_e U. S. NATIONAL MUSEUM | LIBRARY OF Henry Guernsey Hubbard Eugene Amandus Schwarz % DONATED IN 1902 ACCESSION NO... AR Br KOSMON. Zeitschrift für die gesamte Entwickelungslehre, unter Mitwirkung zahlreicher namhafter Forscher herausgegeben von DE ’B..Vetter Jahrgang 1884. Erster Band. Januar — Juni. (Der ganzen Reihe VIII. Jahrgang. XIV. Band.) Mit mehreren Holzschnitten. STUTTGART: E. Schweizerbart’sche Verlagshandlung (E. Koch). 1884. Abhandlungen. Seite Blytt, Prof. A’, Einige Bemerkungen zu Cl. König’s „Untersuchungen über die Theorie der wechselnden kontinentalen und insularen Klimate“ IB RKosmas 1883 .. Al. W. ARE: 15 SE 51. Brandt, Dr. K., Über Chlorophyll im he. URN. > Yan Eee, Breitenbach, Dr Wr. MaimieryibeinSeetreren 1. Urs. ri IE, — — Zoologische kreisen per Segelschift 1... 6} —_— De Fälle von schützender Ähnlichkeit aus der brasilianischen Pro vinz Rio Grande do Sul. (Mit 3 Holzschnitten) . ... . 2 2.2... 204 Bere lräumen und Wachen‘. 2. SW 1 — — Von der Macht des Geistes . . IE ER SERIEN, BR 2A — — Die Entwickelung der Sittlichkeitsides. et BE RAT Dellingshausen, Baron N., Die Schwere oder das Wirksamwerden der potentiellen Energie, ne Artikel -... " mw .2.07221267. 7836: Aa Eisig, Dr. Hugo, Biologische Studien, angestellt in der Zoologischen Station ins Neapel, VII —-XT...... 0. 303 Focke, W. O., Nägeli’s Einwände gegen die Blumsnthecriei elantert an den Nachtfalterblumen EARe 2 N EERZI Forsyth Major, C. J., Eos lapkisthe nenn ER ET Herzen, Prof. Dr. A., Die Veränderungen des Selbstbewußtseins . . 321 Hoffer, Prof. Dr. inne, Einige bisher unbekannte oder wenig bekannte Hummelnester . . U N Ihering, Dr. H. von, Mehehtiee Pferde: "(Mit 1 Holsschnitt) N RT Johow, Dr. Fr., Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. I. Die Mangrove-Sümpfe . . . » en 15) Keller, Dr. Conrad, Die Anne yerhältniene der Phhnzentiers er) Koch, Prof. Dr. G. von, Erkennung und Fixierung organischer Formen . . 209 König, Clemens, Moor und Torf. Ein Beitrag zur Untersuchung über die Theorie der wechselnden kontinentalen und insularen Klimate . . . 368 — — Entgegnung auf Blytt’s „Bemerkungen“ et. . 2 2222 nn. 444 Ludwig, Dr. F., Biologische Mitteilungen. . . 40 Schmidt, Dr. E, Die Moundbuilders und ihr Verhältnis zu na Krstorechen Indianern . . . en: Spencer, Herbert, Die Bauen in Mer sonheit Den Fa ae rl 25 IV Inhalt. Spengel, Dr. J. W., Darmlose Strudelwürmer . ; Wagner, Moritz, Dr che Streitfragen, III. Z ockmeheh und Fort- schritt der organischen Gebilde KUN Zehnder, L., Über den Bau der Kometen. (Mit 5 Holaschaikten i Wissenschaftliche Rundschau. Anatomie: Keller, Dr. Rob., Zur Histologie der Nervenzentren . Physiologie: Die Mechanische Autors der Nahrungsmittel in der De schleimhaut s Anthropologie: Vorschläge zur ern Hs Menschengesohet } Ethnologie: Fligier, Dr., Graf Geza Kuun über die Urbevölkerung Sieben- bürgens und die Religion der Agathyrsen Fligier, Dr., Die Abstammung der Tiroler I Der Streit um die Abstammung der Man ; n „ Die quaternären Rassen Portugals Zoologie: Über die Vorfahrenform der Wirbeltiere Die Entstehung der Korallenriffe. ; Die en dealer nos der Melpköstraken B Bergh, R. S., Neue Untersuchungen über Cilioflagellaten Müller, Fritz, Jugendgeschichte der Wurzelkrebse Zur ee der Echinodermen : Reichenbach, Dr. Wilh., Über pelagische Insekten . ; Müller, Fritz, De Zriepekal der Männchen der nordanen ee . Biußkrebep, i 2 Botanik: Die Wegsamkeit der "Zellhänte ; Ne... Keller, Rob., Hybridogener Ursprung der Arten 2 Ra - Ein neues Pflanzensystem . ” ” N Geologie: Die Eiszeit in den deutschen Alpen, ach I Pond Bere |.ic: Chemie: Goldberg, Dr. A., Über den Ursprung des auf der Erde vor- handenen gebundenen Sticks - : € Goldberg, Dr. A., Über blau has np) 2 N Meyer, Ernst von, Yan: Entwickelungsgeschichte der modernen he Wissenschaitliche Reisen: Die Expedition des „Talisman“ . Litteratur und Kritik. Credner, Dr. H., Elemente der Geologie. 5. Auflage Be. Preyer, Prof. W., Spezielle Physiologie des Embryo. Untersuehungen über die Lebenserscheinungen vor der Geburt. 1. Lief. BE: Seubert, Prof. Dr. Moritz, Grundriss der Botanik 5. Aufl. von W. v. Ahles Seite 12 355 186 44 138 449 54 56 142 211 59 211 220 384 454 457 464 467 65 144 309 224 69 154 30 72 77 18 19 Inhalt. Richter, M. M., Tabellen der Kohlenstoff-Verbindungen . Die Encyklopädie der Naturwissenschaften im Jahr 1883 . - Penka, Karl, Origines Ariacae. Linguistisch-ethnologische Terence zur ältesten Geschichte der arischen Völker und Sprachen ; Bachmann, Otto, Unsere modernen Mikroskope und deren sämtliche Hilts- und hen en für wissenschaftliche Forschungen . Engelmann, Dr. G. J., Die Geburt bei den Urvölkern. Eine Dartallung der Belmiekehtng der heutigen Geburtskunde aus den natürlichen En unbewußten Gebräuchen aller Rassen. A. d. Engl. von Prof. Dr. Sn SR TEIINTR RER Br ee er EL ee... ui Ge RP N RE Nehring, Dr. A., Fossile Pferde aus deutschen Diluvialablagerungen und ihre Beziehungen zu den lebenden Pferden. Ein Beitrag zur Ge- schichte des Hauspferdes Hörnes, Dr. R., Elemente der Balanatalbens "(Palskzaalerie) . Internationale Zeitschrift für Allgemeine Sprachwissenschaft, her alisekgeben von Dr. F. Techmer ER Se Fe Sr Rieger, Dr. Konrad, Der Er Psychiaßäeche Beiträge zur Kenntnis der sog. hypnotischen Zustände. Nebst e. physiognom. Beitrag von Dr. Hans Virchow : Mach, Dr. Ernst, Die Mechanik in Br ntwie Kehle Leunis’ Synopsis. I. Teil: Zoologie. 3. Aufl., herausg. v. Prof. Dr. H. de Darwin, Ch., Entstehung der Arten. Aus dere a von J. V. Carus i& Beddse - NEE RER ER Rabenhorst’s Kryptogamen- Sub von Deutschland a I. Bd. Die Pilze von Dr. G. Winter. RR: Jäger, Dr. Gustav, Entdeckung der SE 3. Aufl. Briefliche Mitteilungen: Breitenbach, Dr. W., Dichogamie zwittriger Tiere 5 Er la FRE Aufruf zu einer Hermann Müller- Stiftung Anfrage, Chr. K. Spengel betreffend s Ä Berichtigung, betr. die brasilian. Marantaceen. Von Fritz Müller. Quittung über eingegangene Beiträge zur Hermann Müller-Stiftung. 156 161 320 412 472 Autoren-Register. A. bedeutet Abhandlungen. der unter R. Autoren der unter „Wissenschaftliche Rundschau“, „Litteratur und Kritik“ besprochenen Werke. Vf. M. Verfasser von Mitteilungen L. Autoren in der „Wissenschaftlichen Rundschau“, Vf.L. Verfasser von Litteraturbesprechungen. Die hier nicht aufgeführten Beiträge zu stammen vom Herausgeber. Agassiz, A. und L., Korallenriffe von Florida und Westindien 213, Ahles, Prof. W. von, Seubert’s Grundriß der Botanik, 5. Aufl. L. Bachmann, Otto, Unsere modernen Mikroskope eter il. Barrande, Primor Hialfanna Bergh,R. S. ‚ Neue Untersuchungen aber Cilioflagellaten. VIE Blytt, Prof. A., Einige Bemerk- ungen zu Cl. König’s „Unter- suchungen“ ete. A. Boas,). E. V- Der wandischnne® beziehungen de Malakostraken. M. Bower, F. Ö., Die Wegsamkeit der Zellhänte, R. Brandt, Dr. K., Das Chlorophyll im Tierreich A, 5 Breitenbach, Dr. W., bei Seen A — Zoologische Reisen“ per Segel- schiff. Eine Anregung. A.. — Dichogamie zwittriger Tiere — Einige Fälle schützender Ahn- lichkeit aus der brasilianischen Provinz Rio Grande do Sul. Mit 3 Holzschnitten. A. — Über pelagische Insekten. V.M. Brückner, Ed., Die Eiszeit in den deutschen Alpen, nach A.Penck. Vf. M. ur 3 148, Carneri, Br Träumen und Wa- chen. 3 i — 3Vion.der Macht des oe SR. — Die Entwickelung der Sittlich- keitsidee. A. Carwel-t, Ein neues Phanzen: system. R. \ Mimiery Seite 217 79 Credner, Dr. H., Elemente der Geologie. 5. Aufl. L. Dana, über Koralleninseln Darwin, Ch., Entstehung der Ko- rallenriffe, Einteilung ete... . — Entstehung der Arten. 7. Aufl. T. Delage, Yves, Jugendgeschichte der Wurzelkrebse. R. . Dellingshausen, Baron N., Die Schwere oder das Wirksamwer- den der potentiellen Energie. A. Dohrn, A., Entstehung der Hypo- physis bei Petromyzon . . Du Prel, Dr. Carl, Bedeutung des Traumes . . Eisig, Dr. Hugo, Biologische Stu- dien, angestellt i in der zoologischen Station in Neapel. VIII—-XI. A. |Elsberg, Dr. L., Bau der pflanz- lichen Zellhaut. R.. . Engelhardt, H., Elemente der Geologie von Credner. V£.L. — Elemente der Paläontologie von Dr. R: Hörnes Men ; |Engelmann, Th., Chlorophyll Engelmann, Dr. G. J., Die Ge- burt bei den Urvölkern. L. ; Entz, Geza, Chlorophyll . . Faxon, Walter, Dimorphismus des nordamerikanischen Flußkrebses. R. Fligier, Dr., Über die Urbevölker- ung Siebenbürgens u. 8: w- JVEIM; |— Die Abstammung d. Tiroler. Vf.M. — Der Streit um die Abstammung der Magyaren. Vf.M.. .. — Die quaternären Rassen Portu- gals. Vf. M. 213, 267, 336, „Wissenschaftliche Rundschau“ und „Litteratur und Kritik“ Seite 17 219 211 470 303 Fligier. Autoren-Register. Major. viI Seite Seite Fligier, Dr., Origines Ariacae, Ihering, Dr. H. von, Mehrzehige von Karl Penka. V£LL . 231| Pferde. (Mit 1 Holzschnitt.) A. 9 — Die Geburt bei den Urvölkern, Jäger, Prof. Dr. G., Entdeckung von Dr. G. J. Engelmann. der Seele. 3. Aufl. L. . . 471 VE. Ih. 239| Johow, Dr.Fr., Vegetationsbilder Focke, w. 0, Hybridogener Ur- aus West-Indien und Venezuela. sprung der Arten. R.. 144| I. Die Mangrove-Sümpfe. A.. . 415 — Nägeli’s Einwände gegen die Keller, Dr. Conrad, Die Abstamm- Blumentheorie, erläutert an den ungsverhältnisse der Pflanzentiere. Nachtfalterblumen. A... 291 BB VE 7 Forsyth Major, C. J., Zoogeogra- Keller, Dr. R.,, Zur Histologie der phische Übergangsregionen. 102| Nervenzentren. Vf. M.. . H Galton, Franeis, Inquiries into — Die Expedition des Talisman. Human Faculty and its Develope- VENEE 12 ment. R.e . . . 2... ... 449| — Hybridogener Ursprung der Ar- Gardiner, Protoplasmafäden in ten: V.M..: 144 den Zellwänden . : 66 | — Ein neues Pflanzensystem. v£.M. 309 Geddes, Patrik, Chlorophyll i 177 | — Fossile Pferde aus deutschen Dilu- Freikie, A., Die Entstehung der vialablagerungen etc. (von Dr. A. Korallenriffe. R.. 211] KNehring). Vf. L.. old Göbel, Prof. Dr. K., Vergleichende Kenngott, A., Handwörterbuch Entwiekelungsgeschichte der Pflan- der Mineralogie ete- ur. 159 zenorgane. 1.. 158 Klebs, G., Cilioflagellaten. R. 354 Goldberg, Dr. A., "Über den Ur- Koch, Prof. Dr. G. von, Erkennung sprung des auf der Erde vor- ne handenen gebundenen Stickstoffs. ne RE Er ll. NEM. ı« 69 König, Clemens, Kritik seiner — Tabellen der Kohlenstoffverbind- „Untersuchungen“ ete. Ä 254 ungen von Richter. Vf. L. . 80) — Moor und Torf, ein a zur — Über blaugefärbtes Steinsalz. Vf. Untersuchung u. s. w. A. 363 Me er 5er. 154 — Enigernung anf Blytt’s „Be- Golgi, Zur Histologie der Nerven- merkungen“ DaB; wi. As2! 444 zentren (Forts). R. a . 44|Kuun, Graf Geza, Über die Ur- — Verteilung der Ganglien . . 242 bevölkerung Siebenbürgens und Goltz, Prof. Friedr., Funktionen die Religion der Agathyrsen. R. 54 der Nervenzentren . E 243 Ladenburg, Prof., Handwörter- Gourret, P., Cilioflagellaten. R. 384 | buch der Chemie. L. 160 Graff, L. von, Monographie | der Lasaulx, A. von, Handwörterbuch Turbellarien . 13, ‚der Mineralogie eier ch 159 — Rüssel der Rhabdocoelen . . 60|Leuckart, RB ed des Es lueer, W. ‚ Umwandlung des Coelenteratentypus 122 ich: . 328 | — Polymorphismus . ! 123 Haeckel, E. , System der. Medusen 125 Leunis’ Synopsis, 1. Zoologie. Hagen, Prof. H. A., Äußerung 3. Aufl. bearbeitetvonLudwig.L. 470 über Chr. K. Sprengel Er 320 | Ludwig, Dr. F., Biologische Mit- Hörzen, Prof. Dr. A., Die Ver- teilungen. A. 40 änderungen des Selbstbewußt- |Ludwig, Prof. Dr. H., Entwickel- seins. A. 321| ung der Echinodermen. R. 457 Hoffer, Prof. Dr. Ed., Einige bis- — Leunis’ Synopsis, 1. Zoologie. her unbekannte oder wenig be- 3. gänzlich umgearbeitete Aufl. kannte Hummelnester. A. . alas Bd., 2 Hälfte. L. 470 Hörnes, Dr. R., Elemente der Luerssen, Drs Chr., Raben Paläontologie (Paläozoologie). L. 316| horst’s neun III. Einubrecht, Prof. A. A. W., Die Farnpflanzen. L. . I ILTATT Vorfahrenform der Wirbeltiere. R. 59| Mach, Prof. Dr. Ernst, Die Me- ‘ Hunfälvy, Paul, Abstammung chanik in ihrer Entwickelung der Magyaren. R. 142 | historisch-kritisch dargestellt. L. 468 Huxley, Über Darmlosigkeit m man- ıMajor, Forsyth, siehe Forsyth cher Parasiten . . ’12| Major. VIN Marc Aurel. Autoren-Register. Zopf. Seite Mare Aurel. 241, 2531| Richter, M.M., Tabellen der Koh- Martins, Charles, Moränen- und lenstoffverbindungen. I Schotterbildungen . . 150 | Rieger, Dr. K., Der Hypnotismus, Meyer, Ernst von, Zur Entwicke- psychiatrische "Beitri äge u.s.w. L. lüngsgeschichte der modernen Che- Rolle, F., Handwörterbuch der Mi- mie. Vf. M. 3%) neralogie; etc. L..17. Vrge Milne- Edwards, A Die Eape- Schmidt, Dr. E., Die Moundbuil- dition des „Talisman“. R. 72|) dersundihr Verhältnis zu den hi- Müller, Fritz, Anfrage, Chr. R: storischen Indianern. I, II. A. 81, Sprengel betreffend : 320 |Selenka, Prof. Dr. E. ‚Die Keim- — ‚Jugendgeschichte der Wurzel- blätter der Echinodermen. R. krebse.! Vf: M..— 454 |Semper, C., über Korallenriffe — Die Zwiegestalt der Männchen 212, 213, des nordamerikanischen Fluß- Seubert’s Grundrib der Botanik, krebses. Vf. M. .,,467 0° 5. Aufl. von. W. v. Ahleserze — Berichtigung . 472 |Spencer, Herbert, Die Religion Müller, Hermann, Aufruf zu einer in Vergangenheit und Zukunft. A. Stiftung für — . 161 | — Definition des Lebens . . —_,— Stiftung, eingegangene Bei- Spen gel, Dr. J23W3 Darmlose träge zur — 472, Strudelwürmer. A. ; Müntz u. Aubain, Bildung \ von Sprengel, Chr ik) Anfrage, _ Stickstoffverbindgn. durch Elek- betreffend, von Fritz Müller trizität R. “1 |Stein, Fr. von, Cilioflagellaten. R. Murray, Über Korallenriffe und Tappeiner, Dr. Franz, Die Ab- ozeanische Inseln . 214| stammung der Tiroler. R. > Nägeli, C. von, Einwände. gegen Techmer, Dr.sB Internationale die Blumentheorie. : 291 Zeitschrift für allgemeine Sprach- Nathorst, Flora Spitzbergens . 257| wissenschaft. 1. Heft. L. Nehring, Prof. A., Die Kegel- Vämbery, Herm., Una der robbe (Halichoerus. grypus). RR Magyaren. R. — Fossile Pferde aus deutschen Dilu- Virchow, Dr. Hans, Physiogno- vialablagerungen etc. R. . al mischer Beitrag zu: Rieger, Hyp- Passow, A., Vorschläge zur Ver- notismus. L. ee besserung d. Menschengeschlechts. Wagner, Moritz, über Mimiery . Vf. M. . 449IWagner, Prof. Dr. Moritz, Dar- Paula e Olivera, Francisco winistische Streitfragen III. A. de, Die quaternären Rassen Por- Wallace, Tiergeographische Re- moalssR N aa en r.. A, Se BaeoRen: #1: Penck, Dr. A., Die Eiszeit in den War ming, Prof. E., über Bestäub- deutschen Alpen. R. 148, 224| ung von Philodendron . Penka, Karl, Origines Ariacae, White, Buchanan, Pelagische In- linguistisch - ethnologische Unter- sekten des „Challenger“, R... suchungen. L.. . 231 | Wiedersheim, Prof. Es Die Biernrver.B,, Die Expedition des mechanische Aufnahme der Nahr- e Talisman«, R. 72) ungsmittel in der Darmschleim- Pouchet, G., Cilioflagellaten. "R.884| , haut R.-2ı.,.. A Preyer, Prof. We, Spezielle Phy- Winter, Dr. G, Rabenhorst’s siologie des Embryo. L. 78 Kryptogamenflora, 1Bilzerdre — Die Mechanik in ihrer Entwickel- Wittjen u. Precht, Über blau ung ete. (von Mach) Vf. L... 468 | gefärbtes Steinsalz. R. Rabenhorst’ s Kryptogamenflora, Wittstein, Prof. G., Handwörter- I N Ra 471| buch der Pharmakognosie des Rau, Albrecht, Die Theorien der Pflanzenreichs. _L. modernen Chemie. R. . 390 Zehnder, L., Über den Bau der Reichenow, Dr. A., Handwörter- Kometen. K. buch der Zoologie u.s.w. L. 158 | Zopf, Dr. W., Die Spaltpilze. “u Seite 80 397 320 384 318 142 397 22 39d 102 40 464 138 471 154 158 186 157 Sach-Register. Abstammung der Magyaren 142. Abstammungsverhältnisse, Die, der Pflan- zentiere 120. Ackerbau der Moundbuilders 92. Acoela (ULJANIN) 12, 13. Ähnlichkeit, schützende, bei brasilianischen .. Insekten 204. Atherstoßtheorien 268. Afrika, tertiäre Landverbindungen 104. Agathyrsen, Religion der, 54. Arptasia diaphana 181. Aktinien, von Nacktschnecken nachge- ahmt 20," Ernährung durch einzellige Al- en 180, Sauerstoffentwickelung der- selben 184. Algen, einzellige, in Tieren 177, in Ak- tinien 180, Art der Verwertung 183, Bedeutung ihrer Sauerstoffentwickelung 184. Algerien, Herpetologie 108. Alpen, Die Eiszeit in den deutschen — 148, 224. Alter der nordamerikanischen Mounds 97. Amaryllideae 300. Ammonshorn, Histologie des, 49. Anfrage, Chr. K. Sprengel betr. 320. Antennarius pietus, laicht auf Sargassum- Büscheln 74. Anthea cereus 182. Anthospermae 309, 313. Aphanostoma ORST. 13. Apocynum hyperieifolium, Blüteneinricht- ung 42. Arier, älteste Geschichte der — 231, Ur- sitz 233. Arten, durch Hybridation entstehend 144. Arthrodele Flagellaten Stein's 385. Arthrostraken 221. Aspidium Filix-mas 66. Asterina gibbosa, Entwickelung 458. Atolls, Bildung von — durch submarine Aufschüttung 215. Atomverkettung 394. | Canıs antarcticus, Auflösung als Gegensatz zur Entwickelung 30. Aufruf zu einer Stiftung 161. Austro-orientalische Übergangsregion 113. Avicennia 416, 422. Banyanenform 418. Bastardierung, liefert neue Arten 144. Bau der Kometen 186. Beharrungsvermögen 343. Beleuchtung, Einfluß künstlicher, — auf verschiedene Seetiere 303. Berichtigung, Marantaceen betr. 472. Bewegungsmoment der Körper 431, inneres — 433. Bewußtsein, physisches Gesetz des —, v. A. Herzen 322, doppeltes — 329. Biologische Mitteilungen v. Dr. F. Lud- wig £ Biologische Studien aus der Zoologischen Station in Neapel. VIII—XI. 303. Blaue Färbung von Steinsalz 154. Blumenkronenröhren, Verlängerung durch Insektenreiz 29. Blumentheorie, Einwände Nägeli’s gegen die — 291, — Sprengel’s 320. Bombus pratorum 114, B. Latreillelus 115, mastrucatus 116, cognatus 117, hortorum 118, soroensis 119. Botanik, Grundriß der — (Seubert — W. v. Ahles) 79. Botanik, Handbuch der, 157. Bryogamae 310, 311. Cambarus, Dimorphismus der Männchen 467, Campanula medium 43. Falklandsinseln 360. Carinella, Rüsselscheide 62. Cassiopea borbonica 305, 306. Cereactis aurantiaca 182. Cerebratulus, Rüsselscheide 62. Cereus grandiflorus 299. Certhidea 361. Hermann Müller- Characeen. x Sach-Register. Hügelmounds. Uharaceen (Schistogamae) 310, 311, 313. Chemie, Handwörterbuch der — 160. Chemie, Zur Entwickelungsgeschichte der modernen — 3%. Chlorophyll im Tierreich 176, physiolo- gische Bedeutung 179. Chorda dorsalis 59, von der Rüsselscheide der Nemertinen abgeleitet 62. Chromodoris gracilis 21. Chromophyll 178. Cilioflagellaten, Neue Untersuchungen über — 384. Cladopyxiden 387. Coelenteraten, Begründung des Typus 122. Coelomsäcke 461. Cönästhesie (Gemeingefühl) 329. Coma der Kometen 187, 195, Ringform derselben 19). Conidiophorae 310, 314. Convoluta 12, 18. Convolvulus sepium 299. Crenilabrus-Arten 306, Eiablage 308. Ötenophoren 126. Cumaceen 222. Cyrtomorpha v. Gr. 13. Dacier — Agathyrsen 5. Darmlosigkeit mancher Strudelwürmer 12. Darwinistische Streitfragen III. 355. Dekapoden 222. Dichogamie zwittriger Tiere 156. Dichtigkeit der Körper 427, 440, Diluvialpferd, deutsches, französisches ete. 315. Dimorphe Pflanzen 311. Dinophysiden 385. Drepanophorus, Nervenstämme 61, Echiniden, Furchung 459. Echinodermen, Zur Entwickelungsge- schichte der — 457. Einheit des Ich 323, 355. Eiszeit, Die, in den deutschen Alpen, nach A.Penck 148, 224, Ursachen der — 229. Elastische Körper 347. Embryo, .Spezielle Physiologie des — (WePreyer) 78: Empis aestiva 42, 44. Eneyklopädie d. Naturwissenschaften, Die, 100. 18832157. Energie, potentielle 267, 336, 427. Entdeckung der Seele (G. Jäger) 471. Enterocoel bei Nemertinen 63. Entstehung der Arten, Darwin’s, 7. Aufl. 470. Equus caballus in Südamerika 100, — fossilis 314. Erkennung u. Fixierung organ. Formen 209. Ethik 404, 411. Euphausiiden 221. Explosivstoffe 69. Exzentrizität der Erdbahn 265, 447, Fallen, Das, der Körper 350. Farnpflanzen (Dr. Chr. Luerssen) 471. Ficus elastica, Blattstiel 69. Ficus indica 418. Finken auf den Galapagos 360. Fische des Sargassomeeres 23. Fische, Verhalten gegen künstl. Beleuch- tung 303, medusenfressende — 305. Flimmerepithel, neue Auffassung des — 141. Floren Norwegens 254, 257, 446, — Spitz- bergens 257. Florida, Korallenriffe 217. Flügellosigkeit pelagischer Insekten 465. Flußkrebs ‚nordamerikan., Zwiegestalt der Männchen 467. Freiheit, Problem der — 247. Furchung des Echinodermeneies 458, 463. Galapagos, Finkenarten 360. Geburt, Die, bei den Urvölkern 239. Gedächtnis 323, 327. Geist, Von der Macht des — 241, Wesen des — 245. Geistertheorie Spencer's 25. Gelbe Zellen in Meerestieren 178 Genetische Darstellung der Entwickelung der Mechanik 468. Geologie, Elemente der — (H. Credner) 17. Geospiza 8360. Geraniaceae 301. (sermanen, nordische Urheimat 234, Geschlechtsorgane der Acölen 17. Gewicht, spezifisches 427, 438, 440. Glazialformation 149. Gletschererosion 227. Golfstrom, Ursachen des — 264, 448. Gonochorismus, successiver 18, 156. Graphik 319. Gravitationstheorien 267, 336. Gravitationswellen 336, 341. Gymnogamae 310, 312. Gynospermae 309, 313. Halichoerus grypus 64. Halobates, Halobatodes, pelagische Hemi- pteren 464, Lebensweise 466. Handwörterbuch der Zoologie etc. 158, — der Pharmakognosie des Pflanzen- reichs 158, — der Mineralogie etc. 159, — der Chemie 160. Hauspferd, Beitrag zur Geschichte des — 314. Hellenen, Urheimat und Urtypus 255. | Heuschrecke, Spinnen nachahmend 208. Hilfsmännchen von Saceulina 456. Histologie, Zur, der Nervenzentren 44. | Holarktische Region 111. Hügelmounds 84. Hummelnester. Sach-Register. Moral, X Hummelnester, nicht od. wenig bekannte — 114. Huyghens’'sches Prinzip 275, 277, 435. Hybridogener Ursprung der Arten 144. Hydrocoel 461. Hypnotismus, Entdeckung des — 2. Psy- chiatrische Beiträge zur Kenntnis des — 391. Hypophysis cerebri 59, vom Rüssel der Nemertinen abgeleitet 60. Ich, Bewußtsein von der Kontinuität des — 323. Idioplasmatheorie Nägeli’s 291. Indianer, historische, ihr Verhältnis zu den Moundbuilders 81, 163, Ackerbau 163, feste Plätze und Häuser 164, Mounds 166, Geräte 168, Kupfer 169, Töpferei u. s. w. 170, Schädel 171, Vorgeschichte und Traditionen 172, Sprache 179. Innthal, Das, zur Eiszeit 151, 224. Insekten, pelagische 464. Intracelluläre Verdauung 138. Intussusceptionslehre, beschränkte Berech- tigung der, 68. Irideae 300. Isolierung, Einfluß der — 358. Italiens Säugetiere 105, Reptilien und Amphibien 106. Kapverdische Inseln, marine Fauna 74. Katalepsie 398. Kegelrobbe 64. Keimblätter der Echinodermen 457, mitt- leres — 463. Kentrogoniden (Wurzelkrebse) 454. Kinetische Naturlehre 270, 338. Kjökkenmödinger in Portugal 211. Kleinhirn, Histologie seiner Windungen 44. Klimaschwankungen 230. Klimawechsel 254. Kohlenstoffverbindungen, Tabellen der — (M. Richter) 80. Kometen, Uber den Bau der — 186, Zu- sammensetzung aus Meteoriden 192, Atmosphären derselben 193, Schweif 195, Spektrum 201, Temperatur 201, Verkleinerung durch andere Himmels- körper 202. Kometenschweif, eine Lichtzone 195, all- mähliche Entwickelung 198. Kometentheorie, elektrische 187. Kontinentalklima 255, 446. Kopf der Kometen 186, 192. Kopfspalten der Nemertinen 64. Korallenriffe, Die Entstehung der — 211, frühere Theorien 212, Resultate der Challengerexpedition 214, submarine Aufschüttungen 215, Bildung v. Atolls 215, Einfluß d. Meeresströmungen 216, Riffe von Florida 217, neuere Hebungen in Westindien 218, Aufbau der Ko- ralleninseln 220. Krabben im Tang 22, auf Holz 23. Kryptogamenflora, Rabenhorst's, Pilze 471, III. Farne 471. Labrax lupus, Eiablage 306. Ladiner in Tirol 56. Langia, Nervenstämme 61. Lebendiggebärende Pflanzen 415, 421, 422. Lebensprozeß, Definition des — 356. Lichtliebende Seetiere 303. Liliaceae 299. Lippfische, Eiablage 306, 308. Lymphkörperchen, binden die Peptone 139, nehmen Fettmoleküle auf 140. Magnetismus, tierischer 2. Magyaren, Der Streit um die Abstammung der — 142. Makrelen, Medusen anfressend 306. Malakophilie v. Philodendron 40. Malakostraken, Verwandtschaftsbezieh - ungen der — 220. Mangrove-Sümpfe 415, -Bäume 416, Tier- welt der — 424. Männchen, Dimorphismus der — des nord- amerik. Flußkrebses 467. Marantaceen, brasilianische 472. Marokko, marine Fauna der Westküste 72, Herpetologie 107. Masse und Dichtigkeit der Körper, Be- deutung der, 427. Massendruck, Theorie des Materie, Wesen der — 272. Mechanik, Die, in ihrer Entwickelung 468. Mechanische Aufnahme, Die, der Nahr- ungsmittel in der Darmschleimhaut 138. Meduse, Homologie mit dem Hydropolyp 123. Medusenfressende Fische 305. Meeresströmungen, Einfluß auf die Ko- rallenriffe 216. Meeresströmungen 264. Mehrzehige Pferde (Dr. H. v. Ihering) 99. Melasomen 361. Menschengeschlecht, Verbesserung des — 449. Mesenchym der Echinodermen 460, mor- pholog. Bedeutung 463. Mesostoma Ehrenbergi 17. Migrationstheorie 356. Mikroskope, Unsere modernen — 238. Mimiery bei Seetieren 19. Mineralogie ete., Handwörterbuch der — 159. Mittelmeergebiet, tiergeographisch 103. Moor und Torf 363, ökonom. Bedeutung der Moore 364, Aufbau 366. Moral in der Volksschule 251. Moral, Unterschied von Sittlichkeit 411. T. 269, 338. Moränenwälle. XH Sach-Register. Rubus-Arten, Moränenwälle 152, Zerstörung durch Glet- scherwässer 153, nördlichste Grenze 225, Bildungszeit 226. Moundbuilders, Die, und ihr Verhältnis z. d. histor. Indianern 81, 163, Form u. Verbreitung ihrer Bauten 84, Technik, Ackerbau 91, Knochenreste g6, Alters- bestimmungen der Mounds 97, Tradition darüber 98, Vergleichung mit d. histor. Indianern 163, Sagen der letzteren 171, Linguistik 175. Mund der Acölen 13. Mysideen 221. Mwysis-Larven mit leuchtenden Augen 72. Nachtfalterblumen 291, 297, 298. Nacktschnecken, Aktinien u. Tang nach- ahmend 20, 21. Nadina Uns. 13. Nahrungsmittel, der — 138. & Nearktisch-neotropische Übergangsregion ink Nebalia 221. Nemertinen, als Vorläufer der Wirbeltiere 59. Nephrodium villosum 66. Nervensystem, Mangel des, bei Acölen 16. Nervensystem der Nemertinen u. Wirbel- tiere 61. Nerventhätigkeit, wußtsein 321. Nervenzentren, zur Histologie der — 44. Noktilueiden 387. i Nordamerika, Vorgeschichte von, durch die Mounds erläutert 83, nach Traditionen der Indianer 98, 172. Nordtirol, letzte "Vergletscherung ältere Vergletscherungen 224. Norwegen, Klima 254, 444, Torfmoore 365, 447, Flora 254, 257, 446, Muse :helbänke und Terrassen 263, 372, Einfluß der Meeresströmungen 264, 448. Oberbayern, letzte Vergletscherung 149, ältere Vergletscherungen 224, Bildung der Seen 227. Octopus vulgaris: lichtscheu 303, Selbst- verstümmelung 304. Oedipoda 207. Ohrenrobben, Gebih 65. Ophiuriden, Furchung 459. Orchideae 300. Organische Formen, Erkennung u. Fixier- ung der — 209. | Örigines Ariacae 231. Östgoten, Reste der, in Tirol 58. Otariidae, Gebib 65. Paläontologie (Paläozoologie), Elemente der — 316. Palau-Archipel, Korallenriffe 217. Panästhesie (Gesamtgefühl) 325. mechanische Aufnahme Beziehungen zum Be- 149, | Restitutions-, Patholog. Erscheinungen bei Seetieren 304. Pelagische Insekten 464. Peltogaster socialis 456. Peptone, Bindung der — durch die Lymph- zellen des Darms 139. Peridiniden 386, Pferde, mehrzehige 99, fossile deutschem Diluvium 314. Pflanzenorgane, Vergleichende Entwickel- ungsgeschichte der (Prof. @öbel) 158. Pflanzensystem, Ein neues — 309. Pflanzentiere, Die Abstammungsverhält- nisse der — 120. Pharmakognosie, Handwörterbuch der — des Pflanzenreichs 158. Phasma, flügellose Art 207. Philodendron bipinnatifidum SCHOTT, zur Anpassung des, 40 Phonetik 318. Phosphoreszenz von Meerestieren 72, Phylloperta lanceolata, blätternachahmend IN aus Physiologie, Spezielle, Breyer) 78 Pikermifauna 104. Pilze (Dr. @. Winter) 471. Plasmodicae (Myxomyceten) 310, ia Plasmolyse 66. Pollen, mischkörnig Rubus-Arten 147. Polydaktylie lebender Pferde 9. Polyp, Homologie mit der Meduse 123. Portugal, die quaternär en Rassen von— 211. Primordialfauna , nach Barrande und Hörnes 317. Proporus ©. ScHM. 15. Prorocentrinen 385. Proscopia, Grashalme nachahmend 206. Prothallogamae 310, 311. Psychiatrische Beiträge zur Kenntnis des Hypnotismus 397. Pterochroza, einem grünen Blatt ähnlich 204. Puterae (Characeen) 310, 312. Rätier, Räto-Romanen 56. Rechtspflege 248. Reisen, Zoologische, per Segelschiff 133. Reliefbildermounds 87. des Embryo (W. bei hybridogenen | Religion, die, in Vergangenheit und Zu- kunft 25. Retentions-Atavismus 101. Rhizophora Mangle 416, Wurzelgerüst 417, Höhe 419, Blattstellung 419, Keim- ung 420, Trichoblasten 423. Rhizostoma pulmo 309. Rio, Grande do Sul, Fälle schützender Ähnlichkeit aus — 204. Rubiaceae 301. Rubus-Arten, Verschiedenheit des Pollens 145, Fruchtbarkeit ihrer Bastarde 146. Rüssel. Sach-Register. Vergletscherung. XII Rüssel der Nemertinen 60. Rüsselscheide der Nemertinen 62, Ruta graveolens, Dysparaphyt von Apo- eynum 43. Sacculina Carcini, Entwickelung 454. Sargassomeer 19, 74, Beschaffenheit des Grundes 75. Sargassum, Herkunft des — im Sargasso- meer 75. Schädel etc. der :Moundbuilders 96. Schistogamae (Characeen) 310, 311, 313. Schizoprora 13. Schizosporophorae 310. Schmetterlingspuppe, einen dürren Zweig nachahmend 208. Schraubenförmige Kurven 278, 346. Schrittweise Wanderung der Pflanzen 255, 446. Schwere, Die, oder das Wirksamwerden der potentiellen Energie 267, 336, 427. Schwere, Die, der Körper 343, 437. Scyphopolypen 126, 128. Seebarsche, Eiablage 306. Seele, Feststellung des Begriffes 243, Ver- hältnis zum Geist 245. Seele, Entdeckung der, (G. Jäger) 471. Seen Oberbayerns, durch Gletscher erodiert 228. Seetiere, Mimiery bei — 19. Segelschiffreisen 24. Sehkraft, geistige 452. Selbstbewußtsein, Die Veränderungen des 321. Selbstentzündung 375. Senkungstheorie Darwin ’s zur Erklärung der Korallenriffe 211. Siebenbürgen, Urbevölkerung von, 54. Sileneae 302. Sinneswahrnehmungen, Schärfe der 451. Siphonophoren 126. Sittlichkeitsidee, die Entwiekelung der — 401. Skandinavien als Urheimat der Arier 233. Solaneae 300. Spaltpilze (Dr. W. Zopf) 157. Sphaerozoum punctatum 182. Sphagnum 366, 377. Spongien, Verhältnis zu den Coelenteraten 131 Sprachwissenschaft, Internationale Zeit- schrift für allgemeine — 318. Squilliden 222, Stäbchenzellen der Turbellarien 14. Steinsalz, Über blau gefürbtes 154. Steppentiere im deutschen Diluvium 314, 316. Stickstoff, Ursprung des auf der Erde vorhandenen gebundenen — 69. Stiftung, Herm. Müller —, Beiträge | ze Strudelwürmer, darmlose 12. Strukturtheorie 392, 394. Stützwurzeln der Mangrovebäume 417, 423. Symbiose 184. Synapta digitata, Furchung 458, Ent- stehung des Nervensystems 462. Synopsis von Leunis, ]J. Zoologie 470. Tagfalterblumen 297, 298. Tahiti, Korallenriff von — 215. „Talisman“, die Expedition des — 72. Technik der Moundbuilders 91, Geräte aus Stein, Kupfer 93, aus Thon 94, Tabakspfeifen mit Tierbildern 95. Tempelmounds 85. Tetrasporophorae 310, 314. Thallodeae (Thallophyten p. p.) 310, 313. Theorien, die, der modernen Chemie 390. Tiefseefauna westlich von Marokko 73, im Sargassomeer 76. Tiere mit Chlorophylikörpern 176, mit selbsterzeugtem Chlorophyll 179. Tiergeographische Regionen, nach W al- lace 102. Tierleben der Mangrovewälder 424. Tiroler, Die Abstammung der — 56. Torf, Moor und — 363, Zusammensetzung des — 367, Verkohlung 372, 374, Be- dingungen zur Bildung von — 378, Wachstumsgeschwindigkeit 382. Torfmoore Norwegens 263, 365, 447, Aufbau der-— 366, — an der Nord- seeküste 380. Totalenergie der Körper 283, 339. Trägheit der Körper 434, 437. Traumorgan du Prel’s 3, 5. Träumen und Wachen 1. Trichoblasten 423. Trimorphe Pflanzen 310. Tumuli (Begräbnismounds) in Nordamerika 0. Turbellarien 12. Türkischer Ursprung der Magyaren 143. Typentheorie Gerhardt’s 392. UÜbergangsregionen, zoogeographische 102. Ubernatürliches, Scheidung vom Natür- lichen 28. Ubung, zweckthätige, der Organe 362. Unbewußte, das, 3, 8. Urvölker, Die Geburt bei den — 239. Urzellen des Mesenchyms 460, 463. Vegetationsbilder aus Westindien und Venezuela 415. Venezuela, Vegetationsbilder aus — 415. Veränderungen, Die, des Selbstbewußt- seins 321. Verbesserung des Menschengeschlechts, Vorschläge zur — 449. Verdienst, Verantwortlichkeit 248. Vergletscherung, letzte, von Oberbayern und Nordtirol 149, ältere — 224, XIV Verwandtschaftsbeziehgn. Sach-Register. Zwittrige Tiere. Verwandtschaftsbeziehungen, Die, der Ma- lakostraken 220. Vorfahrenform, Uber die, der Wirbel- tiere 59. Vorschläge zur Verbesserung des Men- schengeschlechts 449. Waldreste im Torf 366, 368. Wallmounds 84. Wanderung, schrittweise, der Pflanzen 255, 446, Wanderzellen, ein uraltes Erbstück 140. Wechsel extremer Klimate 254, 444. Wechselwirkung von Blumen und In- sekten 293. Wegsamkeit, Die, der Zellhäute 65. Wellen, stehende 278. Weltäther 268, 336. Westindien, Vegetationsbilder aus — 415. Windblüten 298. Wirbeltiere, Uber die Vorfahrenform der — 59. Xenia fuscescens 128. Zeitschrift, Internationale, für allgemeine Sprachwissenschaft 318. Zellhäute, Die Wegsamkeit der — 65. Zoogeographische Übergangsregionen 102. Zoologie, Handbuch der (Leunis-Lud- wig) 470. Zoologie u. s. w., Handwörterbuch der — 158. Zoologische Reisen per Segelschiff 133. Zoosporophorae 300, 314. Zooxanthellen 178, Zweckmäßigkeit organischer Gebilde 355. Zweckmäßigkeitslehre 401. Zwiegestalt, Die, der Männchen des nord- amerikanischen Flußkrebses 467. Zwittrige Tiere, Dichogamie 156. Träumen und Wachen. Von B. Carneri. Es gibt wenig Schriftsteller, die so fesselnd auf uns wirken, wie CARL Du Prer. Mit seiner hohen Begabung, seinen tiefen Kenntnissen und seiner ausgebreiteten Belesenheit verbindet er eine so lebendige, sanz dem Gegenstande sich hingebende und dabei doch eine gewisse Besonnenheit niemals verlierende Darstellungsweise, dass man selbst dort- hin gern ihm folgt, allwo man nicht verweilen zu können mit vollster Bestimmtheit gleich voraussieht. Dessen kann man bei ihm versichert sein, jedesmal etwas zu lernen. Darin liegt die Verführung und mit ihr die Gefahr. Damit man uns aber nicht missverstehe und gleich wisse, welche Gefahr wir meinen — nicht jeder wird in dem eine Gefahr erblicken, was uns als eine solche erscheint — wollen wir unverweilt eine Linie ziehen, welche unseres Erachtens das Denken nicht überschreiten darf, solang es einen kritischen Wert anspricht. Es ist nicht genug, dass wir an- erkennen, es gebe für den Menschen keine transcendente Welt und da- mit auch kein absolut Wahres: wir müssen auch darüber mit uns im klaren sein, dass es für den Menschen keinerlei Weg gibt, welcher ihm das absolut Wahre erschliessen könnte; denn gäbe es einen Weg zum Ansich der Dinge, dann gäbe es eben überhaupt eine transcendente Welt. Diese kann man dann nennen wie man will: was sich begreifen, aber nicht auf sinnliche Wahrnehmung und Erfahrung zurückführen liesse, wäre transcendent; und dass wir da nicht eine bloss empirische, sondern nur eine streng kritische, den Denkgesetzen ent- sprechende Erfahrung im Auge haben, ist selbstverständlich. Diesen Grundsatz dürfen wir nie aus den Augen verlieren, wenn wir in objektiver Weise den Wert der Träume untersuchen wollen; und dieser Grundsatz war es, der gleich beim ersten Artikel pu Prers »Über die wissenschaftliche Bedeutung des Traumes« (Kosmos, Band XII, S. 23) uns gezwungen hat, unsern Bedenken Ausdruck zu geben. Seither hat er zwei weitere Artikel veröffentlicht: »Sind Träume Schäume?« (Kosmos, Band XII, S. 161) und: »Die dramatische Spaltung des Ich im Traume« (Kosmos, Band XIII, S. 44). Weit entfernt, unsere anfänglichen Be- denken zu beschwichtigen, nötigt uns die Fortsetzung dieser unstreitig Kosmos 1884, I. Bd. (VII. Jahrgang, Bd. XIV), 1 2 B. Carneri, Träumen und Wachen. sehr interessanten Arbeit die Frage auf: Wo will das hinaus? — Du Prer, der von Haus aus ein kritischer Geist ist, wenngleich eine Art metaphysischen Bedürfnisses von Zeit zu Zeit die Oberhand gewinnen zu wollen scheint, ist viel zu vorsichtig, um darüber eine bestimmte An- deutung zu geben, und geht darin vielmehr so weit, die Hauptfrage: ob wir überhaupt in der Mitte des Schlafes träumen? —- offen zu lassen. Wir hätten keinen Grund zu bezweifeln, dass wir auch in der Mitte des Schlafes träumen oder wenigstens träumen können, und geben auch gerne zu, dass diese Träume die logisch zusammenhängendsten, sozusagen ver- nünftigsten sein müssten, weil sie nicht wie die im Beginn oder am Aus- gang des Schlafes gestört werden durch äussere Einwirkungen auf die vom Schlaf noch nicht bewältigten oder dem Schlaf sich wieder ent- windenden Sinne, was zur Genüge das Unsinnige der meisten Träume erklärt. Wir wissen zwar nicht, inwiefern »einige Hoffnung« vorhanden sei, dass es »der Experimentalpsychologie einst gelingen wird, die Träume unseres tiefen Schlafes der Erinnerung zugänglich zu machen«, (Band XII, S. 174) — aber auch das könnten wir nicht als unmöglich erklären. Wir fragen nur: was vermögen solche Träume aus der Mitte des Schlafes uns zu bieten ? Im Anschlusse an die in dem Aufsatze: »Die gegebene Welt« (Kosmos, Band XII, S. 401) entwickelten Anschauungen können wir nur antworten: im günstigsten Fall eine klare Erinnerung an Er- fahrenes und ein richtiges Urteil darüber. Wir geben zu, dass es unangemessen sei, die Träume als blosse Schäume zu erklären, und wäre es aus keinem anderen Grunde, als weil sie thatsächlich der Aus- druck eines inneren Fortlebens sind, das oft nur zu fühlbar uns affıziert und dadurch die Wohlthat des ruhigen Schlafes beeinträchtigt. Dagegen könnten wir durchaus nicht einem im Traum gefällten Urteile einen höheren Wert beilegen als dem eines wachen Denkens, bei welchem wir gehörig konzentriert sind und dabei über unsere gesamte Sinnes- thätigkeit und die klare Kontrolle der Aussenwelt verfügen. Was immer man uns da einwenden mag durch eine Berufung auf die Intuition, die wie der Takt auf einem durch vorzügliche Anlage und grosse Übung bedingten abgekürzten Verfahren beruht, vermag unsere Überzeugung so wenig zu erschüttern als der Vergleich mit dem sogenannten tierischen Magnetismus, welchem die Entdeckung des Hypnotismus den Hals gebrochen hat. Diejenigen, welche WILHELM PREYERS vortreffliche Schrift über die Werke des Arztes James Braıp nicht zur Hand haben, bitten wir, unsere Besprechung derselben im Band XII dieser Zeitschrift, S. 12, nachzusehen. Hier ist der schwächste Punkt der sonst so tief durch- dachten Arbeit pu Prers. Er spricht von Heilungen durch Mittel, welche von Somnambulen angegeben werden, wie von ausgemachten Dingen, und eitiert gleichzeitig spiritistische Schriftsteller, bei welchen es ihm doch auch aufgefallen sein muss, dass sie die Thatsache des Nichtüberhandnehmens magnetischer Kuren damit bemänteln, es gestatte Gott nicht die Benutzung der Medien zu praktischen Zwecken. Ent- schuldigen sie doch damit auch die Verweigerung aller Aufschlüsse über das Jenseits. B. Carneri, Träumen und Wachen. 3 Die Wichtigkeit der Träume würde sich aber nach der Darstellung Du PRELS aus einem ganz anderen Umstand ergeben, der ein bestimmtes Licht wirft auf seine Auffassung der ganzen Frage. Es ist dies die Heranziehung eines eigenen Traumorgans, das er dem Organ des Wachens entgegensetzt. Wir kennen diese beiden Organe nicht, und bei unserer Auffassung des Bewusstseins bedürfen wir ihrer auch gar nicht zur Erklärung, oder wenn man lieber will, zur Beschreibung der psychischen Erscheinungen. Du PreEr, der die psychischen Erscheinungen nicht als Wirkungen physiologischer Funktionen, sondern diese nur als’ Begleiterscheinungen jener gelten lassen kann, bedarf zu seiner Psy- chologie einer Art Seele. Wir finden dies logisch, und da wir, um ihn zu verstehen, auf seinen Standpunkt uns stellen müssen, so geben wir ihm diese Art Seele als Hypothese zu, uns vorbehaltend, diese Hypothese später zu prüfen. Und wenn wir ihm auch, offen gestanden, nicht gänzlich durch die Ausführungen zu folgen vermögen, welche die Annahme einer solchen Seele, wie seiner ganzen Metaphysik, als ver- einbar darthun sollen mit einem echten Monismus; so wollen wir ihm auch dieses zugestehen. Wir zweifeln nicht, dass es ihm Ernst ist mit dem Monismus, und das ist uns die Hauptsache. Auch jene zwei Organe sollen zu keinem Dualismus führen; denn er erklärt sie aus- drücklich als die Spaltung Eines Stammes, nicht als zwei Seelen, von welchen etwa die eine eine körperliche, die andere eine geistige wäre. Kurz, wie weit wir auch mit unseren Anschauungen auseinander gehen, wir können es vermeiden, einen prinzipiellen Widerspruch zu konstatieren, und geben daher die Hoffnung auf eine Beachtung unserer Einwendungen und auf eine dadurch mögliche Verständigung nicht auf. .Auch sind wir gerne bereit, eines Bessern uns belehren zu lassen, wenn wir etwas missverstanden haben oder unsere Gegengründe nicht stichhaltig sein sollten. Besehen wir uns also die zwei genannten Organe genauer. Das eine stellt sich uns dar als das Organ des Bewusstseins, das andere als das Organ des Unbewussten. Damit geraten wir gleich auf eine grosse Schwierigkeit. Du Preu erklärt zwar (Band XII, S. 49) aus- drücklich, dass er das Unbewusste nicht im Sinne Hartmanss auf- fasse; allein er fasst es auf »als individuellen metaphysischen Hintergrund des Ich«. Stossen wir uns nicht an dem Ausdruck »metaphysisch«, der nach dem bereits Gesagten nicht etwas Übernatür- liches bezeichnen muss, und fragen wir uns einfach, was wir unter dem Unbewussten verstehen? Uns gilt es als etwas nach keiner Richtung hin Aktives, als ein passiver Zustand, der nicht ins Aktive übergehen kann, ohne zu etwas anderem zu werden. Als unbewusst gilt uns die ganze Natur mit Ausschluss der zu bewusst werdender Empfindung organi- sierten Tiere. Bei diesen, den Menschen, um den es hier hauptsächlich sich handelt, mit inbegriffen, geschieht alles das unbewusst, was rein mechanisch sich vollzieht, d. h. ohne dass bei der Übersetzung der Bewegung von einer sensorischen auf eine motorische Bahn eine Vor- stellung ausgelöst würde, durch welche die betreffende Empfindung zum Gefühl, zur bewussten Empfindung sich erhebt. Ausser den von keinem Bewusstsein begleiteten Vorgängen können wir auch die Vorstellungen 4 B. Carneri, Träumen und Wachen. überhaupt zum Unbewussten rechnen, insofern wir sie als schlummernd denken, nämlich bis zum Moment, in welchem sie entweder durch einen direkten Reiz oder indirekt auf dem Wege der Association wieder erweckt und in Thätigkeit gesetzt werden, wodurch eine Empfindung dem betreffen- den Wesen ueuerdings sich vorstellt, sein eigen, ihm bewusst wird. Die derart angehäuft gedachten Vorstellungen sind offenbar das, was Du PrEL als den- »individuellen metaphysischen Hintergrund des Ich« bezeichnet. Dass nach unserer Ausdrucksweise dieser Hintergrund kein metaphysi- scher sein könne und ein physiologischer sein müsse, brauchen wir nicht weiter auszuführen. Dagegen haben wir ausdrücklich hervor- zuheben, dass auch wir diesen Hintergrund als einen »individuellen« betrachten, insofern er nach Menge, Beschaffenheit und Anordnung je nach den Individuen ein sehr verschiedener sein kann und auf ihm die Entwicklung der betreffenden Individualität grossenteils beruht. Soweit gehen wir in dieser Beziehung mit dem geehrten Verfasser, und er kann seinerseits nur mit uns gehen, wenn wir sagen, dass, was aus diesem Hintergrund erwachend in den Vordergrund tritt, zu etwas Bewusstem wird und als solches nicht mehr zum Unbewussten gehört. Wohin er aber auf Grund seiner Darstellung nicht leicht uns folgt, ist, dass wir dabei zwischen einem Wachenden und einem Schlafen- den keinen wesentlichen Unterschied machen. Wir können einen Ohn- mächtigen, der auf sehr starke Reizungen nicht mehr reagiert, bewusstlos nennen. Nicht so einen Schlafenden, weil wir uns sonst als bewusstlos bezeichnen müssten, wenn wir mit geschlossenen Augen und ganz in uns versunken unseren Gedanken in solcher Konzentration nachhängen, dass wir von dem, was um uns her geschieht, keinerlei Notiz nehmen. Selbst der Ohnmmächtige ist oft — die Scheintoten dürften grossenteils in das Gebiet der Märchen gehören — nur scheinbar bewusstlos. Dass beim Schlafenden die Bewusstseinsprozesse nur innerlich vor sich gehen, kann auf diese modifizierend wirken — wie alle Funktionen unseres Orga- nismus besonders während des tiefen Schlafes, der oft so heilsam auf sie wirkt, modifiziert sein müssen — aber zu wesentlich anderen können sie dadurch nicht werden. Dass die Natur unserer Traumvorstellungen dieselbe ist wie die unserer Vorstellungen im wachen Zustande, beweist uns beim Erwachen die Erinnerung, in welcher wir ihrer ganz klar uns bewusst werden. Sie verschwinden nur bald, weil die Welt, in welcher sie aus dem Schlummer erwacht sind, eine eingebildete war, nicht that- sächlich vorhanden ist oder fortdauert. Da eine vollendete Ruhe der Nerven, folglich der Gehirn- und Sinnesthätigkeit, nur im Tode denkbar ist, so kann im Schlafe der leiseste Anstoss, mag er dann von aussen oder von innen kommen, vollauf genügen, um ganze Reihen von Empfind- ungen, Vorstellungen und Gefühlen in Bewegung zu setzen: die Führung ihres Ganges besorgt dabei das Ich, als die letzte, charakteristisch unver- änderliche Zusammenfassung des Individuums. Dass diese Führung oft eine sehr abweichende ist von der, welche dasselbe Ich bei wachendem Individuum zuwege bringt, erklärt sich ganz natürlich aus dem Mangel der Kontrolle, welche die äussere Welt unerbittlich auf den Wachenden ausübt. Um das Verhalten des Ich im Traume zu begreifen, bedürfen B. Carneri, Träumen und Wachen. 5 wir daher so wenig eines eigenen Traumorgans, als wir, um sein Verhalten im wachen Zustande zu begreifen, ein eigenes Organ des Wachens nötig haben. Versteht nun pu PrEL unter diesen zwei Organen nichts als Modi- fikationen desselben Ich, so haben wir nichts dagegen einzuwenden. Schreibt er aber dem Traumorgan eine gewisse Selbständigkeit zu, so befinden wir uns da vor einer Hypothese, welche uns als eine wissenschaftlich nicht gestattete erscheint; denn einerseits ist sie zur Herstellung des Zusammenhangs der gegebenen Thatsachen, was wissen- schaftlich allein der Zweck einer Hypothese sein darf, überflüssig, und anderseits bahnt sie die Erklärung von Thatsachen an, welche über die gegebenen hinausliegen. Es ist dies sehr gefährlich, und die Gefahr besteht in der Versuchung, Erklärungen, die keine sind, als solche zu betrachten. Wir glauben nicht zu weit zu gehen, wenn wir sagen, dass der geistvolle Verfasser teilweise dieser Versuchung auch thatsächlich erliegt. Nicht nur der Wert, den er dem tierischen Magnetis- mus und dem Somnambulismus beilegt, macht uns stutzen, sondern der Ernst, mit welchem er den Umstand hervorhebt, dass im Traume Raum und Zeit ihre Verhältnisse vollständig ändern, namentlich die Zeit zu etwas herabsinkt, womit kaum mehr gerechnet wird. Es ist dies ganz richtig; allein darin bringt es auch die blosse Phantasie ohne allen Schlaf erklecklich weit, und was für wache Träumer die Neuzeit in diesem Stück aufzuweisen hat, ist weltbekannt. Bislang haben sie sich allerdings erst über die Dimensionen des Raums gewagt und die Zeit, soviel uns bekannt ist, in Ruhe gelassen. Fiele die Entscheidung dieser Frage den schlafenden Träumern zu — es kann ja, wie gesagt, sein, dass eine künftige Experimentalpsychologie den Inhalt der tiefsten Träume uns aufdeckt — dann könnte A. Rrent, welcher erklärt hat, mit der vierten Raumdimension ernster sich beschäftigen zu wollen, erst wann man ihm eine Krümmung der Zeit nachweisen wird, es noch erleben, beim Wort genommen zu werden. Gewiss kann man sagen, dass die Raum- und Zeitanschauungen der Träumenden in der Traumwelt zur Erscheinung kommen; allein gerade dieser Umstand macht uns die Welt der Träume besonders verdächtig, so lang uns nicht klar bewiesen wird, dass bei der Spaltung unseres Ich in zwei Organe auf jede Seite des- selben ein gleicher Verlass sei. Dass das entscheidende Moment in dieser Spaltung liege, konnte einem kritisch geschulten Denker, wie pu Pren einer ist, nicht entgehen. Darum hat er auch der dramatischen Spaltung des Ich im Traume einen eigenen Artikel gewidmet. Doch will es uns bedünken, dass er durch die Zurückführung dieser Spaltung auf die Verschiebung der Em- pfindungsschwelle oder der psychophysischen Schwelle die ganze Frage eher verwirrt. Wir möchten überhaupt lieber von einer Zurückschiebung dieser Schwelle reden. Bei einer Verschiebung weiss man nicht, wohin und in welchem Sinn geschoben wird; während man die Zurückschiebung leicht vereinbaren kann mit der im Schlafe eintretenden und zunehmen- den Unempfindlichkeit der sensorischen Apparate. Dass sich innerlich eine Art Demarkationslinie bildet zwischen dem Bewussten und Un- 6 B. Carneri, Träumen und Wachen. bewussten, geben wir anstandslos zu. Das geträumte Vorstellungsleben lässt sich in der That als ein inneres Bewusstsein bezeichnen — als bewusstlos gilt ja auch uns der Schlafende nicht — und das darüber Hinausliegende ist das Unbewusste. Dieses Unbewusste liegt aber nicht diesseits, sondern jenseits der Empfindungsschwelle, insofern für den Träumenden die Reize der Aussenwelt nicht existieren, und zwar nach Massgabe der Abstumpfung seiner Empfindlichkeit. Die Grenze des Un- bewussten ist die Grenze des Vergangenen, im Traume wie im Wachen, und die Grenze des Traums ist der Grenze des Wachens genau nach- gebildet. Immer enthält dieses Unbewusste unsere Erinnerungen, alles was wir erfahren und uns angeeignet haben; es ist der Fonds unseres Gedächtnisses. Wenn vu Preu sagt: »Aus der Region des Unbewussten tauchen die Traumbilder auf« (Band XII, S. 162); so gilt das ebenso von unserem wachen Denken. Nach denselben Gesetzen wie hier werden dort, nur ohne alle Kontrolle und Möglichkeit einer Berichtigung, daher oft sehr regellos und in Sprüngen die schlummernden Vorstellungen ge- weckt. Aus den im Traume zur Aktivität berufenen Vorstellungen bildet sich die Welt, die dem Träumenden als wirklich gilt und, wie pu Preu (Band XII, S. 47) ganz richtig bemerkt, zu seinem Nicht-Ich wird. Der Prozess, durch welchen der Träumende diesem Nicht-Ich sein Ich entgegensetzt, dürfte aber nicht so kompliziert sein, als er von Du PRrEL uns geschildert wird, und die Annahme einer Spaltung ist dabei ganz überflüssig. Wir brauchen nicht einmal der Spaltung zu gedenken, die vielleicht im Selbstbewusstsein liegt: es genügt zu dieser Erklärung die einfache Gegenüberstellung des Bewusstseins; träumen doch auch Tiere, welchen wir kein Selbstbewusstsein zuschreiben. Zudem sind alle Wahrnehmungen im Grunde innere Wahrnehmungen, und befin- den wir uns daher im Traume nicht in einer ungewohnten Situation: sobald die äussere Welt ins Unbewusste versinkt, für uns nicht mehr existiert, können wir gar nicht umhin, die erträumte Welt für eine wirk- liche zu halten. Im Schlafe leben wir ja fort. Ebenso einfach verhält sich’s mit der dramatischen Spaltung unseres Ich in manchen Träumen. Wir wiederholen dabei nur, was wir im Wachen thun, wenn wir uns einen Freund oder einen Feind ver- gegenwärtigen und mit ihm ein Gespräch führen. Wir können auf diese Weise auch mit verschiedenen Personen verkehren und jede einzelne so sprechen lassen, wie sie unseres Erachtens sprechen würde, sie alle wider- legen, aber ebenso gut auch uns von ihnen widerlegen lassen. Bei einiger Phantasie können wir fingieren, eines Verbrechens angeklagt zu sein, und im Geiste eine ganze Schwurgerichtsszene durchmachen, bei welcher wir nicht nur unsern Verteidiger, sondern auch den Ankläger, die Richter, die Zeugen und einzelne Geschworene reden lassen, ohne dass es dabei im geringsten uns anstössig wäre, dass eigentlich wir immer für alle reden. Warum sollten wir nicht derlei Szenen träumen können, wenn irgend eine Ideenassociation uns darauf bringt? Wie nichts uns daran hindert, bei solchen Gelegenheiten Witze zu machen, so hin- dert uns auch nichts, die besseren Witze — wenn nur auch solche uns einfallen — unseren Widersachern in den Mund zu legen. Wem ist es B. Carneri, Träumen und Wachen. 7 aber nicht schon geschehen, im Traume ganz entzückt gewesen zu sein über einen Witz, der im Erwachen als die abscheulichste Plattheit, oder über einen Vers, der im Erwachen als alles eher, denn als ein Vers, sich herausgestellt hat? Wer hat nicht schon im Traum zu seinem höchsten Erstaunen mit beispielloser Geläufigkeit eine fremde Sprache gesprochen, und erwachend bei einem sinnlosen Gallimathias sich ertappt? Wer hat nicht schon wiederholt im Traum seiner Beerdigung beigewohnt, das eine Mal die Sache ganz natürlich findend, das andere Mal nicht recht begreifend, wie er dabei unter die Leidtragenden geraten sei, und dass diese ihn weder bedauerten noch beglückwünschten ? Gerade diese Spaltungen, nicht nur des Ich, sondern des Verstandes unseres Ich, und die mit den Störungen um die Zeit des Erwachens gar nichts gemein haben, stimmen unsere Erwartungen betreffs der Träume aus der Mitte des Schlafes sehr herab. Das Höchste, was wir bei ihnen erwarten, ist, wie wir bereits erwähnt haben, ein vernünftigerer Vorstellungsverlauf und ein richtigeres Urteil, als durchschnittlich bei den Träumen zu beob- achten uns gegönnt ist. Wenn der geehrte Verfasser der in Rede stehen- den Abhandlungen die Geduld gehabt hat, bis hierher unseren Betracht- ungen zu folgen, so wird er uns nicht nur zugeben, dass wir uns red- lich bemüht haben, auf seine Gedanken einzugehen, sondern auch dass die Entscheidung der Frage, ob den Träumen Wichtigkeit beizulegen sei, von der Beantwortung folgender drei Vorfragen abhängt. Es müssen nicht alle drei in einer der Wichtigkeit der Träume günstigen Weise beantwortet werden. Die günstige Beantwortung einer einzigen, gleich- viel welcher, genügt. Die Fragen sind folgende. Gibt es eine Seele, welche unabhängig von den Sinnen Wahr- nehmungen machen, Erfahrungen sammeln, oder was dasselbe ist, auf dem Wege reiner Intuition zu klaren Begriffen, Urteilen und Schlüssen gelangen kann? Wenn Ja, so kann der Wert der tieferen Träume ein ganz ausserordentlicher sein. Wir können aber ein solches absolut selb- ständiges Wesen im Menschen mit einer echt einheitlichen Weltanschau- ung nicht in Einklag setzen, und bei jeder ‘andern Lösung der Seelen- frage vermögen wir nicht den Traum über den Zustand des Wachens zu stellen. Eine solche Seele hält auch pu Preu mit einer einheitlichen Welt- anschauung für unverträglich. Darum greift er nach einem Traumorgan, das er sozusagen nur negativ näher bestimmt, insoweit es ihm nämlich nötig scheint, um zu zeigen, dass er dabei nicht in Widerspruch gerät mit seinen monistischen Grundsätzen. Darum können wir unsere zweite Frage nur dahin formulieren: Gibt es eine Wahrnehmung, die der sinnlichen Auffassung entraten kann, bei der ein inneres Organ die äusseren Organe nicht nur ersetzt, sondern an Klarheit der Auffassung derart überbietet, dass die Kenntnisse, die es dem Menschen zuführt, alles weit hinter sich lassen, was er im Wege der gemeinen Erfahrung sich anzueignen vermag? Wenn Ja, wie oben. Allein diese Hypothese gehört zu denjenigen, die wir bereits als unstatthaft erklärt haben, und wir sind zudem überzeugt, dass DU PrEL, wie sehr auch eine solche Wahrnehmung, die in den meisten Werken über Träume zahlreiche 8 B. Carneri, Träumen und Wachen. Bestätigungen findet, dem höchsten Ziel seiner Wünsche entsprechen würde, in dieser präzisen Form sie ebenso entschieden, als wir es thun, ablehnt. Mit einer verschwommenen Formulierung ist uns aber nicht gedient. Es bleibt demnach nur mehr ein Drittes übrig, das unglückselige Unbewusste, und da erklären wir kurz und bündig: dass es für ein kritisches Denken nichts anderes sein kann, als die einfache Nega- tion des Bewussten. Über diesen Punkt kommen wir nicht hinaus; aber zugeben müssen wir, dass es genügt, dem Unbewussten einen po- sitiven Wert zu vindizieren und seiner Passivität Aktivität zuzuschreiben, um dem Werte der Träume im Gegensatz zum eıfahrungsmässigen Wissen zum Sieg zu verhelfen. Was wäre aber das für ein Sieg, d.h. was wäre damit gewonnen, und um welchen Preis? Im günstigsten Fall wäre es ein dunkler Sieg des Mystizismus. Wir sagen dunkel, weil das Unbewusste im Dunkel liegt, der Heimat des Mystizismus, und wir betonen diesen, weil das Geheimnisvolle des Magnetismus, des Somnambulismus, des Spi- ritismus u. s. w. zur Herrschaft gelangen würde. Das Geheimnisvolle aber flösst uns ebensowenig Respekt ein, als Interesse: es ist etwas, das wir nicht kennen. Je verlässlicher die Mittel wären, durch welche wir zu einem Einblick in die tiefen Träume gelangen würden; je unzwei- deutiger die Aussprüche dieser letzteren sich vernehmen liessen: desto näher kämen wir einer unvermittelten Erfahrung und durch diese einem Seelenbegriff, vor dem alle echte Wissenschaft, die mit dem Grundsatz der Kausalität steht und fällt, die Segel streichen müsste. Gilt einmal der Satz, dass, weil die Kausalität, das Übergehen der Ursache in die Wirkung, nicht mit Händen zu greifen ist, die physiologischen Funktionen, aus welchen die psychologischen Vorgänge sich ergeben, nur Begleit- erscheinungen sind — so gibt es nur Einen Schritt zu der Annahme, dass übernatürliche Funktionen sie bewirken könnten, und das Denken ohne Gehirn, das denkende Weltall, das Unbewusste der Philosophie des Unbewussten würde zum obersten Prinzip. Entweder erfasst man das Unbewusste als das einfach Nichtbewusste, oder man wird von ihm erfasst, und gerät bei der besten Absicht, zu einer Vertiefung des Wissens zu gelangen, in eine Untiefe, in der man rettungslos stecken bleibt. Das wäre der Sieg auf dieser Fahrt. Und der Preis dieses Sieges wäre die Wissenschaft. Das Wissen wäre geopfert dem Glauben, aber nicht etwa dem reinen Glauben, der keine Beweise verlangt — dessen wir nicht fähig sind, den wir aber verstehen — dem uns unverständlichen Aberglauben wäre die Wissenschaft geopfert. Nicht um Wunder, die im Geiste sich vollziehen, um Wunder handelte sich’s, bei welchen ein mystischer Hokus- pokus als wissenschaftliche Methode auftritt und dem Unsinn einen tiefen Sinn aufprägt. Darum genügt es nicht zu erkennen, dass es für den Menschen kein absolutes Wissen gibt, und hat man auch mit der Erkenntnis sich zu befreunden, dass es keinen Weg dahin gibt: jeder Schritt auf einem angeblich dahin führenden Wege entfernt uns von dem Wissen, das den Menschen zu dem gemacht hat, was er ist, und auf B. Carneri, Träumen und Wachen.‘ g das mit Stolz zu blicken er allen Grund hat. So gewiss es ist, dass die Erweiterung des menschlichen Wissens, so oft sie zu einer Vertiefung desselben führt, eine Verengerung des Wissenskreises zur Folge hat: ebenso gewiss ist es, dass jede neue Vertiefung eine Erweiterung auf soliderer Unterlage anbahnt. Man kann dies nicht vortrefflicher aus- führen, als dies nu Preu selbst gethan hat in der Abhandlung: Über die Entwicklungsfähigkeit der Wissenschaft (Kosmos, Band XI, S. 401), welche wir als eine Einleitung der Aufsätze über Träume betrachten zu können glauben. Man vergleiche nur die Begriffe der Naturkräfte ältester, älterer, neuerer und neuester Zeit, und man sieht mit einem einzigen Blick, wie der Fortschritt von der Botmässigkeit der Naturkräfte uns befreit und sie uns unterthan gemacht hat. Und worin besteht der Fortschritt? Etwa darin, dass wir einen Einblick in ihre Wesenheit gewonnen haben? Im Gegenteil: der Gewinn besteht darin, dass der an der Hand der Erfahrung fort und fort sich klärende Verstand fort und fort Anschauungen über Wesenheiten beseitigt hat, welche von einer träumerischen Intuition ausgeheckt worden waren. Allen Fortschritt verdanken wir der Wissenschaft und deren eigenem Fortschritt auf dem kritischen Gebiete. Nicht das Wesen der Erscheinungen sucht die kri- tische Wissenschaft aufzudecken, sondern ihre Verhältnisse zu einander und zur menschlichen Erscheinung. Ihre Gewissheiten drehen sich nur um relative Grössen und deren relatives Verhalten zu einander; allein die Relativität ist für den Menschen, wie er uns erscheint, von positivem Wert, und die positiven Gewissheiten, welchen das menschliche Streben seine glänzendsten Triumphe und die allein sichere Grundlage einer steigenden Wohlfahrt verdankt, sollen wir hingeben für die lockenden, aber durch die Willkürlichkeit ihres Ausgangspunktes wie durch die Aben- teuerlichkeit ihres Zieles notwendigerweise haltlosen Elukubrationen einer mondsüchtigen Philosophie? Das Wachen sollen wir hingeben für das Träumen? Den hellen Tag sollen wir hingeben für eine dunkle Nacht, im günstigsten Fall für ein dämmerndes Zwielicht ? Und warum sollten wir das? Bringt dieses Dämmern den Tag, so bleiben wir lieber gleich beim Tag, da er schon unser ist. Wozu mit einem Dämmern es wagen, das auch das Dämmern sein kann einer hereinbrechenden Nacht? Wir kennen die Antwort: das Licht unseres Tages ist nur das vergängliche Licht sterblicher Augen; das Licht, das jene Dämmerung uns verheisst, ist das Licht des ewigen Geistes. Aber wir kennen nicht nur diese Antwort, wir wissen auch, dass sie nicht das letzte Wort unserer Gegner ist. Diese kennen so gut als wir die dem Menschen und seiner Erkenntnis gezogenen Schranken und deren Unübersteiglichkeit. Wir haben es ja hier mit gelehrten Gegnern zu thun. Sie würden uns gar nicht zum Wort kommen lassen, wenn wir Miene machen wollten, ihnen die Fruchtlosigkeit ihres Strebens klar- zulegen, und kämen uns gleich auf halbem Wege entgegen mit einer herzzerreissenden Schilderung der Glaubensbedürftigen, die einen unaus- löschlichen Durst nach absoluter Wahrheit im Herzen tragen und in der Wüste, als welche unser unabsehbares, kein letztes Ziel anstrebendes Wissen sie umschliesst, elendiglich verschmachten müssten, wenn ihnen 10 -B. Carneri, Träumen und Wachen. nicht, und wär’ es auch noch so von ferne, eine Oase philosophischen Glaubens winkte. Wären wir nicht selbst diesen Weg gegangen, so könnten wir vielleicht durch diesen Schmerzensruf uns erweichen lassen. Wir haben das durchgemacht. Es gibt keine grössere Täuschung, als die da meint, auf diesem Wege zu wahrer Beruhigung zu gelangen. In der Verbindung: philosophischer Glaube, — begegnet ein falscher Glaube einer falschen Philosophie. Wie bei allen Kompromissen kommen beide Teile dabei zu kurz. Was wir da sagen, liegt ganz gleich in beider Interesse. Auch hier gilt ScuiLLers Wort: »Wer dieser Blumen Eine brach, be- gehre die andre Schwester nicht.