe“ bedeutet bei ihm etwas ganz an— deres, als das was wir heute darunter verſtehen. Wir können mit Berechtigung nur diejenigen zu den Begründern der Zellentheorie zählen, welche die Individua— lität der Zelle erkannt haben und dies hat Lamarck in keiner Weiſe gethan. Mit vielem Recht ſagt Lamarck bei ſeinem Vergleiche der Thiere mit den Pflan— zen ferner, daß die Thiere eine größere innere, die Pflanzen eine größere äußere Complication der Organiſation darbieten. Beide ſtimmen darin überein, daß ſie „ihre eigene Körperſubſtanz ſelbſt bilden“, das heißt, daß fie aſſimiliren können; ſie unter ſcheiden ſich aber dadurch, daß die Pflan— zen aus einfachen organiſchen Verbindungen zuſammengeſetzte, organiſche bilden können, während die Thiere Schon zuſammengeſetzter, organiſcher Verbindungen bedürfen, dieſe aber zu noch complicirteren Verbindungen ver— arbeiten. Mit Ausnahme der letzten Be— hauptung ſind auch dieſe Sätze im allge— meinen vollſtändig richtig und verrathen wichtige Einblicke in den Stoffwechſel der Organismen. Es möge uns hier noch erlaubt ſein, Lamarck als Förderer der Individuali— tätslehre an die Seite von Wolff und Goethe zu ſtellen. Die Bäume, Sträu— cher oder ausdauernden Pflanzen ſind nach ihm keine einfachen Individuen. Jeder Lang, Lamarck und Darwin. Leben führen“. Pflanzen giebt, ſo exiſtiren auch zuſammen⸗ 417 Sproß iſt ein einfaches Individuum; der Baum aber iſt zuſammengeſetzt aus vielen einfachen Individuen, „die mit einander kommuniciren und ein gemeinſchaftliches Wie es zuſammengeſetzte geſetzte Thiere, ſagt Lamarck. Die Zoo— phyten ſind ſolche zuſammengeſetzte Thiere, deshalb haben ſie durch die Art ihres Wachsthums und ihrer Verzweigung zu der irrthümlichen Anſicht Veranlaſſung ge— geben, daß fie zwiſchen Thieren und Pflan- zen mitten inneſtehen. — Ueber die Zulummenletzung des deutſchen Volkes. Hiſtoriſch-anthropologiſche Studie von C. i Nice Germanos indigenas eredi- > derim minimeque aliarum gen- Jtium adventibus et hospitiis mixtos, zu Deutſch: die Ger— manen ſelbſt ſind Ureinwohner und durchaus nicht durch Ein— wanderungen und Verkehr mit fremden Völkern gemiſcht, iſt meine Anſicht. So ſchreibt Tacitus in der Germania im zweiten Capitel über die damalige ethno— logiſche Einheit der germaniſchen Stämme. Bringen wir die Anſicht des römiſchen Geſchichtsſchreibers unſern Begriffen näher, ſo will er offenbar ſagen, die Germanen ſind 1) ein Urvolk und 2) kein Miſchvolk. Damit iſt aber nicht von ihm behauptet, daß nicht ſchon damals im Umfange Deutſch— lands vor 2000 Jahren, vom Rhein bis zur Weichſel und von der Donau bis an die Nordſee, ſich fremde Völkerſchaften befanden, und nicht allophyle Elemente mitten unter rein germaniſchen Stimmen geduldet wurden. So berichtet Tacitus von einigen Völkchen am Erzgebirge, daß ihre galliſche und pannoniſche Sprache ein Beweis für ihre Mehlis. nichtgermaniſche Abkunft fer, und außerdem der Umſtand, daß ſie Abgaben dulden. Auch die Suionen im heutigen Schweden ſcheinen nach ſeinen Mittheilungen keine reinen Germanen geweſen zu ſein. Die Peuciner, Veneden (Wenden) und die Fennen (Finnen) ſtellt er zwiſchen Germanen und Sarmaten (Slaven) ausdrücklich als Miſch— volk hin.) Ihre Beſchreibung ſtimmt mit der Lebensweiſe der Nomadenhorden überein, wie ſie noch bis heute den Südoſten Europas durchziehen. Darnach kennt und nimmt Tacitus bereits damals in Deutſchland hinlänglich nichtgermaniſche Elemente im Weſten am Rhein und im Oſten am Erzgebirge an, welche ein Licht werfen auf ſeine Anſicht von der Zuſammenſetzung der Völker auf deutſchem Boden. Aber nicht nur in ethnologiſcher Hinſicht giebt der ſcharfblickende Römer Differenzen an, ſondern auch in ſo zialer. ) Vergl. Germania des Tacitus 46. Cap. 55 85 % e de ee 265 — 266. Im 25. Capitel beſchreibt er den Zuſtand der Sklaven und Freigelaſſenen. Die Stellung der erſteren entſpricht der— jenigen der Hörigen im Mittelalter, die Rechtsverhältniſſe der zweiten denen der Pfahlbürger in der „guten alten Zeit“. Zwar ſpricht der Römer davon, daß auch Freie in den Zuſtand der Knechtſchaft herabſanken, daß auch Kriegsgefangene zu Sklaven gemacht wurden, allein das ſind Ausnahmen. Die ganze ſoziale Einrichtung von Sklaven und Freigelaſſenen kann nur auf einer ethnologiſchen Differenz der Herren und der Sklaven beruhen. Es iſt dieſer Zuſtand nicht verſchieden geweſen von dem in Indien, Griechenland und Italien. Entweder brachten ſie dieſe Knechte ſchon bei der Einwanderung mit oder ſie unter— jochten bereits vorgefundene Stämme. In den Felſenhöhlen und Seewohnungen, in den Namen und Mythen, in den Sagen von Rieſen und Zwergen ſind ja noch hinlänglich Spuren einer ſolchen vorger— maniſchen Urbevölkerung vorhanden, und Finnen und Lappen, Kelten und Basken mögen in zurückgebliebenen Reſten die Contingente zu jener unfreien Population geſtellt haben). Wir können nach den Nachrichten der alten Autoren, nach den Schlüſſen daraus, nach den archäologiſchen Momenten, nach Namen und Sagen als geſichert folgende Sätze annehmen: 1. Schon vor den Germanen bewohnten prähiſtoriſche Stämme Deutſchland. 2. Die Germanen unterjochten oder vertrieben dieſe bei ihrer Einwanderung. 3. Die unterjochten wurden Sklaven oder Freigelaſſene; in einigen wenigen ) Vgl. Virchow, die Urbevölkerung Europa's, und Fraas, die alten Höhlen— be wohner. Mehlis, Ueber die Zuſammenſetzung des deutſchen Volkes. Gegenden erhielten ſie ihre Unabhängig— keit.“) 4. Die Germanen mieden in der älteſten Zeit die Miſchung mit dieſen allophylen Elementen. 5. Der Prozentſatz der unfreien Be— völkerung muß in Altdeutſchland ein ſehr großer geweſen ſein, da ſie als Hörige das Ackerland bebauten und im Hauſe der Herren die Geſchäfte verrichteten. 6. Nur im Oſten fand ſchon zur Zeit des Tacitus eine Miſchung zwiſchen Ger— manen und Slaven ſtatt. Fragen wir nun noch, wo ſich im All— gemeinen die bunteſte Zuſammenſetzung der deutſchen Bevölkerung bis an die Grenze der Völkerwanderung im dritten Jahrhundert ergeben muß, ſo ſind wir auf die großen Völker- und Verkehrsſtraßen des Rhein— und Donauthales angewieſen. Hier in dieſen reichgeſegneten Gauen vom Bodenſee bis zum Wienerwald, vom Jura bis an den Niederrhein ſaß ſchon vor Römern und Germanen eine verhält— nißmäßig dichte Urbevölkerung, deren Aktionselement den Kelten und Rhätiern (Etruskern) ““) zugeſchrieben werden muß. Noch heute kann man in dem regſamen, launigen, luſtigen, wechſelnden Charakter des Rheinländers das keltiſch-galliſche Ferment erkennen, wie es deutlich Ca eſar und Ammianus Marzellinus ſchildern. Noch heute mag in dem metallfundigen Steyermärker ein Stück von der alten Geſchicklichkeit ſtecken, welche die Etrusker zu den Engländern der Vorzeit machte. ) So will Arnold in den Anwohneren der Schwalm noch keltiſche Reſte erkennen; in den Cevennen will man nach einer Mit- theilung im „Gloubs“ Nichtarier entdeckt haben. e, Steub identificirt Rhätier und Etrusker, auch K. O. Müller ſpricht ſich nicht dagegen aus. „ 419 7 420 Dieſe keltiſch-römiſche Bevölkerung, die den Main und den Neckar, die Altmühl und den Regen hinauf reichte, verſchmolz binnen drei Jahrhunderten mit der römiſchen In— vaſion zu einer neuen ethnologiſchen Einheit, der romaniſchen Bevölkerung. Deren Grund— ſtock erhielt ſich trotz dem Anſturme der Alemannen, der Quaden und Semnonen in den ſtädtiſchen Centren im Donau— thale, in Augsburg und Kempten, in Paſſau und in Wien. Die Germanen ſelbſt wohnten darum nicht in Städten und brauchten die erfahrenen Stadtbewohner zum Handel und zum Handwerk, zum Verkehr und zur Culturarbeit.“) Noch beſſer ſtand es mit der fränkiſchen | Juvaſion am Rhein. Die Franken hatten | von Rom gelernt; fie machten die keltiſch— römiſchen Volkstheile nicht zu Hörigen und Knechten, wie die Alemannen, ſondern fie | nahmen ſie unter ſich auf, eigneten ſich ihre Sprache an und brachten in Sitte und Glaube, in Miſchung und Ausſehen die Verbindung des romaniſchen Elementes mit dem germaniſchen zu Stande. Hier am Rhein erhielt ſich in Bildung der Seele und des Körpers der Romanismus am kräftigſten.““) Für die römiſch-fränkiſche Epoche können wir abermals die Reſultate für die Ver— änderungen der deutſchen Bevölkerung in folgenden Grundſätzen zuſammenfaſſen: 1. Am Rhein und an der Donau ſaßen römiſch⸗keltiſche Bevölkerungselemente. 2. Am Rhein und an der Donau ) Eine Reihe wichtiger Geſichtspunkte für die Völkermiſchung in den Donaugauen giebt J. Jung, Römer und Romanen in den Donauländern, beſ. S. 178 — 282; vergl. auch Correſpondenzblatt der deutſchen Geſell— ſchaft für Anthropologie ꝛc. 1876. Nr. 5. W. Schmidt. ) Vergl. Hausrath, die oberrheiniſche Bevölkerung in der Geſchichte, und des Verf., der Rhein und der Strom der Cultur. 1. Th. Mehlis, Ueber die Zuſammenſetzung des deutſchen Volkes. finden wir die römiſch-keltiſche Cultur im Contakt mit den germaniſchen Stämmen. 3. Am Rhein und an der Donau blieb, vorzugsweiſe in den Städten, ein Reſt der romaniſchen Miſchbevölkerung zurück. 4. Beſonders am Rhein haben ſich die germaniſchen Elemente mit den ro— maniſchen zu einer neuen eulturellen und ethnologiſchen Einheit verbunden: der fränkiſchen. 5 Erhalten wir ſo für den Weſten und Süden Deutſchlands für die erſten acht Jahrhunderte unſerer Zeitrechnung die An— deutungen für die Zuſammenſetzung der deutſchen Bevölkerung, ſo ergiebt die Ge— ſchichte der nächſten acht Jahrhunderte ſolcher genug für den Oſten Deutſchlands von der Elblinie bis zur Weichſelgrenze. Im Oſten Deutſchlands waren nach Abzug der Gothen und Burgunden, der Semnonen und Bajuvaren auf der Linie vom Strande der Oſtſee bis hinauf zu den Alpenfirſten die ſlaviſchen Stämme langſam aber ſicher eingerückt. Die Thäler der Oder und Weichſel, der Mitteldonau, ja ſelbſt den öſtlichſten Theil des Rhein— gebietes am Main hatten fie occupirt und coloniſirt. Ihre ungehinderte Einwanderung ging vom Ende des 5. bis Anfang des 9. Jahrhunderts vor ſich. Da begann, ſeit Karl dem Großen, der Kampf gegen das Slaventhum im Oſten, der ein volles halbes Jahrtauſend andauerte. Doch wurde auch das Markenland öſtlich der Elbe bis zur Oder von ſlaviſcher Herrſchaft gereinigt, wurden auch die Polaken und Sorben, die Lutizen und Obotriten im wildeſten Kampfe der Raſſenherrſchaft zu Tauſenden niedergemacht — der Grundſtock des Slaven— thums öſtlich der Elbe wurde nicht ganz ausgerottet, ja zwiſchen Oder und Weichſel öfters Reſte ethnologiſcher Differenzen. blieb er bis auf den heutigen Tag im Weſentlichen erhalten.“) Eine Hauptfolge dieſer Unterdrückung des Slaventhums, beſonders in Nordoſtdeutſch- land, war die, daß gefangene Slaven oder Sklaven in alle Himmelsrichtungen Deutſch— lands verſetzt wurden. Slaviſche Knechte waren ſeit dem 9. Jahrhundert ſo häufig in Deutſchland, daß ihr Name Slave (Sklave) ſtatt des Wortes Knecht (servus) gebraucht wurde. Wende oder Winde galt lange Zeit als Schimpfname, wie nachher Schelm oder Wälſcher“ ), was den Romanen bezeichnete. In den großen Handelsſtädten an den deutſchen Küſten fanden bis Ende des 12. Jahrhunderts große Sklavenmärkte ſtatt, welche die knechtarmen Gegenden mit Sklaven verſorgten. Man kann behaupten, daß vom 9. bis 14. Jahrhundert eine In— filtration der niederen Bevölkerung in Deutſchland mit flaviſchen Elementen vor ſich ging, und zwar gilt dieſer Satz be— ſonders für die Küſten an der Nord- und Oſtſee. Außerdem kamen durch die Ein— fälle der Avaren, Ungarn, Tartaren, und ihre Gefangennahme, beſonders nach dem Südweſten Deutſchlands, viele fremde turaniſche Elemente, die alle dem Sklaven— ſtande eingereiht, beſonders in die niederen Claſſen eine noch buntere Miſchung brachten. Bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts kann man mit Höl der dieſe Fluktuationen unter der deutſchen Bevölkerung rechnen, welche beſonders öſtliche, ſlaviſch-turaniſche ) Vergl. das Nähere bei Hellwald, Culturgeſchichte. 2. Aufl. II. Bd. S. 7783, und beſonders auch Hölder, Zuſammenſtel— lung der in Württemberg vorkommenden Schädelformen. S. 28 — 30, außerdem Bacmeifter, Alemanniſche Wanderungen. S. 150-163. en Donaulanden. „Schimpfnamen“ ſind Mehlis, Ueber die Zuſammenſetzung des deutſchen Volkes. *) Schelm beſonders am Rhein, Wälſcher 421 Elemente in die Bevölkerung einführten. Eine Zuſammenfaſſung der Reſultate ergiebt: 1. Der Oſten Deutſchlands wurde bis an den Thüringerwald und die Saale, die Frankenhöhe und die Tauber, bis an Inn und Etſch mit Slaven bevölkert. 2. Der Kampf des Germanismus gegen den Slavismus rottete links der Elbe letzteren aus und verſetzte ſeine übrig gebliebenen Elemente in die Städte des in— neren Deutſchlands und an die Nordküſten. 3. Im Nordoſten Deutſchlands, be— ſonders rechts der Oder, hat eine ſtarke Miſchung flaviſchen Grundſtammes mit germaniſcher Einwanderung Platz gegriffen. 4. Die Raſſenbewegung findet ihren Abſchluß Mitte des 14. Jahrhunderts. Waren jedoch vor dem Einfluſſe des Chriſtenthums die ethnologiſchen Elemente Deutſchlands zugleich ſoziale Trennungs— glieder, ſo hob der Einfluß des Chriſten— thums, je länger je mächtiger, dieſe Scheide— wand allmälig auf. Die Raſſeneinheit der Germanen beginnt ſeit jener Miſchung in Phyſiognomie und Schädelbildung zu ſchwin— den); der ſpecifiſche Typus der Germanen, der lange Schädel, die hellen Haare und die blauen Augen beginnen ſich allmälig in den Gegenden, wo die meiſten fremden Ele— mente eingedrungen, zu verlieren. In anderen Gegenden, am Rhein und an der Donau, waren die Germanen nie vorherrſchend, und wir finden dort nach den Unterſuchungen der deutſchen anthropologi— ſchen Geſellſchaft die dunkelſten Complexionen, die wenigſten Langſchädel, die meiſten Ab— weichungen von den klaſſiſchen Eigenſchaften der Germanen. *) Vergl. Hölder, a. a. O. S. 30. ) Ueber die klaſſiſchen Eigenſchaften der Germanen vergl. Virchow, Correſpondenz— blatt d. deutſchen Geſellſchaft für Anthropologie, 1877. Nr. 1. S. 5. Bedingen im Nordoſten Deutſchlands phyſiſche Gründe die beſſere Erhaltung der helleren Complexionen, ſo iſt es doch kein Zweifel, daß nach den vorhergehenden Ausführungen auch hier, und zwar beſonders in den niederen Ständen, die Bevölkerung ſtark mit nichtgermaniſchen Elementen ver— ſetzt iſt. So ziemlich rein haben ſich dar— nach nur die Gaue des mittleren Deutſch— lands von den Mündungen der Ems und Weſer bis zur Elbe, in einem Viereck reichend bis zu dem heſſiſchen Berglande, dem weſtlichen Abhange des Thüringer— waldes, der thüringiſchen Saale und der lüneburger Haide erhalten. Hier wohnen im Weſentlichen noch immer die Nach— kommen der alten Chatten und Sigambrer, der Cherusker und der Frieſen. übrigen Europa die Nachkommen der Gothen und Vandalen, der Burgunden und Longo— barden in fremder Bevölkerung unter- gingen, ſo auch haben die Enkel der Franken und Bajuwaren, der Sueben und der Markomannen im Weſten und Oſten ſich weſentlich ihres germaniſchen Typus ent— äußert: Roma capta ferum vietorem cepit. Im Oſten ſehen wir entweder fpäter eingewanderte deutſche Bevölkerung, ſo be— ſonders in Brandenburg, oder eine Miſchung des ſlaviſchen mit dem germaniſchen Typus, wobei jedoch die helleren Complexionen des germaniſchen Typus meiſtens erhalten blei— ben.