< Beide erlangt niemand, weil man die andere nur erlangen könnte, die erste verlierend. Ist es eine Barbarei, den Gläubigen in seinen heiligsten Gefühlen zu kränken: so ist es nicht minder eine Barbarei, Grundsätze, aus deren Klarheit das Gemüt des Glaubenslosen seine erfrischendste Labung schöpft, durch halbgläubige Zusätze zu trüben. In allen ernsten Dingen sind die Halbheiten das Verderblichste. Der glauben kann und im Glauben Trost und Stärkung findet, der glaube voll und ganz; denn es ist für ihn alle Weisheit der Welt eitel Geplauder, sein eigentliches Element die Religion. Der aber nicht glauben kann und der Philosophie sich zuwendet, der hat ebenso voll und ganz sich ihr zuzuwenden. Darunter verstehen wir so wenig eine fortwährende Beschäftigung mit fachmännischen Studien, als wir im anderen Falle fordern, dass Einer zum Theologen werde. Für den Gläu- bigen sind Vorsehung und Unsterblichkeit die unwandelbaren Pole, um deren Achse seine ganze Welt sich bewegt; und weiss er dabei unter allen Widerwärtigkeiten des Lebens das Banner der Menschenliebe hochzuhalten und in Ergebung einen edlen Gleichmut sich zu bewahren: so kann er am Schluss seines Lebens hingehen mit dem Bewusstsein, in würdiger Weise seine Aufgabe gelöst zu haben. Die Aufgabe des Philosophen ist genau dieselbe; nur die Pole, um welche die Achse seiner Welt sich bewegt, sind andere und heissen Kausalität und Not- wendigkeit. An diesen Grundsätzen darf nicht gerüttelt werden; denn gerade in ihrer Unwandelbarkeit liegt ihr hoher Wert. Dass alles, was ge- schieht, mit unabänderlicher Notwendigkeit geschieht, und dass nichts geschehen kann, wozu die erforderlichen Bedingungen mangeln, sind zwei nie versiegende Quellen der Beruhigung und Ermutigung, wenn wir unsere ganze Weltanschauung rückhaltlos danach einrichten und im Vollgefühl alles Guten und Edlen, das jeder findet, der es ernstlich sucht, das Unvermeidliche als eben unvermeidlich mit in den Kauf nehmen. Nicht nur ertragen. wir jeden Schicksalsschlag leichter, bei welchem wir wissen, dass kein höherer Wille ihn uns zugefügt hat, und einsehen, dass es unter den gegebenen Verhältnissen nicht anders kommen konnte; nicht nur beurteilen wir unsere Mitmenschen milder, wenn wir den notwendigen Zusammenhang ihres Handelns mit dem allgemeinen Ge- schehen nie ausser acht lassen; nicht nur ist die klare Erkenntnis dieses allgemeinen Zusammenhangs der Dinge die festeste Schutzwehr gegen das trostlose Gefühl der Vereinsamung: die blosse Naturbetrachtung B. Carneri, Träumen und Wachen. 11 auf Grund der Gesetzmässigkeit, mit welcher alles entsteht, vergeht und zu höheren Stufen sich fortentwickelt, wie überhaupt die Beschäftigung mit wissenschaftlichen Dingen gehört zu den höchsten und reinsten Ge- nüssen, zu den seltenen Genüssen, die uns bereichern und darum in der Erinnerung uns noch beglücken. Überblicken wir von diesem Stand- punkt die Entwicklung des ethischen Menschen: wie er unter der Herrschaft der unerbittlichen, aber auch keiner Willkür zugänglichen Kausalität Ideale sich geschaffen hat, für die er selbst sein Leben aufs Spiel setzt, weil sie ihm die Befriedigung seines unvertilgbaren Glück- seligkeitstriebes verbürgen; — so entrollt sich vor unseren Augen ein Bild der Menschheit, das mit seinen Freuden und Leiden, mit seinen Hoffnungen und Entsagungen, mit den zahllosen Fällen, in welchen Hilfe not thut und Rettung möglich ist, das grösste Herz auszufüllen vermag. Den Bedürfnissen des Gemütes, wenn sie nur nicht irregeleitet sind durch falsche Sentimentalität oder überspannte Anforderungen, weiss dieses irdische Leben so vielseitig gerecht zu werden, dass es eine leere Ausflucht ist, wenn man die Armseligkeit dieser Existenz als den Grund bezeichnet, der die Menschen immer wieder getrieben hat, in der Traum- welt eine Zuflucht zu suchen und vielleicht einen Ausblick in ein besseres Leben. Wir haben uns hier so viel mit dem Träumen beschäftigt, dass es zum Schluss uns gestattet sein mag, noch ein paar Worte, welchen pu Pren gewiss zustimmt, dem Wachen zu widmen. Wir halten es mit dem Wachen. Möglich, dass uns für das Träumen der richtige Sinn fehlt. Vielleicht auch ist es die durchschnittliche Eigenart der Leute, die viel auf Träume geben, was uns von diesen keinen sonderlichen Begriff beigebracht hat. Jedenfalls hat uns immer zu sehr die Arbeit gefreut, als dass wir nicht täglich auf einen guten Schlaf uns gefreut hätten; und als ein guter, gesunder Schlaf hat uns immer der gegolten, bei welchem wir möglichst wenig von Träumen wussten, und von dem nichts uns zurückblieb als das Gefühl erneuter Kraft. Bei voller Kraft arbeiten ist Genuss. Auch haben wir viel zu viel gelitten, um nicht zu wissen, dass die Nacht Qualen bringen kann, die der Tag nicht kennt. Jeden neuen Tag mit Freuden zu begrüssen, ist das Kennzeichen des Glücklichen. Mit klarem Auge dem jungen Tag ins klare Auge sehen, kann nur der Tüchtige. Die Nacht za bevorzugen, ist krankhaft. Die dunkle Nacht ist die Schwester des Todes; der Tag ist das Licht, das Leben. Darum wollen wir’s auch fürderhin mit dem Wachen halten und unserer vollen Sinnesthätigkeit uns erfreuen, als der eigentlichen Vermittlerin zwischen unserem winzigen Ich und der riesigen Welt. Wenn es etwas gibt, wodurch unser Ich, das schier uns verschwinden will, wenn wir mit ihm uns beschäftigen, eine nennenswerte Bedeutung er- langt, so war es immer die Arbeit. Gegen einen tiefen Kummer hilft nur Arbeit bis zur Ermüdung. Jede Stunde, die wir länger gewacht, erschien uns immer als gewonnen. Nur wachend sind wir ganz unser eigen: im Traum sind wir gefesselt. Dem Träumer scheint selbst das Wachen ein Traum; darum will er immer tiefer träumen, weil er sich sehnt, endlich einmal wirklich zu erwachen. Jeder kann nur den 12 J. W. Spengel, Darmlose Strudelwürmer. Weg gehen, den seine Individualität ihm vorschreibt. Aber uns will es scheinen, als gingen wir den sichereren Weg, indem wir’s mit dem Wachen halten und nach Kräften leben und arbeiten, bis wir Eines Tages ganz müde sind, und recht von Herzen uns sehnen nach einem endlos guten, traumlosen Schlaf. Wildhaus, 22. Mai 1883 Darmlose Strudelwürmer. Von Dr. J. W. Spengel (Bremen). Huxtey hat an mehreren Stellen seines bekannten »Lehrbuches der Anatomie der wirbellosen Tieres ausgesprochen, man müsse bei der Beurteilung der Darmlosigkeit mancher Schmarotzer, so namentlich der Bandwürmer und der Kratzer (Akanthocephalen) an die Möglichkeit denken, dass dieselben nicht durch Umbildung freilebender, mit einem Darme ausgestatteter Formen entstanden seien, sondern von Tieren ab- stammen möchten, die nie einen Darm besessen haben. Er weist in Zu- sammenhang mit dieser Frage besonders auf die durch van BENEDENS treffliche Untersuchung so gut bekannt gewordenen Dieyemiden hin, jene in den Nieren der “Cephalopoden lebenden wurmförmigen Schmarotzer, welche von den oben genannten Parasiten zwar in der mangelnden Aus- bildung eines Mesoderms abweichen, ihnen jedoch in dem gänzlichen Mangel eines Darmkanales gleichen. Anderseits ist wohl nie zuvor die Bedeutung der Strudelwürmer oder Turbellarien für die phylogenetische Verknüpfung höherer Formen mit niederen mit solchem Nachdruck her- vorgehoben worden wie in eben diesem Werke Huxtrys, und es würde nicht haben überraschen können, wenn der Verf. es versucht hätte, das, was man damals über die Darmlosigkeit gewisser Turbellarien wusste, im Sinne seiner Annahme eimes primärenDarmmangels zu deuten und zu verwerten. Huxtey sagt indessen über diesen Punkt nur fol- gendes: »Bei den niedersten Turbellarien (z. B. Convoluta) kann von einer eigentlichen Verdauungshöhle kaum die Rede sein; hier sind die Endodermzellen nicht so angeordnet, dass sie eine Darmhöhle begrenzen, sondern die Nahrung durchsetzt die Lücken eines Endoderm-Parenchyms. < Man muss danach annehmen, dass ihm entweder die Abhandlung Ursanıns über »die Turbellarien der Bucht von Sebastopols (in: Be- richte Ver. Freunde d. Naturw. Moskau 1870), in welcher der Begriff der »Acölie« aufgestellt wurde, nicht bekannt geworden war, oder dass er aus den Beobachtungen: des russischen Forschers ebenso wie manche andere Zoologen doch keinen andern Schluss zu ziehen wagte, als den in den oben citierten Worten enthaltenen, wonach anzunehmen wäre, dass J. W. Spengel, Darmlose Strudelwürmer. 13 bei Convoluta und verwandten Turbellarien nicht der Darm, sondern nur eine Darmhöhle fehle. In Wirklichkeit wurde durch Utsanıns Unter- suchungen der gänzliche Mangel eines Darmes bei den Gattungen Con- voluta und Schizoprora dargethan. Im Jahre 1878 erhielten seine An- gaben eine vollgültige Bestätigung durch GrArr, der in einem »kurzen Bericht über fortgesetzte Turbellarienstudien« (in: Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. 30 Suppl.) nach seinen Beobachtungen an Schizoprora venenosa OÖ. SCHM. aussprach, es gebe »innerhalb der Gruppe der Turbellarien gänzlich darm- lose Formen (Acoela Uusanıss), bei denen die Nahrung durch eine kleine Hautstelle eintritt, um in einer vakuolenreichen, von Fetttröpfehen durch- setzten weichen Marksubstanz, gleichwie bei Infusorien, herumgetrieben zu werden.« Es ist ohne weiteres einleuchtend, von wie grosser Bedeutung es ist, die Thatsache der Darmlosigkeit gewisser freilebender (nicht schma- rotzender) Turbellarien mit vollkommener Sicherheit und in den Einzel- heiten ihrer Erscheinung genau kennen zu lernen und auch über die übrige Organisation dieser Tiere so viel wie möglich zu erfahren, dass jede Bereicherung unserer Kenntnisse auf diesem Gebiete mit Freuden willkommen zu heissen ist, und es ist gewiss nicht das geringste Ver- dienst der ausgezeichneten »Monographie der Turbellarien« *, mit der L. vox GRAFF vor kurzem die Wissenschaft beschenkt hat, dass er in derselben die Anatomie der »Acölen« auf Grund umfassender und sorg- fältiger Studien in eingehendster Weise behandelt hat. Es dürfte daher ein Auszug aus dem betreffenden Abschnitte der Monographie freund- licher Aufnahme bei den Lesern des »Kosmos« sicher sein. Die hierher zu rechnenden Formen gehören ohne Ausnahme dem Meere an und verteilen sich auf die Gattungen Proporus O. Scum. (Schizo- prora O. Scum.), Aphanostoma Ö., Nadina Uus., Cyrtomorpha v. Gr. und Convoluta Ö., von denen v. Grarr 22 sicher bekannte und 2 hinsicht- lich ihrer Zugehörigkeit sehr zweifelhafte Arten aufzählt und 9 selbst untersucht hat. Er ist der Erste, welcher sich bei seinen Untersuchungen der Hilfsmittel der modernen zootomischen Technik, besonders der Zer- legung in feine Schnitte und der Tinktion der Gewebe bedient hat, und diesem Umstande ist es zu verdanken, dass seine Studien gerade in bezug auf die wichtigste Frage, diejenige nach der Beschaffenheit des -Verdauungsapparats, so erfolgreich geworden sind. Ehe wir die übrige Organisation betrachten, wollen wir uns mit den auf diesen Punkt be- züglichen Beobachtungen bekannt machen. - Obwohl den Acölen ein Darm fehlt, besitzen sie doch alle einen Mund, mittels dessen sie ihre vorwiegend aus animalischen Stoffen (Krustaceen und anderen Turbellarien) bestehende Nahrung ins Leibes- innere aufnehmen. In den meisten Fällen ist dieser Mund nur ein ein- facher Spalt der Haut, an den sich von allen Seiten radiär angeordnete Muskelfasern anheften, vermittelst deren die Öffnung erweitert werden kann. Der Mund liegt entweder an der vordern Spitze des Körpers oder an der Bauchseite. Nur bei der Gattung Convoluta ist die Bildung ® Leipzig, Wilh. Engelmann. 1 Band Folio mit einem Atlas von 20 Tafeln. 14 J. W. Spengel, Darmlose Strudelwürmer. etwas komplizierter, indem sich hier um die Mundöffnung das Integument zu einem einfachen kurzen Schlundrohre einsenkt, das selbständiger, von Längs- und Ringmuskeln ausgeführter Bewegungen fähig ist. Weder an das Schlundrohr noch an den einfachen Mundspalt setzt sich indessen ein Darmkanal an, sondern die Öffnung jener führt in eine weiche fein- körnige Masse hinein, welche den ganzen Körper ausfüllt und die übrigen Organe umschliesst. v. GRAFF nennt diese Masse »Parenchym« und schildert sie als ein grössere und kleinere Lücken enthaltendes Maschen- werk, in das zahllose runde oder ovale Kerne und daneben noch in- differente Zellen, Pigmentzellen und Stäbchenzellen eingebettet sind. An verschiedenen Stellen des Körpers hat sie ungleiche Dichtigkeit, und auch die Festigkeit ist bei verschiedenen Arten eine ungleiche. Es kann auf diese Weise bei der Beobachtung des lebenden Objektes die Täuschung entstehen, als sei ein verdauender Hohlraum vorhanden, zumal da sich die Nahrungsstoffe besonders im centralen Teil anzuhäufen pflegen. Man kann sich aber auch dort schon überzeugen, dass sie innerhalb des Parenchyms liegen und alle die charakteristischen, an das Strömen des Rhizopoden-Protoplasmaserinnernden Bewegungen desselben mitmachen. In physiologischer Beziehung besteht somit in der That, wie dies v. Grarr mit Recht hervorhebt, eine vollständige Übereinstimmung zwischen dem Endoplasma der Infusorien und dem Parenchym der Acölen; aber natürlich auch nur in physiologischer, nicht in morphologischer Hinsicht, und es bedarf keines besondern Beweises, dass der Satz, »die Turbellarien erscheinen dadurch den Infusorien wesentlich näher gerückte, den v. GRAFF in einer seiner früheren Publikationen aufgestellt hatte, nur in dem soeben begrenzten Sinne seine Bedeutung behält. Dieser Modus der Verdauung ist jedenfalls sehr eigentümlich und durchaus abweichend von demjenigen bei den Wirbeltieren. Während bei diesen Drüsen verschiedener Art verdauende Sekrete erzeugen, welche die Nahrungsstoffe umfliessen und auflösen und sie dadurch in einen Zustand überführen, in dem sie in den Stoffwechsel eintreten können, nimmt bei den Acölen die Protoplasmamasse des Parenchyms dieselben in festem Zustande auf und wirkt auf diese ein. Allein wir wissen jetzt, namentlich durch die Untersuchungen von METSCHNIKOFF, dass bei niederen Wirbellosen die Darmzellen keineswegs immer einen Verdauungs- saft absondern, sondern sich wesentlich ebenso verhalten wie das Paren- chym der Acölen oder das Endoplasma der Infusorien, also die festen Nahrungsobjekte in ihren Körper aufnehmen und dort zersetzen. Was in dem einen Falle wirkliche, eine Höhle begrenzende Darmzellen leisten, vollführt bei den Acölen das solide Parenchym, und man möchte sich wohl denken, dasselbe stelle nichts weiter dar als einen des Hohlraums entbehrenden Darm, ein Gebilde, dessen Existenz nach dem obigen nicht schwer zu begreifen wäre. Wie dann aber mit den bereits erwähnten Einschlüssen, den Pigment- und den Stäbchenzellen? Pigment findet sich nicht selten im Darmepithel und würde dieser Auffassung kein be- sonderes Hindernis bereiten. Die Stäbchenzellen aber, d. h. Zellen, die mit Paketen kleiner stäbchenförmiger Körper erfüllt sind, gehören nach allem, was wir über ihre morphologischen Beziehungen und auch über J. W. Spengel, Darmlose Strudelwürmer. 15 ihre Entwicklung wissen, ohne Zweifel zur Haut. Sie finden sich auch bei den gewöhnlichen, mit einem Darm ausgestatteten Turbellarien und liegen hier entweder in der Epidermis oder im Mesoderm, d. h. dem in den meisten Eigenschaften dem Parenchym der Acölen gleichenden Ge- webe, das den Raum zwischen Darm und Haut ausfüllt. Und mehr noch als das Verhalten der Pigment- und Stäbchenzellen spricht dasjenige der Geschlechtsorgane gegen die Deutung des Parenchyms als eines soliden Darmes; auch diese sind vollständig in das Parenchym eingebettet, wie bei den darmführenden Formen in das Mesoderm. So gelangt man also von einem typischen Strudelwurm ausgehend zu einer Acöle, indem man jenem den Darm nimmt und die Leistungen desselben dem Mesoderm über- lässt. Danach besässen die Acölen nur zwei Körperschichten, nämlich ein Ektoderm und das Parenchym. Ist dies Parenchym wirklich dem Mesoderm der übrigen Turbellarien gleichwertig, wie es nach unserer eben an- gestellten Betrachtung den Anschein hat, oder entspricht es auch mor- phologisch dem Mesoderm und dem Endoderm zusammengenommen, wie es dies in physiologischer Beziehung thut? v. Grarr spricht darüber keine bestimmte Ansicht aus, scheint sich indessen mehr der letztern Alternative zuzuneigen. So sagt er: »Bei den Acölen ist es noch nicht zur Scheidung von Darmepithel und Parenchymgewebe gekommen.« Und anderseits frägt es sich, ob die Acölie eine primäre Erscheinung oder ein Rückbildungsprodukt ist, mit anderen Worten, ob die Acölen eine ursprünglich darmlose Tiergruppe darstellen oder Nachkommen darm- tragender Formen sind, die den Darm eingebüsst haben. Wir werden gewiss mit v. GRAFF entwicklungsgeschichtlichen Untersuchungen in dieser Frage das erste Wort lassen und wollen wünschen, dass es v. GrAFrF selbst bald möglich sein wird, diese empfindliche Lücke in unserer Kenntnis der Acölen auszufüllen. Allein es wird doch nicht ganz unnütz sein, wenn wir uns einige nicht unwesentliche Unterschiede vergegenwärtigen, die zwischen der Darmlosigkeit der acölen Turbellarien und der Band- würmer und Kratzer bestehen. Wie wir gesehen haben, besitzen die Acölen eine Mundöffnung und nehmen mittels dieser feste Nahrung auf, um sie im Innern ihres Paren- chyms zu verdauen. Dagegen fehlt sowohl den Bandwürmern als auch den Kratzern nicht nur der Darm, sondern auch der Mund. Sie leben als Parasiten mitten in dem Speisebrei, für dessen Verdauung nicht sie selber sorgen, sondern ihr Wirt. Wir wissen nicht genau, auf welche Weise diese Schmarotzer sich ernähren; aber wir nehmen mit Grund an, dass sie die von ihrem Wirte in flüssigen Zustand übergeführte Nah- rung auf osmotischem Wege durch die Haut hindurch sich einverleiben. Jedenfalls steht es fest, dass weder Bandwürmer noch Kratzer je feste Nahrung aufnehmen und dass sie kein verdauendes Parenchym in dem Sinne wie die acölen Turbellarien besitzen. Wir erkennen also in den besonderen Lebensverhältnissen dieser Schmarotzer das Moment, das uns den Schwund des Darmes begreiflich erscheinen liesse: wenn der Wirt gewissermassen für die Parasiten verdaut, so können diese eines Ver- dauungsapparates entbehren. Ganz anders liegt der Fall aber bei den Turbellarien: die Acölen sind nicht Schmarotzer, und wir sehen, dass sie 16 J. W. Spengel, Darmlose Strudelwürmer. wirklich selbst verdauen, obwohl sie keinen Darm haben. Es ist zu- nächst gar nicht einzusehen, wie sie einen Darm hätten verlieren können, wenn sie ihn einmal besassen: derselbe wurde ja nie nutzlos für sie. Es scheint mir also kaum möglich, sich die Acölie als eine Rückbil- dungserscheinung zu denken. In diesem Sinne muss sie eine primäre sein. Aber sie könnte immerhin nur scheinbar sein, und ich möchte in dieser Beziehung eine Vermutung aussprechen; es versteht sich von selbst, dass ich derselben keinen höheren Wert beilege als den eines Winkes für eine spätere entwicklungsgeschichtliche Untersuchung. Wenn ich sage, die Acölie könnte vielleicht eine scheinbare sein, so meine ich damit, dass man sich den Darm als einen diffusen denken kann, der- art, dass die Zellen des ursprünglichen Endoderms keinen geschlossenen Haufen oder kein geschlossenes Blatt bilden, sondern sich in amöboidem Zustande, wahrscheinlich zu einem plasmodiumartigen Syneytium zer- tlossen, zwischen die Mesodermelemente verteilt und so zwar ihre Funktion beibehalten, aber ihre Gestalt aufgegeben haben. Ich will keinen Ver- such machen, die Ursachen aufzudecken, die zu diesem Prozess geführt haben mögen; doch liessen sich zu diesem Zweck leicht allerlei Hypo- thesen aufstellen. Mag es indessen damit genug sein über die Acölie und wenden wir uns der Betrachtung der übrigen Organisation zu. In dieser Beziehung ist als eine der auffälligsten Erscheinungen der Mangel des Nervensystems hervorzuheben. Wenigstens ist es v. GrAFF ebensowenig wie irgend einem seiner Vorgänger gelungen, auch nur eine Spur eines solchen nachzuweisen. Es ist nicht ganz leicht, sich mit diesem negativen Befunde abzufinden; denn einerseits kennen wir jetzt von allen Metazoen und so auch von allen übrigen Turbellarien ein wenn auch oftmals sehr primitiv gebildetes Nervensystem, und anderseits sind alle Acölen mit Sinnesorganen ausgestattet. Es wird daher unzweifelhaft noch gelingen, auch die Existenz eines Nerven- systems für dieselben darzuthun, mag dies nun als eine Faserschicht mit spärlichen oder zahlreicheren Ganglienzellen unter der Epidermis liegen wie bei Echinodermen und gewissen Würmern, oder sich in Gestalt zer- streuter Zellen und Fasern unter den Elementen des Parenchyms finden, also ähnlich wie bei gewissen Cölenteraten, namentlich den Rippenquallen. Für letzteren Fall spricht augenscheinlich das Verhalten des Nerven- systems bei den übrigen Turbellarien. So deutliche Beziehungen zur Epi- dermis das Nervensystem bei den meisten anderen Würmern zeigt, so wenig ist es bei den Turbellarien gelungen, auch nur die geringste Spur davon nachzuweisen; sowohl die anatomische als die entwicklungsgeschicht- liche Untersuchung ergibt eine völlige Unabhängigkeit des Nervensystems von der Epidermis, das Gehirn liegt vielmehr von seiner ersten Entstehung an mitten im Mesoderm, so dass es von O. und R. Hrerrwıc als meso- dermales Nervensystem in Anspruch genommen wird. Ein solcher Zu- stand könnte recht wohl durch gesteigerte Konzentrierung etwaiger ner- vöser Elemente des Acölenparenchyms zustandekommen. Die Sinnesorgane sind bei den Acölen durch Augen und Ge- hörorgane vertreten, und eine grosse Empfindlichkeit gegen Berührung weist auf die Existenz auch des Tastsinnes hin. Augen kommen bei J. W. Spengel, Darmlose Strudelwürmer. 7 allen Gattungen mit Ausnahme von Aphanostoma vor, fehlen aber bei manchen Arten und zeigen sich auch dort, wo sie vorhanden sind, in ungleicher Ausbildung. Es sind zwei nahe dem Vorderende gelegene und der Epidermis angehörige, bald scharf begrenzte, bald diffuse Pigment- flecke. Nur in einem einzigen Falle, bei Proporus venenosus O. SCHM., besitzt jedes Auge eine kegelförmige Linse, die aus dem schwarzen Pigment- becher weit hervortritt. Dagegen kommt allen Acölen ein Gehörorgan in Gestalt einer unpaarigen. Blase oder »Otocyste« zu, die in ihrem Innern ein Gehörsteinchen oder einen »Otolithen« enthält. Ebenso wie das Nervensystem fehlt den Acölen der Exkretions- apparat. Durch eine Anzahl neuerer Untersuchungen, besonders von Fraıont und Pıyıser, sind die Exkretionsorgane der Plattwürmer sehr gut bekannt geworden, und v. Grarrs Beobachtungen schliessen sich für die Rhabdocölen, von denen er namentlich das glashelle Mesostoma Eihrenbergi genau untersuchte, denselben in allen wesentlichen Punkten an. Bei den Acölen gelang es ihm aber nicht, Exkretionsorgane nachzu- weisen. Was die Geschlechtsorgane betrifft, so ist zuerst hervorzu- heben, dass die Acölen wie alle Turbellarien Zwitter sind, also männ- liche und weibliche Organe in einem Individuum vereinigt enthalten. Die letzteren bestehen in zwei Ovarien oder Keimlagern, die rechts und links nahe der Bauchseite im Parenchym liegen. Nur bei Proporus und Apha- nostoma sind sie von diesem durch eine Membran getrennt; in der Regel aber entbehren sie einer solchen gänzlich und stehen mit dem Parenchym in direkter Berührung. Den ventralen und vorderen Teil jedes dieser Keimlager nimmt eine homogene Protoplasmamasse mit zahlreichen ein- gelagerten Kernen ein, den Keimbläschen der zukünftigen Eier, während weiter nach dem Rücken und hinten hin die Protoplasmamasse in einzelne, je ein Keimbläschen umschliessende Portionen zerklüftet erscheint, die nach und nach zu Eiern heranwachsen und sich mit Dotterkörnchen an- füllen. Bei denjenigen Formen, welche einer Membran um die Ovarien entbehren, wie Cyrtomorpha und Convoluta, häufen sich die reifenden und reifen Eier in unregelmässiger Weise im Parenchym an. v. GRAFF zählte bei Convoluta paradoxa bis zu 47 reife Eier. Wo dagegen eine Mem- bran das Keimlager begrenzt, da reihen sich die reifen Eier regelmässig jederseits auf. Die eben genannte Convoluta paradoxa zeichnet sich da- durch aus, dass bei ihr die Keimlager vor dem Munde mit ihren Vorder- enden zusammenstossen und verschmelzen. Die Hoden treten in einer Form auf, die v. Grarr als »follikulär« den bei den Rhabdocölen vorhandenen »kompakten« Hoden gegenüber- stell. Dieselben bestehen aus zahlreichen Bläschen, die durch das Parenchym namentlich der Rückenregion zerstreut sind und nur dadurch untereinander zusammenhängen, »dass die von den einzelnen Bläschen ausgehenden Spermazüge schliesslich jederseits zu einem gemeinsamen Vas deferens zusammenfliessen«. Diese führen zu einem sehr einfach ge- bauten, bald birn- oder retortenförmigen, bald lang cylindrischen Kopu- lationsorgan, das aus einer taschenartigen Einsenkung der Haut hervor- gestülpt werden kann. Bei der Begattung wird das Sperma in eine Kosmos 1884, I. Bd. (VII. Jahrgang, Bd. XIV). 2 18 J. W. Spengel, Darmlose Strudelwürmer. Blase des andern Individuums, ein Bursa seminalis, übertragen, die nur bei Proporus fehlt. In dem Zustande, wie die Geschlechtsorgane hier geschildert sind, pflegt man sie indessen bei einem einzigen Individuum nicht anzutreffen. Wie nämlich bereits Crarar&oE (1861) entdeckt hat, tritt bei Acölen die Reife der männlichen und weiblichen Organe nicht gleichzeitig ein, sondern nach einander. CLAPArEDE bedient sich für diese Erscheinung des Ausdrucks »successiver Hermaphroditismus«, einer, wie mir scheint, nicht besonders treffenden Bezeichnung, da es sich hier eher um einen »successiven Gonochorismus«, eine temporäre Geschlechtertrennung zwittrig angelegter Tiere handelt. Durch v. Grarrs Untersuchungen sind die Angaben des berühmten Genfer Forschers im wesentlichen bestätigt; doch fand jener, dass die Trennung zwischen männlicher und weiblicher Reife nicht so scharf ist, wie es sein Vorgänger angenommen hatte, dass. vielmehr ein allmählicher Übergang von »männlichen« zu »weiblichen Individuen« stattfindet. Bei Individuen von mittlerer Grösse werden stets Eier und Spermatozoen zugleich gefunden. Untersucht man aber ganz junge Tiere, so trifft man in denselben ausschliesslich die männ- lichen Organe entwickelt. Erst nachdem die Samenmasse zum grossen Teil entleert ist und die Bursa seminalis sich damit angefüllt hat, treten Eier auf. Die völlige weibliche Reife kennzeichnet sich durch gänzlichen Mangel von Spermaanhäufungen und Schwund des Kopulationsorganes bei gleichzeitiger Erfüllung des Leibes mit zahlreichen reifen Eiern. Mimicry bei Seetieren, Von Dr. Wilhelm Breitenbach. Unter Mimicery wollen wir nicht nur die schützende oder täuschende Ähnlichkeit zwischen verschiedenen Tieren verstehen, sondern auch die täuschende Ähnlichkeit mit leblosen Gegenständen und die Gleichfarbig- keit mit der Umgebung. Biologisch ist diese von der gewöhnlichen etwas abweichende, weitere Fassung des Begriffes der »Mimicry« wohl begründet; denn auch in den letztgenannten Fällen dient die Ähnlichkeit eines Tieres mit irgend einem Gegenstande dem Tiere selbst zum Schutz, sei es, dass es sich unbemerkt seiner Beute nähern oder seinen Feinden sich entziehen kann, sei es endlich, dass es durch die Ähnlichkeit viel- leicht mit ungeniessbaren Objekten vor feindlichen Angriffen gesichert ist. Über diese Gruppe interessanter Erscheinungen, die bekanntlich eine der festesten Stützen der Selektionstheorie darstellen, sind in Büchern und Zeitschriften schon eine Menge von Beobachtungen veröffentlicht worden, von denen ich nur auf die von Bares, WALLAcE, Fritz und Herm. MÜLLER hinzuweisen brauche. Die bisher bekannt gewordenen Beobachtungen beziehen sich zum grössten Teil auf Landtiere, während über Mimiery bei Seetieren bisher nur vereinzelte Angaben gemacht worden sind. Ich verweise z. B. auf E. Hazrcrers »Natürliche Schöpfungs- geschichte« und Carus STERNES »Werden und Vergehen<. Und doch haben die Fälle von Mimicry bei Seetieren ein nicht minder hohes Interesse. Auf meiner Reise von Brasilien nach England mit einem hol- ländischen Schoner in den Monaten Juli, August, September 1883 hatte ich vielfach Gelegenheit, pelagische Seetiere zu fangen und näher anzu- sehen. Vom 30. August bis zum 5. September durchkreuzten wir einen Teil des sogenannten Sargassomeers. Am 30. August mittags befanden wir uns auf 25° 12° n. B. und 33° 52° w. L. von Greenwich; am 5. Sept. mittags auf 34° 39° n. B. und 35° 52‘ w. L. Die Tange traten nicht in zusammenhängenden ausgedehnten Feldern auf, sondern in einzelnen mehr oder minder grossen Büschen, die vom Winde in langen fast geraden Linien zusammengetrieben waren, so dass man sie weit mit dem Auge verfolgen konnte. Diese linienförmige Anordnung ist mir auch 20 Wilhelm Breitenbach, Mimiery bei Seetieren. an pelagischen Tieren aufgefallen, namentlich bei den grossen Radio- larien-Kolonien oder Polycyttarien, Salpen und anderen Tieren. So finde ich in meinen Reisenotizen folgende Bemerkungen darüber: Am 3. Sept. grosse Polycyttarien in ganz kolossalen Mengen; meilenweit zogen sich dichte, breite Streifen derselben hin; am 14. Sept. ungeheure Mengen kleiner Salpen und Polyeyttarien, so dass das Wasser streifen- weise milchig aussah. Ich versäumte natürlich nicht, mir täglich grosse Mengen des Sargasso-Tangs auf Deck heraufzuholen und dieselben auf die an und zwischen den Pflanzen befindlichen Tierchen zu durchmustern. Bei dieser Gelegenheit boten sich mir denn einige so auffallende Fälle von Mimiery dar, dass sie wohl der Mitteilung wert erscheinen. Die Farbe der Tang- büsche in der Jugend ist ein gelbliches Grün, während ältere Zweige meistens mehr oder weniger dunkelbraun sind. Auf den Zweigen, Blättern und Luftbehältern des Sargassum gedeiht ein überaus üppiges tierisches Leben. Sehr zahlreich waren an den meisten der von mir untersuchten Büsche kleine Aktinien, von einer bald etwas helleren, bald etwas dunk- leren braunen Farbe. An manchen Stellen waren diese kleinen Aktinien so häufig, dass die Zweige dicht mit ihnen bedeckt erschienen. An den- selben Büschen nun, welche diese Aktinien trugen, die sich ziemlich gut von der Stelle zu bewegen vermögen, fand ich regelmässig kleine Nacktschnecken in ziemlich vielen Exemplaren vor. Diese kleinen, im ausgestreckten Zustande 1—1,5 cm langen Schnecken tragen auf dem Rücken zahlreiche retraktile Tentakeln, die in mehreren, in kleineren Ab- ständen von einander stehenden Querreihen hintereinander liegen. Die Farbe der Schnecken ist ein verschieden intensives Braun, ganz ähnlich der Farbe der eben erwähnten Aktinien. Wenn sich die Schnecken etwas stark zusammenziehen, so dass die Tentakeln dicht aneinanderrücken, so sehen sie den Aktinien so ähnlich, dass es für einen Nichtkenner der beiden Tierklassen anfangs mit Schwierigkeiten verknüpft ist, dieselben zu unterscheiden. Ich habe mich davon wiederholt beim Kapitän unseres Schoners überzeugt, der die Tierchen lange miteinander verwechselte und mir oft eine Schnecke gab, wenn ich ihn ersucht hatte, mir eine Aktinie zu reichen. Vielleicht noch täuschender wie diese ahmt eine andere kleine Nacktschnecke die Aktinien nach; bei dieser stehen die retraktilen Tentakeln nicht in hintereinanderliegenden Querreihen auf dem Rücken, sondern in zwei Längsreihen, je eine an jeder Rückenseite. Die Aktinien- Ähnlichkeit tritt selbstverständlich auch hier nur dann hervor, wenn sich die Schnecke stark zusammenzieht, also etwa in Zeiten der Gefahr. Welchen Nutzen kann nun wohl die Aktinien-Ähnlichkeit für die kleinen Nacktschnecken, deren Namen ich leider nicht anzugeben vermag, haben ? Thatsache ist zunächst, dass die Schnecken die Aktinien fressen, und zwar in ziemlich grosser Anzahl; ich habe beobachtet, dass eine einzige Schnecke innerhalb einer Stunde etwa 4—5 Aktinien verzehrte. Dass durch die Ähnlichkeit mit den Aktinien den Schnecken möglich ge- macht würde, sich unbemerkt ihrer Beute nähern zu können, diese An- sicht ist natürlich von vornherein ausgeschlossen, da ja die Aktinien bei der beschränkten Ortsbewegung, deren sie fähig sind, ihren viel schnelleren Wilhelm Breitenbach, Mimiery bei Seetieren. 21 Feinden doch nicht entwischen können. So bleibt nur die eine Ver- mutung übrig, nämlich dass wir es hier mit echter Mimiery zu thun haben, dass durch die Ähnlichkeit mit Aktinien die Schnecken mit ersteren verwechselt werden können. Tiere also z. B., welche Nackt- schnecken verzehren, Aktinien dagegen, vielleicht wegen der in ihrer Körperoberfläche zahlreich zerstreuten Nesselzellen, verschmähen, würden diese Schnecken, zumal wenn sie in zusammengezogenem Zustande sich befinden, nicht selten mit Aktinien verwechseln, und die Schnecken selbst würden den Angriffen ihrer Feinde weniger ausgesetzt sein, um so un- gestörter aber ihrer eigenen Beute, den Aktinien nachgehen können. Da ich leider nicht habe konstatieren können, welche speziellen Feinde die Schnecken haben und ob diese auch in der That die Aktinien ver- schmähen, so bleibt die versuchte Erklärung eben nur ein Versuch, den ich aber doch hier vorlegen möchte; vielleicht hat ein anderer Gelegen- heit, bei längerem Aufenthalt im Sargassomeer die Frage entgültig zu entscheiden. Bei Nacktschnecken scheinen übrigens Fälle von Mimiery schon mehrfach zur Beobachtung gekommen zu sein. So lebt die Chromodoris gracilis nach Dr. H. v. IHERING zusammen mit einem Schwamm (Suberites). »Dem eben erwähnten Schwamm (blaugefärbt) gleicht unsere Chromodoride hinsichtlich der Farbe in einer Weise, dass es sehr nahe liegt, darin einen Fall von Mimiery zu erblicken.< (Dr. H. v. Inerıne: Beiträge zur Kenntnis der Nudibranchien des Mittelmeeres. Malakozool. Blätter. N. F. Band 2, pag. 12.) Auch hier gleicht die Schnecke merkwürdiger- weise einem’ Zoophyten. Ob solche Fälle wohl mehr vorkommen mögen ? Es würde sich gewiss der Mühe lohnen, darauf zu achten. Auf denselben Tangbüschen findet man andere, etwas grössere Nackt- schnecken, die aber nicht anderen Tieren ähnlich sind, sondern die Formen der Tangzweige und Blätter oft so täuschend nachahmen, dass man in dem Gewirr von durcheinanderlaufenden Zweigen und Blättern die grösste Mühe hat, sie aufzufinden. Die Nacktschnecken haben seitlich, vorn und hinten lappenförmige Auswüchse des Körpers, und zwar bei einer von mir gezeichneten Art zwei am Kopfende, zwei an jeder Bauchseite des Körpers, einen am hinteren Ende desselben. Diese Lappen-Auswüchse sind an den Rändern unregelmässig gezähnelt, die Spitzen der Zähne sind von brauner Farbe, genau so wie an älteren Tangzweigen. Die Oberfläche der Lappen und auch ein Teil des übrigen Körpers ist mit vielen kleinen, gleichfalls braun gefärbten spitzen Zähnchen besetzt. Die Farbe des ganzen Tieres ist ein Olivengrün, vollkommen gleich dem- jenigen der Tangzweige, zwischen denen es sich aufhält. Leider vermag ich den Namen dieser Tierchen nicht anzugeben. Da ich aber noch einige Exemplare derselben in Weingeist aufbewahrt habe, so würde ich mit Freuden einem Zoologen, der auf diesem Gebiete bewandert ist, je eines derselben abtreten können, wofür derselbe dann event. die Namen bekannt machen müsste. Morıtz WAGNER erklärt die Erscheinungen der Mimicry für die Folge eines den Tieren selbst inne wohnenden Schutztriebes, der sie veranlasse, gerade solche Plätze zum Aufenthalt zu wählen, mit denen sie in der 22 Wilhelm Breitenbach, Mimiery bei Seetieren. Farbe am meisten übereinstimmten. Er sagt: »Die Erscheinung der Mimicry halte ich für die einfache Folge des allen Tieren angeborenen Schutztriebes, der sie in dem Suchen und der Wahl eines passenden Standortes oder sichern Versteckes mit richtigem Instinkt leitet.« Oder an einer andern Stelle: »Der allen Tieren angeborene Erhaltungstrieb, welcher gegenüber den rastlos drohenden Gefahren ihre Sinne schärft, drängt Seetiere so gut wie Landtiere, den passendsten Standort zu suchen, der ihrer Farbe und Form entspricht«. (Kosmos, Bd. VII, pag. 90 u. 97.) Wer wie ich Gelegenheit gehabt hat, die kleinen Krabben und Garneelen, welche sich in den Tangbüschen des Sargassomeers herumtreiben, halbe Tage lang andauernd zu beobachten, der muss gestehen, dass die Wagnersche Ansicht sehr viel für sich hat, wenn auch dadurch keines- wegs der Selektionstheorie der Abschied gegeben wird. Ob die von mir beobachtete Krabbe dieselbe ist, die WAGNER erwähnt, also Nautilograpsus minutus, kann ich nicht sagen. Ich habe mehrere Hundert derselben ge- sammelt, glaube aber nach flüchtigem Durchsehen mehrere Spezies unter- scheiden zu müssen, wenngleich die Variabilität namentlich in der Färbung eine ganz erstaunliche ist. Es ist geradezu wunderbar, in welchem Grade jede einzelne der zahllosen Farben-Variationen der Farbe des Tangs an- gepasst ist. Die kleinen hellgrünen, jungen Krabben, sowie kleine hell- srüne Garneelen findet man immer an jungen, grün gefärbten Tang- blättern. Ältere braun gefärbte Krabben sitzen an älteren Tangteilen. Diese älteren braunen Tangzweige sind gewöhnlich mit mancherlei weissen Krusten bedeckt, den Gehäusezellen von Bryozoen. Diesen weissen Flecken entsprechend findet man auch auf dem braunen Panzer der Krabben weisse Flecke; die Beine sind manchmal von olivengrüner Grundfarbe mit bräunlichen Flecken, täuschend ähnlich dünnen, schmalen Tang- blättern, die eben anfangen sich zu bräunen. Wenn man, wie ich es that, einen Tangbusch mit einem Haken auf Deck holt, ihn in ein grosses Fass mit Seewasser legt und eine Zeit lang, etwa eine Stunde, unberührt lässt und dann denselben auf Krabben durchmustert, ohne aber den Busch selbst zu berühren, so hält es ungemein schwer, auch nur 3 oder 4 Krabben zu entdecken, trotzdem man von der Anwesenheit eines Viertelhundert fest überzeugt ist. Sobald man dann aber den Tang- busch tüchtig schüttelt, namentlich auch ausser Wasser, jedoch so, dass die etwa sich ablösenden Tiere in das Fass fallen, entdeckt man gleich eine Anzahl verschiedenster Krabben und Garneelen, und nun kann man bei aufmerksamer Betrachtung Beobachtungen anstellen, welche in der That für die oben citierte Ansicht Morırz WAGNERS sprechen. Fassen wir z. B. eine kleine grüne Garneele ins Auge, die ein Stück vom Tang- busch entfernt im klaren Wasser umherschwimmt: Sie sucht die Pflanzen natürlich möglichst bald wieder zu erreichen und immer setzt sie sich an ganz junge, schön grüne Blätter, mit deren Farbe ihre eigene voll- kommen harmoniert. Ich habe diese Beobachtung wohl 40—-50 mal gemacht, habe aber niemals gesehen, dass sich die kleine grüne Garneele an dunkelbraune Zweige setzt. Die jungen, gleichfalls grünlich gefärbten Krabben verhalten sich gerade so; die alten, braunen Tiere können sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit durch das dichteste Geflecht von Wilhelm Breitenbach, Mimiery bei Seetieren. 93 Zweigen und Blättern hindurchwinden und sind sehr bald in einem mög- lichst dichten Knäuel brauner Tangzweige verschwunden, in dem man sie nur schwer entdeckt. Ein auffallendes Beispiel von Mimiery bei Krabben, resp. von Gleich- artigkeit der Färbung mit der Umgebung, sollte ich am 11. September kennen lernen, als wir schon längst aus dem Bereiche der Sargasso- büsche waren; nur einzelne kleine Bruchstücke schwammen noch hin und wieder an uns vorbei. Es war auf 37° 58° n. B. und 32° 51 w. L. bei vollkommen ruhiger See. Gegen Abend dieses Tages schwamm in unmittelbarer Nähe des Schiffes ein etwa Hand grosses Stück Bast eines Baumes von braun-schwarzer Farbe vorbei. Da ich an demselben Hy- droid-Polypen vermutete, so fischte ich dasselbe mit einem Schöpflöffel, den ich mir zu ähnlichen Zwecken gemacht hatte und den ich sehr brauchbar gefunden habe, auf und legte es in einen Eimer mit frischem Seewasser, um mir die an demselben sitzenden Polypen anzusehen. Wie ich so vor dem Eimer stehe und das Objekt beschaue, entdecke ich an den Bewegungen der Beine und Fühler eine Krabbe, welche ganz genau so gefärbt ist wie das Holzstück. Würde das Tier sich nicht bewegt haben, so hätte es wohl noch eine Weile gedauert, bis ich es entdeckt hätte, so auffallend war die Ähnlichkeit. Mein Kapitän hat später auf meine Veranlassung mehrere Male nach der Krabbe gesucht; es dauerte stets circa zwei Minuten, bis er sie deutlich sah, vorausgesetzt natürlich, dass das Tier selbst sich nicht bewegte und dass das Baststück ruhig im Wasser lag. Wie kommt diese braune Krabbe gerade an dieses vollkommen gleich gefärbte Stückchen Holz inmitten des Ozeans? An die Ausprägung dieser Gleichfarbigkeit durch Zuchtwahl ist wohl nicht zu denken. Oder soll man annehmen, dass früher auf diesem Holzstück sich mehrere Krabben befanden, unter diesen auch die braune, und dass diese letztere in dem entstandenen Kampf ums Dasein die allein überlebende geblieben ist? Damit wäre noch immer nicht erklärt, wie gerade die braune Krabbe an das gleichfarbige Holz gekommen. Ich glaube, es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns der Ansicht WAGNERS anzuschliessen und ein be- wusstes oder vielleicht instinktives Aufsuchen des gleichfarbigen Bast- stückes von seiten der Krabbe anzunehmen. Das Baststück wird zwischen Tangbüschen umhergeschwommen sein und hier hat sich eine braune Krabbe an dasselbe angesetzt; nachher ist das Holz mit der Krabbe weg- getrieben worden und so konnte ich mitten im offenen Ozean dieses merk- würdige Beispiel von Mimicry beobachten. Zahlreiche kleine, dünne Fische habe ich zwischen den Tangbüschen des Sargassomeeres angetroffen, welche durch ihre braun-graue Farbe sehr geschützt waren vor Erkanntwerden. Ich erinnere mich, dass ich eines Nachmittags einen kleinen Tangbusch sehr sorgfältig nach Krabben absuchte und mit dieser Beschäftigung wohl eine Stunde Zeit verbrauchte. Als ich dann den Busch aus dem Eimer nahm, um ihn über Deck zu werfen, fiel ein solcher dünner Fisch etwa von der Dicke eines Bleistiftes heraus. Ich hatte ihn also vorher nicht bemerkt, ein Zeichen, dass er gut geschützt war. Natürlich setzte ich den Fisch nun in einen andern Eimer, in dem sich gleichfalls ein Tangbusch befand; sofort war das 24 Wilhelm Breitenbach, Mimiery bei Seetieren. flinke Tierchen meinen Augen entschwunden und in dem dichten Gezweig konnte ich lange suchen, bis ich es wieder fand. Ich weiss nicht, ob ein ausführlicher Bericht über die Fauna des Sargassomeeres von den Gelehrten der Challenger - Expedition heraus- gegeben worden ist. Durch meinen mehrjährigen Aufenthalt in Brasilien bin ich mit der neueren zoologischen Litteratur auf einen sehr gespannten Fuss gekommen. Sollte ich daher etwas schon Bekanntes gesagt haben, so bitte ich den Leser, dies freundlichst entschuldigen zu wollen. Jeden- falls aber dürfte ein Ausflug ins Sargassomeer für jeden Zoologen sehr lohnend sein. Eine solche Reise ist ziemlich leicht auszuführen und würde auch gar nicht so sehr viel kosten. Man kann sich z. B. auf einem Segelschiff, am besten einem Schoner oder einer Barke, einen Platz nach Westindien mieten. Wie billig verhältnismässig solche Segelschiffreisen sind, habe ich selbst erfahren; ich habe von Porto Alegre (Süd-Bra- siliien) bis nach Falmouth (England) 300 Mark mit voller Verpflegung bezahlt; die Reise dauerte vom 15. Juni bis zum 25. September. Wenn das Wetter einigermassen gut ist, so kann man viel sammeln. Zugleich würde bei einer solchen Segelschiffreise nach Westindien z. B. Gelegen- heit geboten, auch die Fauna und Flora des Landes etwas kennen zu lernen — während der Zeit, in der das Schiff zum Aus- und Einladen im Hafen liegt. Kurz ich glaube, eine solche Reise würde sich, wenig- stens für Sammler, lohnender gestalten wie die meisten der jetzigen Aus- flüge etwa an die Küsten des Mittelmeeres oder des Roten Meeres. Die Religion in Vergangenheit und Zukunft. * Von Herbert Spencer. Im Gegensatz zum gewöhnlichen Bewusstsein beschäftigt sich das religiöse Bewusstsein mit dem, was über den Bereich der Sinne hinaus- geht. Ein Tier denkt nur an Dinge, die getastet, gesehen, gehört, geschmeckt werden können u. s. w., und gleiches gilt von dem noch unentwickelten Kind, vom Taubstummen und vom niedrigsten Wilden. Der höher entwickelte Mensch aber hat Gedanken über Wesen, die er für in der Regel unberührbar, unhörbar, unsichtbar hält und denen er gleichwohl Einwirkungen auf sich zuschreibt. Was ruft diese Vorstellung von das Wahrnehmungsvermögen übersteigenden Agentien hervor? Wie entwickeln sich diese Ideen vom Übernatürlichen aus den Ideen vom Natürlichen? Der Übergang kann kein plötzlicher, unvermittelter sein; jede Schilderung des Entstehens der Religion muss daher zunächst die einzelnen Stufen aufzudecken suchen, welche jenen Übergang ermöglicht haben. Die Geistertheorie lässt uns diese Stufen ganz deutlich erkennen. Sie zeigt uns, dass die Differenzierung unsichtbarer und ungreifbarer Wesen aus sichtbaren und greifbaren Wesen wirklich ganz langsam und unmerklich weiterschreitet. Aus dem Umstande, dass das andere Ich, wenn es im Traume auf seine vermeintliche Wanderschaft geht, alles, wovon geträumt wird, thatsächlich gethan und gesehen haben soll — aus dem Umstande, dass das andere Ich im Tode von dannen zieht, aber baldigst zurückerwartet und als ein Doppelwesen aufgefasst wird, das ebenso körperlich wie sein Original — ergibt sich klar genug, wie unbedeutend das übernatürliche Etwas in seiner ursprünglichsten Form vom natürlichen Wesen abweicht — wie es einfach der irdische Mensch * Dieser Artikel soll später das Schlusskapitel der „Kirchlichen Einrichtungen“ — als des VI. Teils der „Prineipien der Sociologie“ — bilden. Die thatsächlichen Angaben in der ersten Hälfte desselben gründen sich allerdings auf den Inhalt der unmittelbar vorhergehenden Kapitel; jedoch findet der Leser Belege für beinahe alle diese Folgerungen auch in dem bereits erschienenen I. Teil der „Prineipien der Sociologie“ (Stuttgart, E. Schweizerbart, 1877). 26 Herbert Spencer, Die Religion in Vergangenheit und Zukunft. selber ist, nur ausgerüstet mit dem Vermögen, heimlich herumzuwandern und Gutes oder Böses zu thun. Und wenn diejenigen, die den Toten kannten, sobald sie nicht mehr von ihm träumen, aus seinem Nicht- erscheinen in ihren Traumphantasien den Schluss ziehen, dass er nun ganz und unwiderruflich tot sei, so zeigt dieser Glaube, dass solchen frühesten übernatürlichen Wesen auch nur eine: vorübergehende zeitliche Existenz zugeschrieben wird: die ersten Ansätze zu einem dauernden, unzerstörbaren Bewusstsein vom Übernatürlichen schlagen noch gänz- lich fehl*. In vielen Fällen ist es überhaupt zu keiner höhern Entwicklungs- stufe gekommen. Das Geisterheer rekrutiert sich zwar auf der einen Seite beständig durch neue Todesfälle, verliert aber auf der andern Seite an älteren Mannschaften in dem Masse, als die Erinnerung an sie erlischt und sie aus den Träumen der Lebenden verschwinden. So nimmt es im ganzen weder zu noch ab und keines seiner Mitglieder erringt eine her- vorragendere Stellung als von mehreren Generationen anerkannte über- natürliche Macht. Bei den Zulu z. B. wird der Unkulunkulu oder der Ururalte, der Stammvater des Volkes, für unwiderruflich oder vollkommen tot gehalten und sie suchen daher auch nur Geister aus neuerer Zeit durch Opfer zu versöhnen. Wo aber die Umstände eine Fortdauer der Darbringungen an den Gräbern begünstigen, wo auch die Vertreter jeder neuen Generation daran teilnehmen, sich von den Toten erzählen lassen und diese Überlieferung weiter übermitteln, da entsteht allmählich die Vorstellung von einem stetig fortlebenden Geist oder Gespenst. Damit prägt sich denn auch im Denken ein schärferer Gegensatz zwischen übernatürlichen und natürlichen Wesen aus. Gleichzeitig erfolgt eine bedeutende Vermehrung der Anzahl dieser vermeintlichen übernatürlichen Wesen, indem nun immer neue zur früheren Schar hinzukommen, und immer mehr tritt die Neigung hervor, zu glauben, dass sie überall gegen- wärtig und die Ursache jedes ungewöhnlichen Ereignisses seien. Bald werden sodann den verschiedenen Geistern auch verschiedene Kräfte zugeschrieben, was eine ganz natürliche Folge der beobachteten Unterschiede zwischen den Kräften lebender Menschen ist. Wenn daher die Versöhnung gewöhnlicher Geister nur deren unmittelbaren Nachkommen obliegt, so erscheint es doch gelegentlich einfach aus Klugheit geboten, * Für diejenigen unter unseren geehrten Lesern, denen der I. Band der „Prin- eipien der Sociologie“ noch nicht bekannt sein sollte, sei beigefügt, dass dort auch eine hochwichtige Vorfrage zu den oben angedeuteten Verallgemeinerungen in überzeugender Weise erledigt wird, — die Frage nämlich, wie der primitive Mensch überhaupt dazu kam, Totes und Lebendiges miteinander zu verwechseln oder besser ohne scharfe Grenze ineinander übergehen zu lassen. Mehrere Kapitel beschäftigen sich mit den „Ideen vom Belebten und Leblosen“, von „Schlaf und Traum“, von „Ohnmacht, Apoplexie, Katalepsie, Ekstase und anderen Formen der Bewusstlosigkeit“, „von Tod und Auferstehung“ u. s. w. und zeigen, wie notwendig der Glaube ent- stehen musste, dass alle möglichen Dinge, insbesondere auch der Mensch selber, unter verschiedenen Umständen, oft nur an ganz bestimmten Ortlichkeiten u. dgl., im stande seien, willkürlich aus dem sichtbaren in den unsichtbaren, aus dem lebendigen in den leblosen Zustand und umgekehrt überzugehen, und wie daraus erst die Idee von einem andern Ich, von einem besondern, für sich ablösbaren Doppelwesen des Menschen sich differenziert hat. Anm. d. Red. Herbert Spencer, Die Religion in Vergangenheit und Zukunft. A auch die Geister von anderen, besonders gefürchteten Männern durch Opfer zu besänftigen, obgleich dieselben keine blutsverwandtschaftlichen Ansprüche darauf haben. So zeigen sich schon sehr frühe die ersten Anfänge jener Abstufungen der übernatürlichen Wesen, die später so schroff hervortreten. Fortwährende Kriege, die mehr als jede andere Ursache den Anstoss zu diesen ersten Differenzierungen geben, bewirken auch fernerhin eine entschiedenere Ausprägung derselben. Denn indem als häufige und not- wendige Folge der Kriege kleine Gesellschaften zu grossen und diese zu noch grösseren verschmelzen und damit auch die Machtbefugnisse der lebenden Menschen sich immer mannigfaltiger abstufen, muss die Vor- stellung von einer ähnlichen Verschiedenartigkeit des Ranges und der Gewalt unter ihren Geistern auftauchen. So entwickeln sich im Laufe der Zeit die Begriffe von grossen Geistern oder Göttern, von zahlreichen sekundären Geistern oder Halbgöttern und so noch weiter abwärts — ein ganzes Pantheon; doch besteht immer noch kein wesentlicher Unter- schied der Art oder Beschaffenheit zwischen ihnen, wie schon daraus zu ersehen ist, dass die gewöhnlichen Geister von den Römern manes- Götter und von den Hebräern elohim genannt wurden. Da ferner das Leben in der andern Welt nur eine Wiederholung des Lebens in dieser Welt, seiner Bedürfnisse, Beschäftigungen und sozialen Einrichtungen ist, so bezieht sich jene Differenzierung verschiedener Rangklassen der übernatürlichen Wesen bald nicht mehr bloss auf ihre Kräfte, sondern auch auf ihren Charakter und die ganze Art ihrer Thätigkeit. Es gibt jetzt Lokalgötter, Gottheiten, welche dieser oder jener Gruppe von Er- scheinungen vorstehen, vor allem gute und böse Geister der mannig- fachsten Art, und wo durch Eroberungskriege zwei oder mehrere Gesell- schaften übereinander geschichtet worden sind, die eine jede ihr eigenes System von aus dem Geisterglauben entsprungenen Dogmen haben, da entsteht eine verwickelte Kombination solcher Glaubenssätze, eine förm- liche Mythologie. Da nun die Geister ursprünglich einfache Wiederbilder ihrer Originale darstellen und denselben in allen Stücken gleichen und die Götter (wenn nicht gar die lebenden Glieder eines siegreichen und herrschenden Volkes) nichts anderes als Doppelwesen der verstorbenen Mächtigen sind, so können letztere zunächst in ihrer physischen Beschaffenheit, ihren Leiden- schaften und ihrem ganzen Denken und Fühlen natürlich auch nicht weniger menschlich erscheinen als andere Geister. Gleich den Doppel- wesen der gewöhnlichen Toten schreibt auch ihnen der fromme Glaube das Vermögen zu, Fleisch, Blut, Brot, Wein oder was man ihnen dar- gebracht, zu verzehren — ursprünglich in durchaus grobstofflichem Sinne, später jedoch auf etwas geistigere Weise, indem sie nur die Essenz, das Wesen der Dinge sich aneignen sollen. Sie erweisen sich nicht bloss als sichtbare und greifbare Persönlichkeiten, sondern lassen sich auch mit den Menschen in Kämpfe ein; sie werden verwundet und leiden Schmerzen — nur mit dem Unterschiede, dass sie wunderbare Kräfte zur Heilung der Wunden und dem entsprechend Unsterblichkeit besitzen. Letzteres gilt jedoch nur mit einem gewissen Vorbehalt; denn nicht allein, dass 28 Herbert Spencer, Die Religion in Vergangenheit und Zukunft. wir bei den verschiedensten Völkern den Glauben finden, die Götter stürben einen ersten Tod (was da sehr natürlich ist, wo diese einem herrschenden Volke angehören, dessen Anführer von den Unterjochten wegen ihrer höheren Gewalt Götter genannt werden), sondern es kommt auch unter Kulturvölkern vor, dass ein zweiter und endgültiger Tod eines Gottes für möglich gehalten wird, wie dies z. B. von Pan bekannt ist — ein Tod gleich jenem zweiten und endgültigen Tode jedes Menschen, wie ihn viele heute lebende Wilde annehmen. Mit dem Fortschritt der Zivilisation vollzieht sich eine immer be- stimmtere Scheidung des Übernatürlichen vom Natürlichen. Nichts hindert die allmähliche Entkörperlichung des Geistes und des Gottes, und dieser Prozess wird unvermerkt durch jeden Versuch gefördert, die Vorstellungen von übernatürlichem Geschehen und Handeln konsequent auszugestalten: der Gott ist bald nicht mehr greifbar, und später entzieht er sich auch den Augen und Ohren der Sterblichen. Neben dieser Differenzierung seiner körperlichen Attribute von denen des Menschen geht, aber erheblich langsamer, eine Differenzierung seiner geistigen Eigenschaften einher. Dem Gott des Wilden wird ein Verstand zugeschrieben, der kaum oder gar nicht grösser ist als der des lebenden Menschen, und mit Leichtig- keit kann er hintergangen werden. Auch die Götter von halbzivilisierten Völkern lassen sich noch betrügen, sie selbst begehen Fehler und es reuen sie ihre Absichten, und erst nach langer, langer Zeit erhebt sich die Vorstellung von unbegrenzter Einsicht und Allwissenheit. Eine ganz entsprechende Umgestaltung erfährt gleichzeitig die Gefühlsseite des Gottes. Die gröberen Leidenschaften, ursprünglich sehr stark entwickelt und von den gläubigen Verehrern ängstlich berücksichtigt, schwächen sich immer mehr ab, bis nur noch solche Erregungen übrig bleiben, die weniger auf die Befriedigung körperlicher Begierden gerichtet sind, und zuletzt werden auch diese teilweise von ihrem menschlichen Beigeschmack gereinigt. Fortwährend aber und stets von neuem wirken die Erfordernisse des sozialen Zustandes darauf hin, die den Gottheiten zugeschriebenen Eigenschaften mit diesem selbst in Einklang zu bringen. Während der rein kriegerischen Thätigkeitsphase eines Volkes ist sein oberster Gott ein dräuender Herrscher, dem Ungehorsam für das grösste Verbrechen gilt, der unversöhnlich ist in seinem Grimm und erbarmungslos im Strafen, und was ihm etwa daneben von milderen Eigenschaften zuerkannt wird, das nimmt doch im sozialen Bewusstsein nur eine ganz bescheidene Stelle ein. Wo aber der Militarismus zurücktritt und die ihm entsprechende harte despotische Regierungsform allmählich einer andern Platz macht, welche dem Industrialismus angepasst ist, da drängen sich immer mehr und ausschliesslicher in den Vordergrund des religiösen Bewusstseins jene Besonderheiten der göttlichen Natur, welche mit der Ethik des Friedens in Übereinstimmung stehen: göttliche Liebe, göttliche Vergebung, göttliche Barmherzigkeit — diese Charakterzüge bilden nun vorzugsweise den Gegenstand frommer Beträchtungen. Um den Einfluss des geistigen Fortschritts und der Veränderungen im sozialen Leben, der hier abstrakt dargestellt wurde, ganz klar zu erkennen, müssen wir auch noch einen Blick auf ihre konkrete Erscheinung Herbert Spencer, Die Religion in Vergangenheit und Zukunft. 29 werfen. Überschauen wir ohne alle Rücksicht auf die bereits gezogenen Folgerungen die Urkunden, Denkmäler und Überlieferungen der alten Ägypter, so sehen wir deutlich, wie aus ihren primitiven Vorstellungen von rohen tier- oder menschenähnlichen Göttern allmählich vergeistigte Ideen von Göttern und schliesslich von einem Gott sich entwickelten; erst die Priesterschaft der späteren Zeiten wies den Glauben ihrer Vor- gänger zurück und stellte ihn als Verderbnis dar, indem sie sich von der allgemeinen Tendenz, den frühesten Zustand für den vollkommensten zu halten, beherrschen liess — eine Tendenz, die unschwer bis auf die Theorien unserer heutigen Theologen und Mythologen herab zu verfolgen ist. Setzen wir abermals jede Spekulation beiseite und fragen wir nicht danach, welchen historischen Wert die Ilias haben möchte, sondern nehmen wir sie einfach als Zeugnis des frühern griechischen Begriffes von Zeus und vergleichen wir diesen mit den in Praros Gesprächen niedergelegten Ideen, so zeigt sich unverkennbar, wie bedeutend die griechische Zivilisation (in den besseren Geistern wenigstens) jene noch rein anthropomorphische Auffassung des höchsten Gottes verändert hat: seine niedrigeren menschlichen Attribute sind ganz beseitigt, seine höheren wesentlich geläutert und verklärt. Ebenso wenn wir den Gott der Juden, wie er in den ältesten Überlieferungen dargestellt ist, dem Menschen gleich im Aussehen, in seinen Begierden und Gemütsbewegungen, ver- gleichen mit dem Gott aus der Zeit der Propheten: sein Machtgebiet erweitert sich in gleichem Masse, als sein ganzes Wesen sich immer mehr von dem des Menschen entfernt. Und halten wir die Vorstellungen von ihm dagegen, die heutzutage herrschen, so bemerken wir erst die ausserordentliche Umgestaltung, welche mit denselben vor sich gegangen ist. Vermöge einer wohl angebrachten Vergesslichkeit ist es soweit ge- kommen, dass derselbe Gott, von dem die alten Sagen erzählen, er habe die Herzen der Menschen verhärtet, damit sie strafbare Dinge verüben sollten, und einen Lügengeist ausgesandt, sie zu betrügen, in unseren Tagen der Mehrzahl als eine Verkörperung von Tugenden erscheint, die unsere höchsten Vorstellungen übersteigen. . Wir haben also die Thatsache anzuerkennen, dass im Geiste des primitiven Menschen weder eine religiöse Idee noch ein religiöses Gefühl existiert, finden aber zugleich, wie im Laufe der sozialen Entwicklung und der sie begleitenden Entwicklung des Verstandes sowohl die Ideen als die Gefühle ins Leben gerufen werden, die wir als religiöse unterscheiden, und dass dieselben unter dem Einfluss einer deutlich übersehbaren Kette von Ursachen alle jene oben angedeuteten Stadien durchlaufen haben, um endlich bei den zivilisierten Völkern ihre gegenwärtigen Formen zu erreichen. Und nun, welchen Schluss dürfen wir daraus in bezug auf die Entwicklung religiöser Ideen und Gefühle in der Zukunft ziehen? Auf der einen Seite wäre es unverständig, anzunehmen, dass jener Prozess, welcher das religiöse Bewusstsein bis zu seiner heutigen Form empor- geführt hat, jetzt plötzlich aufhören werde. Nicht minder ungereimt 30 Herbert Spencer, Die Religion in Vergangenheit und Zukunft. wäre aber anderseits die Meinung, dieses religiöse Bewusstsein, das sich doch, wie wir gesehen haben, auf ganz natürliche Weise entwickelt hat, werde etwa völlig verschwinden und eine klaffende Lücke hinterlassen. Offenbar muss es noch weitere Umgestaltungen erfahren und dabei, wenn auch noch so sehr verändert, doch zu existieren fortfahren. — Welche Veränderungen sind nun wohl zu erwarten? Wenn wir den oben angedeu- teten Prozess auf seine einfachsten Ausdrücke zurückführen, wird sich uns die Möglichkeit einer befriedigenden Antwort eröffnen. Wie in den »Grundlagen der Philosophie«, $. 96 dargelegt wurde, wird die Entwicklung in ihrem ganzen Verlaufe begleitet und in der Regel abgeändert durch die Auflösung, welche sie schliesslich wieder aufhebt und zu nichte macht; und die zu tage tretenden Ver- änderungen sind gewöhnlich nur das Differenzergebnis aus dem Wider- streit des Strebens nach Integration und Desintegration. Diese allgemeine Wahrheit müssen wir im Auge behalten, um Entstehung und Verfall von Religionssystemen richtig zu verstehen und die Zukunft derjenigen unserer Zeit mit einiger Wahrscheinlichkeit vorausbestimmen zu können. Wäh- rend jener früheren Stadien, welche eine Hierarchie von Göttern, Halb- göttern, Manen und Geistern verschiedener Art und Rangabstufung erzeugen, pflegt die Entwicklung mit nur unbedeutender Beeinträchtigung weiter zu schreiten. Indem das so entstandene wohlgefugte mythologische Gebäude an Bestandteilen zunimmt, d. h. die Menge seiner übernatür- lichen Wesen vermehrt, erlangt es zugleich immer grössere Ungleichartig- keit und grössere Bestimmtheit in der Anordnung seiner Teile und in den Attributen eines jeden derselben. Allein die entgegenwirkende Auf- lösung gewinnt doch schliesslich die Oberhand. Je weiter die Erkenntnis von der natürlichen Verursachung alles Geschehens sich verbreitet, in desto lebhafteren Widerspruch tritt sie mit dieser mythologischen Ent- wicklung, bis sie ganz unmerklich diejenigen ihrer Glaubenssätze unter- graben hat, die am wenigsten mit dem fortschreitenden Wissen vereinbar sind. Von Dämonen und all’ den untergeordneten Gottheiten, welche je ihr besonderes Teilgebiet der Natur zu verwalten haben, ist immer weniger die Rede, je allgemeiner die Beobachtung lehrt, dass die ihnen zugeschrie- benen Erscheinungen einer gesetzmässigen Ordnung folgen, und auf solche Weise verflüchtigen sich allmählich diese minder bedeutenden Elemente der Mythologie. Zu gleicher Zeit wächst die Überlegenheit des grossen Gottes, welcher an der Spitze des ganzen Gebäudes steht, und immer weiter greift die Neigung um sich, ihm Wirkungen zuzuschreiben, die früher auf eine grosse Zahl übernatürlicher Wesen verteilt waren: es findet eine Integration der Kräfte statt. Und indem sich daraus folge- richtig die Vorstellung von einer allmächtigen und allgegenwärtigen Gott- heit entwickelt, gehen in demselben Masse auch nach und nach die ihr beigelegten menschlichen Attribute verloren: die Auflösung beginnt selbst die höchste Persönlichkeit in Hinsicht auf die ihr zugeschriebene Form und Wesensbeschaffenheit anzugreifen. Bereits ist dieser Prozess, wie wir sahen, in den fortgeschritteneren Gesellschaften und besonders bei ihren höher stehenden Vertretern soweit gediehen, dass alle geringeren übernatürlichen Kräfte in einer einzigen Herbert Spencer, Die Religion in Vergangenheit und Zukunft. 31 übernatürlichen Macht aufgegangen sind, und schon jetzt hat diese eine Macht durch »De-Anthropomorphosierung«, wie es Herr FıskE treffend nennt, alle gröberen menschlichen Attribute abgestreift. Sofern die Dinge auch fortan denselben allgemeinen Verlauf nehmen wie bisher, so ist vorauszusehen, dass diese Abstreifung menschlicher Attribute noch weiter- gehen wird. Fragen wir uns, was für positive Veränderungen hiernach zu gewärtigen sind. Zwei Faktoren müssen zusammenwirken, um solche hervorzubringen. Es sind dies einmal die Ausbildung jener höheren Gefühle, welche nicht länger dulden, dass einer Gottheit niedrigere Gefühle zugeschrieben werden, und zweitens die intellektuelle Entwicklung, welche bei den früher aner- kannten rohen Erklärungen keine Befriedigung mehr finden kann. Natür- lich werde ich, um die Wirkungen dieser Faktoren darzulegen, auch auf einige zurückkommen müssen, die allbekannt sind, allein dieselben fordern im Zusammenhang mit anderen wenigstens eine kurze Berücksichtigung. Die Grausamkeit eines fidschianischen Gottes, der die Seelen der Toten verzehrt und sie dabei grässlich martert, ist klein im Vergleich zu derjenigen eines Gottes, der die Menschen zu ewigen Qualen verdammt; und dass man ihm diese Grausamkeit zuschreiben soll — obschon es in kirchlichen Formeln regelmässig geschieht, in Predigten noch gelegent- lich wiederholt und immer noch hie und da durch bildliche Darstellungen bekräftigt wird — fängt doch allmählich an für die feiner Fühlenden so unerträglich zu werden, dass manche Theologen dies entschieden in Abrede stellen, andere diesen Punkt in ihren Betrachtungen wenigstens mit Stillschweigen übergehen. Offenbar kann diese Veränderung nicht eher aufhören, als bis der Glaube an Hölle und Verdammnis gänzlich verschwunden ist. Nicht wenig wird zu seinem Verschwinden auch ein wachsender Abscheu vor Ungerechtigkeit beitragen. Adams Kinder alle durch Hun- derte von Generationen hindurch mit schrecklichen Strafen heimzusuchen, für ein kleines Vergehen, an dem sie gar keine Schuld tragen; jeden Menschen zu verdammen, der sich nicht des vorgeschriebenen Mittels bedient, um die Vergebung seiner Sünden zu erlangen, eines Mittels, von dem die allermeisten Menschen nie etwas gehört haben, und die Ver- söhnung dadurch zu bewerkstelligen, dass ein Sohn hingeopfert wird, der vollkommen schuldlos war, nur um der vermeintlichen Notwendigkeit eines Sühnopfers genüge zu leisten — das ist ein Verfahren, von dem wir uns, wenn es einen menschlichen Herrscher beträfe, mit dem Ausdruck des grössten Entsetzens abwenden würden; und es kann wohl kaum mehr lange dauern, bis es einfach unmöglich wird, der Höchsten Ursache aller Dinge so etwas zuzuschreiben, wie denn auch jetzt schon die Schwierig- keit lebhaft genug empfunden wird. Ebenso muss endlich die Ansicht aussterben, dass eine Macht, die in unzähligen Welten im ganzen unermesslichen Raum gegenwärtig ist und die während der früheren Existenz der Erde Millionen von Jahren hindurch keiner Verehrung von seiten ihrer Bewohner bedurfte, auf einmal 32 Herbert Spencer, Die Religion in Vergangenheit und Zukunft. von einer wunderbaren Gier nach Ruhm ergriffen worden sei und nun, nachdem sie die Menschen erschaffen, denselben zürne, wenn sie ihr nicht beständig zurufen, wie gross sie ist. Wenn nur erst die Menschen sich dem verblendenden Zauber alt überlieferter Eindrücke, der sie am Denken verhindert, einigermassen entzogen haben, so werden sie gewiss gegen einen solchen Charakterzug im Bilde Gottes protestieren, der nichts weniger als verehrungswürdig ist. Gleiches gilt aber auch von mancherlei logischen Unzuträglich- keiten, welche für den heranreifenden Verstand mehr und mehr auffällig werden. Sehen wir auch ganz ab von den längst erörterten Schwierig- keiten, dass verschiedene der Wesenseigenschaften Gottes mit den ander- weitig ihm beigelegten Attributen in Widerspruch stehen — dass es z.B. einem Gott, der bereut, was er gethan hat, entweder an Macht oder an Voraussicht mangelt, oder dass sein Zorn ein Ereignis voraussetzt, das seinen Absichten zuwiderlief und dadurch die Unvollkommenheit seiner Einrichtungen beweist — so stossen wir doch auf die tieferliegende Schwierigkeit, dass solche Gemütsbewegungen ebenso wie alle anderen nur in einem Bewusstsein möglich sind, das begrenzt ist. Jeder Gemüts- bewegung gehen gewisse Gedanken voraus und solche Gedanken pflegt man Gott allgemein zuzuschreiben: es wird berichtet, wie er dies oder jenes höre und dadurch emotionell beeinflusst werde. Mit anderen Worten, die Vorstellung von einer Gottheit, welche diese Charakterzüge aufweist, bleibt notwendig anthropomorphisch, nicht bloss in dem Sinne, dass die ihr zugeschriebenen Emotionen dieselben sind wie die eines Menschen, sondern auch insofern, als sie Bestandteile eines Bewusstseins bilden, das sich gleich dem menschlichen Bewusstsein aus aufeinanderfolgenden Zuständen zusammensetzt. Und eine solche Vorstellung vom göttlichen Bewusstsein ist unvereinbar mit dem anderweitig aufgestellten Dogma von der Unveränderlichkeit sowohl als von der Allwissenheit Gottes. Denn ein Bewusstsein, das aus durch äussere Dinge und Geschehnisse verursachten Ideen und Gefühlen besteht, kann sich nicht zu gleicher Zeit mit allen Dingen und allem Geschehen im ganzen Weltall beschäftigen. Wenn der Mensch an ein göttliches Bewusstsein glauben will, so muss er davon absehen, sich dabei das zu denken, was man gewöhnlich unter Bewusstsein versteht — er muss sich mit Sätzen begnügen, die aus leeren Worten aufgebaut sind; und solche blosse Behauptungen, welche sich gar nicht in wirkliche Gedanken übertragen lassen, werden ihn gewiss immer weniger und weniger zu befriedigen vermögen. Ganz ähnliche Ungereimtheiten kommen natürlich zum Vorschein, sobald wir den Willen Gottes etwas näher betrachten. So lange man darauf verzichtet, dem Worte Wille eine bestimmte Bedeutung unterzulegen, kann man wohl sagen, dass die Ursache aller Dinge Willen besitze, wenigstens ebenso gut wie man etwa sagen könnte, ein Kreis besitze Gefallsucht; geht man aber von den Wörtern zu den Gedanken über, die sie ausdrücken sollen, so zeigt sich, dass wir die Glieder des einen Satzes ebensowenig im Bewusstsein zu vereinigen im stande sind als die des andern. Wer sich von irgend einem fremden Willen einen Begriff zu machen wünscht, der muss dies in den Formen seines eigenen Willens Herbert Spencer, Die Religion in Vergangenheit und Zukunft. 33 thun, denn dieser ist ja der einzige ihm unmittelbar bekannte Wille — alle anderen Willen kennt er nur aus Analogieschlüssen. Der Wille aber, wie ein jeder sich desselben bewusst ist, setzt einen Beweggrund voraus — einen treibenden Wunsch nach irgend etwas; vollkommene Indifferenz schliesst die Vorstellung vom Willen einfach aus. Überdies ist mit dem Worte Wille, da er eben einen treibenden Wunsch voraussetzt, auch die Mitbezeichnung von einem Zweck. gegeben, den es zu erreichen gilt und mit dessen Erreichung der Wille selbst aufhört, um einem andern Willen Platz zu machen, der auf einen andern Zweck gerichtet ist. Mit anderen Worten: Wille hat ebenso wie Gemütsbewegung eine Reihe von Bewusstseinszuständen zur notwendigen Voraussetzung. Die Vorstellung von einem göttlichen Willen involviert also gleich derjenigen vom mensch- lichen Willen, von welcher sie ja auch abgeleitet ist, Lokalisierung in Raum und Zeit, indem eben das Wollen jedes einzelnen Zweckes für eine Zeit lang das Wollen anderer Zwecke aus dem Bewusstsein ausschliesst und daher unvereinbar ist mit jener allgegenwärtigen Thätigkeit, welche gleichzeitig auf eine unendliche Zahl von Zwecken hinarbeiten soll. Nicht anders steht es mit dem Verstande, den man Gott zuzu- schreiben pflegt. Ohne uns bei dem reihenartigen Charakter und der Beschränktheit aufzuhalten, die hier wie bei den vorigen Eigenschaften notwendig gegeben sind, sei nur darauf hingewiesen, dass Verstand in der Form, wie er für uns allein vorstellbar ist, andere Existenzen voraus- setzt, welche unabhängig von ihm sind und sich ihm als Objekte dar- stellen. Er beruht ja darauf, dass zunächst durch ausser ihm liegende Thätigkeiten Veränderungen in ihm hervorgerufen werden — dass Dinge ausserhalb des Bewusstseins Eindrücke erzeugen und von diesen Ein- drücken Ideen abgeleitet werden. Wer von einem Verstande spricht, der in Abwesenheit aller solchen fremden Thätigkeiten existieren soll, der verwendet ein sinnloses Wort. Der weiteren Folgerung, dass die erste Ursache, wenn man ihr Verstand zuschreiben will, beständig durch von ihr unabhängige objektive Thätigkeiten affiziert werden müsste, wird vielleicht entgegengehalten werden, dass diese erst durch den Schöpfungs- akt zu solchen geworden und früher in der ersten Ursache einbeschlossen gewesen seien. Darauf antworte ich aber einfach: in diesem Falle würde der ersten Ursache vor jenem Schöpfungsakte jeder Anstoss dazu gefehlt haben, in sich derartige Veränderungen zu erzeugen, wie sie nach unserem Sprachgebrauch den Verstand ausmachen; sie müsste also gerade zu der Zeit verstandeslos gewesen sein, wo sie des Verstandes am allermeisten bedurfte. Es ist somit wohl klar genug, dass der vom höchsten Wesen ausgesagte Verstand in keiner Hinsicht dem entspricht, was wir unter diesem Worte verstehen. Es ist ein Verstand, dem alle seine Wesens- eigenschaften genommen sind. Diese und viele andere Schwierigkeiten, die z. T. schon oft be- sprochen, nie aber gelöst worden sind, müssen die Menschen über kurz oder lang dazu zwingen, die erste Ursache allmählich auch der höheren anthropomorphischen Züge ebenso zu entkleiden, wie sie es in betreff der niederen schon längst gethan haben. Jene Vorstellung, die von Anfang an in beständiger Erweiterung begriffen war, muss sich auch fernerhin Kosmos 1884, I. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XIV). 3 7 34 Herbert Spencer, Die Religion in Vergangenheit und Zukunft. noch immer mehr erweitern, bis sie durch Verfiüchtigung ihrer letzten Grenzen zu einem Bewusstsein wird, das weit über die Formen des bestimmten Denkens hinausgeht, obgleich es nie aufhören wird, ein Bewusstsein zu bleiben. »Wie soll denn aber, wird man fragen, zuletzt ein solches Bewusst- sein vom Unerkennbaren, dessen Wahrheit und Richtigkeit doch hier stillschweigend angenommen wird, erreicht werden können durch allmäh- liche Umgestaltung einer Vorstellung, die selber grundfalsch war? Der Geistertheorie des Wilden fehlt jeder thatsächliche Anhalt. Das körperliche Doppelwesen des Toten, an das er so fest glaubt, hat nie und unter keiner Form existiert. Und wenn durch allmähliche Entkörperlichung dieses Doppelwesens die Vorstellung von übernatürlichen Agentien im allgemeinen entstanden ist — wenn die Vorstellung von einer Gottheit durch Fortsetzung dieses Prozesses sich ausbildete, indem einzelne der menschlichen Attribute verloren gingen und andere gänzlich umgewandelt und verklärtt wurden — muss nicht auch jene hochentwickelte und völlig geläuterte Vorstellung, welche sich ergeben wird, wenn der erwähnte Prozess bis zu seiner äussersten Grenze fortgeführt wird, gleichfalls ein Truggebilde sein? Wenn der ursprüngliche Glaube absolut falsch war, so muss sicherlich auch jeder davon abgeleitete Glaube ebenso absolut falsch sein. « i Dieser Einwand sieht sehr gefährlich aus, und er wäre es jedenfalls, wenn seine Prämisse richtig wäre. So unerwartet dies auch der Mehr- zahl unserer Leser kommen mag, wir haben doch nichts anderes darauf zu antworten, als dass von Anfang an ein Körnchen Wahrheit in der primitiven Vorstellung enthalten war — der Wahrheit nämlich, dass die Macht, welche sich im Bewusstsein kundgibt, nur eine anders bedingte Form der Macht ist, welche sich ausserhalb des Bewusstseins kundgibt. Jede willkürliche Handlung liefert dem primitiven Menschen den Beweis für eine Quelle von Kraft in seinem Ich. Nicht als ob er über seine inneren Erfahrungen nachdächte; aber in diesen Erfahrungen liegt auf alle Fälle dieser Begriff verborgen. Wenn er in seinen Gliedern und durch sie auch in anderen Dingen Bewegung erzeugt, so wird er sich des begleitenden Gefühls einer Anstrengung bewusst. Und dieses Gefühl von Anstrengung, welches als empfundenes Antecedens von durch ihn hervor- gerufenen Veränderungen erscheint, wird zum vorgestellten Antecedens auch von solchen Veränderungen, die er nicht selbst bewirkt hat — es liefert ihm das Denkelement, vermittelst dessen er sich die Entstehung dieser objektiven Veränderungen vorstellen kann. Anfänglich zieht diese Idee, dass Muskelkraft das Antecedens aller ungewöhnlichen Ereignisse in seiner Umgebung sei, noch das ganze Heer der damit verknüpften Ideen nach sich. Er denkt sich die vermeintliche Anstrengung ausgeübt von einem Wesen, das ihm aufs Haar gleicht. Im Laufe der Zeit werden diese Doppelwesen der Toten, welche der Glaube als treibende Gewalten hinter jedem Ereignis mit Ausnahme nur der alltäglichsten Vorgänge erblickt, in der Vorstellung bedeutend umgestaltet. Nicht nur dass sie Herbert Spencer, Die Religion in Vergangenheit und Zukunft. 35 eine weniger grobmaterielle Beschaffenheit erlangen: einige von ihnen entwickeln sich auch zu wichtigeren Persönlichkeiten und werden die Leiter und Verwalter ganzer Gruppen von Erscheinungen, welche, indem sie einen vergleichsweise regelmässigen Gang einhalten, den Glauben an solche Wesen veranlassen und begünstigen, die mächtiger als der Mensch und zugleich in ihrer Handlungsweise viel weniger schwankend sind. So kommt es denn, dass die Idee von Kraft, als Ausfluss solcher Wesen gedacht, sich immer weniger innig mit der Idee von einem menschlichen Geist verknüpft. Weitere Fortschritte lassen zahlreiche geringere über- natürliche Agentien in eine allgemeine Macht zusammenfliessen, machen die Umrisse der Persönlichkeit dieser letzteren immer unbestimmter, während sie dieselbe zugleich ins Unbegrenzte ausdehnen, und wirken auf diese Weise beständig dahin, den objektiven Kraftbegriff noch schärfer von der Kraft zu trennen, die als solche unmittelbar im Bewusstsein erkannt wird, bis diese Scheidung ihr Extrem im Geiste des Mannes der Wissenschaft erreicht, welcher zur Erklärung nicht allein der sichtbaren Veränderungen greifbarer Körper, sondern alles physischen Geschehens überhaupt bis hinauf zu den Schwingungen des ätherischen Mediums nur das Denkelement Kraft verwendet. Nichtsdestoweniger aber schwebt ihm, so oft er an diese Kraft denkt (sei es Kraft in jener statischen Form, vermöge deren die Materie Widerstand leistet, sei es in jener dynamischen Form, die wir als Energie oder lebendige Kraft unterscheiden), als Urbild stets jene innere Energie vor, deren er sich als Muskelanstrengung be- wusst ist: sein Denken bewegt sich in der Sprache dieser inneren Erfahrung — er kann es nicht vermeiden, die objektive Kraft in Ausdrücken, die von subjektiver Kraft hergenommen sind, darzustellen, da ihm jedes andere Symbol mangelt. Welche Bedeutung hat dies nun für uns? Jene innere Energie, welche nach den Erfahrungen des primitiven Menschen stets das unmittel- bare Antecedens der von ihm bewirkten Veränderungen war —- jene Energie, die er, wenn es sich um die Erklärung äusserer Vorgänge han- delte, in seinem Denken stets mit denselben Attributen einer menschlichen Persönlichkeit in Zusammenhang brachte, mit denen sie in ihm selbst verbunden erschien, ist dieselbe Energie, welche, von allen menschlichen und menschenähnlichen Zuthaten befreit, nun als die Ursache sämtlicher äusseren Erscheinungen dargestellt wird. Das letzte Stadium, das wir erreicht haben, ist Anerkennung der Wahrheit, dass Kraft, wie sie ausser- halb des Bewusstseins existiert, nicht dem gleich sein kann, was wir als Kraft innerhalb desselben kennen, und dass trotzdem beide, da jede von ihnen die andere zu erzeugen im stande ist, nur verschiedene Äusserungen eines und desselben Prinzips sein können. Das Endergebnis jener vom primitiven Menschen schon begonnenen Spekulation ist also, dass die Macht, welche sich im ganzen als materielle Welt unterschie- denen Universum kundgibt, eins ist mit der Macht, die in der Form von Bewusstsein aus unserm eigenen Innern hervorquillt. Es. trifft daher keineswegs zu, dass die obige Darstellung darauf hinauslaufe, aus einem Glauben, der grundfalsch war, eine richtige An- sicht hervorentwickeln zu wollen. Vielmehr erweist sich die höchste und 36 Herbert Spencer, Die Religion in Vergangenheit und Zukunft. letzte Form des religiösen Bewusstseins als abschliessendes Entwickelungs- produkt eines Bewusstseins, das von Anfang an einen allerdings durch mancherlei Irrtümer verdunkelten Keim von Wahrheit enthielt. Wer der Meinung ist, dass die Wissenschaft religiöse Überzeugungen und Gefühle untergrabe oder zerstöre, der scheint ganz übersehen zu haben, dass der Charakter des Geheimnisvollen in demselben Masse, als er der alten Erklärung genommen wird, sich auf die neue überträgt. Ja man könnte sogar eher behaupten, dass er bei dieser Übertragung noch verstärkt werde, denn an Stelle einer Erklärung, die scheinbar sehr wohl begreiflich ist, setzt die Wissenschaft eine andere, die uns nur ein bischen tiefer auf den Grund der Dinge führt, um uns hier vor dem ausgesprochen Unerklärbaren stehen zu lassen. Der Fortschritt der Wissenschaften ist in gewissem Sinne eine unaufhörliche Verwandlung der Natur. Wo die gewöhnliche Wahrnehmung nur die reinste Einfachheit erblickte, da offenbaren sie uns die grösste Verwickeltheit; wo absolute Ruhe zu herrschen schien, da enthüllen sie intensives Leben, und wo für das ungeschulte Auge der leere Raum aus- gebreitet war, da finden sie ein wunderbares Spiel von Kräften. Jede Generation der Physiker entdeckt in der sogenannten »rohen Materie« neue Kräfte, die nur wenige Jahre früher der kenntnisreichste Forscher für unglaublich erklärt haben würde, wie z. B. das Vermögen einer ein- fachen Eisenplatte, die durch artikuliertes Sprechen erzeugten verwickelten Luftschwingungen aufzunehmen, um sie in eine Unzahl der verschieden- artigsten elektrischen Wellen zu verwandeln, die tausend Meilen weiter durch eine andere Eisenplatte zurückübersetzt und abermals als artiku- lierte Laute hörbar gemacht werden. Wenn der Erforscher der Natur sieht, wie die ihn umgebenden festen Körper, so tot sie auch erscheinen, sich doch gegen unendlich schwache Kräfte empfindlich zeigen — wenn das Spektroskop ihm beweist, dass gewisse Moleküle auf der Erde har- monisch schwingen mit solchen auf fernen Gestirnen — wenn sich ihm die Überzeugung aufdrängt, dass jeder Punkt im Raume von unzähligen Schwingungen erfüllt ist, die ihn jeden Augenblick nach allen Richtungen durcheilen — dann neigt er gewiss viel weniger zu der Vorstellung von einem Universum, das nur aus toter Materie besteht, als zu der Vor- stellung von einem Universum, das allüberall belebt ist — nicht zwar belebt in dem gewöhnlichen beschränkten, wohl aber belebt in einem allgemeineren Sinne. Diese Verwandlung der Natur, welche die Untersuchungen der Phy- siker in stets zunehmendem Masse fördern, wird unterstützt durch jene andere Verwandlung, welche das Ergebnis metaphysischer Untersuchungen ist. Die subjektive Analyse nötigt uns zu dem Geständnis, dass alle unsere wissenschaftlichen Erklärungen der Erscheinungen, welche die Objekte darbieten, gleichsam immer nur in der Sprache unserer mannig- fach kombinierten Empfindungen und Ideen wiedergegeben sind, d. h. dass zum Ausdruck derselben lauter unserm eigenen Bewusstsein ange- hörende Elemente dienen, die blosse Symbole des jenseits des Bewusst- Herbert Spencer, Die Religion in Vergangenheit und Zukunft. 37 seins liegenden Etwas sind. Wenn auch unsere ursprünglichen Anschau- ungen im weiteren durch die Analyse wieder in ihre Rechte eingesetzt werden, insofern nämlich, als dieselbe zeigt, dass hinter jeder Gruppe von Erscheinungskundgebungen stets ein »Nexus«, ein kausaler Zusammen- hang existiert, jene Realität, die inmitten des Wechsels der Erscheinungen unverändert bleibt, so erkennen wir doch zugleich, dass dieser Nexus der _ Realität unserem Bewusstsein auf ewig unzugänglich sein wird. Erinnern wir uns ferner nochmals, dass die Thätigkeiten oder Vorgänge, welche das Bewusstsein ausmachen, da sie streng in ihre Grenzen gebannt sind, unmöglich die jenseits dieser Grenzen liegenden Vorgänge in oder zwischen sich aufzunehmen im stande sind, dass letztere aus diesem Grunde un- bewusst erscheinen, obgleich der Umstand, dass die einen durch die anderen hervorgerufen werden können, darauf hinweist, ihnen dieselbe wesentliche Natur zuzuschreiben — so verleiht diese Notwendigkeit, in der wir uns befinden, unsere auf die äussere Energie bezüglichen Gedanken in Ausdrücke der inneren Energie zu kleiden, dem Universum wahrlich eher ein spiritualistisches als ein materialistisches Aussehen; bei weiterem Nachdenken jedoch überzeugen wir uns endlich, dass eine in Erscheinungs- kundgebungen dieser höchsten Energie ausgedrückte Vorstellung in keiner Weise uns über deren wahres Wesen aufklären kann. Wenn also die Ansichten, zu denen die wissenschaftliche Analyse führt, jedenfalls nicht geeignet erscheinen, den eigentlichen Gegenstand der Religion zu vernichten, sondern denselben einfach umgestalten und läutern, so strebt die Wissenschaft in ihren konkreten Formen stets das Wirkungsgebiet für das religiöse Gefühl zu erweitern. Von jeher ist der Fortschritt des Wissens verbunden gewesen mit einer Zunahme des Fassungsvermögens für das Wunderbare. Unter den heutigen Wilden sind es gerade die am tiefsten stehenden, welche die geringste Über- raschung verraten, wenn man ihnen merkwürdige Kunsterzeugnisse der Zivilisation zeigt; allgemein ist das Staunen der Reisenden über ihre Gleichgültigkeit. Und so wenig werden sie des Wunderbaren in den grossartigsten Naturerscheinungen gewahr, dass sie jede Frage hierüber für kindische Spielerei halten. — Dieser Gegensatz in der geistigen Ver- fassung zwischen den niedrigsten menschlichen Wesen und den uns um- gebenden höherstehenden wiederholt sich einigermassen bei diesen letzteren selbst in Gestalt verschiedener Abstufungen. Weder der Bauer noch der Handwerker noch der Kaufmann pflegt im Ausbrüten eines Hühn- chens mehr als etwas ganz Selbstverständliches zu erblicken; der Biologe aber gerät in das höchste Erstaunen, wenn er mit seiner Untersuchung der Lebenserscheinungen soweit als irgend möglich vorgedrungen ist und nun an einem Klümpchen Protoplasma unter dem Mikroskop Leben in seiner einfachsten Form vor sich sieht: er erkennt, dass, wie immer er die Vorgänge desselben formulieren mag, das eigentliche Spiel der Kräfte für ihn ein unvorstellbares Geheimnis bleibt. Eine Alpenschlucht wird in einem gewöhnlichen Touristen oder in dem Gemsjäger, der über ihm auf den Bergen herumklettert, kaum andere Ideen hervorrufen, als die sich auf die Jagd oder die Schönheit der Landschaft beziehen. In dem Geologen aber, der beobachtet, dass der durch Gletschereis geglättete 38 Herbert Spencer, Die Religion in Vergangenheit und Zukunft. Fels, auf dem er sitzt, seit jener weit hinter den Anfängen der mensch- lichen Zivilisation zurückliegenden Zeit durch Verwitterung kaum einen halben Zoll von seiner Oberfläche verloren hat, und nun den langsamen Verlauf der Auswaschung, welche das ganze Thal ausgehöhlt hat, sich vorzustellen sucht, steigen Gedanken über Zeiten und Kräfte auf, die jenen völlig fremd sind — Gedanken freilich, deren gänzliche Unzuläng- lichkeit ihrem Gegenstande gegenüber er bereits sehr lebhaft empfindet, die ihm jedoch erst recht als vergebliches Beginnen erscheinen, wenn sein Blick auf die gewundenen Gneisschichten zu seinen Füssen fällt, welche ihm von einer unmessbar ferner liegenden Vergangenheit erzählen, wo sie noch in halb flüssigem Zustande weit unter der Erdoberfläche begraben lagen, und welche auf eine noch unendlich viel frühere Zeit zurückweisen, wo ihre Bestandteile in Form von Sand und Schlamm an den Ufern eines Urmeeres abgelagert waren. Ebensowenig sind es etwa jene alten Völker, welche glaubten, dass der Himmel auf den Bergspitzen aufruhe, noch auch die modernen Erben ihrer Kosmogonie, welche es wiederholen, dass »die Himmel verkündigen die Ehre Gottes«, bei denen wir die grossartigsten Vorstellungen vom Weltganzen oder die höchste Stufe einer durch dessen Betrachtung erzeugten wahren Bewunderung antreffen. Diese haben wir vielmehr bei dem Astronomen zu suchen, welcher in der Sonne eine Masse von solcher Grösse erkennt, dass unsere ganze Erde selbst in einen ihrer Flecken versenkt werden könnte, ohne auch nur seine Ränder zu berühren, und welchem jede Verbesserung des Teleskops eine neue Menge solcher Sonnen zum Teil von noch viel bedeu- tenderem Umfang enthüllt. Auch in Zukunft wie bisher werden höhere Begabung und tiefere Einsicht dieses Gefühl eher verstärken als abschwächen. Gegenwärtig besitzt auch der umfassendste und gelehrteste Geist weder die Kenntnis noch die Fähigkeit, die nötig wären, um die Gesamtheit der Dinge in Gedanken wiederzugeben. Mit der einen oder andern Seite der Natur vollauf beschäftigt, weiss der Mann der Wissenschaft gewöhnlich lange nicht genug von ihren übrigen Gebieten, um sich auch nur eine rohe Vorstellung von dem Umfang und der Verwickeltheit aller ihrer Erschein - ungen machen zu können; und selbst wenn wir annehmen dürften, jemand habe genügende Kenntnisse von allen Gebieten, so wäre er doch deshalb noch nicht im stande, sie als ein Ganzes zu denken. In späterer Zeit mag er vielleicht, mit einem erweiterten und gekräftigten Verstande ausgerüstet, fähig werden, sich ein unbestimmtes Bewusstsein von ihrer Gesamtheit zu bilden. Wir können uns dies ungefähr so denken: gleichwie ein musikalisch ungebildeter Mensch, der höchstens eine einfache Melodie zu geniessen versteht, unmöglich die mannigfaltig verschlungenen Perioden und Harmonien einer Symphonie erfassen kann, während dieselben doch im Geiste des Komponisten wie des Dirigenten sich zu verwickelten musikalischen Effekten verbunden haben, die ein weit grossartigeres Gefühl wachrufen, als es für den Unmusikalischen jemals erreichbar wäre — so mag in Zukunft ein höher entwickelter Verstand den Lauf der Dinge, den wir jetzt nur stückweise übersehen, in seinem vollen Umfang zu erfassen im stande sein, und das ein solches Denken begleitende Gefühl Herbert Spencer, Die Religion in Vergangenheit und Zukunft. 39 wird ebenso hoch über dem des heutigen gebildeten Menschen stehen, wie dieses über das Fühlen des Wilden sich erhebt. Und dieses Gefühl wird kaum vermindert, sondern vielmehr gesteigert werden durch die erkenntnistheoretische Untersuchung, welche ihn zwar zum Agnostizismus nötigt, gleichwohl aber ihn fortwährend dazu drängt, wenigstens mit Hilfe der Einbildungskraft irgend eine Lösung des grossen Welträtsels zu versuchen, das doch, wie er weiss, nie gelöst werden kann. Dies muss ihm besonders lebhaft zum Bewusstsein kommen, wenn er sich erinnert, dass gerade die Begriffe von Anfang und Ende, Ursache und Zweck bloss relative, dem menschlichen Denken eigentümliche Begriffe sind, welche höchstwahrscheinlich für die alles menschliche Denken über- steigende höchste Realität gar keine Bedeutung haben, und wenn er anderseits, obschon nahezu überzeugt, dass »Erklärung« ein Wort ist, das keinen Sinn mehr hat, sobald es auf diese höchste Realität angewendet wird, dennoch den inneren Zwang empfindet, zu denken, ‘es müsse irgend eine Erklärung zu finden sein. Inmitten dieser Geheimnisse aber, die um so geheimnisvoller werden, je mehr man über sie nachdenkt, bleibt ihm stets die eine unbedingte Gewissheit, dass er sich in jedem Augenblicke einer unendlichen und ewigen Energie gegenüber befindet, der alles Dasein entströmt. Biologische Mitteilungen. Von Dr. F. Ludwig (Greiz). I. Zur Anpassung des Philodendron bipinnatifidum Schott. Im 11. Bde. dieser Zeitschrift p. 347— 351 habe ich die Vermutung ausgesprochen, dass Philodendron bipinnatifidum Schorr eine im höchsten Grade der Schneckenbefruchtung angepasste Blüteneinrichtung habe. Herr Prof. EuGssn Warning in Stockholm hat nun in einer besondern Ab- handlung »Tropische Fragmente I. Die Bestäubung von Philodendron bipin- natifidum ScHorr« (EneLers bot. Jahrb. IV. Bd. 3. Heft 1883, p. 328 bis 340) meine Ansicht zu widerlegen gesucht auf Grund seiner um Lagoa Santa in Brasilien gemachten Beobachtungen!. Ich hatte nur durch Ver- gleichung des sehr ausgeprägten, auf eine hohe Entwickelungsstufe hin- deutenden Blütenmechanismus mit dem der von Drurıso als malakophil bezeichneten Pflanzen die Überzeugung gewonnen, dass man es hier mit einem Schneckenblütler zu thun habe, und zwar schienen mir die von Deupıno den Malakophilen beigelegten Eigenschaften bei dem genannten Philodendron in ypotenzierter Form vorhanden zu sein. Wenn die von Herm. MÜLLER u. a. begründete Blumenlehre richtig ist, so konnten nach meiner Auffassung unter den jetzt lebenden Tieren keine anderen als die Schnecken zur Erklärung jener Blüteneinrichtung herangezogen werden. Prof. Warmine hat das Verdienst, zuerst den thatsächlichen Besuch der Pflanze durch Tiere konstatiert zu haben, und zwar hat er gegen meine Erwartung nur Insekten, nämlich schwarze Bienen, rötliche Kakerlaken und kleine Maikäfer gefunden. Der ausführlichen Beschreibung nach haben wir es höchst wahrscheinlich beide mit derselben Varietät von Ph. bipin- natifidum, nämlich mit der var. Zundii ExGLEer zu thun gehabt, und es würde mich die interessante Beobachtung Prof. Warnuınss sicher veran- lassen, meine Auffassung der Blüteneinrichtung fallen zu lassen, wenn ich mir dieselbe nicht so genau angesehen hätte, dass ich eine Anpassung an Insekten für unmöglich halten müsste. Aus Prof. Warmınss Beobacht- ungen, denen zufolge die Pflanze um Lagoa Santa, wie nach Frırz MÜLLERS Mitteilungen auch andere Philodendren in Brasilien in den Wipfeln hoher ! Vergl. auch das Referat über Warmings und Englers bezügliche Ar- beiten in Kosmos XIII, S. 676, F. Ludwig, Biologische Mitteilungen. 41 Waldbäume, aus denen sie oft 50 und mehr Fuss lange Luftwurzeln zu Boden senden, nicht gesellig, sondern sehr zerstreut wächst, geht aller- dings hervor, dass die Schnecken den Pollentransport bei dem von ihm beobachteten Standort nicht vollziehen können (wenn er auch die Häufig- keit der Schnecken in Brasilien unterschätzt '). Eine Wechselbestäubung kann aber eben des zerstreuten Vorkommens halber durch Insekten eben- sowenig vollzogen werden, es scheint sogar, dass das von Prof. War- MING beobachtete Philodendron durch Selbstbestäubung befruchtet werden könnte. Nun ist es mir völlig undenkbar einmal, dass sich eine so vollkommene Blüteneinrichtung ausgebildet haben könnte, damit sie nur einseitig in der beschriebenen Weise durch Insekten ausgenutzt würde oder gar der Selbstbestäubung diente, sodann dass unter Verhältnissen, wie sie gegen- wärtig in Brasilien thatsächlich bestehen, wo das Vorkommen der Pflanze ein sehr zerstreutes ist, überhaupt nach den unter den heutigen Biologen herrschenden Anschauungen von der Entstehung der Blumen jene Blumen- form, wie ich sie beobachtet und beschrieben habe, entstanden sein kann. Es drängt sich mir hiernach die Vorstellung auf, dass die heutige brasi- lianische Pflanze sich überhaupt unter wesentlich veränderten Lebens- bedingungen befindet und sich diesen bereits bezüglich der Fortpflanzungs- verhältnisse mehr oder weniger angepasst hat. H. MüLrErR u. a. haben ja zahlreiche Fälle aufgeführt, in denen bei Mangel der ursprünglich den Pollentransport vermittelnden Tiere die Pflanzen mit bereits ausgeprägten Anpassungen an die bisherigen Bestäuber partielle Anpassungen an ihre neuen Freunde oder als Notbehelf selbst Rückbildungen bis zur regel- mässigen Selbstbefruchtung erlitten haben. — Sei es, dass die von mir im Gewächshaus beobachtete Pflanze Anpassungen an die Kakerlaken etc. noch nicht erhalten hatte, als sie in Kultur genommen wurde, oder dass sie durch Rückschlag ihr altes Gepräge noch einmal erhielt, immerhin scheint sie nicht unwesentliche Abweichungen von der Warmingschen zu zeigen: bei ihr liegt im nämlichen Stadium die Spatha so dicht an den Staminodien an, dass Wasser nicht eindringen kann, geschweige durch Tiere ete. Blütenstaub in den weiblichen Kessel gelangen könnte, und vor allem setzt sie durch eigenen Blütenstaub bestäubt keine Frucht an, scheint völlig selbststeril zu sein, während, wie ich ]. c. mitteilte, Ver- wandte auch im Gewächshaus regelmässig autokarp sind und auch die Warmingsche Form durch eigenen Blütenstaub befruchtet zu werden scheint. Auch dieses dürfte darauf hindeuten, dass der von mir beobachtete, eine Anpassung zur Malakophilie, auch noch meiner jetzigen Meinung nach, vorstellende Blütenmechanismus der entwickeltere und ursprüng- lichere, der von Prof. Warnung beobachtete aber eine unter der Fremd- bestäubung ungünstigen Verhältnissen entstandene Abänderung derselben darstellt ?. ! Nach einer brieflichen Mitteilung Fritz Müllers gibt es z. B. verschiedene Arten von Helix, Bulimus, Clausilia, und verschiedene z. T. sehr grosse Nackt- schnecken (Vaginulus), und kleinere Heliw und Nacktschnecken werden sogar zu Zeiten in Gemüsegärten recht lästig. — ? Auf die persönlichen Angriffe Warmings hier näher einzugehen, verbietet mir der bei deutschen Botanikern übliche gute Ton. 43 F. Ludwig, Biologische Mitteilungen. 2. Apocynum hypericifolium. Die eigentümliche Blüteneinrichtung und Insektenfalle von Apocynum hypericifolium, welche mit der im »Kosmos« VIII, p. 182 ff. besprochenen bei Ap. androsaemifolium grosse Ähnlichkeit hat, habe ich im Botan. Centrbl. VII, Nr. 45 (zur Biologie der Apocyneen) beschrieben. Es ist bei dieser Art die Blumenkrone viel kleiner und unscheinbarer als bei Ap. androsaemifolium, der gewöhnlichen Fliegenfalle..e. Und während die letztere in den grossglockigen Blumen ein besonderes aus roten Strichen bestehendes Saftmal besitzt, hat sie eine schmutzig gelblichweisse Blüte ohne Saftmal und von widerlicherem Geruch. Eben dadurch sind aber gewisse Bestäuber der gewönlichen Fliegenfalle hier ausgeschlossen, ist der Besucherkreis ein engerer. Diese ausgewähltere Fliegengesellschaft stattet aber der Pflanze einen zum mindesten ebenso reichen Besuch ab, als er dem Ap. androsaemifolium zu teil wird, wie meine durch 3 Jahre fortgesetzte Beobachtung ergibt, und es werden die Blüten von ebenso zahlreichen, wenig blumenkundigen, thörichten, unberufenen Gästen auf- gesucht. So wurden z. B. am 7. Juli 1885 von früh bis Nachmittag 3 Uhr nicht weniger als 38 kleinere Syrphiden und Musciden (darunter besonders häufig Empis «aestiva) in 56 Blüten gefangen und getötet (in einzelnen Blüten bis 5 kleine Fliegen). Bei der Kleinheit der Blüte und der Zartheit ihrer Teile würden die Blüten (eventuell auch die befruchteten) durch die Menge verwesender Fliegenkadaver offenbar zu Grunde gehen, wenn sie nicht eine weitere Eigentümlichkeit besässen, die wir fast als Schutzvorkehrung deuten möchten, dass sich die Blüten nämlich schliessen. Ich habe in vielen Fällen beobachtet, dass Fliegen, besonders grössere, bei dem festen Zusammenschluss der Blütenzipfel aus der Blüte herausgequetscht und entfernt wurden, und dies veranlasste mich im letzten Jahre, der Ursache des Schliessens nachzuspüren. Meine Beobachtungen wurden durch un- günstige Witterung so oft unterbrochen, dass ich ein völlig abgeschlossenes Resultat noch nicht erhielt. Einiges scheint mir aber aus diesen Beobach- tungen sicher hervorzugehen: dass das Schliessen zwar zuletzt nach 1 bis 2 Tagen auch ohne Zuthun der Insekten erfolgen kann (von 27 unter einem Netz befindlichen frischen ' Blüten vom 8. VII. 83 fingen einzelne erst am 10. VII. mittags an, sich zu schliessen, andere schienen offen zu welken), dass es aber gewöhnlich und oft unmittelbar nach dem ersten Aufblühen die Folge eines durch die gefangenen Fliegen verursachten Reizes ist. Einzelne-Blüten scheinen trotz der gefangenen Insekten offen zu bleiben, andere sich nach Entledigung der Fliegen wieder zu öffnen, (so hatte sich u. a. eine am 8. VII. gekennzeichnete frisch geöffnete Blüte nach Fang dreier Fliegen geschlossen, am 9. VII. waren die vorher getöteten Fliegen entfernt und die Blüte öffnete sich wieder), noch andere nach einmaligem Schliessen infolge Fliegenfanges für immer geschlossen zu bleiben. Unabhängig ist das Schliessen der Blüten von Witterung und Tageszeit, wie unter dem Netz gehaltene Blüten bewiesen. Ob etwa auch die nur von berufenen Bestäubern besuchten Blüten nach erfolgter Befruchtung sich schliessen, konnte ich nicht beobachten, da meine zahl- ! Die älteren wurden sämtlich entfernt. F. Ludwig, Biologische Mitteilungen. 43 reichen von einem Wurzelstock abstammenden Pflanzen trotz des guten Insektenbesuchs nicht eine einzige Frucht ansetzten. Es dürfte hiernach auch Apocynum hypericifolium selbststeril sein, wie es Ap. androsaemi- folium ist. Abgesehen von der Reizbarkeit der Blüte, deren Bedeutung erst durch weitere Beobachtung festzustellen ist, fiel mir eine eigentümliche Abhängigkeit unserer Pflanze von anderen Blütenpflanzen auf. Während im Jahre 1881 (und auch 1883) zahlreiche Fliegen gefangen wurden, fand ich zu meinem Erstaunen 1882 in den ersten 2 bis 3 Wochen der Blütezeit keine einzige Fliege in den Blütenfallen. Dagegen wurden einige üppigblühende Stöcke von Ruta yraveolens auf demselben Beet sehr eifrig von Fliegen besucht. Am 15. Juli wurden die Blütenstengel von Ruta (andere Pflanzen blühten nicht auf dem Beet) sämtlich abgeschnitten und entfernt. Hierauf wurden in den folgenden Tagen die Apocynum- Blüten von Fliegen besucht und z. B. an einem Stocke in den auf einander folgenden Tagen S, 7, 7, 5 etc. Fliegen gefangen. Die übrigen Ver- hältnisse waren vor und nach der Beseitigung von Ruta so gleichartig, dass es keinem Zweifel unterlag, dass Ruta graveolens ein Dysparaphyt von Apocynum hypericifolium ist. Zwischen beiden Pflanzen besteht eine ähnliche Konkurrenz in bezug auf die bestäubenden Insekten, wie sie HeErMm. MÜLLER für Geum rivale (Kosmos 1881, IX, p. 432) und Pulmonaria offieinalis (in »Befruchtung d. Bl.«) einer- und für Primula elatior anderseits erwähnt hat (Primula wird begierig von Hummeln besucht: sobald aber Geum rivale in der Nähe steht, gehen die Hummeln nur an diese Pflanze, und die Wiesenhummel, Bombus pratorum, lässt die Primeln ebenso unbeachtet, wenn das Lungenkraut daneben steht) oder wie sie von Doper-Porr zwischen der Feuerbohne und einer Anzahl anderer Pflanzen (Cerinthe major, Calendula offieinalis, Centaurea Cyanus, Bidens Leucanthemum, Oichorium pumilum etc.) beobachtet wurde in bezug auf die zur Bestäubung der Bohnenblüten nötigen Hummeln. So lange die erwähnten Pflanzen im botanischen Garten in Zürich blühten, setzten die Bohnen daselbst keine Früchte an, während in anderen Gärten, und nach dem Verblühen jener Pflanzen auch im botanischen Garten, reichliche Bohnen gezogen wurden. 3. Campanula medium. Nach Deupıno wird diese Pflanze von Cetonien bestäubt, während H. Mürter als vorwiegende Besucher der Campanula-Arten die Bienen bezeichnet. Die Staubgefässe dieser Pflanze bilden wie die aller Glocken- blumen einen Hohlceylinder, der zuerst der Griffelbürste angedrückt ist und an diese den Blütenstaub abgibt, ehe sich die Narbenäste entfalten. Beim Aufblühen der weiten Blumenglocken sind dann meist die Staub- gefässe schon verschrumpft auf den Blütenboden zurückgesunken und es gehören eben jene grösseren Insekten dazu, um beim Besuch der Nektarien den Blütenstaub da abzustreifen, wo sie in älteren Blüten die empfängnisfähige Narbe antreffen. Kleinere Insekten, die an dem Griffel selbst hin und her kriechen, können auch im zweiten Stadium eine Selbstbestäubung vollziehen. Ein Schutzmittel gegen diese ungebetenen 44 Wissenschaftliche Rundschau. Gäste besitzt die Pflanze an den ausserordentlich klebrigen Narbenästen. Bei einer weissblühenden Campanula medium in meinem Garten wurde so viel Klebstoff abgesondert, dass der ganze Griffel für kleinere Insekten zur förmlichen Leimrute wurde und kaum ein einziges ungestraft aus der Blüte herausliess. Besonders eine winzige Fliege, die mir von Herrn Kowarz in Franzensbad als Empis aestiva Lwv. bestimmt wurde, — die auch dem Apocynum mit zum Opfer fiel — wurde in Unmenge gefangen. Von den untersuchten Blüten enthielten z. B. am 28. VI. 83 12 Blüten 29 Exemplare, am 1. VII. 15 Blüten 34, am 4. VII. 17 Blüten 23 Exemplare der genannten Art. Wissenschaftliche Rundschau. Anatomie. Zur Histologie der Nervenzentren. (Fortsetzung. Gousı dehnte seine Untersuchungen auch auf die Histologie der Windungen des Kleinhirns aus. An einem vertikalen Schnitt lassen sich schon von blossem Auge durch die Verschiedenheit der Färbung drei Schichten beobachten, eine äussere grau-rötliche, eine mittlere stärker rote und eine innere weisse und blassrote. Dieselben drei Schichten sind auch von histologischem Standpunkte aus aufrecht zu halten. Die äussere nennt Gorcı die Molekularschicht, die mittlere die granulierte, die innere die Faserschicht. Viererlei histologische Elemente sind in der Molekularschicht zu erkennen. In erster Linie fallen bei der mikroskopischen Untersuchung grosse Nervenzellen, die Purkinjeschen Zellen auf. Sie sind rund- lich oder nierenförmig und mit Fortsätzen versehen. Die Behandlung derselben mit einer Mischung von Kaliumbichromat und Silbernitrat beweist die nervöse Natur eines der Fortsätze; die übrigen sind proto- plasmatisch. Der erstere verläuft nach der granulierten Schicht, die letzteren oft der Oberfläche fast parallel in der Molekularschicht selbst. Diese geben zahlreiche Zweige ab, die sich ihrerseits wieder verzweigen u.s. f. Die so entstehenden ausserordentlich feinen Verzweigungen setzen sich, ähnlich wie wir es früher schon sahen, mit dem Gewebe der Gefässwände in Verbindung oder auch mit den Bindegewebezellen der Randschicht. Zeigen diese Protoplasmafäden im allgemeinen die Tendenz, nach der Oberfläche sich zu wenden, so liess sich auch noch ein Verzweigungs- system dieser protoplasmatischen Fortsätze konstatieren, das sich sehr unregelmässig verzweigt und nach allen Richtungen hin den noch freien Wissenschaftliche Rundschau. 45 Raum ausfüllt. Ebensowenig wie in früheren Fällen liess die obengenannte Reaktion auf die Nervenelemente einen Zusammenhang solcher mit diesen Protoplasmafäden erkennen. Die Nervenverlängerung zeigte, wie bereits angedeutet wurde, einen andern Verlauf. Gouscı beobachtete, wie sie die Molekularschicht bald in gerader, bald in vielfach gewundener Linie durchzieht. Auch von den Nervenfortsätzen gehen Seitenzweige ab, die sich selbst wieder ver- zweigen. Besonders reichlich sind die Zweige während des Verlaufs durch die erste Hälfte der granulierten Schicht. Zahlreiche dieser Fasern biegen gegen die Oberfläche der Windungen zurück, dringen wieder in die Molekularschicht, aus der sie kamen, ein, um sich dort mit dem komplizierten Nervennetz zu vermischen. Kleine Zellen bilden das zweite histologische Element der Mole- kularschicht. Die angewandten Reaktionen lassen in ihnen ebenfalls Nervenzellen erkennen. Was ihre Zahl betrifft, so sind sie, auf den gleichen Raum verteilt, hier nur wenig spärlicher vorhanden als an der Grosshirnrinde. Sie sind in ihrem Vorkommen nicht etwa auf einen bestimmten Teil der Molekularschicht beschränkt, so dass also nicht nach dem Vorkommen und der Verteilung der histologischen Elemente die Molekularschicht wieder in besondere Zonen zu teilen wäre. Sie sind vielmehr durch deren ganze Dicke verbreitet, finden sich im Grunde der Schicht, wo die Purkinjeschen Zellen der Hauptsache nach liegen, ebensowohl wie gegen die Oberfläche zu, wo sie an die Bindegewebezellen grenzen. Ihr Durchmesser ist etwa 6—12 «u. Sind sie auch meistens rundlich oder oval, so ist doch ihre Form keine durchaus bestimmte. Denn bisweilen sind sie auch kegelförmig oder spindelförmig. Sie haben 4—6 Verlängerungen, in selteneren Fällen auch mehr. Diese Fortsätze zeigen eine dichotomische Verzweigung. Ihrer Natur nach sind alle mit Ausnahme von einem protoplasmatisch. Nehmen sie in tiefer gelegenen Zellen ihren Ursprung, so richten sie sich gegen die Oberfläche und gelangen bisweilen bis in die obersten Teile. Die aus oberflächlich gelegenen Zellen entspringenden zeigen dagegen einen gerade umgekehrten Verlauf und gelangen so aus der Molekularschicht in die granulierte. Was den Ursprung der Nervenverlängerung betrifft, so lässt sich dafür keine bestimmte Regel aufstellen. Bald sehen wir sie an der Seite des Zellkörpers abgehen, bald am unteren, bald am oberen Ende. 6—10 u nach ihrem Ursprung aus der Nervenzelle geben diese Fortsätze ausserordentlich feine Fäden ab, welche sich wieder teilen. So verliert also die Nervenverlängerung bald ihre Individualität und vermischt sich mit dem diffusen Nervenfasernetz. Doch steigt auch in einzelnen Fällen die Faser bis zu den Purkinjeschen Zellen abwärts, um sich henkelartig umzubiegen, und auf dem ganzen Verlauf gibt sie seitliche Fasern ab. Wieder in anderen Fällen bilden sie bizarre Krümmungen. Oft, nament- lich in den tieferen Lagen der Schicht, treten sie in horizontaler Richtung aus der Zelle aus und behalten diese Richtung lange während ihres Ver- laufes bei. Zahlreiche aufsteigende Fibrillen, die aus der granulierten Schicht hervorgehen, vereinigen sich in diesen Fällen mit ihnen. Bis- weilen endlich zerfallen sie fast unmittelbar nach ihrem Ursprung in 4, 46 Wissenschaftliche Rundschau. 5 oder 6 Fasern, die sich wieder verzweigen und nach der granulierten Schicht absteigend sich verlieren. Die Bindegewebesubstanz, teils Zellen, teils Fasern, bildet das dritte histologische Element der Molekularschicht. Die Fasern namentlich sind in reichlicher Menge vorhanden. Sie gehen z, T. aus einem Zellnetz hervor, welches die freie Oberfläche der Windungen be- deckt, und senden in das Innere der granulierten Schicht zahlreiche Fibrillen. Ein anderer Teil entspringt aus Bindegewebezellen, die in der oberflächlichen Zone der granulierten Schicht, z. T. auch etwas tiefer liegen. Zahlreich sind die Nervenfasern, das vierte Element dieser Schicht. Auch sie sind in ihrem Vorkommen durchaus nicht auf eine bestimmte Stelle begrenzt. Sie finden sich in der Tiefe und oberflächlich zahlreich. Auf ihr spezielleres Verhalten haben wir später einzutreten. Die mittlere Schicht nennt Gorcı, wie wir bereits sagten, die granulierte. Dieser schon von anderen Histologen gebrauchte Name stützt sich auf die Voraussetzung, dass Bindegewebezellen, die Granula, das für diese Schicht charakteristische Element seien. Erweisen nun auch Gorcıs Untersuchungen diese Voraussetzung vieler Histologen als nicht zutreffend, so liegt doch, da ja diese mittlere Schicht ein körniges Aussehen hat, kein Grund zur Änderung des Namens vor. Die histo- logischen Elemente sind denen der Molekularschicht analog: wir finden kleine Nervenzellen, die Granula, grosse Nervenzellen, Bindegewebesub- stanz und Nervenfasern. Behandelt man einen Schnitt mit der Mischung von Kaliumbichromat und Silbernitrat, so färben sich die Granula, die bisher der Binde- gewebesubstanz zugezählt wurden, schwarz, zeigen also die für Nerven- elemente charakteristische Reaktion. Es sind demnach »wahre Nerven- zellen«, aber die »kleinsten, welche sich in unserem Organismus finden«. Sie sind gewöhnlich rundlich und haben 3—6 Fortsätze. Auch hier ist einer nervöser Art. Derselbe ist durch seine ausserordentliche Feinheit ausgezeichnet. Eine genaue Verfolgung seines Verlaufs wird dadurch sehr erschwert. Immerhin ist für einzelne Fälle nachgewiesen, dass auch von ihm seitliche Fortsätze abgehen und dass er die Schicht vollkommen durchdringt, um sich mit Nervenfasern zu vereinigen. Die von den Granula abgehenden protoplasmatischen Fortsätze teilen sich dichotomisch. Bald jedoch lösen sich die einzelnen Fasern in einen Haufen feiner Körnchen auf. Die grossen Nervenzellen treten in zwei Formen auf. Sie sind spindelförmig oder rundlich bis polygonal. Die ersteren trifft man fast ausschliesslich im Kleinhirn des Menschen an. In ihrem Vorkommen sind sie hier jedoch nicht an einen bestimmten Ort dieser Schicht ge- bunden. Ihr Durchmesser beträgt 20 w. Die von der Zelle abgehende Nervenverlängerung löst sich in feine Fäden auf und verliert sich in dem sehr komplizierten Netze, das die Nervenfasern bilden. Die rundlichen Zellen sind vornehmlich an der peripheren Zone der Schicht zu beobachten und lassen sich selbst bis in die Höhe der Purkinjeschen Zellen verfolgen. Die zahlreichen protoplasmatischen Wissenschaftliche Rundschau. 47 Fortsätze sind gegen die freie Oberfläche gerichtet und dringen oft in die Molekularschicht ein, durchdringen diese bisweilen vollkommen. Nicht unmittelbar nach dem Abgang von der Zelle lassen sich an der Nerven- verlängerung Verzweigungen beobachten, sondern diese treten erst etwa _ 20—30 u nach dem Ursprung auf. Das Verzweigunessystem ist hier komplizierter als an anderen Stellen. Es liess sich bisweilen beobachten, wie. aus ihm ein Netz hervorging, welches in vertikaler Richtung die Schicht in ihrer ganzen Dicke durchdrang und in horizontaler die be- deutende Ausdehnung von 200 u gewann. Die Bindegewebezellen treten hier in grösserer Zahl auf als in der Molekularschicht. Sie sind sternförmig und ihre Fortsätze gehen nach allen Richtungen, verzweigen sich vielfach und bilden so das Stütz- gewebe der Nervenelemente. Sie treten mit den Blutgefässen in innigere Verbindung. Von dem vierten Element können wir absehen, da dasselbe bei der näheren Darlegung der dritten Schicht wieder berührt werden muss. Die innere Schicht, welche auf dem Vertikalschnitt durch weisse oder blassrote Farbe ausgezeichnet ist, wird in der Hauptsache von Nervenfasern gebildet und nach diesen benannt. Neben diesen findet man, jedoch nur in ganz untergeordnetem Grade, Nervenzellen und Bindegewebefasern. Die Nervenfasern sind zum grössten Teil durch den hohen Grad ihrer Feinheit ausgezeichnet und stimmen in ihrem histologischen Charakter mit markhaltigen Nervenfasern überein. Ohne Anwendung stärkerer Vergrösserungen lässt sich in betreff des Verlaufs und der Beziehung zu den beiden besprochenen Schichten folgendes konstatieren: Die Nervenbündel der verschiedenen Markstrahlen treten fächerartig auseinander, sobald sie in die granulierte Schicht eindringen. Sie bilden so Interstitien, in welchen die Granula liegen. In ihrem Verlauf haben inzwischen viele Fasern ihre Markscheiden verloren; andere jedoch behalten sie bei bis in die Höhe der Purkinjeschen Zellen, dringen selbst ohne sie zu verlieren in die Molekularschicht ein, wo sie sich jedoch bald der Beobachtung entziehen. Die genaue Untersuchung lehrt nun allerdings, dass die Verhältnisse nicht so einfach liegen, wie sie die Vorprüfung anzudeuten schien. Durch zahlreich abgehende Zweige wird ein kompliziertes Verzweigungssystem gebildet. Es entsteht so ein derartiger Wirrwarr von Fasern, dass es ganz unmöglich ist, die einzelnen Fasern genau zu verfolgen. Soviel jedoch ist sicher, dass die zahlreichen Zweige, welche eine Faser während ihres Verlaufs durch die granulierte Schicht abgibt, zwischen den von einander entfernt liegenden Zellgruppen bestimmte Verbindungen her- stellen. Für andere Fasern liegen übrigens die Verhältnisse einfacher. Diese biegen aus dem Bündel, zu welchem sie gehören, ab und dringen in die granulierte Schicht ein. Ihre Richtung ist nicht die unregelmässige der Mehrzahl der übrigen Fasern. Sie behalten vielmehr genau die Richtung nach der Molekularschicht bei und geben in ihrem Verlauf auch nur wenig Fasern ab. 48 Wissenschaftliche Rundschau. Es gibt also zwei Kategorien von Nervenfasern: 1) sehr kompliziert sich verzweigende, die ein wirres Fasernetz bilden, und 2) solche, die direkt von ihrem Ursprung nach ihrem Bestimmungsort verlaufen. In der Grenzzone zwischen der granulierten Schicht und der äussern Rindenschicht bildet sich ebenfalls ein eigentliches Wirrnis von Fasern, die bald zu Bündeln vereint sind, bald isoliert, bald von ganz besonderer Feinheit, bald von relativ bedeutender Stärke. In vielfachen Windungen verlaufen sie und umschliessen häufig netzartig die Zellkörper der Purkinjeschen Zellen. In reichlicher Zahl gehen Zweige von ihnen ab und dringen in die Molekularschicht ein. Dort setzen sie sich mit horizontal verlaufenden Fasern in Verbindung oder sie biegen um und nehmen nun selbst einen horizontalen Verlauf an. Die Gesamtheit dieser Fasern tritt dann endlich in Verbindung mit dem Fasernetz der Molekularschicht. Die Fasern, welche diesen Plexus bilden, gehen aus der granulierten Schicht und zum kleinern Teil aus den Purkinjeschen Zellen hervor. In verschiedenen Fällen beobachtete Goucı die- Vereinigung dieser Fasern mit solchen andern Ursprungs. Ebenso war der Zusammenhang der Fibrillen und des Nervenfasergeflechtes mit den kleinen Zellen der Molekularschicht oder dann umgekehrt der Fäden, welche aus der Teilung der Nervenverlängerung dieser Zellen entstehen, mit den zum Plexus gehörigen nachweisbar. So nehmen also dreierlei Fasern an der Bildung dieses Geflechtes teil, 1) Fasern, die aus den Markstrahlen kommen, 2) solche, die aus der Nervenverlängerung der Purkinjeschen Zellen hervorgehen, 3) die Nervenverlängerungen der kleinen Zellen der Molekularschicht. Die tiefere Zone besteht hauptsächlich aus starken Fasern mit horizontalem Verlauf, die oberflächliche aus feinen unregelmässig verlaufenden. Fragen wir nach den Beziehungen zwischen den Nervenzellen und Nervenfasern in den Windungen des Kleinhirns, so muss man sich daran erinnern, dass man nach der Form der nervösen Verlängerung die viererlei Zellen, die wir unterscheiden konnten, die Purkinjeschen, diekleinen Zellen der Molekularschicht, die Granula und die grossen Zellendergranulierten Schicht, in zwei Gruppen bringen kann. Denn die Nervenverlängerung der Purkinjeschen Zellen ist von denen der anderen Zellkategorien dadurch verschieden, dass sie in ihrem Verlauf ihre Individualität beibehält, wenn schon auch von ihr seitliche Zweige abgehen, und dass sie direkt eine Faser der Markstrahlen bildet. Dieses verschiedene Verhalten der Zellen bezw. ihrer Nervenver- längerung steht zweifellos mit der physiologischen Differenz in Verbindung. Goueı hält dafür, dass die Zellen, welche sich direkt mit Fasern in Verbindung setzen, als die Örgane der Motilität aufzufassen sind, die anderen als solche der Sensibilität. Diese zwei Organsysteme werden aber durch das Nervennetz mit einander in Beziehung gebracht. In einem V. Artikel wird uns das Resultat der histologischen Unter- suchung des »grossen Seepferdefusses«, pes hippocampi major sive cornu ammonis, dargelegt. Wissenschaftliche Rundschau. 49 Zum Verständnis des folgenden ist eine anatomische Orientierung dieses Hirnteiles notwendig. Die Anatomen verstehen unter dem Ammons- horn einen Wulst in den seitlichen Hirnhöhlen. Derselbe wird dadurch gebildet, dass die äussere Hirnsubstanz in das Innere der ventriculi laterales einstülpt, indem die Windung des Hippocampus in der Wandung des absteigenden Hornes umbiegt. Gegen die Mittellinie hin ist dieser Wulst konkav. Dieser innere Teil ist mit einem 3seitigen, scharfen Rand, dem Saum (fimbria sive taenia hippocampi) versehen, einer Fortsetzung deshintern Schenkels des Gewölbes. Mit dem Namen subiculum cornu ammonis bezeichnet man denjenigen Teil der Seepferdefusswindung, welcher sich direkt in das Ammonshorn fortsetzt. Die Fortsetzung der Rindenschicht des subiculum nennt man das stratum convolutum. Die Gewölbewindung, der gyrus fornicatus, richtet sich von dem Punkte, wo sie um den Balkenwulst herumbiegt, abwärts und führt den Namen Seepferdefusswindung. Bis zum uncus ist die ganze Oberfläche mit einem zarten Netz weisser Substanz, der substantia reticularis alba, bedeckt. Auf einem Schnitte durch das Ammonshorn sieht man in Form einer weissen Linie die sog. Jamina medullaris circonvoluta. Sie liegt zwischen der grauen Schicht, welche in das subiculum übergeht, und der grauen Substanz der gezähnten Leiste (fascia dentata). Mit diesem Namen bezeichnet man eine Lamelle grauer Substanz, an deren Oberfläche eine Reihe von Vertiefungen zu beobachten sind. Sie geht aus der untern Oberfläche des Balkens hervor, etwas unterhalb des Wulstes, tritt tief in die Rinne ein, welche durch die Falte der See- pferdefusswindung gebildet wird, und endet in der Höhe des uncus. Mulde (alveus) nennt man die aus weisser Substanz bestehende Schicht, welche die ganze ventrikulare Oberfläche des Ammonshornes bedeckt. Dieses Geflecht von Nervenfasern vereinigt sich zu dem Mark- strang, welcher die ganze innere Seite des grossen Seepferdefusses begrenzt, zu der fimbria, welche dann, wie wir bereits sagten, einen Teil des Gewölbes bildet. Folgendes ist nunmehr das Resultat der einlässlichen histologischen Untersuchungen dieses bis dahin noch ziemlich wenig erforschten Hirn- teiles. Den bisherigen Darstellungen zufolge, die sich in der Hauptsache auf eine Untersuchung von KurrrEr, »>de cornu ammonis textura« und eine solche MEynerts, »der Bau der Grosshirnrinde und seine örtlichen Verschiedenheiten nebst einem pathologisch-anatomischen Corollarium«, stützen, musste man sich die histologischen Verhältnisse des grossen See- pferdefusses ungleich komplizierter denken als die anderer Hirnteile. Gotsı hat nun freilich dargethan, dass die Komplikationen mehr in der Art der Darstellung, als im Wesen des Organes liegen. Die Einteilung in zahlreiche Schichten dürfte, da sie zumeist nur auf sekundäre Unter- schiede und nicht auf wesentliche histologische Differenzen sich stützt, kaum begründet sein. Goucı fasst, wesentlich auf seine histologischen Untersuchungen sich stützend, das Ammonshorn nicht einfach als eine Umbiegung einer Windung auf, glaubt vielmehr, dass deren zwei an seiner Bildung teil- Kosmos 1884, I. Bd. (VIII, Jahrgang, Bd. XIV). 4 50 Wissenschaftliche Rundschau. nehmen, die durch ganz wesentliche Strukturverhältnisse von einander abweichen. So lassen sich also 4 Schichten unterscheiden, zwei, die aus grauer Substanz bestehen, die jeder Hirnwindung zukommen, und zwei Faserschichten, die hier wie überall aus den Zellen entspringen, welche in der grauen Substanz zerstreut liegen. Dabei darf man nun allerdings nicht vergessen, dass, wie wir schon mehrfach sagten, die Schichten um- biegen, wodurch natürlich ihre Zahl vermehrt wird, indem die gleichen Schichten sich wiederholen. Folgendes sind nach GoLGI diese 4 Schichten: 1) Die Markumkleidung an der Seite der ventriculi late- rales (alveus). Diese Schicht steht mit dem Gewölbe und der weissen Substanz der Seepferdefusswindung in Zusammenhang. 2) Die graue Schicht des stratum convolutum. Dieselbe ist die Fortsetzung der Rinde der Seepferdefusswindung oder des subi- culum des Ammonshornes. 3) Das die äussere Oberfläche der vorigen Schicht be- grenzende Fasergewebe. Sie ist die Fortsetzung der substantia reticularis alba der Seepferdefusswindung, die hier den Namen lamina medullaris circonvoluta führt. 4) Die graue Schicht, welche die fascia dentata bildet. Sie ist die Fortsetzung des Streifens grauer Substanz, welcher sich längs der Medianlinie des Balkens hinzieht. Von rein histologischen Momenten ausgehend, benennt GoLcI diese Schichten 1) innere Nervenfaserschicht oder alveus, 2) Schicht der grossen Nervenzellen oder stratum convolutum, 3) äussere Nerven- faserschicht oder lamina medullaris eirconvoluta, 4) Schicht der kleinen Nervenzellen oder fascia dentata. Sehen wir von der durch die Faltung verursachten Komplikation ab, so können bisweilen die histologischen Verhältnisse dadurch ver- wickelter erscheinen, dass die einzelnen Schichten nicht selten in ver- schiedenen Teilen Ungleichheiten ihres Aussehens zeigen, Ungleichheiten, die allerdings durch mehr nebensächliche Dinge veranlasst werden. Die mehr oder weniger dichte Lage der Zellen, die ungleiche Zahl der Binde- gewebselemente u. s. f. können natürlich leicht solche äusserliche Ver- schiedenheiten bedingen. Sobald aber die Strukturveränderungen nicht wesentlicher Art sind, sagt Goueı, und das mit vollstem Rechte, liegt kein Grund vor, die einzelnen Schichtenteile als besondere Schichten aufzufassen und dadurch die Sache unnatürlich zu komplizieren. Gousıs Untersuchungen basieren auf dem Studium des grossen See- pferdefusses einer Anzahl von Säugetierhirnen und dem menschlichen. Die nachfolgenden Erörterungen beziehen sich speziell auf die Verhält- nisse des Kaninchenhirns, an welchem das Ammonshorn einen hohen Grad der Entwickelung zeigt. 1) Innere Schicht oder alveus. Entgegen den Angaben von Kurrrer gibt GoLsı an — und die verfeinerte Untersuchungsmethode dieses Forschers lässt den Zweifel an seinen Angaben unbegründet er- scheinen — dass diese Schicht mit der grauen Schicht, auf welcher sie liegt, durch zahlreiche Fasern in Verbindung steht. Zahlreiche Nerven- Wissenschaftliche Rundschau. 51 fasern treten in schiefer Richtung aus dieser Schicht aus und setzen sich mit den Nervenfortsätzen der Zellen der grauen Schicht in Ver- bindung oder mit den Fasern, die dem Verzweigungssystem dieser Fort- sätze angehören. So wird die innere Schicht von Fasern gebildet, welche direkt aus den Zellen der inneren grauen Schicht hervorgehen, zweitens von Fasern, welche indirekt in den gleichen Zellen ihren Ursprung haben, welche also aus dem diffusen Netz hervorgehen, das durch die Verzweigung der Nervenfortsätze entsteht. Dazu kommen dann noch Fasern, die sich auf die graue Substanz der Seepferdefusswindung zurückführen lassen. Diese Schicht zeigt-nun folgenden feinern Bau: Eine sehr grosse Zahl markhaltiger, meist dünner Fasern bildet dieselbe. In ihrem Innern begegnet man da und dort isolierten Zellen verschiedener Form, ovalen, spindelförmigen, polygonalen und ganz unregelmässigen, die in vielen Fällen mit Protoplasmafortsätzen versehen sind. Auch die einzige Nerven- verlängerung ist zu beobachten. Diese verzweigt sich dann nicht selten. Gorsı hält diese Zellen für embryonale Überreste, die ausserhalb der regelmässigen Zellreihe blieben, die man in der darunter liegenden grauen Schicht beobachten kann, die aber, sowohl was ihren histologischen Charakter als ihre Beziehung zu anderen Elementen betrifft, wie diese sich verhalten. Die ventrikulare Oberfläche dieser Schicht ist von einem Epithel bedeckt. Von den Zellen desselben gehen nicht, wie man bisher be- schrieb, eine, sondern mehrere dicke und sich verzweigende Fortsätze ab, die in die Schicht eindringen. Zum Teil inserieren sie sich an den Gefässwänden, zum Teil verlieren sie sich in grosser Entfernung von ihrem Ursprung, ohne dass man ihr Ende genau bestimmen könnte. Unter diesem Epithel liegt eine Bindegewebeschicht, die aus sternförmigen Zellen besteht. Die Fortsätze derselben setzen sich mit den Wänden der Blutgefässe in Verbindung. 