“) ) Häufig ſind z. B. Blonde unter den Polen, worauf jüngſt Hellwald den Verf. aufmerkſam machte. Näheres über die Vertheilung des hellen und dunklen Bevölkerungselements in Deutſch— land vergl. Correſpondenzblatt d. deutſchen Geſellſchaft f. Anthropologie 1876, Virchow, S. 91 — 102; ſowie des Verfaſſers Aufjag Mehlis, Ueber die Zuſammenſetzung des deutſchen Volkes. Wollen wir noch einen Blick auf die Zukunft der deutſchen Bevölkerung in an- thropologiſcher Hinſicht werfen, ſo erſcheinen allerdings die Freizügigkeit, die Eman⸗ cipirtheit unſerer Tage von ſozialen Hemmungen in den Heirathen, ja auch die Präponderanz der mittleren und niederen Klaſſen, die meiſtens der Miſchbevölkerung entſtammen, als wenig geeignete Faktoren, | Wie im um die Reinheit des germaniſchen Tpyus wieder herzuſtellen. Im Ganzen iſt der deutſche Adel der berechtigte Conſervator des germaniſchen Raſſentypus, und ebenſo hat ſich das urfreie deutſche Bauernthum rein erhalten in Weſtphalen und an der Nordſee; beides Elemente, welche die ſoma— tiſchen Charaktereigenſchaften des Germanen am beſten reſtringirt haben. Ob ſich in dem ſteten Kampfe zwiſchen dem germani- — ſchen Typus gegen ſeine Miſchformen und feine. Gegner, den turaniſchen und ſarmatiſchen Typus, erſterer erhalten wird, iſt zu be⸗ zweifeln. Sollte aber auch bis auf wenige Reſte der germaniſche Körperbau zu Gunſten des romaniſchen Typus im Südweſten und des ſarmatiſchen im Nordoſten zu Grunde gehen, ſo iſt es andererſeits keine Frage, daß es ebenſo anderen Raſſen im Süden und Weſten erging, ja vor unſeren Augen greifbar in Nordamerika ergeht. — Wir können uns entweder mit jenen tröſten oder in dieſem Kampfe eine Naturnothwendig— keit erblicken, die über dem Einzelnen hin— weg eilt, und die es vollbrachte, daß — ſei's wie's iſt — aus den germa— niſchen Stämmen binnen anderthalb Jahrtauſenden entſtand — das deutſche Volk. „Ueber deutſche Schädel“, Didaskalia 1876, Nr. 259. Zur Entwickelung des Farbenfinnes, Von Dr. Hugo Magnus, err Dr. Ernft Krauſe hat S. 264 ff. dieſer Zeitſchrift OR meine Unterſuchungen über die AN ar Entwickelung des Farbenſinnes einer ſehr gründlichen und ein— gehenden Beſprechung unterworfen und iſt dabei zu Ergebniſſen gelangt, welche mit den von mir gewonnenen größtentheils in Widerſpruch ſtehen und einen Mangel des Farbenunterſcheidungsvermögens bei den Ur— völkern nicht allein als ſehr fraglich erſchei— nen laſſen, ſondern denſelben geradezu in Abrede ſtellen. ten Herrn Verfaſſer jener Kritik ins Tref— fen geführten Gegengründen eine gewiſſe Bedeutung und Wichtigkeit nicht abgeſpro— chen werden kann, halten wir es im Inter— eſſe der ſo überaus wichtigen Frage durch— aus für geboten, dieſe Bedenken von unſerem Standpunkte aus einer kritiſchen Beleuchtung zu unterwerfen; ein Unternehmen, dem wir uns um ſo lieber unterziehen, als Herr Dr. Krauſe ſelbſt uns in liberalſter Weiſe dazu aufgefordert hat. In erſter Linie ſtellt der geehrte Herr Verfaſſer jener Kritik unſerer Theorie von der allmäligen, ſtufenweiſen Entwickelung des Farbenſinnes die Behauptung entgegen, Da den von dem geſchätz⸗ Docent an der Univerſität Breslau. daß gemäß dem Geſetz der geſchlechtlichen Zuchtwahl „die Farbenempfindung eine allgemeine und urſprüngliche, oder doch eine ſehr früh entwickelte Fähigkeit des Geſichtsorgans“ geweſen ſein müſſe und die Thierwelt ſchon in ſehr frühen Perio— den der Schöpfung im Beſitz eines gewiſſen Farbenſinnes geweſen ſei. Auf dieſen Ein- wand möchte ich zu allererſt entgegnen, daß der Nachweis einer wenn auch noch jo frühen Exiſtenz des Farbenſinnes in den verſchiedenſten Thierklaſſen doch noch immer keinen zwingenden Gegenbeweis gegen unſere Anſchauung von der Entwickelung des Farbenſinnes beim Menſchen in ſich ſchließt. Jene Thierklaſſen, die nachweislich bereits im Beſitz eines Farbenſinnes zu einer Zeit waren, in der ihn der Menſch noch ent— behrte, ſind nach unſerer Anſchauung auch nicht von Anfang an im vollen Beſitz der ihnen eigenthümlichen Farbenempfindung geweſen, ſondern haben dieſelbe gleichfalls erſt im Verlauf einer allmäligen Entwicke— lung erlangt. Ein Umſtand, welchen übri- gens der Verfaſſer auch ſelbſt einräumt, da er am Schluſſe ſeiner Beſprechung aus⸗ drücklich bemerkt: „ſo muß doch die Farben— empfindung irgendwo einmal im Thierreich 56 0 ihren Anfang gehabt haben.“ Giebt man aber einmal zu, daß der Farbenſinn im Thierreich eben nicht uranfänglich dageweſen, ſondern im Laufe einer allmäligen Ent- wickelung erworben worden ſei, ſo ſehe ich Farbenpracht der Thier- und Pflanzenwelt die Thierwelt giltige Geſetzmäßigkeit nicht auch für das höchſt organiſirte Weſen der- eigentlich nicht ein, warum man dieſe für ſelben, den Menſchen, ſolle in Anſpruch nehmen dürfen. Ja ich muß ſogar behaup— ten, daß das Zugeſtändniß eines Anfanges der Farbenempfindung im Thierreich für mich die zwingende Nothwendigkeit in ſich ſchließt, daß analog dieſer Anfangsphaſe des Farbenſinnes im Thierreich nothwendig auch eine Anfangsphaſe deſſelben Menſchen anzunehmen ſei. Denn wenn ſchon der Farbenſinn im Thierreich, wo er doch ganz entſchieden nicht eine ſolche Höhe ſeiner Leiſtungsfähigkeit aufzuweiſen hat, wie beim Menſchen, nicht ein uranfäng⸗ licher geweſen iſt, ſondern auf Grund einer mehr oder minder raſchen Entwickelung erworben werden mußte, ſo wird man doch wohl nicht annehmen dürfen, daß der um Vieles umfangreichere und leiſtungsfähigere menſchliche Farbenſinn ohne jede fortſchritt— liche Entwickelung, lediglich nur auf Grund uranfänglicher, anerſchaffener Anlage dem Menſchen von Anfang an eigen geweſen ſei. Weil nun aber ferner der Farbenſinn beim Menſchen ein weit vollkommenerer und ausgiebigerer iſt, wie im Thierreich, ſo wird natürlich ſeine Entwickelung auch eine längere Zeitdauer in Anſpruch ge— nommen haben, wie in den Klaſſen der Thiere, und daher die Annahme völlig glaublich erſcheinen, daß dem Menſchen bis zu den Zeiten Homer's der Farbenſinn gemangelt habe. Uebrigens möchte ich an dieſer Stelle noch darauf aufmerkſam machen, daß ge— Magnus, Zur Entwickelung des Farbenſinnes. rade die Entwickelung des Farbenſinnes aufs Engſte mit dem Darwin'ſchen Ge— ſetze der geſchlechtlichen Zuchtwahl in Zu— ſammenhang ſteht, ja für die fortſchritt— liche Entwickelung der Schönheit und zwingend geweſen ſein möchte. Namentlich dürfte dies ganz ſpeciell der Fall ſein bei der fortſchrittlichen Entwickelung der Schön- heit gewiſſer Thierklaſſen. Darwin (die Abſtammung des Menſchen und die ge— ſchlechtliche Zuchtwahl. Stuttgart 1871. Bd. II. S. 208) macht darauf aufmerk⸗ ſam, daß die Pracht des Federkleides ge- wiſſer Vögel im Laufe der Zeiten ganz beim jener Stelle: „Da die Jungen ſo vieler erheblich zugenommen habe. Er ſagt an Species nur wenig in der Farbe und anderen Ornamenten modificirt worden ſind, ſo ſind wir in den Stand geſetzt, uns ein Urtheil in Bezug auf das Gefieder ihrer früheren Urerzeuger zu bilden, und wir können ſchließen, daß die Schönheit unſerer jetzt exiſtirenden Species, wenn wir die ganze Klaſſe betrachten, ſeit der Zeit, von welcher das unreife Jugend— gefieder einen indirecten Bericht giebt, be— deutend zugenommen hat.“ Wäre der Farbenſinn uranfänglich und unveränder— lich den Thieren eigenthümlich geweſen, ſo wäre nach den Geſetzen der geſchlechtlichen Zuchtwahl eigentlich kaum zu verſtehen, warum die Färbung des Federkleides der Vögel, das ſich ja doch ſchließlich nur auf Grund gewiſſer Eigenthümlichkeiten des Farbenſinues der betreffenden Thierklaſſe entwickelt haben konnte, von dem einmal gewonnenen Typus habe abweichen und eine fortſchrittliche Entwickelung zeigen ſollen. Denn nimmt man einen von Anfang an dem Thiere zugehörenden, nicht entwickelungs⸗ fähigen Farbenſinn an, ſo iſt man damit ar / / / TER, . Magnus, Zur Entwickelung des Farbenſinnes. auch eigentlich gezwungen, an der Unver⸗ änderlichkeit der Färbung des betreffenden Thieres feſtzuhalten. Denn die Färbung eines jeden Thieres muß vom Standpunkt der geſchlechtlichen Zuchtwahl aus doch eben als den Forderungen und Fähigkeiten des Farbenſinnes der betreffenden Thierklaſſe adäquat und durchaus entſprechend ange- ſehen werden. Eine jede Färbung einer Thierklaſſe mußte und konnte ſich nur im allerinnigſten und unmittelbarſten Anſchluß an die Leiſtungsfähigkeit des Farbenſinnes des betreffenden Thieres herausbilden. Den Anforderungen, welche ein Thier gemäß dieſer Leiſtungsfähigkeit ſeines Farbenſinnes an die Färbung ſeiner Genoſſen zu machen gezwungen war, mußte ſich eben die Fär— bung dieſer Thierklaſſe aufs Innigſte an— ſchmiegen. Denn nur unter dieſer Voraus- ſetzung war das Thier in der Lage, bei der geſchlechtlichen Zuchtwahl als activ be— theiligt auftreten zu können. Und fo er klären wir uns denn die fortſchrittliche Ent- wickelung, welche Darwin in der Farben— ſchönheit gewiſſer Vögel nachgewieſen hat, eben dadurch, daß der Farbenſinn derſelben im Laufe der Zeit von einer uranfänglichen und primitiven Phaſe der Entwickelung und Ausbildung zu immer größerer Lei— ſtungsfähigkeit erſtarkt iſt, und daß in Folge deſſen dann auch das Federkleid, um eben den geſteigerten Anſprüchen des höher organiſirten Farbenſinnes auch ferner ge— recht werden zu können, zu einer fortſchritt— lichen Entwickelung ſeiner Farbenpracht durchaus gezwungen war. Daher ſtehen wir denn nicht an, zwiſchen der Färbung einer Thierklaſſe, ſowie der Entwickelung, welche dieſelbe im Laufe der Zeiten durch— gemacht hat, und der Leiſtungsfähigkeit des Farbenſinnes eben derſelben Thierklaſſe ein inniges Wechſelverhältniß anzunehmen, und 425 zwar ein Wechſelverhältniß der Art, daß der Farbenſinn das cauſale Princip für den Zuſtand der Färbung des betreffenden Thieres abgegeben habe; jedoch natürlich immer nur in den Grenzen, in welchen die natürliche Zuchtwahl überhaupt auf die Färbung von Einfluß iſt. Wenn ich bei dem ſoeben erörterten Punkte mich etwas länger aufgehalten habe, als dies meine Leſer vielleicht vorausgeſetzt, ſo geſchah dies nur aus dem Grunde, um den Nachweis zu führen, daß unſere Vor— ſtellung von der Entwickelung des Farben— ſinnes durchaus nicht mit den Prämiſſen und Geſetzen der geſchlechtlichen Zuchtwahl in Widerſpruch ſtehe, ſondern ſich denſelben auf das Engſte anſchließe. Wenden wir uns nun zu dem zweiten Einwand, welchen der geſchätzte Herr Ver— faſſer gegen unſere Entwickelungstheorie des Farbenſinnes geltend macht, daß nämlich das Alterthum bereits im Beſitz der Blau- empfindung geweſen ſein müſſe, da der blaue Lapislazuli eine ſo hervorragende Rolle zu jener Zeit geſpielt habe: ſo möchte ich auch dieſem Einwurf nicht die Bedeu⸗ tung einräumen, wie dies Herr Dr. Krauſe thut. Vor Allem möchte ich hier darauf aufmerkſam machen, daß man gerade im Alterthum häufig genug Gegenſtänden der Schöpfung eine ganz außerordentliche Rolle und Bedeutung einräumte, ohne ſich dabei von Form und Farbe derſelben beeinfluſſen zu laſſen. Man verknüpfte eben mit den verehrten und heilig geachteten Gegenſtänden allerlei fromme Vorſtellungen; ich erinnere hier bloß an die ſo hervorragende Rolle, welche die Lotosblume im religiöſen, wie ſocialen Leben der Inder geſpielt hat. Man benutzte gerade ſie zu den zahlreichſten Ver— gleichen und Bildern, ſicherlich ohne ſich dabei immer gerade ihrer Farbe zu erin— 426 nern; denn hätte man dies gethan, jo wäre eine ganze Reihe von Gleichniſſen, in denen die Lotosblume die ausſchließliche Rolle ſpielt, geradezu unmöglich geweſen. Schon aus dieſem einen Beiſpiel geht hervor, daß man gerade im Alterthum den Werth und die Bedeutung eines hochverehrten Gegen— ſtandes häufig nicht nach ſeinen wirklichen, materiellen Eigenſchaften ſchätzte, ſondern lediglich auf Grund aprioriſtiſcher Voraus— ſetzungen, die meiſt religiöſer Natur waren. Ein gleiches Verhältniß aber kann ſehr wohl auch beim Lapislazuli ſtattgefunden haben, ſo daß er die hohe Achtung, in der er im Alterthum ſtand, eben nicht ſeiner Fär— bung zu danken hatte, ſondern irgend wel— chen Vorurtheilen, die man an ihn knüpfte. In dieſer Vorausſetzung werde ich durch einzelne Gleichniſſe noch beſonders beſtärkt. Wenn man z. B. den Himmel mit einem Lapislazuli vergleicht — ein Vergleich, auf welchen Herr Dr. Krauſe ganz beſonders aufmerkſam macht — ſo möchte ich ſogleich ſchon aus dieſem einen Vergleich ſchließen, daß man hierbei keinesfalls an die Farbe des Lapislazuli gedacht haben könne; denn gerade die Farbe dieſes Steines iſt ein tiefdunkles, geſättigtes Blau, wie es der Himmel unter keinen Verhältniſſen aufzu— weiſen hat. Wenn man aber trotzdem den Himmel mit einem Lapislazuli vergleicht, ſo kann dies eben nur aus einem ähnlichen Grunde geſchehen ſein, wie der, aus welchem man die Lotosblume mit dem Auge eines ſchönen Mädchens verglich u. ſ. w. Es war hier alſo nicht die Rückſicht auf die Färbung, welche den Vergleich anregte, ſondern gewiſſe myſtiſche Vorſtellungen, die man mit dem betreffenden Gegenſtand ver— band. Daher möchte ich denn auch nicht den Schluß ziehen, daß dem Alterthum die blaue Farbe bekannt geweſen ſein = Magnus, Zur Entwickelung des Farbenſinnes. müſſe, weil es den Lapislazuli ganz beſon— ders hochgeachtet habe; um ſo weniger, als weil gerade das philologiſche, weit ver— läßlichere Material mit dieſer Annahme in keiner Weiſe in Einklang zu bringen iſt. Wenn ſodann als ein dritter Einwand gegen unſere Anſchauung behauptet wird, die Alten hätten, wäre ihnen Grünempfin- dung fremd geweſen, die Vegetation zinn— oberroth ſehen müſſen, ſo erlaube ich mir hierauf zu erwidern, daß dieſer Einwand nur für unſeren jetzigen, hoch entwickelten Farbenſinn Geltung haben würde. Nur bei voller Entwickelung des Farbenſinnes, bei ganz ausgeprägter Reactionsfähigkeit der Netzhaut gegen die verſchiedenen Spectral— farben kann von derartigen Contraſterſchein— ungen die Rede ſein, ſofern dieſelben eben in unſerer lebhaften und hoch entwickelten Far⸗ benempfindung begründet ſind. So lange dieſe Reactionsfähigkeit aber noch in den Kinderſchuhen einhertrat und ſich auf einige wenige primitive Aeußerungen beſchränkte, konnte wohl von Contraſtfarben überhaupt noch nicht die Rede ſein, da eben zur Perception eine hohe und zarte Farben— empfindung nöthig war. Uebrigens giebt uns dieſer Einwurf Veranlaſſung, kurz darzulegen, wie ſich denn eigentlich dem Auge des Menſchen bei mangelndem oder unvollſtändigem Farbenſinn die Schöpfung gezeigt haben möge. Es imponirte dem Menſchen zu jener Zeit die Farbe nicht durch den ſpecifiſchen Reiz, welchen ſie auf unſer modern gebildeteres Auge ausübt, ſondern lediglich nur durch ihren Gehalt an Licht, durch ihre Lichtſtärke. Da nun aber, wie bekannt, die verſchiedenen Farben einen ſehr wechſelnden Gehalt an lebendiger Kraft, reſp. an Lichtſtärke bes ſitzen, ſo mußte unter der Einwirkung die— ſes verſchiedenen Lichtreichthums ſich bei Magnus, Zur Entwickelung des Farbenſinnes. dem damaligen Menſchen auch eine gewiſſe Unterſcheidung für die einzelnen Farben entwickeln; jedoch erhob ſich dieſe Unter— ſcheidung noch nicht, wie heut zu Tage, zu einer ſolchen Höhe, daß man ſich des verſchiedenen Farbencharakters bewußt ge— worden wäre, ſondern man differenzirte die Farben lediglich nach dem Reiz, wel— chen ihr Gehalt an Licht auf die Netzhaut ausübte. Daß wir mit dieſer Annahme nicht etwa auf dem Boden einer willkür— lichen, phantaſtiſchen Speculation uns be— wegen, vielmehr dem wirklichen, realen Verhältniß gerecht werden, zeigen uns die Schilderungen Homer's. Die Bilder, welche uns Homer von der Landſchaft ſowohl, wie von dem Leben und Treiben ſeiner Zeit entwirft, zeichnen ſich durch einen auffallenden Mangel an Farben aus; Roth und Gelb ſind die einzigen, welche er in ausgedehnterem Maße zu ſeinen Schilderungen benutzt. Dagegen beſitzt er eine erſtaunliche Menge von Ausdrücken zur Charakteriſirung von Lichteffecten; und dieſe ſind ſo ungemein zart empfunden und ſo fein nüancirt, daß es uns heut zu Tage ungemein ſchwer fällt, dieſelben ihm nach— zuempfinden; weshalb denn auch eine völlig befriedigende Ueberſetzung derſelben faſt zu den Unmöglichkeiten gehört und ſchließlich auch gehören muß, da ſich eben die meiſten jener homeriſchen Lichteffecte bei fortſchrei— tender Entwickelung des Farbenſinnes all— mälig in ſpecifiſche Farbenempfindungen umgeſetzt haben. Dort, wo die Netzhaut des homeriſchen Menſchen nur einen mehr oder minder fein nüancirten Lichteffect be— merkte, empfindet unſer modernes Auge bereits einen ſpecifiſchen Farbenreiz. Und aus dieſem Grunde müſſen uns jene Bil— der Homer's zum größten Theile fremd und unverſtändlich bleiben. Uebrigens hat die Philologie die geringe Farbenkenntniß Homer's wiederholentlich zum Gegenſtand der eingehendſten Unterſuchungen gemacht, ohne aber bis jetzt zu einer befriedigenden Erklärung derſelben gelangt zu ſein; eine Thatſache, deren Grund eben wohl nur darin lag, daß man der Entwickelung des Farbenſinnes eine zu geringe Aufmerkſam— keit zu ſchenken pflegte. Auch die Erklä— rung, welche Herr Dr. Krauſe zu geben verſucht, indem er an eine noch nicht völlig ausgebildete Entwickelung der Sprache ap— pellirt und die mangelhafte Färbung der homeriſchen Bilder lediglich aus einem Mangel an geeigneten Ausdrücken für die einzelnen Farben herleitet, vermag uns nicht zu befriedigen. Es will uns nicht recht glaubhaft erſcheinen, daß eine Sprache, welche wie die des Homer einen ſolchen Schatz von Bezeichnungen für die verſchie— denſten, zarteſten Lichteffecte beſeſſen hat, nicht im Stande geweſen ſein ſollte, ſich eigne Worte für die wichtigſten Farben zu bilden, zumal die Empfindung und Diffe— renzirung zarter Lichteffecte eine viel ſchwie— rigere Aufgabe iſt, als die Perception einer ſcharf ausgeſprochenen Farbe, wie z. B. des Grün oder des Blau. Wenn es aber der homeriſchen Sprache gelungen iſt, jene ſchwierig zu unterſcheidenden, zarteſten Licht— effecte mit zahlreichen, treffenden Schlag— wörtern zum Ausdruck zu bringen, ſo ſcheint es uns höchſt unwahrſcheinlich, daß ſie dies nicht auch bei relativ ſo leicht faß— baren Eindrücken, wie die der Hauptfarben ſind, ſollte haben leiſten können. So daß wir alſo mit Recht aus dem auffallenden Farbenmangel der homeriſchen Bilder eben auf einen mangelhaften Farbenſinn jener Zeitepoche, und nicht auf eine mangelhafte Entwickelung der Sprache ſchließen dürfen. 