2) Schicht der grossen Zellen oder stratum convolutum. Die meisten Zellen dieser Schicht sind Modifikationen der pyramiden- förmigen Zellen der Rinde der Seepferdefusswindung, als deren Fort- setzung wir ja schon früher diese Schicht kennen lernten. Diese Modi- fikationen beziehen sich in erster Linie auf die Lagerung. Während nämlich in der Windung die Zellen ziemlich gleichförmig durch die ganze Rindenschicht verteilt sind, häufen sie sich beim Übergang ins Ammons- horn allmählich in einer begrenzten Zone an der Peripherie der Schicht an. Mit überraschender Regelmässigkeit ordnen sie sich zu einer, bis- weilen. auch wohl zu zwei oder drei Reihen an. Diese Beschränkung auf eine bestimmte engumgrenzte Zone ist jedoch nach Gousı nur bei Tieren mit relativ wenig voluminösem Gehirn zu beobachten (Kaninchen, Meerschweinchen, Katze u. s. f.). Bei grösseren Organismen (Hund, Rind, Schaf, Pferd u. s. f., ebenso beim Menschen) beobachtet man nicht diese auffallend regelmässige Anordnung. Betreffend die Modifikationen der Form ist zu beobachten, dass die Pyramidenform allmählich zu einer ovalen oder Spindelform wird. Die Fortsätze gehen gewöhnlich von der ursprünglichen Pyramidenbasis 52 Wissenschaftliche Rundschau. ab. Der Querdurchmesser der Zellen schwankt zwischen 15—30 u. In der Länge entsprechen sie meistens der Dicke der Schicht. Welches auch die Form des Zellenkörpers sei, immer sieht man von ihm aus gegen die äussere Oberfläche des stratum convolutum einen starken Fortsatz abgehen. Bald teilt er sich in 2 oder 3 Zweige. Diese selbst verzweigen sich weiter und werden gegen die Grenze der Schicht ausserordentlich fein. In einzelnen Fällen bleibt dieser Fortsatz lange. fast gleich breit. Erst spät gehen in diesem Fall sekundäre Fäden von ihm aus. Nach der ventrikularen Seite zu geben die Zellen ein ganzes Fadenbüschel ab. Die einzelnen Fäden verzweigen sich dichotomisch und dringen in die hinter den Zellkörpern gelegene Zone ein, um schliess- lich das unter dem Epithel gelegene Bindegewebe zu erreichen. Auf den ersten Blick ist unter diesen Fortsätzen der nervöse zu erkennen, ob- gleich er durchaus nicht immer aus dem gleichen Teil der Zelle abgeht. In der Mehrzahl der Fälle entspringt er an dem gegen die innere Mark- schicht gerichteten Teil der Zellen mitten in dem Pinsel der protoplasma- tischen Fortsätze. Doch geht er gelegentlich auch an der Seite des Zellkörpers ab, in seltenen Fällen sogar von dem entgegengesetzten Ende. In den beiden letzten Fällen biegt er fast unmittelbar nach sei- nem Ursprung um und verbindet sich mit der Faserschicht des alveus. 10—20 u entfernt gehen von dem Nervenfortsatz sekundäre Fäden ab, die sich in komplizierter Weise verzweigen. Geht er aus dem äussern Zellenende hervor, so treten die Verzweigungen zum Teil in die Faser- schicht ein, zum Teil bleiben sie in der grauen Schicht. Geht er, wie es zumeist geschieht, aus dem äussern Zellende hervor, dann biegen seine Zweige in die graue Schicht um. So nehmen also alle Nervenfortsätze an der Bildung des diffusen Netzes des stratum convolutum Anteil. Die protoplasmatischen Fortsätze, die pinselartig am innern Ende des Zellkörpers abgehen, setzen sich mit den Bindegewebezellen des Ependyms in Verbindung und mit denen, die zerstreut in der korrespondierenden Schicht der Nervenfasern liegen. Die auf der entgegengesetzten Seite abgehenden durchdringen die graue Schicht und bilden so das stratum radiatum der Autoren. Sie teilen sich dann nahe dem äussern Ende der Schicht in feinere Zweige, die zum Teil an die zahlreichen Bindegewebselemente der Grenzzone, zum Teil an diejenigen der Faserschicht gehen. Wegen der reichlichen Bindegewebselemente, der grössern Zahl der Gefässe und dem Wirrwarr der feiner gewordenen protoplasmatischen Fortsätze hat das äussere Viertel der Schicht ein etwas anderes Aus- sehen als der übrige Teil, so dass sich für diesen Teil, ohne dass man jedoch mit dem Namen einen wesentlichen Unterschied andeuten will, die Bezeichnung Bindegewebezone rechtfertigt. 3) Äussere Nervenfaserschicht oder lamina medul- laris circonvoluta. Wie durch den Namen angedeutet wird, be- steht diese Schicht der Hauptsache nach aus markhaltigen Fasern, die der äussern Oberfläche der Schicht der grossen Zellen parallel laufen. Nervenzellen fehlen vollständig. (MEyxerr spricht von der Anwesenheit spindelförmiger Zellen.) Wissenschaftliche Rundschau. 53 Dieses Fasernetz ist mit dem stratum convolutum sehr innig ver- bunden. Transversalschnitte durch den grossen Seepferdefuss zeigen, dass es sich längs der Furche, welche das stratum convolutum von der fascia dentata trennt, hinzieht. Allmählich werden die Fasern dieses Netzes feiner, weil die Fibrillen ihre Bündel verlassen. Schliesslich ver- lieren sie sich in der grauen Schicht. Der Rest dringt in den Raum ein, welcher durch die zwei Zweige der fascia dentata begrenzt wird. Dort zerstreut er sich zwischen den unregelmässig liegenden Zellen, welche noch zum stratum convolutum gehören. 4) Schicht der kleinen Zellen oder fascia dentata. Mit diesem Namen bezeichnet GounGı das, was von andern Autoren als Molekularschicht und granulierte Schicht beschrieben wurde. Die Nervenzellen, die wir in dieser Schicht treffen, sind fast aus- nahmslos rundlich oder oval. Ihr Breitendurchmesser schwankt zwischen 10—20 u, der Längsdurchmesser zwischen 15—30 u. Mit ihren Proto- plasmafortsätzen nehmen sie die ganze Dicke der Schicht ein. Die Zell- körper sind regelmässig angeordnet und finden sich wieder in einer eng umgrenzten Zone. Da bilden sie eine oder auch 2—3, in seltenen Fällen auch 4 Reihen. Doch nicht alle Kerne, die man in dieser Schicht be- obachtet, gehören Nervenzellen an. Wie die Reaktionen beweisen, ist ein Teil auch Bindegewebe. Sehr charakteristisch ist die Art, wie die Fortsätze abgehen. An einer Seite sieht man zahlreichere, 2—6, Fortsätze entspringen, es sind die protoplasmatischen, an der andern nur einen, den Nervenfortsatz. Die protoplasmatischen verlaufen gegen das stratum convolutum. Sie teilen sich dichotomisch, durchdringen die Schicht der kleinen Nervenzellen und enden an ihrer Grenze da, wo sie an das strat. convolutum anstösst, ebenso aber auch an ihrem freien Teil. Der Nerven- fortsatz dagegen verläuft nach der entgegengesetzten Seite und dringt in den Teil des stratum convolutum ein, welcher umbiegt, um den durch die fascia dentata begrenzten Raum einzunehmen. Die Nervenverlängerung entspringt aus dem vom stratum convo- lutum entfernten Pol und geht direkt oder etwas schief verlaufend in die Grenzzone dieser Schicht. 25—30 u nach seinem Ursprung gibt er sehr feine Seitenfäden ab, die sich wieder verzweigen, ein wirres Netz bilden und vielleicht mit solchen Fäden, die von andern Fortsätzen ab- gehen, anastomosieren, so dass auf diesem Wege ein sehr kompliziertes Netz von ungefähr 50—60 u Dicke entsteht. Dennoch lassen sich die einzelnen Fäden oft ein beträchtliches Stück weit in dieses Fasergewebe hinein verfolgen. Bisweilen lässt sich sogar deren Zusammenhang mit Fasern der fimbria oder des alveus konstatieren. In andern Fällen scheint er sich allerdings in dem genannten Fasernetz zu verlieren. So bestehen also, um die angegebenen histologischen Verhältnisse nochmals kurz zusammenzufassen, folgende Beziehungen zwischen den Fasern und Zellen des grossen Seepferdefusses: 1) Die Nervenfasern, welche das äussere Fasernetz, die lamina medullaris circonvoluta bilden, entspringen in der Rindensubstanz der Seepferdefusswindung des subiculum und des stratum convolutum. 54 Wissenschaftliche Rundschau. 2) Sie setzen sich nicht direkt mit den Zellen in Verbind- ung, sondern indirekt durch das diffuse Netz, welches teils durch die Teilung dieser Fasern selbst, teils durch die Nerven- fortsätze der Zellen der grauen Schicht gebildet wird. 3) Die Fasern des alveus und der fimbria gehen direkt aus den Zellen des stratum convolutum, die in regelmässigen Reihen angeordnet sind, hervor. 4) Zum Teil entspringen diese Fasern auch ausden kleinen Zellen der fascia dentata. Daraus geht also hervor, dass derisolierte Verlauf jeder Fiber zu einer korrespondierenden Zelle nicht angenommen werden darf. Im Gegen- teil ist es ganz augenscheinlich, dass in der grauen Substanz die Nerven- fasern unter sich zahlreiche Kommunikationen eingehen, bevor sie zu den Zellen gelangen, dass jede Faser zweifellos sich mit mehreren Zellen in Verbindung setzt, mit Zellen, die weit auseinanderliegen können, dass man endlich, weil ja immerhin eine grosse Zahl von Nervenfortsätzen. ihre Individualität bis in die Faserschicht beibehält, die Existenz einer Hauptleitung zwischen bestimmten Zellen oder Zellgruppen und be- stimmten peripheren Regionen annehmen muss. Die histologische Anordnung dürfte folgende physiologische Schluss- folgerungen gestatten: Die Fibern der lamina circonvoluta, die sich in dem diffusen Nervenfasernetz verlieren, dürften der sensitiven Sphäre an- gehören, während die Fasern des alveus und der fimbria, deren direkte Kommunikation mit den Zellen des stratum convolutum und der fascia. dentata erkennbar ist, zu der motorischen oder psychomotorischen Sphäre zu zählen wären. Winterthur. Dr. RoßEeRT KELLER. Ethnologie. 1. Graf Geza Kuun über die Urbevölkerung Siebenbürgens und die Religion der Agathyrsen*. Während Heropor behauptet, dass die Agathyrsen, die ältesten Bewohner Siebenbürgens, Überfluss an Gold besassen, hat Fräulein SopHIE von TorMmA bis jetzt keinen Gegenstand aus Gold oder Silber in den alten Ansiedelungsstätten an der Marosch gefunden. Graf Kuux macht indessen darauf aufmerksam, dass Mykenae von Hour, Od. II. 305 reich an Gold (0A 0%0VO0g) genannt wird, während ScHLIEMANnN nach- gewiesen hat, dass Gold einzig und allein nur in den Königsgräbern Mykenaes gefunden wurde. Wenn einmal die Gräber der Könige der Agathyrsen entdeckt sein werden, so wird man in diesen auch Gold und andere Kostbarkeiten finden. Ich stimme mit Herrn Grafen Kuux vollständig überein, wenn er die Agathyrsen für einen thrakischen Stamm hält, und ich glaube, dass Agathyrsoi nur der ältere Name * Nuova Antologia di scienze etc. 2. ser. XXI. p. 554 u. f. Wissenschaftliche Rundschau. 55 der Dacier sei, die ja gleichfalls thrakischen Ursprungs waren. HERODOT IV, 19 _ verbindet die Agathyrsen mit den Neuren, in welchen ich gleich SaraRık und Grafen Kuun ein slavisches Volk vermute (noch jetzt haftet dieser Name in denselben Gegenden, polnisch »ziemia nurska«). In dieser Hinsicht wäre die Entdeckung MÜLLENHOoFFs in einem Artikel der Enceyklopädie von ErscH und GRUBER recht interessant, dass in der Sprache der Urbewohner Transsylvaniens ähnliche Nasallaute wie die polnischen a und c vorkamen. Den Beweis suchte er aus Orts- und Völkernamen des alten Daciens zu führen. Ich glaube indessen, dass hier zwei analoge, aber von einander ganz und gar unabhängige sprach- liche Erscheinungen vorliegen. Die polnischen Nasallaute haben sich erst nach der Abtrennung von den übrigen Slaven durch Abwerfung der Konsonanten m und n gebildet (vergl. MAteckı, Gramatyka jezyka pols- kiego mniejsza — Lwöw 1872, p. 4) und in der Epoche, von welcher hier die Rede ist, dürften die einzelnen slavischen Sprachen sich kaum bereits ausgebildet haben. Die Entscheidung über die letztere Frage überlasse ich indessen kompetenten Slavisten. Was die Religion der Agathyrsen anbetrifft, so weist Graf Kuun auf eine merkwürdige Stelle bei Hrropor IV, 119 hin, die, mit den archäologischen Funden des Fräulein von Torma in Zusammenhang gebracht, ein Licht auf die Religion dieses alten Volkes wirft. Es heisst dort, dass die Skythen während des Krieges mit den Persern die Könige der benachbarten Völker zu einer feierlichen Ver- sammlung eingeladen hätten, um ein Bündnis gegen den gemeinsamen Feind zu schliessen. Die Agathyrsen und Neuren machten die 'Skythen darauf aufmerksam, dass sie die Perser früher angegriffen hätten, und verwiesen sie auf die Strafe Gottes. Graf Kuun schliesst hieraus, dass den Agathyrsen die Idee einer Gottheit, welche die Schicksale der Völker lenkt, bekannt war. Graf Kuux bemerkt ferner, dass Fräulein Sorkte von TormA ein Skelett einer sitzenden, mit dem Gesicht gegen Osten gewendeten Frau gefunden hat. Es scheint, dass die Agathyrsen als ihren höchsten Gott die Sonne verehrten. Man findet das Bild der Sonne auf einer grossen Zahl von Thonscherben und Vasen. Ähnliche Gegenstände wurden in Troja gefunden. Das Kreuz scheint ein Symbol zu sein, welches die Sonne mit den nach den vier Weltgegenden ausgehenden Strahlen darstellen soll. Das Wort »suasti« *, von welchem »suastica« abgeleitet ist, bedeutet Glück, Wohlstand, und im Persischen bedeutet hör: 1. Sonne, 2. Glück. Fräulein vov TormA erwähnt einen Herd und eine Hütte, die oberhalb eines Grabes errichtet waren, um die Ruhe des Toten besser sichern zu können, woraus Graf Kuvx den Schluss zieht, dass der Glaube an die Unsterblichkeit den Agathyrsen gleichfalls nicht fremd war. Er macht überdies noch auf die Ähnlichkeit einzelner Funde aus Tordos (Siebenbürgen) mit denjenigen aus Mykenae aufmerksam. Graz. Dr. FLIGIER. * So benannte bekanntlich Schliemann die Kreuzeszeichen auf den troja- nischen Funden. 56 Wissenschaftliche Rundschau. 2. Die Abstammung der Tiroler. Als die erste historische und jedenfalls prähistorische Bevölkerung Tirols können unzweifelhaft die Rätier betrachtet werden. Diese Rätier wurden durch die römische Eroberung mehr oder weniger oder auch gar nicht vermischt, aber in Sprache und Kultur jedenfalls im Laufe der Jahrhunderte ganz romanisiertt. Diese Räto-Romanen bilden noch heute den quantitativ überwiegenden Grundstock des tiroler Volkes, welchem die germanischen Elemente in verschiedenen Mengen beigemischt sind. Nur ein kleiner Teil dieser alten fast oder ganz romanisierten Rätier hat sich in den abgelegenen Thälern um die übergletscherte Marmolada-Spitze und im Münsterthale und in der Nähe des Ortlers in wahrscheinlich urrätisch physischer Beschaffenheit bis auf den heutigen Tag erhalten — es sind die Ladiner. Die weit überwiegende Mehr- zahl der Räto-Romanen wurde germanisiert oder italianisiert. Es ist merkwürdig, dass die deutsch-tirolischen Köpfe und Schädel am wenigsten den germanischen Typus zeigen, dass aber, je tiefer man nach Wälsch- tirol geht, die Köpfe und Schädel desto germanischer werden. Dieses überraschende Resultat verdanken wir einem umfangreichen Werke »Stu- dien zur Anthropologie Tirols und der Sette Comuni von Dr. Franz Tar- PEINER, Innsbruck 1885«. Der in Kurkreisen in Meran wohlbekannte Arzt Dr. Tarpzıner hat das Verdienst, seit 1578 anthropologische Reisen durch die Hauptthäler des Landes unternommen, sie auch auf die deutschen Enklaven, die im Vicentinischen zwischen der Brenta und dem Astico gelegen sind, ausgedehnt und im ganzen die Messung von 4955 Schädeln und 3185 Köpfen vorgenommen zu haben. Unter den Ladinern allein hat er 441 Schädel und 351 Köpfe gemessen. Darunter befindet sich kein einziger Dolichokephale, die Zahl der Mesokephalen beläuft sich auf 13,5 °/o, der Brachykephalen auf 47,9 °/o, der Hyperbrachykephalen da- gegen auf 38,6 °/o. Die Schädel der Ladiner sind daher vorwiegend kurz und hoch. Ein vorrömischer, mit der Gertosa-Fibel gefundener Schädel war gleichfalls hyperbrachykephal, woraus man vielleicht den Schluss ziehen kann, dass die alten Rätier hyperbrachykephal waren. Nach- dem Dr. Tarreıner den definitiven Beweis geführt, dass die Rätier sowohl von den Etruskern wie den Kelten verschieden waren, weist er auf die grösste Ähnlichkeit der tirolischen Ladiner-Schädel mit den Abbildungen der brachykephalen Schädel des südlichen Baden und Württemberg, welche Ecker und v. HöLper veröffentlicht haben, hin. Bei der Betrachtung dieser Eckerschen Schwarzwälder und Hölderschen Württemberger Schädel sprang ihm die überraschende Ähnlichkeit der- selben mit den tirolischen Ladiner-Schädeln so augenfällig hervor, dass er diese Abbildungen als naturgemässe Porträts der Ladiner-Schädel an- sehen konnte. Wer waren dieses vor der römischen Herrschaft und während derselben in dem Gebiete zwischen Donau und Alpen, östlich vom Rhein alt-ansässige Volk, in dem die alten Alemannen und Sueven zum grösseren Teile aufgegangen sind? Ecker spricht sich nicht bestimmt aus, dagegen bezeichnet Ranke diese Brachykephalen als Nachkommen ZU =] Wissenschaftliche Rundschau. der römischen Provinzialen. Diese Provinzialen waren aber ein von kel- tischen Stämmen überschichtetesrätisches Volk. Da die tirolischen Ladiner und ihre Urahnen, die Rätier, nach Tarrzıner kraniologisch zu demselben Volke gehören, so kann man wohl mit Dr. Tarrzıser auf die rätische Natur der Urbewohner Süddeutschlands schliessen. Nach den Berichten des Lıvıus, Justinus und STEPHAN von Byzanz sollen die Rätier eine der Etruskischen verwandte Sprache gesprochen haben. Die Etrusker waren keine Indoeuropäer, folglich auch die Rätier nicht. Dieser uralte rätische Typus ist noch heute bei der deutsch sprech- enden Bevölkerung Tirols der vorherrschende. Die Gruppe Ultenthal- Tisens steht kraniologisch den Ladinern am nächsten. Die Eisack- thaler sind geographisch die nächsten Nachbarn der Ladiner, da das Grödenthal ein Seitenthal des Eisackthales bildet; aber anthropologisch sind sie schon verschieden von den Ladinern. In Hinsicht der Farbe der Haare und Augen sind die Eisackthaler heller, d. h. germanischer als die Ladiner; dagegen ist ihre Kopfbildung entschieden ungermanisch, indem sie an Brachykephalie die Ladiner noch übertreffen, ein Rätsel, das sich Dr. Tarreıner nicht erklären kann. Auch die Westpuster- thaler sind noch brachykephaler als die Ladiner. Die Westpuster- thaler sind nach TaArrEıser eine Mischung von Räto-Romanen, Römern und eingewanderten Bajuwaren. Der Typus der Deutsch- Nonsberger gleicht dagegen vollständig dem der benachbarten Ulten- Tilsener. Dieselbe sind somit ziemlich reine Räto-Romanen. Auf der höchsten Stufe der Brachykephalie stehen die Passeyrer, obwohl man dieselben lange Zeit für Nachkommen der Ostgoten gehalten hat, die wir uns nach Analogie der übrigen germanischen Stämme der Völker- wanderungszeit als dolichokephal vorstellen müssen. Es sei hier noch be- merkt, dass die erwähnten Deutsch-Nonsberger mit so auffallend ladinischem Typus nach der Sage als Nachkommen aus Sachsen einge- wanderter Bergknappen gelten. Der kraniologische Typus der Lechthaler ist noch kurzköpfiger als der der Ladiner; aber ihr physisches Aus- sehen ist germanischer. TAarrzıner bezeichnet sie als eine Mischung von Räto-Romanen und Alemannen. Jedem, der die Bewohner des Burggrafenamtes an Sonn- und Festtagen in grösseren Massen beisammen sieht, fällt das urdeutsche Aussehen und Wesen derselben auf, so dass selbst Lupwıc StEeup und Feuıx Daun in ihnen die Nachkommen der edlen Ostgoten zu erkennen glaubten. Nach den exakten Forschungen TArrpeEıners sind diese eben germanisierte Räto-homanen mit relativ ge- ringer germanischer Beimischung. Die Wippthaler sind dagegen mit etwas mehr germanischen Elementen versetzt. Auch die Untervintsch- gauer sind in körperlicher Beschaffenheit, Sprache und Tracht sehr ver- wandt mit den Burggrafenämtlern. Die Obervintschgauer sind wiederum eine Mischung von Räto-Romanen und Alemannen. Bei den Bewohnern der Gruppe Neumarkt-Truden sieht man, dass diese aus Räto-Ro- manen und Bajuwaren zusammengewachsen sind, aber der höhere Pro- zentsatz der Dolichoiden sagt dem Anthropologen, dass der germanische Mischungsanteil entschieden grösser ist als im oberen Etsch- und Eisack- thale. Einen höheren Prozentsatz des germanischen Blutes finden wir 58 Wissenschaftliche Rundschau. bei den Östpusterthalern, ebenso ist der Gesamttypus der Sarnthaler- Haflinger ein mehr germanischer als im Burggrafenamte und im Eisack- thale. TArrEIıSER vermutet dort noch Reste der Ostgoten. In dem jetzt fast ganz italienischen Valsugna sehen wir plötzlich den Prozent- satz der germanischen Dolichokephalen steigen. Die kraniologische Analyse der heutigen Bevölkerung lässt unzweifelhaft auf eine zahlreiche germani- sche Beimischung zu den Räto-Romanen schliessen. Die linguistischen Forschungen des österreichischen Postdirektors WIELTER in Vicenza und des Schulinspektors Dr. SCHNELLER haben erwiesen, dass das grosse Gebiet zwischen der Etsch und der Brenta und der Ebene zwischen Verona, Vicenza und Padua nach der Völkerwanderungszeit von zahlreichen deut- schen Ansiedelungen durchzogen war, dass noch im frühen Mittelalter in diesen Gegenden deutsch gesprochen wurde, dass Trient selbst noch zur Zeit des Konzils deutsch war, und dass erst im Laufe der Jahr- hunderte die italienische Sprache dieses ganze Gebiet bis auf wenige deutsche Sprachinseln erobert hat. Die Lusarner und Lafrauner mit den Bewohnern der Valsugna und der Sette Comuni gehören kraniologisch und ethnologisch zu demselben Volke und sind eine Mischung von Räto- Romanen mit vielen germanischen Elementen. Die Bewohner der Judi- karien (Sarca- und Chiesa-Thal) haben mit den Leuten der Valsugna einen ziemlich ähnlichen kraniologischen und ethnologischen Typus. Aber der Prozentsatz der Dolichoiden ist noch grösser und dennoch sprechen die Bewohner der Judikarien seit Jahrhunderten nur die italienische Sprache. Zahlreiche Dolichoiden (Nachkommen der Longobarden?) finden sich bei den Wälsch-Nonsbergern, obwohl sie mit Ausnahme von 4 deutschen Dörfern eine wälsche Mundart sprechen, welche zwischen dem Ladinischen und Italienischen in der Mitte stehen soll. Noch zahl- reichere Dolichoiden finden sich bei den nur italienisch sprechenden Fleimsern. Wir können diese um so eher den Longobarden zu- zählen, als es urkundlich feststeht, dass die Fleimser einst nur nach longobardischem Recht leben wollten. Die Deutschen der Sette Comuni sind nach den Forschungen TArrEıweErs bei weitem keine reinen Germanen, sondern mit alemannischem und longobardischem Blute durchsetzte Räto- homanen. : Nach der Berechnung Dr. TArrEıners tragen von 800 000 Tirolern 665 000 zumeist deutsch sprechende Individuen den brachy- kephalen und hyperbrachykephalen Typus ihrer Vorfahren, der uralten Rä- tier noch an sich. Die Mesokephalen, 127 200 an der Zahl, sind aus einer Mischung räto-romanischer Elemente mit bajuwarischen, alemannischen und longobardischen Dolichokephalen entstanden. Nur etwa 8300 zumeist italienisch sprechender Dolichokephalen erinnern an Longobarden und andere germanische Elemente. Die Tiroler sind also vorwiegend Nach- kommen der alten Bewohner Rätiens. Die anthropologische Wissen- schaft ist Herrn Dr. TArrEıser für diese ebenso wichtigen wie interessanten Forschungen zu besonderem Danke verbunden. Graz. Dr. FLIGIER. Wissenschaftliche Rundschau. 59 Zoologie. 1. Über die Vorfahrenform der Wirbeltiere. Unter den zahlreichen »Übergangsformen« zwischen verschiedenen Ordnungen, Klassen, ja sogar Stämmen des Tierreichs, die in neuerer Zeit bekannt geworden sind, befindet sich leider keine, die unzweifelhaft oder auch nur mit einiger Wahrscheinlichkeit als Mittelglied zwischen irgend einer Abteilung der Wirbellosen und den eigentlichen Wirbel- tieren angesprochen werden dürfte. Denn Amphioxus ist und bleibt bei aller Einfachheit seines Baues doch ein echtes Wirbeltier oder besser ein Chordat, und die Ascidien, durch deren merkwürdige Larven- entwickelung man früher (nach KowArrvsky) die Abstammung der Chor- daten aufhellen zu können glaubte, sind jetzt wohl allgemein als ver- kümmerte, wenngleich von jeher sehr primitiv gebliebene Glieder dieses Stammes anerkannt. Sodann sind nach Dourss Vorgang von verschie- denen Seiten sehr wertvolle Zeugnisse beigebracht worden, welche auf die Chätopoden oder überhaupt auf gegliederte Würmer als die ge- suchten Vorfahren hinzuweisen schienen; und diese Ableitung ist auch gar nicht so sehr schwierig, wenn man sich nur, wie weiland G. Sr. HıLAIRE, einen solchen Wurm mit der Bauchseite nach oben gedreht und mit einem neuen Mund auf der nunmehrigen Ventralseite ausgerüstet denkt. Allein selbst abgesehen von diesen etwas gewaltsamen Forderungen ver- mochte diese Hypothese so wenig wie eine frühere die Frage zu be- antworten, woher das auszeichnendste Organ der Chordaten, die Chorda dorsalis stamme; und doch darf man jedenfalls, wie BALrour mit vollem Recht bemerkt (vergl. Embryologie II, 292), »keiner Gruppe der Wirbel- losen eine genetische Beziehung zu den Chordaten zuerkennen, so lange nicht nachgewiesen ist, dass dieselbe irgend ein entweder von einer Chorda abgeleitetes oder der Entwicklung zu einer Chorda fähiges Organ besitzt. Bisher aber ist ein solches Organ noch bei keinem Wirbel- losen aufgefunden worden.< Auch an anderen ernstlichen Einwürfen gegen die Annelidenabstammung, die namentlich von GEGENBAUR und HAEcKEL und deren Schule ausgingen, hat es nicht gefehlt; etwas Besseres wusste freilich niemand an ihre Stelle zu setzen. Neuerdings unternimmt nun Prof. A. A. W. HusrecHrt in Utrecht den auf den ersten Blick beinahe paradox erscheinenden Versuch, in der Organisation der Nemertinen oder Fadenwürmer auffallende Parallelen und Vorstufen zu derjenigen der Wirbeltiere nachzuweisen und ins- besondere die Entstehung der Chorda und eines andern, zwar rudimen- tären, aber merkwürdig zäh sich erhaltenden Organs der letzteren, der Hypophysis cerebri, begreiflich zu machen (s. Quart. Journ. of Micr. Sc. Juli 1885). Zwar bekennt er selbst, dass noch manche Punkte, ins- besondere aus der Entwickelungsgeschichte, genauerer Untersuchung be- dürfen und dass sein Hauptzweck der sei, zu solchen Forschungen anzu- regen; es ergeben sich ihm aber jetzt schon so viele höchst interessante Vergleiche, dass eine kurze Wiedergabe derselben wohl am Platze sein dürfte. 50 Wissenschaftliche Rundschau. Hugrechrt leitet die Hypophysis der Chordaten von dem vor- und zurückziehbaren Rüssel der Nemertinen, dieChorda der ersteren von der Rüsselscheide der letzteren ab. Was die Hypophysis betrifft, so war schon längst bekannt, dass sie, obwohl mit dem »Trichter< am Zwischenhirn innig verbunden, doch ein dem Nervensystem ursprünglich fremdes Gebilde von scheinbar drüsiger Natur ist, das, wie RarukE festgestellt hatte, bei höheren Wirbeltieren vom Kopfdarm sich abschnürt, dicht vor das Vorderende der Chorda zu liegen kommt und erst nachträglich in die Hirnkapsel eingeschlossen wird. Gegenwärtig wissen wir, dass die erste Anlage des- selben ein Divertikel am Dach der embryonalen Mundhöhle ist, welches gleich dieser vom Epiblast abstammt. Indem dasselbe dann gegen die Gehirnblase emporwächst, wird sein Verbindungsgang mit der Mundhöhle immer länger und enger, bis er endlich einen soliden Strang darstellt und das bläschenförmige obere Ende durch das sich entwickelnde Knorpel- cranium ganz vom Kopfdarm abgedrängt wird. Schon vorher aber ist ihm ein hohler Fortsatz des Zwischenhirns, der spätere »Trichter«, ent- gegengekommen und mit ihm verwachsen, ohne dass jedoch, soweit bis jetzt bekannt, irgendwelche Nervenendapparate ausgebildet würden. Berücksichtigt man, dass dieses Organ schon bei den niedersten Wirbel- tieren nur noch in rudimentärem Zustande angetroffen wird, so kann diese innige Beziehung zu einem Abschnitt der Gehirnbasis, welcher auch äusserlich dem Riechhirn sehr ähnlich sieht, kaum einen anderen Sinn haben, als dass die Hypophysis früher, als sie noch funktionsfähig war, reichlich mit Nerven versorgt war und ein Sinnesorgan darstellte. Von grosser Wichtigkeit scheint nun zu sein, dass, wie DoHRN kürzlich zeigte, bei Petromyzon die Epiblasteinstülpung der Hypophysis, von derjenigen der Mundhöhle gesondert, auf der äusseren Fläche des Kopfes liegt und gerade dem Vorderende der Chorda entgegenwächst. Wenn dies Verhalten als Wiederholung eines ursprünglicheren Zustandes aufzufassen ist, aus welchem dasjenige der übrigen höheren Wirbeltiere erst durch sekundäre Verlagerung hervorging, so dürften wir also auch ein oberflächlich gelegenes Gebilde nötigenfalls als Homologon jenes pri- mitiven Sinnesorgans ansprechen. Dass bei Amphioxus jede Spur der Hypophysis fehlt, kann hiernach bei der bekannten Lebensweise des auch sonst vielfach verkümmerten Tieres nicht überraschen. Gleichwohl aber — wie kann man ein wahrscheinlich schlauch- förmig in das Kopfende eingesenktes Sinnesorgan mit dem gewaltigen Rüssel der Nemertinen vergleichen wollen, der oft bis fast ans Hinterende des Körpers reicht, häufig mit grossen Stacheln und zahlreichen Nessel- zellen bewehrt ist und entschieden als Angriffswaffe fungiert? In der That müssen wir auch hier auf einfachere Formen zurückgehen, um den Ver- gleichspunkt zu finden. Hauptsächlich durch L. vow GRAFFs Unter- suchungen haben wir eine ganze Reihe von rhabdocölen Strudelwürmern näher kennen gelernt, welche die allmähliche Ausbildung des Rüssels aus einem kleinen rückziehbaren Fortsatz des vordern Körperendes, der so- wohl zum Tasten als zur Verteidigung dient, durch manche Zwischen- stufen hindurch bis zu dem stattlichen und ausserordentlich wirksamen « Wissenschaftliche Rundschau, 61 Gebilde der Nemertinen uns vor Augen führt. Übrigens zeichnet sich der Rüssel auch bei diesen durch grossen Nervenreichtum und kom- plizierte Anordnung des Nervengewebes aus, er muss also wohl seine Tastfunktion in bedeutendem Masse noch beibehalten haben. Noch bestimmteren Aufschluss gibt die Entwickelungsgeschichte. Der Nemertinenrüssel ist ursprünglich eine einfache Einstülpung des Ekto- derms, welche am Vorderende des Embryos auftritt und immer weiter nach hinten eindringt; dabei nimmt sie ihren Weg zwischen den beiden Gehirnganglien hindurch in der Weise, dass die dickere Querkommissur unter, die dünnere über ihr verläuft. Es ist daher sehr leicht denkbar, dass eine solche Anlage bei den Vorfahren der Chordaten sich zu einem funktionslosen Schlauch, gleich der Hypophysis beim Embryo von Petromyzon, vückgebildet haben mag. Eine nicht zu verachtende Stütze findet diese Annahme darin, dass, wie HuUBRECHT schon in einer früheren Arbeit (1880) »Zur Anatomie und Physiologie des Nervensystems der Nemertinen« hervorgehoben hatte, Gehirn und Rückenmark der Wirbeltiere sich ziemlich ungezwungen von den oberen Schlundganglien und den beiden grossen lateralen Nervenstämmen der Nemertinen ableiten lassen. Denn die Lage dieser Stämme, obwohl meistens genau rechts und links vom Darmkanal, ist doch sehr wechselnd: bei Drepanophorus sind sie auf der Ventralseite des Darmes nahe zusammen- gerückt, bei Langia dagegen laufen sie wenigstens in der vordern Körper- hälfte nicht weit von einander entfernt über dem Darme nach hinten; dort scheint also ein Übergang zum Bauchnervenstrang der Anneliden und Arthropoden, hier zum Rückenmark der Chordaten angedeutet zu sein. In allen Fällen aber bestehen diese Nervenstämme nicht bloss aus Nerven- faserbündeln, sondern sie tragen in ihrem ganzen Verlauf eine gleich- mässig dicke Hülle von Nervenzellen verschiedener Grösse, ohne dass es irgendwo ausser am vordern Ende, im »>Gehirn<, zu einer Ganglion- ähnlichen Ansammlung derselben käme — abermals eine Eigentümlichkeit, welche auffallend an das Rückenmark der Chordaten erinnert*. Vielleicht kann man selbst soweit gehen, die oberen und unteren Lappen, in welche sich das Gehirn der meisten Nemertinen differenziert hat, mit gewissen Teilen des Wirbeltiergehirns zu vergleichen: von jenen entspringen die Nerven für die höheren Sinnesorgane, von diesen jederseits ein starker Nerv für den vordern (nach M’Ixrosn respiratorischen!) Abschnitt des Darmrohres, weshalb er von Husrzcnr schon früher als N. vagus be- zeichnet wurde. Damit ist schon angedeutet, dass wir das Homologon der oberen Lappen im Vorder- oder Grosshirn der Wirbeltiere, dasjenige der unteren im Mittel- und Hinterhirn zusammengenommen zu erblicken * Hier darf wohl auch darauf hingewiesen werden, dass der Bau des Rücken- marks deutliche Spuren einer Zusammensetzung aus zwei der Länge nach mit einander verschmolzenen, ursprünglich aber wahrscheinlich selbständig gewesenen Nervenmarksträngen erkennen lässt, und wenn gleich auf der Entwickelungsstufe, wo das Nervenrohr noch eine epiblastische Medullarplatte darstellt, bei den meisten Wirbeltieren keine solche doppelte Anlage derselben zu beobachten ist, so zeigt sich dies doch unverkennbar bei den Amphibien, deren ganzes Zentralnerven- system in diesem Stadium merkwürdig mit dem der niedersten Nemertinen (z. B. Carinella) übereinstimmt. 62 Wissenschaftliche Rundschau. hätten. Dem entspricht wiederum der bekannte Unterschied im histo- logischen Aufbau zwischen dem Vorderhirn einerseits und dem ganzen übrigen Nervensystem anderseits, welcher beim Wirbeltier auf früher Stufe eine viel schärfere Grenze ergibt als der erst später durch Dif- ferenzierung des Kopfes sich ausprägende Gegensatz zwischen Gehirn und Rückenmark. Und ebenso wird unter dieser Voraussetzung leicht ver- ständlich, warum die Hypophysiseinstülpung gerade an der Grenze zwischen Vorder- und Mittelhirn mit dem Trichter und dem Vorderende der Chorda zusammentrifft; denn genau an der entsprechenden Stelle dringt die Rüssel- einstülpung der Nemertinen zwischen den oberen und den unteren Lappen des Gehirns in der Medianebene nach hinten vor und von derselben Stelle an erhält sie ihre besondere Hülle, die Rüsselscheide, die wie gesagt mit der Chorda zu vergleichen ist. Diese Scheide zeigt ebenso wie der Rüssel selbst verschiedene Grade der Ausbildung. Stets ist sie ein rings geschlossenes Rohr, dessen Wandung von einer bald mehr bald weniger mächtigen Muskelschicht und einem den Innenraum auskleidenden Epithel gebildet wird. Es ver- läuft über dem Darme, dicht unter dem Hautmuskelschlauch, meist ziemlich fest mit demselben verbunden, nach hinten und zwar gewöhnlich bis zum After; manchmal aber, z. B. bei der schon erwähnten Carinella, ist die ‘Scheide samt dem Rüssel nur in der vordern Körperhälfte ausgebildet, und bei dem sehr langen Cerebratulus scheint sich der Hohlraum ihres hintersten Abschnittes allmählich mit einem grosszelligen Gewebe zu erfüllen, das bald drüsig aussieht, bald mehr dem Chordagewebe gleicht. Leider sind die Angaben über die Entwickelung der Rüsselscheide noch sehr dürftig und widersprechen einander gerade im wichtigsten Punkte, hinsichtlich des Keimblattes, aus welchem dieselbe hervorgeht. Als höchst wahrscheinlich darf jedoch wohl angenommen werden, dass sie hypo- blastischen Ursprungs ist, indem sich von der Dorsalwand des Darm- rohres entweder eine hohle rinnenartige Ausstülpung oder ein solider Zellstrang abschnürt, welcher letztere erst nachträglich einen Hohlraum erhält, und dass dieses Hypoblastrohr mit einer Hülle von hauptsächlich zu Muskeln werdenden Mesoblastzellen umkleidet wird. In dieses Gebilde scheint sich dann der epiblastische Rüssel von vorne her einzustülpen. Hiernach wäre die Rüsselscheide geradezu als ein Urdarmdivertikel auf- zufassen, das, obschon unpaarig und median gelegen, doch im wesentlichen gleiche morphologische Bedeutung hat wie die paarigen Divertikel der Entero- cölier, die später zur Anlage des Mesoderms werden und die Leibeshöhle umschliessen. Die deutliche epitheliale Auskleidung der Rüsselkammer spricht an sich schon entschieden für diese Abkunft vom Urdarmepithel; auch ist in bezug hierauf nicht zu übersehen, dass ihr Hohlraum von einer Flüssigkeit erfüllt wird, in welcher bestimmt geformte und in einem Falle nachweislich Hämoglobin enthaltende Zellen flottieren, ohne dass etwa ein Zusammenhang mit dem eigentlichen Blutgefässsystem bestünde. Halten wir nun diesem hohlen, mit kräftigen muskulösen Wand- ungen versehenen, zur Aufnahme eines vorschnellbaren Rüssels bestimmten Organ die Chorda der Chordaten entgegen: ein solides, stabförmiges Stützgebilde, dessen Gewebe gewöhnlich zu den Bindesubstanzen gerechnet Wissenschaftliche Rundschau. 63 wird, mit einer bindegewebigen Hülle, auf deren Aussenseite erst Muskel- elemente des Mesoderms sich ansetzen. Allein das alles widerspricht keineswegs der Möglichkeit einer Ableitung von gemeinsamer Uranlage. Die Chorda zeigt 1) dieselbe Lagebeziehung zu den wichtigsten übrigen Organen; 2) stammt sie gleichfalls, bei den niederen Wirbeltieren wenig- stens, vom Hypoblast ab — ihr Ursprung vom Mesoblast bei den höheren Formen ist bereits allgemein als sekundäres Verhalten anerkannt — ; und 3) ist auch die Art ihrer Entstehung, wie zahlreiche neuere Angaben beweisen, wesentlich dieselbe, indem sie zuerst als Längsrinne an der Dorsalwand des Urdarmes auftritt, welche sich dann vielfach als Rohr mit deutlichem Lumen abschnürt, um erst nachher zum soliden Strang zu werden. Wie ein solcher unmittelbar aus der Rüsselscheide des Nemertinen hervorgehen kann, zeigt uns ja Cerebratulus (s. oben) deutlich genug. Ebenso erklären sich der Gewebscharakter der Chorda und der Mangel einer Muskelhülle hinlänglich aus der ganz verschiedenen Funktion derselben. Wenn also an der Vergleichbarkeit dieser beiden Bildungen kaum mehr zu zweifeln ist, so bleibt doch die wichtige Frage unbeantwortet: was bedingte die erste Anlage der Rüsselscheide? Der Rüssel konnte sich ja ebensogut wie so manches andere vorstülpbare Organ einfach in dem Raum zwischen Haut und Darm entwickeln, ohne besondere vom Hypoblast stammende Wandungen. Wir kommen damit auf die fernere vom Verfasser aufgeworfene Frage zurück, inwieweit Nemertinen und Chordaten auch hinsichtlich ihrer übrigen Organisation übereinstimmten, und insbesondere ob auch jene wie diese ein echtes, durch Abschnürung vom Archenteron entstandenes - Enterocöl besässen. Er verneint diese Frage auf Grund der mehrfach gemachten Beobachtung, dass der zwischen den inneren Organen der Nemertinen übrig bleibende Raum von einer zusammenhängenden Masse von Bindegewebe und Muskulatur ‚eingenommen werde; etwa vorhandene Lücken in derselben seien jedenfalls nur als Schizocöl aufzufassen. Dagegen betrachtet er die taschen- förmigen, seitlichen Aussackungen des Darmes, welche den Nemertinen allgemein zukommen und nach HusrecHt sogar teilweise durch Meso- dermscheidewände abgeteilt werden, als erste Anfänge von Cölomsäcken und vergleicht sie mit den auffallend ähnlichen Bildungen am Urdarm der Amphioxus-Larve, die sich später zu echten Mesoblastsomiten ent- wickeln. Bei den übrigen Wirbeltieren besteht die Anlage des Cöloms und des gesamten Mesoblasts bekanntlich nur aus zwei noch dazu meist obliterierten Aussackungen des Archenterons, deren dorsale Hälften erst nachher in einzelne »Urwirbel« oder Somiten mit je einem rings ab- geschlossenen (später ganz verschwindenden) Hohlraum zerfallen; das ist aber offenbar eine sekundäre Einrichtung, während Amphioxus das ur- sprünglichere Verhalten bewahrt hat, und es scheinen also die seitlichen Darmtaschen der Nemertinen thatsächlich der Leibeshöhle und den Meso- blastsomiten der Wirbeltiere in nuce zu entsprechen. Gleichwohl möchten wir den Nemertinen ein Cölom nicht ganz absprechen. Die Rüsselscheide — und damit kommen wir auf die oben gestellte Frage zurück — muss eben ein solches cölomartiges Gebilde, wenn auch unpaarig und median, 64 Wissenschaftliche Rundschau. schon gewesen sein, bevor der Rüssel seine grosse Ausdehnung nach hinten erlangte und diesen dorsalen Cölomsack in sich selbst einstülpte. Die Nemertinen wären deswegen noch nicht zu den eigentlichen Entero- cöliern zu rechnen; sie verharren grösstenteils noch auf der indifferenten Grenzregion zwischen diesen und den Schizocöliern, und ihre Vorfahren müssen noch viel deutlicher die charakteristischen Züge der Cölenteraten- abstammung gezeigt haben. Auch diese Auffassung hat freilich ihre Be- weise von künftigen Untersuchungen zu erwarten; namentlich wäre es von Interesse, eine Form zu finden, bei welcher die hypothetische dorsale Abschnürung vom Darmrohr noch dauernd ihren Zusammenhang mit dem letztern bewahrt hätte oder wenigstens auch ohne einziehbaren Rüssel schon in voller Ausbildung vorhanden wäre. Es erscheint nicht geraten, hier auf die weiteren vergleichenden Betrachtungen einzugehen, welche HurrzcHr über die merkwürdigen Aus- stülpungen am vordersten Ende des Oesophagus der Nemertinenlarve anstellt, da es hier noch gar zu sehr an umfassenden und genauen Be- obachtungen mangelt. Wir beschränken uns auf folgende Bemerkungen. Dieses eine Paar von Hypoblastsäcken schnürt sich bald vom Darme ab, dafür treten sie mit an den Seiten des Kopfes entstandenen Epiblast- einsenkungen in Zusammenhang und die so gebildeten »Kopfspalten« dienen dann (wie Verf. in einer früheren Arbeit zeigte) bei den Schizo- nemertinen zu einer Art Kopf- oder Gehirnatmung, bei den Hoplonemer- tinen wohl hauptsächlich als Riechorgane. Ganz ähnliche paarige Aus- wüchse des Vorderdarmes finden sich nun auch bei der Larve von Ba- lanoglossus, wo sie das erste Paar der Kiemenspalten bilden, und bei Ampkioxus, wo sie jedoch in Form und Ausbildung wesentlich von den übrigen Darmdivertikeln verschieden sind: die linkseitige Tasche soll durch eine bewimperte Öffnung nach aussen münden (Kowauevsky hält sie daher für ein besonderes Sinnesorgan der Larve), die rechtseitige eine epitheliale Auskleidung des präoralen Körperabschnitts liefern. Sind nun alle diese Gebilde einander homolog? Gehen sie gleich den Cölom- säcken aus Divertikeln des Urdarms hervor? Sollten weitere Forsch- ungen diese Fragen bejahen lassen, so wäre damit eine fernere bedeut- same Parallele zwischen Nemertinen und Chordaten festgestellt. Dass auch im Bau des Blutgefäss- und des Exkretionssystems mancherlei Übereinstimmungen bestehen, sei nur eben noch angedeutet. Auf jeden Fall wird man einräumen müssen, dass die Vergleichung der Hypophysis und Chorda mit dem Rüssel und. der Rüsselscheide der Nemertinen bei näherem Zusehen und vor allem bei Berücksichtigung der abändernden Einflüsse, denen die beiderlei Gebilde ausgesetzt waren, viel von ihrem paradoxen Aussehen verliert und wohl beanspruchen darf, als höchst wertvoller Fingerzeig für weitere Forschungen beachtet zu werden. 2. Die Kegelrobbe (Halichoerus grypus Nilss.) ist kürzlich von Prof. Ne#rine in Berlin in Hinsicht auf Schädel und Gebiss genauer untersucht worden. Dabei stellte sich heraus, dass die herkömm- lichen Angaben über Zahl und Form der Backzähne mehrfacher Berich- Wissenschaftliche Rundschau. 65 tigung bedürfen. Im Öberkiefer findet sich häufig (in mehr als 25 Prozent der beobachteten Fälle) hinter den gewöhnlichen 5 Backzähnen noch ein sechster, der allerdings stets kleiner ist und manchmal im Zahnfleisch ‚stecken bleibt; und sämtliche Molaren beider Kiefer sind zumeist nicht einfach kegelförmig oder einspitzig, sondern zeigen eine grosse Neigung, vorn und hinten kleine Nebenkronen oder wenigstens Nebenzacken zu entwickeln. Auch hat nicht bloss der 5., sondern häufig auch der 4., selten der 3. zwei getrennte Wurzeln oder wenigstens, was selbst beim 2. und 6. vorkommt, eine zarte Längsfurche an der einfachen Wurzel ‚als Andeutung einer ursprünglichen Zweiteilung. Durch alle diese Merk- male nähern sich die Kegelrobben den Ohrenrobben (Otfariidae), von denen man sie bisher weit entfernte, um sie einfach der Familie der Phoeidae einzureihen. Sie scheinen also vielmehr zwischen beiden Gruppen zu vermitteln, den Übergang von der einen zur andern herzustellen, weshalb es schwer hält, ihnen eine bestimmte Stellung im System an- zuweisen, da sie doch auch nicht den Rang einer besondern Familie beanspruchen können. — Nach NenarinG ergibt sich für die Pinni- pedier überhaupt, wenn man hauptsächlich das Gebiss zu Grunde legt, folgende systematische Reihenfolge: I. Fam. Otariidae. II. Fam. Phocidae. 1. Gattg. Otaria GL... . .i$c4m& 1.Gattg. Halichoerus NILssox i}c1tm>% 2, n ‚BhocareiosPRTERS. „ „ & 2. „ Dhoca LmnE . . „nm 2 3 n Callorhinus Gray. „ „ee „ Stenorhynchus Dale 3 4. „ ArctocephalusF.Cuv.,„ „ & + » (Cystophora Nıusson 24 2 9. „ ZEumetopias GILL.. „ „ °2 III. Fam. Trichechidae. 2 5(6) . P 6. „ Zalophus GL... „ 23 1 Gattg. Trichechus . 4.1.3 oder #22. Diese Anordnung »hat den Vorzug, dass die Ohrenrobben, welche den carnivoren Landsäugetieren offenbar am nächsten stehen, sich un- mittelbar an diese anschliessen, während die Elefantenrobben und die Walrosse zu den Probosciden hinüberführen, welche ich zunächst auf ‚die Pinnipedia folgen lassen würde.< (? Red.) (Sitz.-Ber. Ges. naturf. Freunde, Berlin 1883, Nr. 8.) Botanik. Die Wegsamkeit der Zellhäute hat in jüngster Zeit eine grosse Anzahl von Forschern beschäftigt. Bis dahin hatte man der pflanzlichen Zellhaut unter allen Umständen eine vollkommene Kontinuität zugeschrieben, welche höchstens nachträglich durch Auflösung eng begrenzter Bezirke aufgehoben werden könne. Selbst angesichts der einfachen und gehöften Tüpfel hielt man an dieser Auf- fassung fest: obgleich die von beiden Seiten einander entgegenlaufenden Tüpfelkanäle stets genau auf entsprechende Stellen der dünnen Zwischen- lamelle treffen und das ganze Bild den Eindruck macht, als ob diese Kosmos 1384, I. Bd. (VII. Jahrgang, Bd. XIV). 6) 66 Wissenschaftliche Rundschau. Kanäle jedenfalls einem lebhaften Stoffaustausch zwischen den Zellen zu dienen hätten, so blieb man doch dabei, dass alle festen Stoffe, an der Zwischenmembran angelangt, erst in Lösung übergeführt und so auf diosmotischem Wege durch jene hindurch befördert werden müssten — eine Ansicht, für die sich auch in der That zahlreiche Analogien bei- bringen lassen. Allein mit der Vervollkommnung der optischen und chemischen Untersuchungsmethoden mehrten sich die Stimmen, welche da und dort eine von anfang an bestehende offene Kommunikation durch allerdings äusserst feine Porenkanäle zwischen benachbarten Zellen be- zeugten. Wir haben in der Besprechung des Buches von Prof. StrAs- BURGER »Über den Bau und das Waehstum der Zellhäute« (Kosmos XIII, 1883, S. 228) mit besonderem Nachdruck auf seine Mitteilungen über den eben erwähnten Punkt hingewiesen, die auf eigenen Beobachtungen und Schlüssen, sowie auf solchen von Ü. FROMMANN, CORNU, VAN TIEGHEM, WORONIN, Tan6L u. a. beruhen, und dabei die allgemeinere Bedeutung dieser Thatsachen für das Verständnis des gesamten pflanzlichen und tierischen Organismus hervorgehoben. Seit dem Erscheinen des Stras- burgerschen Werkes hat GArDINER im Quart. Journ. of Micr. Science, Okt. 1882, einen ähnlichen Fall von unzweifelhafter Verbindung der Zellen durch feine Protoplasmafäden im Parenchym des Blattkissens von Mi- mosa pudica beschrieben und gleiches für einige andere Gebilde höchst wahrscheinlich gemacht. Eine ausführliche Schilderung zahlreicher Befunde dieser Art gibt endlich F. 0. Bower in derselben Zeitschrift, Jan. 1883. Er wendet zur Untersuchung hauptsächlich das Verfahren der »Plasmolyse« an, welches einfach darin besteht, dass vermittelst eines stärker oder schwächer wasserentziehenden Reagens, z. B. einer 1 bis 10°/oigen Kochsalzlösung, der protoplasmatische Wandbeleg der lebenden Zellen, der »Primordial- schlauch«< der früheren Autoren, zur Zusammenziehung gebracht wird, wobei dann solche von Zelle zu Zelle gehende Verbindungsstränge, falls . _ sie wirklich vorhanden sind, als radiär von dem kontrahierten Plasma- ballen ausstrahlende Fäden sichtbar werden müssen. Durch dasselbe Verfahren hatten auch schon PrınasHeim (1854), NÄseuı und HornmEISTER Bilder bekommen, welche ihnen deutlich zeigten, dass der Primordial- schlauch keineswegs überall gleich fest an der Zellwand anliegt oder anhaftet, sondern, auch nachdem er sich von dieser zurückgezogen hat, noch durch gröbere und feinere Fäden mit ihr verbunden bleibt; die bestimmte Angabe von H. pe Vrıes jedoch (1877), dass solche Ver- bindungen nicht bestünden, lenkte die Aufmerksamkeit wieder von diesen Wahrnehmungen ab. Bower untersuchte zunächst die Prothallien von Nephrodium villosum und Aspidium Filix-mas. Bei Anwendung einer 2 bis 5"/oigen Kochsalz- lösung vollzieht sich die Sonderung des Plasmas von der Zellwand sehr langsam und regelmässig, so dass alle Phasen des Vorgangs leicht zu verfolgen sind. Derselbe beginnt an den Ecken der Zellen und führt erst nach längerer Zeit zur Bildung einer fast genau kugeligen Plasma- masse. Häufig ist in den ersten Stadien, selbst bei starker Vergrösserung, noch keine Spur einer Verbindung zwischen dieser und der Zellwand zu sehen; Wissenschaftliche Rundschau. 67 in der Regel aber zeigt sich in dem freigewordenen Raum eine äusserst feine radiäre Streifung, in der einzelne Linien kaum zu erkennen sind. Nach einiger Zeit (etwa nach Verlauf einer Viertelstunde) werden in jedem Falle bestimmte Fädchen sichtbar, die ganz gerade und straff gespannt erscheinen; nur selten sind sie mit feinen knötchenartigen Verdickungen versehen. Später jedoch, während sie.noch etwas dicker und deutlicher sichtbar werden, kann man sie rasche und mehr oder weniger unregel- mässige schwingende Bewegungen ausführen sehen, ihre Länge muss also gleichzeitig zugenommen haben, so dass sie jetzt nicht mehr straff aus- gespannt sind. Was die Verteilung dieser Fädchen betrifft, so gehen sie allseitig in nahezu gleicher Menge vom Plasmakörper ab und treten daher nicht nur an die zwischen zwei Zellen befindlichen, sondern auch an die frei nach vorn, oben oder unten sehenden Zellwände heran. Poren konnten in allen diesen Wänden, da sie sehr dünn sind, nicht wahrgenommen werden, dagegen liess sich leicht konstatieren, dass die in zwei Nachbar- zellen nach der Grenzwand zwischen ihnen verlaufenden Fäden häufig an genau einander vegenüberliegenden Stellen an diese herantreten, wenn auch für die Mehrzahl ein solches sich Begegnen nicht nachzuweisen war. — Am deutlichsten zeigten sich alle diese Erscheinungen in den Zellen von mittlerem Alter an der eigentlichen Prothalliummasse, weniger klar, aber immerhin ebenso unzweifelhaft in den jüngsten Zellen der Scheitelregion wie in den ältesten Zellen der Wurzelhaare. Dass die beschriebenen Fäden aus lebendem Protoplasma bestehen, lässt sich kaum bezweifeln. Den Beweis dafür liefern weniger die Re- aktionen, durch welche gewöhnliches Protoplasma sich charakterisiert, indem dieselben hier gar zu leicht ein Absterben und Zerreissen der zarten Gebilde verursachen, als das weitere Verhalten der letzteren bei ungestörtem Fortgang der Kontraktion des Protoplasmas. Die Fäden nehmen, wie bereits erwähnt, mit der Zeit etwas an Dicke zu. Dies beruht zum Teil auf der Zufuhr neuer Substanz vom zentralen Plasma- körper aus, was sich deutlich zeigt, wenn man z. B. die oben erwähnten knötchenartigen Verdickungen längere Zeit genau beobachtet: dieselben rücken stets, allerdings sehr langsam, in zentrifugaler Richtung weiter und befördern so neues Material nach dem peripherischen Ende der Fäden. Auf den gleichen Vorgang deuten auch das allmähliche Schlaffer- werden der Fäden und ihr Hin- und Herschwingen hin. Gleichzeitig aber scheint auch ein seitliches Zusammenfliessen der Fäden stattzufinden, wenn man wenigstens das in den späteren Stadien nicht seltene Vor- kommen von gegen die Zellwand hin ein- bis mehrfach sich verzweigen- den Fäden so auffassen darf. Vielleicht ist diese Erscheinung noch ein- facher so zu deuten, dass zwei oder mehrere, ursprünglich getrennte, aber nahe beisammen am Plasmakörper entspringende Fäden sich ver- kürzt bez. aus dem letzteren neue Zufuhr erhalten haben, wobei sich aus demselben ein gemeinsamer Strang erhob, an welchem sie nun als Zweige erscheinen. Beim allmählichen Absterben des Plasmas, das wir hier nur kurz berühren, beginnen die Fäden klebrig und schlaff zu werden und zu 68 Wissenschaftliche Rundschau. zerreissen; dabei führen ihre freigewordenen Enden oft unregelmässige Bewegungen aus, während sie sich nach dem Plasmakörper wie nach der Zellwand hin langsam zusammenziehen. Nach derselben Methode wurden sodann noch Teile verschiedener anderer Pflanzen untersucht, so junge Blütenstiele von (ephalaria leucantha und rigida, das Fleisch der Runkelrübe und eines reifen Apfels, Blätter von Vallisneria spiralis, besonders auch die Diaphragmen der Intercellularräume in den Blattstielen von Wasserpflanzen, wie Limno- charis sp., Aponogeton distachyon, Alisma Plantago, Pontederia (Eichhornia) coerulea u. s. w.; stets wiederholte sich mit geringen Abänderungen das oben geschilderte Bild. Ausserdem prüfte BowEr auch seinerseits das Verhalten getüpfelter Zellen, an denen GArpInER die Kontinuität des Protoplasmas durch die Tüpfel hindurch nachgewiesen hatte. Auch hier jedoch fand Verfasser eine allseitig (auch nach den freien, der Tüpfel entbehrenden Zellwänden hin) gleich starke Entwickelung der feinen Proto- plasmafäden, und beim allmählichen Zusammenfliessen derselben zeigten sich die Wandstellen zwischen den Tüpfeln ebenso reichlich mit solchen besetzt wie die Tüpfel selbst. Aus diesen Beobachtungen, welche sich auf Vertreter der verschie- densten Pflanzengruppen erstrecken, geht also wohl mit Sicherheit hervor, dass der Zusammenhang zwischen Protoplasma und Zellwand in der lebenden Zelle ein viel innigerer und gleichmässigerer ist, als man bisher gewöhnlich annahm. Die Cellulosewand erscheint im Lichte derselben nicht mehr bloss als totes Ausscheidungsprodukt des aktiven Inhalts, sondern als integrierender, überall in lebhafter Wechselwirkung mit dem- selben stehender Teil des Ganzen. Welch’ grosse Bedeutung diesen Ver- suchen, das Verhältnis zwischen Zellwand und Protoplasma aufzuklären, innewohnt, ist namentlich im Hinblick auf StrAsßurGers Darstellung vom Aufbau der Zellhaut aus aufgelagerten und verschmolzenen >Mikrosomen« klar genug. Der eigentliche Kern der Frage bleibt freilich, wie Verfasser selbst hervorhebt, noch dunkel und kann auch nicht durch plasmolytische Beobachtungen aufgehellt werden, das Problem nämlich, ob die Mikro- somen zu einer kontinuierlichen, porenlosen Masse verschmelzen, indem das sie verkittende Protoplasma dabei selbst in festen Zustand übergeht, oder ob letzteres sich als lebendige Zwischensubstanz forterhält, welche denn also ein äusserst feines Maschenwerk zartester Fädchen durch die ganze Zellwand hindurch darstellen würde und wohl im stande sein dürfte, eine Kommunikation von einer Zelle zur andern zu vermitteln, ja sogar in der Zellwand selbst Um- und Weiterbildungen hervorzurufen. Von diesem letzteren Standpunkt aus würde, wie leicht einzusehen, die Intussus- ceptionslehre in allerdings bedeutend eingeschränktem Sinne wieder in ihr Recht eingesetzt werden können, und es lässt sich nicht in Abrede stellen, dass die oben berichteten Angaben BoweErs wesentlich zu gunsten einer solchen Auffassung sprechen. Dieser Punkt gibt uns den Anlass, hier noch kurz einer Reihe von Beobachtungen über den Bau der pflanzlichen Zellhaut zu gedenken, welche Dr. L. EusperG aus New-York in demselben Hefte des Quart. Journ. of Micr. Science veröffentlicht hat. Dieselben haben uns offen Wissenschaftliche Rundschan. 69 gestanden keinen sehr vertrauenswürdigen Eindruck gemacht, besonders weil ihre Resultate sich vorzugsweise auf die Anwendung desjenigen Reagens stützen, das am allerhäufigsten trügerische mikroskopische Bilder liefert und in der Histologie, namentlich früher, viel Unheil angerichtet hat, des Silbernitrats nämlich. Er bildet u. a. einen Schnitt durch den Blattstiel von Ficus elastica ab, der allerdings in der Dicke der Zellwände, deren Substanz tiefbraun gefärbt ist, ein wunderschönes unregelmässiges Netz von weissen Linien zeigt, Kanäle andeutend, welche gegen das Lumen der Zelle hin offen zu sein scheinen und mit einer ähnlich beschaffenen intercellularen Masse (der »Mittellamelle« der Autoren ent- sprechend) zusammenhängt. Diese sowohl als der Inhalt des Maschen- werkes in der Zellwand wird von ErsBerG als »Bioplasson«, wie er das Protoplasma nennt, in Anspruch genommen und mit ähnlichen gleichfalls von ihm entdeckten Erscheinungen in der Kittsubstanz tierischer Epithelien oder den schon länger bekannten feinen verzweigten Kanälen im hyalinen Knorpel verglichen. Wenn wir auch wie gesagt einige Zweifel an der Zuverlässigkeit dieser Darstellung hegen zu müssen glauben, so wollen wir doch nicht verfehlen, unsere -Leser auf die merkwürdige Uberein- stimmung der hier geschilderten Wahrnehmungen mit dem, was die Er- gebnisse Bowzrs und im Grunde auch diejenigen STRASBURGERS als not- wendige Ergänzung fordern, aufmerksam zu machen. Chemie. Über den Ursprung des auf der Erde vorhandenen gebundenen Stickstoffs. Bekanntlich vermag der Stickstoff infolge seiner chemischen In- differenz nur mit einer geringen Anzahl anderer Elemente direkt eine chemische Verbindung einzugehen, und es zeigen die meisten der auf in- direktem Wege erhaltenen stickstoffhaltigen Körper, sowohl anorganischer als organischer Natur, nicht nur im allgemeinen eine geringe Stabilität, sondern sie haben auch eine ausgesprochene Neigung, gerade unter Ab- scheidung elementaren Stickstoffes zu zerfallen. Aus den stickstoffhaltigen Explosivstoffen”, aus den Diazoverbindungen und den meisten organischen Nitroverbindungen wird der Stickstoff unter explosionsartiger Zersetzung der Substanz mitunter schon durch Stoss oder Druck, auf jeden Fall beim Erhitzen frei gemacht. Salpetrigsaures Ammon zerfällt bereits beim Erhitzen in wässeriger Lösung in freien Stickstoff und Wasser: NH4ıNO2 —= Na — 2H20. Bei der Einwirkung von salpetriger Säure auf Monamine der Fett- reihe, wobei wir die Bildung von organisch substituierten Ammonnitriten zu erwarten hätten, z. B. entsprechend der Gleichung: NH> C2H5s — HN O2 = NH3 . C2H5 . NO> * Nach Versuchen bilden sich beim Abbrennen von 100 ko Pulver ca. 8,9 ko Stickstoffgas. 70 Wissenschaftliche Rundschau. erhalten wir statt deren neben Alkoholbildung lebhafte Stickstoffent- wickelung und werden dabei belehrt, dass jene vorausgesehenen Körper bei gewöhnlichen Verhältnissen bereits nicht existenzfähig sind, sondern im Sinne folgender Gleichung zerfallen: NH; .. C2H5 . NO2e = (2H5 OH — Ne + H20. Ähnliche Prozesse, wenn auch nicht mit derselben Ausgiebigkeit an elementarem Stickstoff wie in den vorgenannten Fällen, spielen sich auch von selbst in der Natur ab, und wir erhalten bei der Fäulnis! stickstoffhaltiger Körper immer einen geringen Teil, bei der Verbrennung derselben aber den bei weitem grössten Teil des gebundenen Stickstoffs in den freien Zustand übergeführt. Nachdem Dirrzern? das Auftreten freier salpetriger Säure beim Fäulnisprozesse nachgewiesen, dürfte übrigens für die gleichzeitige Ent- bindung freien Stickstoffs die Ursache zunächst wohl wiederum in der Unbeständigkeit des salpetrigsauren Ammons und in der Nichtexistenz- fähigkeit organisch substituierter Ammoniumnitrite zu suchen sein. Da ferner alle unsere Brennmaterialien immerhin nicht unbeträcht- liche Mengen stickstoffhaltiger Substanzen enthalten, haben wir in den Verbrennungsprozessen jedenfalls die bedeutendste Quelle des Verlustes von auf der Erde befindlichem gebundenem Stickstoff; und wenn .es bei allen diesen Zersetzungen durch Fäulnis oder Verbrennung zunächst auch nur geringe Mengen Stickstoff sind, die sich in jedem einzelnen Falle im freien Zustande abscheiden, so werden doch schliesslich ganz bedeutende Quantitäten desselben frei gemacht, indem sich jene Prozesse fort und fort und überall auf der Erde vollziehen. Behufs Ausgleiches dieser Verluste an 'gebundenem Stickstoff wird nun aber auch durch verschiedene in der Natur sich abspielende Prozesse freier Stickstoff aus der Luft in den gebundenen Zustand übergeführt. Durch elektrische Entladungen wird aus Stickstoff, Sauerstoff und Wasser- dampf der Atmosphäre Salpetersäure, resp. salpetersaures Ammon ° gebildet. Korer* fand, dass salpetrige Säure entsteht, wenn man eine Wasser- stofflamme in dem offenen Halse eines mit Sauerstoff gefüllten Kolbens brennen lässt. Beim Verbrennen von Wasserstoff in einer Atmosphäre von Sauerstoff und Stickstoff erhielten Tr. Saussure, BERZELIUS und Bunsen? salpetersaures Ammon. Bxcr Joxes® beobachtete das Auftreten von Salpetersäure und Börrcner das von salpetriger Säure beim Ver- brennen von Weingeist, Kohle, Wachs, Leuchtgas und anderen organischen ı Jules Reiset, Compt. rend. 42,53. — Lawes u. Gilbert, Philosoph. Transact. 1861, Part II, 497. — J. König, Chem. u. techn. Untersuchungen der landwirtsch. Versuchsstation Münster i. W. in den Jahren 1871-1877, S. 215. : Dietzell, Ber. der deutschen chem. Gesellsch. zu Berlin 15, 551. ® Die stellenweise starke Salpeterbildung in den Tropen erklärt sich dann aus der reichlicheren Bildung der Salpetersäure infolge der daselbst stärkeren und häufigeren elektrischen Entladungen. * Ann. Chem. Pharm, 119, 176. ° Gmelin-Krauts Handb. der Chemie. Bd. I, 2. Abt. S. 470. ° Philos. Transact. 1851. 3. 299. ‘ Journ. f. prakt. Chem. 85, 396. Wissenschaftliche Rundschau. al Stoffen an der Luft. A. W. Hormanx! erhielt beim Verbrennen des Wasserstoffs auf Kosten des Sauerstoffs der Luft in 30 g gebildeten Wassers soviel Salpetersäure, dass sich nach Neutralisation des Wassers mit Ammo- niak und Eindampfen deutliche Krystalle von salpetersaurem Ammon ab- schieden. Auch sollen sich. nach Versuchen verschiedener Chemiker bei der Oxydation von Blei und Eisen an feuchter Luft stets geringe Mengen von Ammoniak bilden, entsprechend der Gleichung?: Fee + 3H20 —+ Na — Feg03 —+ 2NH:>. Alle diese synthetischen Prozesse, von denen der zuerst aufgeführte der wichtigste und quantitativ ergiebigste ist, vollziehen sich unaufhörlich in der Atmosphäre. Die gebildete Salpetersäure sowie das Ammoniak werden von dem Wasser aufgenommen und dem Boden zugeführt, um den Pflanzen zunächst als Nährstoffe zu dienen und von denselben zu komplizierteren organischen Verbindungen verarbeitet zu werden. Welcher von den beiden Prozessen — Überführung des freien Stick- stoffs in den gebundenen Zustand und Zurückführung des gebundenen ‘Stickstoffs in den elementaren Zustand — überwiegt, dürfte sich wohl, solange noch keine einzige direkte Beobachtung aus tropischen Gegenden vorliegt, welche uns die Menge der dort durch die Regenwässer hinzu- geführten Salpetersäure resp. Ammonnitrat” angibt, nicht so ohne weiteres entscheiden lassen. A. Münrz und E. Ausaın*, welche diese Frage neuer- dings wieder diskutierten, sind allerdings der Ansicht, dass, wenn nirgends auf der Erdoberfläche die Mengen des durch die Elektrizität in Verbindung tretenden Stickstoffs beträchtlich grösser seien als etwa in Mitteleuropa, durch dieselben der Verlust an gebundenem Stickstoff bei der Verbrennung, Fäulnis u. s. w. nicht wohl gedeckt werden könne. Sie nehmen deshalb auch nicht an, dass die Hauptmasse der vorhandenen Stickstoffverbindungen durch Vermittelung der Elektrizität aus freiem Stickstoff entstanden sei, sondern meinen, dass der bei weitem grösste Teil des gebundenen Stick- stoffs entsprechend den oben erwähnten Beobachtungen von Kouse, SAUSSURE, BERZELIUS, Bunsen, A. W. Hormann und anderen bei der Verbrennung der Elemente in einer früheren Erdbildungsperiode zu Salpeter- säure oxydiert worden sei. Sie selbst beobachteten bei der Verbrennung von 1 g Wasserstoff die Bildung von 0,001 g Salpetersäure und erhielten bei der Verbrennung von 1 g Magnesium sogar 0,1 g Salpetersäure. Vor dem Auftreten der Vegetation auf der Erdoberfläche müsste es dem- nach einen beträchtlichen Vorrat an salpetersauren Verbindungen gegeben ! Ber. der deutschen chem. Gesellsch. 1870, 363. ® Über die Einwirkung des Lichtes auf Wasser. Von Arm. Müller, ‚Zürich 1874. ® Nach vielen Bestimmungen des Gehaltes von Regenwässern an Salpeter- säure und Ammoniak kann man annehmen, dass in unseren Breitegraden durch Regen und Schnee einem Hektar pro Jahr etwa 1,5 ko Stickstoff in Form von Salpetersäure und 5% n an Pe „ Ammoniak zugeführt werden (J. König, Chem.-techn. Unters. d. landw. Versuchsst. Münster in den Jahren 1871—1877, S. 210). * Compt. rend. 97,240; im Auszuge Ber. d. deutschen chem. Gesellsch. zu Berlin 16, 2489. 72 Wissenschaftliehe Rundschau. haben, welcher aber allmählich aufgezehrt werden dürfte, wenn die Elek- trizität nicht hinreichend Ersatz zu schaffen im stande ist. Chemnitz. Dr. A. GOLDBERG. Wissenschaftliche Reisen. Die Expedition des „Talisman“. Die überraschenden Resultate der Challengerexpedition wie die Ergebnisse der Tiefseeforschungen des Travailleur waren die Veranlass- ung, dass vom französischen Marine- und Unterrichtsministerium und von der Akademie der Wissenschaften der Schraubendampfer »Talisman« für eine dreimonatliche zoologische Expedition ausgerüstet wurde. Es galt: vor allem die faunistischen Verhältnisse längs der Westküste Afrikas bis zum Senegal zu erforschen. In zweiter Linie hatte die Expedition die Meeresfauna um die Kapverdischen und Kanarischen Inseln und um die Azoren zu untersuchen. Endlich sollten die immer noch. zweifelhaften Verhältnisse des Sargassomeeres genauester Prüfung unterzogen werden. Folgende faunistische Resultate ergab die Erforschung des Meeres westlich von Marokko und der Sahara: In einer Tiefe von 500 bis. 600 m leben zahlreiche Fische aus der Familie der Macrurida GÜüNxTH., Pleuronectida C. und Bercyda G., und zwar sind hauptsächlich die Genera Macrurus, Malacocephalus, Pleuronectes und Hoplostetus vertreten. In ihrer Gesellschaft leben Garneelen aus den Geschlechtern der Pandalen, Pe- naeen, Pasiphaeen. Dazu kommen einige kleine Krabben (Oxy- rhyncha, Portunus u. s. f.). Rosenrote Holothurien gesellen sich bei, ferner ‚chinoidea, darunter einige seltene Exemplare der Calveria, jenes früher nur im fossilen Zustand bekannten Tiefseetieres. Auch Schwämme, zum Teil von bedeutenden Dimensionen, bewohnen diese Tiefen. In grösseren Tiefen, gegen 1000— 1800 m, sind die Fische in reich- licherer Menge vorhanden. Ausser Macrurus und Malacocephalus sind vor allem die nachfolgenden Gattungen vertreten: Bathynectes, Corypho- noides, bathygadus, Argyropelecus, Chauliodus, Bathypterois, Stomias, Mala- costeus, Alepocephalus. Im allgemeinen sind diese Tiefseebewohner durch matte Farben ausgezeichnet. Ihr Fleisch ist gelatinös, ihre Haut von einer dicken Schleimschicht überzogen. Mehrere sind mit phosphores- zierenden Flecken versehen. PERRIER äussert sich über diese merkwürdigen Verhältnisse ausführlicher. Die natürliche Phosphoreszenz, schreibt er, hatten wir mehrmals zu beobachten Gelegenheit. Besonders majestätisch war das Schauspiel in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli. Doch auch die folgenden Tage zeigten sich an den Seiten des Schiffes und in seiner Furche grosse Feuer- kugeln. Das Schiff durchschnitt eine Medusenbank. Am 28. Juli nahm die Phosphoreszenz einen neuen Charakter an. Rings um das Schiff schienen Sterne im Meer ausgesät. Augenscheinlich haben wir es nicht Wissenschaftliche Rundschau. 13 mehr mit Noctiluciden oder Medusen zu thun. Oft schon habe ich gehört, . dass die Augen von Tieren aus grossen Tiefen leuchtend seien. Es schien mir, ich muss es gestehen, ganz paradox. Sehen wir doch bei den gewöhnlichen Tieren die minutiösesten Einrichtungen getroffen, deren Bestimmung ist, eine Erhellung des Auges zu verhindern. Die schwarze Pigmentschicht absorbiert das Licht, welches die Retina der Wirbeltiere durchdringt. Das Tapetum, welches man bei vielen Säugetieren trifft, reflektiert das Licht, welches auf die Retina fällt, gegen die Pupille, und beugt so der Diffusion desselben im Augapfel vor, verhindert so dessen Erhellung. Wie sollte also das Auge, das derart gegen eine innere Beleuchtung geschützt ist, selbst zur Lichtquelle werden? Wir erfuhren es an diesem Tage. Das Meer enthält eine unendliche Zahl Mysis-Larven. Die Sterne, welche wir wahrnahmen, sind nichts anderes als die Augen dieser Larven. Die mikroskopische Untersuchung zeigte, dass diese Augen den gewöhnlichen Bau hatten. Jedes von ihnen war aber in eine leuchtende Kalotte eingesenkt und nur diese phosphoreszierte. Das Sehen selbst wurde durch sie in keiner Weise beeinträchtigt, weil sie ganz ausserhalb des Auges war. Übrigens gibt es zahlreiche Fische und einige Krustaceen, wo die Phosphoreszenz auf Spezialorgane beschränkt ist. Bald sind es wie bei Astronesthes grosse Flecken von bleichgrüner Farbe, die hinter den Augen gelegen sind; bald wieder wie bei Malacocephalus, Scopelius, gewissen Chauliodus-Arten Organe, welche paarweise seitlich gelagerten Augen ähnlich sehen. Es ist dies übrigens eine einfache Lokalisation einer sehr verbreiteten Eigenschaft der Gewebe gewisser Seetiere, deren Bestimmung ist, die Finsternis, in der sie leben, zu erhellen“. Folgen wir wieder dem Berichte MıLn£-Enwarps. Die Krustaceen waren in diesen beträchtlichen Tiefen reichlich vertreten. Neben bekannten Formen wurde auch eine Reihe neuer Gattungen und Arten entdeckt, so gewaltige Garneelen mit rotem Blut und unverhältnismässig langen Antennen. Blinde Krebse von schön roter Farbe finden sich reichlich in diesen Tiefen, Tiere von sehr weiter Verbreitung. Die blinden Poly- chelen, welche in der lebenden Fauna die Stelle der jurassischen Eryonen einnehmen, verbergen sich im Schlamm. Nur ihre langen gekrümmten Scheren, mit welchen sie ihre Beute festhalten, ragen aus dem Schlamm hervor. Auch Krabben leben in dieser Tiefe. Auch aus dieser Ordnung wurde eine Reihe neuer Arten bekannt. Vor allem entdeckte man Litho- dinen, die bisher nur aus australischen und nördlichen Meeren bekannt waren. Zahlreiche zu der Familie der Galatheida Larr. gehörige Arten vervollständigen diese Tiefseefauna. Mehrere unter ihnen sind dadurch charakterisiert, dass ihre AugeninDornen umgewandeltsind. DieSchwämme sind sehr gemein und die Mehrzahl gehört zu den Kieselschwämmen. In reichem Masse wurden Rosella und Holtenia in mehreren Arten gefischt. Die schon in geringeren Tiefen vorkommende Seeigelgattung Calweria tritt reichlicher auf, die Holothurien kriechen zwischen Asterien, Ophiu- ren und Brisingiden auf-dem Boden umher. So reichlich füllten sich oft die Netze, dass ein Tag nicht hinreichte, das Material einzuordnen. * Vgl. hierzu Kosmos IX, 433: Dr. E. Krause, die „augenähnlichen“ Organe der Fische ete. 74 Wissenschaftliche Rundschau. In einer Tiefe von 2000—2800 m zwischen dem Kap Gir und Kap Nun fand man wieder den im vorigen Jahr vom Travailleur ent- deckten Fisch Burypharynx pelecanoides. Vor allem wurde der Fischfang durch eine reiche Ausbeute prächtiger Schwämme belohnt. Sie gehören in die Nähe der bekannten KEuplectella superba. Grosse violette Holo- thurien aus der Gattung Deuthodytes und eine Reihe durch ihre Dor- salanhänge charakterisierter Arten derselben Gattung fanden sich hier. Eine neue Calveria und Brisinga, Korallen von seltener Schönheit (Flabellum, Stephanotrochus), neue Arten der Gattungen Demoerinus und Bathyerinus, zahlreiche, fast durchweg neue Krustaceen der Familie Cala- theida vervollständigen die Fauna der wirbellosen Tiere. Die Fische fielen im allgemeinen durch ihre verschiedenartigen Formen auf und waren zum Teil wieder durch das Vorhandensein phosphoreszierender Scheiben ausgezeichnet. Zwischen Senegal und den Kapverdischen Inseln ergaben die Lotungen eine Tiefe von 3200—3655 m. Die meisten der bereits ge- nannten Gattungen und Arten fanden sich auch in diesen Tiefen wieder. Dazu kamen allerdings auch zahlreiche neue Gattungen und Arten (Kru- staceen, Mollusken, Zoophyten und Schwämme). Von erstaunlichem Reichtum ist die Tiefe des die Kapverdischen Inseln umspülenden Meeres. In einem einzigen Zug, schreibt Mıune- EpwaArps, fingen wir über tausend Fische, welche zum grössten Teil der Gattung Melanocephalus angehörten, mehr als 1000 Pandalen, 500 Garneelen einer neuen Art. Am 30. Juli richtete der »Talisman« seinen Lauf gegen das viel- genannte Sargassomeer. Wir folgen dem Berichte PErRRIERs. Zwanzig Tage hielten wir uns im Sargassomeer auf und wir müssen der Wahrheit gemäss erklären, dass wir nie, durchaus nie die geringste Unregelmässig- keit im Gang der Schraube unseres Schiffes wahrnehmen konnten. Zahl- reiche Orte passierten wir, wo auf den Karten »viel Sargassum« ver- zeichnet war. Wir sahen auch viel, aber immer nur isolierte sphärische Büschel ungefähr von der Grösse eines Elsternestes. Nicht dass sie einen zusammenhängenden Teppich gebildet hätten. Sie lagen meist etwa einen Meter weit auseinander. Nur selten waren diese Büschel so nahe an einander, dass sie einem Streifen von einigen Quadratmetern Oberfläche glichen. Bei der geringsten Bewegung des Wassers fuhr das Ganze in einzelne Büschel auseinander. Dass diese kleinen Bänke jedoch nur Ausnahmen sind, lässt sich aus dem Instinkt der Tiere schliessen, welche die Sargassumbündel bewohnen. Ein Fisch, Antennarius pictus, laicht auf diesen Büscheln. Er beginnt damit, die Büschel mit grosser Sorgfalt zu Bündeln zu vereinigen, eine Vorsichtsmassregel, die höchst überflüssig wäre, wenn das Tier gewöhnlich weit ausgedehnte genügend fest vereinigte Sargassumrasen zu seiner Verfügung hätte. Ein anderer Fisch verbarg sich unter den Sargassumbüscheln. Wie unser Fischer- boot sich näherte, floh er. Er ging aber nicht weit, zögerte auch keinen Moment, welche Richtung er wohl einschlagen sollte. Geschickt flüchtete er unter ein anderes Sargassumbündel, hielt aber auch sofort unter dem ersten, welches er erreichte, in aller Ruhe sich verborgen. Offenbar war Wissenschaftliche Rundschau. 75 das Tier mit diesem Manöver, gleichsam einer stossweisen Flucht, wohl ‚vertraut. Mit solcher Sicherheit hätte es dasselbe kaum ausführen können, wenn es gewohnt wäre, inmitten einer nur einigermassen aus- gedehnten Sargassumbank zu leben. — Vielleicht dass die in diesen Gegenden nicht seltenen Cyklonen zufällig Sargassumbüschel in hin- länglicher Zahl so mit einander vereinen, dass sie auf weite Strecken hin mit einander in Berührung stehen. Doch das ist zweifellos nur eine Ausnahme und die in unseren Geographiebüchern behauptete Existenz ungeheurer schwimmender Algenwiesen in den tropischen Gegenden darf füglich ins Reich der Fabeln verwiesen werden. So bestätigen also diese neuesten Forschungen durchaus die von Kuntze in Encuers bot. Jahrbüchern aufgestellte Ansicht. Indem PERRIER den Ursprung dieser Sargassumbüschel zu erklären sucht, ver- teidigt er aber eine Ansicht, welche Kuntze an demselben Ort als un- haltbar erwies. ; Die Sonde zeigt im Sargassomeer eine Tiefe von vier, fünf bis sechstausend Meter. Vegetabilische Gebilde werden in diesen Tiefen keine getroffen. Das Sargassum kann also nicht vom Meeresgrund aus an die Oberfläche aufsteigen. Zudem sind zahlreiche Luftblasen an der Pflanze wahrzunehmen. Natürlich müssten diese zerspringen, wenn das Sargassum aus grossen Tiefen aufstiege. Das nächstliegende Festland zeigt an seinen Küsten nirgends (?) solche Mengen von Sargassum, dass diese zahlreichen Büschel sich als losgerissene Überreste des die Küsten bewohnenden Sargassıım auffassen liessen. Überdies sind diese Algen in voller Vegetation. Ihre Frische ist bemerkenswert und die fast genau sphärische Form jedes Büschels beweist, dass es in einem Medium wuchs, in welchem es allseitig sich gleich ausdehnen konnte, wo es vom Boden durchaus unabhängig war. Es scheint klar zu sein, dass jedes Büschel von einem losgerissenen Spross eines andern Büschels stammt, so dass also diese Alge durch eigentliche Ableger sich vermehrt. Die Gesamtheit aller dieser Sargassumbüschel lässt sich also als ein gewaltiges Indivi- duum auffassen. Übrigens ist noch zu bemerken, dass bis jetzt niemand an den schwimmenden Sargassum wohlentwickelte Reproduktionsorgane ähnlich wie an den anderen Fucus-Arten nachweisen konnte. Nichts steht jedoch der Annahme entgegen, dass die ersten Fucus-Sprosse, welche durch die Äquatorialströme in diese Region der Kalmen gelangten, von einer der Sargassumarten herstammten, welche an der amerikanischen Küste wachsen. Für die meisten der jetzigen schwimmenden Sargassım kann aber dieser Ursprung nicht angenommen werden. Wir halten dafür, dass, wenn von den vielen Forschern, welche diesen schwimmenden Algen ihre Aufmerksamkeit zugewandt haben, noch kein einziger den Teilungs- prozess, die Sprossung oder die Vermehrung durch Ableger wirklich beobachtete, wenn immer nur das unvermeidliche »es scheint« die be- züglichen Ansichten einleiten kann, die gemutmasste ungeschlechtliche Vermehrung gar nicht existiert. Trotz Prrrıers Auseinandersetzungen halten wir die Annahme Kuntzes für ungleich wahrscheinlicher. Von geologischem Interesse sind die Forschungen über die Natur des Grundes des Sargassomeeres. Überall sonst wies die Sonde auf 76 Wissenschaftliche Rundschau. schlammigen Grund hin. Hier trat der Schlamm sehr zurück. Dagegen fand man Lavatrümmer und Bimsstein. Man muss also die Kana- rischen Inseln, ebenso die Kapverdischen und die Azoren als die höchsten Gipfel einer weitausgedehnten vulkanischen Gegend auffassen. Zahlreich und jungen Datums dürften die submarinen Eruptionen sein, denn nur so begreifen wir die weite Ausdehnung der Lava und dass sie nicht von einer Schlammschicht bedeckt ist. Was nun die Fauna betrifft, so ist eine reiche pelagische Be- völkerung im Sargassomeer zu treffen, eine Tierwelt, deren Farben merk- würdig mit denen der Algen, die ihr als Zufluchtsstätte dienen, harmonieren. Die Tiefseefauna ist arm. Sie besteht aus seltenen Fischen, einigen Krustaceen, z. B. Paguren, welche auf Epizoanthenkolonien wohnen, und Garneelen, einigen seltenen Weichtieren (Fusars, Pleurotoma und ZLeda). ‚Gegen Norden steigt der Boden aus den gewaltigen Tiefen (Maximal- tiefe 6267 m) wieder zu mässigeren an und in demselben Grade wird auch die Ausbeute wieder eine bessere. Aus diesen Gegenden stammt eine Gnathophausia aus der Familie der Schizopoda, ein Riese seines Ge- schlechtes (0,25 m lang). Auf der Rückreise des Talisman wurde noch eine grössere Zahl von bisher unbekannten Pagurus- und Galathea-Arten entdeckt, Formen, die in einer Tiefe von 4000—5000 m leben. Vor allem aber wird diese Tief- seefauna durch die grosse Mannigfaltigkeit und Individuenzahl von Holothurien charakterisiert. Schon aus diesen kurzen Notizen ersehen wir, dass der Zoologe die Ergebnisse der Talismanexpedition sehr begrüssen darf. Stehen sie auch naturgemäss hinter denen der Challengerexpedition zurück, so sind sie doch im Vergleich zur angewandten Zeit nicht minder reichlich zu nennen“. Bor: * Vorstehender Bericht ist zum Teil eine wörtliche Wiedergabe eines Vortrages von E. Perrier und eines vorläufigen Berichtes an die Akademie der Wissenschaften von A. Milne-Edwards. Vergl. Revue scientifique vom 15. u. 22. Dez. 1883. Litteratur und Kritik. Elemente der Geologie von Dr. H. Crrpxer. Leipzig 1883. Dieses vortreffliche Werk, das soeben in fünfter neubearbeiteter Auflage erschienen ist, verdient auch an dieser Stelle eine Erwähnung, da es, entgegengesetzt anderen Arbeiten gleicher Art, auf die Entwickelungs- lehre Rücksicht nimmt. So stellt der Verf. als Entwickelungsgesetz der Erde hin: »Die je- weilige Erscheinungsweise unseres Planeten ist das Gesamtresultat aller früheren Einzelvorgänge auf demselben, — deshalb nimmt die Mannig- faltigkeit in der Gliederung der Erdoberfläche zu, je länger sich die ver- schiedenartigen Einwirkungen auf diese letztere bethätigen konnten. Zu- gleich aber eröffnet diese allmähliche Summierung der Einzelvorgänge und ihrer Resultate bis dahin schlummernden Naturkräften ein Feld für ihre 'Thätigkeit und bringt dadurch grössere Mannigfaltigkeit in die umge- staltenden Ursachen.< An einem Beispiele wird dasselbe eingehend er- läutert und darauf betont, dass es »in einem gewissen Zusammenhange mit den Resultaten der gesamten morphologischen Wissenschaften und der Entwickelungsgeschichte der tierischen und pflanzlichen Einzelwesen« stehe. Hierauf bietet der Verf. in knapper Form die Grundzüge der Transmutations- und Deszendenztheorie Darwıns, von der er sagt, dass die Geologie sie im »allgemeinen« bestätige, wenn auch nicht im entferntesten im stande sei, die »zahllosen Übergangsformen und Ver- bindungsglieder zwischen den Tier- und Pflanzengruppen weder der auf- einanderfolgenden Perioden, noch ein und desselben Zeitalters nachzu- weisen«<, »da uns nur ein ausserordentlich kleiner Bruchteil der früheren Tier- und Pflanzenwelten überliefert worden und von diesen Resten nur ein verschwindend kleiner Teil zu unserer Kenntnis gekommen« sei. Weiterhin tritt er auf Grund der durch die Oszillationen der Erdober- fläche bedingten Wanderungen der Faunen der Ansicht entgegen, dass die Verbindungsglieder einer Tierform und ihrer Urahnen in vertikaler Rich- tung zu suchen seien; er hält es, und jedenfalls mit Recht, für richtiger, dies >in einer flach in die Tiefe geneigten, der Unregelmässigkeit der Oszillationen wegen vielleicht flach zickzackartig gebrochenen Linie< zu thun. Er bekennt sich somit als Anhänger der von BARRANDE zuerst aufgestellten Lehre von den Kolonien. Als wesentliche Stützpunkte der Darwinschen Theorie gelten ihm die Kollektivtypen. In der Einleit- ung finden wir übrigens noch folgende Stelle: »Die Paläontologie hat 78 Litteratur und Kritik. durch überraschende Funde nicht nur auf ausländischem, sondern auch auf deutschem Boden das Gesetz von der einheitlichen Entwickelung der Tier- und Pflanzenwelt gekräftigt.« Dresden. H. ENGELHARDT. Spezielle Physiologie des Embryo. Untersuchungen über die Lebens- erscheinungen vor der Geburt, von W. PREYER, o. ö. Prof. Erste Lieferung, mit 3 Tafeln und Holzschn. im Text. Leipzig, Th. Griebens Verlag, 1883. 160 S. 8°. Während die »Allgemeine Physiologies desselben Autors, die wir vor kurzem hier besprachen, darauf ausgeht, die Einheit des Lebens in grossen Zügen darzustellen, die Gesetze alles organischen Daseins so- weit möglich zu formulieren und die Grenzen ihrer Wirksamkeit ab- zustecken, hat der Verfasser mit diesem Werke eine nicht minder selb- ständige und neue Bahn eröffnet, indem er das weite Gebiet der embryo- logischen Physiologie, bisher geradezu eine terra incognita, zum ersten- mal gründlich zu bebauen unternimmt. Wer seinen Arbeiten seit längerer Zeit gefolgt ist, der weiss, dass er schon viele Jahre hindurch dem wichtigen und zumeist ganz vernachlässigten Problem der ersten Ent- stehung der Funktionen seine ganze Kraft gewidmet und mit unermüd- licher Ausdauer die zahllosen Schwierigkeiten, welche sich dem Vor- dringen auf diesem wie auf jedem neuen Felde, hier aber in ganz be- sonderem Masse entgegenstellen, zu besiegen verstanden hat. Ausführlicher werden wir auf den Inhalt dieses ausserordentlich verdienstvollen Werkes zurückkommen, wenn dasselbe vollständig vorliegt, was schon im Früh- ling dieses Jahres mit 4 Lieferungen der Fall sein soll; wir wollen aber nicht versäumen, unsere Leser wenigstens noch mit der Disposition des ganzen Buches bekannt zu machen. — Die Einleitung bespricht, nachdem die allgemeine Aufgabe der Untersuchungen präzisiert worden, das denselben zugängliche Material, das naturnotwendig ein sehr be- schränktes ist, und die hauptsächlichsten der auf dasselbe anwendbaren Methoden, begrenzt den Stoff dahin, dass hier nur die Lebensthätigkeiten des Embryos und seiner Teile von der ersten Organanlage an bis zum Augenblick der Geburt behandelt werden sollen, und gibt die Einteilung des ganzen Werkes. Danach wird mit der Blutbewegung des Embryos begonnen; hieran schliesst sich die embryonale Atmung, an diese die embryonale Ernährung mit den Absonderungen und der Wärmebildung. Dann folgen die Elektrizität, Motilität und Sensibilität des Embryos. Den Schluss sollen einige Angaben über das embryonale Wachstum und übersichtliche Zusammenstellungen bilden. Hinsichtlich der psychischen Äusserungen und Anlagen des neugebornen Menschen und dessen weiterer Entwickelung kann Verfasser bereits auf sein interessantes Buch über »Die Seele des Kindes« (Leipzig 1882) verweisen, von dem schon eine zweite Auflage in Vorbereitung ist. — Welch’ weitreichende Bedeutung diese Forschungen für das Verständnis des Menschen, insbesondere auch für seine psychische Seite haben werden, lässt sich gegenwärtig noch kaum ahnen, und wir können nur wünschen, dass sie recht lebhafte Nacheiferung Litteratur und Kritik. 79 finden mögen; der schönste Erfolge kann, nachdem so trefflich Bahn ge- brochen worden ist, auf diesem jungfräulichen Boden nicht ausbleiben. \E SEUBERT, Prof. Dr. Morrtz, Grundriss der Botanik. Zum Schul- gebrauch und als Grundlage für Vorlesungen an höheren Lehranstalten bearbeitet von Dr. W. v. Anus, Prof. am Polytechnikum in Stuttgart. 5. Aufl., m. vielen Holzschn. Leipzig, C. F. Winter, 1883. 290 S. 8°. 1.80) Pf. Der Seubertsche Grundriss hat sich ebenso wie das grössere Lehr- buch desselben Verf. in seinen früheren Auflagen so viele Freunde er- worben, dass es wohl angemessen erscheint, dasselbe in verjüngter Gestalt wieder aufleben zu lassen. Der Herausgeber hat dabei, wie er selbst sagt, »schon aus Pietät nur solche Änderungen vorgenommen, die durch- aus infolge neuer Anschauungen und Untersuchungen, sowie des er- weiterten Leserkreises geboten erschienen<. In der That kann und muss man sich mit diesem Standpunkt und seiner Durchführung ganz einver- standen erklären, so lange man die Aufgabe des botanischen Unterrichts an niederen und höheren Schulen nur darin erblickt, dem Schüler vor allem eine tüchtige Kenntnis des Systems und der einheimischen Flora beizubringen und ihn zu befähigen, die unterscheidenden Merkmale selbst aufzufinden und zu verstehen. Der Vertreter dieses Prinzips wird zwar die wissenschaftliche Morphologie, Physiologie und Entwickelungsgeschichte auch als sehr wertvolle Wissenszweige gelten lassen, dieselben aber, soweit sie überhaupt in den Schulunterricht einbezogen werden können, nicht anders behandeln als die Systematik auch: als eine Reihe interes- santer Thatsachen, die der Schüler zu »lernen« hat. Und für solche An- sprüche ist das Büchlein eine treffliche Gabe: der Stil knapp und klar, der Stoff mit hinlänglicher Ausführlichkeit und doch nicht weitschweifig behandelt, die Anordnung übersichtlich, die Resultate neuerer Forschungen da, wo sich Gelegenheit dazu bot (wir nennen beispielsweise die Kapitel über Zellbildung und über Ernährung und Wachstum der Pflanzen) ge- wissenhaft berücksichtigt und mit anerkennenswerter Kritik benützt. — Wir brauchen jedoch kaum zu sagen, dass unser Standpunkt ein anderer ist, dass wir uns einen fruchtbringenden und dauernd anregenden Unter- richt in der Botanik nur auf dem Boden der Deszendenz- und Selektions- lehre denken können. Inwiefern das vorliegende Werk den solcher Auf- fassung entspringenden Ansprüchen zu genügen vermag, darüber klärt u. a. schon die einzige Thatsache hinreichend auf, dass die Anpassung der Blumen an Insektenbestäubung und alles, was damit zusammenhängt, auf einer halben Seite oder streng genommen durch den einen Satz er- ‘ ledigt wird: »Bei dieser Gelegenheit [beim Aufsuchen des Honigs| kommt der behaarte Leib der verschiedensten Insekten infolge der darauf ein- gerichteten Blütenform mit dem klebrigen .... Pollen in Berührung und wird beim Besuch einer andern Blüte der gleichen Art an der kleinen klebrigen Narbe abgesetzt, um sich von neuem mit Pollen zu bestäuben« — nebenbei gesagt eine fatale Ausnahme von der sonst einfachen und logischen Ausdrucksweise des Herausgebers, dem doch wohl hier die ganze 80 Litteratur und Kritik. Verantwortlichkeit zufällt. Nach dem Gesagten können wir das Buch nur insofern interessant finden, als es uns zeigt, wie sich die moderne Wissenschaft in einem Gemälde ausnimmt, dem jegliche (phylogenetische) Perspektive fehlt. Tabellen der Kohlenstoff-Verbindungen. Nach deren empirischer Zusammensetzung geordnet von M. M. Rıcnter. Berlin, Verlag von Robert Oppenheim, 18834. Das handliche Buch bietet auf ca. 500 Seiten nebst Hinweis auf Quellen und Originalarbeiten, sowie Angabe des Namens und des Schmelz- und Siedepunktes etc., eine Zusammenstellung sämtlicher z. Z. bekannten Konldnstofrerbindungen mit Einschluss und gerade spezieller Berück- sichtigung der selteneren und weniger erforschten Körper und zwar ledig- lich nach den Formeln, resp. nach der Zahl der Kohlenstoff-, Wasser- stoff-, Sauerstoff-, Stickstoff- ete. Atome geordnet. Wenn nun auch der moderne Chemiker wegen des ihm eigenen horror vor empirischen Formeln das Buch nicht ohne Voreingenommen- heit gegen dasselbe in die Hand nehmen wird, so dürfte er sich bei genauerer Durchsicht desselben doch bald davon überzensen, dass gerade die vom Verfasser gewählte Anordnung es ermöglicht, einerseits mit Um- gehung so mancher Schwierigkeiten der Nomenklatur das scheinbar kaum zu bewältigende Material auf möglichst knappen Raum zusammen- zudrängen, anderseits jede z. Z. bekannte und untersuchte Verbindung mit Angabe der Schmelzpunkte, Siedepunkte und möglichst vollständiger Litteratur sofort aufzufinden. In manchen, allerdings sehr vereinzelten Fällen, sobald es sich nämlich um chemisch reine, organische Substanzen handelt, dürfte die Zusammenstellung sogar dem Analytiker recht nützlich sein. Wesentliche Dienste leistet sie aber sicher jedem, der sich über das Vorhandensein resp. Nichtvorhandensein von Verbindungen, über Isomeriefälle, bezügliche Litteratur etc. zu orientieren hat. Um den Umfang nicht unnötig zu vermehren, hat Verf. die Litteratur bei wohlbekannten Verbindungen weggelassen; dafür fand ich die mir gerade geläufige Litteratur einiger seltenerer Körper um so gewissen- hafter zusammengestellt. Auch die äussere Ausstattung des Buches lässt nichts zu wünschen übrig. Nach alledem darf wohl behauptet werden, dass die dargebotenen Tabellen, wie es auch Verf. hofft, das wertvolle Beilsteinsche Werk in gewisser Richtung ergänzen und besonders allen denen willkommen sein werden, welchen gleichzeitig eine gute fachwissenschaftliche Bibliothek zu Gebote steht. Chemnitz. Dr. GOLDBERG. Ausgegeben den 31. Januar 1884. Die Moundbuilders und ıhr Verhältnis zu den historischen Indianern. Von Dr. E. Schmidt (Leipzig). 8 Überblickt man die Arbeiten der amerikanischen Anthropologie, so findet man auf fast allen Gebieten derselben eine rege Thätigkeit. Am wenigsten ausgedehnt vielleicht auf dem Felde der physischen Anthropo- logie, wo es nach Morrons’, Wymans, Meıcs’, Orıs’ Tode jetzt fast nur noch der treffliche CArr ist, der sich diesem Zweig der Anthropologie zugewandt hat. Weit breiter ist das Feld der ethnographischen Diszi- plinen angebaut: hier ist es vor allem das bureau of ethnology, PowELL an der Spitze, und neben ihm ein Stab wissenschaftlich hervorragender Männer, die reiche Früchte einernten. Keinem Fach aber hat sich das Interesse in ausgedehnterem Masse zugewandt, als dem der amerikanischen Archäologie. Durchblättern wir nur z. B. die Smithsonian reports, so finden wir in allen Jahrgängen eine ausserordentlich grosse Summe von archäologischen Mitteilungen. Mounds, Mounds, und immer wieder Mounds! Hervorragende Männer sind es auch hier wieder, die an der Spitze stehen; ich brauche nur zu nennen einen Rau, Mason, Purnam, CARR, Namen, welche es verbürgen, dass auch hier in ernstem wissenschaftlichem Sinne gearbeitet wird. Es liegt aber in der Natur der Sache, dass bei dem ausgedehnten Interesse, das den Mounds zugewandt ist, auch manches laienhafte, nicht immer streng wissenschaftliche Bemühen mit unterläuft, das sich ausspricht sowohl in der oberflächlichen Beobachtung als auch im Mangel gesunder Kritik, in der Neigung zu übertreiben, alles für sehr alt, sehr bedeutend, sehr wunderbar zu halten. Neben der nüch- ternen, exakten Arbeit geht eine laienhafte Neigung zu mystischen Vor- stellungen in der Moundforschung einher. Wir können beides zurück- verfolgen, solange als die Mounds überhaupt Gegenstand der Beobachtung und der Spekulation gewesen sind. Als vor jetzt fast genau hundert Jahren nach Beendigung des Unabhängigkeitskrieges die erste europäische Ansiedelung unter Purwam sich an den Gewässern des Ohio festsetzte Kosmos 1884, I. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XIV). 6 82 E. Schmidt, Die Moundbuilders und ihr Verhältnis (1788), konnte es nicht fehlen, dass die gewaltigen alten Erdhügel und Wälle am Muskingum, Scioto, Miami, Paint creek etc. die Aufmerksamkeit der Ansiedler auf sich zogen. Schon 1791 sprach Capt. Hrarr Sätze aus, die bis jetzt fast die Macht eines Dogmas behauptet haben: diese grossen Erdwerke könnten nicht das Produkt von Jägervölkern sein, sondern nur das Werk festsitzender volkreicher, unter festen Gesetzen und geordneter Regierung lebender Kulturstämme; der Zustand der Erd- werke und der Bäume auf ihnen wiesen sie in die Zeit vor Kolumbus zurück und das Fehlen von Traditionen der Indianer über sie beweise, dass sie weder von den jetzigen Indianern noch von deren Vorfahren errichtet worden sein könnten. Bei den ersten Erforschern Ohios, nüchternen vorurteilsfreien Männern, kam kein Zweifel darüber auf, dass die gerade in diesem Staat so häufigen Ringwälle einst feste Plätze gewesen waren. Erst weit später, 1803, fand ein Bischof, MAnısox, heraus, dass die Umwallungen nicht für militärische Zwecke gedient haben könnten; er wies darauf hin, dass sie für Festungen zu zahlreich, zu verschieden an Gestalt und Grösse, oft zu ungünstig, z. B. unter beherrschenden Höhen gelegen seien; die geringe Höhe der Wälle, der Umstand, dass der Graben oft nach innen vom Wall liege, sprächen dagegen. Damit waren die Wälle für viele ihres defensiven Charakters entkleidet und man beeilte sich, in die amerikanische Archäo- logie die »sacred inclosures<, die »Temple mounds«, die »sacrificial mounds« einzuführen. Soldat und Bischof, nüchterne Beobachtung und mystisches Ergehen! So sind schon frühzeitig die beiden Richtungen fixiert, die bis jetzt in der amerikanischen Archäologie nebeneinander be- standen. Vielleicht war es gerade dieser geheimnisvolle Zug, der die Mounds bei der grossen Laienwelt so populär machte. Die grosse Mehr- zahl aller derer, welche Mounds durchwühlen und über Mounds sprechen und schreiben, steht wenigstens auf dem reiz- und geheimnisvolleren Standpunkt des höheren Ursprungs der Mounds. So der verdienstvolle ATWATER, der zuerst 1320 eine umfassende Zusammenstellung gab, so SquIER, der energische, federgewandte Redakteur des Chillicothe Pioneer in seinen vortrefflich ausgestatteten, durch die Autorität des Smithsonian Institution empfohlenen Ancient Monuments, so die vielen Handbücher bis herab auf die in allerneuster Zeit erschienenen von BaLpwın, FosTER, McLrAn, ConAant und SHortr. Die Geschichte aller Erfahrungswissenschaften läuft in zwei abwech- selnden Phasen ab: in der einen werden die Thatsachen gesammelt, in der zweiten kritisch verarbeitet und zu einem System verbunden. Die ganze bisherige Moundforschung trägt den Stempel intensivsten, oder vielmehr extensivsten Sammelns. Alljährlich werden Hunderte von Mounds topographisch festgelegt, zum grossen Teil ausgegraben, in vielen Fällen dabei leider auch zerstört. Aber es mehren sich die Anzeichen, dass die kritische Verarbeitung und Sichtung mehr in den Vordergrund treten wird; von allen Seiten tritt man an die Rätsel der Mounds heran, selbst von sagengeschichtlicher und linguistischer Seite ist die Frage aufgenommen worden, und so dürfen wir hoffen, dass diesen konzentrischen Angriffen das Dunkel weichen und dass das vom ersten wissenschaftlichen Institut zu den historischen Indianern. s3 Amerikas, dem Smithsonian Institution geplante zusammenfassende Werk über die Altertümer Nordamerikas eine neue Epoche inaugurieren wird, frei von dem mystischen Beigeschmack, den die bisherige Moundforschung nicht ganz überwinden konnte. Die Vorgeschichte Nordamerikas steht noch nach der Meinung der meisten unvermittelt, als etwas wundersam Fremdartiges der historischen Indianerwelt gegenüber: eine Art Kataklysma hat den Moundbuilder hin- weggerafft und der moderne Indianer ist als etwas ganz Neues an seine Stelle getreten. Erinnert diese Auffassung nicht an jene Zeiten der Geo- logie, in welchen man den Zusammenhang geologischer Geschichte durch die Erdumwälzungen gewaltsam auseinanderriss? Aber gerade wie an die Stelle der Erdrevolutionen die allmähliche Entwickelung, wie an Stelle der Neuschöpfungen von Arten der Transformismus trat, so wird auch die Theorie der Moundkataklysmen durch die Erkenntnis des historisch-gene- tischen Zusammenhangs von Sonst und Jetzt ersetzt werden. I. Die überwiegende Mehrheit der amerikanischen Archäologen sieht in den Erbauern der Mounds eine bestimmte ethnologische Einheit, ver- schieden von den historischen Indianern durch körperliche Merkmale und durch weit höhere Kultur. Diese »Moundbuilders< bevölkerten in dicht- gedrängten Ansiedelungen die Thäler des Mississippibeckens, eine des- potische Herrschergewalt regierte das Volk, dessen Religion eine Sonnen- anbetung war mit heiligen Kultusstätten, Tempeln und Opferplätzen, auf denen Menschenopfer dargebracht wurden. Die Subsistenz der Mound- builders beruhte auf ausgedehntem Feldbau, in Handwerk und Kunst waren sie weit fortgeschritten, sie verstanden es zu spinnen und zu weben, der Erde ihre Mineralschätze, Kupfer, Glimmer etc. etc. abzugewinnen, den Thon in kunstvolles Gerät zu formen, in Stein Tier und Mensch mit hoher Kunstvollendung darzustellen. Zum Schutz des Landes waren auf Anhöhen feste Plätze angelegt, Erdhügel waren die Begräbnisplätze ihrer Toten. Ihre Zeit reicht Jahrtausende weit zurück, ihr Ursprung ist unbekannt, nach langer Besiedelung des Landes wurden sie von barbarischeren Stämmen viele Jahrhunderte, nach manchen sogar Jahr- tausende vor der Entdeckung Amerikas vertrieben. Den Einfluss ihrer Kultur glauben viele in den Kulturstaaten Mexikos, Central-Amerikas und Perus wieder zu erkennen. Werfen wir einen Blick auf die Thatsachen und prüfen wir, wie weit sich diese Theorie mit denselben in Einklang bringen lässt. Wir müssen dabei freilich sogleich bekennen, dass uns die Thatsachen trotz des fast hundertjährigen Studiums der Mounds doch immer noch sehr ungenügend bekannt sind. Ungenügend nicht sowohl extensiv, denn die Menge angesammelten Materials ist eine überreiche, als vielmehr intensiv. Der Mounduntersuchung fehlt es zum grössten Teil an Methode, sie ist bisher im ganzen mehr Altertümer-Jägerei, als wissenschaftlich gründliche Forschung gewesen. Eine glänzende Ausnahme macht hier vor allem die Schule von Cambridge: sie hat uns mit wenigen Ausgrabungen weit 84 E. Schmidt, Die Moundbuilders und ihr Verhältnis tieferen Einblick in die Entstehungsgeschichte vieler Mounds gegeben, als Tausende von Moundsdurchwühlungen vor ihnen. Die Mounds (jede grössere künstliche Erhebung aus Erde oder Steinen heisst Mound im weiteren Sinn) finden sich in Nord-Amerika nicht überall in gleicher Verbreitung. In den Neu-Englandstaaten nur in sehr geringer Anzahl vorkommend, werden sie in den südlichen atlantischen Staaten häufiger; ihre grösste Dichtigkeit erreichen sie zwischen den grossen Seen und dem mexikanischen Golf. Auch jenseits des Mississippi, an den Ufern des Missouri, Kansas, Platte, Arkansas sind sie noch häufig. Als ihre Westgrenze werden die Felsengebirge, als Nordgrenze die Breite der grossen Seen angenommen. Es lassen sich zwei grössere Gruppen von Mounds unterscheiden, die Wallmounds (inclosures) und die Hügelmounds (Mounds im engeren Sinn). Die ersteren stehen bald auf mehr oder weniger steilen Anhöhen, bald in der Ebene. Dass die Bergwälle Verteidigungszwecken dienten, ist so klar, dass niemand einen Zweifel darüber ausgesprochen hat: es sind offenbare defensive Anpassungen an günstige Bodenverhältnisse. Gewöhn- lich wird eine steile isolierte Höhe oder auch eine nur durch einen einzigen Zugang leicht erreichbare Bergzunge gewählt, die Abhänge sind nach Massgabe der Steilheit von höheren oder niederen Stein- oder Erdwällen überragt, an den ebenen Zugängen zur Wallburg sind besonders starke Wälle und tiefe Gräben angelegt, oft in mehrfacher Reihe, und die Thoröffnungen derselben sind noch durch eigene, oft mit grossem Raffinement angelegte Verstärkungen besonders geschützt. In der Nähe der Umwallung, oft am Bergabhang selbst, findet man in der Regel eine Quelle, innerhalb der Wälle die sogenannten Caches, d. h. Vorratsgruben für Lebensmittel. Die Grösse dieser Wallburgen ist sehr verschieden: die kleinsten umschliessen kaum eine Fläche von fünf Acres, während die grösseren (weniger häufigen) bis zu 140 Acres gross sind. Auch bei manchen Wällen der Ebene liegt die defensive Bedeutung auf der Hand: es sind solche, die sich an ein steiles Flussufer anlehnen oder eine Landzunge zwischen zwei sich vereinigenden Flüssen mit ein- fachem oder doppeltem Wall und Graben abschneiden. Bei der Mehrzahl der Umwallungen der Ebene weichen dagegen die Meinungen über ihre Bedeutung weit auseinander: es handelt sich hier meist um runde oder quadratische, seltener um elliptische, länglich rechteckige oder achteckige Bauten, die einzeln oder in Gruppen zusammen stehen und dann oft durch ein System von Parallelwällen miteinander verbunden sind. Sie stehen gewöhnlich in der Nähe, oft auch am Zusammenfluss von grösseren Bächen und Flüssen, doch vermeiden sie die unterste Thalsoble und ziehen sich auf die nächsthöheren Thalterrassen zurück. Ihre Grösse ist sehr wechselnd: nach Sqvier und Davıs hat die Mehrzahl der Kreiswälle einen Durchmesser von 250 oder 300 Fuss, doch gibt es daneben auch solche, die eine Fläche von 25, ja selbst bis zu 50 Acres einschliessen. Aus der angeblich gleichen Grösse vieler dieser Ringwälle hat man auf die Existenz eines allgemein angenommenen genauen Masssystems schliessen wollen — gewiss mit Unrecht, da die Grössenangaben der Autoren fast stets nur ungefähre Schätzungen sind, zu den historischen Indianern. 85 wie schon daraus hervorgeht, dass sie meist in runden Zahlen gemacht werden. Ebenso war es ein zu kühner Schluss, wenn man, gestützt auf die Angaben über ganz regelmässige Kreis- und Quadratformen der Um- wallungen, ihren Erbauern höhere mathematische Kenntnisse zugeschrieben hat. Wenn man selbst alle diese Angaben als richtig annehmen wollte (was sie sicherlich nicht immer sind), so lässt sich ein Kreis von 125 oder 150 Fuss Radius sehr leicht mit einem entsprechend langen Strick oder Riemen ohne höheres mathematisches Wissen ziehen, und ebenso dürfte die Konstruktion eines Quadrates mit den allerprimitivsten Hilfsmitteln keine allzugrossen Schwierigkeiten bereiten. In Wirklichkeit sind übrigens die Abweichungen von reinen geometrischen Formen bei den Ringwällen weit häufiger als richtig gezeichnete Quadrate oder Kreise. Man hat sich seit langem daran gewöhnt, diese in sich geschlossenen Wälle der Ebene für »sacred inclosures« zu halten, freilich mit schwachen, „aber doch immer wiederholten Gründen. Als solche werden angegeben: ihre oft von benachbarten Höhen beherrschte Lage, das häufige Vor- kommen der Verbindung mehrerer Ringwälle zu einem grossen Ganzen, die Niedrigkeit der Wälle, das öftere Fehlen eines Grabens, der, wenn er vorkommt, innerhalb des Walles liegen soll, endlich das Vorhandensein von sogenannten Tempelmounds oder Opfermounds, die man selbst wieder für heilige Stellen ansah, innerhalb der Umwallung. Keiner dieser Gründe ist bei unbefangener Prüfung stichhaltig. Was man beherrschende Höhen genannt hat, ist es wohl im Sinn der modernen Artillerie, nicht aber für barbarische Völker, deren Distanz-Angriffswaffen sich nicht über die Leistungen von Bogen und Pfeil erhoben haben; die Niedrigkeit der Wälle konnte durch Palissadierung, wie sie nachweislich bei den Indianerbefestigungen in hoher Vollkommenheit bestand, aus- geglichen werden; sie ist übrigens in Wirklichkeit gar nicht so unbedeutend, sondern beträgt im Mittel 3—7 Fuss, ja einzelne Wälle, wie z. B. der grosse Kreiswall von Newark, erreichen 12 Fuss senkrechte Höhe, wozu noch die 7 Fuss betragende Tiefe des Innengrabens kommt. Warum man aus der Gruppierung mehrerer benachbarter Ringwälle zu einem grösseren Ganzen auf die religiöse Bedeutung dieser Bauten schliessen wollte, ist ganz unerfindlich. Man hat es hier augenscheinlich mit der Verbindung einer Anzahl kleinerer Ringwälle zu einem einzigen festen Platz, einer Festung mit einer Anzahl Einzelforts zu thun. Ebenso schwer zu ver- stehen ist es, wenn man in dem Vorhandensein eines inneren Grabens einen Grund zur Annahme von »sacred inclosures« finden wollte. Bot denn eine solche Einrichtung dem Verteidiger nicht eine stärkere Deckung, als wenn der Graben aussen lag? Darum haben ja gerade die unbe- zweifelt defensiven Bergwälle den Graben innen, wie selbst SQUIER zu- geben muss. Auch das Vorhandensein von sogenannten Tempelmounds und Opfer- altären innerhalb der Wälle wurde als Grund gegen die defensive Natur der letzteren angeführt. Dabei ist freilich zu bemerken, dass die Deutung solcher heiligen Bauten doch selbst mehr als fraglich ist. Aber selbst die Richtigkeit einer solchen Auffassung zugegeben, würde dann die An- wesenheit heiliger Stätten in den befestigten Dörfern gegen den fortifi- 86 E. Schmidt, Die Moundbuilders und ihr Verhältnis katorischen Zweck der Umwallung sprechen? Sind Strassburg, Köln ete. deshalb keine Festungen, weil auch in ihnen Kirchen und Dome aufragen? Den angeführten Gründen können wir somit kein grosses Gewicht beilegen, um so weniger, als diese »sacred inclosures< manche Züge auf- weisen, die entschieden fortifikatorischer Natur sind. Dahin gehört die Verdoppelung des Walles an schwächeren, exponierteren Stellen, wie z. B. in den von SQuiEr beschriebenen Hopeton works, Gedar Bank works etc. Die Gruppierung mehrerer kleinerer Forts zu einer grösseren Festung haben wir bereits erwähnt. Eine unzweifelhaft defensive Bedeutung hat ferner die Verstärkung der Eingänge durch mannigfache Mittel, durch vorgesetzte Mounds, durch Terrassenmounds hinter ihnen, durch besondere Führung des Walles an den Thoren etc. Ja nach BRACKENRIDGE haben die ersten Ansiedler der Ohiogegenden auf manchen dieser Ringwälle noch »the remains of pallisadoes« (Reste von Palissaden) gefunden. Dass diese »sacred inclosures« nicht Heiligtümer, sondern ganz profane Dörfer um- schlossen, hat schliesslich Purwam in einer sehr gründlichen Untersuchung eines Walldorfes bei Lebanon in Tennessee unzweifelhaft dargethan. Auch hier lag der Wall aussen, der Graben innen, beide umschlossen aber ausser einigen kleineren und grösseren, konischen Mounds etwa hundert kreisrunde Wälle von 15 bis 40 Fuss Durchmesser. In diesen wurden ganz konstant abgenutztes Hausgerät, Feuerstellen und Küchenabfälle, in dem Boden unter ihnen bisweilen auch Gräber gefunden. Purnam hat jeden Zweifel beseitigt, dass diese kleinen Wälle Ruinen alter, wahr- scheinlich mit Erde und Rasen gedeckter Hütten innerhalb des festen Walles waren. Wir haben damit eine richtige Deutung der kleinen Kreis- wälle gewonnen, die auf den Plänen Sqaursrs und anderer so häufig wiederkehren und die gewöhnlich als kleinste »heilige Wälle« aufgefasst wurden. Andere kleine viereckige Schuttwälle in solchen Wallburgen, wie z. B. die am Stoner’s creek in Kentucky zeigen, dass nicht nur runde, sondern auch viereckige Häuser gebaut wurden. In Verbindung mit den Ringwällen stehen in vielen Fällen Längs- wälle, bald einfach, bald als doppelter Parallelwall. Oft verbinden sie die kleineren Werke wie eine Festungsmauer die einzelnen Forts, in anderen Fällen führen sie zu einer Quelle oder einem Fluss hinab; meistens liegt auch hier der defensive Zweck dieser Wälle klar vor Augen. Einzelne dieser Parallel-Wälle mögen auch zu geselligen gymnastischen Spielen gedient haben, wenn man wenigstens aus den Beobachtungen von Reisenden einen Rückschluss machen darf auf jene vorgeschichtlichen Zeiten. Darf man auch aus der Zahl und Ausdehnung der Walldörfer auf eine verhältnismässig dichte Besiedelung des Landes, auf eine sesshafte Bevölkerung mit geordneten sozialen Verhältnissen schliessen, so beweist doch nichts die überschwenglichen Vorstellungen, welche die staatlichen Einrichtungen der »Moundbuilders« denjenigen des pyramidenbauenden Ägyptens an die Seite setzen wollten. Man hat von unbedingter Herr- schaft über Leben und Tod, von Sklaverei der Massen etc. gesprochen, man wollte das Staatswesen der Moundbuilders mit den despotischen Zuständen vergleichen, wie sie nach den Berichten spanischer Abenteurer zu den historischen Indianern. 87 in Mexiko, Peru etc. geherrscht hätten*. Alles reine Phantasiegebilde! ‘In Wirklichkeit sagen uns die Mounds über die staatlichen Einrichtungen ihrer Bewohner nichts. Wenden wir uns zu den eigentlichen Erdhügeln, den Mounds im engeren Sinn, so treten uns auch hier wieder verschiedene Formen ent- gegen. Wir können danach drei Hauptgruppen unterscheiden, einfache spitze Erdhügel, Mounds, die oben von einer ebenen Fläche begrenzt werden, und Reliefbildermounds, die sogenannten effigy-, symbolic oder emblematic mounds. Von allen Mounds sind die der letzteren Gruppe zugehörigen die rätselhaftesten. Sie sind Piktographien im grössten Stil, auf den felsen- leeren, ebenen Boden der nördlichen Prairien in Riesenzügen hingeschrie- bene, 50—200 Fuss und mehr lange, nur wenige Fuss hohe Relief- darstellungen irgend eines Vierfüsslers, Vogels oder des Menschen, im Profil aufgefasst, aber gewöhnlich nur in so allgemein schematischer Zeichnung, dass die Deutung eines bestimmten Tieres fast immer unmög- lich ist, so dass man Bezeichnungen wie lizard-, turtle-, bear-, alliga- tor- etc. Mound immer mit grossem Vorbehalt aufnehmen muss. Dasselbe gilt vom sogenannten Mammut-Mound in Wisconsin, an welchen die abenteuerlichsten Vorstellungen über das Alter der Moundbuilders geknüpft worden sind. Selten stehen diese Relieffiguren isoliert, gewöhnlich sind sie gruppen-, oft reihenweise angeordnet. Das Material ist die Erde und der Lehm der Umgebung; es wurde ringsherum von der Oberfläche, nicht aus besonderen Gruben entnommen. Nachgrabungen in diesen Mounds haben in der Regel ein negatives Resultat in bezug auf beson- dere Einschlüsse ergeben, in einzelnen Fällen fand man Menschenknochen in ihnen, die aber wahrscheinlich von späteren Begräbnissen herrührten. Eine vollkommen befriedigende Erklärung dieser Mounds ist bisher noch nicht gelungen; dass sie bei dem alle sozialen Verhältnisse der Völker Amerikas beherrschenden System der nach Tieren benannten Geschlechter in irgend welcher Beziehung zu diesen standen, ist mindestens wahrscheinlich; möglicherweise deutet eine noch später zu erwähnende Notiz CHARrLEvoIx’ darauf hin, dass wir sie als Fundamente von Häusern der verschiedenen gentes anzusehen hätten, doch ist eine Theorie über ihre Bedeutung jetzt noch mindestens verfrüht, vielleicht für immer unmöglich. Eine zweite Gruppe von Erdhügeln ist dadurch charakterisiert, dass ihre Spitze stets abgestutzt und geebnet ist. Ihr Umriss bildet stets eine regelmässige Figur, einen Kreis, ein Quadrat, ein längliches Recht- * Bis in die neueste Zeit hinein wird von Geschlecht zu Geschlecht die Fabel über die politischen und religiösen Institutionen der Mexikaner und Peruaner ver- erbt, so wie sie die spanischen Schilderungen geschaffen haben. Die Sucht jener Abenteurer, Wunderbares zu berichten, und anderseits die Unmöglichkeit, grund- verschiedene soziale Einrichtungen anders aufzufassen als mit dem Massstab des Spaniers, der nichts Höheres kannte als des Königs Majestät und des Priesters Allmacht und der diese deshalb überall suchte und natürlich auch fand, haben uns über die Einrichtungen der amerikanischen Kulturstaaten die falschesten Zerrbilder hinterlassen, die bei der eigenartigen Kulturentwickelung der amerikanischen Völker einfach eine Unmöglichkeit sind. S8 E. Schmidt, Die Moundbuilders und ihr Verhältnis eck etc., ihre Grösse ist meist ansehnlich, die Höhe verschieden von nur wenigen Fuss bis zu 90 Fuss, die der Riese aller Mounds, der sogenannte Cahokia Mound in St. Louis, misst. Rampenartige Wege führen zur Höhe hinan, bisweilen ist die Böschung durch Terrassen stufenartig unterbrochen. Häufig stehen sie mit anderen Terrassenmounds oder mit gewöhnlichen konischen Mounds zu Gruppen vereinigt, die dann bisweilen von einem Ringwall umschlossen werden. Man hat aus der Ähnlichkeit mit den Teocallis, den Stufenpyramiden, auf welchen die mexikanischen Tempel standen, geschlossen, dass auch diese Mounds Tempel getragen hätten, und dieser Gedanke wurde mit Vorliebe gepflegt und bis ins einzelne mit mehr Phantasie als vorsich- tigem Urteil ausgeschmückt. Kein einziger Fund weist darauf hin, dass gerade Tempel auf ihnen standen, wenn auch ihre Deutung als Sub- struktionen von Gebäuden gewiss in den meisten Fällen richtig ist. Be- sonders lehrreich war hierfür die Ausgrabung eines solchen Terrassen- mounds in Lee County, Virginia, durch L. Carr: die untere Hälfte dieses Mound bestand aus fast ganz reiner, lehmiger Erde, die nur sehr spärlich hie und da etwas Asche, ein Stückchen Kohle etc. enthielt; der obere Teil dieses Mounds dagegen war dicht durchsetzt von kleinen Häufchen Asche, Kohle, Stücken gebrannten Thones, aufgeschlagenen Markknochen von Säugetieren, Vogelknochen (zum Teil kaleiniert) und Fragmenten gebrauchten und abgenutzten Hausgeräts. Es unterliegt wohl keinem Zweifel, dass dieser Mound Wohnungen trug: ursprünglich als Fundamentmound für eine Hütte bis zu einer Höhe von 10 Fuss rasch aufgeführt, wuchs er später durch allmähliche Anhäufung von Küchenabfällen, durch Erneuerung von Feuerherden aus Thon, vielleicht auch durch herabfallende Erde und Rasen, mit denen das Dach gedeckt war, langsam bis zu seiner jetzigen Grösse empor. Auch der gewaltige Cahokia-Mound scheint, so riesig auch seine Dimensionen sind (er war eine abgestutzte vierseitige Pyramide von 750:500 Fuss Grundfläche, 300 :160 Fuss Kopffläche und 90 Fuss Höhe), eine gleiche Entstehungs- geschichte zu haben, wenigstens so weit er nicht ursprünglich ein natür- licher Hügel war; da wo Regengüsse durch tiefe Rinnen das Innere dieses Mound blossgelegt haben, fand Purnwam überall in ihm zerstreute Topf- scherben, Steingerätfragmente, Kohle und Asche, zerschlagene Tierknochen, Feuerherde von gebranntem Thon etc. Und wenn wir in so vielen Aus- grabungsberichten von häufigen Feuerspuren, Asche etc. in solchen Mounds lesen, wenn z. B. der hierhin gehörige grosse Mound am Etowah in Georgia aus schwarzer Erde bestand, in welcher Wnıttuesey zahlreiche Klumpen rotgebrannten Thones fand, so spricht das doch wohl, so wenig vollständig auch meist diese Beobachtungen sind, für eine gleiche Ent- stehungsgeschichte und gleiche Bedeutung dieser Mounds. Die Steilheit der Böschung machte die darauf. stehenden Hütten zu kleinen Festungen, . deren Verteidigungsfähigkeit noch gelegentlich durch Palissaden erhöht wurde, wie sie z. B. CArR auf dem obenerwähnten Mound in Lee County 8—10 Fuss unter dem oberen Rand rings um den Mound herum nach- gewiesen hat. Wir kommen zur dritten Gruppe der konischen Erdhügel, der ein- zu den historischen Indianern. 89 fachsten in ihrer äusseren Form, der mannigfachsten in ihrer Deutung. Auch hier hat man natürlich die interessante Würze nicht entbehren können: man hat eine ganze Anzahl derselben als Altar- oder Opfer- mounds bezeichnet. Manche derselben haben nämlich nahe am Boden einen sogenannten »Altar«, d.h. eine flach-schüsselförmige oder auch ebene Masse von hartgebranntem Thon, seltener von Steinen, von ver- schiedener Gestalt, bald rund, bald elliptisch, quadratisch, länglich rechteckig etc. Auch die Grösse dieser »Altäre« zeigt kein konstantes Verhalten, es sind solche von nur 2 Fuss und wieder andere von 50 Fuss Länge erwähnt. Sie sind niedrig und stehen meist direkt auf dem gewachsenen Boden, seltener auf einer kleinen Erhöhung von Sand. Auf ihnen fand man Menschengebeine, Geräte, Schmucksachen (in einem Falle z. B. Kupferringe, die noch zu je 5 vereinigt die Knochen beider Arme eines Skeletts umspannten), ferner Glimmerplatten, besonders schön ge- arbeitete Tabakspfeifen etc., alle mit Spuren intensiver Feuereinwirkung. Der Mound, welcher diese »Altäre« bedeckt, ist aus konzentrischen, mit- einander abwechselnden Schichten von Kies, Erde, Sand etc. aufgebaut — wenigstens in der Theorie. Denn wenn man der Methode dieser Ausgrabungen näher nachforscht, so findet man, dass immer nur in der Axe des Mound ein verhältnismässig enger Schacht bis zur Fundschicht niedergebracht wurde, die bei weitem grössere Masse des Mound wurde von der Ausgrabung, gar nicht berührt und die konzentrische Schichtung des ganzen Mound ist daher in den allermeisten Fällen mindestens frag- lich. Das berühmteste Vorkommen dieser Mounds trafen Davıs und SQuIER am Scioto, drei Meilen nördlich von Chillicothe, in der von ihnen sogenannten Mound-city, einem Ringwall, der 26 Mounds umschloss, die sämtlich geöffnet wurden und zum grossen Teil sogenannte Altäre enthielten. Auf einzelnen dieser letzteren waren nur Gegenstände einer bestimmten Art niedergelegt, auf einem Altar z. B. nur Pfeifen, auf anderen nur Lanzenspitzen etc. Alle diese Funde beweisen aber doch nur, dass hier Leichen ver- brannt und dass dabei als Leichengabe wertvolle Gegenstände dem Toten mitgegeben wurden. Die Annahme eines »Altars<, auf welchem den Göttern Menschenopfer dargebracht wurden, ist eine pikante Ausschmück- ung, die vor besonnener Betrachtung nicht bestehen kann. Würde man denn einen Altar mit Kies und Sand und Lehm zugedeckt haben? Und zu welchem Zweck? Und ist anderseits Leichenbrand mit reicher Leichengabe und nachträglicher Häufung eines Grabhügels nicht bei allen barbarischen Völkern ein ganz allgemeines Vorkommen? Der Herd, auf welchem man den Toten verbrannte, war nur eine grössere Wiederholung des Herdes, der im Hause in täglichem Gebrauch war. Auch die schicht- weise Aufhäufung des Grabhügels, selbst wenn ihre Regelmässigkeit besser konstatiert wäre, als sie es ist, hat im Widerspruch mit SQuiEr ihre genaue Analogie in vielen Grabhügeln der alten Welt; sie erklärt sich einfach dadurch, dass man den Mound nicht auf einmal bis zu seiner defini- tiven Grösse aufhäufte, sondern dass man zu verschiedenen Zeiten (viel- leicht an besonderen Erinnerungstagen) neue Schichten überdeckte, wobei nicht immer das gleichartige Material genommen wurde. 90 E. Schmidt, Die Moundbuilders und ihr Verhältnis Wir können die sogenannten sacrificial mounds für nichts anderes halten als für Grabhügel mit Leichenbrand. Mit dieser Deutung, sowie mit der profanen Auffassung der temple-Mounds und der »sacred inclo- sures« fallen auch die Phantasiebilder in sich zusammen, mit welchen man ihre Bestimmung sowie das ganze religiöse und priesterliche Wesen der Moundbuilders ausmalte. Man wusste davon noch viel Wunderbareres zu berichten als von den staatlichen Einrichtungen. Wie genau man unterrichtet war, mag das eine Beispiel zeigen, dass ein Autor von ein- zelnen Mounds ganz genau angeben konnte, wie hier im Frühjahr alljährlich der älteste Mann des Stammes geopfert wurde, dem es eine besondere Ehre war, geschlachtet zu werden, so dass er sich immer freiwillig als Schlachtkandidat anbot. Im Herbst dagegen wurde auf denselben Altären ein Weib den Göttern dargebracht! — Es ist besser, durch alle solchen Fabeleien über die staatlichen und religiösen Institutionen der Mound- builders einen Strich zu machen; wir machen einen entschiedenen Fort- schritt in der Kenntnis derselben, wenn wir offen eingestehen, dass wir darüber nichts wissen. Ausser den Grabhügeln mit Leichenbrand kommen, und zwar in weit grösserer Anzahl, Grabhügel ohne Leichenbrand vor, die von den amerikanischen Archäologen als sepulchral mounds bezeichneten Tumuli. Sie sind konisch, von meist kreisförmigem Grundriss, bald isoliert, bald gruppenweise zusammenstehend, in ihrer Grösse sehr wechselnd, von nur wenigen Fuss bis zu 80 Fuss, im Mittel 15 bis 25 Fuss hoch. Gewöhnlich findet sich noch am Boden in ausgestreckter Lage ein Skelett, eingehüllt in Rinde, Matten, rohes Gewebe oder Felle, neben ihm die später zu betrachtenden Grabbeigaben. Näher an der Oberfläche stösst man oft auf spätere, sekundäre Begräbnisse, die sich durch Störung der Erd- schichten sowie durch die abweichende Art der Beisetzung, in manchen Fällen auch durch Beigaben europäischer Herkunft von den eigentlichen Moundbuilder-Begräbnissen unterscheiden sollen. So verhält sich der früher als typisch betrachtete Sepulchral Mound Ohios. Mit der Ausdehnung der Mound-Untersuchungen stellte sich jedoch heraus, dass die Verhältnisse nicht immer so einfach sind, sondern dass eine sehr grosse Mannigfaltigkeit in der Art der Beisetzung vorkommt: statt eines Skeletts findet man oft eine grössere Anzahl in regelmässigen Reihen, die Leichen sind bisweilen radial um einen Mittelpunkt gelest, mit dem Kopf nach innen, oder umgekehrt, in anderen Fällen liegen die Menschengebeine eines Massenbegräbnisses in wüsten Haufen durcheinander; die Leichen sind öfters in besonderen, aus Holzblöcken grob hergestellten Kammern beigesetzt, Leichenkammern aus Luftmauern ohne Mörtel kommen in Mounds von Missouri vor; am häufigsten aber sind die Stein- plattengräber, Totenkammern, die durch Steinplatten gebildet sind, welche Boden und Dach und beide Seitenwände und die schmale Kopf- und Fusswand umschliessen. Sie kommen bald einzeln bald in grösserer Anzahl und dann oft in mehrfachen Stockwerken übereinander in einem Mound vor. So sind die sepuleralen Mounds gerade wie bei uns in der alten Welt äusserst mannigfache Gebilde. zu den historischen Indianern. 91 Ausser den bisher betrachteten Moundgruppen hat man noch eine Anzahl anderer Kategorien aufgestellt, so die Befestigungsmounds, welche wir bereits bei der Besprechung der Ringwälle kennen lernten, die soge- nannten Beobachtungsmounds (Mounds of observation), d. h. hoch auf weithin sichtbaren Anhöhen gelegene, Feuereinwirkung zeigende Mounds, die jedoch bei Ausgrabungen gewöhnlich Menschenknochen enthielten und daher wohl meist den Begräbnismounds zugerechnet werden müssen, ferner die Stone Mounds, aus Steinen roh aufgeworfene Hügel, die übrigens SQUIER für zu roh hält, als dass sie den Produkten der hochzivilisirten Moundbuilders zugerechnet werden könnten, endlich die von SQUIER sogenannten anomalen Mounds, die nicht recht in irgend eine Gruppe seines Systems hineinpassen wollen. Wenn wir jetzt noch einmal zurückblicken auf die geographische Verbreitung der Mounds, so finden wir, dass die verschiedenen Arten derselben nicht in gleichmässiger Verteilung überall vorkommen, sondern dass sich eine Gegend durch das Vorherrschen oder ausschliessliche Vor- kommen einzelner Formen auszeichnet, die in einer anderen Gegend fehlen, während andere Moundformen an ihre Stelle treten. Die nördlichen Prairieebenen zwischen Prairie du chien und Michigan-See, in Missouri, Iowa, Michigan, besonders aber in Wisconsin, wimmeln geradezu von Tiermounds, während sich in ganz Ohio nur 4 bis 6 und weiter südlich nur noch in Georgia zwei Tiermounds von ganz verschiedenem Charakter finden. Umgekehrt sind Bergfesten in Wisconsin äusserst selten, in Nord- Ohio dagegen die häufigsten archäologischen Denkmäler und Süd-Ohio hat neben ihnen noch eine stattliche Anzahl von Walldörfern in der Ebene aufzuweisen. Platform-Mounds, im Norden nicht häufig, begegnen uns um so öfter, je mehr wir südwärts vordringen. Die früher als typischer Begräbnismound angesehene Form ist die in Ohio vorherr- schende, Tennessee dagegen ist ausgezeichnet durch seinen grossen Reich- tum an Steingräbern, die in dem Masse seltener werden, als wir nördlich und östlich gehen, die sich aber noch bis Illinois, Pennsylvanien und selbst noch bis nach New-York hinein verfolgen lassen. Diese ungleiche geographische Verteilung der einzelnen Mound- gruppen zeigt uns, dass es sich bei ihren Erbauern nicht um eine einzige ethnologische Einheit gehandelt haben kann, sie weist auf grosse Ver- schiedenheiten im äusseren und inneren Leben derselben hin. Über die Kulturmittel und die Kulturleistungen der Moundbuilders erhalten wir bis zu einem gewissen Grad Kunde durch die Einschlüsse, mit welchen die Mounds bisher in reichem Masse die Mühe ihres Durch- wühlens belohnt haben. Es ist leicht zu verstehen, dass in den Mounds alle solchen Gegen- stände fast vollständig fehlen, die den Einwirkungen der Verwitterung oder des Feuers nur wenig Widerstand entgegensetzen konnten. Nur unter besonders günstigen Umständen ist uns ein Stückchen Gewebe, in Kohle verwandelt oder imprägniert von den Salzen des Kupfergerätes, dem es zur Umhüllung diente, erhalten. Immerhin sehen wir daraus, dass die Kunst des Webens einfacher Stoffe bekannt war: wir finden eine hanfähnliche Pflanzenfaser, ganz von ihren holzigen Teilen befreit, in g2 E. Schmidt, Die Moundbuilders und ihr Verhältnis Fäden gesponnen, mit je zwei einzelnen Fäden zu Garn zusammengedreht, und dies letztere zu solidem, derbem Zeug gewoben (das mit seinem aus zwei Fäden bestehenden Zettel und seinem einfachen Einschlag manchen Geweben der schweizer Pfahlbauten gleicht). Wenn die Mound- builders sonach die Kunst des Webens kannten, so dürfen wir auf der andern Seite diese Kunst doch nicht als hochentwickelt uns vorstellen. Wir haben hierfür den negativen Grund, dass nur die allereinfachsten Flechtmotive als Ornament auch auf die Thongefässe übergegangen sind, während wir nirgends einen Einfluss reicherer, schwierigerer Gewebs- motive auf den Schönheitssinn und das Ornament der Moundbuilders erkennen können. Dieser Mangel lässt wohl mit Sicherheit eine höhere Ausbildung der Technik und des Geschmacks in der Weberei ausschliessen. Schon die Existenz der Weberei setzt eine regelmässige Disposition über faserliefernde Pflanzen voraus, macht also schon für sich regel- mässige Bodenkultur wahrscheinlich. Von direkten Erzeugnissen des Ackerbaus ist uns jedoch nur wenig erhalten. Hie und da freilich finden sich in den Aschenhäufchen der Fundamentmounds halbverkohlte Reste von Maiskolben und auch in der Ornamentierung der Thongefässe ist der Abdruck solcher Kolben ein beliebtes Motiv. Auch das ziemlich häufige Vorkommen von grossen platten Steinwerkzeugen, die man kaum für etwas anderes halten kann als für landwirtschaftliche Geräte, spricht für den Ackerbau der Moundbuilders. Die grosse Anzahl der in den Mounds gefundenen Pfeifen endlich weist gleichfalls auf Feldbau hin; wo so viel geraucht wurde, ist mit grosser Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass der Tabak eine systematisch angebaute Pflanze war. Aber mit einer Luxuspflanze, deren Anbau noch dazu ein ziemlich umständlicher und beschwerlicher ist, fängt die Bodenkultur nirgends an; erst wenn die Landwirtschaft in der Kultur der für die Nahrung wichtigsten Pflanzen geschult ist, geht sie zur Kultur von Genusspflanzen über. Deshalb dürfen wir aus den Funden so zahlreicher Pfeifen indirekt auf Kultur von Nährpflanzen zurückschliessen. Aber wenn auch alle diese Gründe nicht vorhanden wären, wir würden doch zu der Annahme einer in grosser Ausdehnung betriebenen Bodenkultur genötigt werden durch die Grösse und Anzahl der befestigten Dörfer, die ohne eine relativ grosse Volksdichtigkeit der Bewohner nicht zu verstehen wäre. Man hat berechnet, dass bei ausschliesslich von der Jagd lebenden Völkern zur Subsistenz eines einzigen Menschen ein Ge- biet von 50 000 Acres erforderlich ist; danach würde ganz Ohio, das einen Flächenraum von 25 446 707 Acres hat, nur 509 Menschen aus- schliesslich von der Jagd ernähren können. Man braucht nur einen Blick zu werfen auf die Ausdehnung einzelner fester Mounddörfer in Ohio, z. B. die von Newark, Portsmouth, Marietta, um zu sehen, dass jedes derselben eine weit grössere Einwohnerzahl hatte. Auch da, wo uns keine Überreste grosser Gemeinwesen Kunde geben von einer einst dichten Bevölkerung, wie auf den weiten Flächen Michi- gans und Wisconsins, dürfen wir doch auf die frühere Anwesenheit einer sesshaften Bevölkerung zurückschliessen aus den unmittelbaren Spuren ausgedehnten Ackerbaues, die dort in den sogenannten garden beds weit zu den historischen Indianern. 