428 Magnus, Zur Entwickelung des Farbenſinnes. Vertheidigung des ablehnenden Standpunktes. Nicht um für heute das letzte Wort zu behalten, ſondern weil ich hoffe, mit dem Nachſtehenden zur Löſung dieſer im⸗ mer wieder auftauchenden Streitfrage bei— zutragen, will ich ſofort die meiner Kritik gemachten Einwürfe zu beſeitigen ſuchen. Zunächſt muß ich eingeſtehen, daß ich durch meine aphoriſtiſche Darlegung in Heft 3 einige Mißverſtändniße meines geehrten Herrn Gegners wohl ſelbſt verſchuldet habe, die alſo zunächſt zu beſeitigen wären. Wenn ich geſagt habe, „daß die Farben— empfindung irgendwo einmal im Thierreich ihren Anfang genommen haben müſſe“, ſo habe ich dabei nur an die niederſten Thiere gedacht, bei denen ſich nur erſt Aufänge eines Sehorganes nachweiſen laſſen, ſo daß ſich kaum das Vorhandenſein einer höheren Fähigkeit vermuthen läßt, als etwa die Unterſcheidung der Dunkelheit von dem Hellen. Daß dann in irgend einer Weiſe die Entwickelung des' Farbenſinnes begon— nen haben muß, iſt klar. Aber ich zweifle ſehr, daß bei den höheren Thieren dieſe frühe Errungenſchaft irgendwo wieder in Frage ge— ſtellt worden fein kann, ſondern glaube viel— mehr, daß die ſpezifiſche Empfindlichkeit für Farben den Nachkommen dieſer Thiere ange— boren iſt, daß die Farbenempfindung einem geſunden Organe ebenſo unmittelbar ange— hört, wie die Lichtempfindung, weshalb ſie ja auch in keiner Weiſe gelehrt oder erlernt werden kann. ſatzreferat ſehen werden, hing das erſte Auftreten der Farbenempfindung vielleicht mit dem erſten Auftreten des ſogenannten Sehroths in der Netzhaut zuſammen, wel— ches bereits bei ſehr tiefſtehenden Thieren vorkommt. Wie wir in einem Zu⸗ Doch zunächſt zu unſerer Controverſe. Hinſichtlich der Schätzung des Lapis lazuli nimmt Herr Dr. Mag nus an, daß dieſelbe ganz wohl aus irgend einer dunklen, my⸗ ſtiſchen Urſache hervorgegangen ſein könne, bei der die Farbe gar nicht in Betracht kam, und er führt hier die hervorragende Rolle an, welche die Lotosblume in der alten Weltanſchauung ſpielt. Nach meiner Ueberzeugung liegen der Werthſchätzung einzelner Naturobjekte ſtets beſtimmte und oft ſehr verführeriſche Ideenverknüpfungen zu Grunde. Die Lotosblumen zumal bie⸗ ten in ihren geſammten Lebenserſcheinungen, in dem Auftauchen der Blüthen aus der Fluth, dem periodiſchen Sichöffnen und Schließen der Blumen, in der Drehung des Stengels nach dem Sonnenſtande der- maßen die Phantaſie anregende Erſcheinun⸗ gen, daß ihre hohe Verehrung und hervor— ragende Rolle in der Kosmologie der In- der und Aegypter vollſtändig gerechtfertigt und einfach natürlich erſcheinen müſſen. Es iſt mir andererſeits brieflich entgegengehal— ten worden, daß der Laſurſtein ja wohl als ſchwarzer Schmuckſtein wie der ſchwarze Agat, die ſchwarze Koralle, Jet u. ſ. w. geſchätzt worden fein könne. Eine ſolche Vermuthung iſt völlig unhaltbar, denn der Laſurſtein beſitzt nicht den Glanz der ebengenannten Objecte, er würde ein⸗ fach ſtumpfſchwarz, wie ſchwarzer Schiefer oder Serpentin erſcheinen, und Niemanden verführen, ihn heimzutragen, der feine herr⸗ liche blaue Farbe nicht zu würdigen ver⸗ möchte. Ebenſo muß ich den Einwand zu⸗ rückweiſen, daß die Farbe dieſes Steines mit der Himmelsbläue überhaupt nicht ver⸗ glichen werden könnte. In unſeren Brei⸗ ten vielleicht nicht, aber von dieſen iſt hier auch nicht die Rede; ſchon der ſchwärzliche Alpenhimmel nähert ſich in der Tiefe feiner. Magnus, Zur Entwickelung des Farbenſinnes. Färbung dem Laſurſtein, noch mehr das klare Firmament der ſüdlicheren Länder.. Was meine Bemerkung betrifft, daß den Alten, wenn ſie blau- und grünblind gewe— | ſen wären, das Pflanzenlaub zinnoberroth erſchienen ſein müſſe, bin ich von meinem | Herrn. Opponenten völlig mißverſtanden worden und da dies Mißverſtändniß mei⸗ nerſeits durch die Kürze, mit der ich über dieſen Punkt hinwegging, verſchuldet ſein mag, ſo will ich darüber mich etwas weiter auslaſſen. Ich wollte nämlich andeuten, daß wir uns ja künſtlich jenen Anblick verſchaffen könnten, in denen Homer und die Alten die Welt erblickt haben ſollen, wenn wir durch farbige Gläſer die grünen, blauen und violetten Strahlen abhalten in unſer Auge zu dringen, ſo daß wir nur noch die rothen und gelben Gegenſtände erblicken. Es wird dies annähernd erreicht, wenn man ein mit Eiſen gefärbtes dunkelgel— bes Glas mit einem dunkelblauen Kobalt⸗ glaſe verbindet. Durch dieſe Combination (Lommel's Erythroſkop) werden die in— digoblauen Strahlen nicht völlig ausgeſchloſ— ſen, dagegen aber die gelb- und blaugrünen, ſowie der größte Theil der blauen. Blickt man nun durch dieſe Vorrichtung auf einen ſonnigen Raſen oder Park, ſo erſcheint alles Laub leuchtend zinnoberroth, nicht in Folge einer Contraſtwirkung, ſondern weil das Laub wirklich eine ſolche Menge rother Strahlen zurückwirft, die wir nur für ge— wöhnlich nicht erblicken, weil die Menge der zurückgeworfenen grünen Strahlen noch viel größer iſt. Wenn aber dieſe grünen Strahlen, wie vorausgeſetzt wird, auf das Auge der Alten keinen Eindruck hervor— gebracht hätten, ſo müſſten die Letzteren wenig— ſtens die rothen erblickt haben, wie wir ſie durch das Erythroſkop wahrnehmen. Ge— gen die Schlußbemerkungen, daß man einer 429 ſo ausgebildeten Sprache wie diejenige Homer's war, einen Mangel an Farbe— namen nicht zutrauen könne, ohne die Vor⸗ ausſetzung, daß die betreffenden Farben über- haupt nicht empfunden worden ſeien, kann ich nur die Bemerkung wiederholen, daß die Charakteriſirung der Farben ein ſpätes Bedürfniß geweſen zu ſein ſcheint, um ſo mehr, da man ſich im Nothfall mit Ver— gleichung bekannter Natur-Objekte helfen konnte. Ich wies ſchon darauf hin, daß ſich das Bedürfniß, die Uebergangsfarben eben— falls mit beſonderen, von Naturobjekten hergenommenen Benennungen zu bezeichnen, (Orange, Violett, Lila, Penſée) ſogar erſt ſeit wenigen Jahrhunderten gezeigt hat. Das Wort Penſce als Farbenbezeichnung iſt erſt höchſtens ſeit dreißig Jahren in Ge— brauch; das Wort Lila iſt ſicher nicht älter als die Einführung des Fliederſtrauches (Lilac) in unſre Gärten, und ſelbſt die Worte Violett und Orange ſcheinen als Farbenamen kaum einige hundert Jahre zurückzureichen. Ich kann nur meine Ueber⸗ zeugung wiederholen, daß ſich hier dem Sprachforſcher ein Feld aufthut, welches in pſychologiſcher Beziehung eine ſehr intereſſante Ausbeute verſpricht. Die ſprachliche Unter— ſuchung würde aber, wie mir ſcheint, vor Allem Rückſicht zu nehmen haben auf die Geſchichte der Färberei, Malerei und Pig— ment-Erzengung durch chemiſche Prozefie, die Schon bei den alten Aſſyrern und Ae— gyptern ſehr weit gediehen zu ſein ſcheint. In einen unvereinbaren Conflikt tritt die Geiger'ſche Theorie mit der Archäo— logie, namentlich mit dem Studium der Baureſte Aſſyriens und Aegyptens, auf de— ren Wänden man farbige Decorationen, die viel älter als die homeriſchen Gedichte find, erblickt. Um die ſtreitige Frage mög- lichſt ihrer Entſcheidung nahe zu bringen, 1 430 habe ich Herrn Profeſſor Düm ichen in Straßburg erſucht, mir freundlichſt ſagen zu wollen, ob in den alten ägyptiſchen Malereien, die weit über zweitauſend Jahre vor unſere Zeitrechnung zurückreichen, blaue und grüne Farbentöne allgemein und der Natur, wie wir ſie erblicken, entſprechend angewendet worden ſeien. Aus der mir gü— tigſt gewährten eingehenden Auskunft erlaube ich mir, das Nachſtehende wörtlich mitzu— theilen. „ . . . Die alten Bewohner des Nil- thals“, ſchreibt Herr Profeſſor Düm ichen, „gehörten jedenfalls nicht zu denjenigen Völ— kern des Alterthums, die nicht im Stande geweſen ſein ſollen, grün und blau nach ihrem Farbenwerthe zu würdigen. Wenn Geiger, ehe er ſeine Theorie aufjtellte, ſich die alt— ägyptiſchen Wandgemälde angeſehen, ſo hätte er ſich überzeugen können, daß ſchon die alten Aegypter ſelbſt feinere Nüan- cirungen ſehr wohl zu unterſcheiden ver— mochten. Auch hatte die altägyptiſche Sprache eine ganze Reihe von Worten zur Bezeich— nung der verſchiedenen Farben, von denen bis jetzt feſtſtehen: hat, hell, weiß; kem, Magnus, Zur Entwickelung des Farbenſinnes. dunkel, ſchwarz; toscher, roth; maresch, (er- Farbſtoff fehlt, und die Vertiefung nur halten im Koptiſchen mersch, morsch), fla- vus, rubicundus; tehen, ein helles Gelb; nat, grün (dieſes Wort bedeutet zugleich „ſproſſen“ und „kräftig ſein“), mafek, ein anderes Grün, zugleich der Name des Sma— ragds und eines dem Smaragd ähnlichen grünen Glasfluſſes; chesteb, blau, eigentlich die Färbung des Lapislazuli; nub, Gold und goldfarbig; hat nub, Silber und ſil— berfarbig. Nicht ſelten werden nun in den Inſchriften die Farben noch näher ange— geben; ſo findet ſich namentlich oft bei ſchwarz und weiß noch der Zuſatz: necht Nh, stark, ſehr. . Uebrigens waren auch bei den alten Aegyptern die Vergleichungen mit andern Naturobjekten, zur nähern Bezeichnung der Nüancen, üblich. In einer ungemein inte— reſſanten Inſchrift, die Herr Profeſſor Diü- michen veröffentlicht hat, und die von einer Wand des von ihm als Laborato— rium des Edfu-Tempels erkannten Gemaches herrührt, werden unter verſchiedenen In— gredienzien zwei Baumharze erwähnt, die zunächſt beide als maresch d. h. röthlich gelb bezeichnet werden, worauf es zur nähern Charakteriſirung von dem einen heißt: „es gleicht ſeine Farbe der Sonne im Winter“, und von dem andern: „Wenn es herausgeführt wird aus ſeinem Platze mit einem Meſſer, dann iſt es wie die Farbe von dem Flügel des Sifvogels, und was den Sifvogel betrifft, ſo iſt das der Läufer (Tefen) deſſen Flügel in der Farbe dem Golde gleichen.“ „Das Berliner Muſeum“, fährt Herr Profeſſor Dümichen fort, „beſitzt eine Palette mit ſieben Vertiefungen für ſieben Farben, von Schwarz nach Weiß geordnet. Den Anfang macht Schwarz, dann folgte wahrscheinlich ein tiefes Dunkelblau (wel— ches jetzt ſchwer zu erkennen iſt, weil der ſchwarz ausſieht, möglicherweiſe war es ein dunkles Braun). Als dritte Farbe folgt ein deutlich erkennbares Roth, dann hellblau, hierauf Grün und Gelb und zuletzt Weiß. Dieſe ſieben Farben wurden nun bei der Wandmalerei in den verſchiedenſten Nüan— cirungen gemiſcht. Die Bäume und Sträu- cher ſind ſtets mit grünen Blättern dargeſtellt, Stamm und Aeſte gelb und bräunlich gefärbt. Bei Schiffen der Bauch und die Maſten ebenfalls gelb oder braun, die Segel weiß, das Waſſer des Nil— ſtromes, der Kanäle und Teiche ſtets blau, doch das Meerwaſſer zuweilen grünlich gemalt. Weidende Rinder wur— den roth, braun, weiß und gefleckt abge— bildet, ungemein natürlich in der Farbe, ebenſo Antilopen und Gazellen, die Geweihe ſchwarz und das Gras, an dem ſie freſſen, ſtets grün. Die Panther und Geparden erſcheinen gelb mit rothbraunen oder ſchwar— zen Flecken, der untere Theil des Bauches meiſt heller gefärbt als der Rücken, der Löwe gelb, ſeine Mähne etwas dunkler. Affen zumeiſt grünlich“). Bei Tribut— Darbringungen ſind die Elephantenzähne ſtets weiß, Ebenholz ſchwarz, Straußfe— dern und Straußeneier weiß, Goldringe gelb oder röthlichgelb, Silberringe weiß, Kupfer roth gemalt. Die Schneiden der Meſſer, die Klingen der Schwerter, die Lanzen und Pfeilſpitzen ſind, je nachdem Stahl, Eiſen oder Kupfer bezeichnet werden ſoll, bald blau, bald roth gefärbt, ebenſo Helm und Harniſch.“ Hinſichtlich der feineren Farbenabſtu— fungen bemerkt Herr Profeſſor Dümichen: „Neger, Nubier, Aegypter, aſiatiſche Se— miten, Libyer und Nordvölker werden ſtets ſorgfältig in der Hautfarbe vom dunkelſten Schwarz bis zu unſerer ſogenannten Fleiſch— farbe unterſchieden. Ganz beſonders lehr— reich in dieſer Hinſicht ſind einige Dar— ſtellungen des Ziegelſtreichens, wo man der Maſſe, welche in die Form gethan wird, ſehr treu die graublaue Farbe des Nil— ſchlammes gegeben hat, während die höl— zernen Ziegelformen wohl unterſchieden die Farbe des Holzes zeigen.“ Während ſo bei hiſtoriſchen Gemälden und Naturdarſtellungen faſt immer der richtige Farbenton getroffen erſcheint, ver— fuhr man bei der Hieroglyphen-Malerei 50 Es diente alſo wohl der Grünaffe | (Cercopithecus griseo-viridis) als typiſches Vorbild. ganz willkürlich, hier malte man die ver- ſchiedenen Zeichen im bunteſten Durchein— ander der Farben, wie eben ihre Zuſam— menſtellung dem Künſtler geſchmackvoll er— ſchien. Nach dieſen, wie mir ſcheint, für unſere Frage höchſt wichtigen Auseinander— ſetzungen über die Naturtreue polychromer Gemälde, welche zum Theil Jahrtauſende vor Entſtehung der homeriſchen Gedichte gemalt wurden, und ſich im Dunkeln als unverwerfliche Zeugen bis auf unſere Zeit erhielten, wird die von Herrn Dr. Mag— nus noch in einer zweiten Abhandlung *) vertheidigte Geiger'ſche Theorie wohl auf— gegeben werden müſſen. Uebrigens waren die alten Aſſyrer und Aegypter auch ſchon zur Erzeugung unver— änderlicher blauer und grüner Schmelz— und Glaſurfarben vorgeſchritten, was eine bereits ſehr ausgebildete Farbentechnik vor— wundern dürfen, auch in ihrer Sprache die Farbenſkala vollſtändiger anzutreffen, als in derjenigen Homer's. Es könnte hiernach vielleicht ſcheinen, als ob die Geiger'ſche Theorie in einem ſo grellen Gegenſatze zu den Ergebniſſen der Archäo— logie ſtehe, daß eine ſo ausführliche Wider— legung, wie ich ſie im Vorſtehenden und früher verſucht habe, eigentlich überflüſſig ſei. Allein ſo berufenen Forſchern gegen— über, wie Gladſtone, Geiger und Magnus, erſchien mir eine ſorgfältig ein— gehende Kritik Pflicht und Alles in Allem genommen haben wir dabei nichts verloren, ſondern ſind vielmehr zu einer ſehr anzie— henden Seite der Sprachentwickelung ge— führt worden, die wohl einer genaueren ) Sammlung phyſiologiſcher Abhand- lungen, herausgegeben von W. Preyer. Erſte Reihe, Neuntes Heft. Jena, Dufft LOHN, Magnus, Zur Entwickelung des Farbenſinnes. 431 ausſetzt, hinſichtlich deren wir uns nicht 432 Prüfung durch einen Fachmann würdig er— ſcheint. Es ſei erlaubt, an dieſe kritiſche Aus— einanderſetzung ein Referat über einige Un— terſuchungen, welche die Entſcheidung der Farbenfrage ein gut Stück näher gerückt haben, anzuknüpfen. Als ich S. 270 auf die Allgemeinheit des Vorkommens eines lichtempfindlichen Farbſtoffes in der Netz— haut von Thieren der verſchiedenſten Kreiſe hinwies und zugleich bemerkte, daß dasſelbe vielleicht mit der Farbenempfindung in einem beſtimmten Zuſammenhange ſtehen möchte, wußte ich nicht, daß Prof. Fr. Boll be— reits im Januar und Februar dieſes Jah— res der Berliner Akademie zwei hierauf bezügliche Mittheilungen vorgelegt hat, weil nämlich die betreffenden Berichte erſt Ende Mai im Drucke erſchienen ſind. Der ge— nannte Entdecker der Funktion des Seh— roths hat, um die Beziehung deſſelben zur Farbenempfindung aufzuklären, die Netzhaut von Fröſchen in einer größern Verſuchsreihe einem durch verſchiedenfarbige Gläſer ge— gangenem Tageslichte ausgeſetzt, und dabei, obwohl dieſe Quellen keine ganz reinen Strahlen lieferten, höchſt bedeutſame Un terſchiede in der Einwirkung nachweiſen können. Betrachtet man die in der Dun— kelheit präparirte Retina eines Froſches unter dem Mikroſkope, ſo zeigt die große Mehrzahl der Stäbchen die rein rothe (nicht purpurrothe) Farbe des Sehroths, und nur vereinzelte Stäbchen der Netzhaut— Moſaik erſcheinen in ganz blaßgrüner Farbe. Verfolgt man unter dem Mikroſkop das Abblaſſen der Retina durch das Licht, ſo ſieht man, wie die rothen Stäbchen erſt einen gelbrothen, dann faſt ganz gelben Magnus, Zur Entwickelung des Farbenſinnes. farblos werden. Die Netzhaut der unter rothen und gelben Gläſern dem Lichte aus— geſetzten Fröſche zeigte keine andere merk— liche Veränderung, als daß die grünen Stäbchen etwas lebhafter gefärbt erſchienen, doch färbte ſie ſich durch ſehr intenſives rothes Licht rothbraun, durch ſehr intenſiv gelbes roſa. Unter der Einwirkung eines mittleren oder intenſiven Lichtes, welches durch grüne Gläſer gegangen war, nahm die Netzhaut eine purpurrothe Farbe an, die bei längerer Einwirkung durch Erblaſ— ſen in roſa überging; die Zahl der grünen Elemente erſchien gleichzeitig nicht unerheb— lich vermehrt. Unter einem blauen Glaſe endlich erſchien die rothe Grundfarbe der Netzhaut in violett verändert, welches durch die darunter gemiſchten grünen Stäbchen für das bloße Auge einen ſchmutzigen Ton annimmt. Herr Prof. Boll zieht aus ſeinen Beobachtungen einige Schlüſſe, die nicht allein für die Farbentheorie, ſondern für die geſammte Philoſophie von großer Tragweite werden können. Da nach dieſen Verſuchen, nämlich durch die Einwirkung der verſchiedenen Farben innerhalb der Stäbchenſchicht der Netzhaut, alſo in einem inneren Gebiete des Nervenſyſtems, objek— tive Farbenwandlungen hervorgebracht werden, welche übereinſtimmen mit den durch ſie hervorgebrachten Vorſtellungen (ſofern nämlich die grünen und blauen Strahlen mehrere Theile der Netzhaut grün und bläulich färben), ſo erſcheint dadurch die uralte Frage nach der Realität des In— halts unſerer ſinnlichen Erkenntniß in eine neue Phaſe gedrängt, und das „Ding an ſich“ geräth ins Gedränge, wenn ſogar die | Farbenton annehmen, ehe fie vollkommen Farbe aus dem rein ſubjektiven Bereich der Sinnesempfindung in das objektive der Reproduktion im Auge ſelbſt hinüberſpielt. Im Allgemeinen erſcheinen dieſe Folge— nr 1 Magnus, Zur Entwickelung des Farbenfinnes. rungen freilich noch ſehr gewagt. Die That— ſache aber, daß das Sehroth von den ver— ſchiedenen Strahlen des Spektrums in ſehr verſchiedenem Grade zerſetzt wird, iſt in— zwiſchen durch Prof. Kühne in Heidel— berg beſtätigt und weiter unterſucht wor den.) Derſelbe fand, daß die filtrirte klare Auflöſung des Sehroths in Cholat, welche eine prächtige, karminrothe Farbe beſitzt, im Lichte ſchnell chamois und zuletzt farb— los wird. So lange darin roth zu erken— nen iſt, abſorbirt ſie alles Licht des Spek— trums vom gelbgrün bis zum violett, während ſie anſcheinend noch ein wenig violett, ſicher alle gelben, orange und ro— then Strahlen durchläßt. Dementſprechend ſahen im objektiven Spektrum ausgebreitete blutfreie Netzhäute vom hellgrün bis zum violett, grau bis ſchwarz aus; ſie blichen vom Anfange des Gelbgrüns bis zum rei— nen Grün in Zeit von fünfzehn Minuten vollſtändig aus, viel ſchwächer in Blaugrün, Blau, Indigo und Violett; eben bemerklich in Gelb und Orange, gar nicht (d. h. in obiger ) Centralblatt für die medieiniſchen Wiſ— ſenſchaften 1877 N. 11. 