03 verbreitet sich finden. Es sind ganz unsern deutschen Hochäckern glei- chende Felder mit abwechselnden parallelen Erhebungen und Einsenk- ungen, Beete und Furchen, die 5—16 Fuss breit, bis zu mehreren hundert Fuss lang und zwischen 6 und 18 Zoll hoch sind. Eigentliche Mounds sind in diesen Gegenden sehr selten, über einzelne derselben gehen Hoch- äcker hinweg, so dass man daraus schliessen wollte, dass die Hochäcker- periode jünger gewesen sei als die der Moundbuilders. Wir haben schon vorhin angedeutet, dass man die Moundbuilders überhaupt nicht als ein- heitliches Volk ansehen kann; meint man aber damit speziell das Volk, welches die Ringwälle und Erdhügel Ohios erbaute, so muss man ein- gestehen, dass bei dem gegenwärtigen Stand unserer archäologischen Kenntnis jeder Anhalt für einen Vergleich der Zeit der Garden beds und jener der Moundbuilders abgeht. Jedenfalls aber beweisen die Garden beds des Nordens ebenso wie die grossen Walldörfer am Ohio, dass im Mississippigebiete schon vor der Entdeckung Amerikas ausgedehnter Ackerbau betrieben wurde. Die weniger vergänglichen Produkte der Moundbuilders an Waffen, Geräten und Schmuck bestehen aus Stein, Kupfer, gebranntem Thon, Knochen, Glimmer, Muschelschalen etc. Über die in den Mounds gefundenen Steingeräte können wir uns kurz fassen: SQuIEr selbst, der doch sonst überall die Superiorität der Moundbuilders hervorzuheben bemüht ist, muss bekennen: »Wir besitzen aur wenige Anhaltspunkte, um die Reste der Moundbuilders — soweit es sich bloss um ihre Steingeräte handelt — von denen der auf sie folgen- den Völker zu unterscheiden.< Und dasselbe gilt im allgemeinen von den Schmuckgegenständen der Moundbuilders, von denen SqQuIER sagt: „Bei allen diesen Dingen beobachten wir merkwürdige Übereinstimmungen mit den Schmucksachen der heutigen Indianerstämme, welche sich mit Glasperlen und Öhrgehängen förmlich überladen. <- Hervorzuheben ist, dass oft Material benutzt wurde, was nur von fernen Gegenden hergebracht wor- den sein kann, so Obsidian aus Mexiko oder von den kalifornischen Vul- kanen, Glimmer aus den Alleghanies, Schalen von Seeschnecken, z. B. Marginella, Öliva, Natica etc. aus dem mexikanischen Golf. Wir dürfen daraus wohl auf ausgedehnten Handelsverkehr schliessen, der die Pro- dukte jener fernen Gegenden den Bewohnern der Walldörfer am Ohio zuführte. An die Erwähnung der Geräte aus Stein reiht sich folgerichtig die Betrachtung derjenigen aus Kupfer, denn auch dies Material war den Moundbuilders nur ein hämmerbarer Stein: die Kunst, das Metall zu schmelzen und es in Formen zu giessen, blieb ihnen verborgen. Was man früher für Gussnähte, für Abdrücke des Sandes der Gussformen hielt, hat sich als Verwitterungsprodukt herausgestellt, die Form der Geräte zeigt nirgends ein der Gusstechnik entlehntes Motiv (Hohlcelt, Paalstab, Henkelöse), sondern ist, wie z. B. die meist bogenförmige Ge- stalt der Schneide bei Äxten, Messern ete. oder die Umbiegung des Handgriffteils zur Befestigung an den Stiel, ein Produkt der Bearbeitung mit dem Hammer; auch die auf Kupfergeräten vorkommenden Silber- körnchen zeigen, dass eine Schmelzung nicht stattgefunden haben kann, 94 E. Schmidt, Die Moundbuilders und ihr Verhältnis weil sich sonst beide Metalle hierbei zu einer Legierung verbunden hätten. Die Kupfergeräte, welche in den Mounds gefunden worden sind, sind Lanzen- und Pfeilspitzen, Beile, Meissel, Messer, Pfriemen, ferner allerlei Schmuckgegenstände, Platten, Armringe, Röhrchen, Perlen, dünne plat- tierte Gegenstände etc. Gediegen Kupfer kommt in vorzüglicher Reinheit und in grosser Mächtigkeit am Südufer und auf den Inseln des Lake superior vor: hier ist auch ein ausgedehnter vorhistorischer Bergbau auf die reichen Metall- gänge nachgewiesen, und es liegt nahe, die Kupferfunde in den Ohio- Mounds mit den alten Kupfergruben in Verbindung zu bringen. Doch darf man dabei nicht vergessen, dass auch in der Drift am Ohio noch immerhin ziemlich häufig erratische Massen von gediegen Kupfer vor- kommen, aus welchen manche der doch immer verhältnismässig seltenen Kupfergeräte angefertigt worden sein mögen; auch durch den Handel, der sicherlich bei den Moundbuilders bestand, mag manches Stück seinen Weg zu den Dörfern am Ohio gefunden haben. Jedenfalls besitzen die Museen der näher an der Kupferregion des Lake superior gelegenen Staaten ein bei weitem reicheres Kupfergerät-Inventar als diejenigen Ohios und es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass wir die alten Kupfer- arbeiter eher in Wisconsin und Iowa zu suchen haben als an den weit entfernten Ufern des Ohio. Kupfer war übrigens nicht das einzige bergmännisch gesuchte und sewonnene Mineral des vorgeschichtlichen Amerika: Zahlreiche Steatit- brüche in den Ufergebirgen beider Ozeane, Gruben auf Glimmer in den Alleghanies, Steinbrüche auf den Quarzit der flint ridge in Ohio beweisen, dass die verschiedensten Mineralien bergbaulich gewonnen wurden. Wir dürfen uns indessen die Fortschritte in der Entwickelung des Bergbaus nicht allzugross denken: er ist nirgends mehr als Steinbruchsarbeit, selbst in den schmalen Gängen der Kupferadern von Keweenaw ist er offener Tagbau geblieben, der mit groben Steinhämmern und mit Hilfe von Feuer, um die Gesteine mürber zu machen, in recht primitiver Weise, wenn auch auf sehr ausgedehnte Strecken hin betrieben wurde. Die aus den Mounds stammenden keramischen Produkte sind oft mit, grosser Sorgfalt gearbeitet, kein einziges Stück aber ist bekannt, das mit Hilfe der Drehscheibe angefertigt worden wäre. Der Thon wurde gewöhnlich mit Körnchen von feingestossenem Quarz, von Granit mit schön schillerndem Muscovit oder rötlichem Lithionglimmer, manchmal auch mit gestossenen Muschelschalen versetzt. Ächte Glasur fehlt stets; wo eine solche vorhanden ist, handelt es sich um europäische Gefässe, die in Mounds gefunden worden waren (z. B. in Florida). Die Gefässe zeigen sämtlich eine mangelhafte Fuss- und Halsbildung. Wo Henkel anzubringen versucht werden, sind sie nicht grösser, als dass man eben einen dünnen Strick durch sie hindurchführen kann; häufig vertreten knopfähnliche Hervorragungen, bisweilen als Gesichter geformt, die Stelle der Henkel. Die Gefässe sind Wasserkrüge, grössere und kleinere Schüsseln, Vasen, Urnen etc., die oft die Gestalten von Vögeln, Vierfüsslern, nicht selten auch des Menschen darstellen. Das Flächenornament ist selten plan- und kunstvoll; oft ist die ganze Fläche mit Punkt-, Kreis- und zu den historischen Indianern. 95 Strichverzierungen überdeckt. Flechtmotive sind bei manchen Gefässen direkt vom Flechtwerk auf den Thon übertragen, indem der Topf inner- halb eines Korbes geformt wurde. Wenn sie aus freier Hand aufgezeichnet wurden, sind sie immer roh und ungeschickt. Wellenförmige Verzierungen werden gern gewählt, einzelne Gefässe zeichnen sich durch schöne spi- ralige Zeichnungen aus, kompliziertere Gewebsmotive kommen nicht vor. Von besonderem Interesse sind die Tabakspfeifen, welche uns die Mounds in grösserer Zahl hinterlassen haben. Die typische Moundpfeife besteht aus einem breiten und flachen, leichtgekrümmten länglichen Bodenstück und dem auf der Mitte desselben aufsitzenden Pfeifenkopf. Letzterer hat eine bis in das Bodenstück hinab- reichende Höhlung, die mit der engeren, durch die Achse der einen Basis- hälfte gelegten Bohrung kommuniziert; die andere Basishälfte ist un- durchbohrt und diente als Handgriff. Als Material der Pfeifen wurde mit Vorliebe der Catlinit (Pfeifenstein), ferner andere Arten von bunten Gesteinen, besonders ein rötlicher Porphyr, auch gebrannter Thon be- nutzt. Der Pfeifenkopf ist immer der künstlerisch bearbeitete Teil der Pfeife: Gegenstand der Darstellung sind Menschenköpfe (vier zum Teil recht charakteristische Darstellungen aus dem Pipe-mound in Mound city), ferner sehr verschiedene Tiere, wie Biber, Otter, Wildkatze, Adler, Habicht, Reiher, Eule, Rabe, Papagei (der auch noch in Ohio wild vor- kommen soll), Frosch etc. Andere Tiere sind weniger sicher zu identi- fizieren; am meisten Aufsehen machte darunter eine in 7 Exemplaren aus Mound city vorkommende Form, die man als Manati deutete. Sie stellte offenbar ein aus dem Wasser auftauchendes Tier vor, ob dies aber gerade ein Manati sein soll, wie Squrer annimmt, dürfte doch noch der Entscheidung eines Zoologen vom Fach zu überlassen sein. Ohne Zweifel beweisen diese Pfeifen eine sehr bemerkenswerte Künstlerschaft ihrer Verfertiger; wir müssen oft ebensosehr die natur- wahre Auffassung des dargestellten Gegenstandes als die technische Sicherheit der Hand und die liebevolle Ausführung bewundern; es ist als ob sich alle künstlerische Begabung und Handfertigkeit auf diese eine Spezialität konzentriert habe. Die betreffenden Tiere sind in Form, Aus- druck und Bewegung oft äusserst lebendig "erfasst und charakteristisch dargestellt. Um das richtige Mass für die Bedeutung dieser kleinen Kunstwerke zu finden, dürfen wir aber nicht vergessen, dass sie zum grössten Teil (gegen 200 Stück) in einem einzigen, dem sogenannten Opfer- Mound in der erwähnten Mound eity gefunden wurden. Wir dürfen die- selben also wohl alle unbedenklich auf einen gemeinsamen Ursprung, vielleicht auf eine einzige Künstlerfamilie oder selbst auf eine einzige Hand zurückführen, die ganz besonders in ihrer Kunst hervorragte. Sehen wir ab von den Pfeifen dieses einen Mound, so bleibt nur ein Rest übrig, den man im Vergleich zu jenen höchstens als handwerks- mässiges Mittelgut bezeichnen darf, der aber sicherlich einen richtigeren Massstab für das durchschnittliche künstlerische Können der Moundbuilders gibt als die weit vollendeteren Produkte eines hervorragenden Künstlers, mit welchen ein günstiges Geschick die hochverdienten Moundforscher wie mit einer Prämie ausgezeichnet hat. 96 E. Schmidt, Die Moundbuilders und ihr Verhältnis Wir müssen gleichsam als Anhang zu den kleineren Altertümern der Mounds noch der »inscribed tablets« gedenken, flacher Steine mit eingeritzten rohen Bildern oder alphabetähnlichen Zeichen, die der Zu- fall oder Betrug von Zeit zu Zeit allzu begeisterten Moundforschern in die Hände spielt. Was ist nicht alles aus diesen Steinchen herausgelesen worden! Der Fleiss (weniger der Scharfsinn) ist staunenswert, mit dem man sich abmühte, alle bekannten Alphabete der Welt durchzumustern, um einen Zusammenhang der Moundbuilders mit Völkern der alten Welt herauszufinden. Und wie schön wurde dieser Fleiss belohnt! Man hat glücklich: griechische, etruskische, altgallische, altpersische, phönizische, altbritische, keltiberische, hebräische, cypriotische, hittitische, ja selbst koreanische Zeichen auf diesen Steinchen herausgelesen, lange Inschriften Wort für Wort entziffert, die tiefsinnigsten Spekulationen über die ethno- logische Zugehörigkeit der Moundbuilders und ihrer Kultur daraus abgeleitet. Es braucht wohl kaum besonders hervorgehoben zu werden, dass keines dieser berüchtigten tablets unverdächtig ist, und dass alle, mit welchen sich die Kritik bisher ernstlich beschäftigt hat, sich als grobe Fälschungen erwiesen haben. Gehen wir nach der Betrachtung der Mound-Artefakte zu den uns erhaltenen Resten der Moundbuilders selbst über und zwar zunächst zu den Schädeln, so fällt uns sofort eine grosse Verschiedenheit in den An- sichten der einzelnen Moundkraniologen auf: so viel Autoren, so viel Meinungen! Jeder, der über Moundschädel geschrieben hat, schildert seine charakteristischen Eigenschaften anders; von dem in den Ancient Monuments Squiers abgebildeten Scioto-Moundschädel sagt Foster, dass er »vom echten Moundbuilderschädel in seinen charakteristischsten Zügen weit verschieden ist«. Morrons Moundschädel haben wieder andere Eigen- schaften, die zu Fosters Moundbuildertypus nicht passen, der Schädel des Grave creek mound >entspricht dem indianischen Typus«. Leider gibt Foster selbst kaum ein genügendes Bild von dem, was er unter dem echten Moundtypus versteht. Welcher Geist seine Behandlung dieser Fragen beherrscht, mag daraus hervorgehen, dass er uns an der Schädel- bildung demonstriert: »es ist zweifellos, dass die Moundbuilders sich weder durch grosse Tugenden, noch durch grosse Laster auszeichneten, sondern ein sanftes, friedfertiges Volk waren, das einem hinterlistigen, grau- samen Feind leicht unterliegen musste.« An einer anderen Stelle sagt er: »all’ diese Beispiele deuten auf niedrige intellektuelle Begabung, die nur wenig über die des Idioten hinausragte«, ganz im Widerspruch mit der hohen Meinung, die er sonst von den Trägern dieser Schädel hat. Alle früheren Beschreibungen der Moundschädel sind so vag, dass wir nicht viel damit anfangen können. Wirklich gute Arbeiten über Moundkraniologie besitzen wir nur von WymaAn, über 24 Moundschädel aus Kentucky, und von L. Carr, der eine grössere Anzahl (67) aus den Steingräbern Tennessees stammende Schädel untersucht und beschrieben hat. Beide Arbeiten beweisen uns eine ausserordentlich grosse Variabi- lität der Form, Breiten- und Höhen-Index schwanken in einem Masse, dass wir diese Schädel, obgleich an derselben Lokalität gefunden, doch nicht für einer einzigen Rasse zugehörig ansehen könnten, wenn nicht zu den historischen Indianern. 97 die Mehrzahl derselben offenbare Spuren künstlicher Verbildung aufwiese, so dass wir es bei ihnen nicht mehr mit natürlichen Formen zu thun haben. Die Mehrzahl der Moundschädel sind Kunstprodukte, unterworfen der Laune der Mode und des Zufalls, und daher in so hohem Grade variierend. Damit erklären sich auch einfach die einander so sehr wider- sprechenden Angaben früherer Autoren. Von den übrigen osteologischen Eigentümlichkeiten ist nur hervor- zuheben eine an vielen Tibien weit auseinander liegender Bezirke (Flo- rida, Kentucky, Tennessee und Michigan) beobachtete Abflachung, die besonders in Michigan stellenweise als hochgradige Platyknemie auftritt. Sehr kräftige Muskelansätze hat Wyuman bei den Schädeln alter Florida- Indianer gefunden, und unser Ecker hat ausserdem noch an einer An- zahl vom Verfasser in Florida ausgegrabener Moundschädel das häufige Vorkommen eines torus oceipitalis konstatiert. Es bleibt uns noch übrig, die Thatsachen ins Auge zu fassen, welche geeignet erscheinen könnten, Licht über das Alter der Mounds zu verbreiten. Auch hier ist man nicht immer ganz frei von vor- gefasster Meinung zu Werke gegangen: dieselbe Neigung, in den Mounds etwas sehr grossartiges zu erblicken, liess auch die zeitlichen Thatsachen bedeutender erscheinen, als sie es in der That sind: ist man doch so weit gegangen, die Mounds in eine geologisch abgeschlossene Periode hinauf- rücken zu wollen, eine Annahme, die man damit beweisen wollte, dass die Mounds sich nie auf der untersten Thalstufe befänden, sondern immer nur auf den höheren Terrassen der Thäler; man glaubte daher, dass seit der Errichtung der Mounds die ganze, sehr lange Zeit verstrichen sei, während welcher sich der Fluss bis zu seinem jetzigen Niveau all- mählich eingeschnitten habe. Eine einfachere Erklärung liegt viel näher: bei den starken Überschwemmungen jener Bezirke wird die unterste Thalsohle sehr gewöhnlich ganz mit Wasser bedeckt. Als ich im Früh- jahr 1870 die Thäler des Scioto, Miami etc. durchwanderte, war über- haupt von der untersten Thalterrasse nichts zu sehen, sie war eine einzige grosse Wasserfläche. Es war sehr natürlich, wenn die früheren Bewohner der Ringwälle ihre Hütten und ihre Gräber nicht den immer wiederkehrenden Zerstörungen des Wassers aussetzen wollten und sich aus diesem Grund auf den höheren Thalstufen ansiedelten. Etwas positiveren Anhalt für die Altersbestimmung der Mounds gewähren die auf ihnen wachsenden Bäume, bei welchen in manchen Fällen mehrere bundert, ja bis zu 800 Jahresringe gezählt worden sein sollen (wobei freilich in den meisten Fällen mehr eine hochgegriffene Schätzung, als eine exakte Zählung stattgefunden haben mag). Man war aber auch damit noch nicht zufrieden, sondern berechnete, dass nach der Verödung der Wälle zuerst lange Zeit verstrichen sein müsse, während welcher sie überhaupt keinen Baumwuchs getragen hätten; darauf sei eine Anzahl von Generationen aller möglichen gemischten Baumarten gekommen, und die auf den Mounds angetroffenen Bäume seien erst das Ergebnis einer, viele Generationen hindurch fortgesetzten natürlichen Auslese. Hier ist der Wunsch, den Mounds ein fabelhaftes Alter zu geben, der Vater des Gedankens gewesen. Es ist wohl kaum Kosmos 1884. I. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XIV.) t! 98 E. Schmidt, Die Moundbuilders ete. nötig, näher auf diese Ausführungen einzugehen; die Thatsachen sagen uns nur, dass auf einzelnen Mounds Bäume von hohem Alter standen; über das Alter der vielen Wälle und Mounds, welche keine grossen Bäume trugen, erfahren wir durch jene einzelnen Fälle nichts. Von vornherein aber ist es ja wahrscheinlich, dass die ganze Periode, innerhalb welcher Mounds gebaut wurden, nicht in einer kurzen Spanne Zeit eingeschlossen ist; es gibt selbstverständlich ältere und jüngere Mounds, und die ältesten mögen wohl manches Jahrhundert vorüberziehen gesehen haben. Das schliesst aber doch nicht aus, dass nicht lange nachher, ja bis in die historische Zeit hinein, Mounds gebaut worden sein können. Auch der Erhaltungszustand der in den Mounds bestatteten Skelette ist nur ein ganz unzuverlässiges Mittel zur Schätzung des Alters. Der geringe Gehalt der Knochen an organischer Substanz ist ein um so wert- loseres Kriterium, als in den Mounds sehr häufig Feuereinwirkung zu er- kennen ist. Und überdies sind die Knochen noch gar nicht einmal immer so stark verwittert, als man nach den häufigen Angaben von Antiquitätenjägern glauben sollte: gute Forscher, wie PurnAM, CARR etc. haben ganz stattliche Reihen von wohlerhaltenen Schädeln und anderen Knochen den Mounds entnommen. Für die Annahme eines hohen Alters der Mounds hat man endlich noch den Grund ins Feld geführt, dass sich keine europäischen Artikel in den Mounds fänden, sowie dass die Tradition vollständig schweige über diese Erdwerke. Es sei uns gestattet, später noch näher auf die Frage nach dem Alter zurückzukommen; hier genüge nur die Andeutung, dass beides nicht richtig ist: bei den verschiedensten Indianern haben sich Traditionen über die Moundvölker erhalten, und in den Gegenden, in welchen frühzeitig ein Verkehr mit den Weissen stattfand, sind euro- päische Waren, glasierte Töpfe, Metallgegenstände, Glasperlen etc. keine Seltenheit in den Mounds. Ja noch mehr: sehr zahlreich sind die Fälle, wo uns europäische Reisende Augenzeugnis hinterlassen haben von der Errichtung von Mounds aller Kategorien. /iehen wir das Fazit aus dem, was uns die Beobachtung lehrt: Die Mounds wurden von ganz verschiedenen, sesshaften Stämmen errichtet; diese hatten die mehr zentralen Teile des Mississippi-Gebietes, z. B. in Ohio dicht besiedelt, sie wohnten hier in befestigten Dörfern. Über die Form ihres Staatswesens sowie über ihr religiöses Leben geben uns die Mounds keine Aufschlüsse. Die Kulturstufe der Erbauer der Mounds ist charakterisiert einerseits durch die Ausübung eines ausgedehnten Feld- baues, anderseits durch den Mangel der Kenntnis, Metall zu giessen. In der Kunst des Webens und der Töpferei waren einige Fortschritte gemacht; einzelne künstlerische Leistungen, besonders in kleinern Stein- skulpturen, ragen weit über das nur mittelmässige Durchschnittsniveau ihrer bildenden Kunst hinaus. Die Schädel sind zum grössten Teil Arte- fakte, künstlich verunstaltet, wie so viele Schädel Amerikas. Die Zeit der Mounds reicht wahrscheinlich eine Reihe von Jahrhunderten über die Entdeckung der neuen Welt zurück, anderseits aber bis in die historische Epoche Nordamerikas herab. (Schluss folgt.) Mehrzehige Pferde. Von Dr. H. von Ihering. (Hierzu 1 Holzschnitt.) Die Frage der Polydaktylie lebender Pferde ist im »Kosmos« wieder- holt und eingehend behandelt worden. Der im folgenden erwähnte, von mir beobachtete Fall würde daher kaum zu einer speziellen Mitteilung mich haben veranlassen können, wenn nicht einige besondere und wohl neue Momente hierbei geltend gemacht werden könnten. Es ist mir in den 3!/g Jahren meines Verweilens in Rio Grande die Polydaktylie der Pferde so häufig entgegengetreten, dass ich not- wendig auf die Idee kommen musste, dieselbe sei hier, resp. in den ge- mässigten Teilen von Südamerika, relativ viel häufiger anzutreffen als in Europa. Ich habe in der That kaum mit irgend einem vielgereisten Kenner des Landes hier über diese Angelegenheit verhandeln können, der nicht mehrere hierher gehörige Fälle, zum Teil bis 6 und mehr der- selben beobachtet hätte. Mir selbst kam nur der umstehend abgebildete Fall zur Beobachtung. Die Vermehrung betraf die Vorderfüsse und es war die 2. Zehe, also die innere, welche überzählig ausgebildet war. Diese abnormen Gebilde waren verhältnismässig sehr stark entwickelt, indem die Nebenhufe 87 mm lang und 35 mm breit waren. Sie be- rührten den Boden nicht und schlotterten ziemlich locker am Haupthufe herum. Der Mann, ein Passant vom Hochlande, bot mir, als er mein Interesse an der für ihn nichts weniger als erwünschten Abnormität be- merkte, das Tier zum Kauf an, und es reizte mich wohl momentan der Gedanke, dass solch’ ein »Cavallo a seis cascos« ein ganz passendes Leibross für einen Jünger Darwıns sein müsse. Doch machte rasch der Gedanke, dass hier das utile cum dulei sich nicht decke, der Lust ein Ende. In der That ist nach übereinstimmender Versicherung aller, die solche Tiere kannten oder ritten, das Reiten, zumal in hohem Grase, mit ihnen lästig und selbst unsicher. In den meisten Fällen ist die Polydaktylie die gleiche wie die hier beschriebene, aber ein Fall wurde mir von einem achtzehigen Pferde berichtet. Dass es immer die innere Zehe des Vorderfusses ist, welche wieder erscheint, spricht für Hexsets Ansicht, wonach die innere Zehe des Vorderfusses zuletzt verloren gegangen sei. Niemals wurde hier Polydaktylie am Maultier gesehen, trotzdem die Zahl der mulas (Esel- hengst und Pferdestute) zumal auf dem Hochlande, wo ihre Zucht noch 100 H. von Ihering, Mehrzehige Pferde. in Blüte steht, eine sehr grosse ist. Dagegen sind an den hiesigen Maultieren auffallend die schwarzen Zeichnungen, der fast regelmässig vorhandene breite mediane Rückenstreifen und die häufig zu beobach- tenden schwarzen Ringel an den Vorderbeinen. Streifen an der Körper- seite, über ‘den Rippen, kommen aber soviel ich weiss nicht vor. Wenn ich die verhältnismässig grosse Zahl der sechszehigen Pferde, von denen ich erfuhr, und die mutmassliche Gesamtzahl der Pferde Rio Grandes in betracht ziehe, so muss ich die Häufigkeit des Vorkom- mens der Polydaktylie auf etwa 1 zu 100000 taxieren. Das ist ein relativ hohes Verhältnis. Wenn man auch nur auf 200 000 Pferde einen Fall zugeben wollte, so würde das, auf deutsche Verhältnisse übertragen, immerhin voraussetzen, dass solcher 6zehiger Pferde zur Zeit in Deutsch- land mindestens 20 existieren, was schwerlich auch nur annähernd der Wirklichkeit entsprechen möchte. Es drängt sich hierdurch der Gedanke auf, ob das nur Zufall sei oder ob nicht doch hier eine Kontinuität in der Lebensreihe von Zguus, wenn auch nur in wenigen Gegenden und in beschränktem Masse bestanden habe, welche den Entdeckern und ersten Besiedlern des Landes, durch welche Pferde eingeführt wurden, entgangen sein könnte. Jedenfalls existierte im Pleistocän das Pferd noch in Rio Grande, da ich aus alluvialem Boden Pferdezähne &rhielt, die beim Graben eines Brunnens gefunden worden und bis in die kleinsten Details mit den entsprechenden Zähnen von Zguus caballus übereinstim- mend waren. Möglich wäre es ja immerhin, dass unter den für »ver- wildert< gehaltenen Pferden Südamerikas auch noch Reste des alluvialen einheimischen Pferdes sich befunden hätten. Sei es zum Schluss noch gestattet, die Atavismusfrage kurz zu berühren. Die Wiederkehr der in der Stammesgeschichte des Pferdes H. von Ihering, Mehrzehige Pferde. 101 uns entgegentretenden inneren (zweiten) Zehe ist an und für sich ohne Zweifel als Atavismus aufzufassen. Gleichwohl wird man das nicht in so weitem Umfange anzunehmen haben, dass man auch Grösse, Form etc. dieser accessorischen Zehe als genau mit der einst vorhandenen über- einstimmend anzusehen hätte. Es ist schwerlich anzunehmen, dass die verschwundene zweite Zehe der Vorfahren unseres Pferdes ein so unbe- quemes und störendes Glied gewesen, wie die abnorm wiederkehrende es ist. Die Wiederanlage dieser Zehe ist demnach ein Fall von Resti- tutions-Atavismus, da sie ja normaler Weise beim Embryo nicht angelegt ist. Da meine bezüglichen Erörterungen über Atavismus an einer Stelle sich finden, wo sie wenige suchen würden, nämlich in der Vorrede zu meinem Werke über »das peripherische Nervensystem der Wirbeltiere und die Regionenbildung der Wirbelsäule< (Leipzig 1878), so lasse ich hier den betreffenden Passus in Wiederholung folgen. Es zeigt sich nämlich, heisst es da bezüglich der Homologie der Segmente, dass bei einem Individuum einer Art ein ganzes Segment vor- handen sein kann, welches bei dem anderen überhaupt kein Homologon besitzt, etwa wie einer der Arme eines sechsarmigen Seesterns bei den mit 5 Antimeren versehenen Individuen kein Homologon hat. Häufig ist der Ausfall oder das Auftreten des betreffenden Segmentes in ata- vistischem Sinne zu verstehen. So ist für die Säugetiere die ursprüng- liche Zahl der dorsolumbalen Wirbel 19 und zwar ist für die placentalen Säugetiere das bei den Beuteltieren bestehende Verhalten der Ausgangs- punkt, wobei 13 dorsale und 6 lumbale Wirbel existieren. Wenn nun für eine beliebige Art das Vorhandensein von 12 dorsalen und 6 lum- balen Wirbeln die Regel bildet, so ist das ausnahmsweise Wiederkehren des 13. Dorsalwirbels als Atavismus zu deuten. So z. B. beim Lemming. Ich bezeichne diese Form des Atavismus als Restitutions-Atavis- mus, bei welchem es also zur ausnahmsweisen Ausbildung eines für ge- wöhnlich nicht vorhandenen und auch embryonal nicht angelegten Teiles kommt. Ihm steht entgegen der Retentions-Atavismus, bei wel- chem durch Persistenz und Weiterbildung eines normalen Embryonal- stadiums die frühere phylogenetische Stufe wieder erscheint. Hierhin ist z. B. zu rechnen die Ausbildung des 13. Rippenpaares des Menschen oder die Ausbildung des ersten Sakralwirbels des Menschen als letzten oder 6. Lendenwirbel. Die meisten Atavismen sind Retentions-Atavis- men. Die Zahl der mir bekannten Fälle von Restitutions-Atavismen ist bis jetzt nicht gross, doch sei hier daran erinnert, dass das Auf- treten von links gewundenen Schnecken in sonst rechtsgewundenen Gat- tungen und Arten eine auf Situs inversus zurückzuführende Abnormität darstellt, wogegen das Auftreten rechtsgewundener Exemplare in links- gewundenen Arten als Restitutions-Atavismus zu bezeichnen ist. Taquara do Mundo novo. Prov. Rio Grande do Sul (Brasilien). 28. November 1883. Zoogeographische Übergangsregionen. Von ©. J. Forsyth Major in Porto Santo Stefano, Toscana. Es verhält sich mit organogeographischen Regionen ähnlich wie mit den Abteilungen der Systematik; je nach dem Standpunkt des be- treffenden Forschers und je nach dem Standpunkte des Wissens werden dieselben mehr oder weniger natürlich ausfallen. Die heute ziemlich allgemein von den Zoologen angenommenen tiergeographischen Regionen sind die bereits 1857 von SCLATER vor- geschlagenen ornithologischen Provinzen, welche von WALLACE in seinem grossen Werke »The Geographical Distribution of Animals« mit geringen Modifikationen adoptiert wurden und sich infolge dessen rasch in der zoologischen Litteratur eingebürgert haben. Es sind die folgenden sechs: 1) Die paläarktische Region: Europa, gemässigtes Afrika bis zum Wendekreis des Krebses, gemässigtes Asien. 2) Die äthiopische Region: Afrika und Arabien südlich vom Wendekreis des Krebses, Madagaskar und die Maskarenen. 3) Die orientalische Region (indische ScrArzzs): Indien südlich vom Himalaya, Sundainseln bis Bali, Borneo, Philippinen. 4) Die australische Region: Von Celebes und Lombok an nach Osten: Australien, Neuseeland und Polynesien. 5) Die neoarktische Region: Grönland, Nordamerika bis Nord- mexiko. 6) Die neotropische Region: Tropisches Nordamerika, West- indien und Südamerika. Was die Grenzen der einzelnen Regionen betrifft, so geht schon aus den Prinzipien, auf welchen die neuere Organogeographie beruht, hervor, dass in den meisten Fällen von scharfer Abgrenzung derselben gegen einander keine Rede sein kann. Aber, wie Ep. v. MARTENS sagt, »der menschliche Verstand sucht für seine Abstraktionen bestimmte Gren- zen<. Wauuack hat überall scharfe Grenzen gezogen. Dabei stützt er sich in einzelnen Fällen allerdings auf die Annahme einer durchgreifenden Verschiedenheit der diesseits und jenseits der Grenzlinie befindlichen Fau- nen. So in dem berühmt gewordenen Beispiel von Bali und Lombok, zwei Inseln des malaiischen Archipels, die am schmälsten Punkte des sie trennenden Kanals nicht mehr als 15 engl. Meilen von einander ent- fernt sind und dennoch nach WAuLAcH grosse Verschiedenheit der beider- Forsyth Major, Zoogeographische Übergangsregionen. 103 seitigen Faunen, namentlich der Vögel darbieten. Demgemäss zieht WALLAcE auch die Grenze zwischen australischer und orientalischer Region zwischen diesen beiden kleinen Inseln durch; und weiterhin westwärts von Celebes. In andern Fällen ist die Annahme einer bestimmten Grenz- linie mehr aus praktischen Gründen motiviert; so bei der Verteilung der arktischen zirkumpolaren Fauna auf die paläarktische und die neoark- tische Region; oder bei der Annahme des Wendekreises des Krebses für die Trennung der paläarktischen von der äthiopischen Region; obwohl den ersteren Fall betreffend zugestanden wird, dass die Zirkumpolarzone paläarktischer und neoarktischer Region gemeinsam sei!; und in betreff des letztern, dass die grosse vom Atlantischen Ozean durch Arabien nach Zentralasien sich erstreckende Wüstenzone ein Verbindungsglied sei zwi- schen den paläarktischen, äthiopischen und orientalischen Regionen und eine Anzahl von ganz oder doch fast ganz auf dieses Gebiet be- schränkten Wüstenformen enthalte. Unsere Ansicht geht dahin, dass, wo solche Übergangsgebiete exi- stieren, dieselben gebührend berücksichtigt werden sollten, auch auf den organogeographischen Karten, da sonst ganz unrichtige Vorstellungen von geographischer Verteilung der Organismen verbreitet werden. Prak- tische Gründe sollten dabei in letzter Linie in Betracht kommen. Wenn eine Einteilung auf die Bezeichnung »natürlich«< Anspruch haben soll, so können keine Bedenken äusserer Natur, wie Zahl oder Ausdehnung der einzelnen Regionen, Übersichtlichkeit derselben auf den betreffenden Karten u. s. w. in Berücksichtigung kommen. Was letzteren Punkt betrifft, so sollte durch die Farbe des Übergangsgebietes angedeutet sein, zwischen welchen Regionen dasselbe intermediär ist. Alle Einzelheiten können selbstverständlich auf einer Karte nicht zur Darstellung kommen, ganz abgesehen davon, dass die Menge des darzustellenden Details sich nach den Dimensionen jener wird zu richten haben. Wie viel in dieser Be- ziehung, bei einiger Geschicklichkeit des Kartenstechers geleistet werden kann, beweist die Karte der zoologischen Regionen in Wartvaczs Is- land Life? die, in Kleinoktavformat, durch verschiedene Schraffierung einer ee. Farbe (Sepia) die sechs zoologischen Regionen in der an- schaulichsten Weise darstellt. Das Mittelmeergebiet wird von WALLACE als Unterregion der paläarktischen Region betrachtet und demselben folgende Ausdehnung gegeben: Alle Länder Europas südlich der Pyrenäen, der Alpen, des Balkans und des Kaukasus; alle südlichen Mittelmeerküsten bis zum Atlas und über denselben hinaus, einschliesslich des extratropischen Ge- biets der Sahara und des zweiten Nilkatarakts. Nach Osten die Nord- hälfte Arabiens, ganz Persien, Beludschistan und Afghanistan bis zu den Ufern des Indus. Heutigen Tages kann die Organogeographie, so wenig als die Sy- stematik, der Paläontologie entraten, welche uns für viele rätselhaft erscheinende Fälle heutiger Verbreitung den Schlüssel in die Hand gibt ! Geographical Distribution of Animals II, p. 135. — ? id. ib. I, p. 69—71. 3 . — °? p. 30-31. 104 Forsyth Major, Zoogeographische Übergangsregionen. und welche uns daher auch als Ausgangspunkt bei der folgenden Be- trachtung dient. i Noch zur Pliocänzeit erstreckte sich die orientalische Region in weiter Ausdehnung nach Westen, wohl über den grössten Teil der heu- tigen paläarktischen Region. Die ältere siwalische Säugetierfauna kann über Nordafrika und Europa bis nach Spanien verfolgt werden; aber auch die jüngere siwalische Fauna, welche wenig Abweichung zeigt von der heutzutage in der orientalischen Region und — für eine Anzahl Formen — speziell in der indomalaiischen Unterabteilung derselben noch fort- dauernden Säugetierfauna!, ist identisch mit der Valdarnofauna, die ihrerseits, ausser in Oberitalien (Asti), noch in Frankreich (Auvergne) und England vertreten und auch in Nordafrika neuerdings zum Vorschein gekommen ist und Überreste, in etwas veränderter Form, im Quaternär von ganz Europa und Nordafrika zurückgelassen hat”. Zum Teil der Eiszeit, zum Teil dem direkten und indirekten Einfluss des Menschen müssen wir es zuschreiben, dass die Säugetiere von pliocänem Typus fast ganz vom Boden des heutigen Europa und teilweise aus der Mittel- meerregion überhaupt verschwanden, während sie einerseits im Süden, wo sie fast den ganzen afrikanischen Kontinent überschwemmt haben, anderseits im Osten, in der orientalischen Region fortexistieren. Die gegenwärtig bestehende fast vollständige Trennung dieser beiden Gebiete datiert aus relativ sehr junger Zeit, infolge stattgefundener Versenkungen im heutigen Mittelmeere® und der sehr späten Bildung des Golfs von Suez und des roten Meeres“. Es wird gewöhnlich angenommen, das tropische Afrika habe wäh- rend des Eocäns einen Insel-Kontinent gebildet, ähnlich wie heute Neu- holland, sei demnach von Europa und Asien durch das Meer getrennt gewesen®. Durch Hebung des Nummuliten-Meeres während der Miocän- Periode soll dann eine Verbindung zwischen Dekkan und Afrika, etwa in der Richtung einer Linie zwischen Abessinien und der Gangesmündung hergestellt worden sein, wodurch den miocänen Säugetieren ermöglicht wurde, Afrika zu besiedeln ®. Dagegen ist zu bemerken, dass die hier in erster Linie in Betracht kommenden Säugetiere Afrikas und Asiens unter sich und mit den plio- cänen, ja selbst postpliocänen Faunen Europas, Nordafrikas und Indiens mehr Übereinstimmung zeigen als mit den miocänen. Ebensowenig ist der Hinweis auf die Pikermifauna, von der ein Teil der heutigen äthio- pischen Säugetierfauna abgeleitet wird, statthaft, obgleich wir demselben oft begegnen; denn einmal haben wir Pikermisäugetiere viel näher (in Spanien, Italien, Oran, Constantine), und zweitens steht, wie ich schon an ! cf. Forsyth Major, Die Tyrrhenis u. s. w., „Kosmos“ Bd. XII, 1883, p- 3, 4. 3 „Tyrrhenis“, p. 4, 5. 3 ib. passim. — M. Neumayr, Zur Geschichte d. östl. Mittelmeerbeckens. Berlin 1882, p. 13 fgg. * Neumayr, ib. p. 19 fgg. ° Wallace, Island Life, p. 390. ® Huxley, Anniversary Address to the Geological Society, 1870. Forsyth Major, Zoogeographische Übergangsregionen. 105 einem andern Orte hervorgehoben habe', die Pikermifauna den heute lebenden afrikanischen und indischen Säugetieren zeitlich und morpho- logisch ferner als diese den jüngerpliocänen (Valdarnofauna) und post- pliocänen. Die pikermischen Antilopen sind fast sämtlich ausgestorbene Typen; Camelopardalis attica weicht von der lebenden Giraffe mehr ab als die jünger tertiären Formen dieses Genus; Elephas und Equus sind im Horizonte von Pikermi noch nicht vorhanden, sie erscheinen zum erstenmal in dem Horizont der Valdarnofauna. In ersterem sind aller- dings die Genera KRhinoceros, Sus, Hippopotamus, Hyaena, Felis ete. be- reits vertreten, aber die in Afrika und Asien lebenden Repräsentanten dieser Genera finden sich daselbst unter Formen, die den gleichnamigen des Pliocäns im Valdarno und gleichaltrigen Ablagerungen näher stehen als denen von Pikermi. Ebenso müssen wir eine vollständige Trennung des tropischen Afrikas von Nordafrika und Europa während des Eocäns, als nicht im Einklang stehend mit den jetzt bekannten Thatsachen, ablehnen. Denn wie wäre sonst das Vorkommen lebender Säugetiere von eocänem Ge- präge in der äthiopischen Region und hauptsächlich in Westafrika zu erklären ? Der grösste Teil der Sahara war seit dem Ende der Kreide trocken gelegt, das rote Meer, wie schon erwähnt, bis zur jüngsten Ver- gangenheit nicht vorhanden. Seit Ende der Kreide bestand also eine Verbindung der äthiopischen Region mit Europa und Asien und war somit ein Austausch der beiderseitigen Tierbevölkerungen möglich”; und es müssen diese Verhältnisse ohne oder doch nur mit kurzen Unter- brechungen bis zum Postpliocän bestanden haben. Demgemäss finden wir auch in der heutigen äthiopischen Fauna, wie in der orientalischen, eocäne, miocäne und pliocäne Typen. Zu letztern, die über die miocänen weit vorwiegen, sind zu rechnen unter Säugetieren die afrikanischen Formen von Hystrix, Camelopardalis, Bu- balus, Antilopen, Elephas, Equus, Rhinoceros, Sus, Hippopotamus, Hyaena, Felis etc. Wir sagten oben, die Säugetiere von pliocänem Typus seien fast ganz aus Europa verschwunden. In der heutigen terrestren Säugetier- fauna Italiens zähle ich, mit Absehen von den zum Teil kosmopolitischen Fledermäusen, 5l Arten, von welchen 10, also 19,6 °/o, nördlich der Alpen nicht einheimisch sind. Wir dürfen also wohl annehmen, dass diese 10 kein paläarktisches Element der Fauna Italiens sind; um so mehr, da die Mehrzahl derselben ihre Erhaltung offenbar nur den isolier- ten Wohnorten verdanken? und durch ihre sonstige Verbreitung und Verwandtschaften teilweise sowohl nach Süden als nach Osten weisen. Es sind die 10 folgenden: Schakal (Dalmatien), Boccamela, sardisches Wildschwein, sardischer Hase, Kaninchen, Stachelschwein, Pachyura suaveolens, Cervus corsicanus, Damhirsch, Mouflon. ! Studien zur Geschichte der Wildschweine (Gen. Sus). Sep.-Abdruck aus Zoolog. Anzeiger 1883. Nr. 140. p. 5. ® Hauptsächliches Hindernis eines ungestörten Austausches war und ist die Wüste; in absoluter Weise aber wohl nur für wenige Formen, wie Ursus und Cervus. ® Vergl. „Tyrrhenis“, p. 2—10. 106 Forsyth Major, Zoogeographische Übergangsregionen. Unsere Kenntnis von der Säugetierfauna der übrigen Mittelmeer- länder ist einstweilen, was die kleinern Formen betrifft, noch zu lücken- haft, als dass es mir möglich wäre, in ähnlicher Weise wie für Italien auf Genauigkeit Anspruch machende Prozentzahlen zu liefern. Aus Gründen, die anderswo dargelegt wurden!, ergibt sich, dass für Italien die Bedingungen für Erhaltung alter Formen ungünstiger sind als für die übrigen Mittelmeerländer. Spanien z. B. hat mit Italien die grosse Mehrzahl der oben genannten Säugetiere gemein; sicher fehlen ihm der Schakal und der Mouflon, welch’ letzterer seit Puixıus, aber mit Unrecht, als in Spanien lebend genannt wird. Dazu kommen noch der Affe von Gibraltar, eine oder vielleicht zwei Arten von Herpestes, die Viverre, zwei Formen einheimischer Steinböcke, und ohne Zweifel bei genauerer Durchsuchung noch andere Formen. Zur herpetologischen Fauna übergehend, können wir auch für diese einstweilen keine genaue Statistik der ganzen Mittelmeerregion geben. Wir müssen uns daher auf einige genauer erforschte Gebiete beschränken; für unsern Zweck wird dies aber genügen. Mit Absehung von den Meerschildkröten zähle ich in Italien 53 Reptilien und Amphibien (40 Reptilien, 15 Amphibien), von welchen beinahe die Hälfte, d. h. 26, die Mittelmeerregion nach Norden nicht überschreiten. Es sind die folgenden: 1. Coelopeltis lacertina. 14. Lacerta ocellata. 2. Elaphis cervone. 15. Notopholis Fitzingeri. 3. Zamenis (Periops) hippocrepis. 16. Phyllodactylus europaeus. 4. Callopeltis quadrilineatus. 17. Hemidactylus verruculatus. 5. Rhinechis scalaris. 18. Platydactylus facetanus. 6. Coronella cucullata. 19. Testudo graeca. 7. Coronella girondica. 20. Proteus anguinus (Dalmatien). 8. Seps chaleides. 21. Euproctus Rusconü. 9. Seps (Gongylus) ocellatus. 22. Geotriton fuscus. 10. Acanthodactylus vulgaris. 23. Salamandrina perspieillata. 11. Psammodromus hispanicus. 24. Salamandra_ corsica. 12. Lacerta oxycephala. 25. Pelodytes punctatus. 13. Lacerta taurica®. 26. Discoglossus pictus. Von diesen 26 Arten werden die folgenden fünf auch aus der äthiopischen Region citiert: 1) Coelopeltis lacertina: ‘afrika (GÜNTHER). 2) Seps chalcides: Südsanara (TrısrrAam). 3) Seps (Gongylus) ocellatus: Arabien, Sennär (Dr Brrra); Abessi- nien (LICHTENSTEIN, GÜNTHER). 4) Hemidactylus verruculatus: Sennär (DE BerrA). 5) Platydactylus facetanus: Südsahara (Trısrram), Abessinien (Lıc#- TENSTEIN). Wahrscheinlich überschreiten den Wendekreis auch Coronella cucul- lata, Lacerta ocellata und Bufo viridis, die von TrıstrAm in der Süd- sahara gefunden worden sind. ! „Tyrrhenis“, p. 1. — ? Es scheint mir natürlicher, die Krim zur Mittelmeer- region zu rechnen. Forsyth Major, Zoogeographische Übergangsregionen. 107 In demjenigen Gebiete der Mittelmeerprovinz also, welches durch seine Säugetiere und unzweifelhaft auch in anderer Beziehung noch am meisten Züge mit der übrigen paläarktischen Region gemein hat, finden wir beinahe 50 °/o seiner herpetologischen Fauna von jener ausgeschlossen, und jedenfalls 9,43 °/o, wahrscheinlich aber 15,09 °/o mit der äthiopi- schen Region gemeinsam. Wenden wir uns nun zu einem zweiten Gebiet der Mittelmeer- provinz, welches der äthiopischen Region näher liegt. Von Marokko sind in bezug auf seine herpetologische Fauna einstweilen nur erforscht die Küstengegenden Tanger, Tetuan, Casablanca, Mogador, sowie die ‘ Route zwischen Mogador und Marokko. Der Atlas, Südmarokko und somit die Wüstenregion sind so gut wie unbekannt. So erklärt es sich auch, warum die Wüstenformen und überhaupt äthiopische Arten so spärlich in den bisherigen Publikationen figurieren. Die neueste Ab- handlung Börrgers! weist 40 Reptilien und Amphibien (33 Reptilien, 7 Amphibien) in Marokko nach, von welchen 27, also 55 °/o zugleich Bewohner des südlichen Spaniens sind?. Über das Mediterrangebiet hin- aus nach der übrigen paläarktischen Region sind die folgenden sieben verbreitet (17,5 °/o) und also 82,5 °/o von derselben ausgeschlossen. l. Zamenis viridiflavus. 5. Bufo vulgaris. 2. Tropidonotus viperinus. 6. Hyla viridis. 3. Lacerta muralis. 7. Rana_ esculenta. 4. Bufo viridis. Von den soeben genannten hat die Mehrzahl eine sehr weite Ver- breitung in der alten Welt. Bufo viridis und Rana esculenta greifen wahrscheinlich auch auf die äthiopische Region über, da sie von TrıstRAM in der Südsahara gefunden worden sind, anderseits sind diese beiden, sowie auch BDufo vulgaris und Hyla viridis, bis China und Japan ver- breitet. Mit Sicherheit aus der äthiopischen Region bekannt sind einstweilen nur die folgenden acht Mitglieder der marokkanischen herpetologischen Fauna: 1) Zamenis (Periops) Clitfordi: Nubien (LicHtTenstein), Westafrika (GÜNTHER). 2) Coelopeltis lacertina: Westafrika. ı 3) Naja haje: Nubien (Lic#texstein), Sennär (Peters), weisser Nil (Dumsrın u. Bısron), Kapland (Surrn, F. Müuter), Goldküste (Jan), Guineaküste (A. Dum.), Gabon (HarLowzr), Senegal (Dum. u. BIBRON, STEINDACHNER etc.). 4) Vipera arietans: In Marokko aus dem Thal Sus südlich vom Atlas, Senegal (Dun. u. Bıer., Srempachner), Sierra Leone (SmerH), Goldküste (SchLEGEL), Unter-Guinea (GÜNTHER, BARBOZA), ganz Südafrika (Surr#), Kapland (Schuecer, F. MÜLLER) etc. ı O. Böttger, Die Reptilien und Amphibien von Marokko, II. Abhandl. d. Senkenb. naturf. Gesellsch. Bd. XIII. 1. Frankfurt a. M. 1883, p. 93—146. — Siehe auch O. Böttger, Reptilien von Marokko und von den Kanarischen Inseln. ib. Bd. IX. Frankfurt a. M. 1874. 2 L.:c. p. 146. 108 Forsyth Major, Zoogeographische Übergangsregionen. 5) Seps (Gongylus) ocellatus: Sennär, Abessinien. 6) Seps chaleides: Südsahara. 7) Platydactylus facetanus: Südsahara, Abessinien. 3) Chamaeleo vulgaris: Südsahara (Trıstram), Nubien (LicHTENSTEIN), Abessinien (Rürren und A. Dunkrıv), Gebiet des weissen Nil (A. Dumekır). Aber wie gesagt ist die Wüstenregion Marokkos im Süden des Atlas noch gänzlich unerforscht und die vorstehenden acht Formen können demnach keineswegs als der prozentische Ausdruck des äthiopischen Ele- ments in der marokkanischen Fauna gelten. Das besser erforschte Algerien gibt uns schon einen ganz an- dern Massstab an die Hand. Die herpetologische Fauna Algeriens ist von Strauch bearbeitet worden!; bei der folgenden Darstellung ist STRAUCHS Abhandlung zu Grunde gelegt, mit Berücksichtigung der seither dazu gekommenen neuen Formen und der kritischen Bemerkungen Börtgers”. Ich zähle, nach Hinweglassung der Meerschildkröte, Chelonia corticata Roxp., 76 Reptilien und Amphibien in Algerien. Von diesen hat die algerische Fauna mit der Italiens gemeinsam die folgenden 27, also 35,52 Ye: 1. Cistudo europaea. 15. Tropidonotus natrix. 2. Platydactylus facetanus. 16. Tropidonotus viperinus. 3. Hemidactylus verruculatus. 17. Periops hippocrepis. 4. Phyllodactylus europaeus. 18. Rhinechis scalaris. 9. Lacerta ocellata. 19. Coelopeltis lacertina. IX oO Vipera aspis. Rana esculenta. Discoglossus pietus. Hyla arborea. Bufo vulgaris. Bufo viridis. Salamandra corsica. Euproctus Rusconii. 6. Lacerta muralis. 7. Acanthodactylus vulgaris. 8. Pseudopus Pallasii. 9. Seps (Gongylus) ocellatus. 10. Seps chaleides. 11. Anguis fragilis. 12. Psammodromus hispanicus. 13. Coronella girondica. 14. Coronella cucullata. Die mediterrane Provinz überschreiten nach Norden und finden sich auch in der übrigen paläarktischen Region die folgenden zehn: — > D Dvyvyygy DD oh or a | 1. Cistudo europaea. 6. Vipera aspis. 2. Lacerta muralis. 7. Rana esculenta. 3. Anguwis fragilis. S. Hyla arborea. 4. Tropidonotus natrix. 9. Bufo vulgaris. 9. Tropidonotus viperinus. 10. Bbufo viridis. Also sind, wenn von der mediterranen Provinz abgesehen wird, nicht weniger als 66 Vertreter der algerischen herpetologischen Fauna, oder 86,84 °/o von der übrigen paläarktischen Region ausgeschlossen, während doch Algerien zu dieser gezählt wird”. ı Alexandre Strauch, Essai d’une Erpetologie de l’Algerie (Memoires de l’Acad. Imper. des Sciences de St. Petersbourg, VII. Serie, Tome IV, Nr. 7, 1862), ” Abh. d. Senkenb. naturf. Gesellschaft XIII. 1. Frankfurt a. M. 1883, p. 141. ® Ich gebe im folgenden das Verzeichnis der erwähnten 66 Arten: 1. Testudo campanulata. 2. T. ibera. 3. Clemmys caspia. 4. Chamaeleo vulgaris. 5. Platy- Forsyth Major, Zoogeographische Übergangsregionen. 109 Die folgenden 11 werden ausdrücklich als auch innerhalb der äthio- pischen Region lebend aufgeführt: 1) Chamaeleo vulgaris. 2) Platydactylus facetanus. 3) Hemidactylus verruculatus. 4) Agama colonorum Daun».: Senegal, Guinea, Abessinien!. 5) Acanthodactylus Savignyi Au».: Senegal. 6) Seincus offieinalis Laur.: Südalgerien (Trısrram), Nubien, Abes- sinien. 7) Sphenops capistratus Frrz.: Senegal. 8) Seps (Gongylus) ocellatus. 9) COoelopeltis lacertina. 10) Seps chaleides. 11) Zamenis (Periops) Clitfordi ScHu£e. Diese 11 Arten repräsentieren aber ohne Zweifel nicht die Prozent- zahl der Algerien mit der äthiopischen Region gemeinsamen Formen. Es ist bei der Gleichförmigkeit der Wüstenfauna von vornherein im höchsten Grade wahrscheinlich, dass sämtliche aus dem Süden Alge- riens bekannten Wüstenformen auch die konventionelle Grenze zwischen paläarktischer und äthiopischer Region überschreiten, so dass voraus- sichtlich noch die folgenden 18 südalgerischen Reptilien und Amphibien sich auch südlich vom Wendekreis finden werden: 1. Varanus Seincus. 10. Acanthodactylus lineo-maculatus. 2. Ayama Bibroni. 11. Eremias pardalis. 3. Agama agilis. 12. Euprepes vittatus OLLIv. 4. Agama ruderata. 15. Euprepes Savignyi. 5. Agama Tournevillei LATASTE. 14. Simotes diadema. 6. Uromastix spinipes. 15. Coronella cucullata. 7. Uromastix acanthinurus. 16. Zamenis florulentus SCHLEG. 8. Lacerta ocellata. 17. Psammophis sibilans. 9. Acanthodactylus scutellatus. 18. Bufo viridis. dactylus facetanus. 6. Hemidactylus verruculatus. 7. Phyllodactylus europaeus. 8. Gymnodactylus mauritanicus. 9. Stenodaciylus guttatus. 10. Varanus Sceincus. 11. Agama colonorum. 12. A. Bibroni. 13. A. agilis. 14. A. ruderata. 15. A. Tour- nevillei LAT. 16. Uromastix spinipes. 17. U. acanthinurus. 18. Tropidosaura algira. 19. Lacerta ocellata. 20. L. perspieillata. 21. Acanthodactylus vulgaris. 22. A. scu- tellatus. 23. A. Savignyi. 24. A. lineo-maculatus. 25. Eremias guttulata. 26. E. pardalis. 27. Pseudopus Pallasii. 28. Scincus officinalis. 29. Sphenops capistratus. 30. Gongylus ocellatus. 31. Euprepes vittatus. 32. E. Savignyi. 83. Plestiodon cyprium. 34. Seps chalcides. 35. Heteromeles mauritanicus. 56. Ophiomorus mi- liaris. 37. Trogonophis Wiegmanni. 38. Amphisbaena cinerea. 39. Ophiops elegans. 40. Psammodromus hispanicus. 41. Algira (Zerzumia) Blanei LAT. 42. Scincopus Jasciatus. 43. Eumeces pavimentatus. 44. Ptyodactylus Hasselquisti. 45. Pleurodeles Hagenmülleri. 46. Erys jaculus. 47. Simotes diadema. 48. Coronella girondica. 49. ©. cucullata. 50. Zamenis Chiffordi. 51. Periops hippocrepis. 52. Zamenis florulentus. 53. Z. uter. 54. Rhinechis scalaris. 55. Psammophis sibilans. 56. Coe- lopeltis lacertina. 57. C. producta. 58. Vipera lebetina. 59. V. Avicennae. 60. V. Cerastes. 61. V. carinata. 62. Discoglossus pietus. 63. Bufo pantherinus. 64. Salamandra corsica Savı. 65. Euproctus Rusconü. 66. E. Poireti GERV. (letztere übrigens wahrscheinlich Synonym von E. Rusconüi). 1 Vergl. Böttger, 1. c. p. 129. “ 110 Forsyth Major, Zoogeographische Übergangsregionen. Ausserdem ist zu berücksichtigen, dass der Süden Algeriens der am wenigsten erforschte Teil dieses Landes ist, so dass wir wohl nicht irren, wenn wir annehmen, dass sich bei genauerer Kenntnis wohl die Hälfte der Mitglieder der herpetologischen Fauna Algeriens als zugleich der äthiopischen Region angehörig herausstellen werden. Zweck der vorstehenden Auseinandersetzung war, nachzuweisen, dass die Auffassung der Mittelmeerregion als Subregion der paläarktischen ungerechtfertigt ist, da sie mit ebensoviel Berechtigung zu der orienta- lischen oder der äthiopischen als Unterregion gestellt zu werden verdient. Auf die Beziehungen der Mittelmeerregion zur äthiopischen wurde speziell eingegangen, da dieselben am wenigsten anerkannt sind. Für die Beziehungen zur orientalischen Region mag es, nach den obigen Ausführungen über die Säugetierfaunen, genügen, daran zu er- innern, dass manche Autoren die orientalische Region bis über Afgha- nistan, Beludschistan hinaus nach Westen ausgedehnt wissen wollen; und dass umgekehrt das Grenzgebiet der orientalischen Region, die in- dische Subregion von WarracE (Hindostan), wegen ihrer paläarktischen und äthiopischen Affinitäten anerkanntermassen die am wenigsten charak- teristische Provinz der orientalischen Region ist. Sobald man aber zugeben muss, dass nicht nur die Wüstendistrikte, wie Warrtacz will!, sondern die ganze Mittelmeerregion ein vermittelndes Glied ist zwischen den drei primären altweltlichen Regionen, scheint es naturgemässer, dieselbe, statt als Unterregion der einen oder andern, als Übergangsregion von allen dreien aufzufassen. Erst so werden die bekannten Beziehungen der äthiopischen zur orientalischen Region in das wahre Licht gestellt, während dieselben bei der gegenwärtig üblichen Trennung dieser beiden primären Regionen durch eine dritte, die palä- arktische, durchaus nicht zur Anschauung kamen und darum auch die Phantasie zum Schlagen einer durchaus entbehrlichen künstlichen Brücke, der Lemuria, auffordern mussten. Die auch Japan einschliessende mandschurische Unterregion wird von WALLACcE zur paläarktischen Region gestellt, hat aber ebenso viele Affinitäten mit der orientalischen, und wird daher wohl richtiger als Übergangsregion zwischen beiden aufgefasst. Wenn das gesamte Tibet so vollständig erforscht sein wird, wie der nordöstliche Teil desselben dank den Sammlungen des Pere Davıp es ist, wird sich voraussichtlich ein un- unterbrochener Zusammenhang der Mittelmeerregion mit der mandschuri- schen und somit ein grosses altweltliches Übergangsgebiet herausstellen, dessen östlichster Teil selbstverständlich die wenigsten Beziehungen zu der äthiopischen Region hat. Es ist nicht meine Absicht, die übrigen Übergangsregionen mit gleicher Einlässlichkeit zu besprechen, wie dies für die Mittelmeerregion geschehen ist; ich begnüge mich daher mit den folgenden Andeutungen. Die Berechtigung zur Aufstellung einer intermediären Region zwi- ! Geographical Distribution I. p. 322. Forsyth Major, Zoogeographische Übergangsregionen. 111 schen zwei andern primären von SCLATER und WALLACE, der neoarkti- schen und der neotropischen, ergibt sich schon daraus, dass mehrere Gebiete, die WarrAacz der neoarktischen Region einverleibt, von anderer Seite in die neotropische versetzt worden, nämlich die Sonora-Subregion von Copz (Teile von Nevada, Neu-Mexiko, Arizona und Sonora), Nieder- Kalifornien, nebst Teilen von Kalifornien, Texas und Florida ! Beiden Anschauungen wird ihr Recht, wenn wir diese Gebiete mit zwei Unterregionen der neotropischen Region, der mexikanischen und antillischen, als neoarktisch-neotropische Übergangsregion auf- fassen. In der Art reduziert hat dann aber die neoarktische Region keinen Anspruch mehr auf die Bezeichnung einer primären Region, sondern ist mit dem im Sinne der obigen Ausführung ebenfalls reduzierten paläark- tischen Gebiet zu vereinigen. Beide werden Subregionen einer einzigen primären, die wir mit dem von Nzwrox und He£ıtprin? vorgeschlagenen passenden Namen Holarktische Region bezeichnen können. Bei solcher Auffassung einer einzigen holarktischen Region fallen die Bedenken weg, die WAuvAace schon früher? und auch kürzlich wieder * gegen eine Vereinigung der paläarktischen mit der neoarktischen Region geäussert hat; denn 1) ist die holarktische Region in der hier vertre- tenen Beschränkung nicht mehr übermässig gross im Vergleich mit den andern primären Regionen; und 2) verschwinden durch Ablösung einer mediterranen Übergangsregion und einer eben solchen neoarktisch-neotro- pischen im Westen, hüben und drüben eine Anzahl heterogener Elemente der holarktischen Region. So wird namentlich das neuerdings von WALLACE gegen HEILPRIN geltend gemachte Argument, die Abwesenheit weit verbreiteter paläark- tischer Gruppen in der neoarktischen Region, zum Teil hinfällig. Von den daselbst namhaft gemachten Säugetiergattungen Meles, Equus, bos, Gazella, Mus, Cricetus, Meriones, Dipus und Hwystrix, gehören Gazella, Meriones und Hystrix zur mediterranen intermediären Region und fallen somit aus der holarktischen weg. Warrtaczks Einwand wird aber auch ausserdem noch abgeschwächt durch die Erwägung, dass wenigstens ein ferneres der genannten Genera, Eguus und vielleicht auch Bos, noch während des Postpliocäns in Nord- amerika existierten und zwar offenbar nicht als Einwanderer während der Eiszeit, sondern als alteinheimische Elemente. Endlich bietet auch die hier vorgeschlagene Einteilung den Vor- teil, dass wir nicht eine besondere zirkumpolare primäre Region einer paläarktischen und neoarktischen entgegen zu stellen brauchen, sondern die erstere wird Unterregion der holarktischen oder erscheint vielmehr als Verbindungsglied zwischen paläarktischer und neoarktischer Unterregion. ! Angelo Heilprin, On the value of the „Nearctic* as one of the en imary Zoological Regions (Proceed. of the Academy of Natural Sciences of Eiladelphia Part. III, p. 316—334. Philadelphia 1885). 2 s. „Nature“ Bd. 27, Nr. 704 (26. April 1885), p. 606. ® Geograph. Distribution of Animals I, p. 58 fgg. * In „Nature“, Bd. 27, Nr. 699 (22. März 1883), p. 482, 483. 112° Forsyth Major, Zoogeographische Übergangsregionen. Die Aufgabe, eine Übergangsregion zwischen orientalischer und australischer Region nachzuweisen, ist eine leichte, da im Grunde kein Zoologe eine solche in Abrede stellt. Schon Sauomon Mütter bezeichnete den zwischen beiden liegenden Archipel als ein vermittelndes Glied zwischen indischem Kontinent und Australien, und die Inseln Celebes, Flores, Timor und Buru im spe- ziellen als »den Übergangsstrich bildend«!. RürımeyEer bemerkt über dieses Gebiet: »Es ist... . nicht zu gewagt, wenn man vermutet, dass die gesamte Inselwelt zwischen Asien und Australien ihre Säugetiere von aussen her, und zwar von diesen beiden Continenten abgetreten erhalten hat, und ursprünglich so gut, wie noch vor kurzem Neu-Seeland, derselben entbehrte, oder mit anderen Worten, dass die Säugetiere dieser grösstenteils durch mechanische Wirkungen heraufgehobenen Inselgruppe als nachträgliche Modifikationen älterer kontinentaler Formen anzusehen sind. Dem entspricht auch das gegenseitige allmähliche Erlöschen der Spezieszahl, sowie wir uns von der einen oder der andern Mutterfauna entfernen — —«*. Die von WArvAcE zwischen Bali und Lombok durchgeführte Grenze der orientalischen und australischen Region ist nach Ep. v. MARTENS wenig natürlich. >In geradem Widerspruche damit stehen die Land- schnecken, welche H. ZOLLINGER vor längerer Zeit bei Bima (auf Sum- bawa, östlich von Lombok) gesammelt hat und die zum grossen Teil dieselben Arten wie im östlichen Java sind’®. In seiner »Geograph. Distribution of Mammals« zieht WALLACE Celebes zur australischen Region, indem er die Grenze beider Regionen westlich von dieser Insel durchführt. In seinem neuern Werke aber sagt der gleiche Autor in bezug auf Celebes: »Celebes nimmt — so- wohl durch das, was es hat, als durch das, was ihm fehlt — eine so ge- nau vermittelnde Stellung zwischen der orientalischen und der australischen Region ein, dass es vielleicht stets eine blosse Geschmackssache bleiben wird, zu welcher von beiden man es rechnen will. Allerdings bildet es die Westgrenze so typisch australischer Gruppen, wie es die Marsupialien unter den Säugetieren und die T'richoglossidae und Meliphagidae unter den Vögeln sind, während es anderseits in auffälliger Weise aller besonders charakteristischen orientalischen Familien und Gattungen aus beiden Klassen entbehrt, und ich habe es deshalb stets in die australische Region einbezogen; allein mit demselben Rechte könnte man es wohl aus beiden weglassen, bis eine genauere Kenntnis seiner Geologie uns in den Stand setzt, seine frühere Geschichte mit grösserer Sicherheit zu bestimmen®.« Man könnte kaum ein besseres Argument zu gunsten von Über- ! Zoologie der Nederlandsche overzeesche bezittingen. Leiden 1839—44. ® L.Rütimeyer, Über die Herkunft unserer Tierwelt. Eine zoogeographische Skizze. Basel und Genf 1867, p. 11. ® Die Preuss. Expedition nach Ost-Asien. Nach amtl. Quellen. Zoologischer Teil, 1. Bd. Allvemeines und Wirbeltiere. Bearbeitet von Prof. Dr. Eduard von Martens. Berlin 1876, p. 247. * Island Life or the Phenomena and Causes of Insular Faunas and Floras etc. London 1880, p. 432. Forsyth Major, Zoogeographische Ubergangsregionen. 113 gangsregionen beibringen, als dieses Zugeständniss gerade desjenigen Forschers, welcher der Urheber scharfer zoogeographischer Grenzen ist. Es scheint demnach naturgemässer, die indo -malaiische Provinz der orientalischen Region mit einem Teil der austro-malaiischen Provinz der australischen Region als austro-orientale Übergangsregion zusammenzufassen und bei einer kartographischen Darstellung auch durch eine intermediäre Farbe zu kennzeichnen. Es liegt auf der Hand, dass die Übergangsregionen ebensowenig scharfe Grenzen haben als die primären Regionen. Das Übergreifen, Ausstrahlen von Formen einer primären Region selbst über das Über- gangsgebiet hinaus in eine andere wird sich selbst auf Karten kleineren Formats in ähnlicher anschaulicher Weise darstellen lassen, wie auf der Rürımeyers oben citierter Abhandlung beigegebenen Karte. Als Ergebnis des Vorstehenden erhalten wir die folgenden fünf primären und drei intermediären Regionen. | a. zirkumpolarer Unterregion, 1) Holarktische Region mit | b. paläarktischer | c. neoarktischer 6) ” 2) Orientalische Region. 3) Äthiopische Region. 4) Australische Region. 5) Neotropische Region. 6) Mediterrane Übergangsregion: Zwischen holarktischer, äthiopischer und orientalischer Region. 7) Austro-orientale Übergangsregion: Zwischen orientali- scher und australischer Region. 8) Neoarktisch-neotropische Übergangsregion: Zwi- schen holarktischer und neotropischer Region. Kosmos 1884, I. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XIV). [® 0) Einige bisher unbekannte oder wenig bekannte Hummelnester. Von Prof. Di. Eduard Hoffer. Im letzten Sommer war ich so glücklich, Nester von einzelnen Hummelspezies zu bekommen, über die man bisher so viel wie nichts wusste. Zuerst (16. Juni) entdeckte mein ältester Sohn Eduard das Nest von Bombus pratorum L. Während es sonst heisst, dass dasselbe unter Moos und Gestrüpp ober der Erde zu finden sei, wo ich es Jahre lang umsonst gesucht hatte, verhielt sich hier die Sache ganz anders Es befand sich nämlich ziemlich tief unter der Erde auf einem Kleeacker auf dem Rosenberg bei Graz. Das Flugloch war geräumig, jedenfalls das verlassene Schlupfloch einer Feldmaus; es zog sich etwa 4 dm weit in horizontaler Richtung, war plötzlich umgebogen und am Ende desselben in einer Tiefe von circa 2!/2 dm war das Nest; dasselbe hatte eine Hülle von fein zerbissenen Gräsern und Wachs und füllte den geräumigen Kessel nicht vollständig aus. In einer kleinen Nebenhöhle befanden sich einige 20 junge Q und 5—8 d, von welch’ letzteren ein Paar entflogen. Aber auch im Nest zwischen und auf den Zellen waren mehrere @ und d. Die Gesamtzahl der Individuen betrug, wie wir uns gleich nach dem Ausgraben im geschlossenen Zimmer überzeugten, circa 100, es lebte nämlich: 1) die alte Königin (noch recht frisch), 2) 27 junge 9, 3) 9—12 d (da einige beim Ausnehmen entflogen waren) und 4) etwa 60 9. Im Zuchtkästehen krochen noch mehrere 9, ? und d aus; der schöne zusammenhängende Wabenbau enthält 50 Zellen für 9, 63 für d und 125 für $. Später bekam ich ein zweites Nest dieser Spezies von Herın Arnuarp aus Mürzsteg, es war in einem hohlen Baum gefunden worden und enthielt weniger Bewohner als das obige. Am 1. August entdeckte wieder Eduard eines auf dem Geierkogel, nord- westlich von Graz in einer Höhe von 930 m. Es war ebenfalls ziemlich tief unter der Erde, die Waben waren beinahe ganz von Aphonia Oolonella zerfressen und es wimmelte von Larven der Volucella bombilans; ein Be- weis dafür, dass B. pratorum äusserst früh zur Entwickelung gelangt, dass aber auch äusserst früh (schon im Juni und Juli) die jungen © sich in die Winterquartiere begeben und das Nest ausstirbt. Eduard Hoffer, Einige bisher unbekannte oder wenig bekannte Hummelnester. 115 Bombus Latreillelus Kırzey gehört überall zu den Seltenheiten, deshalb ist auch sein Nest wenig bekannt. Im Jahre 1882 hatte ich wohl das Flugloch dieser Art entdeckt, aber trotz stundenlangen wieder- holten Grabens nicht zu den Waben kommen können. Heuer (Ende Juli) sah mein Schüler W. Kuckn, ein geschickter und glücklicher Hummel- nestersucher, im Vorbeigehen eine Hummel unter der Erde verschwinden. Wir suchten nun an der betreffenden Stelle und fanden nach langem Hin- und Hergraben endlich die rechte, mehr als 2 m lange Flugröhre, in deren Mitte etwa sich das Nest von Vespa vulgaris L. (bestehend aus dem Mantel und der ersten Wabe mit den auskriechenden jungen ?) be- fand; offenbar war das alte 9 verunglückt, entweder im Freien oder vielleicht im Kampfe mit den die Stelle passierenden Hummeln: einzelne ? waren eben daran, auszuschlüpfen, und einen ganz jungen, noch sehr lichten, fanden wir im Hummelneste selbst. Am Ende dieser Flugröhre, die mit mehreren anderen kommunizierte, war das steile, weite, '/a—”/ım tiefe Zugangsloch zum Nest. Dieses war in einem gewaltigen Kessel, den irgend ein unterirdisch lebendes Säugetier (ein Maulwurf oder eine grössere Mausart) vielleicht als warmes Lager für die Jungen gegraben und mit einer ungeheuren Menge von Gras angefüllt hatte. Das aus- genommene Gras würde wenigstens zwei unserer gewöhnlichen Hüte füllen. Das an der Peripherie befindliche war schon ganz morsch, während das in der Mitte vollkommen frisch und fein zerbissen erschien. Im innersten Teile der Graskugel befanden sich die Waben der seltenen Hummel. Die Temperatur in dieser Tiefe (das Nest war mindestens °/4 m tief unter der Erdoberfläche) war jedenfalls sehr gleichmässig, und das scheint die Hauptbedingung für das Gedeihen dieser Spezies zu sein, denn die zu Hause freifliegenden zerstreuten sich infolge der Kälte, obwohl das Nest in einem bis auf das Flugloch festverschlossenen, aus dicken Brettern konstruierten Kästchen sich befand, äusserst schnell, so dass ich den Rest nicht mehr fliegen liess, sondern eingesperrt hielt, um die noch in den Zellen befindlichen jungen Tiere zum Auskriechen zu bringen. Höchst auffallend ist die starke Bevölkerung dieses Nestes, da ja die Art zu den seltenen gehört. Es befanden sich nämlich neben der noch ziemlich frischen alten Königin etwa 35 junge 9, über 60 ® und merkwürdiger Weise nur 6—8 d darin; die Zahl der Zellen beträgt: 46 für die @ (teils leer, teils noch gefüllt), 32 für die d und circa 60—70 für die ?; und das war schon im Juli der Fall; nun fliegt aber die Art noch im Monat September, in welchem ich auch die meisten d auf den Blumen fing. Wie gross muss dann das Nest sein! — und doch gehört die Art überall zu den seltenen. Es mag sein, dass sie wie DB. hypnorum L. sehr ungleichmässig auftritt, in manchen Jahren in Menge, in anderen wieder selten. Herr HExprık schreibt mir, dass sie in diesem Jahre bei Hermannstadt in Siebenbürgen massenhaft anzutreffen war, während sie in anderen Jahren geradezu als eine Rarität anzu- sehen ist. Mein grösster Wunsch beim Besteigen des Geierkogels, unseres beliebtesten Berges, wenn es sich um Insekten oder Pflanzen handelt, denn er liegt zum Glück nicht auf der Heerstrasse der Touristen (es 116 Eduard Hoffer, Einige bisher unbekannte befindet sich nämlich auf dem ganzen Berg kein Wirtshaus), war es, das Nest des bombus mastrucatus GERST. zu finden. Im Frühling hatten wir sehr viele @ gesehen und eine Menge von durchbissenen Blüten als sichtbare Zeichen seiner unheilvollen Thätigkeit angetroffen, im Monate Juli wimmelte es von 9, bei welcher Gelegenheit uns die ausserordentliche Grösse derselben auffiel, denn sie sind in der Mehrzahl so gross als die @ von 5. Rajellus K. (es gibt übrigens auch unter ihnen Zwergexemplare, die nicht viel grösser sind als eine Fliege), allein trotz des eifrigsten Suchens konnten wir kein Nest finden, während wir von dem sonst so seltenen D. pomorum Pz. mehrere entdeckten. Erst nachdem die Alpenwiesen abgemäht waren, fand Freund Kuckn das erste Nest dieser Art. Es war beinahe gerade auf der Spitze des Geierkogels, auf der Ostseite desselben, 947 m hoch. Meine Vermutung, dass die Nester des B. mastrucatus sehr volkreich seien (trotz einer gegenteiligen Beob- achtung DarnAa Torres), wurde durch diesen Fund nicht bestätigt; denn ausser der alten Königin, die am Tage nach der Ausnahme des Nestes starb, waren darin nur 21 d und circa 30 3 (darunter die Mehrzahl sogenannte kleine 9), einige 10 ? mögen zurückgeblieben sein. Da es bis damals das einzige Nest dieser Art in meiner Sammlung war, so liess ich zu Hause die Tiere nicht frei fliegen, sondern hielt sie eingesperrt, und es entwickelten sich noch etwa 11 3 und 18 d, aber kein ein- ziges 9. Als Schmarotzer lebten darin Larven von Vohrcella bombilans und die schöne Mutilla europaea, von der 1 @ und 6 @ auskrochen, alle entsprechend der Grösse der Hummellarven von riesigen Dimen- sionen. Zu meiner freudigen Überraschung erhielt ich ein paar Tage später von Fräulein Hörzen ein zweites Nest derselben Art aus Übelbach zu- geschickt. Beim Ausnehmen zeichneten sich diese Hummeln, wie das liebenswürdige Fräulein schreibt, durch ihre grosse Stechlust aus, und auch zu Hause machten sie dieser ihrer Eigenschaft alle Ehre; bei jeder Störung fuhren sie einem in die Haare. Dieses Nest war bedeutend grösser; obwohl beim Ausnehmen fast alle d und viele 3 verloren ge- gangen waren, enthält es jetzt das alte 9, 60 junge 9, 70 d und circa S0 2, welche letztere aber in der Gefangenschaft rasch abstarben, so dass zuletzt im Neste beinahe nur d und 9 lebten. Das vollkommen ent- wickelte Wabengewirre zeigt jetzt in der Sammlung bei 300 Zellen für die $, 110 für die d und etwa 100 für die 9. Ganz genau lässt sich’ die Zahl nur in wenigen Nestern angeben, weil 1) die alten ?Zellen zum grössten Teile zerbissen und als Neststoff verwendet werden (auffallend war die Sache heuer in einem Neste von B. agrorum Fa.: jeder Zell- haufen, aus dem die jungen Hummeln ausgekrochen waren, wurde von dem mit Eiern, Larven, Puppen oder Honig gefüllten Hauptwabenstück abgetrennt, weggewälzt und sodann zerbissen), und weil 2) auch so manche Zelle von d und 9 demselben Schieksale verfällt. Und die mastrucatus mit ihren starken Kiefern arbeiten gar schnell an der Zer- störung des nicht mehr brauchbaren Materials. In der Blütezeit dürfte die Zahl der ? circa 150—180 betragen haben, so dass immerhin dieses Nest als ein recht volkreiches bezeichnet werden muss. oder wenig bekannte Hummelnester. lt Noch viel stärker aber ist das Nest, das wir am 6. September ebenfalls auf dem Geierkogel, aber tiefer unten, etwa 900 m hoch aus- nahmen. Kuckn hatte dasselbe einige Tage früher gefunden, aber trotz angestrengten Grabens nicht ausnehmen können, da die Flugröhre zuletzt scheinbar in zu grosse Tiefe sich verlor. Nach längerem Untersuchen wurden »wir endlich durch eine heimkehrende Hummel auf die richtige Spur geleitet. Eine sehr bemerkenswerte Thatsache darf ich hier nicht mit Stillschweigen übergehen. So lange ich nicht in die Seitenröhre eingriff, die unmittelbar zum Neste führte, konnten wir die Hummeln auf keine Weise dazu bringen, dass sie ihre Anwesenheit auf die be- kannte Weise durch das heftige Aufbrummen verraten hätten. Wir hatten in der Hauptröhre und in einer grossen Anzahl von Seitenröhren mit der Hand und mit Stöcken gestöbert, auf den Boden an den mannig- faltigsten Stellen, unter anderen auch gerade an der, wo sich das Nest hefand, geklopft; alles umsonst, sie blieben ganz still; kaum hatte ich aber in die rechte Röhre mit der Hand gegriffen, so hörte man ein Auf- brausen wie von einem Bienenschwarm und einige gut gezielte Stiche zwangen mich, so schnell als möglich das Ätherfläschehen zu Hilfe zu nehmen, damit wir ungestört arbeiten konnten. Das Nest selbst war in einem herrlichen Maulwurfsbau angelegt; es war das verlassene Wochen- bett eines Tieres, das ganz regelmässig alle Röhren in der bekannten Weise konstruiert und den Kessel mit ungeheuren Quantitäten von Moos ausge- polstert hatte. Die Grösse des Zellklumpens war zu vergleichen dem des B. terrestris oder argillaceus. Die Zahl der Zellen beträgt bei 180 für die 9, über 200 für die d und über 500 für die 9. Es gehört dieses Nest somit zu den grössten und volkreichsten Hummelbauten, die es überhaupt gibt, und hat sich also meine Meinung, dass die Nester des B. mastrucatus sehr gross seien, bei den zwei zuletzt angegebenen bestätigt. Bis in die neueste Zeit hatte nur Dauza TorkE ein Nest dieser Art gefunden, aber es war wenig volkreich, denn es hatte nur circa 60 Bewohner. Da aber B. mastrucatus auf den Alpen (wenigstens bei uns) viel häufiger ist als selbst D. terrestris oder lapidarius, so dass man ihm auf Schritt und Tritt begegnet, so hatte ich nicht mit Unrecht die Meinung gefasst, dass er sehr grosse Nester baue. Man trifft zwar den B. agrorum beinahe gerade so häufig, dafür aber auch seine Nester überall, und auch diese sind mitunter ausserordentlich volkreich. Die Zellen des B. mastrucatus sind durch ihre Grösse und im frischen Zustande dunkle Färbung ausserordentlich leicht kenntlich. Nachdem erst in der neuesten Zeit durch SCHMIEDEKRNECHTS aus- gezeichnete Arbeiten völlige Klarheit in die früher so dunkle Trias: B. agrorum FaB., cognatus STErH. (muscorum FA».) und variabilis SCHMIEDER. gebracht worden ist, so kann man sich nicht wundern, dass man über den Nestbau der seltensten derselben, des B. coynatus, nichts weiss. Ich war so glücklich, am 6. August 1. J. ein prächtiges Nest dieser wunderschönen Hummel unter merkwürdigen Umständen zu bekommen. Es war nämlich einige Tage hindurch starker Wind gewesen und derselbe hatte mehrere Eichhörnchennester herabgeworfen, und in einem derselben 118 Eduard Hoffer, Einige bisher unbekannte war das Nest dieser prächtigen Hummel. Das Nest war jedenfalls noch in diesem Jahre vom Eichhörnchen benutzt worden, denn es war auch aussen im besten Zustande und in dem vielen Moose und Grase desselben lebten noch die bekannten Eichhörnchenflöhe. Die Gesellschaft bestand aus der alten, noch ganz frischen Königin, die mir später leider durchging, 25 kleinen Weibchen und circa 40 ge- wöhnlichen @, von denen einige kaum so gross waren als eine Stuben- fliege, während einzelne kleine Weibchen die Grösse der 9@ des B. va- viabilis hatten. Wegen der ausserordentlichen Seltenheit dieser Hummeln liess ich sie anfangs nicht frei fliegen, sondern hielt sie in einem Käst- chen von circa '/? cbm Rauminhalt eingesperrt. Aber obwohl ich ihnen alle möglichen Blumen, gelbe und anders gefärbte, im frischen Zustande in wassergefüllten Behältern vorsetzte, so sammelten sie doch keinen Pollen, sondern tranken nur den ihnen vorgelegten Bienenhonig. Die Folge davon war, dass alle jüngeren Larven, für welche die Pollen- nahrung unumgänglich notwendig ist, abstarben und hinaus geworfen wurden, während sich die ältesten, beinahe ausgewachsenen zu Puppen und diese wieder zu Imagines entwickelten, so dass nach 3 Wochen alle Zellen nur Honig enthielten. Die Königin legte im Anfang noch Eier, aber alle wurden von den Arbeitern aufgefressen; später sah ich sie nicht mehr Eier legen. Nach 3 Wochen entnahm ich dem Neste die schönsten Exemplare für. die Sammlung, 30 2 aber und die Königin samt den Waben that ich in ein anderes Kistchen und gab ihnen nun die Freiheit. Das erste Exemplar flog, nachdem es sich die Wohnung ordentlich angesehen, geraden Weges auf eine gegenüber befindliche Sonnenblume, sammelte dort und später auf anderen Blüten (Trifolium repens, Cytisus etc.) hauptsächlich Pollen und flog nach 20 Minuten mit reich beladenen Höschen nach Hause. Tags darauf legte die Königin wieder Eier, aus denen sich ? und 2 Ö entwickelten; leider ging sie während eines Ausfluges zu Grunde. Wie gross das Bedürfnis nach frischem Pollen ist, zeigt ein anderes Beispiel. Ein schönes Nest von B. hortorum L. (Stammform) hielt ich, um eine Kollektion von d zu bekommen, ebenfalls in einem sehr grossen Raume eingesperrt; Pollen sammelten sie nur von ganz frischen Blüten. Eines Tages ging mir ein 3 beim Füttern durch, kam aber, dabei das Vorhaus und einen kleinen Gang passierend, nach einer halben Stunde mit dicken Pollenballen beladen, wieder ins Zimmer. Ich fing ihn schnell ab und wollte ihn ins Kästchen stecken, verfuhr aber dabei etwas un- geschickt und so entfloh er mir durchs offene Fenster, kam jedoch trotz- dem nach einigen Minuten auf dem früheren Wege wieder ins Zimmer. Kaum hatte ich ihn ins Nest geworfen, so kamen schon mehrere andere 9 herbei und frassen ihm den Pollen von den Füssen weg, ohne dass er Zeit gehabt hätte, denselben wie gewöhnlich in ein Puppentönnchen abzustreifen. — Was übrigens den Nestbau des BD. cognatus STEPH. an- belangt, so bin ich überzeugt, dass diese Hummel öfters grössere mit Moos ausgefütterte Nester auf Bäumen dazu benutzt, denn in meiner Kindheit fanden wir einigemal Zellen von gelben Hummeln in Eichhörnchennestern und einmal in einem Siebenschläfernest. Freilich kann ich jetzt nicht ee“ oder wenig bekannte Hummelnester. 119 sagen, ob es 5. cognatus oder der häufige 5. agrorum Far. war, dessen Extravaganzen in bezug auf die Anlage des Nestes ich an einer andern Stelle (Naturhistoriker 1881, Wien) beleuchtet habe ; möglich ist es auch, dass er das Nest in etwas höher gelegenen Baumlöchern anlegt. Das Nest des 5b. soroönsis FA»., nach dem der berühmte englische Hymenopterologe SurrH 50 Jahre lang in den drei Königreichen erfolglos gefahndet hatte, bekam ich Mitte August durch Fräulein HörTzeL aus Übelbach. Dasselbe war unter der Erde angelegt. Das Flugloch be- fand sich versteckt zwischen den Wurzeln eines Waldbaumes, das Nest unter einer grossen Steinplatte; nach dem Nestmaterial (dürrem Buchen- laub) zu schliessen, hatte es ursprünglich einer Waldmaus zur Wohnung gedient. Wieder ein Beweis dafür, dass die unterirdisch bauenden Hummeln am liebsten dort ihr Nest anlegen, wo sich bereits Neststoffe vorfinden. Das Nest war ziemlich stark bewohnt; die alte Königin war nicht mehr da, aber circa 30 kleine Weibchen, 50 gewöhnliche ? und 10 d; später krochen noch ausserordentlich viele d und 5 9 aus, bis da® Ende der Ferien dem muntern Treiben ein Ende machte. Der Fär- bung nach waren alle rotafterig (Proteus GERsT.), die d übrigens von der einfachsten Färbung bis zu solchen mit den schönsten gelben Binden auf Thorax und Abdomen und reichlichst eingemischten gelben Haaren auf dem Clypeus. Dr. SCHMIEDEKRNECHT hatte in einem hohlen Baum- stumpf ein Nest dieser Art mit rot- und weissafterigen Varietäten ge- funden, bei uns aber kommt die weissafterige immer nur vereinzelt vor. In den nächsten Jahren heisst es die Nestverhältnisse haupt- sächlich solcher Arten festzustellen, die bei uns auf den höchsten Bergen als grosse Seltenheiten vorkommen. Graz, im Dezember 1883. Die Abstammungsverhältnisse der Pflanzentiere. Von Dr. Conrad Keller (Zürich). Es ist kein blosser Zufall, wenn eine überraschend grosse Zahl von Zoologen sich mit dem Studium der Coelenteraten oder Pflanzen- tiere befasst. Ihre überraschende Fülle einerseits, ihre seltsamen Lebens- erscheinungen, Gestalt und Farbenpracht anderseits machen naturgemäss diese Tiere zum Lieblingsgegenstand der marinen Forschung. Die Lebensäusserungen, namentlich ihre Entwickelung sind für das Verständnis der Tierwelt von einer fundamentalen Bedeutung, und Mor- phologie wie Physiologie sind durch die Kenntnis einer an der untersten Grenze der Metazoen oder gewebebildenden Tiere stehenden Organismen- gruppe in fruchtbarster Weise bereichert worden. Thatsachen und einzelne Ergebnisse bleiben jedoch nur wissen- schaftliche Fragmente — als letzten und höchsten Zweck der Forschung können wir sie nicht betrachten, sie sind uns nur Mittel zur Erkenntnis des vielverschlungenen Entwickelungsganges, welcher sich in der Natur abgespielt hat und noch heute abspielt. Wenige Tiergruppen gewähren uns in dieser Hinsicht einen so klaren und vollständigen Einblick, wie gerade die Pflanzentiere. Es sind noch nicht anderthalb Jahrhunderte verflossen, seit man anfing, diesen Wesen allgemein den tierischen Charakter zuzugestehen !. Diese Erkenntnis ist aufs innigste mit den Entdeckungen von TrEem- grey (1744) an unserm grünen Armpolypen des Süsswassers verknüpft. Der scharfsinnige Beobachter entdeckte dieses nachher zu grosser Be- rühmtheit gelangte Wesen an Wasserpflanzen. Es enthüllt sich uns ein Stück echter physiologischer Forschung aus dem vorigen Jahr- hundert, wenn wir die kritische Art verfolgen, wie TREMmBLEY Schritt um Schritt die tierische Natur der Hydra nachweist und sich durch ! Die Geschichte der Pflanzentiere hat Rudolf Leuckart eingehend und kritisch in seiner Arbeit: „Die Zoophyten. Ein Beitrag zur Geschichte der Zoologie“ behandelt. Die treffliche Darstellung findet sich als Programmschrift der Universität Leipzig und ist in Troschels Archiv für Naturgeschichte 1875 ab- gedruckt. Conrad Keller, Die Abstammungsverhältnisse der Pflanzentiere. 197 den pflanzlichen Charakter nicht beirren lässt, sondern die Bewegungs- vorgänge, die Empfindlichkeit gegen Licht und die merkwürdige Teil- barkeit erkennt. Seine Resultate mussten für die Beurteilung der im Meere lebenden Korallentiere die grössten Konsequenzen haben. Sie verhalfen indirekt auch den Entdeckungen eines hoffnungsvollen, aber durch Misserfolge entmutigten Beobachters zu ihrem Rechte. Noch im Jahre 1725 brachte der Graf MarsıcLı in seiner »Histoire physique de la mer« neue und gewichtige Stützen für die Pflanzennatur der Korallen bei. Er hatte bei gewissen Arten (Aleyonium, Isis) die »Blüten« aufgefunden. Ein eingewurzeltes und durch Scheingründe gestütztes Dogma ist bekanntlich sehr schwer zu beseitigen. Das war im vorigen Jahrhundert noch viel schwieriger als heute. Und doch ist die Zeit noch nicht lange hinter uns, wo eine andere Doktrin, die Lehre von der Urzeugung, nur mit Mühe und mit dem Aufwand einer umsichtigen experimentellen Me- thode zu verbannen war. Hat sich dieses Dogma ja noch an den letzten Anker — an die Eingeweidewürmer — angeklammert. Zwei Jahre, nachdem Marsıcrı die Blüten der Korallenpflanzen entdeckt hatte, trat der Marseiller Arzt Pryssonen auf Grund vorurteilsfreier Forschung mit der Behauptung auf, die Korallen seien keine Pflanzen, ihre sogenannten Blüten seien echte Tiere. Er war in vollem Rechte, der Autoritätenglauben war aber noch so mächtig, dass seine Behauptung auf den grössten Widerstand stiess. Die Entdeckung Pryssoseus ist heute nach ihrer vollen Bedeutung gewürdigt und für die Wissenschaft ist es nur zu bedauern, dass ein so weitblickender Beobachter sich durch einen ersten Misserfolg derart einschüchtern liess, dass er den wissenschaftlichen Beruf mit dem des Broterwerbes vertauschte. Es ist ja hinlänglich bekannt, dass seine Arbeit im Schosse der Pariser Akademie keine günstige Aufnahme fand und dass Rraumur die angeführten Beweisgründe nicht für beweiskräftig hielt. Als Tremeeey die tierische Natur des von ihm entdeckten Süss- wasserpolypen nachgewiesen, hat auch R£aumur sein Unrecht gut ge- macht und der Entdeckung des Marseiller Arztes Gerechtigkeit wider- fahren lassen. Aber man begann sich doch nur sehr allmählich in die neuen An- schauungen einzuleben und noch zu den Zeiten von Lıns# und PAuras erblickte man in den Pflanzentieren »jene wunderbaren Geschöpfe, in denen tierische und pflanzliche Eigenschaften derart gemischt sind, dass es oft schwer hält, die wahre Natur zu erkennen«. Noch im Jahre 1766 gibt PArras in seinem Elenchus zoophytorum diesem Gedanken Aus- druck: »Zoophyta sunt animalia vere vegetantia; sunt plantae quasi animatae.« Dagegen betrachtet Cuvırr die Zoophyten als unzweifelhafte Tiere, ihres strahligen Baues wegen weist er ihnen einen Platz neben den Echinodermen oder Stachelhäutern an; beide figurieren ja unter den Cuvierschen Radiaten. _ 122 Conrad Keller, Die Abstammungsverhältnisse der Pflanzentiere. Wir halten zwar noch heute an dem Typusbegriff fest, jedoch ge- schieht dies mit der reservatio mentalis, dass die einzelnen zum Typus ver- einigten Formengruppen nicht nur eine symbolische, sondern eine wirkliche Stammesverwandtschaft besitzen. Pflanzentiere und Echinodermen stehen nun aber durchaus in keiner näheren Beziehung, gewisse gemeinsame Züge in der äusseren Erscheinung sind nur auf sehr entfernte Analogien zurückzuführen. Wenn später in den Rippenquallen eine Gruppe erkannt werden wollte, welche gewissermassen ein Bindeglied zwischen beiden Abteilungen darstellen sollte, so kann diese Auffassung heute um so weniger Gültig- keit beanspruchen, als die Stellung und Abstammung der Ctenophoren nunmehr in völlig befriedigender Weise erkannt ist. Der Kreis der Radiaten ist um die Mitte dieses Jahrhunderts un- haltbar geworden. Schon frühzeitig wurden die einzelligen Infusorien und verwandte Wesen als Urtiere oder Protozoen von ihm losgelöst. Dann machte Ruporr LruckAarr 1847 und 1849 auf den fundamentalen Unterschied zwischen der Organisation der Pflanzentiere und Stachel- häuter aufmerksam: letztere besitzen neben der Darmhöhle noch eine Leibeshöhle, erstere dagegen nicht. Diese Scheidung und die Begründung des neuen Typus der Coe- lenteraten bildet ein Hauptverdienst LerucrAarıs!. Es figurieren in dieser Abteilung jene teils schwimmenden, teils festsitzenden Formen, welche wir als Medusen, Korallen, Hydroiden, Röhrenquallen und Rippen- quallen kennen. — Die glückliche Neuerung fand unter den Zoologen bald allgemeinen Eingang. Seither sind mehr als drei Jahrzehnte verflossen und diese sind für die Erkenntnis der Organisation in den einzelnen Abteilungen ausserordentlich fruchtbar gewesen. Ihre Lebensverhältnisse wurden ein- gehender verfolgt, ihre Anatomie und ihre oft so komplizierte Ent- wickelungsgeschichte eminent gefördert. Auch die vergleichende Gewebe- lehre hat noch in der jüngsten Zeit die schönsten und fruchtbarsten Entdeckungen auf dem Gebiete der Pflanzentiere gemacht. Die vielen und gewichtigen Namen deutscher und ausländischer Forscher, welche unsere Kenntnisse der Goelenteraten förderten, mögen hier übergangen werden; es sind zu viele, um sie einzeln aufzuzählen. Eine Reihe von umfangreichen und bahnbrechenden Monographien legen Zeugnis ab von der regen Thätigkeit, welche sich auf dem Gebiete der Coelenteratenkunde entwickelte. Dieselben enthalten ein so reiches Aktenmaterial, dass nicht nur für kleinere Formenkreise, sondern auch für grosse Abteilungen ein Urteil über die gegenseitigen Affinitäten er- langt werden konnte. Zunächst hält es nicht schwer, bei allen Abweichungen in der ! Die Begründung der Üoelenteraten erfolgte zum erstenmal in den von Frey und Leuckart 1847 veröffentlichten Beiträgen zur Kenntnis wirbelloser Tiere und es werden wohl auch beide Autoren als Begründer der Coelenteraten genannt. Da Frey später wieder an den Cuvierschen Radiaten festhielt und Leuekart wiederholt betont, dass der betreffende Abschnitt ausschliesslich von ihm herrühre, so bleibt ihm dies Verdienst ungeschmälert. Conrad Keller, Die Abstammungsverhältnisse der Pflanzentiere. 123 Organisation die Ähnlichkeit zwischen einem Hydropolyp und einem Korallenpolyp festzustellen. Die einzellebenden wie die koloniebildenden Gattungen stimmen im äusseren Habitus vielfach überein. Durch die Bildung eines Mund- rohres, durch die Entwickelung von Septen und Mesenterialfäden, so- wie durch eine weiter gediehene histologische Komplikation steht der Anthozoenkreis über demjenigen der Hydroiden, aber niemand wird be- zweifeln, dass die Wurzel beider eine gemeinsame ist. Viel langsamer gelangte die völlige Übereinstimmung oder Homologie zwischen Polyp und Meduse zu allgemeiner Anerkennung — und doch hängt von der Bejahung oder Verneinung dieser Übereinstimmung die Beurteilung zahlreicher Abstammungsfragen ab. Auf den ersten Blick scheint die Meduse grundverschieden von einem Polyp. Die verschiedenen Bedingungen, unter welchen beide leben, sind auf die Ausbildung des Körpers von dem allergrössten Einfluss ge- wesen, allein wir werden nicht den Habitus, nicht die Unterschiede der physiologischen Leistung zum leitenden Motiv nehmen, sondern Wesent- liches vom Unwesentlichen trennen müssen und so einen richtigen Mass- stab für die Beurteilung der gemeinsamen Züge gewinnen. Dass gewisse Polypengattungen im stande sind, Medusen aufzuammen, spricht für die nahe Zusammengehörigkeit beider. Ist nun die Meduse, welche Geschlechtszellen zur Reife bringt, ein einfaches Organ oder muss sie als Polypenperson aufgefasst werden ? Im Laufe der Zeit haben beide Deutungen ihre Vertreter gefunden, noch im Beginne des vorigen Dezenniums standen diese durchaus ver- schiedenen Auffassungen einander gänzlich unvermittelt gegenüber. Die Übereinstimmung zwischen Polyp und Meduse erkannt zu haben, ist ein Verdienst des Begründers der Coelenteraten. RupoLr LEUCKART hat diese Auffassung schon im Jahre 1851, als er den Polymorphismus der Röhrenquallen erklärte, zu vertreten unternommen. Er erklärte diese sonderbaren und physiologisch hochinteressanten Pflanzentiere als freibewegliche Hydroidenstöcke, als schwimmende Tierkolonien, bei denen eine hochausgebildete Arbeitsteilung zwischen den einzelnen Tieren sehr weitgehende Körperunterschiede hervorgerufen hat. Die an einem gemeinsamen Stamme, welcher sehr muskulös ist, angehefteten Tiere zeigen je nach ihrer besonderen Leistung bald einen polypenähnlichen, bald einen medusenähnlichen Charakter. Die ver- schiedenen Anhangsgebilde des muskulösen Stammes, den verschiedensten Leistungen angepasst, erscheinen uns zwar als blosse Organe, aber mor- phologisch genommen und auch mit bezug auf ihre Abstammung müssen wir ihnen eine höhere Dignität zuerkennen, es sind einzelne Polypenpersonen. L£euckArr konnte sich mit dieser einleuchtenden und naturgemässen Deutung auf die koloniebildenden Hydroiden berufen, wo das Prinzip der Arbeitsteilung ebenfalls einer Verschiedenheit der Einzeltiere gerufen hat. Nicht allein tritt häufig ein Gegensatz zwischen Nährpolypen und Fort- pflanzungspolypen auf, sondern gelegentlich, wie z. B. bei der Gattung Podocoryne, finden sich noch tentakelartige Spiralzooiden und skelett- bildende Individuen. 124 Conrad Keller, Die Abstammungsverhältnisse der Pflanzentiere. Die Lehre vom Polymorphismus und das Gegenüberstellen von medusoiden und polypoiden Individuen involviert eine ganz be- stimmte Auffassung der Medusengruppe. Es sind, wie wir uns heute ausdrücken, die Medusen nichts anderes als Einzelpolypen, welche speziell für ihre schwimmende Lebensweise angepasst erscheinen. Damit musste auch der Generationswechsel, in welchem eine Po- Iypenamme Medusen hervorbringt, vieles von seiner Wunderbarkeit verlieren. Die Leuckartsche Deutung blieb keineswegs ohne Widerspruch, sondern wurde von zwei gewichtigen Seiten in Frage gestellt. In Eng- land vertrat Huxrey eine Auffassung der Röhrenpolypen, welche in ihnen nicht einen Tierstock, sondern ein einzelnes Individuum erkennen wollte. Die einzelnen Anhänge wurden auf die Teile einer Scheibenqualle be- zogen, womit auch der Gegensatz von medusenähnlichen und polypen- ähnlichen Individuen fallen gelassen wurde. In Deutschland vertrat CArL GEGENBAUR eine Deutung des Medusenkörpers, welche vom Standpunkte der Entwickelungslehre aus Berechtigung und grosses Interesse darzubieten geeignet war. Er vergleicht die Geschlechtsorgane des Süsswasserpolypen und die festsitzenden Geschlechtsknospen verschiedener Hydroidpolypen des Meeres mit den von Polypen aufgeammten Medusen und erblickt in allen diesen Formzuständen die Glieder einer zusammenhängenden Entwickelungsreihe. — Diese Medusentheorie findet sich am genauesten entwickelt in seinen »Grundzügen der vergleichenden Anatomie« vom Jahre 1870. An schema- tischen Figuren wird der Entwickelungsgang genauer versinnlicht. Huldigt man dieser Auffassung, so ist die Meduse nicht ein Polypen- individuum, sondern ein auf die Stufe selbständiger Individualität ge- hobenes Geschlechtsorgan. Dieser Fall wäre jedoch insofern merkwürdig, als er zum erstenmale in der Tierwelt uns den Prozess vor Augen führte, dass ein Organ sich zu einer Individualität höheren Grades erhebt. Aber einmal konnte man den Einwand erheben, dass in der Tier- welt häufiger der umgekehrte Prozess stattfindet und das Individuum häufig genug auf die physiologische Bedeutung eines Organes oder doch sehr weniger Organe herabsinkt. Solche Erscheinungen hat der Para- sitismus im Gefolge und wohl den merkwürdigsten Fall bieten die Donellia- Männchen dar, welche im Schlunde des Weibchens schmarotzen und physiologisch auf die Stufe eines blossen Geschlechtsorganes herabsinken. Die Gegenbaursche Entwickelungsreihe der Meduse konnte recht gut bestehen, aber den umgekehrten Entwickelungsgang durchgemacht haben. ; In den letzten Jahren hat sich dann in der That auf Grund er- neuter Untersuchungen der Entscheid allgemein zu gunsten einer Über- einstimmung zwischen Meduse und Polyp vollzogen. Neben HAECcKEL sind auch AuLıLman uud Craus sowie die Gebrüder HrrrwıiG für diese Übereinstimmung eingetreten. Einer dieser Forscher äussert sich in sehr zutreffender Weise da- hin: »In Wahrheit besteht ein fundamentaler Gegensatz von Scheiben- »qualle und Polyp überhaupt nicht. Die Meduse ist eben ein breiter, Conrad Keller, Die Abstammungsverhältnisse der Pflanzentiere. 125 »scheibenförmig abgeflachter Polyp, der seine Befestigung aufgegeben »und durch den Muskelbelag der als Schwimmsack eingebuchteten Mund- »scheibe zur schwimmenden Bewegung befähigt ist. Die Fangfäden sind >die Tentakeln des Randes. Der Mundkegel des Hydroiden oder das »Magenrohr des Anthozoenpolypen ist der Mundstiel der Qualle. Die »Gallertscheibe erscheint ‚als eine besondere Mesodermlage, die bei den >Hydroiden als feste Stützlamelle, bei den Anthozoen als mächtige, von >Safträumen durchsetzte skelettbildende Unterhaut auftritt.< (Vergl. Craus, Studien über Polypen und Quallen der Adria. 1878.) Zu demselben Resultat gelangten O. und R. Hurrwıg bei ihren Untersuchungen über den Organismus der Medusen vom Jahre 1878. Dieselben haben in sehr vollständiger Weise die gegenseitigen Beziehungen zwischen Meduse und Polyp erörtert. Inzwischen wusste man in der wissenschaftlichen Welt, dass Erxst HAECKEL ein grosses und umfangreiches Werk über die Medusenklasse vorbereitete, und man durfte mit grosser Spannung der Publikation dieser Monographie entgegensehen, zumal darin ja eine Fülle von Ma- terial für die Deszendenz einzelner Zweige der Pflanzentiere zu er- warten war. Das Werk liegt seit einiger Zeit abgeschlossen vor uns und wir lernen hier eine unserer elegantesten Tiergruppen auch von einer mor- phologisch interessanten Seite kennen. Harckens >System der Medusen« ist nicht nur ein für den Syste- matiker unentbehrliches Werk, es gebührt ihm auch vom Standpunkte der allgemeinen tierischen Morphologie aus ein hervorstehender Platz in unserer zoologischen Litteratur, indem es über die gegenseitigen Bezieh- ungen der Medusen die klarsten Einblicke gewährt und — wir rechnen dies jedem Autor als hohes Verdienst an — zu vielen neuen Unter- suchungen anregt. Vor allen Dingen hat ein Resultat überrascht. Bisher wurden nur schüchterne Zweifel an der Einheit des Medusenstammes laut. In der äusseren Erscheinung sind fast alle Medusen von so übereinstimmendem Habitus, dass ihre systematische Zusammengehörigkeit im Ernste nicht bezweifelt wurde. Zwar ist ein Gegensatz der beiden grossen Medusen- legionen, der mit Velum versehenen (raspedota und der ihnen gegenüber- stehenden Acraspeda frühzeitig erkannt worden. Sie zeigen auch Ab- weichungen in der Beschaffenheit der Randkörper. Aber das den Cras- pedoten eigentümliche Velum ist ja auch bei einem Teil der höheren Medusen vorhanden (Charybdaca), und so lag es nahe, in diesen Fällen Übergangsbildungen zwischen beiden Gruppen zu erblicken. Nach Hazcken besteht trotz vielfacher äusserlicher Übereinstim- mung eine tiefe Kluft zwischen den kleinen Craspedoten und den grösseren Medusen, beispielsweise den bekannten Scheibenquallen. Ihre Herkunft ‘oder Abstammung ist eine durchaus verschiedene, trotzdem auch die Entwickelung scheinbar gemeinsame Züge darbietet und der Generations- wechsel in beiden Gruppen auftritt. Dass nur die grösseren Medusen in ihrem Magenraum Filament- gruppen entwickeln, welche die allernächsten Beziehungen zu den Mesen- 125 Conrad Keller, Die Abstammungsverhältnisse der Pflanzentiere. terialfilamenten der Korallen aufweisen, ist jedenfalls von der allergrössten Bedeutung. Die Gebrüder Herrwıs machen ferner auf den durch- greifenden Unterschied in bezug auf die Entstehung der Geschlechts- produkte aufmerksam. Bei den Craspedoten stammen sie wie bei den Hydroiden aus dem oberflächlichen Blatte ab — sie sind Ektokarpen. Bei den Scheibenquallen muss ihr Ursprung dagegen aus dem Entoderm hergeleitet werden — sie sind wie die Korallen Entokarpen. Der Generationswechsel, wo er bisher beobachtet wurde, zeigt trotz der gemeinsamen Züge tiefgreifende Unterschiede. Die Ammen der Cras- pedoten sind Hydropolypen, die Scheibenquallen entwickeln sich dagegen aus Scyphopolypen, deren Magenwand in 4 Längswülste oder Täniolen vorspringt. Zwar ist das Vorkommen von solchen Längs- wülsten auch schon für Hydropolypen angegeben worden, allein mir scheint deren Nachweis keineswegs gesichert. Alle diese Thatsachen veranlassen Hazcker, welcher die phyleti- schen Verhältnisse der Medusen schon in seiner »generellen Morphologie« vom Jahre 1566 als sehr verwickelt bezeichnet hatte, zu der Schluss- folgerung, dass ein gemeinsamer Ursprung und eine genetische Zusammen- gehörigkeit aller Medusen nicht angenommen werden darf. Eine Abteilung, nämlich die mit echtem Velum versehenen Cras- pedoten-Medusen, steht in den engsten verwandtschaftlichen Beziehungen zu den Hydroidpolypen, während die Stellung der höheren Acraspeda eine ziemlich isolierte ist, jedenfalls nicht in den Hydroiden wurzelt. Aber auch die Craspedoten besitzen keineswegs einen einheitlichen Ursprung, wie uns ihr Generationswechsel lehrt. Ein Teil geht aus Tu- bularien hervor, ein anderer aus Oampanularien. Der Rest, bei welchen gar kein Generationswechsel mehr vorkommt, kann in seinem Ursprung schwieriger erkannt werden. Aus diesem durch verwandtschaftliche Bande sehr innig verknüpften Formenkreise haben sich noch zwei schärfer ausgeprägte Seitenlinien entwickelt. Es sind dies die Röhrengquallen und die Rippen- quallen oder Ctenophoren. Für die Siphonophoren war es naheliegend, sie direkt aus Hydroid- kolonien hervorgehen zu lassen — ob sie einen einheitlichen oder poly- phyletischen Ursprung besitzen, muss vorläufig noch unentschieden ge- lassen werden. Es ist aber die Vermutung nicht ausgeschlossen, dass die Röhrenquallen umgewandelte Kolonien von craspedoten Medusen darstellen. Ernst Hascken beschreibt mehrere Anthomedusen, welche diese Auffassung zu unterstützen geeignet sind. Die merkwürdigste ist wohl seine Sarsia siphonophora, welche mit ungewöhnlich langem Magenstiele versehen ist, auf dem zahlreiche Medusenknospen aufsitzen. So viel darf zur Zeit als feststehend angenommen werden, dass die Röhrenquallen nicht Individuen, sondern Tierstöcke mit Arbeitsteilung der Einzeltiere darstellen und dass sie mit den Ey duemecee u in engsten Verwandtschafts- resp. Stammesbeziehungen stehen. Viel schwankender gestaltete sich früher die Stellung der Rippen- quallen. Diese Pflanzentiergruppe steht in ihrer Organisation ziemlich Conrad Keller, Die Abstammungsverhältnisse der Pflanzentiere. 127 abgeschlossen und eigenartig da. Die Bewegung mit Hilfe von schwin- genden Ruderplättchen, welche in Reihen angeordnet sind, zeichnet sie vor den Medusen aus, ebenso eine auffällige Hinneigung zur symme- trischen Körpergestalt. Der Gastralraum wird komplizierter, als dies bei den schwimmenden Medusen der Fall ist. Daher finden wir bei dem völligen Mangel an Zwischenformen die Stellung der Rippenquallen verschieden beurteilt. Lovıs Ascassız verwies sie unter die Akalephen, während Huxrry sie mit den Korallen vereinigte. In sehr erfreulicher Weise ist unlängst die Verwandtschaft der ge- nannten Tiergruppe erkannt worden und zwei verschiedene Forscher sind hierüber fast gleichzeitig und auf ganz verschiedenen Wegen zu über- einstimmenden Resultaten gelangt. Im Jahre 1879 veröffentlichte Erssr HAEcKREL in der »Jenaischen Zeitschrift für Naturwissenschaft« die Beschreibung einer in hohem Grade merkwürdigen Meduse aus der Gruppe der Cladonemiden, welche er als Ütenaria ctenophora bezeichnete. Fasst man ihre Körpereigentümlich- keiten zusammen, so stellen sie sozusagen das arithmetische Mittel zwischen den Kennzeichen einer Rippenqualle und einer craspedoten Meduse dar: es ist eine Zwischenform mit Velum, Trichter, Senkfäden und acht Nesselrippen. Hazcker stellt auf Grund dieser Ufenaria die Homologien zwischen Medusen und Rippenquallen her. Kurz darauf erschien die schöne Monographie von C. Cuux, in welcher die Haeckelsche Auffassung der Rippenquallen vollkommen be- stätigt wurde. Auf embryologischem Wege konnte dieser Forscher die meisten von HAECcKEL gezogenen Schlussfolgerungen bestätigen. Über die Herkunft kann also kein Zweifel mehr obwalten!. Der ziemlich vielgestaltige und morphologisch so interessante Stamm der Hydro- medusen ist demnach bezüglich seiner Entwickelung genügend erkannt. Aus den obigen Erörterungen geht aber hervor, dass für die zweite Legion der Medusen, für die höher organisierten Scheibenquallen kein Platz in demselben ist. Sie müssen an anderer Stelle untergebracht werden, und so seltsam es auf den ersten Blick erscheinen mag, so finden wir bei näherer Umschau die nächsten Beziehungen zu den Ko- rallentieren oder Anthozoen. Dieser Gedanke ist in der Neuzeit mehr- fach ausgesprochen worden. Neben Harcrzeu haben auch Craus und Herrwiıc diese Ansicht betont und näher zu begründen versucht. Das Auftreten von Magenfilamenten bei Medusen und Korallen ist sicher bedeutungsvoll. Deren Bau ist näher bekannt geworden, in beiden Gruppen sind es Verlängerungen in die Magenhöhle hinein, welche durch eine Mesodermachse gestützt werden und mit Entodermzellen überzogen erscheinen. In beiden Gruppen kommen auf denselben neben Nessel- zellen auch Drüsenzellen vor, ihre physiologische Bedeutung ist in beiden Abteilungen dieselbe, weshalb sie von Herrwıe als homologe Bildungen aufgefasst werden. Auch mit bezug auf die Herkunft der Geschlechts- zellen zeigen die Scheibenquallen, wie schon erwähnt, nahe Beziehungen zu den Korallen — beide sind Entokarpen. . Vgl. jedoch die abweichende Darstellung dieser Frage durch B. Vetter in Kosmos XII, 673. A.d. R. 128 Conrad Keller, Die Abstammungsverhältnisse der Pflanzentiere. Will man noch weiter gehen, so finden sich in der Entwickelung verwandte Züge. Es mag vielleicht auf den eigenartigen Generations- wechsel der Steinkorallen hingewiesen werden, welcher von SEMPER im Jahre 1872 bekannt gemacht wurde. Bei den Pilzkorallen oder Fungien tritt er in einer Form auf, welche lebhaft an die bei den Scheiben- quallen vorkommende Strobilabildung erinnert. Es kommen noch weitere gegenseitige Beziehungen vor, welche ich an Korallentieren des Roten Meeres beobachtete und unlängst vor- gebracht habe. Ich traf vor zwei Jahren im erythräischen Gebiete zahl- reiche Rasen einer braunen Xenia (X. fuscescens Err.) und konnte an der lebenden Koralle folgende Beobachtungen machen: 1) Die Einzelpolypen führen mit ihrer Mundscheibe und den am Rande befindlichen Fangarmen rhythmische Bewegungen aus, welche augenfällig an die Schirmkontraktionen einer Meduse erinnern. Die Tentakel klappen regelmässig zusammen und führen per Minute etwa 80 Bewegungen aus. 2) Die Kontraktionen erfolgen bei den einzelnen Individuen eines Stockes nicht gleichzeitig, sondern sind’völlig unabhängig von einander. 3) Diese Kontraktionen nehmen auch dann ihren ungestörten Fort- gang, wenn man das Mauerblatt des Tieres bis an die Tentakelbasis heran abträgt. 4) Wird der Einzelpolyp durch einen Längsschnitt halbiert, so ziehen sich die beiden Hälften unabhängig von einander zusammen. Diese Beobachtungen wurden von mir kürzlich in der »Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie« veröffentlicht und ich glaubte auf Grund derselben auf gemeinsame Beziehungen im Nervensystem von Koralle und Meduse folgern zu dürfen. Aus den Hertwigschen Untersuchungen über das Nervensystem der Anthozoen geht nämlich hervor, dass im Bereiche der Mundscheibe und besonders auch in der Nähe der Fangarme nervöse Zentralgebilde vor- handen sind. Bei den Medusen liegen die Nervenzentra an einer ähn- lichen Stelle, nämlich in den Randkörpern, welche genetisch als um- gewandelte Tentakeln zu deuten sind. So mehren sich also die Thatsachen, welche für eine Zusammen- gehörigkeit der Korallen und acraspeden Medusen sprechen. Wir begnügen uns indessen nicht mit der blossen Konstatierung von gemeinsamen Charakteren, sondern suchen den Weg auf, welchen die organische Umbildung und Entwickelung in beiden Gruppen ge- nommen hat. Über diesen Vorgang spricht sich auch HAEckEL in seinem Medusenwerke aus. Nach ihm haben sich die höheren Medusen und Anthozoen sehr frühzeitig von einander entfernt; als Ausgangsform beider betrachtet er die Scyphopolypen. Es sprechen gewichtige Gründe für eine frühzeitige Divergenz beider Gruppen. Geologisch sind die Medusen offenbar ziemlich alte Geschöpfe. Ihre Abdrücke finden sich wundervoll im lithographischen Schiefer von Solenhofen erhalten. Es gibt aber noch einen anderen Weg, auf welchem die Verwandt- schaft erklärt werden kann und für den sich Argumente beibringen lassen. Ben Conrad Keller, Die Abstammungsverhältnisse der Pflanzentiere. 129 Ich halte nämlich die acraspeden Medusen für die ältere Gruppe, aus der die Korallen durch den Übergang von der freischwimmenden in die festsitzende Lebensweise entstanden sein können. Im folgenden gebe ich die Gründe an, welche mir diese Auffassung zu rechtfertigen scheinen. Es muss zunächst auffallen, dass die Scyphopolypen, welche Me- .dusen aufammen, zwar die Längswülste des Magens besitzen, dass aber ‚die Filamentgruppen in der Entwickelung verhältnismässig spät auf- treten. Ich gebe zu, dass man im Einzelfalle mit der Anwendung des biogenetischen Grundgesetzes sehr vorsichtig zu Werke gehen muss, aber immerhin scheint mir obige Thatsache sehr von Bedeutung. Sind Me- ‚dusen und Anthozoen aus Scyphopolypen hervorgegangen, so haben sich möglicherweise die Filamentgruppen der Medusen und die Mesenterial- filamente der Korallen unabhängige von einander entwickelt und sind dann streng genommen keine homologen Organe mehr. Sodann muss auf die Thatsache hingewiesen werden, dass die Medusen in vielen Fällen ihre schwimmende Lebensweise aufgeben und in den sesshaften Zustand übergehen, wobei sie sich umkehren und die Exumbrella als Fussscheibe benutzen. Derartige Thatsachen mehren sich in den letzten Jahren. Nach Acassız lebt eine Scheibenqualle (Polyclonia frondosa) herden- weise auf den Korallenriffen und während der Challengerfahrt sind an den Küsten der Philippinen Scharen von festsitzenden Medusen beob- achtet worden, wie uns Moserry in seinem anziehenden Reisewerke »Notes by a naturalist on the Challenger« berichtet: »In the shallow water were a large number of Medusae all lying on the tops of their umbrellas.. They looked thus posed like a lot of See-Anemones and I took them for such at first.« Ähnliches habe ich auf den Riffen des Roten Meeres an der süd- ‘ägyptischen Küste beobachten können. Hunderte von grossen Medusen aus der Gattung Cassiopea sind dort unbeweglich im Korallensand ver- ankert, indem sie mit der Exumbrella aufsitzen, und ich hielt sie an- fänglich ebenfalls für Seerosen!. Unter den niederen Acraspeda entwickeln die Gattungen Zucernaria und Depastrella einen Stiel, welcher zum Anheften an verschiedene Gegenstände dient. Ich kann noch einen weiteren Fall hinzufügen, welcher die honig- gelbe Mittelmeerqualle Cotylorhiza tuberewlata (Cassiopea borbonica) betrifft. Im Herbst 1583 machte ich mit dieser Qualle Versuche, über welche ich demnächst an anderer Stelle ausführlicher berichten werde. Die Meduse (. borbonica zeichnet sich durch ihr regelmässiges periodisches Erscheinen aus. Man kann oft bis auf wenige Tage genau den Zeitpunkt bestimmen, wann sie eine Lokalität besucht. Im Golf von Neapel er- scheint sie in der Regel um die Mitte des Monats August und verschwindet im Dezember wieder. Es hat bisher niemand die Frage zu beantworten gesucht, wo die ! Vgl. das Referat über die betreffende Arbeit des Verf. in Kosmos XIII, ROLL Ad RR. Kosmos 1884, I. Bd. (VII. Jahrgang, BJ. XIV). oO, 130 Conrad Keller, Die Abstammungsverhältnisse der Pflanzentiere. Meduse die übrige Zeit des Jahres sich aufhält und aus welcher Region sie plötzlich herkommt, um an der Oberfläche des Meeres zu erscheinen. Aus den von mir angestellten Versuchen muss ich schliessen, dass diese Meduse den grössten Teil des Jahres in bedeutender Tiefe lebt, als Tiefseebewohner mit der Exumbrella auf dem Grunde aufsitzt und nur zeitweise zum Zwecke der Fortpflanzung in die pelagische Region auf- steigt. Es gelang mir in Neapel, zahlreiche Exemplare von Cassiopea borbonica in der genannten Weise in den festsitzenden Zustand über- zuführen, bei jungen Exemplaren schon nach 12 Stunden, bei älteren erst nach 24—50 Stunden. Alle unverletzten und lebenskräftigen Tiere setzen sich in der Weise fest, dass die Exumbrella als Fussscheibe benutzt wird und man den Eindruck einer Aktinie erhält. In diesem Zustande und ohne sich von der Stelle zu bewegen, leben die Medusen nicht nur tagelang, son- dern wochenlang weiter. Sind diese bei Medusen aus verschiedenen Gattungen auftretenden Erscheinungen zufällig oder nicht?” Ich glaube, sie geben uns einen Wink über die Entstehung der Korallen. Da nun Anthozoen bereits in silurischen Ablagerungen auftreten, so erforderte meine Ableitung ein sehr hohes geologisches Alter der Medusen, und allerdings lassen sich die bisher bekannt gewordenen Thatsachen der Paläontologie auch zu meinen Gunsten verwerten. Dass die Medusen geologisch alt sind, beweist ihr Auftreten im lithographischen Schiefer von Solenhofen. Es sind aber auch Medusen aus den uralten cam- brischen Ablagerungen bekannt gemacht worden. Unlängst hat G. NArHors? solche Abdrücke beschrieben und abgebildet (vgl. Om Aftrik af Medusor. 1551). Wenn man die getreuen Abbildungen näher durchgeht, so scheint in der That die Deutung als Medusen keineswegs gewagt. Insbesondere gilt dies für Medusites Lindströmi. Dagegen will ich nicht verhehlen,, dass mir eine andere Art, Medusites favosus, keineswegs eine Meduse zu sein scheint, sondern vielleicht eher als Spongie gedeutet werden dürfte. Wenn somit verschiedene Momente es wahrscheinlich machen, dass die Anthozoen aus Medusen hervorgingen, so fehlen uns zur Zeit noch nähere Anhaltspunkte, wie die Einzelheiten in der Entwickelung vor sich gingen. Bei dem gänzlichen Mangel von Zwischenformen müssen wir uns über diese Punkte eines Urteils enthalten. — Ob dieser Übergang nur einmal oder wiederholt erfolgte, bleibt ebenfalls noch eine offene Frage. Es ist nicht undenkbar, dass die grösseren Abteilungen der Anthozoenklasse ähnlich wie die Craspedoten einen verschiedenartigen Ursprung besitzen. Bei der Schwierigkeit, ein natürliches System der Korallen aufzustellen, kann die Affinität der einzelnen Korallenzweige erst dann mit Sicherheit bestimmt werden, wenn die histologischen und entwickelungsgeschichtlichen Thatsachen vollständiger vorliegen. Vor- läufig sind es nur die achtstrahligen Korallen, welche in ihrem Zusam- menhange besser erkannt werden konnten. Ähnliche Anschauungen, wie ich sie mit bezug auf den Zusammen- hang der höheren Medusen und Korallen entwickelte, hat fast gleich- zeitig und unabhängig von mir kürzlich Carı Vocgr veröffentlicht. In Conrad Keller, Die Abstammungsverhältnisse der Pflanzentiere. 131 seinem im Erscheinen begriffenen »Traite d’anatomie comparee« leitet auch er die Anthozoen von den höheren Medusen ab. Die von ihm angestrebte Beweisführung aber ist eine von, der meinigen verschiedene. Vor geht von dem allgemeinen Gesichtspunkte aus, dass frei- lebende und schwimmende Tierformen phylogenetisch älter sind als fest- sitzende Arten. Für ihn stellen jene einen primären Organisationszustand dar, aus welchem durch parasitäre Lebensweise und anderweitige Ur- sachen die festgesogenen, klammernden und sessilen Arten sich heraus- gebildet haben. Im grossen und ganzen kann die Richtigkeit dieser Annahme nicht geleugnet werden, sie ist in der Mehrzahl der Fälle zutreffend und wirft ein erklärendes Licht auf die freilebenden Jugendstadien zahlreicher fest- sitzender Tiergattungen. Wir ersehen ja aus zahlreichen Übergangsstufen, wie Schmarotzer- krebse aus freilebenden Gattungen hervorgehen. Die Vorläufer der schmarotzenden Saugwürmer und Bandwürmer suchen wir mit aller Be- rechtigung in freibeweglichen Formen. Die gestielten Rankenfüsser hatten freibewegliche Vorfahren, wie uns die Naupliuslarve wahrscheinlich macht. Daher denkt sich Carı Vor einen Medusenzustand als phylogenetische Vorstufe der sessilen Korallen. So richtig diese Erwägungen im allgemeinen sind, so dürfen sie im speziellen Falle doch nur mit Vorsicht zur Anwendung kommen und müssen noch durch weitere Beweisgründe gestützt werden. Gelegentlich sehen wir in der Tierwelt ja auch den umgekehrten Entwickelungsgang sich vollziehen. So gibt es Anthozoen (gewisse Aktinien), welche schwimmen. Der freibeweglichen Comatula geht ein festsitzender pentacrinusähnlicher Zustand voraus, welcher sich in der Keimesgeschichte noch erhalten hat. Viele Bestandteile der subpela- eischen Tierwelt sind wahrscheinlich aus sesshaften Bewohnern des Küsten- gebietes hervorgegangen. Wenigstens hat die Annahme am meisten Wahrscheinlichkeit für sich, dass, wie oben gezeigt wurde, die cras- pedoten Medusen genetisch jünger sind als die festsitzenden Stöcke der Hydroiden. Für den speziellen Fall der Anthozoen aber dürfte auch die Vogt- sche Anwendung zulässig erscheinen, nachdem ich seither an Cassiopea borbonica den experimentellen Nachweis erbracht habe, dass die Meduse sich leicht in einen festsitzenden Zustand überführen lässt ''. Um vollständig zu sein, müssen wir endlich auch noch den letzten grossen Cölenteratenzweig — die Schwämme oder Spongien — näher berücksichtigen. Es ist bekannt, wie vernachlässigt diese Tiergruppe lange Zeit ' Wie uns scheinen will, sind gerade die höheren Medusen vortrefflich ge- eignet, den Vogtschen Satz in seiner Allgemeinheit zu widerlegen; denn ihre Ent- wickelung durchläuft nach dem freien Gastrulazustande bekanntlich das festsitzende Scyphistomastadium, das, obgleich die Meduse erst als zweite Generation an diesem entsteht, doch unzweifelhaft als Wiederholung eines Vorfahrenzustandes aufzu- fassen ist. AN, 08 In 132 Conrad Keller, Die Abstammungsverhältnisse der Pflanzentiere. hindurch blieb und welche systematischen Irıfahrten dieselbe durchzu- machen hatte, bis sie endlich definitiv den heutigen Platz einnehmen konnte. Man hat sie erst bei den Protozoen untergebracht und einen Anschluss in der Nähe der Radiolarien gesucht; dann sind sie wiederum als Kolonien von Flagellaten erklärt worden; es tauchte sogar der Vor- schlag auf, sie zu einem eigenen Typus zu erheben. RupoLr LeuckArT hat sie zuerst als Pflanzentiere zu deuten ver- sucht und Ernsr Haccker hat in der Folge im einzelnen ihre CGölenteraten- natur begründet. In dem letzten Jahrzehnt hat die Kenntnis der Spongien eine erfreuliche Ausdehnung gewonnen, ihr histologischer Aufbau ist bis ins Detail bei ganz verschiedenen Gruppen bekannt geworden und auch die Entwickelungsgeschichte hat sich mehr und mehr aufgehellt. Aber wir müssen uns damit vorläufig zufrieden geben. Die Ab- stammung der Spongien bleibt einstweilen noch in grosses Dunkel ge- hüllt. Alle Annahmen erheben sich nicht über die Stufe unsicherer Hypothesen. Der Aufbau des Körpers aus drei Leibesschichten, das Kanalwerk und die Art der Skelettbildung lassen an eine nähere Beziehung zu den Korallen denken. Aber das vollständige Fehlen von Nesselorganen und Fangarmen sowie der Besitz von Hautporen entfernt sie weit von den Hydrozoen und Anthozoen. Auch die Entstehung der Geschlechts- zellen ist von beiden Gruppen verschieden, denn die Spongien erzeugen wohl alle die Genitalprodukte im Mesoderm. F. Batrour hat den Gedanken geäussert, die Spongien möchten als degenerierte Abkömmlinge gewisser Korallen, möglicherweise der Al- cyonarier, aufzufassen sein. In dieser Korallengruppe haben sich ja auch verzweigte Ausläufer des Gastralraumes ausgebildet. Doch hat nach demselben Autor eine andere Annahme vielleicht noch mehr Be- rechtigung. Mit Rücksicht auf die Larvenform gewinnt die Vermutung Raum, dass die Spongien sich aus vielzelligen Protozoen heraus ent- wickelt haben. In diesem Falle ist man zu der Voraussetzung genötigt, dass die Larven gewisser Spongien die Charaktere eines derartigen Vor- fahrentypus unverfälscht beibehalten haben. Ich gestehe, dass ich mir zur Zeit über die Herkunft der Spongien noch kein sicheres Urteil bilden konnte. Obige Zusammenfassung der Stammesverhältnisse bei Pflanzentieren gebe ich als das, was sie zur Zeit nur sein kann — eine Darlegung des Entwickelungsganges einer grösseren Tiergruppe, wie er sich bei dem heutigen Stande der zoologischen Wissenschaft darbietet. Manches wird im Laufe der Jahre vielleicht noch besser begründet, anderes durch neue Thatsachen klarer gestellt werden. Zoologische Reisen per segelschiff. Eine Anregung von Dr. Wilhelm Breitenbach. Als ich im Juni 1853 in Porto-Alegre den Entschluss gefasst hatte, wieder nach Europa zurückzukehren, machte mir ein Freund den Vor- schlag, meine Reise auf einem Segelschiff zu machen. Er selbst sei öfter mit Segelschiffen gefahren und sei fest überzeugt, mein Entschluss würde mich später nicht gereuen. Da es mir auf einige Wochen Zeit gerade nicht ankam, so beschloss ich dem Rate meines Freundes zu folgen und mietete mir von dem mir bekannten Capt. H. Oldenburger einen Platz auf seinem nach Falmouth in England bestimmten Schoner »Goedhart«. Nachdem wir die Lagoa dos Patos durchfahren, uns einige Wochen (wegen der noch zu komplettierenden Ladung) in Pelotas aufgehalten hatten, von wo ich einen Abstecher nach der Kolonie Sao Lourenzo machte, stachen wir, nachdem die Barre von Rio Grande ohne sonderliche Hindernisse passiert war, am 12. Juli nachmittags in See. Trotzdem ich durchaus nicht besonders darauf vorbereitet war, hatte ich mir doch vorgenommen, unterwegs so viel wie möglich Seetiere zu sammeln und zu beobachten. Ich bin im Laufe meiner Reise, die am 25. Sept. zu Ende ging, immer mehr zu der Überzeugung gekommen, dass namentlich jungen Zoologen, welche einige Strapazen und manche Unbequemlichkeiten auf einem kleinen Segelschiffe nicht fürchten, eine solche Reise per Segelschiff zu wissenschaftlichen Zwecken sehr zu empfehlen ist. Ehe ich dazu über- gehe, anzugeben, was und wie man unterwegs sammeln und beobachten kann, will ich die pekuniäre Seite der Frage etwas ins Auge fassen. Am 15. Juni fuhren wir von Porto-Alegre ab und kamen am 25. Sept. in Falmouth an; die Reise hat also mehr als drei Monate gedauert. Für diese ganze Zeit habe ich mit vollständiger Verpflegung 150 Milreis oder etwa 300 Mark bezahlt; jedenfalls ist das ein sehr niedriger Preis für eine dreimonatliche Seereise. Welche reiche Ausbeute könnte man haben, wenn man etwa folgende Reise machte: Von Hamburg aus fährt man auf einem Schoner oder einer Bark nach Rio de Janeiro oder Santa Catharina in Brasilien. Hier angekommen, hält man sich etwa zwei Mo- 134 Wilhelm Breitenbach, Zoologische Reisen per Segelschiff. nate auf; den einen Monat verwendet man auf eine Erforschung der Küstenfauna, die in Brasilien noch wenig bekannt ist, den zweiten Monat benutzt man zu einem weiteren Ausflug ins Innere des Landes, wobei man Gelegenheit genug hat, eine hübsche Sammlung von Pflanzen und Tieren, besonders Insekten, Reptilien, Amphibien und Vögeln anzulegen. Darauf macht man entweder mit demselben Segelschiff oder mit einem andern die Reise nach Europa zurück. Eine solche Reise von einer Dauer von ungefähr sieben Monaten dürfte nicht mehr als 2500 Mark kosten, vorausgesetzt, dass alle unnützen Ausgaben vermieden werden. Unter den jüngeren deutschen Schiffskapitänen gibt es eine ganze Anzahl, die selbst sich auf ihren Reisen mit Sammeln befassen; es würde diesen, falls sie Platz auf dem Schiffe haben, gewiss nur Vergnügen machen, wenn sie einen jungen Naturforscher mitnehmen könnten. In Falmouth lernte ich einen deutschen Kapitän kennen, der schon Jahre lang nach Östindien fährt und immer fleissig gesammelt hat; derselbe wollte mich unentgeltlich nach Ostindien mitnehmen und auch wieder zurückbringen, nur für Verpflegung wollte er Bezahlung nehmen. Es wäre sein Lieb- lingswunsch, sagte er mir, einmal mit einem Naturforscher zu reisen, jetzt finge und sehe er so manches, was ihm unbekannt sei, anderes wieder, was vielleicht grossen Wert für die Wissenschaft habe, lasse er unbe- rücksichtigt, weil es ihm alltäglich vorkomme. Dazu fehle es ihm auch noch an der nötigen Litteratur-Kenntnis, um sich selbst so weiter zu bilden, wie er gern möchte. Ein junger Naturforscher könnte sich Glück wün- schen, wenn es ihm gelänge, mit solchem Mann eine weite Seereise zu machen. Der holländische Kapitän meines Schoners, der von Zoologie keine Ahnung hatte, hat mir nichtsdestoweniger redlich geholfen und bald war er ganz unermüdlich, mir immer mehr Tiere zu verschaffen; manchen Kunstgriff, auf den ich wohl kaum gekommen wäre, hat er mir gezeigt, viele schöne Tiere, namentlich Siphonophoren hätte ich ohne ihn kaum bekommen. Er wusste die besten und einfachsten Instrumente zu kon- struieren, um selbst bei schneller Fahrt die Tiere zu erwischen. Einige solcher einfachen, aber sehr praktischen Fangmethoden mögen zu Nutz und Frommen etwaiger Kollegen, welche gleich mir eine zoo- logische Segelschiffreise machen wollen, hier mitgeteilt werden. Gleich in den ersten Tagen, als wir auf See waren, hätte ich gern einige der zahlreichen Seevögel gehabt, welche sich in der Nähe des Schiffes um- hertrieben. Aber wie dieselben erhalten? Als ich dem Kapitän meinen Wunsch mitteilte, schüttelte er erst bedenklich den Kopf, dann schien ihm ein Gedanke zu kommen; er ging in die Kajütte und holte eine lange Angelschnur. An die Angel steckte er ein Stückchen Speck und einen Kork, damit sie auf dem Wasser schwämmen, und so warf er die Schnur vom Hinterteil des Decks ins Meer. Es dauerte kaum einige Minuten, da hatten sich an zehn Vögel in der Nähe des Specks nieder- gelassen, und in zehn Minuten hatte ich drei Vögel »geangelt«. Wir haben das Experiment mit demselben Erfolge oft wiederholt. Wer möchte wohl auf den Gedanken kommen, Vögel mit der Angel zu fangen? Manche der niedlichen Tiere, die wir fingen, haben wir tagelang an Bord gehabt, so dass sich Gelegenheit bot, dieselben lebend zu beobachten. Wilhelm Breitenbach, Zoologische Reisen per Segelschitt. 