433 Expoſitionszeit) in roth und ultraviolett. Nach einer Stunde weiterer ungeſtörter Belichtung war die Entfärbung im Grün und Blau— grün völlig, im Blau faſt vollendet, im Indigo und Violett weit vorgeſchritten, im Ende des Violett und im Anfange des Ultraviolett deutlich, im Gelb und Orange kaum vermehrt, im Roth gar nicht zu be— merken. Nur bei ſehr lauger, oft wieder— holter Expoſition ſchienen auch die rothen Strahlen auf das Sehroth einzuwirken. Es erhellt aus dieſen Verſuchen, daß die rothen Strahlen das Sehroth, faſt ohne es zu verändern, durchdringen, weshalb ſie vielleicht auf die nervöſen Theile am ſtärk ſten reizend wirken; nächſtdem dringen Orange ſowie Gelb und Violett am beſten durch, während Grün und Blau, die man doch ſonſt als beruhigende, dem Auge wohl— thätige Farben auffaßt, das Sehroth ſchnell zerſetzen, ſo daß fortwährende Neu— bildung erforderlich wird. Am merkwür digſten iſt, daß die ſogenanuten „chemiſchen“ Strahlen des Ultraviolett die allergeringſte chemiſche Wirkung auf das Sehroth aus— übten. K. Kleinere Mittheilungen. Die Entwickelungszuſtände der großen Planeten. mus der geringeren Maſſedichtigkeit der großen Planeten unſeres Sy— ein Viertel, beim Saturn wenig über ein Achtel, beim Uranus ziemlich ge— nau ein Sechſtel der mittleren Erddichte beträgt, haben einzelne Naturforſcher ſchon längſt geſchloſſen, daß dieſe Planeten, ihrer ſtems, die beim Jupiter weniger als größeren Maſſe entſprechend, keinenfalls das Abkühlungsſtadium der Erde erreicht haben können, abgeſehen davon, daß ſie vielleicht auch an ſich, weil von der Oberfläche der Urſonne abgeſchleudert, zum Theil aus ſpecifiſch leichteren Dämpfen gebildet wor— den ſein mögen, als die ſpäter entſtandenen, kleineren Brüder. Für obige Auffaſſung hat jüngſt der engliſche Aſtronom A. Broc- tor eine Reihe von Beobachtungs-Thatſachen ins Feld geführt,) von denen wir die hauptſächlichſten wiederholen wollen. „Ge— waltige Wolkenmaſſen,“ ſagt er, „welche ausreichen würden, den ganzen Ball, auf welchem wir leben, einzuhüllen, bilden ſich über weiten Gebieten auf dem Jupiter und Saturn, wechſeln ſchnell ihre Geſtalt und verſchwinden im Verlaufe weniger Minu— ten; trotzdem geuügt es Manchen, anzu— nehmen, daß dasjenige, was dort ſtattfindet, der Entſtehung, Bewegung und Zerſtreu— ung unſerer kleinen Wolkenmaſſen ent— ) Quarterly Journal of Science, April ſpreche, obwohl die Sonne nur etwa den ſiebenundzwanzigſten bez. hundertſten Theil der Wärme, welche ſie uns ſpendet, dem Jupiter und Saturn gewähren kann. Die Umriſſe des Jupiter, wie ſie durch die ſicht— baren Orte eines Mondes in der Nähe ſeiner Scheibe beſtimmt werden, erweitern und verengern ſich um Tauſende von Meilen.“ Ja Sir W. und J. Herſchel, G. Airy, Coolidge, Bond und andere Aſtronomen beobachteten Formver— änderungen am Saturn, durch welche er einen faſt viereckigen Umriß gewann, Aen— derungen, die auf Umrißſchwankungen von 4— 5000 Meilen Höhe deuten, To daß die Annahme, dieſe Schwankungen-beträfen die Kruſte eines feſten Planeten, ad ab- surdum geführt wird. Es ſcheint als wahrſcheinlichſte Deutung ferner hervorzu⸗ gehen, daß die Umriſſe, die wir meſſen, da ſie einem feſten Weltkörper nicht ange— hören können, diejenigen einer Dampfſphäre ſind, die einen noch in ſeinem Urfeuer glühenden Planeten umgiebt, und deren Theile zuweilen ungeheuren Wallungen unterliegen. Eine Reihe von Special— beobachtungeu am Jupiter⸗ ergab für Herrn A. Proctor, daß die Annahme einer mehrere Tauſend Meilen tiefen Atmoſphäre, in welcher wolkengleich ungeheure Dampf— maſſen auffteigen und ſchwimmen, allein im Stande ſein würde, die merkwürdigen Ver⸗ änderungen zu erklären, die man auf der Oberfläche dieſes Planeten beobachtet. Man hatte die Streifen des Jupiter zwar längſt als Wolken, und zwar die helleren als H obere, die dunkleren als tiefere, im Schatten liegende Wolkenzüge gedeutet, und ebenſo hatte- man erkannt, daß ihre Bildung mit einer ſtarken Rotation der Jupiteratmo— ſphäre zuſammenhänge, denn man ſah kleinere Wolkenflecken ſich mit einer um ſo größeren Geſchwindigkeit in der Richtung der Planetenumdrehung bewegen, je mehr ſie der Aequatorlalgrenze nahe kamen, allein es war verkehrt, wenn man dabei an Wolken in unſerem Sinne gedacht hat. Denn da an eine fo „starke, Wind und Wolken erzeugende Wirkſamkeit der Sonnen— ſtrahlen, wie ſie auf der Erde ſtattfindet, auf dem Jupiter nicht gedacht werden kann, ſo muß man an eine andere Entſtehungs— weiſe denken. Es ſcheint dem genannten Naturforſcher nun, daß ſich die Entſtehung dieſer Streifen und der ſogleich zu erwäh— nenden ähnlichen Gebilde vollkommen er— klären läßt, bei Vorausſetzung einer ſehr tiefen Atmoſphäre, deren Rotationsgeſchwin— digkeit ſich nach außen ſtark erhöht. Unter dieſer Vorausſetzung könnten die Streifen einfach durch vertical aufſteigende Dampf— Kleinere Mittheilungen. ſtröme erklärt werden, welche aus mehr centralen Gegenden mit langſamerer Ro— tation in mehr peripheriſche mit ſchnellerer gelangen, reſp. umgekehrt. Dieſe Auffaſſung wird durch eine genauere Prüfung weſent⸗ lich beſtärkt. bilden, welche genau das Ausſehen von Dampfmaſſen darbieten, die von weit unten, unterhalb der ſichtbaren Wolkenoberfläche Man ſieht von Zeit zu Zeit auf den Hauptſtreifen weiße Flecken ſich des Jupiter hervorgeſtoßen werden, ſich ihren Weg durch die unteren Wolkenſchichten | brechen und in den oberen, kühleren Regionen | zu deutlichen Wolken ſich verdichten und, wie Brett 1874 beobachtete, zuweilen deutliche Schatten auf tiefer gelegene Dunft- ſchichten werfen. | 435 Die merkwürdigſten Anhaltspunkte lie fert aber eine Fleckeubildung, die zuerſt im Jahre 1851 von Dawes deutlich beob— achtet worden zu ſein ſcheint, und welche Webb in nachſtehender Weiſe beſchrieben hat: „Oefters gehen die Streifen in dämm— rige Gürtel oder Feſtons aus, deren ellip— tiſche Glieder zuweilen mit großer Regel— mäßigkeit hinter einander gereiht erſcheinen und den Anblick einer Kette leuchtender, eiförmiger Wolken darbieten, welche die Kugel umgürtet. Dieſe eiförmigen Gebilde, welche 1869 — 70 in der Aequatorialzone ſehr ſichtbar waren, wurden auch in an deren Regionen des Planeten wahrgenom— men und kommen anſcheinend häufiger vor.“ Dieſe einer Perlſchnur oder dem Eierſtabe der Architekten vergleichbaren Wolkenzüge, welche auch Brett wiederholentlich beob— achtete, erſcheinen offenbar am leichteſten verſtändlich, wenn man ihre Entſtehung zurückführt auf eine regelmäßige Folge von Dampfausbrüchen aus derſelben Gegend der Tiefe, deren Eruptionswolken in Folge der beſchleunigten Rotation in den oberen Theilen dort eine roſenkranzförmige Aneinander— | reihung erfahren. Viel gekünſtelter würde | die Annahme einer Bildung jo regelmäßiger Dampfſtröme von verſchiedenen Punkten der Jupiteroberfläche ſein. Dieſe Wolkenmaſſen erleiden mitunter in ſehr kurzer Zeit ſehr auffallende Veränderungen, die auf eine äußerſt lebhafte Thätigkeit im Bildungs⸗ herde ſchließen laſſen. Eine genaue Schätz— ung der halbdurchſichtigen Atmoſphäre, in welcher dieſe Maſſen aufſteigen, läßt ſich natürlich nicht ausführen, aber aus den nachfolgend wörtlich angeführten Betrachtun— gen leitet Proctor ein Minimum von 6000 Meilen ab. „Ich kann nicht daran zweifeln,“ ſagt er, „daß Jupiter einen feſten oder flüſſigen Kern beſitzt, obwohl dieſer . 436 Kern noch immer ſtark ausgedehnt ſein mag; und möchte ich glauben, daß bei der großen Anziehungskraft, die in ihm ruht, da er nothwendig nahezu die geſammte Planetenmaſſe enthalten muß, ſeine mittlere Dichtigkeit nicht kleiner ſein könne als die der Erde. Die Jupitermaſſe, als eine Kugel von der mittleren Dichte der Erde gedacht, würde nur höchſtens ein Viertel von ſeinem ſcheinbaren Volumen wirklich beſitzen können.“ Da aber der Jupiter Atmoſphäre immerhin eine beträchtlicher Maſſe zugeſchrieben werden muß, ſo ſchätzt A. Proctor den Durchmeſſer des Kerns nur auf ¼8 des beobachtbaren Durchmeſſers, d. h. auf ca. 53000 Meilen. Dies iſt um 22000 Meilen weniger als der ſchein— bare Durchmeſſer, woraus eine Tiefe von ca. 11000 Meilen für die Atmoſphäre abzuleiten ſein würde, ſo daß jenes Mini— mum ſchwerlich zu hoch gegriffen erſcheinen kaun. An die Beobachtungen von Brett über die Geſchwindigkeit, mit welcher ſich Kleinere Mittheilungen. vermuthen läßt, als durch das, was ſie beweiſt. Wir können nicht zweifeln, daß tief unterhalb der ſichtbaren Oberfläche des Geſtirns die feurige Maſſe des wirk— lichen Planeten liegt. Ausbrüche, gegen welche die heftigſten vulkaniſchen Erſcheinun— gen unſerer Erde nur unbedeutend ſind, finden fortdauernd unter der ſcheinbar ruhigen Hülle des Rieſenplaneten ſtatt. Gewaltige Strömungen führen große Maſſen erhitzten Dampfes in die Höhe, wo ſie in ſichtbare Wolken verwandelt werden, nach dem ſie ihren Weg durch die oberen und kühleren Schichten der Atmoſphäre erzwungen haben. Umgekehrt ſinken Ströme abgekühlten Dampfes zur Oberfläche herab, nachdem ſie zweifellos Wirbelbewegung erlangt und über weite Gebiete die helleren Wolkenmaſſen fort— getrieben haben, ſo daß ſie als dunkle Flecke auf der Scheibe des Planeten erſcheinen. In Folge der ungleichen Tiefen, denen die verſchiedenen Wolkenmaſſen angehören und aus denen die aufſteigenden Ströme erhiß- die großen, runden Wolken über die Scheibe bewegen, und von denen ein im Juni 1876 beobachteter Fleck in Bezug auf einen anderen eine Eigenbewegung von 180 Meilen in der Stunde zeigte, knüpft Proctor fol- gende Bemerkungen: „Dieſe Thatſache, daß die Flecken des Jupiter eine ſchnelle Eigen— bewegung beſitzen, iſt an ſich von beſon— derem Intereſſe, uamentlich wenn man er— wägt, daß die größeren weißen Flecke oft Wolkenmaſſen von 5— 6000 Meilen Durch— meſſer repräſentiren. Daß ſolche Maſſen mit ſo außerordentlicher Geſchwindigkeit fortgeführt werden, um ihre gegenſeitige Lage zu einander, zuweilen in einer Stunde um mehr als 150 Meilen, zu ändern, iſt eine überwältigende Thatſache. Aber es ſcheint mir, als ob dieſe Thatſache noch mehr Intereſſe erregt durch das, was ſie 5 ten Dampfes ſtammen, entſtehen horizontale Strömungen von ungeheurer Geſchwindig— keit, mit welcher die Wolkenmaſſen eines * Streifens ſchnell vorüber jagen bei den Wolkenmaſſen eines benachbarten Streifens oder höherer, reſp. tieferer Wolkenſchichten. Der Planet Jupiter muß demnach in Wirk— lichkeit dargeſtellt werden als eine kleine Sonne, bedeutend geringer an Größe als die eigentliche, in noch höherem Maße Hin- ſichtlch der Wärme und am meiſten hin— ſichtlich der Helligkeit ihr nachſtehend, aber dennoch mit der Sonne eher vergleichbar als mit der Erde, nach Größe, Wärme und Glanz, ſowie nach der gewaltigen Energie der Proceſſe, die in ſeiner wolkenbeladenen Hülle thätig ſind.“ Der Verfaſſer fügt ſeiner überzeugenden Darlegung die Mittheilung hinzu, daß der Aſtronom Told in Ade— 1333333 laide (Neu-Südwales) kürzlich den vor— ſtehend ausgeſprochenen Anſichten gemäß im Stande geweſen iſt, die Bewegungen der Satelliten hinter den Rand zu ver— folgen, d. h. durch die Theile der Planeten— Atmoſphäre hindurch, die man bisher dem Körper ſelbſt zugerechnet hatte. Die ſpiralige Anordnung der ſeitlichen Pflanzentheile um die Achſen hatte wegen der häufig hierbei hervortreten— den mathematiſchen Regelmäßigkeit, wie ſie namentlich an den Blättern, Nadeln und Schuppen der Lepidodendren, Sigillarien und Coniferen, an den Stacheln der Cy— linder- und Kugel-Cactus-Arten und an den Blüthengemeinſchaften der Compoſiten in die Augen fällt, ſeit ihrer Entdeckung durch Bonnet oftmals die Bewunderung der Teleologen erregt, weil in der dabei vorwiegenden Zahlenreihe des goldenen Schnittes: 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, . die tiefe Berechnung des Schöpfungsplanes deutlicher ans Licht zu treten ſchien, als irgendwo ſonſt. Indeſſen war bereits Hofmeiſter zu der Ueberzeugung ge— kommen, daß eine einfache mechaniſche Urſache dieſe wunderbare Regelmäßigkeit be— dinge, und ſprach in ſeiner „Allgemeinen Mor— phologie“ die Grundregel aus, daß neue Blät— ter oder Seitenachſen an denjenigen Orten des Vegetationskegels hervorträten, welche am weiteſten von den Baſen der nächſtbenachbar— ten, bereits vorhandenen Blätter entfernt ſeien, weil an dieſen Stellen das Gewebe am dehnbarſten fer, um Neubildungen hervor— treten zu laſſen. J. Fankhauſer erkennt 89, 3 7 Kleinere Mittheilungen. Blätter entſtehen, von wenigen Ausnahmen 437 in einer neueren Arbeit?) die Richtigkeit obiger Regel im Allgemeinen an, giebt aber einen etwas verſchiedenen und wie es ſcheint, treffenderen Grund dafür an. Die abgeſehen, in acropetaler Folge, d. h. das oberſte Blatt iſt immer das jüngſte. Sie entſtehen ferner, wie Hof meiſter bemerkt, ſtets (in der Projection geſehen) über der weiteſten Lücke, welche die nächſt vorher— gehenden Blätter zwiſchen ſich laſſen, und dieſe Regel ſcheint bei continuirlich fort— wachſenden Pflanzenachſen ohne Ausnahme zu gelten. Ueber die wahrſcheinliche Ur— ſache dieſer Erſcheinung ſagt Fankhau— ſer: „Machen wir einen Schnitt durch einen Achſenſcheitel, ſo treffen wir bei den Phanerogamen auf mit Protoplasma gefüllte Initialen junger Blätter. Dieſes Proto- plasma iſt verhältnißmäßig waſſerarm, aber reich an Fett- und Eiweißſtoffen. Gehen wir nun von dem Scheitel rückwärts, ſo treffen wir Zellen, die mehr und mehr einen weniger lichtbrechenden, waſſerreicheren Inhalt zeigen, d. h. der Turgor dieſer Zellen hat durch Waſſeraufnahme zugenommen. Dieſe vom Scheitel rückwärts nachweisbare Zunahme erklärt denn auch, warum die Blätter nicht oben am Scheitel entſtehen, ſondern da, wo eben der Turgor groß genug geworden iſt, die gewölbte Oberfläche zu heben und auf dieſe Weiſe einen neuen Auswuchs zu er— zeugen. Dort iſt es, wo für den Moment die oberſte Grenze der Blattbildung gele gen iſt. Dieſe Zone rückt, wie der Schei— tel, allmälig vorwärts. Die Stelle der Bildungszone aber, an welcher die vegeta— tiven Kräfte bis zur Anlage eines neuen Blattes oder Seitentriebes ſich ſummiren, ) Mittheilungen der naturforſchenden Geſellſchaft in Bern. Nr. 906 bis 922. Bern 1877. 438 wird durch den Ort jüngst vorhergegange— ner Blattbildungen beſtimmt. Stehen z. B. zwei Blätter am Stengel einander gegen— über, wie bei vielen Labiaten, Gentianen u. ſ. w., ſo werden die nächſten beiden dieſelben ſenkrecht kreuzen (decuſſirte Blatt— ſtellung). Bei mehrzähligen Quirlſtellun— gen begegnet man ähnlichen Decuſſirungen. Stehen die einwirkenden älteren Blätter nicht auf gleicher Höhe des Stengels und ſind ſie in Folge ungleichen Alters ungleich kräftig, iſt das jüngſte in raſcherer Ent⸗ wickelung begriffen, als das nächſtältere, ſo ſind die Bedingungen zu einer ſpiraligen Folge der Blätter gegeben. Iſt die Baſis des jüngſten Blattes bei der Entſtehung des nächſten ſehr verbreitert, ſogar ſtengel— umfaſſend, und ſind die Baſisränder gleich ſtark, ſo entſteht das nächſte Blatt weiter oben um 1809 von dem vorigen entfernt: die abwechſelnde Blattſtellung vieler Mono- cotylen, namentlich der Gräſer. nächſte Blatt einen kleineren Abſtand, fo entſteht eine weitere Lücke zwiſchen dieſen beiden Blättern nach der andern Seite und dieſe Bedingungen führen zu der eigentlichen Spiralſtellung. Das nächſte Blatt wird weiter oben möglichſt weit von dem jüng— ſten und zweitjüngſten entfernt entſtehen, weil dieſe den Turgor in ihrer Nähe be— ſchränken. Da aber das letztere tiefer ſteht, ſo wird ſein Einfluß nur ausnahmsweiſe dem des vorigen ſo nahe kommen, daß das neue Blatt genau zwiſchen beiden erſcheint, wie es indeſſen bei Monocotylen doch häu- figer vorkommt, worauf ſich alsdann drei | Blätter in den Umkreis theilen. In der Regel wird aber der Einfluß des vorletz— ten Blattes geringer ausfallen als der des letzten, und die Folge wird ſein, daß das neue Blatt, wenn man ſich alle drei auf eine Ebene projicirt denkt, dem vorletzten Hat das Kleinere Mittheilungen. näher als dem letzten zu ſtehen kommt. Dieſer Einfluß wird noch complicirter aus- fallen, wenn außer den beiden jüngſten noch weiter rückwärts ſtehende Blätter einen Einfluß äußern. Die hierdurch gegebenen Bedingungen können nur erfüllt werden durch Stellungsverhältniſſe, die der bekann— ten Reihe: ar I, 2, 8, 13, 9217 13934 255 . angehören, in welcher die Nenner die Blätter— zahl des Cyklus, die Zähler aber die Zahl der Umgänge angeben, auf welche dieſe Blätter vertheilt ſind, bis mit einem genau über einem älteren ſtehenden jüngeren Blatte ein neuer Cyklus einſetzt. Dazwiſchen liegende Verhältniſſe, wie z. B. 27, Ya, Cha u. ſ. w. würden dieſe Bedingungen nicht erfüllen und kommen daher ſehr ſelten und nur ganz ausnahmsweiſe vor. Die höheren Divergenzbrüche entſtehen in ſolchen Fällen, wenn außer dem letzten und vorletzten Blatte noch eine ganze Anzahl der ihnen voraufgegangenen mit einwirken kann, wie es der Fall iſt bei ſolchen Pflanzenachſen, an denen der verticale Abſtand der jungen Blätter ſehr klein it, z. B. bei Semper- vivum und ähnlichen Dickpflanzen, bei den in Stacheln umgewandelten Blättern vieler Cactusarten, bei den ſich dachziegelförmig deckenden Schuppen der Coniferen-Frucht⸗ ſtände u. ſ. w. Ja es können ſogar gegenüberſtehende Blätter in ſolchen Fällen ſich nach dieſen complicirten Regeln kreuzen, wie ich ſelbſt zuerſt bei der Kardendiſtel (Dipsacus) nachwies, deren Blüthenſtands⸗ wirtel gewöhnlich die 2, Anordnung zeigen, obwohl ich auch Ausnahmen antraf, in welchen an einem Blüthenkopfe acht ver- ſchiedene Wirtelſpiralen in >; Stellung ſich durch einander wanden. Auch dieſe ſelteneren Fälle, deren Mittheilung Prof. Alexander Braun ſeiner Zeit mit großem Erſtaunen aufnahm, aber völlig beſtätigt fand, ſcheinen mir nach dem Hof— meiſter-Fankhauſer'ſchen Geſetze völ— lig erklärbar. K. Die Abſtammung der Compoſiten. Am Schluſſe einer größern Arbeit über die Blüthe der Compoſiten *) kommt Herr Dr. Eugen Warming in Kopenhagen zu folgenden, für die Abſtammungslehre intereſſanten Schlüſſen über die Herkunft dieſer großen Pflanzenfamilie. „Die jüng— ſten Vorfahren der Compoſiten der Jetzt— zeit hatten Zwitterblüthen, einen verwach— ſenblättrigen fünftheiligen Kelch, eine gamo— petale, fünftheilige, mit dem Kelche alter— nirende Krone, fünf mit dieſer alternirende Staubblätter (wie bei den Gamopetalen im Allgemeinen mit der Krone verwachſen), und zwei in der Mediane liegende Frucht— blätter. Es iſt möglich, daß die Frucht— knotenhöhle zwei Räume und mehrere Eichen hatte, was aber während der Entwickelung wegen der Veränderung des Blüthenſtandes reducirt wurde. Wie der Blühenſtand war, läßt ſich wohl noch nicht ſagen, er iſt vielleicht eine Umbella geweſen, denn der Fall ſcheint weit häufiger zu ſein, daß das Köpfchen ſich abnorm zur Umbella aus⸗ bildet, als daß das Receptaculum ſtark verlängert wird, und ſomit eine Aehre ent— ſteht, was ſogar, wie es ſcheint, noch nie— mals beobachtet worden iſt. Zwei Vor— blätter waren wahrſcheinlich entwickelt. Un- ter der (auf morphologiſchen Geſe— tzen beruhenden) Weiterentwickelung der ) Botaniſche Abhandlungen aus dem Gebiete der Morphologie und Phyſiologie, herausgegeben von Prof. Dr. Joh. Hanſtein, Band III., Heft II. Bonn 1876. Mit 9 Tafeln Abbildungen. Kleinere Mittheilungen. 439 Compoſiten-Vorfahren wurde der Blüthen— ſtand in ein Köpfchen verändert; die ſteri— len Hochblätter erhielten dann die ſchützende Rolle eines Involucrums, indem ſie zu— ſammengedrängt wurden; die fertilen Bra⸗ cteen wurden entweder beibehalten, oder ent- wickelten ſich in zwei Richtungen: bei eini⸗ gen verſchwanden ſie (ſpurlos), bei anderen (den Cynareen) wurden ſie durch ſtarke Zertheilung in die Spreuborſten umgewan— delt; die Vorblätter verſchwanden ſpurlos. Die hermaphroditen Blumen veränderten ſich theilweiſe geſchlechtlich und eine mit dieſen Umänderungen in Verbindung ſte— hende Vertheilung der Geſchlechter des Köpfchens, ſowie Umformung der Krone fand oft ſtatt; dieſe hat vielleicht einen biologiſchen Hintergrund (die Beſtäubung durch Inſekten)); am wenigſten verändert wurde die Krone bei den hermaphroditi— ſchen Tubifloren, am meiſten bei Labiati- floren, (wozu Radiaten zu rechnen) und Ligulifloren-Synandrie trat ein, und die Eichen wurden auf ein (wahrſcheinlich dem hintern Fruchtblatte gehörendes) beſchränkt, wozu wohl die gedrängte Stellung am meiſten Grund gab. Der Kelch wurde als ſchützendes Or— gan überflüſſig, indem theils die gedrängte Stellung der Blüthen, theils das Involu— crum und die Krone hinreichend Schutz herbeiführte, er wurde dann weniger ent— wickelt. Schon Rötker ſchrieb (Flora Meck— lenb. 2. III.): „Wo die Blumen im unent- wickelten oder Knospenzuſtande vollſtändig eingeſchloſſen werden, iſt es in der Regel der Kelch, alſo die äußerſte Blu— mendecke, der ſich weniger entwickelt, bis— weilen ſo wenig, daß er zu fehlen ſcheint.“ 6 „ | Die nächſte Folge hiervon war wieder die, daß der Kelch in ſeiner Anlage verſpätet wurde, und daraus folgte ferner, daß 58 440 die Kelchblätter nicht die urſprünglichen Stellungsverhältniſſe behaupten konnten, ſie fanden ſich bei ihrer Geburt von den Nach- barblüthen in ihrer freien Entwickelung gehindert, und mußten ſich nach den Stel— lungsverhältniſſen derſelben richten. Daher alſo die vielen Unregelmäßigkeiten in ihrer Stellung. Ich habe gezeigt, daß die fünf- eckige Wulſt, die bei allen unter der Krone entſteht, dem Kelche entſpricht, — gleich— giltig, ob die Ecken (Blattſpitzen) ſich frü- her entwickelten, als das verbindende Ge— webe, oder erſt auf der Ringwulſt ent- ſtanden. Bei vielen Gattungen iſt der Kelch auf einen ſolchen rudimentären Zuſtand re— duzirt (Lapsana, Bellis u. a.) und bei einigen, wie Ambrosia und Xanthium kommt er wahrſcheinlich gar nicht zur Ent⸗ wickelung. Bei anderen Gattungen fand zwar eine Reduktion ftatt, aber gleichzeitig ent- wickelten Haare ſich auf dem Kelche, die bei der Samenverbreitung als Flugappa⸗ rate eine Rolle zu ſpielen kamen (Senecio, Lactuca- Typus) Aus allen dieſen Verhältniſſen geht hervor: alle dieſe Pflanzen und die ſich ihnen anſchließenden haben normal einen rudimentären fünfblätt⸗ rigen oder gamophyllen Kelch, der abnorm zur Ausbildung kommen kann; die Pappus⸗ körper ſind dem Kelche aufgeſetzte Haare. Sollten fünf von dieſen genau die Spitzen der Kelchblätter einnehmen, ſo werden ſie als terminale Haare zu betrachten ſein. Auf eine etwas andere Weiſe ging die Kelchbildung vor ſich bei den Pflanzen des Cirsium-Tragopogon-Typus doch iſt der Unterſchied nicht groß; in dem einen Falle ſind es Haare der Kelchblätter, in dem anderen ſtärkere Lacinien und Entergenzen, die zur Ausbildung gekommen ſind, und wo iſt die Grenze zwiſchen allen „454 „„ „ Kleinere Mittheilungen. dieſen Bildungen zu ziehen? (Man erinnere ſich der getheilten kamm- oder fiederförmig zerſchlitzten Laub- und Involukralblätter vieler Cynareen). In allen Fällen wurde der gamophylle Theil des Kelches ſowohl, als die eigentlichen Blattſpreiten in ihrer Ausbildung ſehr ſtark reducirt. Es muß alſo in jedem gegebenen Fall entſchieden werden, wie der Compoſitenkelch aufzufaſſen iſt. Häufig findet ſich aber auch ein annähernd normaler Kelch mit fünf ausgebildeten Blattzipfeln, die in der Peripherie ſtark trichomatiſch ausgebildet ſein können, z. B. bei Cata- nanche, Gaillardia, Xeranthemum, Sphe- nogyne u. ſ. w., oder die Kelchblätter find in ihrer Zahl reducirt, reſp. nur einzeln deutlich entwickelt (Tagetes, Bidens, Co- reopsis, Zinnia u. ſ. w.). — —— 000°. Praktiſche Verſuche über das Variiren der Pflanzen ſind von Prof. Dr. H. Hoffmann in Gießen ſeit dem Jahre 1855 angeſtellt worden, und hat derſelbe kürzlich die Er— gebniſſe feiner bis 1876 erhaltenen Züch⸗ tungsverſuche nebſt den daraus zu ziehen⸗ den Schlüſſen im 16. Bande der „Berichte der Oberheſſiſchen Geſellſchaft für Natur- und Heilkunde veröffentlicht. „Man kann, ſagt der Verfaſſer in der Einleitung, auf Grund von Analogieſchlüſſen die Arten als dermalige Endglieder genetiſcher Reihen be— trachten, deren Verbindungsfäden abgeriſſen, deren Stammbaum unbekannt oder unter- brochen iſt, während der Begriff der Va— rietät darin beruht, daß ihr Urſprung durch Zwiſchenglieder nachgewieſen werden kann. Die beiden hauptſächlichſten Proben für den Varietätscharakter beruhen auf einer Züchtung der muthmaßlichen Varietät aus Kleinere Mittheilungen. 441 der betreffenden Stammart (Eduction), oder ihre Zurückführung auf dieſelbe (Re— duction). Durch das hartnäckige Miß— lingen dieſer Verſuche wird der Artcharakter, d. i. die derzeitige Fixation einer Form für unſere Verhältniſſe bewieſen. Ueber- gänge, die ohne genetiſche Verknüpfung beobachtet werden, haben wenig Beweis kraft. Es laſſen ſich z. B. alle denkbaren Mittelſtufen zwiſchen Lactuea scariola und sativa auffinden, ſo daß man zu dem Glauben gedrängt wird, beide Formen müßten zu derſelben Species gehören, aber der Eductions- over Reductionsverſuch iſt bisher nicht gelungen. Noch weniger be— weiſt die Möglichkeit der Baſtardbil⸗ dung. Mimulus cardinalis und M. lu- teus lieferten durch eine ganze Reihe von Generationen unter ſich fruchtbare Baſtarde, und doch ſind dieſe Species ſo echt, wie nur irgend welche in der Welt. Von grö— ßerem Intereſſe für die Artfrage iſt die geographiſche Verbreitung, indem ſonſt nahe Verwandte und vermiſcht vor— kommende Arten ihre Nichtidentität dadurch andeuten, daß ſtellenweiſe die eine oder die andere aus dem gemeinſamen Gebiete iſolirt heraustritt und in anderes Gebiet über— greift, damit ein anderes Entſtehungs⸗ Centrum, oder andere klimatiſche Bedürf— niſſe, oder eine andere Anpaſſungs-⸗Fähigkeit andeutend. Lactuca scariola und virosa, Plantago alpina und maritima verrathen beiſpielsweiſe ihre nahe Beziehung (ſpeci⸗ ſiſche Identität) dadurch, daß ihre Gebiete fi) vollſtändig decken, das kleinere von dem größeren vollſtändig umfaßt wird. Aus ſeinen langjährigen Beobachtungen an 115 verſchiedenen Pflanzenarten leitet Prof. Hoffmann folgende allgemeine Schlüſſe ab: Die Variation iſt quantitativ 6. B. Zwerg- und Rieſenformen) oder partiell (Vergrößerung und Farben- veränderung der Blüthen und Blätter) oder qualitativ, morphologiſch (3. B. radiate oder diskoide Bidens, überhaupt Dimor⸗ phie, zu welcher die Eingeſchlechtigkeit ge— hört). Auf die quantitative Variation haben Klima und Pflege, wie die cultivir⸗ ten Pflanzen beweiſen, den entſchiedenſten Einfluß, auf die partielle nicht. Es gelingt z. B. nicht, die aus der Waſſer⸗ form (mit Schwimmblättern) entſtandene Luftblätterform von Polygonum amphi- bium nach Willkür wieder in die Waſſerform zurückzuführen. Noch mehr innerlich bedingt iſt die Variation in qualitativer Hin⸗ ſicht. Allgemein kräftige Beſchaffenheit eines Individuums, in der Regel von guter Ernährung abhängig, begünſtigt die Varia⸗ bilität, doch kömmt dieſelbe mitunter auch in gleicher Richtung bei Kümmerlingen vor und kann bei Rieſen fehlen. Die Richtung der Variation iſt nicht willkürlich oder all⸗ ſeitig, ſie findet nur in beſtimmten Linien ſtatt, die der Farben nur in einem beſtim⸗ ten Umfange. Der Schritt ift bald lang- ſam, bald ſchnell, mitunter ſogar plötzlich. Chemiſche Einflüſſe zeigten ſich meiſt völlig wirkungslos. Insbeſondere machte kochſalz— reicher Boden die Blätter nicht ſucculenter. Die vermuthete Farbenänderung einiger Blüthen durch mehr oder weniger Kalk mißlang. Zink blieb ohne Einfluß. Nur die künſtliche Blaufärbung der Hortenſie durch Anwendung gewiſſer (chemiſch unver⸗ ſtändlicher) Zuſätze zum Boden bildet bis zu einem gewiſſen Grade eine Ausnahme. Die Schwerkraft ſchien keine Formverände— rung zu verurſachen, es iſt z. B. die Pe- lorienbildung nicht von ihr abhängig. Da- gegen iſt die natürliche morphologiſche Stellung je nach der Achſenordnung von bedeutendem Einfluß in Bezug auf Form⸗ 442 Kleinere Mittheilungen. und Farb-Umbildung, wie ſchon aus der abweichenden Form und Farbe der Central— blüthe mancher Pflanzen (wie Daueus) ge— ſchloſſen werden konnte. Enge Inzucht, reſp. Selbſtbefruchtung befördert nicht die Variabilität. Hinſichtlich der allgemeinen Schädlichkeit der Inzucht (mit Ausnahme beſtimmter Arten) erhielt Prof. Hoff— mann ganz ähnliche Reſultate wie Dar— win. Neue Beobachtungen über ſchützende Ausrüſtung bei Inſekten. In der Londoner entomologiſchen Ge— ſellſchaft (Sitzung vom 6. Juni c.) las Herr J. W. Slater eine Arbeit, in wel— cher er zu erweiſen ſucht, daß lebhaft ge— färbte Raupen in der Regel auf Giftpflan— zen leben, was, unter der unausweichlichen Annahme, daß deren Giftſtoffe in ihren Körper übergehen, dem Vergleiche Darwin's mit den bunten, warnenden Schildern der Gift— gefäße in den Apotheken einen faſt wört— lichen Sinn verleiht. Bekanntlich hat ſich Herr J. Jenner Meir durch zahlreiche Verſuche überzeugt, daß alle Raupen mit glatter Haut und einer den Blättern oder der Baumrinde, worauf ſie leben, ähnlichen Färbung, von gefangenen Vögeln, denen er ſie vorwarf, mit Gier gefreſſen wurden, während auffallend gefärbte, oder mit Haa- ren und Stacheln verſehene Raupen ver— ſchmäht wurden. Die Slater'ſche Arbeit vertieft dieſen Zuſammenhang, indem ſie zeigt, daß es ſich hierbei nicht etwa um Idioſynkraſien handelt, ſondern daß dieſe lebhaften Farben oft wirkliche Giftſignatu— ren darſtellen. Bei der an dieſelbe geknüpf— ten Diskuſſion zeigte Herr Meldola einige Schmetterlinge vor, welche die ein— zigen Ueberbleibſel einer größeren, durch Milben zerſtörten Sammlung indischer Schmetterlinge ausmachten. Dieſe baux restes gehörten durchweg Gattungen an, die auch im Leben gemieden und verſchont werden, ſodaß ſie ſelbſt ihre Nachahmer zu ſchützen vermögen, nämlich den Gattungen Euploea, Danais und Papilio. Die Ei- genſchaft, welche ſie im Leben vor Angriffen ſicherte, dauerte alſo nach dem Tode fort, wie man etwas ähnliches den giftfeſten Ar— ſenikeſſern der Alpen nachſagt. Die auf dieſe Verhältniſſe ſich gründende Mimicry hat eine entfernte Aehnlichkeit mit dem Feudalweſen, in welchem die Hörigen da— durch, daß ſie ſich in die Farbe ihres Lehnsherrn kleideten, Schutz fanden, wenn der Letztere nämlich durch „Giftigkeit“ ſich auszeichnete. Einen der merkwürdigſten Fälle verwandter Art, bei dem ſich wirk— lich ein Inſekt ſeiner Freiheit beraubt und direkt in den Schutz eines gepanzerten Feu— dalgrafen begibt, beobachtete Dr. Fritz Müller im vergangenen Herbſte in Bra— ſilien. „Ich bin kürzlich“, ſchrieb er am 22. Oktober 1876 in einem Briefe an feinen Bruder Dr. Hermann Müller, „mit einem intereſſanten Fall von Geſell— ſchaftsleben zweier Raupen bekannt gewor— den, von denen ich Dir eine durch meinen Freund Scheidemantel aufgenommene Pho— tographie beifüge. Die größere rothköpfige Raupe iſt durch lange verzweigte Stachel— haare oder Dornen geſchützt und lebt auf Maulbeeren und anderen Bäumen. Gleich anderen durch Geruch, Stachelhaare oder andere Eigenſchaften geſchützten Raupen ſitzt ſie auf der oberen Seite der Blätter und iſt hell gefärbt, der Kopf roth, die Haare weiß. Quer über ihren Rücken, zwiſchen den Dornen, ſitzt eine kleine ſchwärzliche Raupe, die ſich durch die Dornen ihres großen Gefährten ſelbſt ſchützt. Ich nahm die kleine Raupe von der großen herunter, aber ſie, nahm bald wieder den nämlichen Platz ein. Um eine Photographie davon zu nehmen, wurde die größere Raupe mit Aether anäſtheſirt, erholte ſich nachher eini— germaßen, ſtarb aber zwei Tage ſpäter. Die kleinere Raupe verließ nunmehr ihren Platz und nahm ihre Zuflucht zu einer anderen Raupe in derſelben Büchſe, auf dieſer ſetzte ſie ſich etwas weiter gegen die Baſis des Abdomen. Bei dem früheren Gaſtgeber ſah die Stelle, wo die kleine Raupe geſeſſen hatte, blaß aus, als wenn dieſelbe dort abgeſcheuert wäre. Die kleine Raupe frißt von oben herab kleine Löcher in das Blatt, auf welchem die größere ruht. So viel ich weiß, iſt kein ähnlicher Fall bisher beobachtet worden.“ Einen Holzſchnitt nach der erwähnten Photogra— phie brachte die engliſche Zeitſchrift Nature. (Nr. 377. 1877.) Ein neuer luftathmender Fiſch. In den Berichten der Pariſer Akademie der Wiſſenſchaften (Bd. 84, S. 309) be— ſchreibt M. Jobert die von derjenigen der Labyrinthfiſche ſehrabweichende Athmungs— art eines kleinen Luftfiſches (Callichthys asper), welcher in Flüſſen und Süßwaſſer— lagunen bei Rio de Janeiro lebt und von welchem es bekannt war, daß er ſtunden— lang außerhalb des Waſſers leben kann. Im Aquarium ſah er dieſen Fiſch in regel— mäßigen Intervallen an die Oberfläche kommen, mit Geräuſch eine Menge Luft einathmen und gleichzeitig eine ziemlich ent— ſprechende Menge aus dem After entleeren. Es zeigte ſich bei weiterer Unterſuchung, daß bei dieſem Fiſche in ähnlicher Weiſe, wie bei unſerem bekannten Schlammpeitzger, ein Theil des Darmkanals zu einem Kleinere Mittheilungen. Athmungsorgane umgewandelt iſt, nur daß daſſelbe in viel ausgiebigerer Weiſe fungirt. Die in den Eingeweiden geſammelte Luft enthielt neben überwiegendem Stickſtoffgas 1,5 — 3,8 % Kohlenſäure, ganz wie die Athemluft höherer Thiere. Der Fiſch bleibt in völlig ausgekochtem Waſſer, ſelbſt wenn daſſelbe mit Oel bedeckt wird, am Leben, da er regelmäßig an die Oberfläche kommt, um zu athmen. In angefeuchteten Gazen unter einer Glocke befand ſich der Fiſch noch nach 24 Stunden ganz wohl, auf trockenen Gazen und in trockener Luft verendete er nach kaum zwei Stunden. Dieſe Beobachtungen können um ſo weniger überraſchen, als ja auch die Lunge höherer Thiere aus einer Ausſtülpung des Nah— rungskanals hervorgegangen iſt. Die Trepanation in vorhiſtoriſchen Zeiten. Auf dem letzten internationalen Con— greſſe für vorhiſtoriſche Anthropologie, welcher im September 1876 in Peſt ab- gehalten wurde, machte Prof. Broca aus Paris iutereſſante Mittheilungen über die nicht ſeltene Vornahme von Schädeldurch— bohrungen in der Vorzeit. Schon im Jahre 1873 hatte Dr. Prunières auf dem Lyoner Congreſſe ein knöchernes Rund ſcheibchen vorgelegt, welches in einen menſch— lichen Schädel geſchnitten war und welches er für ein Amulet hielt, dem man geheime Kräfte zugetraut haben mochte. Broca entdeckte ſpäter in der Sammlung des Herrn von Baye ganz analoge Stücke, die außerdem mit einem Loche durchbohrt waren. Sie ſchienen am Halſe getragen worden zu fein, wie dies noch viele Jahr— hunderte ſpäter bei den alten Galliern üblich war. In Folge dieſer Entdeckung 444 Broca's machte Prunieres die Anthro- pologen auf durchlöcherte Schädel aufmerk— ſam, an denen man ſehr deutliche Spuren von Vernarbung wahrnimmt. Es war hiernach kein Zweifel möglich: Die vor— hiſtoriſchen Menſchen haben wirklich Tre— panationen ausgeführt, und zwar ſowohl bei lebenden Perſonen, wie bei Verſtorbenen. Was das Motiv dieſer chirurgiſchen Ope— ration betraf, jo meint Broca, daß es ſich vielleicht um Beſeſſene gehandelt haben möge, denen man ein Loch in den Schädel gebohrt habe, damit der Dämon, der ſie quälte, frei hinaus könne. Aber die Beſeſſenen galten auch für Heilige und deshalb ſammelte man vielleicht nach ihrem Tode gewiſſe Theile ihres Schädels, um Amulette daraus zu machen. In Bezug auf dieſen Umſtand erinnert Broca dar- an, daß man in drei verſchiedenen Fällen innerhalb trepanirter Menſchenſchädel Amu— lette angetroffen hat, was doch nicht einem Zufalle beigemeſſen werden kann. Es iſt eher wahrſcheinlich, daß dieſen der Trepa— nation unterworfenen Individuen nach ihrem Tode regelmäßig ein von einem andern Trepanirten herſtammendes Amulet als Beiſtand und heiliges Viaticum für ihre Reiſe in die andere Welt mitgegeben wurde. Wenn die Meinung Broca's gegründet iſt, würde der Glaube an ein zukünftiges Leben in dieſen Gegenſtänden ſeine älteſte, übrigens nicht über die neolithiſche Epoche zurückreichende Spur hinterlaſſen haben. Man hat in Wirklichkeit keine durchbohrten Schädel an den älteſten Fundſtätten ange troffen. Die bis jetzt bekannten Schädel dieſer Art beweiſen durch ihre Verbreitung, daß die Trepanation in dem ganzen, das heutige Frankreich bildenden Lande ge— übt worden iſt. Sie find geſammelt wor- den in den Departements Seine, Marne, Grabe gefunden worden. Kleinere Mittheilungen. Lozere durch Prunières, in der Cha- rente durch Gaſſins, in der Champagne von de Baye, in der Grotte von Sordes durch Lartet. Am Schluſſe dieſer wich⸗ tigen Mittheilung zur Urgeſchichte der Mte- dicin und Chirurgie wies Broca auf ähnliche, in Nordamerika gefundene, trepa- nirte Indianerſchädel hin, die aber einem andern Gebrauche ihren Urſprung verdan- ken dürften, da bei ihnen die Durchlöcher— ung ſtets auf dem Scheitel belegen iſt und niemals Spuren von Vernarbung zeigt. Es erhob ſich über dieſen Gegenſtand eine lebhafte Discuſſion, bei welcher unter an— deren Virchow erklärte, daß er bisher die vorhiſtoriſche Trepanation für ſehr zweifelhaft gehalten habe, durch Broc a's Mittheilungen aber völlig überzeugt worden ſei. Pigorini machte auf den Gebrauch ähnlicher Methoden bei den Andamanen aufmerkſam. Schaaff hauſen bemerkte, daß er auf der Verſammlung der deutſchen Anthropologen zu Jena ein von einem Kinderſchädel ſtammendes Knochenſcheibchen geſehen habe, welches durchlöchert war. Die Mutter mag es wie eine Reliquie bewahrt haben. Daſſelbe war inmitten verſchiedener Bronze-Gegenſtände in einem thüringiſchen Die Durchbohr⸗ ung des Scheitels an den Schädeln der alten Rothhäute kehrt auch an anderen Orten wieder, und das Muſeum der Kopenhagener Bibliothek bewahrt einen der— artig durchbohrten Schädel. Die Sitte der alten Belgier, deren Strabo gedenkt, die Köpfe der von ihnen erlegten Feinde am Gürtel als Trophäen aufgehängt zu tragen, mag weit verbreitet geweſen ſein. In der That konnte Montius einen ähnlichen Fund (Trepanirung nach dem Tode) aus Schweden nachweiſen. (Revue scientifique No. 40. Juin 1877.) e MERAN CL, ME WIR pr TE 3 F c ee Literatur und Kritik, Ueber Liebmann's „Analyſis der Wirklichkeit.“ 8 s giebt einige wenige Werke, welche ebenſo wohl das Laboratorium des Naturforſchers, als das Bücherbret ö des Philoſophen zieren ſollten. Unter dieſen rechnen wir neben Kant's „Kritik der reinen Vernunft“ das hochbedeutſame und von großem Erfolg gekrönte Haupt- und Lebens⸗ werk von Friedrich Albert Lange, die „Geſchichte des Materialismus und die Kritik ſeiner Bedeutung in der Gegenwart“ (Iſer— lohn, Bädeker, 1876, 3. Aufl.), die un- gemein belehrſamen „Grundlagen der Phi— loſophie“ von Herbert Spencer (überjegt von Vetter, Stuttgart, Schweizerbart, 1875) und von naturwiſſenſchaftlicher Seite die allgemeiner gehaltenen Schriften eines Darwin, Häckel, Helmholtz, Du— bois-Reymond, Huxley u. A. Dieſem kanoniſchen Kataloge möchten wir auch das Werk: Zur Analyſis der Wirklichkeit, philoſophiſche Unter— ſuchungen von Otto Liebmann, Straß— burg, Trübner, 1876 — als eine für Naturforſcher und Philoſophen gleichmäßig wichtige und intereſſante Schrift anreihen. Dieſes Werk giebt in ſyſtematiſch geord— | neten und zuſammenhängenden Special— unterſuchungen gewiſſermaßen daſſelbe, was die „Geſchichte des Materialismus“ von Lange in hiſtoriſcher, am Schluſſe ſich jedoch zum geordneten Syſtem zuſpitzen— der Darſtellung ausführt. Die Kant'ſche Philoſophie iſt der gemeinſchaftliche Boden, auf dem dieſe beiden Schriften erwachſen find, dieſelbe iſt auch der gemeinſame Bo— den der gehaltvolleren philoſophiſchen Be— ſtrebungen des In- und Auslandes, die— ſelbe iſt endlich auch der gemeinſchaftliche Boden der Naturforſchung und Philoſophie. Der einleitende Aufſatz von Caspari in dieſer Zeitſchrift hat daher mit Recht auf Lange's Geſchichte des Materialismus und Spencer's Werke als auf die ge— meinſchaftlichen Grundlagen hingewieſen, von denen aus der Bund zwiſchen Natur- forſchung und Philoſophie zu ſchließen iſt. Ich habe an anderer Stelle?) nachzuweiſen verſucht, daß die von Lange behauptete Poſition als der alleinige adäquate Aus- druck der modernen Weltanſchauung zu be— trachten ſei. Freilich war es dem leider viel zu früh für die Wiſſenſchaft geſtorbe— nen Manne nicht vergönnt, in ſyſtematiſcher ) S. Hartmann, Dühring und Lange. Zur Geſchichte der deutſchen Philo- ſophie im XIX. Jahrhundert. Ein kritiſcher Eſſay. Iſerlohn, Bädeker, 1877. 446 Literatur und Kritik. Abfolge ſeine Weltanſchauung niederzulegen; allein das erwähnte Werk giebt auf der Grundlage hiſtoriſcher Forſchung und natur— wiſſenſchaftlicher Analyſe in glänzender Form die wichtigſten Gedanken, welche die nächſte Zukunft ſicher beherrſchen werden. Dieſe neue Richtung, für welche wir den im erſten Aufſatz dieſer Zeitſchrift vorgeſchlage— nen Namen „kritiſcher Empirismus“ gerne adoptiren, hat in England in Spencer einen Vertreter gefunden, welcher an ori— gineller Begabung und univerſell-ſynthetiſcher Kraft keinen Rivalen in der Gegenwart findet. Bei ihm iſt daſſelbe charakteriſtiſche Merkmal in prägnanter Weiſe ausgeprägt, welches dem Lan ge'ſchen Werke einen jo hervorragenden Platz in der philoſophiſchen Literatur der Gegenwart anweiſt: Die Ver- bindung der Entwickelungslehre mit dem Kriticismus, alſo mit den beſten Tradi— tionen der engliſch-deutſchen Philoſophie. Die naheliegende Aufgabe, die reformato— riſchen Gedanken der Descendenztheorie in den Ideencomplex der Philoſophie einzu— führen und ſo dem allgemeinen Weltbewußt— ſein der gegenwärtigen Generation einen neuen und zeitgemäßen Ausdruck zu geben, iſt in Deutſchland von verſchiedenen Seiten verſucht worden: der Materialismus hat in Dühring, der Spiritualismus hat in Hartmann die Männer gefunden, welche dieſe Aufgabe zu erfüllen ſich be— ſtrebten; wir halten den Ideencomplex der Genannten im Ganzen und Großen, wie im Einzelnen für unhaltbar. Die kritiſche Richtung hat dieſen Verſuch in beſſerer Weiſe gelöſt, und Lange hat in ſeiner „Geſchichte des Materialismus“ im Ganzen und Großen die Meinung ſeiner Fach- und Zeitgenoſſen präcis formulirt. Nur iſt nunmehr der zwiſchen England und Deutſchland hervor— charakteriſtiſche Unterſchied f ſchriebener Monographien über die wichtig- ſtechend, daß jenes einen Philoſophen erſten Ranges, einen ſyſtematiſch univerſellen, das Ganze zuſammenfaſſenden Denker in Spencer beſitzt, während unſere deutſchen Philoſophen ſich in Specialunterſuchungen vertiefen. Dieſe Theilung der Arbeit iſt nicht nur ganz erklärlich, ſondern auch ſehr zweckmäßig. England, das ſeit mehr als hundert Jahren keinen Philoſophen erſten Ranges mehr geſehen hatte, dürſtet nach jener „allgemeinen Weltauſchauung“, welche uns Deutſchen ſeit nahezu hundert Jahren gäng und gäbe iſt. Ja wir haben ſie all— mälig ſogar ſatt bekommen, dieſe „allgemeine Weltanſchauung“, und die lange ausſchließ— liche Beſchäftigung mit den großen Welt- gedanken hat in der Gegenwart einen ſehr heilſamen Rückſchlag nach der Seite ſpecia— liſtiſcher Unterſuchungen hin hervorgerufen. Es beſteht eine vorſichtige Zurückhaltung über die allgemeinen und letzten Fragen, und mit richtigem Takte wird eine gute Specialunterſuchung bei uns höher geſchätzt, als Beſchäftigung mit allgemeinen und vagen Gedanken, die ja bei uns in Deutſch⸗ land ſeit einem Jahrhundert auf jeder neuen Buchhändlermeſſe dem Dutzend nach zu kaufen ſind. Kurz, es hat eine maßvolle und nüchterne Zurückhaltung Platz gegriffen, und man will erſt die hundert ſpeciellen Vorfragen löſen, ehe man die entſcheiden— den Hauptprobleme in die Hand nimmt. Wenn man oft von philoſophiſcher Er- mattung in Deutſchland ſpricht, ſo iſt dies ein unpaſſender Ausdruck für eine an ſich ſehr heilſame Thatſache. Dieſe kritiſche Zurückhaltung zeichnet auch das genannte Werk Liebmann's aus, welches eine Reihe mehr oder weniger eng verbundener Specialunterſuchungen ent- hält. Es giebt eine Reihe vortrefflich ge— 8 ah F N g ſten Fragen der Gegenwart, aber immer von einem ſpeciellen Problem aus und nur vorſichtig ins Allgemeine übergehend. Es wird in denſelben auf die Conſtruktion eines Syſtems Verzicht geleiſtet, „obwohl ein leitender Grundgedanke nicht fehlt, auf welchen ſie, wie ſämmtliche Magnetnadeln auf den verborgenen Pol, hinweiſen“. Häufig ſtehen die Prämiſſen zu einem transcen— denten Schluſſe unmittelbar nebeneinander, ohne daß die Concluſion gezogen iſt, und anftatt voreiliger Löſungsverſuche giebt der Verfaſſer haarſcharf geſtellte Probleme. Wir können dieſes Verfahren, wie ſchon bemerkt, nur billigen und betrachten das Werk da— rum und auch in anderer Beziehung als eine würdige Ergänzung der „Geſchichte des Materialismus“ von Lange. Das Werk zerfällt der alten Eintheilung der Philoſophie gemäß in drei Abſchnitte, in Erkenntnißtheorie, Naturphiloſophie und praktiſche Philoſophie. Von den ſeit Locke und noch vielmehr ſeit Kant eingebürger— ten Gedanken ausgehend, daß die Prüfung des Erkenntnißvermögens in erſter Stelle geboten ſei, ſucht Liebmann im erſten Abſchnitt die Frage nach den Schranken unſerer Intelligenz zu behandeln. In einer Reihe vortrefflicher Unterſuchungen, welche in Fachkreiſen längſt verdiente Anerkennung gefunden haben, weiſt Liebmann auf die Relativität unſeres Erkennens hin, dem ebenſowenig als irgend ſonſt einem Ding oder einer Funktion in dem Univerſum jene Abſolutheit zuzuerkennen iſt, welche der Tummelplatz der nachkantiſchen dogmatiſchen Philoſophie geweſen, iſt an Relationen, an Bedingungen und Beziehungen, welche ebenſoviele Schranken ſind, iſt unſer Erken— nen gebunden. Dem Grundſatz huldigend: „in certis fortiter, in dubiis prudenter,“ Literatur und Kritik. 47 ſuchung der Geſetze und Tragweite unferes Erkennens in ſieben Abſchnitten, welche von dem Gegenſatz des lerkenntnißtheoretiſchen) Idealismus und Realismus ausgehend, Raum, Zeit und Bewegung, das Problem des Sehens und das der Cau— ſalität ſpeciell unterſuchen und in einer hiſtoriſch gehaltenen Erörterung über die aprioriſchen Beſtandtheile unſerer Erkennt— niß gipfeln. Dieſer Theil der Liebmann'— ſchen Schrift iſt insbeſondere den Natur- forſchern zur Beherzigung zu empfehlen, indem er auf die Relativität der wichtigſten Naturbegriffe: Raum, Zeit und Bewegung hinweiſt. Der zweite Theil, Naturphilo— ſophie und Pſychologie enthaltend, iſt an— dererſeits den Philofophen warm zu em— pfehlen, weil er auf tüchtiger naturwiſſenſchaft— licher Grundlage eine kritiſche Beſprechung der bezüglichen Probleme enthält. Aber mit beſonderem Intereſſe wird der Natur- forſcher die Specialunterſuchungen leſen, welche ſeine Probleme, entblößt von Detail, in univerſeller Faſſung formulirt, die von weiteren Geſichtspunkten aus die wich— tigſten Fragen beleuchtet. Ganz vortreff— lich ſind die Vorbetrachtungen, welche janus— artig auf der einen Seite nach den Ergeb— niſſen der Erkenntnißtheorie zurückſchauen, um auf der anderen Seite die „Natura naturata“ als Gegenſtand der neuen Unter— ſuchungen charakteriſiren. Mit Geiſt iſt der Artikel: „Ueber den philoſophiſchen Werth der mathematiſchen Naturwiſſenſchaft“ ge— ſchrieben, welcher die quantitative Seite der Natur ſcharf charakteriſirt, gegenüber dem köſtlichen, ſpeculativen Unſinn Hegel's, dem, wie Göthe, die Mathematik ebenſo ſehr ein Greuel als — unbekannt war. Der Abſchnitt über „das Atom“ kommt ſachlich mit dem überein, was Caspari in dem einleitenden Aufſatz vertreten hat, und zeigt, — 8 59 * giebt der Verfaſſer eine vortreffliche Unter— 448 daß „Atom“ zunächſt nur „eine Rechen— marke der Theorie“ ſei (S. 296). Freilich möchten wir hier mit dem 57. Renion der Göthe-Schiller'ſchen Sammlung antworten: „Lange kann man mit Marken, mit Rechen— pfennigen zahlen, Endlich, es hilft nichts, ihr Herrn, muß man den Beutel doch ziehn.“ Von beſonderem Intereſſe für die Leſer dieſer Zeitſchrift wird der Artikel ſein: „Platonismus und Darwinismus“. Es iſt keine Frage mehr, wie ſich Kant zum Darwinismus geſtellt hätte — denn es hat ſich bekanntlich ergeben, daß derſelbe Kant, welcher die Lap la ce'ſche Theorie anticipirte, auch den Darwinismus ſchon mehr als hundert Jahre vor Darwin vertreten hat. Schon dieſe Thatſache ſollte diejenigen ſtutzen machen, welche Darwinis— mus mit Materialismus verwechſeln, nicht aus Engherzigkeit, ſondern — ich wage das Wort — aus Enggeiſtigkeit. Der beſchränkte Horizont der Menge verwechſelt beides: Wie mancher Anhänger der neuen Theorie iſt ganz unnöthiger Weiſe ins Lager des Materialismus übergegangen, und wie mancher Gegner iſt dies eben nur darum, weil er glaubt, zugleich auch Materialiſt werden zu müſſen. Vortrefflich iſt da das Wort unſeres Gewährsmannes: „Von dem transcenden— tal⸗philoſophiſchen Standpunkt aus erſcheint der erbitterte Kampf um den Darwinis— mus wie eine Art von Batrachomyomachie.“ Denſelben Eindruck macht dieſer Streit aber auch vom culturhiſtoriſchen Geſichtspunkte aus: Die heliocentriſche Theorie, Koper nikus und Newton, retiſchen und praktiſchen Idealismus nicht vernichtet. Die Erſchütterung des anthro= pocentriſchen Standpunktes ſchafft die Ideale nicht aus der Welt. Die Kurzſichtigkeit haben den theo- | | | | Literatur und Kritik. ängſtlicher Naturen iſt zwar erklärlich und, wenn aus ehrenhaften Motiven entſprungen, achtungswerth: aber ſie iſt doch eben Kurz— ſichtigkeit. Solchen möchten wir dieſen Artikel empfehlen, nicht minder aber auch jenen Stürmern, welche die alten Ideale vom Himmel reißen wollen. Wir würden allerdings indeſſen nicht alles unterſchreiben, was der Verfaſſer ſagt; z. B. iſt die Argumentation auf S. 311 nicht ſtichhal— tig: Der Verfaſſer ſagt, lebendige Natur- weſen ſind die, an denen der Stoff gleich— gültig, die Form weſentlich iſt; umgekehrt iſt es bei unorganiſchen; bei dieſen iſt die Form gleichgültig; z. B. die Geſtalt der Rauchwolke, des Springbrunnens, der Gebirge und Continente, des bemeißelten Marmorblocks allen dieſen iſt ihre Form gleichgültig; ſie könnten auch ohne ſie da ſein. „Dagegen nimm einer Pflanze, einem Thiere ſeine Geſtalt. e ſie mechaniſch, zerſetze ſie chemiſch; und ſie haben aufgehört zu ſein, was ſie waren, Pflanze und Thier.“ In dieſem Raiſon— nement iſt eine Zweideutigkeit im Ausdruck „Geſtalt“ oder „Form“: Die Geſtalt des Thieres iſt eine ſolche, wie ſie nach dem ewigen Spiel der Naturgeſetze, wie ſie nach gelegenheitlichen und weſentlichen Be— dingungen werden mußte, und ganz das— ſelbe gilt z. B. vom Berge. Allerdings iſt dieſem ſeine Geſtalt zufällig, d. h. ob er ſpitz oder breit geworden iſt, aber in demſelben Sinne iſt auch des Thieres Ge— ob der Hund ſchlank oder unterſetzt iſt, iſt die Folge der äußeren Verhältniſſe. Anders verhält es ſich da— mit, daß der Hund, das Thier über— haupt eine Geſtalt, eine ihm weſent— liche Form hat. Aber auch der Berg, ſtalt zufällig: z. B. der Baſaltberg oder der vulkaniſche Berg, muß überhaupt eine Geſtalt haben, Literatur und Kritik. eine nach dem mechaniſchen Geſetz auch ihm weſentliche. Ich kann ebenſo gut ſagen: Nimm den Chimboraſſo, nimm den Tene— riffa, zermalme ſie mechaniſch, zerſetze fie chemiſch. Wirf einen Berg in einen Krater hinein, und wenn er als Lavaſtrom wieder zum Vorſchein käme, kaun man mit demſelben Rechte ſagen: Sie haben aufge hört zu ſein, was ſie waren — Berge — denn geſetzt, es wäre möglich, in einer Rieſenretorte von ungeheurem Umfang einen aus Metall, Mineralien, vulkaniſchem Ge— ſtein u. ſ. w. beſtehenden Berg chemiſch zu zerſetzen, ſo bliebe eben auch nichts vom Berge übrig und die reinen Elemente würden für ſich abgeſondert. Das Argu— ment beweiſt alſo zu viel oder zu wenig, wie man will; und ſo lange man außer— dem über die Conſtitution der Moleküle noch nicht im Klaren iſt, kann man über die Nothwendigkeit oder Zufälligkeit der Geſtalt keine entſcheidende Anſicht aufſtellen. Ganz vortrefflich iſt wieder der Ab— ſchnitt über das Problem des Lebens, welcher mit kritiſcher Vorſicht die Schwie— rigkeiten hervorhebt, die der mechaniſchen Theorie entgegenſtehen; die „Aphorismen der Kosmogonie“ führen uns von der Erde zum Himmel, und die folgenden Ab— ſchnitte über den Inſtinkt, über Menſchen— und Thierverſtand, Gehirn und Geiſt be handeln mit großem Scharfſinn Probleme von großer Tragweite und brennendem Intereſſe. Einen Anhang bietet der dritte Abſchnitt, welcher ethiſche und äſthetiſche Probleme behandelt, und nach der theore— tiſchen Controverſe, nach dem hitzigen Streit über Anſchauungen uns auf das neutrale Gebiet weiſt, auf dem alle Edlen, mögen ſie ſonſt einer Weltanſchauung huldigen, wie ſie auch ſei, ſich begegnen: das Ge— biet des ethiſchen Handelns. Und dies iſt 449 im Streit der Tagesmeinungen der be— ruhigende Pol, dies das Wort, das wir auf allen Fahnen als ſittliches Gebot an— geheftet wiſſen wollen: Edel ſei der Menſch Hülfreich und gut. Jeder von uns iſt der Mittelpunkt einer unendlichen Zeitreihe nach vorn und rückwärts, eines unendlichen Weltraumes, vor deſſen grenzenloſer Schrankenloſigkeit uns Staunen und Grauen ergreift; aber ob wir nun uns für Götterſöhne oder für Gipfel der Thierreiche halten — der Edle, mitten hineingeſtellt in jene Unendlichkeit, findet in der Erfüllung dieſes Gebots Be— friedigung, und — Verſöhnung mit dem Gegner. — Wir können alſo das Werk Jedem empfehlen, umſomehr, als es anziehend und edel⸗populär geſchrieben iſt. Gegenüber den dogmatiſchen Stürmern, welche Alles ſo leicht und einfach, und den blaſirten Nationaliſten, welche alles jo „verteufelt klar“ und ſelbſtverſtändlich auf dieſer Welt finden, betont der Verfaſſer überall die problematiſche Natur der Welt, welche uns ſo viele tauſend Räthſel und Fragezeichen giebt. — Und ſo können wir denn das Schiller'ſche Wort keinesweges mehr zeit— gemäß finden: Feindſchaft ſei zwiſchen euch, noch kommt das Bündniß zu frühe, welches er den Naturforſchern und Traus— cendental-Philoſophen zuruft; dagegen behält der zweite Theil des Diſtichons ſeine Gültigkeit, denn er ſpricht die Noth wendigkeit der Arbeitstheilung aus: Wenn ihr im Suchen euch trennt, wird erſt die Wahrheit erkannt. Die Einen ſuchen mit dem Scalpell und mit der Retorte nach den dauernden Natur— geſetzen; die anderen mit logiſcher Aualyſe a 450 nach den bleibenden Principien, beide ſtreben auf ihre Weiſe nach der einen und ewigen Wahrheit. Straßburg. H. Vaihinger. Friedrich von Hellwald, Cultur geſchichte in ihrer natürlichen Ent— wickelung bis zur Gegenwart. Augs— burg, Lampart u. Comp. 1877. 2. Aufl. Der Zweifel iſt der Vater der Philo— ſophie und der Skepticismus ein nothwen— diges Element der Wiſſenſchaft. Jeder Einzelne muß eine Periode des Skepticis— mus durchmachen, wenn er zu einer wahr— haft wiſſenſchaftlichen und ſelbſtſtändigen Weltanſchauung gelangen will. Allerdings muß er denſelben einmal überwinden und ſeine Anſichten poſitiv geſtalten, aber ſelbſt dann darf eine gewiſſe Doſis Skepticismus nie fehlen. In der Entwickelung der Wiſſenſchaft, insbeſondere der philoſophiſchen, war und iſt es ſtets nothwendig, daß ein— zelne Männer es ſich zur Aufgabe machen, den Skepticismus an und für ſich in der— ſelben zu vertreten. Jede Wiſſenſchaft hat ja die Neigung zum Dogmatismus, der durch ſtarres Feſthalten an einmal gefun— denen und dann feſt formulirten und ver— knöcherten Anſichten jede lebendige Ent— wickelung der Wiſſenſchaft unmöglich macht. Hiergegen iſt dann der antidogmatiſche Skeptieismus das nothwendige Gegen— gewicht. Er bekämpft jeden Dogmatismus, er bringt durch ſeinen Widerſpruch wieder eine friſche, lebendige Entwickelung. Wir können uns die Wiſſenſchaft als eine Stadt denken. Da wird gewiß fort— während da und dort ein Umbau oder Neu- bau nöthig, und ſchadhaft oder unbrauchbar Literatur und Kritik. mehr entſprechende Gebäude müſſen abge— riſſen und ſo ein neuer Baugrund geſchaf— fen werden. Erſt wenn dies geſchehen, können die Neubauten ausgeführt werden. Dieſe deſtructive Aufgabe fällt dem Ske— pticismus zu und den Männern, die ihn vertreten. Sie haben dafür zu ſorgen, daß die freie Entwickelung der Wiſſenſchaft nicht gehemmt wird; daß ſie einen freien Boden für ihre Neubauten findet. Der Aufbau ſelbſt fällt dann ganz außerhalb ihres Gebietes. Zu den hervorragendſten Männern, die ſich in der Gegenwart eine ſolche Auf— gabe geſtellt haben, gehört Friedrich von Hellwald. Es giebt nicht viele, die einen ſolchen Skepticismus vertreten können oder wollen. Soll der Skepticis— mus für die Wiſſenſchaft Werth haben, jo muß er von ernſtwiſſenſchaftlichem Stre— ben ausgehen. Der abſolute Skepticismus, der die Wiſſenſchaft überhaupt läugnet, übrigens bekanntlich durch ſeinen eigenen Grundſatz ſich ſelbſt aufhebt, iſt für die Wiſſenſchaft ebenſo werthlos, als jener bla— ſirte Skepticismus, der alles negirt, um eben überhaupt zu negiren. Die Aufgabe des Skeptikers erſcheint zunächſt auch als eine undankbare und un— ſympathiſche. Iſt auch dem Menſchen auf niederer Stufe der Zerſtörungstrieb eigen, ſo charakteriſirt ſich gerade der höherſtehende durch den Trieb zum Aufbauen, zur Syn- theſe. Erſt die nähere Würdigung des Skepticismus und ſeiner Aufgabe in der Wiſſenſchaft läßt ſeinen eigentlichen Werth erkennen. Zu der deſtructiven Arbeit gehören ſo— dann eine bedeutende Energie, Unerſchrocken— heit, Freimüthigkeit, vor Allem aber völlige Unabhängigkeit von allen Vorurtheilen, gewordene oder den Zeitverhältniſſen nicht Verpflichtungen und Rückſichten. Das ſind Literatur und Kritik. lauter Eigenſchaften, die nicht ſo oft ver— eint zu finden ſind. Wir wiſſen es daher wohl zu ſchätzen, wenn ſich in der Wiſſenſchaft ein Mann findet, der den Skepticismus in ſo treff— licher Weiſe zu vertreten vermag wie Friedrich von Hellwald. Nur wenn wir ihn aber aus dem eben dargelegten Geſichtspunkte betrachten, können wir ihm und ſeinem hier vorliegenden Werke gerecht werden und eine richtige Würdigung deſſelben geben. Gerade der Gegenſtand dieſes Werkes bot Hellwald Gelegenheit, an der Er— füllung ſeiner antidogmatiſchen und ſkepti— ſchen Aufgabe zu arbeiten, und das ener giſche, rückſichtsloſe Vorgehen läßt hier kaum zu wünſchen übrig. Natürlich iſt nicht die ganze Arbeit Hellwald's eine rein negative, ſondern poſitive Elemente ſind ja überall nöthig, wo überhaupt Wiſſenſchaft getrieben wird. Sehr häufig entſpringt das Poſitive nur wieder der ſkeptiſchen, negativen Tendenz. Um nämlich der Bekämpfung, der Nega— tion der dogmatiſchen oder überhaupt vor— herrſchenden Anſicht mehr Gewicht und Nachdruck zu verleihen, vertheidigt Hell- wald gerade immer die entgegengeſetzten oder unterdrückt erſcheinenden Anſichten. Hat irgendwo die idealiſtiſche Auffaſſung das Uebergewicht, dann tritt er auf die Seite des Materialismus, hat das demo— kratiſche oder republikaniſche Prinzip die Oberhand, dann vertheidigt er das ariſto kratiſche oder monarchiſche u. ſ. w. Es iſt klar, daß von einer einheitlichen Ten— denz hier nicht die Rede ſein kann, daß vielmehr daraus ein ſtetes Abſpringen von einer Anſicht zur anderen erfolgt. Das iſt aber von einem Vertreter des Skepticismus entgegengeſetzten 451 nicht anders zu verlangen. Uebrigens hat Jeder, auch der Skeptiker, ſeine poſitive Privatanſicht, eine Vorliebe für dieſe oder jene Richtung, und dieſe iſt bei Hellwald augenſcheinlich der Naturalismus. Der geſammte Standpunkt, auf wel— chen ſich Hellwald bei der Behandlung der Culturgeſchichte ſtellt, erklärt ſich aus dem eben Geſagten. Bisher war die Be— handlung der Culturgeſchichte vorwiegend eine idealiſtiſche, vom Geiſte ausgehende, eine hiſtoriſch-philologiſche und philoſophiſche; die naturaliſtiſche, d. h. von der Natur- wiſſenſchaft und der „natürlichen Entwicke— lung“ ausgehende Behandlungsweiſe war ziemlich ſelten; außer dem Werke von Kolb wüßten wir hier kaum eines hervor— zuheben. Dies war natürlich Grund ge— nug für Hellwald, ſich auf dieſen „unterdrückten“ Standpunkt zu ſtellen, für den er ja ohnedies ſchon eine Privatneigung beſitzt. Mit der ganzen Behandlungsweiſe hängt es auch zuſammen, daß gerade die Schattenſeiten der menſchlichen Culturent— wickelung grell hervortreten, während die ideale Seite der Menſchheit mehr zurück— tritt. Dadurch erhält das Werk einen unwillkürlichen peſſimiſtiſchen Charakter. Wenn nun auch den Meiſten ein Werk der idealiſtiſchen Richtung, wie M. Car— rière's prachtvolle Culturgeſchichte („Die Kunſt im Zuſammenhang mit der Cultur entwickelung“) einen viel ſympathiſcheren Eindruck machen wird, ſo kann doch auch Niemand nach dem von uns Dargelegten an dem Werthe und der Bedeutung dieſes Werkes von Hellwald zweifeln. Es iſt gerade ein Stolz für die ewig junge, deutſche Wiſſenſchaft, daß ſie zur ſelben Zeit zwei Werke hervorgebracht, welche, jedes in ſeiner Art vortrefflich, die zwei Standpunkte ver⸗ 452 treten und fo es verhüten, daß die Wiſſen— ſchaft jemals einſeitig wird. Auf Einzelheiten dieſes Werkes einzu— gehen, iſt hier nicht der Ort; nachdem wir den allgemeinen Charakter deſſelben feſt— geſtellt haben, können wir nur wenige Hauptpunkte noch hervorheben. Es laſſen ſich in den Anſichten und Theorien Hellwald's im Einzelnen manche Fehler und Irrthümer nachweiſen; aber bei einer ſolchen Fülle des Materials iſt dies wohl verzeihlich. Es iſt keine kleine Aufgabe, jo verſchiedene Gebiete, wie Naturwiſſenſchaft, Geographie, Geſchichte, Sprachwiſſenſchaft, Sociologie, Politik u. ſ. w., gleichmäßig und vollſtändig zu beherrſchen. Und was Hellwald in dieſer Hinſicht geleiftet, iſt aller Anerkennung werth. Zu dem bürgt ja gerade der Skepticismus des Verfaſſers dafür, daß er an irrigen Anſichten nicht feſthalten, ſondern ſie in künftigen Auflagen durch richtigere erſetzen wird. Vom Standpunkte philoſophiſcher Be trachtung aus iſt das zweite Kapitel des erſten Bandes: „Die ſocialen Geſetze“, das intereſſanteſte und hervorragendſte. Die materialiſtiſche Tendenz tritt hier allerdings oft ſehr ſtark hervor. Sätze wie dieſe: „Das Denken iſt eine verdichtete Beweg— ung,“ oder „überhaupt ein verdichtetes Wirken von Naturkräften,“ „der menſch— liche Geiſt iſt nur eine potenzirte Natur- kraft“, und viele ähnliche gehören zum Materialismus und verfallen deſſen Kritik. Ein ſehr intereſſanter Theil dieſes Ka— pitels iſt: „Religion und Ideal“. Wir ha— ben mit Vergnügen bemerkt, daß hier nicht mehr wie in der erſten Auflage Ideale, Recht, Tugend u. ſ. w. ſo grell verurtheilt werden, daß man glauben könnte, der Ver— faſſer halte den Kampf Aller gegen Alle Literatur und Kritik. auch im menſchlichen Daſein für das allein Richtige, alles andere aber für Unſinn. In dieſer Auflage iſt Alles das milder und gemäßigter; die grellſten Stellen ſind durch andere erſetzt. Immerhin glauben wir, daß hier der Skepticismus doch noch zu weit geht. Es ſei ihm jeder Dogma— tismus in Wiſſenſchaft, Religion und Leben verfallen; aber die Ideale des Guten und Schönen ſelber ſind eben kein Dogmatis— mus, ſondern fie find die unerſchütterlichen Grundſäulen alles wahren Menſchenthums. Wenn der extreme Skepticismus jo weit geht, uns dieſe zu zerſtören, dann iſt er überhaupt mit allem zu Ende. Nur ſoll man ſich dann nicht einbilden, daß die Wiſſenſchaft und gar erſt die materialiſtiſche, beſtehen bleibe; fie fällt ſchon vor den Idea— leu. Es iſt unbegreiflich, wie Hellwald fi jo feſt auf die Wiſſeuſchaft ſtützt, nach— dem er die Ideale für Irrthümer erklärt hat. Das Schöne und Gute iſt doch das un— mittelbar gewiſſeſte und ſicherſte für uns, während es mit der Wahrheit doch gerade nach ſkeptiſcher Anſicht oft ſehr zweifelhaft ausſieht. Wenn nun Hellwald gegen den Aus- ſpruch von Henne am Rhyn proteſtirt, „daß ihm jeder Idealismus ein Greuel ſei“, ſo ſind wir völlig überzeugt, daß er praktiſch ein großer Idealiſt iſt, nur daß eben ſein theoretiſcher Idealismus wiſſen— ſchaftlich ſich nicht begründen läßt. Denn wenn man einmal die Ideale als Irrthümer | erklärt hat, dann helfen alle Beſchönigun⸗ gen nichts mehr. Das iſt eben dann der Illuſions-Idealismus, der Standpunkt von A. Lange und E. Vaihinger, über den E. v. Hartmann kürzlich eine ſo gelungene Satire geſchrieben hat (i. ſ. Neukantinismus, Hegelianismus 2c.). Wenn wir damit zeigen wollten, wie Literatur der Skepticismus leicht zu extrem werden | | Beiträge zur Descendenz- Theorie kann, jo wird doch Niemand dem Verfaſſer einen zu ſchweren Vorwurf daraus machen. Jeder weiß ja, daß, wenn man einmal in einer Richtung ſo energiſch vorgeht, das ihres höchlichſt verſchiedenen Charakters Haltmachen und Einhalten nicht ganz leicht iſt. Sollen wir nun noch auf einzelne be— ſonders hervorragende und werthvolle Ab- ſchnitte hinweiſen, fo nennen wir dieſe: „Die Morgenröthe der Cultur“ und Thiere ſchnell die Schattirungen ihrer beſonders „Die Anfänge der Familie“; hier finden ſich eine Menge intereſſanter Stande ſind, um Verfolgern und Verfolg— Anſichten und Thatſachen, insbeſondere aus dem Gebiete der Urzeit der Culturent— wickelung. In dem Abſchnitte über die alten Hellenen iſt beſonders wichtig die kri— die der Verfaſſer als durchaus nicht fo leuchtend hinſtellt, wie dies gewöhnlich ge— ſchieht („Familienleben und Hetärismus“). Sodann bietet manches Intereſſante das Kapitel über das „Aufkommen des Chriſten— thums“, im zweiten Bande „Mönchsthum und Kloſterweſen“, dann „Aberglauben und Wunder“ mit intereſſanten Mittheilungen über alte Feſte und Gebräuche, und ſchließ— lich der Schlußabſchnitt über „Die Cultur der Gegenwart“. Wir müſſen es uns, wie ſchon bemerkt, verſagen, auf dies Alles im Einzelnen einzu— gehen und können zum Schluſſe nur noch den Wunſch und die Hoffnung ausſprechen, daß alle Leſer mit uns übereinſtimmen, wenn wir ſagen, daß dieſes Werk eine hoch— bedeutende, dankenswerthe Leiſtung eines energiſchen Geiſtes iſt. Friedr. v. Goeler-Ravensburg. und Kritik. a 453 von Dr. Georg Seidlitz, Leipzig, Wilhelm Engelmann, 1877. Das vorliegende Werk bringt zwei trotz gleich willkommene und ſchätzenswerthe Arbeiten, nämlich erſtens eine hiſtoriſch— kritiſche Darſtellung der Entdeckungsgeſchichte und des Weſens jenes vollkommenſten aller Anpaſſungsvorgänge, durch welchen gewiſſe wechſelnden Umgebung anzunehmen im ten gleich ſchwer erkennbar zu werden, und zweitens die wohlgelungene Vertheidigung ae der Darwin'ſchen Theorie gegen einen tiſche Betrachtung der ſittlichen Zuſtände, der ſchmerzlichſten und beklagenswertheſten Angriffe, die fie bis jetzt erfahren hat, gegen die letzten Schriften Ernſt v. Baer's. Die chromatiſche Function, welche in der Regel durch Füllung und Leerung be— ſonderer ſternförmiger, unter der Oberhaut gelegener Farbſtoffzellen, deren Inhalt ſchwärzlich, bläulich, grünlich oder röthlich durch die Oberhaut hindurchſchimmert, her— vorgebracht wird, hat zuerſt beim Chamä— leon die Aufmerkſamkeit der Menſchen er— regt, und ihrer wiſſenſchaftlichen Erforſchung geht wie gewöhnlich eine abenteuerliche (von dem Verfaſſer kaum berührte) Vorgeſchichte voraus. Die wiſſenſchaftliche Erforſchung beginnt mit der Beobachtung Stark's, welcher 1830 wahrnahm, daß Ellritzen, Stichlinge, Schmerlinge und Barſche mehr oder weniger ſchnell die Schattirung der Gefäße annahmen, in denen ſie gehalten wurden, ſo daß ſie in offenen, weißen Porzellangefäßen hellſchimmernd, in bedeck— ten, dunklen Gefäßen bald ſchwärzlich wur— den. Die Weiterführung dieſer Beobacht— ungen, die Entdeckung und Nachweiſung 454 der Pigmentzellen bei verſchiedenen Thieren, die Unterſuchungen über den Mechanismus des geheimnißvollen Borg anges, werden uns bis zu der aufklärenden Entdeckung Pouchet's (1871), nach welcher die Auslöſung dieſer Function nur bei ſehenden Thieren, alſo vom Auge aus erfolgt, mit der aus— gezeichneten Literaturkenntniß, die wir bei dem Verfaſſer gewöhnt ſind, vorgeführt. Die „chromatiſche Function,“ ſagt er am Schluſſe dieſes Theiles ſeiner Beiträge, „iſt eine Reflex-Erſcheinung, die durch Ver— mittelung der Augen und des Nerven— ſyſtems (bei Fiſchen des Sympathicus) ſich als Contraction der Chromatophoren bei hellem Licht, und als Expanſion der— ſelben im Dunklen äußert. Sie iſt ſo— mit eine ſympathiſche Färbung, die aber nicht conſtant bleibt, ſondern analog dem halbjährlichen Haar- oder Federwechſel je nach dem Aufenthaltsort verſchiedene In— tenſität annimmt. Wir müſſen alſo den ſympathiſchen Farbenwechſel zu den ſchützen— den Eigenſchaften rechnen und können da— her annehmen, daß er als Ausrüſtung den Feinden gegenüber durch Naturzüchtung entſtanden iſt, indem dieſelben Ge— bilde in der Haut, die anderwärts viel— fach zu anderen Ausrüſtungen wurden (ſexueller Schmuck u. ſ. w.), auf Lichtreiz mit Formveränderung zu reagiren be— gannen.“ Es könnte ſcheinen, als ob dieſe Dar— ſtellung mit der nachfolgenden Vertheidig— ung der Darwin'ſchen Theorie gar keine Berührungspunkte habe, indeſſen möchte Ref. darauf aufmerkſam machen, daß dieſe farbeändernden Fiſche, Cephalopoden und Amphibien vielleicht die beſten „Vorleſ— ungs⸗Thiere“ ſind, um hartköpfigen Geg— nern die Fundamentalgeſetze der Dar— win'ſchen Theorie ad oenlos zu demon— Literatur und Kritik. ſtriren. Nicht allein der Vorgang der Anpaſſung verläuft hier vor dem Auge des Beobachters, ſondern man würde auch die Geſetze der natürlichen Ausleſe ſchnell— ſtens durch Fiſche demonſtriren können, die ihren Feinden zum Opfer fallen, wenn ſie nach Durchſchneidung des ſympathiſchen Nerven ihr Anpaſſungsvermögen, ſei es auch nur theilweiſe, eingebüßt haben. Was die ausführliche Vertheidigung der Darwin'ſchen Theorie gegen die An— griffe eines ihrer verehrungswürdigſten „Mitſchuldigen“ betrifft, ſo müſſen wir ſagen, daß der hingeworfene Fehdehand— ſchuh von keinen beſſeren Händen aufge— nommen werden konnte. Wie naheliegend und ſelbſt entſchuldbar wäre es geweſen, den berühmten Gegner, der allem Anſcheine nach die Darwin'ſche Theorie gar nicht aus den Originalquellen gekannt hat, ſie vielmehr beſtändig mit den Träumereien der Oken'ſchen Schule, mit Kaup'ſchem Blödſinn und den Mißverſtändniſſen un- wiſſender Gegner legirt und dann gegen dieſe eigenen Wahngebilde zu Felde zieht, mit Schmach und Hohn heimzuſchicken. Nichts von alledem iſt hier geſchehen. In durchaus würdiger, ſachgemäßer Weiſe weiſt der Verfaſſer Satz für Satz die Baer'- ſchen Einwände als ſolche zurück, welche die Darwin'ſche Theorie meiſt gar nicht an— gehen, und dies geſchieht in einer ſo ruhi— gen und überzeugenden Weiſe, daß das Schickſal doppelt zu beklagen iſt, welches den hochverdienten Forſcher verhinderte, dieſe gründliche Beſeitigung feiner Bedenken ken— nen zu lernen. Er würde ſich nämlich bald überzeugt haben, daß ſeine eigenen Anſichten nur durch eine unmerkliche Nü— ance von denen Darwin's, die er leider nicht gekannt hat, abweichen. Die Vorurtheile, welche von Baer 53)ß—d : BRUT RN Literatur und Kritik. der Darwin'ſchen Theorie entgegen— brachte, ſind im Weſentlichen die Folgenden: Erſtes Mißverſtändniß. Die Darwin 'ſche Theorie verabſcheue den Zweckbegriff. Sie verabſcheut aber nur den teleologiſchen Begriff des bedachten Zweckes, der ſeinerſeits von Baer fo wenig anmuthete, daß er ihn durch den beſondern Begriff der Zielſtrebigkeit erſetzen wollte, welcher von dem natur— hiſtoriſchen Begriff des gewordenen Zweckes der Darwinianer kaum weſentlich verſchieden, zudem im Ausdrucke unglücklich und daher überflüſſig erſcheint. Zweites Mißverſtändniß. Die Dar win'ſche Theorie wolle die Anſichten der Naturphiloſop;hen aus dem Anfange des achtzehnten Jahrhunderts erneuern, nach denen unter anderm Thiere aller Klaſſen zu Vorläufern des Menſchen gemacht wurden. Es berührt ſonderbar, bei einem ſo gründ— lichen Gelehrten wie von Baer, den Aberglauben zu finden, die Darwinianer ſähen ſelbſt Inſekten und Vögel als Ahnen der Wirbelthiere und des Menſchen an. Drittes Mißverſtändniß. Die Descendenztheorie nähme (was ihr nur von unwiſſenden Gegnern untergeſchoben wor— den iſt) den Uebergang heutiger Typen in andere heutige Typen an. Viertes Mißverſtändniß. Die Selectionstheorie lehre die Umbildung eines hochſpecificirten Organs in ein anderes hoch— ſpecificirtes, ſtatt beide aus einer einfachen Grundlage herzuleiten. Fünftes und ſechſtes Mißver— ſtändniß. Die Darwin'ſche Theorie be— haupte die phyſiologiſche Gleichwerthigkeit des menſchlichen Fußes und der Hinterhand der Affen und wolle den Unterſchied zwi— ſchen Menſch und Affen verwiſchen, während ſie nur die anatomiſche Gleichwerthigkeit ge— daß er nannter hinterer Gliedmaßen nachweiſt. Hier— bei macht der Verfaſſer die ſehr treffende und unſeres Wiſſens noch nicht in dieſer ſchlagenden Form vorgebrachte Bemerkung, daß die große Zehe des Menſchen durch ihre die anderen Zehen ſo erheblich über— wiegende Ausbildung den Beweis liefere, daß der menſchliche Fuß aus einer ehema— ligen Hand hervorgegangen iſt, denn nur bei einem wirklichen Gebrauche der Extre— mität als Hand könne eine derartig über— wiegende Größe und Stärke des erſten Fingers erworben worden ſein. Es wäre natürlich ſehr zu wünſchen, daß auch die zahlreichen principiellen Geg— ner der Darwin'ſchen Weltanſchauung, welche durch Partei-Reklame verlockt, ſich ohne ſelbſtſtändiges Urtheil an die ſchwer— wiegende Baer'ſche Autorität klammern, wenigſtens gegen ſich ſelbſt ſo ehrlich wä— ren, daß ſie auch dieſen Commentar läſen, der durch eine beſondere Tabelle den fort— laufenden Vergleich ſehr leicht gemacht hat, ſo daß man wirklich die Ba er'ſchen Ab— handlungen mit den Seidlitz'ſchen An— merkungen zuſammen leſen kann. Der Verfaſſer war übrigens zu dieſer Arbeit noch ganz beſonders dadurch ausgerüſtet, einmal vermöge ſeiner genauen Kenntniß der einſchlägigen Literatur die trüben Quellen der Baer'ſchen Mißver— ſtändniſſe im Voraus kannte, dann aber auch, weil ſeit jeher ſein Beſtreben dahin gerichtet war, die Terminologie der dar— winiſtiſchen Theorie feſtzuſtellen, Vorgänge und Begriffe aus einander zu halten und mit feſtſtehenden techniſchen Namen zu be— zeichnen, die bisher nur zu oft mit einan— der verwechſelt worden ſind. Dieſes Ver— dienſt iſt um ſo anerkennenswerther, als ſich auf dem neutralen Boden der Dar— win 'ſchen Theorie jo viele Forſcher aus 455 | 456 angrenzenden Gebieten begegnen, bei denen ein alle Einzelheiten umfaſſendes Studium kaum vorausgeſetzt werden kann. In die— ſer Richtung wird die Bekämpfung der Baer 'ſchen Mißverſtändniſſe auch denjeni— gen Anhängern der Theorie von Werth ſein, die durch eigene poſitive Kenntniſſe Polyhiſtor Geßner, der die Naturkörper hinlänglich gegen dieſelben gefeit ſind. Dringend wünſchen möchten wir, daß der Verfaſſer ſeinen Plan, ein „Wörterbuch der Descendenz-Theorie“ auszuarbeiten, in welchem neben jedem Worte alle die— jenigen Stellen aus den Werken Dar— win's und ſeiner Nachfolger angeführt werden, welche den richtigen Begriff feſt— ſtellen, nebſt den hervorragendſten Bei— ſpielen mißbräuchlicher Verwendung bald zur Ausführung brächte. K. Herder als Vorgänger Darwin's und der modernen Naturphi— loſophie. Beiträge zur Geſchichte der Entwickelungslehre im 18. Jahrhundert von Friedrich von Bärenbach. Ver— lin, Theobald Grieben, 1877. Der Verfaſſer zeigt in vorliegender Schrift, daß Herder in mehreren ſeiner Werke, namentlich in ſeinen „Ideen zu einer Philoſophie der Geſchichte der Menſch— heit“, in vagen Umriſſen einige Anſichten ausgeſprochen hat, welche der Darwin’- ſchen Weltanſchauung nicht gerade zumider- laufen. Es iſt aber ein entſchiedener Irr— thum, Herder für den Urheber dieſer Gedanken zu halten und ihn deshalb mit Ueberſchwenglichkeit als den Johannes der modernen Weltanſchauung zu preiſen. Her— der war eine weſentlich receptive und an— empfindende Natur; die von ihm in wohl— lautende Form gebrachten Ideen waren Literatur und Kritik. längſt im Umlauf, namentlich hatte ſie Kant in einer viel prägnanteren Faſſung ausgeſprochen, wie dies Profeſſor Fritz Schultze in ſeiner, dem Verfaſſer wie es ſcheint unbekannt gebliebenen, Arbeit „Kant und Darwin“ ſo überſichtlich dargethan hat. Aber ſelbſt bis auf den deutſchen anordnen wollte in eine einzige große Reihe, vom Mineral bis zum Menſchen, iſt dieſe Wiederanknüpfung an die bei den Arabern erhaltene Naturphiloſophie der Alten zurück zu verfolgen. Wenn unſerm Herder in dieſer Sache ein Verdienſt zuzuſprechen iſt, ſo lag es darin, die Idee einer Geſchichte vor der Geſchichte auf— genommen zu haben, aber auch hierin waren ihm ja Buffon, Maillet und die Verfaſſer der Sintfluth-Romane lange vorausgegangen. Mit einigem guten Wil- len freilich kann man in den unſchuldigſten Auseinanderſetzungen die tiefſte Propheten weisheit erkennen. Die bemerkenswertheſte Stelle, welche der Verfaſſer auffinden konnte, giebt eine lebhafte Illuſtration für die Bedenklichkeit ſolcher Hineindeutungen: „Alles iſt im Streit gegen einander“, ſchrieb Herder, „weil Alles ſelbſt be— drängt iſt; es muß ſich ſeiner Haut weh- ren und für ſein Leben ſorgen. Warum that die Natur dies? Warum drängte ſie ſo die Geſchöpfe auf einander? Weil ſie im kleinſten Raum die größte und vielfachſte Anzahl der Lebenden ſchaffen wollte, wo alſo auch Eins das Andere überwältigt und nur durch das Gleich— gewicht der Kräfte Friede wird in der Schöpfung. Jede Gattung ſorgt für ſich, als ob ſie die einzige wäre; ihr zur Seite ſteht aber eine andere da, die ſie ein— ſchränkt, und nur in dieſem Verhältniß entgegengeſetzter Arten fand die Schöpfer in Literatur und Kritik. das Mittel zur Erhaltung des Ganzen.“ „Wer hierin nicht die vollkommen entwickelte Lehre vom Kampfe ums Da— ſein erkennen kann,“ ruft der Verfaſſer mit Extaſe, „den verweiſe ich auf Dar— win 's „Natural selection“, um ſich das Weſentlichſte ins Gedächtniß zurück zurufen.“ Der Ref. iſt in der höchſt Stelle nichts finden zu können, als eine Paraphraſe des fünftauſendjährigen Gemein— platzes, daß das Leben ein Kampf iſt. Empedokles, als er philoſophirte, daß die Welt aus dem Widerſtreit der Dinge hervorgegangen ſei, daß einfachere und un— vollkommene Pflanzen und Thiere den vollkommeneren vorausgegangen ſeien, daß auch der Menſch von Thieren abſtamme, daß das Beſtreben aller Weſen, mit ihrer Umgebung in ein Gleichgewicht zu gelan— gen, die Urſache der Zweckmäßigkeit ſei, war offenbar der Dar win'ſchen Theorie viel näher, als Herder, der in dem Kampfe Aller gegen Alle nur ein Mittel zur Erhaltung des Ganzen ſah. Eben— ſo verhält es ſich mit allen übrigen an— geführten Stellen aus Herder's Werken; ſie beweiſen nichts weiter, als daß ſich der große Humaniſt die Wege Kant's und anderer Forſcher ſeiner Zeit über Welt und Natur angeeignet hatte, um ſie in anmuthender Form und guter Ordnung wieder zu geben; einen Originaldenker aus ihm machen zu wollen, müſſen wir für gänzlich verfehlt halten. K. Charles Darwin, Die Wirkungen der Kreuz- und Selbſtbefruch— tung im Pflanzenreich. Aus dem Engliſchen überſetzt von J. Victor Ca- nr W eee 457 rus. Stuttgart, E. Schweizerbarth'ſche Verlagsbuchhandlung (Ed. Koch), 1877. Da wir eine ausführliche Analyſe die— ſes grundlegenden Werkes aus der beru— fenſten Feder bereits im erſten Hefte dieſer Zeitſchrift gebracht haben, bleibt uns heute nur noch übrig, darauf hinzuweiſen, daß t N nunmehr die deutſche Ueberſetzung deſſelben, ſchmerzlichen Lage, trotz alledem in dieſer von der Hand des nämlichen Naturforſchers, der ſich durch eine muſtergültige Ueber— tragung der ſämmtlichen Werke Darwin's um die Ausbreitung ſeiner Lehre in Deutſch— land ſo hochverdient gemacht hat, vorliegt. Die Ausſtattung iſt eine würdige. Charles Darwin und ſeine deut— ſchen Anhänger im Jahre 1876. Eine Geſchichte der deutſchen Ehrengabe zu Darwin's 69. Geburtstage von E. Rade. Straßburg im Elſaß. J. Schneider'ſche Buchhandlung, 1877. Der Rendant des Weſtphäliſchen Pro- vinzialvereins für Wiſſenſchaft und Kunſt, Nechnungsrath Rade in Münſter, regte im vorigen Jahre den Gedanken an, dem großen Reformator der Naturwiſſenſchaften ſobald als möglich von ſeinen deutſchen Anhängern ein Zeichen ihrer Verehrung und Liebe in Geſtalt eines ſchmuckvoll ausgeſtatteten photographiſchen Albums dar zubringen. Dieſer Gedanke fand den größ— ten Beifall in — außerdeutſchen Ländern, in Oeſterreich und in den Niederlanden, welche ihrerſeits eine entſprechende Ovation veranſtalteten. Aus der deutſchen Gelehrten Republik blieben nicht wenige der nam— hafteſten Vertreter zurück, und nur der Opferwilligkeit einer kleineren Schaar, vor Allen des oben genannten Urhebers, des Ma— lers und Dichters Arthur Fitzer in Bre— 458 Literatur und Kritik. men, einiger namhafter Verlagsfirmen u. A. iſt es zu danken, daß die 176 Gratulanten am 12. Februar c. in würdiger Ausſtat⸗ tung vor dem Gefeierten erſcheinen konnten. Der in vorliegender Schrift niedergelegte Rechenſchaftsbericht iſt durch die angedeute— ten Verhältniſſe zu einem Zeitbilde ge— worden, in welchem es neben dem erwär— menden Lichte auch an dem „Schatten der Wiſſenſchaft“ nicht mangelt. Für das Nähere verweiſen wir Wißbegierige auf das Schriftchen ſelbſt, aus welchem wir uns erlauben, das ſchöne Widmungsgedicht mitzutheilen, welches das Album, ebenſo wie das künſtleriſch ausgeführte Titelblatt. Herrn A. Fitzer verdankt. An Charles Darwin. Wie lag im kindlichen Entzücken Der Menſch im Arme der Natur! Sie liebend nah ans Herz zu drücken Füllt er mit Göttern Berg und Flur: Die Dryas in des Haines Sauſen, Die Nymphe grüßt aus Born und Bach, Und ernſtes Vaterwort im Brauſen | Des Donners der Kronide ſprach. Da ging in heilig großen Schlägen Ein ein'ger Puls durch alle Welt, Und Schmerz und Luſt, und Fluch und Segen Hielt alle Weſen eng geſellt. Wohl wob der Mythus ſeine Hülle Um des Geſetzes dunkle Norm, Doch des Lebend'gen reiche Fülle War eines Geiſtes klare Form. Wie längſt verſcherzt! Wie längſt verloren! Das brüderliche Band zerriß. — Zum Frevler ward der Menſch, zum Thoren, Verſtoßen aus dem Paradies. Er, den zu ſeinem Ebenbilde Ein Gott erſchuf in ew'ger Huld, Ein Sünder irrt er im Gefilde Des Jammers und der Todesſchuld. Und rings entgeiſtert ſtarrt nun blöde, Getroffen von des Dogmas Fluch Natur in ſchauervoller Oede, Ein Saitenſpiel, das man zerſchlug; Vom Meſſer der Syſteme grimmig Zerfleiſcht und mumienhaft verdorrt, Die lebenglühend, tauſendſtimmig Emporgejauchzt als Ein Akkord. Da kamſt Du — und im Getrennten Die Einheit fand Dein Forſcherblick; Den tief entzweiten Elementen Gabſt Du die Harmonie zurück. Du ſahſt im ewigen Verwandeln Der Dinge weitverknüpftes Netz, Und in dem räthſelvollen Handeln Des Weltalls ſahſt Du das Geſetz. Nicht mehr vom Paradies vertrieben Schweift nun des Menſchen banger Lauf; Er geht im Haſſen wie im Lieben In der Geſchwiſter Reigen auf. Und tobt mit ungeheurem Wüthen Endlos ums Daſein Krieg auf Krieg: Die Schmerzen wird ein Gott vergüten, Denn ſieh! — Die Beſten krönt der Sieg. Die Muſe ſcheut vor Weihrauchſpenden, Vor breiten Lobgeſanges Prunk; Doch zu den Bildern, die wir ſenden, Fügt ſie die ſchlichte Huldigung. Empfang' in ihnen wen'ge Zeugen — Der Tauſende ſo wen'ge nur — Die Deinem Genius ſich beugen Erkenner Du der All-Natur! >-090— Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig. — CH: 2.299967) dr 3 rl 4 * * 3 1 * * 2 1 e A fe N 1 BR ji . . s van BT Urdu‘. r 1 * 4 * D 7 — A 3 9088 00876 3807