135 Pelagische Tiere, wie Polycyttarien, Krustaceen, Medusen, Würmer fing ich mit Oberflächennetzen in der einfachsten Weise. Bei ruhigem Wetter und langsamer Fahrt (nicht mehr als 3 Meilen) liess ich vom Hinterteil des Schiffes aus in der Regel zwei Netze an ziemlich langen Leinen nachschleppen. Durch die Bewegung des Schiffes selbst hielten sich dieselben an der Oberfläche. Von Zeit zu Zeit zog ich die Netze ein, um zu sehen, ob etwas in ihnen sich gefangen hatte. Auf diese höchst einfache und mühelose Art ist es mir gelungen, viele schöne Sachen zu erlangen. Am Abend oder in der Nacht ist diese Fangmethode sehr vorteilhaft anzuwenden und zugleich bietet sie manchen Genuss. An vielen Abenden fuhren wir durch grosse Scharen von Feuerquallen (Pelagia), die wir ohne das Netz kaum bemerkt hätten, da sie fast gar nicht leuch- teten. Sobald aber eine oder mehrere dieser Pelagien in das Netz ge- raten waren und mit den Wandungen desselben oder mit einander in Berührung kamen, leuchteten sie hell auf, so dass man sie aus ziemlich grosser Entfernung innerhalb des Netzes deutlich erkennen konnte. Durch vorsichtiges Aufziehen des Netzes konnte ich mich dann in Besitz der schönen Tiere setzen. So habe ich in den Abendstunden des 14. Sept. unter 39° 44° N. B. und 10,5 Meilen OSO. von der Azoren-Insel Corvo einige zwanzig schöne grosse Pelagien gefangen. Ein andermal, am 8. Sept., unter 36° 26° N. B. und etwa 35 "W.L. bekam ich innerhalb einer halben Stunde Tausende von Ephyra-Larven auf den verschiedensten Entwickel- ungsstufen. Grössere Oberflächentiere, wie Siphonophoren, Cephalopoden, ver- schiedene schöne Nacktschnecken, Schnecken mit einem eigentümlichen hydrostatischen Apparat, Salpen, ferner Medusen und viele andere Tiere haben wir mit vielem Glück auf folgende höchst einfache Weise trotz bewegter See und ziemlich schneller Fahrt gefangen. An einem Ende einer langen Stange war ein Ring befestigt, an welchem ein kleines grob- maschiges Netz angebracht war; mit diesem Instrument stellte ich mich an den Bugspriet des Schiffes, um namentlich die Physalien und Velella zu erwischen. Kommt z. B. eine schöne rote Physalia auf das Schiff zu, so hält man ihr das kleine Netz entgegen; mit den stark klebrigen Senkfäden bleibt das Tier ausnahmslos in den Maschen des Netzes hängen, so dass man es ohne Mühe und völlig lebensfrisch an Bord holen und in ein bereitstehendes Gefäss mit Wasser bringen kann. Die einzige Beschädigung, die das Tier bei diesem’ Fang erleidet, ist die, dass Stücke von einzelnen Senkfäden abreissen, was aber wohl kein grosses Unglück ist. Man kann sich bei dieser Gelegenheit aufs schönste von der kolos- salen Länge überzeugen, zu der diese Senkfäden ausgezogen werden können; man legt z. B. die Enden einiger Senkfäden auf die Schiffswand, an der sie sofort fest haften bleiben, und geht dann mit dem Körper des Tieres nach hinten. So konnten wir bei grossen Physalien die Senkfäden fast über die ganze Länge des Schiffes hin ausdehnen. Wenn man die grosse Zahl der Senkfäden bei einer erwachsenen Physalie bedenkt, so begreift man, welchen grossen Raum diese wunderbaren Geschöpfe mit ihren furchtbaren Waffen beherrschen können. Mit diesem selbigen ein- fachen Netz fing ich in der Nähe der Azoren-Insel Corvo grosse Mengen 136 Wilhelm Breitenbach, Zoologische Reisen per Segelschiff. fusslanger Salpen, die zuweilen in Ketten uns entgegentraten von 10 Fuss Länge und darüber. Velellen, selbst kleine, junge Exemplare, bleiben ver- möge der Klebrigkeit der Tentakeln leicht in den Maschen des Netzes. hängen. Wollten wir kleinere Tiere an Bord holen, z. B. Porpita, von denen wir mehreremale zu Tausenden zählende Schwärme angetroffen haben, Würmer, Mollusken, kleinere Medusen etc., so befestigten wir an Stelle des Netzes ein blechernes, nicht zu tiefes- Schöpfgefäss an der Stange. Man stellt sich beim Fang aber nicht an den Bug des Schiffes, sondern an die Seitenwand. Das Schöpfgefäss darf nicht zu gross und zu tief sein, da es sonst zu schwer zu handhaben ist. Übrigens erwirbt man sich auch darin bald eine bedeutende Geschicklichkeit. Diesem einfachen Gerät verdanke ich eine Menge wertvoller Sachen, namentlich Hunderte von Porpita, zahlreiche Schnecken, eine Anzahl Dekapoden, kleine Salpen, Medusen, prachtvolle Polyceyttarien von oft enormer Grösse und manches. andere. Dass man bei ruhigem Wetter auch Fische mit der Angel fangen kann, dass man grössere Fische mit der Harpune erbeuten kann, braucht wohl kaum besonders hervorgehoben zu werden. Fliegende Fische lässt man sich selbst fangen; sie fliegen nachts in ganzen Scharen gegen die Segel, fallen auf Deck und werden gebraten am andern Morgen zum Frühstück verzehrt. Ich will hier auf den wirklich vorzüglichen Geschmack der fliegenden Fische aufmerksam machen; in der That kenne ich nicht viele Seefische, die in dieser Hinsicht mit denselben wetteifern können, was auch unser schöner grosser Kater, den wir an Bord hatten, sehr wohl einzusehen schien. Dieses Tier schlief den ganzen Tag; sobald es aber Abend wurde, kam es an Deck und setzte sich in das Tauwerk, um jeden fliegenden Fisch sehen zu können, der gegen die Segel flog. Manchmal hat unser Kater in einer Nacht vier oder fünf Fische gefangen und verzehrt und so unser Frühstück nicht wenig geschmälert. Einige praktische Winke mögen hier noch Platz finden. Man wähle zur Reise ein möglichst kleines Schiff, dessen Deck nicht hoch über Wasser ist; je näher man sich an der Meeres-OÖberfläche befindet, desto leichter und bequemer kann man natürlich fangen. Die Gläser, in denen man die gefangenen Tiere etwa lebend zur Beobachtung aufbewahren will, muss man, um sie bei dem Schaukeln und Rollen des Schiffes vor dem Umfallen zu bewahren, in eine Vorrichtung stellen, ähnlich den Ge- stellen, in denen in chemischen Laboratorien die Reagenz-Gläser auf- bewahrt werden. Zu mikroskopischen Arbeiten wird man während der Reise kaum kommen; ich habe gänzlich darauf verzichtet. Dagegen kann man sich ein mikroskopisches Laboratorium später im Hafen leicht ein- richten. Zeichnungen von ganzen Tieren oder auch Teilen mit Hilfe einer guten Lupe lassen sich während der Fahrt ganz gut anfertigen; bei Windstille kann man allenfalls auch mikroskopieren. Dass man natürlich nicht versäumt, während der ganzen Reise meteorologische Be- obachtungen anzustellen, ist wohl selbstverständlich. Während unserer Reise befanden wir uns einige Tage in dem so- genannten Sargasso-Meer. Ich habe schon in meinem Aufsatz »Mimiery Wilhelm Breitenbach, Zoologische Reisen per Segelschift. 137 bei Seetieren« (Kosmos 1584, Bd. I, S. 24) darauf hingewiesen, dass ein Zoologe auf einer Segelschiffreise etwa nach Westindien die beste Ge- legenheit haben würde, die Sargassofauna eingehend zu studieren. Hat man Fässer zur Verfügung, so kann man grosse Mengen von Sargassum an Bord holen und hat Arbeitsmaterial in Überfluss. Namentlich bio- logische Beobachtungen würden sich im Sargasso-Meer als lohnend erweisen. Da der Mensch von wissenschaftlichen Beobachtungen allein nicht leben kann, sondern auch essen und trinken will, so sind einige Be- merkungen über die Verpflegung auf kleinen Segelschiffen nicht unnötig. Dass die Verpflegung nicht so ist wie auf den luxuriösen transatlantischen Dampfern, ist klar. Wir hatten ein einfaches, aber ausreichendes und nahrhaftes Essen. Übrigens kann sich, wer in dieser Hinsicht etwas ver- wöhnt ist, ja manches mitnehmen, also z. B. Fleisch in Büchsen, Gemüse u. s. w. Auch lässt sich ja der Bestand an lebendem Vieh, der auf kleinen Segelschiffen sich auf ein paar Schweine und einige Hühner zu beschränken pflegt, mit nicht zu grossen Unkosten vermehren, etwa durch zwei Hammel, durch Hühner oder Enten, so dass man das frische Fleisch nicht zu lange zu entbehren braucht. Nach dem, was ich auf meiner Reise von Rio Grande nach England erlebt und beobachtet habe, glaube ich bestimmt, dass sich zoologische Reisen in der vorgeschlagenen Weise sehr dankbar erweisen würden. Schon die billige Art und Weise, in der die Gelegenheit geboten ist, z. B. ein Tropenland zu sehen, müsste zu dem Unternehmen anlocken. Ich möchte wünschen, dass ein jüngerer Zoologe, der über die nötige Zeit verfügt, sich meinen Vorschlag überlegte und eine solche Reise aus- führte. Zu jeder näheren Auskunft, soweit ich sie zu geben vermag, bin ich selbstredend jederzeit bereit. Wissenschaftliche Rundschau. Physiologie. Die mechanische Aufnahme der Nahrungsmittel in der Darmschleimhaut hat Prof. R. Wırpersueın zum Gegenstand einer interessanten Mit- teilung gemacht, welche in der Festschrift zur letztjährigen Naturforscher- versammlung in Freiburg i. Br. veröffentlicht wurde. Bekanntlich erregte es vor einigen Jahren nicht geringes Aufsehen, als durch Untersuchungen von GEGENBAUR, JEFFERY PARKER und MErscHnIkorr festgestellt wurde, dass die sogenannte >»intracelluläre Nahrungsaufnahme«, d. h. die Fähig- keit, feste Nahrungspartikelchen durch aktive amöboide Bewegung des Zellkörpers in diesen hineinzubefördern und zum Zwecke der Verdauung darin festzuhalten, nicht, wie man bisher geglaubt, nur auf das freie Protoplasma der Protozoen beschränkt ist, sondern ebenso den Entoderm- zellen der Spongien und der eigentlichen Cölenteraten zukommt. Zum Teil schon vorher waren ganz gleiche Beobachtungen bei zahlreichen Turbellarien gemacht worden: mögen dieselben einen gesonderten Darm- kanal besitzen oder nicht, jedenfalls dringt die Nahrung unmittelbar in die verdauenden Zellen ein, die häufig auch amöboide Bewegungen zeigen. Höhere Strudelwürmer dagegen, Anneliden, Rädertierchen und viele andere Würmer haben diese Erscheinung bisher nicht erkennen lassen, und gleiches gilt von den Arthropoden, Mollusken und Wirbeltieren. Die Frage, wie die Nahrungsaufnahme bei diesen erfolge, wurde früher einfach mit dem Hinweis auf die Verdauungssäfte beantwortet, welche die in den Magen und Darm eingeführten festen Stoffe in Lösung überführen und auf diese Weise befähigen sollten, durch die feste Mauer des Darmepithels hindurch zu diffundieren und in die Chylusgefässe zu gelangen; um jedoch die Aufnahme fester Partikelchen sowie der inner- halb der Epithelzellen und bis in die Lymphbahnen der Submucosa hinein nachgewiesenen Fetttröpfchen zu erklären, sah man sich zu der Annahme genötigt, dass irgendwelche porenartige Öffnungen in dem fein gestri- chelten Basalsaum jener Zellen oder (Brücke) feine protoplasmatische Fortsätze derselben einen solchen Durchtritt ermöglichten, obwohl in bezug auf letzteres sichere Beweise von keinem Wirbeltiere beigebracht Wissenschaftliche Rundschau. 139 werden konnten. Übrigens können auch Eiweisse bekanntlich nur in peptonisiertem Zustand hinlänglich rasch und reichlich diffundieren:; um aber Peptone zu bilden, müssen notwendig Pepsindrüsen vorhanden sein. Solche fehlen nun den phyletisch ältesten Wirbeltieren, dem Amphioxus, den Cyclostomen und wahrscheinlich auch den Dipnoern vollständig. Wie geht bei diesen Tieren die Eiweissresorption vor sich ? Der Lösung dieser Fragen ist man in den letzten Jahren von ver- schiedenen Seiten nähergetreten. Verf. teilt zunächst eine Beobachtung mit, die er selbst schon 1875 an Spelerpes fuscus und ein Jahr später v. Tuax- HOFFER am Frosch gemacht hat. »Zwischen den im Darmkanal ziemlich häufig vorkommenden Flimmerzellen fanden sich auf grosse Strecken hin jene längst bekannten gewöhnlichen Darmepithelien; allein von jenem Basal- saum war im frischen Präparate nichts zu erkennen. Die freien Ränder erschienen im Gegenteil ohne jegliche scharfe Begrenzung, gleichsam offen, unregelmässig gelappt, aufgefasert und da und dort wie eingerissen und in dickere Flimmerhaare zerfallend.< Und diese freien Ränder und Faserfortsätze waren in aktiver Bewegung begriffen, veränderten langsam ihre Form, wurden gelegentlich in den Zellenleib zurückgezogen. Es ist also kaum zu bezweifeln, dass sie in ähnlicher Weise bei der Ernährung mitwirken wie die entsprechenden Zellen der niedersten Metazoen. Fast noch bedeutsamer erscheint eine andere Beobachtungsreihe, welche an die schon längst bekannten Nester von weissen Blutkörperchen oder Lymphzellen in der Submucosa des Säugetierdarmes anknüpft. EvinGEer fand dieselben 1577 auch bei Fischen, und zwar sah er sie von der Submucosa aus zwischen die Epithelzellen emporsteigen, manch- mal unter fadenartiger Ausziehung gegen das Darmlumen sich vordrängen, ja nicht selten waren sie schon ganz hindurchgetreten. Verf. konstatierte seinerseits 1881 durch Versuche an zwei lebenden Selachiern, dass Farbstoffe, welche man der Nahrung beigemischt, massenhaft in jene Lymphzellen des Oesophagus, z. T. auch des Mitteldarmes gelangen und zugleich, allerdings viel später, im Innern einzelner Epithelzellen an- getroffen werden. Hiernach scheinen also bei den Fischen einmal die weissen Blutkörperchen als Wanderzellen ins Darmlumen überzutreten, sich mit festen Nährstoffen zu beladen und damit wieder in jene Nester, welche ganz den Lymphfollikeln der Säugetiere entsprechen, zurückzu- kehren, daneben aber auch die Epithelzellen selbst wie bei Spelerpes und beim Frosch durch amöboide Fortsätze Fremdkörper an sich zu reissen, um sie wahrscheinlich ebenfalls an die Lymphkörperchen ab- zugeben. Drei neuere Arbeiten haben diese Annahme bestätigt. Nach F. Hormeıster bilden die Lymphzellen des Darmes das Mittel, »um die Peptone vor ihrem Übertritt in den Säftestrom festzuhalten und zu binden. Wären sie nicht vorhanden, so würden, wie Experimente beweisen, die direkt in die Blutbahn eingeführten Peptone zu Vergiftungserscheinungen führen und, falls der Weg zur Niere offen ist, schliesslich zum grössten Teil unverändert mit dem Harn wieder ausgeschieden werden.«< Genau wie die roten Blutkörperchen zum Sauerstoff, so verhalten sich also die weissen zu den Peptonen, »die sie, ohne ihre charakteristischen Eigen- 140 Wissenschaftliche Rundschau. schaften zu verwischen, toxisch indifferent machen und vor dem Übertritt in den Harn bewahren.< Sodann beobachtete Pr. StTöHr eine massen- hafte Auswanderung Iymphoider Zellen aus den Tonsillen, aus den soli- tären und aggregierten Follikeln des Darmes sowie aus den Balgdrüsen und der Bronchialschleimhaut des Menschen und vieler Säugetiere mit häufigem Austritt in die angrenzenden Hohlräume, glaubte aber, dass es sich bei diesem Vorgang, den man bis dahin nur als Folge gewisser pathologischer Affektionen des Darmes und des Bronchialbaumes an- gesehen hatte, um eine Ausscheidung »verbrauchten Materiales« handle. Endlich vermochte ZawArykın durch geeignete Behandlung von Darm- stücken des Hundes, des Kaninchens und der Ratte den Schluss höchst wahrscheinlich zu machen, dass die ins Darmlumen übergewanderten Lymphzellen insbesondere auch Fettmoleküle aufnehmen und dann wieder zwischen den Darmepithelzellen hindurch in das adenoide Gewebe und in die netzartigen Chylusbahnen und von da schliesslich in den Blut- strom gelangen, wo er sie direkt nachweisen konnte. Damit eröffnet sich uns ein höchst wertvoller Einblick in die all- mähliche Differenzierung der Ernährungsfunktion und ihrer Werkzeuge. Ursprünglich war unzweifelhaft jede Zelle des Metazoenkörpers zur Nahr- ungsaufnahme befähigt und diese bestand, wie schon oben erwähnt wurde, in einem rein mechanischen Ansichreissen fremder Stoffe durch pseudopodienartig ausgestreckte Protoplasmafortsätze (die eigentliche Assimilation hatte natürlich wie bei den Protozoen intracellulär auf chemischem Wege vor sich zu gehen). Sehr früh verloren dann natürlich die Zellen des Ektoderms diese Fähigkeit — wenn auch gewiss in manchen Abteilungen an verschiedenen Stellen der Körperoberfläche eine Modifikation derselben sich erhalten haben mag —: unter den übrigen kam es sodann zu einer zweifachen Arbeitsteilung: einmal trat, für ge- wisse Stoffe wenigstens, die Ausscheidung lösender Säfte und Fermente in das Darmlumen mehr und mehr an die Stelle des primitiven Modus, welcher jedoch daneben bei niederen Würmern und selbst bei niederen Wirbeltieren noch für eine Reihe der wichtigsten Nahrungsbestandteile, die Eiweisse und Fette, fortbesteht; zweitens aber hatte die Entstehung eines eigentlichen Mesoderms, wie wir es bereits unter den Cölenteraten bei Schwämmen und Ctenophoren antreffen, notwendig zur Folge, dass einzelne Zellen desselben die Aufgabe der Nahrungszufuhr übernahmen, indem sie (unter Beibehaltung der ursprünglich sämtlichen Elementen dieser Leibesschicht zukommenden amöboiden Beweglichkeit) als »Wan- derzellen« in das Darmlumen übertraten, um hier in der geschilderten Weise sich vollzufressen und dann, ins Mesoderm zurückgekehrt, ihren Überfluss auf langsamer Wanderschaft wieder an die hungrige Umgebung abzulassen. Die zahllos verschiedenen Stufen und Abänderungen dieses dop- pelten Differenzierungsvorganges sind uns fast alle noch unbekannt; jedenfalls aber dürfen wir die bei niederen Wirbeltieren noch vorhandene amöboide Beweglichkeit der entodermalen Epithelzellen ebenso wie diejenige der mesodermalen Lymphzellen »als ein uraltes Erbstück von den niedersten Wirbellosen her auffassen«. »Von den Knochenfischen 4 u. Zul Wissenschaftliche Rundschau. 141 und vielleicht schon von einzelnen Selachiern an verlieren jedoch die Darmepithelien die Fähigkeit, feste Stoffe aufzunehmen ;« sie erscheinen >nur noch zur Aufnahme ganz bestimmter und in bestimmter chemischer Richtung veränderter Stoffe befähigt; kurz die einzelne Zelle verhält sich jetzt, ähnlich wie die Drüsenzellen, der aufzunehmenden Materie gegen- über auswählend.« | Es kann nicht überraschen, dass sowohl Durchwanderung von Lymphzellen als Aufnahme fester Partikelchen von seiten der Epithel- zellen in einem anderen Organe sich unverändert erhalten haben, nämlich in der Lunge, deren Vermögen, feine inhalierte Staub- und Kohlen- teilchen durch das Alveolenepithel aufzunehmen und im interstitiellen Gewebe abzulagern, längst bekannt ist. Ihre zellige Auskleidung stammt ja vom Entoderm ab, und dass dieselbe hier ihr ursprüngliches Verhalten bewahrt hat, erklärt sich einfach daraus, dass hier »Alles auf Schaffung einer möglichst grossen und freien Permeabilität für die Gase abzielt« Eine gewisse Schwierigkeit ergibt sich noch daraus, dass der Darm- kanal bei Amphiorus und der Larve von Petromyzon in ganzer Ausdeh- nung, bei höheren Formen wenigstens streckenweise, von Flimmer- epithel ausgekleidet ist, während zugleich bei ersteren die Labdrüsen noch gänzlich fehlen, dass also hier die gesamte Nahrungsaufnahme durch die cilientragende Fläche bewirkt werden muss. Von einem solchen Vorgang konnte man sich bisher keinerlei plausible Vorstellung machen; viel eher denkt man ja natürlich überall, wo es sich um die Wirkung von Flimmerhaaren handelt, an die Notwendigkeit der Fortschaffung irgendwelcher Stoffe. Dem begegnet Verf. durch folgende, wie uns scheint, höchst glückliche und wohl begründete Annahme, die wir wört- lich wiedergeben: „Ich der gewöhnlichen Annahme entgegen, die einzelnen Cilien nicht als kutikulare Abscheidungen des Zellprotoplasmas, sondern als rapid hervor- gestossene Fortsätze des letzteren selbst auf, so dass also das Spiel der Flimmer- haare gewissermassen nur als eine mit rapider Schnelligkeit verlaufende amöboide Bewegung des Zellprotoplasmas und jedes Flinmmerhaar "als ein blitzschnell heryor- gestossenes Pseudopodium erscheint.“ In der That kann eine solche Auffassung nach den zahlreichen Beispielen des Übergangs von strömendem oder pseudopodienartig vor- gestrecktem Protoplasma zu Flimmerbewegung, welche bereits von Pro- tozoen und niederen Metazoen bekannt geworden sind, kaum mehr be- fremdlich erscheinen; sie wird aber auch durch Beobachtungen von Eimer, Nusspaum und TH. EnGELMANN über Spermatozoen- und Flimmer- bewegung bei höheren Tieren gestützt. Ist also das Flimmerhaar ur- sprünglich nackt und resorptionsfähig zu denken, so mag, auch nachdem sich sein Fuss und vielleicht auch eine Randzone verdichtet hat, doch wohl der grösste Teil desselben jene Eigenschaft bewahrt haben und so die Aufnahme von festen Stoffen bewirken können. Im Lichte dieser Anschauung wird sogar der gestrichelte oder wie aus Stäbchen zusammen- gesetzte Basalsaum der meisten Darmepithelzellen verständlich: jene Stäbehen sind hiernach einfach als verklebte Cilien zu betrachten, welche denn auch, wie dies bei Fischen nicht selten und nach ZAWARYKIN sogar bei Säugetieren noch zu beobachten ist, fingerartig auseinandertreten 142 Wissenschaftliche Rundschau. können. Man vermag sich daher zuweilen kaum dem Eindruck zu ent- ziehen, »dass zwischen den gewöhnlichen Epithelzellen und den Flimmer- zellen des Darmes ganz 'allmähliche Übergänge existieren und dass sie in physiologischer Beziehung keine prinzipiellen Unterschiede darbieten.< Ethnologie. Der Streit um die Abstammung der Magyaren. Zwischen den beiden berühmten ungarischen Gelehrten PauL Hun- FaLvy und HERMANN Väansery ist in neuester Zeit über den Ursprung der Magyaren ein wissenschaftlicher Streit entbrannt*, der in Ungarn ein grosses Aufsehen erregt hat und der von den Anhängern beider Gelehrten mit einer Erregtheit weitergeführt wird, als handelte es sich um die Re- putation des ungarischen Volkes. HunrärLvy und Bupexcz behaupten, die Ungarn seien Finnen, Väanms£ry tritt dagegen in neuester Zeit mit grosser Gelehrsamkeit den Beweis an, dass die Ungarn türkischer Ab- stammung sind. Bevor ich in dieser Streitfrage meine Meinung äussere, muss ich etwas weiter zurückgreifen und in kurzem auf die scharfsinnige Beweisführung HuxräuLvys näher eingehen. Es unterliegt keinem Zweifel, dass die ältesten Vorfahren der Magyaren einst in einer Gemeinschaft mit den Finno-Ugern gelebt haben. Dafür haben wir in den Zahlen 1—7 den unumstösslichen Beweis, welche in allen finnisch-ugrischen Sprachen identisch sind. Die Ursitze der Magyaren versetzt Huxnräuvy in das Flussgebiet der Dwina, Kama, Wolga, Jaik, Irtisch und Ob. In der magyarischen Chronik finden sich sogar dunkle Erinnerungen an eine Urheimat der Magyaren. Die Chronik erwähnt nämlich einen Fluss »Etel«, in welchem wir die Wolga vermuten können, weil diese bei den türkischen Völkern Etil heisst. Weiter erwähnt die Chronik einen To- gata-Fluss, worunter der Irtisch gemeint sein wird, da dieser bei den Östjaken Tangat heisst. Aus den magyarischen Verhältniswörtern er- gibt sich ferner, dass die Magyaren noch lange nach der Trennung von den Finnen in der Nähe der Ostjaken und Syrjänen gewohnt haben. Nach der Trennung von den Ungern kamen die eigentlichen finnischen Völker mit Germanen und Litauern, die ugrischen aber mit türkischen Völkern in Berührung; beide geschichtliche Prozesse spiegeln sich in den betreffenden Sprachen wieder. Wie aus der Sprache her- vorgeht, bildeten Jagd und Fischerei die Hauptbeschäftigung der Ma- gyaren in ihrem Stammlande. Von den türkischen Völkern nahmen sie dagegen die Viehzucht an. Die Bezeichnungen für Ochs, Kalb, junges Rind, junger Stier, Bock, Widder, Schwein im Magyarischen sind türki- * Hunfälvy, Die Ungern. 1881. Wien-Teschen, Prochaska.. Vämbery, Der Ursprung der Magyaren. 1882. Leipzig, F. A. Brockhaus, und Hunfälvy, Väamberys Ursprung der Magyaren. 1883. Wien-Teschen, Prochaska. Wissenschaftliche Rundschau. 143 schen Ursprungs, desgleichen die Bezeichnungen für Gerste, Weizen, Erbse, Hanf, Grütze, Ackerland, Obst, Apfel. Huxräßvy gibt auch zu, dass das Blut der Magyaren starke Beimischungen türkischen Blutes er- fahren habe, und verweist auf ein Zeugnis des Consrantınos PORPHY- ROGENITOS, der um 950 n. Chr. schreibend bezeugt, dass mit den Ma- gyaren sich die Kabaren, ein Zweig der türkischen Chazaren, ver- einigt haben, und dass noch zu seiner Zeit beide Sprachen (die magya- rische und kabarische) nebeneinander bestanden. Zu Ende des IX. Jahr- hunderts bezogen die so türkisierten »Ugern« das Land, das von der Zeit an Unger- oder Ungarland genannt wird. Hier fanden sie überall eine nicht dichte slowenische Bevölkerung, die mit den Ankömmlingen bald verschmolz. Durch diese Slowenen kam die grosse Masse slawischer Nomina (aber kein einziges slawisches Verbum!) in die ungrische Sprache. Diese Resultate der Forschungen Husräuvys hatten schon allgemein Beifall gefunden, als plötzlich im vorigen Jahre der berühmte Turkologe Pro- fessor Väms£ry in Pesth dieselben in Frage stellte und den Nachweis zu erbringen suchte, dass die Magyaren vorwiegend türkischer Abstam- mung sind. Ich bedauere in mancher Hinsicht mit dem berühmten Ge- lehrten nicht übereinstimmen zu können. In einem früheren, in jeder Hinsicht ausgezeichneten Werke ' hat Vämsery gezeigt, dass die türki- schen Völker mit den arischen Elementen erst in einer verhältnismässig jüngeren Zeit in Berührung traten. Von den alten Sitzen der iranischen Welt, aus den heutigen Oxus- und Jaxartesländern sind die spärlichen Funken einer vorgeschrittenen Bildung zu den Türken in die urheimat- liche Steppenwelt gedrungen, die Lehnwörter sind durchwegs iranischen Ursprungs. Die Urheimat der Türken lag somit nördlich von den Iraniern, in den Steppen Zentralasiens.. Im Widerspruch mit diesem ganz richtigen Resultate verlegt Vämgrry in seinem neuesten Werke die Sitze der türkischen Völker so weit nach Westen, dass er auch die alten Skythen für ein türkisches Volk erklärt. Das ist ganz und gar un- richtig. MÜLLENHOFF hat meiner Ansicht nach den definitiven Beweis geführt, dass die Skythen und ihre Nachbarn, die Sarmaten, Vorfahren der iranischen Osseten des Kaukasus, eine iranische Sprache gesprochen haben. Väuserv soll uns einen Kenner altiranischer Sprachen anführen, der den sprachlichen Beweis MüÜLLENXHorrs nicht für gelungen erklären würde. Die Skythen und Sarmaten waren ein Rest der aus Europa ausgewanderten Iranier. Für die einstige europäische Heimat der Iranier spricht der Umstand, dass den iranischen Gal&as in Zen- tralasien die »Weissbirke« mit dem europäischen Namen bekannt ist”. Es ist weiter bekannt, dass den Keilinschriften die Iranier erst im IX. Jahrh. v. Chr. bekannt wurden. Die Iranier haben das Pla- teau von Iran nicht vor dem Anfang des I. Jahrtausends betreten. Die prähistorischen, mit den Akkadiern wahrscheinlich verwandten ı Vambery, Die primitive Kultur des turko-tatarischen Volkes. Leipzig 1879. F. A. Brockhaus. 2 Tomäsek, Centralasiatische Studien. Sitzungsberichte der Wiener Aka- demie der Wissenschaften. 1880. 144 Wissenschaftliche Rundschau. Meder' und Susianer haben zum mindesten 2 Jahrtausende vor der Ankunft der Iranier einen grossen Teil des Plateau von Iran bewohnt und beherrscht”. Es kann wohl als ausgemacht gelten, dass Osteuropa in prähistorischer Zeit von arischen Völkern bewohnt war, die gewiss keinem turanischen Stamm den Durchweg gegen Südwesten erlaubt hätten, und dass die Turanier d. h. Türken in dieser Periode mit den prä- historischen Ariern nicht in den geringsten Kontakt kamen, hat eben Väns£ry in seinem frühern Werke zur Evidenz nachgewiesen. Väamgery schliesst weiter aus den Eigennamen auf die Sprache der Hunnen und Awaren und hält beide Völker für Türken. So weit auf einem solchen Gebiet ein Resultat überhaupt zu erzielen ist, halte ich seine Ausführungen trotz der Einwendungen HuxrauLvys für richtig. Nicht ganz bin ich einverstanden mit seinen Untersuchungen über die Herkunft der alten Bulgaren. Vänusery hält sie gleichfalls für Türken. Namen wie Almus (tatarisch Alamus, richtiger Ulumus »der grosse, erhabene«), Krum (türk. korum »Schutz«), Cok (türk. Cok »Macht«), sind wohl türkischen Ursprungs, aber Namen werden entlehnt und be- weisen nicht die Herkunft eines Volkes. HuxräuLvys Einwendungen halte ich für sehr beachtenswert und glaube mit ihm, dass die alten Bul- garen gleich den Merja- und Mordwa-Völkern, ihren einstigen Nachbarn, finnisch-ugrischer Herkunft waren. Nach den Bulgaren be- handelt Vämgery die Chasaren (Kozaren) und Bissenen (Petsche- negen) und gelangt so zu den Magyaren. Die Gründe, welche Vämg£ry für das Türkentum der Magyaren vorbringt, erscheinen uns nicht zwingend genug und wir glauben als Resultat des wissenschaftlichen Streites zwischen HuxräLvy und VämBery folgendes anführen zu können: Die Magyaren waren ursprünglich ein finnisch-ugrisches Volk, haben aber später zahlreiche türkische Volks- elemente und mit diesen zugleich zahlreiche türkische Worte in ihre Sprache aufgenommen. Die Zahl der türkischen Worte ist im Magya- rischen eine weit zahlreichere, als Husräuvy sie ursprünglich angenommen hatte. Auch die heutigen Ungarn erinnern in ihrem körperlichen Ha- bitus, soweit sie nicht mit slawischem und deutschem Blute gemischt sind, mehr an die Türken als an die Finnen. Die Finnen sind vorwiegend von heller, die Ungarn von dunkler Komplexion. Dr. FLIGIER. Botanik. Hybridogener Ursprung der Arten. In einem früheren Artikel sagten wir, dass O. Hrer unter den Gründen, die ihn gegen die Annahme einer allmählichen Entwicklung des Pflanzen- und Tierreiches stimmten, auch den angab, »dass seit der ! Vergl. meinen Aufsatz „die Urzeit Vorderasiens“. Gaea 1881, vergl. Delitzsch, Sprache der Kossaeer. Leipzig 1884. Hinrichs. ? Oppert, Les Medes. Paris 1879. Wissenschaftliche Rundschau. 145 Diluvialzeit keine neuen Arten mehr entstanden seienDer Rubus caesius X tomentosus z. B. zeigt an günstigen Plätzen, namentlich an warmen, sonnigen Abhängen oft alle Mittelglieder zwischen den gewöhnlichen sterilen und etwas abgeänderten, ziemlich gut fruchtenden Exemplaren. « Die Nachkommenschaft der Bastarde ist im allgemeinen veränder- lich, kann aber zu beständigen Arten führen. Den nicht zu seltenen R. caesius X Idacus hat Focke auch künstlich erhalten. Nur selten fruktifiziert er, so dass von etwa 100 000 Karpellen durchschnittlich nur eines zur reifen Frucht sich entwickelt. Durch Aussaat dieser Früchte erhielt er eine Reihe verschiedener Formen, die gewöhnlich nicht besser fruktifizierten als der ursprüngliche Bastard, gelegentlich aber auch besser fruchtende Exemplare erzeugten. Man kennt nun zwei lokale normal fruktifizierende Formen, ARubus pruinosus ArrHk. und den pom- merschen R. maximus Mars. Beide sind von bestimmten abgeänderten Abkömmlingen, die Fockz von R. caesius X Idaeus erhielt — abge- sehen eben von der normalen Fruchtbildung — gar nicht zu unter- scheiden. »Da auch anderweitig beobachtet ist, dass Abkömmlinge von wenig fruchtbaren Hybriden gelegentlich wieder völlig fruchtbar werden können, da ferner R. maximus und R. pruinosus durch halb fruchtbare Wissenschaftliche Rundschau. 147 ähnliche Pflanzen, die hie und da in vereinzelten Exemplaren vorkommen, unabgrenzbar in den gewöhnlichen Bastard übergehen, so kann man sich — alle Thatsachen zusammengehalten — schwer der Schlussfol- gerung entziehen, dass die genannten beiden fruchtbaren Lokalrassen Abkömmlinge von Ft. caesius X Idaens sind.< Analoge Schlüsse liegen für andere Rubus nicht fern. It. pruinosus erinnert an KR. fissus, R. maxi- mus an R. suberectus. Beides sind konstante Formen von weiter Ver: breitung, die sich zu FR. sulcatus und KR. plicatus ungefähr verhalten wie R. pruinosus und R. maximus zu R. caesius. So möchte man auch für diese konstanten Formen einen solchen hybridogenen Ursprung an- nehmen, der allerdings — die grosse Verbreitung weist schon darauf hin — ungleich weiter zurückläge als für die beiden oben genannten Formen. Für einen solchen Ursprung spricht namentlich auch der Um- stand, »dass A. fissus und R. suberectus an Fruchtbarkeit den verwandten Rassen bedeutend nachstehen, wenn sie auch weit fruchtbarer sind als gewöhnliche Bastarde zwischen zwei beträchtlich von einander verschie- denen Arten«. Für den Übergang von Bastarden oder genauer Bastardnachkommen in Arten sprechen noch andere Beobachtungen Fockes. Er hat zwischen R. bifrons und R. gratus künstlich einen Bastard erzeugt. »Wenn ich ihn wildwachsend angetroffen hätte, würde ich ihn für eine Abänderung des weit verbreiteten R. villicaulis gehalten haben.« Besonders auffällig zeigte sich der Übergang zwischen Bastarden und konstanten Rassen in dem Resultat der Aussaat des wenig fruktifizierenden A. tomentosus X vestitus, indem FockE aus den Samen eine Pflanze erhielt, »die vollkommen fruchtbar war und nicht mehr sicher von dem wildwachsenden R. macro- phyllus hypoleucus unterschieden werden konnte.« So ist es wohl kaum zweifelhaft, ‚dass wir in der Bastardierung ein neues artbildendes Moment haben und dass die Vielgestaltigkeit: bei dem einen und andern Typus auf einen hybridogenen Ursprung der unmerklich unter sich verknüpften Rassen und Arten zurückzuführen ist. Allerdings geht nun FockE noch einen Schritt weiter, indem er nicht nur einen Rubus maximus, R. pruinosus, R. fissus etc. als solche hybridogene Ras- sen oder Arten auffasst, sondern ganz allgemein allen jenen Arten, die mischkörnigen Pollen zeigen, diesen hybridogenen Ur- sprung zuschreibt. Die ungleiche Ausbildung des Pollens ist das wichtige Merkmal, welches eine konstant gewordene Form von dem Bastard, von welchem sie abstammt, ererbt hat. Für solche Arten mussten dann selbstverständlich die Stammformen, sofern sie in der jetzigen Flora nicht mehr zu finden waren, als im Kampf ums Dasein untergegangen angenommen werden. Jr. vestitus hat z. B. mischkörnigen Pollen. Trotzdem er nicht durch Bastardierung zweier lebender Arten entstanden sein kann, ist Focke doch von dessen hybridogenem Ursprung überzeugt und denkt sich die hypothetischen Eltern als Glieder der Tertiärflora. — Gegen solche Anschauungen werden sich wesentlich zwei Einwände erheben. Da die Bastardform zweier Arten in ihren Eigenschaften die Mitte zwischen beiden Arten hält, kann die Artbildung durch Bastar- 148 Wissenschaftliche Ruudschau. dierung zwar einer Vermehrung der Formenmannigfaltigkeit dienen, aber nicht zu einem wirklich neuen Typus führen, denn die Gesamtsumme der Eigenschaften der Stammarten übertrifft sie nicht. Wenn ferner eine Art hybridogenen Ursprungs ist, besteht dann irgend welche Wahr- scheinlichkeit, dass sie im Kampf ums Dasein sich zu erhalten vermag, während ihre Stammeltern untergehen? FockE selbst macht auf diese Einwürfe aufmerksam und sucht sie zu widerlegen. Den ersteren be- zeichnet er, gestützt auf seine eigenen Erfahrungen beim Züchten der Bastarde wie auf die Praxis der Gärtner, als Vorurteil. Wohl hält der durch Kreuzung zweier Arten erzielte Bastard die Mitte zwischen seinen Eltern, aber die Nachkommen dieses Bastarden haben in hohem Grade die Neigung, abzuändern. Die Variabilitätsfähigkeit, welche jeder Art zukommt, ist gewissermassen potenziert auf den Bastard übertragen und z. B. in Blattform und Blütenfarbe zeigen sich an den Bastard- nachkommen oft genug neue Eigenschaften. Den zweiten Einwurf hat schon Darwın widerlegt, indem auch ef, auf Versuche sich stützend, die im allgemeinen grössere Lebenskraft der Rassenmischlinge hervorhob. Wir halten dafür, dass dieses neue Prinzip der Artbildung die Darwinschen Anschauungen in ähnlicher Weise ergänze, wie es die Migra- tionstheorie Wasnxers thut. Sollte aber FockeE, wie es den Anschein gewinnen will, in dem hybridogenen Ursprung der Arten das wesentlichste Moment der Artbildung und damit der Entwickelung des Pflanzenreiches sehen, so dürfte er sich einer ähnlichen verhängnisvollen Einseitigkeit schuldig machen, wie unseres Dafürhaltens der Begründer der Migra- tionstheorie. Base Geologie. Die Eiszeit in den deutschen Alpen, nach A. Penck*. Am 26. Juni 1880 stellte die zweite Sektion der philosophischen Fakultät der Universität zu München die Preisaufgabe:: Eine eingehende Besprechung der diluvialen Glazialbildungen und Erscheinungen sowohl im Gebiet der südbayerischen Hochebene als auch in den bayerischen Alpen. Prxcks Werk löst diese Aufgabe in vorzüglicher und eingehender Weise. Der Verfasser, welcher bereits Gelegenheit hatte, sich mit dem nordischen Glazialphänomen bekannt zu machen, hat sein Gebiet auf Fusswanderungen durchforscht. Obwohl eine vollständig erschöpfende Untersuchung desselben sich der Kürze der Zeit wegen — der Termin der Preisaufgabe war auf den 26. April 1881 festgesetzt — von selbst verbot, obgleich aus demselben Grunde manche Verhältnisse nicht bis in * Die Vergletscherung der deutschen Alpen, ihre Ursachen, periodische Wiederkehr und ihr Einfluss auf die Bodengestaltung, gekrönte Preisschrift von Dr. Albrecht Penck. Leipzig 1882. 483 8. Wissenschaftliche Rundschau. 149 die kleinsten Details verfolgt werden konnten, so vermochte der Verfasser doch ein so ausserordentlich reiches Material zusammenzutragen, dass es ihm gelingt, gestützt auf dasselbe uns in grossen Zügen ein klares, von früheren Anschauungen mannigfach abweichendes Bild der Vergletscherung der bayerischen Alpen im speziellen und der ganzen Alpenkette im all- gemeinen zu unterwerfen. I. Letzte Vergletscherung von Oberbayern und Nordtirol. Als Glazialformation bezeichnet man einen Komplex von Bildungen, welche samt und sonders als die Ablagerungen von Gletschern betrachtet werden müssen; man versteht darunter zunächst das Material, welches der Gletscher selbst erzeugt, nämlich Grundmoränen mit gekritzten Geschieben und den darunter liegenden geschrammten Felsflächen oder gestauchten losen Schichten, ferner die Reste von Oberflächenmoränen aller Art nebst den erratischen Blöcken, die End- und Seitenmoränen, sowie die von Gletschergewässern abgelagerten fluvioglazialen Gebilde. Dazu muss man ferner auch die orographischen Veränderungen rechnen, welche ein Glet- scher in der Konfiguration des Landes erzeugt. — >Dringt man zwischen dem Erdboden und der Unterfläche eines Gletschers vor ...., so trifft man ein Lager von Geschieben und feinem mit Wasser imprägniertem Sand. Entfernt man dieses Lager, so erkennt man, dass das unten liegende Gestein durch Reibung geglättet, poliert, abgenutzt und mit geradlinigen Kritzen bedeckt ist, welche mit einer Grabstichel oder feinen Nadel eingraviert sein könnten... .. Das Lager von Geschieben und Schlamm zwischen Gletscher und Untergrund — die Grundmoräne — ist das Schleifpulver; das Gestein die metallische Fläche, welche poliert werden soll — der Gletscherschliff; die Masse des Glet- schers, welche das Schlammlager fortwährend drückt und bewegt, indem sie selbst sich abwärts bewegt, ist die Hand des Polierers*«. Nur die festen, anstehenden Gesteine, wie Prxck zeigt, werden poliert, die minder festen werden unter der Grundmoräne gestaucht, aufgearbeitet, in dieselbe einverwebt. Dementsprechend wird die Grundmoräne um so mächtiger sein, je grösser die Masse des Gletschers d. h. die aufarbeitende Kraft und je länger der zurückgelegte Weg ist; sie wird ferner, wenn der Glet- scher geschwunden ist, durch ihre Zusammensetzung verraten, welchen Weg derselbe einst genommen, sie wird dem Geologen dadurch der wich- tigste Fingerzeig werden, um die Existenz und Ausdehnung ehemaliger Gletscher zu bestimmen. — Da die Grundmoräne durch die Reibung an der Sohle des Gletschers einerseits abwärts geschoben wird — ganz falsch ist die vielfach verbreitete Ansicht, die Grundmoräne bestehe aus im Eis des Gletschers eingefrorenen Geschieben —, anderseits durch die Reibung am festen Untergrund aufgehalten wird, so ist es klar, dass die obern Schichten derselben sich rascher abwärts bewegen werden als die untern, dass das Material derselben sich aneinander reibt: es entstehen die un- regelmässig gekritzten und geschrammten, gerundeten Geschiebe, welche in keiner Moräne fehlen. = Charles Martins, Revue des deux Mondes 1847, T. I. p. 704. 150 Wissenschaftliche Rundschau. Vor der Eiszeit waren die Gletscher auf ein Minimum reduziert; an ihrem Ende wurden Endmoränen aufgehäuft, wie an den heutigen Gletschern, gebildet zum grössern Teil aus den Oberflächenmoränen, welche sich aus den zahlreichen, von den über der Eisfläche emporragenden Felsen abgestürzten Gesteinsmassen zusammen setzten, zum kleineren Teil aus der Grundmoräne, welche gemäss der geringen Mächtigkeit und ge- ringen Länge des präglazialen Gletschers nur wenig entwickelt sein konnte. Die aus dem Gletscherthor fortwährend hervorströmenden Gewässer bemäch- tigten sich eines Teiles des vom Gletscher herbeigeschafften Materials und führten dasselbe thalabwärts; es bildeten sich durch Ablagerung dieser Ge- schiebe horizontal geschichtete Schotter, wie man sie noch heute an Glet- scherbächen beobachten kann. So oft der Gletscher oszillierte, so oft wurde der Angriffspunkt der Gewässer verlegt: wo der Gletscher vor kurzem noch seine Endmoräne aufschüttete, da nagen jetzt die Gewässer, tragen Teile ab, andere lassen sie stehen und bald vielleicht, wenn der Gletscher wieder vorgerückt ist, schüttet er auf die von den Gletscherwassern ab- gelagerten Schotter wieder Moränen auf. Auf diesen Konnex zwischen ungeschichteten Moränenbildungen und geschichteten Schottern in seiner ganzen Bedeutung für die Glazialfrage hingewiesen zu haben, ist das grosse Verdienst CHARLES MaArrıns'. Die Glazialzeit trat ein, als die Zufuhr von Gletschereis den durch das Tauen am Gletscherende veranlassten Abfluss überwog. Der Gletscher begann daher in tiefere Regionen herabzusteigen, er begann zu »stossen«. Seine Endmoräne geriet unter ihn und wurde der Grundmoräne einver- leibt; dasselbe geschah mit den früher abgelagerten Schottermassen, so- weit nicht eine allzumächtige Entwickelung derselben es unmöglich machte. Alles lose Material, welches der Gletscher auf seinem Wege vorfand, gelangte unter und zum Teil allmählich in die Grundmoräne und wurde dann in derselben abwärts bewegt, um am Rande des Gletschers von den Gewässern erfasst und weiter unten als Schotter abgelagert zu werden. Mit solchen Schottern wurde beim Herannahen der Vergletscherung das Innthal erfüllt und noch jetzt sieht man in seinen Terrassen Überreste derselben. Auch diese oft ausserordentlich mächtigen Schotter wurden vom Gletscher erreicht, überschritten und unter günstigen Verhältnissen teilweise der Grundmoräne einverleibt und fortgeschafft, so vorzüglich an allen Punkten, wo die Gletscher auf die bayerische Hochebene heraus- traten und wo die Schotter gänzlich fehlen, während sie sich sonst im Innthal selbst sowie in der Ebene weithin verfolgen lassen. Die Region der Schotter verlegte sich, solange der Gletscher vorrückte, immer tiefer und tiefer, bis sie die Hochebene erreichte. Noch jetzt findet man die kleinen Thäler der Hochebene nördlich von dem frühern Gletscherende erfüllt mit solchen Schottern, die sich vielfach unter die Endmoränen fortsetzen. Geschiebe aus dem Material der Grundmoränen, vor allem aber der Umstand, dass sie in nächster Nähe der Moränen gekritzte Geschiebe führen, verraten hier ihren Ursprung. Mit Unrecht wurden diese Schotter daher bis jetzt präglazial genannt; Prxck, der ihren glazialen Ursprung zuerst nachweist, schlägt für dieselben den Namen »untere Glazialschotters vor, da die- selben im Gebiete der Vergletscherung nie das Hangende, sondern immer Wissenschaftliche Rundschau. 151 nur das Liegende der Moränen bilden und im Gegensatz zu Puxcks »oberen Glazialschottern« stehen, welche, beim Rückzug des Gletschers gebildet, die Moränen überlagern. — Sobald der Gletscher den unteren Glazialschottern folgend die Hochebene erreicht hatte, breitete er sich fächerförmig aus; dieses gilt von sämtlichen Gletschern, welche aus dem Gebirge auf die Ebene heraustreten. Die Eiszeit hatte jetzt ihren Höhepunkt erreicht. Da die deutschen Alpen von zahlreichen Längs- und Querthälern durchzogen werden, welche vor allem die Ketten der nördlichen Kalk- alpen in einzelne Berggruppen auflösen, so ergossen sich die Eismassen, die ihr Haupteinzugsgebiet in den Zentralalpen hatten und verhältnis- mässig wenig von kleinen Gletschern der Kalkalpen genährt wurden, aus ihrem Sammelthal, dem Innthal, über viele Pässe in andere Thäler. Das Innthal selbst erfüllten sie an dem damals, wie Prnck wahrschein- lich macht, noch nicht in seiner gegenwärtigen Gestalt existierenden Fernpass und am Seefelder Pass bis 1200 m und bei Kufstein noch 900 m Höhe über der jetzigen Thalsohle; denn bis zu dieser Höhe finden sich am linken Gehänge des Innthals Urgebirgsgeschiebe. Das erratische Auf- treten solcher Geschiebe weist überall in den Kalkalpen und auf der Hochebene, wo es sich unmöglich durch fliessendes Wasser erklären lässt, auf Gletscherthätigkeit zurück. Da nun aber fliessendes Wasser un- möglich Urgebirgsgeschiebe am Nordgehänge des Innthals in 1200 oder 900 m Höhe über der Thalsohle abgelagert haben kann, so muss der Glet- scher sie von dem rechten Thalgehänge, wo allein anstehende Urgebirgs- gesteine sich finden, hinübergeschafft, also bis zu jener Höhe gereicht haben. Die Wasserscheiden der Thäler waren daher auf den Lauf der Gletscher von geringerem Einfluss als gegenwärtig auf den Lauf der Flüsse: die Entwässerung des Gebietes durch die Thäler geschah damals auf direktem Wege. Das Thal von Hessereit, der Seefelder Pass, der Achenseepass, das Felepthal dienten dem Gletscher als Eintrittsthore aus dem Innthal in die nördlichen Kalkalpen. Es gelang PEnck, dieses überall durch Auffinden von Urgebirgsgeschieben zu beweisen. Ein zu- sammenhängendes Netz von Eisströmen, ein Inlandeis, wie man es gegen- wärtig nur in Grönland kennt, erfüllte die Thäler der Kalkalpen und der Lech-, Loisach- und Isargletscher können als Dependenzen des Inn- gletschers betrachtet werden. Einzig und allein die höchsten Spitzen der Kalkalpen ragten als Inseln über dieses Meer von Eis empor und konnten Material für die Oberflächenmoräne liefern, welche daher fehlen oder doch verschwindend klein sein musste. Die bei weitem grössten Teile der Gehänge waren unter Eis vergraben und wurden durch dessen Bewegung abgenutzt, gerundet. So entstanden die Rundhöcker, die Roches moutonnees der Franzosen. Auf der Hochebene fehlen Berge und Thäler, welche im Gebirge den Gletscherstrom eindämmten. Sobald daher die Gletscher am Fuss des Gebirges anlangten, verschmolzen sie zu einer einzigen zusammenhängenden Masse; doch bewahrten die ein- zelnen Gletscherströme dabei ihre Individualität, indem jeder sich fächer- förmig vor sein Thal leste und nur mit den Seiten seine Nachbarn berührte. 152 Wissenschaftliche Rundschau. Bald nachdem die Eismassen die oberbayerische Hochebene erreicht hatten, trat Stillstand ein — die Vergletscherung hatte ihren Höhepunkt erreicht. Die Gletscher konnten jetzt mit dem Material ihrer Grund- moräne gewaltige, im Mittel bis zu 20—30 m, dazwischen bis 50 m Höhe ansteigende End- und Seitenmoränen aufschütten, welche sich genau der Konfiguration des Eises anschmiegen mussten. In grossen Bogen umziehen daher die Moränenwälle die Mündungen der Gletscher in die Ebene. Sie sind es, welche die Grenze der ehemaligen Eis- bedeckung bestimmen lassen, mögen sie noch jetzt deutlich in der »Mo- ränenlandschaft« uns entgegentreten, wie an der Isar und am Inn bei Wasserburg, oder mögen sie bereits der zerstörenden Kraft des rinnenden Wassers bis auf wenige Ueberreste anheim gefallen sein. Solcher Endmoränenwälle gibt es mehrere, die sich alle konzen- trisch um die Mündung der Thäler gruppieren, aus denen Gletscher auf die Hochebene heraustraten. Es ist klar, dass eine Endmoräne sich nur bilden kann, wenn der Gletscher still steht, und dass die Endmoräne um so grösser wird, je länger der Gletscher still steht und an ihrer Aufschüttung arbeitet. Moränenwälle, die sich etwa in Zeiten des Still- standes bildeten, welche das Vorrücken des Gletschers unterbrachen, können nicht erhalten geblieben sein, da sie bei erneuertem Vorschreiten sofort wieder unter den Gletscher gerieten und Teile der Grundmoräne wurden. Die zahlreichen konzentrischen Moränenzüge der Moränenland- schaft sind also Rückzugsmoränen; sie selbst stellen ebenso viele Perioden des Stillstands des Gletschers während seines Rückzuges, die Zwischen- räume zwischen denselben Perioden einer sehr intensiven hückwärts- bewegung dar. — Der äusserste Moränenwall gibt uns die Linie an, bis zu welcher bei ihrer grössten Entwickelung die Gletscher reichten. Dieselbe ver- läuft nach Penck ungefähr von Traunstein über Gars und Egmating, einen Bogen um die Mündung des Inns in die Hochebene beschreibend, bis südöstlich von Miesbach, biegt hier nach West um, trifft den Tegernsee in der Mitte, um sich von hier in einem Bogen der Isar zuzuwenden, welche sie unterhalb Schäftlarn überschreitet. Eine ähnliche Ausbucht- ung nach Norden lehrt uns das Gebiet kennen, welches der Lech- und der Ammergletscher einst bedeckten; weiter westlich macht sich der Wertachgletscher durch eine kleine Ausstülpung bei Kaufbeuren geltend und ebenso der ]llergletscher, der seinerseits bis Grönenbach vordrang. In einer dem Lauf der Iller parallelen Linie zog sich dann die Grenze der Eismassen nach Staufen, um hier in die Grenze des Rheingletschers überzugehen. Während die Eismassen Material zum Aufbau der Endmoränen unter sich herbeischafften, ruhte auch nicht die Arbeit der den Gletschern entströmenden Gewässer. Alle herbeigeführten Gesteinsmassen konnten sie zwar nicht bewältigen, doch reichte ihre Kraft aus, die bereits be- stehenden Thäler bayerisch Schwabens mit Schottern zu füllen, die ganze auch in jener Zeit ungegliederte Ebene, auf welcher München steht, über und über mit Schottern zu bedecken, welche nach Art eines Schutt- kegels nach Norden zu sich verflachen. Die Wasserwirkung erreichte Wissenschaftliche Rundschau. 153 ein Maximum, als die Gletscher sich zurückzuziehen begannen. Die End- und Grundmoränen, welche beim Weichen der Eisbedeckung zurück- blieben, wurden stark erodiert: an geschützten, dem Wasser schwer zu- gänglichen Punkten blieben sie erhalten; vielfach wurden sie abgetragen, um an andern Stellen als Schotter, die oberen Glazialschotter PEnxcks, wieder abgelagert zu werden, welche sich an vielen Stellen als Hangendes der zurückgebliebenen Moränen sowohl in der Ebene wie im Gebirge finden. Doch konnten diese Schotter nur eine weit weniger mächtige Schicht über den Moränen bilden als die untern Glazialschotter. Denn die Wassermasse, welche sie ablagerte, war viel grösser als die Gewässer, denen die untern Glazialschotter ihre Aufschüttung verdanken, wie eine einfache Überlegung lehrt, und daher vermochten sie die Geschiebe weiter fortzuschaffen und auf einer grössern Fläche zu verbreiten, so dass nur verhältnismässig wenig Material auf dem vom Eis verlassenen Gebiete selbst zurückblieb. Die Gletscher gingen zurück und erhielten ihre heutige Gestalt; die erodierenden Kräfte des Wassers bemächtigten sich wieder des Gebietes, aus dem das Eis sie verdrängt hatte, und nur geringe Spuren verraten noch die einstige Ausdehnung und Wirkung der Gletscher. — Wenn man die Gesamtheit dieser Spuren überblickt, so fällt ein grosser Gegensatz zwischen dem Glazialphänomen im Gebirge und in der Hochebene auf. Im Gebirge, dessen Thäler präglazial sind, treten die Wirkungen des Eises gegen die grossartige Umgebung zurück. Ganz anders auf der Hochebene: hier sind es die Gletscher, welche der Land- schaft das Gepräge geben, sei es dass sie eine Moränenlandschaft auf- schütten, sei es dass sie mit ihren Schottern die Thäler füllen und ebnen. Im Gebirge beherrscht die Bodenkonfiguration das Eis, in der Ebene das Eis die Bodenkonfiguration. — Vergleicht man das gewonnene Bild der Vergletscherung der deut- schen Alpen mit der Ausdehnung der Vergletscherung in der Schweiz sowie in Norditalien, so ergeben sich wesentliche Unterschiede. Der Gletscher des Rhöne- und Iserethales breitete sich ungleich weiter auf dem alpinen Vorland aus als der weiter östlich gelegene Rheingletscher, und der Inngletscher bedeckte auf der bayerischen Hochebene ein ge- ringeres Areal als der Rheingletscher am Fusse der Alpen, obwohl er das grösste Einzugsgebiet besass und gerade die höchsten Partien des nordalpinen Vorlandes einnahm, während der Rhönegletscher die tiefsten Partien desselben bedeckte. Mit andern Worten, die Entfaltung der Gletscher am Nordfuss der Alpen nimmt von West nach Ost ab, obwohl in dieser Richtung die Einzugsgebiete der einzelnen Eisströme an Grösse, sowie die Bezirke, über welche sie sich verbreiteten, an Erhebung über dem Meeresspiegel zunehmen. — Während sich am Nordabhang der Alpen ein ununterbrochenes Meer von Eis ausdehnte, schoben sich die Gletscher des Südabfalles zwar ein Stück in die Poebene hinein, be- rührten aber einander nicht. Die Hypothese von einem Meer in der Poebene, wie sie Drsor und Srtorranı aufstellten, erklärt diesen Unter- schied nicht. Prxck macht darauf aufmerksam, dass wir ganz ähnliche Verschiedenheiten an den jetzigen Gletschern erblicken: sie nehmen von 154 Wissenschaftliche Rundschau. West nach Ost an Grösse ab und sind an der Nordseite der Alpen be- deutender entwickelt als an der Südseite. Es hängen nun die gegen- wärtigen Verhältnisse teils von der Verschiedenheit der Temperatur im Norden und Süden der Alpenkette, teils von der Abnahme der Nieder- schlagsmengen von West nach Ost ab, welche in den grossen Höhen fast ausschliesslich als Schnee niederfallen. Man wird kaum fehlgehen, wenn man in den gleichen Ursachen den Grund für die verschiedene Entwickelung der eiszeitlichen Gletscher in den Alpen sucht. Die Ent- wickelung der diluvialen Gletscher erscheint also als eine Potenzierung der heutigen und der Unterschied zwischen der Vergletscherung der Schweiz, Oberbayerns und der Poebene ist ein rein quantitativer. Wenn man das nordische Glazialphänomen im Gebirge einerseits, in der Ebene anderseits mit dem alpinen Glazialphänomen im Gebirge bezüglich in der Ebene vergleicht, so zeigt sich, dass der Unterschied gleichfalls nur ein quantitativer ist. (Schluss folgt.) Chemie. Über blau gefärbtes Steinsalz. In vielen Steinsalzlagern, besonders aber im Liegenden von Neu- Stassfurt und daselbst meist in der Nähe von solchen Punkten, wo die Verwerfungen des Anhydrits Veranlassung zur Bildung von Spalten und Hohlräumen gaben, tritt bisweilen in klaren durchsichtigen Krystallmassen matt- bis dunkelblau, selten violett gefärbtes Steinsalz auf, dessen Bild- ung einer später erfolgten Ausfüllung der Spalten und Hohlräume zu- zuschreiben sein dürfte. Bei näherer Betrachtung .der Spaltstücke desselben lassen sich parallel den Oktaeder- oder Würfelflächen öfters dunklere blaue Linien oder Streifen erkennen, die ganz besonders dadurch interessant sind, dass sie im durchfallenden Lichte betrachtet bei einer gewissen Stellung des Spaltungsstückes verschwinden, bei der Drehung desselben zunächst als Linien auftreten, intensiver werden, darauf abnehmen, bis sie schliess- lich wieder verschwinden u. s. w. Seiner chemischen Zusammensetzung nach ist das blau gefärbte Steinsalz fast absolut reines Chlornatrium, und gerade weil nie auch nur die geringste Spur einer direkt färbenden Materie darin nachgewiesen werden konnte, hat es von jeher die Aufmerksamkeit der Mineralogen und Chemiker in hohem Grade in Anspruch genommen. S. W. Jounsox ! war der Ansicht, dass die Färbung von Natrium- subchlorid herrühre, welches, für sich nicht isolierbar und in geringen Quantitäten dem Chlornatrium beigemengt, das Analysenresultat kaum merklich beeinflussen könne. Wenn nun auch die bereits von F. Bıschor* Gmelin-Krauts Handbuch. Bd. II, 204. F. Bischof, Die Steinsalzlager bei Stassfurt. 8. 29. 1 2 Wissenschaftliche Rundschau. 155 und anderen gemachten Beobachtungen, dass sich die blaue Färbung nicht auch der Lösung mitteilt, dass die Lösung beim Eindampfen farb- loses Salz hinterlässt und derselben beim Ausschütteln mit Äther, Schwefelkohlenstoff u. s. w. keine Spur eines Farbstoffes entzogen werden kann, nicht direkt dagegen sprechen, so ist diese Ansicht gleichwohl unhaltbar geworden, nachdem O. Wrrrsex und H. Prec#r durch wieder- holte Versuche festgestellt haben, dass beim Überleiten eines Chlorstromes über gepulvertes Salz sowohl bei gewöhnlicher Temperatur als auch bei 100° C. die blaue Farbe desselben nicht im geringsten verändert wird. Auch reagiert die wässerige Lösung des blauen Salzes durchaus nicht alkalisch, wie es doch bei Gegenwart eines Subchlorides erwartet wer- den dürfte. Ochsexius' schrieb die Blaufärbung der Anwesenheit geringer Mengen freien Schwefels zu; doch ist abgesehen von anderen berechtigten Einwänden auch diese Annahme bereits durch die oben erwähnten Beob- achtungen von Wırrsex und PrecHt genügend widerlegt. F. BıscHor? sprach zuerst die Ansicht aus, dass die Blaufärbung durch einen Gehalt des Salzes an Gasen und speziell an Kohlenwasser- stoffen bedingt sei, und zwar auf Grund der Beobachtungen, dass das blaue Salz zu staubfeinem Pulver zerrieben schneeweiss erscheint” und dass die Blaufärbung auch beim Erhitzen verschwindet, ohne dass sich sonst in der äusseren Beschaffenheit des Salzes die geringste Veränder- ung bemerkbar macht. Die Temperatur, bei welcher diese Farbenver- änderung eintritt, liegt nach Wırrsex und PrrcHr, welche das Verhalten des blauen Steinsalzes beim Erhitzen gleichfalls genauer studierten, unter 280° C.; scharf lässt sie sich nicht ermitteln, da der Übergang zum farb- losen allmählich erfolgt. Bei 120° C. bleibt die Färbung erhalten. Die Gewichtsabnahme beim Erhitzen intensiv blau gefärbter, zuvor sorgfältig getrockneter Spaltungsstücke bis zum Farbloswerden betrug 0,02°/o. Um die Menge der etwa eingeschlossenen Kohlenwasserstoffe zu bestimmen, unterwarfen letztgenannte Forscher die beim Erwärmen entweichenden Gase, nachdem dieselben zuvor getrocknet und von ur- sprünglich vorhandenem Kohlendioxyd befreit worden waren, der Ele- mentaranalyse. Sie erhielten dakei aus 90 gr intensiv blau gefärbter Spaltungsstücke 6 mgr Wasser und 5,5 mgr Kohlendioxyd, und es würden diese Zahlen 2 mgr Sumpfgas (Methan) und 0,17 mgr Wasserstoff ent- sprechen, Mengen, die so gering sind, dass es allerdings zum mindesten gewagt erscheinen muss, die blaue Färbung, wie es Bıschor annimmt, ausschliesslich auf einen Gehalt an Kohlenwasserstoffen zurückzuführen. Wırtsex und PrecHT neigen deswegen auch der Ansicht zu, dass die Blaufärbung im wesentlichen durch rein optische Verhältnisse bedingt sei. Ochsenius, Die Bildung der Salzlager und ihrer Mutterlaugensalze. S. 117. 7.0.8: 29. Beim Zerreiben von Kupfersulfatkrystallen zu feinem Pulver bleibt die Farbe, wenn auch erheblich geschwächt, erhalten; namentlich tritt sie beim Be- feuchten des Pulvers mit Wasser wieder lebhaft auf, während das blaue fein zer- riebene Steinsalz, in gleicher Weise behandelt, auch nicht den geringsten bläulichen Farbenton erkennen lässt. ® N m 156 Wissenschaftliche Rundschau. Sie fanden ferner im Mittel mehrerer Bestimmungen das spezifische Gewicht des blauen Salzes zu 2,141 und das des farblosen zu 2,143 und halten es nun für wahrscheinlich, dass diese allerdings geringe Differenz auf vorhandene mit Luft oder anderen Gasen angefüllte Hohl- räume im blauen Steinsalze zurückzuführen sei, welche zugleich die op- tischen Verhältnisse derartig modifizieren, dass nur die blauen Licht- strahlen reflektiert werden. (Nach B. Wrrmsen und H. Prec#r: Zur Kenntnis des blau ge- färbten Steinsalzes, in: Ber. d. deutschen chem. Gesellsch. z. Berlin 16, 1454.) Dr. A. GOLDBERG. Briefliche Mitteilungen. Dichogamie zwittriger Tiere. In seinem Aufsatz: »Darmlose Strudelwürmer« im »Kosmos 1884 Band I, Heft 1« sagt Herr Dr. Spenge: »Bei Acölen tritt die Reife der männlichen und weiblichen Organe nicht gleichzeitig ein, sondern nach- einander. CrararkpE bedient sich für diese Erscheinung des Ausdrucks »successiver Hermaphroditismus«, einer wie mir scheint nicht besonders treffenden Bezeichnung, da es sich hier eher um einen »successiven Go- nochorismus«, um eine temporäre Geschlechtertrennung zwittrig angelegter Tiere handelt. « Bekanntlich gibt es sehr zahlreiche zwittrige Blüten, welche da- durch sich auszeichnen, dass Staubgefässe und Narben nicht zu gleicher Zeit reifen, sondern nacheinander. Dieses ungleichzeitige Reifen der Ge- schlechtsteile bezeichnet man in der Botanik als Dichogamie; wenn die Antheren vor den Stigmen reif sind, so spricht man von Proterandrie, wenn das Umgekehrte der Fall ist, so hat man es mit Proterogynie zu thun. Wäre es nun nicht viel einfacher, diese Bezeichnungen auch für das Tierreich anzuwenden? Die Erscheinungen sind in beiden Fällen die- selben, und auch der physiologische »Zweck« ist der gleiche: durch un- gleichzeitiges Reifen der Geschlechtsteile zwittriger Blumen oder Tiere soll augenscheinlich eine Selbstbefruchtung verhindert, dagegen Fremdbefrucht- ung begünstigt werden. Wenn wir den Darwinschen Satz von den günstigen Wirkungen der Fremdbefruchtung auf das Tierreich übertragen, was meiner Meinung nach wohl gestattet ist, und wenn wir sehen, wie oft im Pflanzenreich bei Zwitterblumen Fremdbefruchtung durch Dichogamie herbeigeführt wird, so darf man wohl vielleicht erwarten, auch bei den zwittrigen Tieren öfter Dichogamie anzutreffen, als man dies jetzt annimmt. Untersuch- ungen nach dieser Richtung hin wären nicht ohne Interesse. Jedenfalls aber meine ich, würde es sich empfehlen, die oben angegebenen botanischen Ausdrücke auch für die entsprechenden Verhältnisse im Tierreich zu ge- Litteratur und Kritik. HT brauchen, anstatt der von CLAPAREDE oder SPENGEL vorgeschlagenen. Warum für dieselbe Erscheinung zwei verschiedene Namen, durch die doch sicher- lich nicht die Einheitlichkeit der Naturauffassung gefördert wird ? Unna. 15. II. 1884. Dr. W. BreimexBAcH. Litteratur und Kritik. Die Eneyklopädie der Naturwissenschaften im Jahr 1883 (Ver- lag von Eduard Trewendt, Breslau). Dieses grossartige Unternehmen ist, seitdem in diesen Blättern zum letztenmal darauf hingewiesen wurde, rüstig verwärtsgeschritten. Beginnen wir unsere Übersicht mit dem Handbuch der Botanik (Herausgeber Prof. Dr. Schesk), von welchem der Ill. Band beinahe vollständig vorliegt. Derselbe enthält: »Die Spaltpilze« von Dr. W. Zopr und »Vergleichende Entwickelungsgeschichte der Pflanzenorganes von Prof. Dr. K. GÖBEL (letztere mit der 35. Lfg. der I. Abteilung noch nicht abgeschlossen). — Auf die grosse Wichtigkeit der Zopfschen Arbeit besonders aufmerk- sam zu machen, dürfte beinahe überflüssig erscheinen. Sie bringt auf 97 Seiten zunächst eine kurze treffliche Einleitung, welche über das Verhältnis der Spaltpilze insbesondere zu den Spaltalgen, über ihre Lebens- weise, ihr Vorkommen und ihre pathologische Bedeutung orientiert. Verf. spricht sich schon hier entschieden für die Nägelische Ansicht aus, dass »alle parasitisch im tierischen und pflanzlichen Körper auftretenden Spaltpilze aus gewöhnlichen unschädlichen, saprophytischen Spaltpilzen entstehen«, was ja bekanntlich für einen Schizomyceten durch Buchner bereits festgestellt ist: der Milzbrandpilz stammt von dem in Heuaufguss u. s. w. lebenden Heupilz ab. Darauf wird die Morphologie dieser merkwürdigen Formen besprochen, deren Formzustände so auffallend ver- schieden sein können und daher auch bis vor kurzem als selbständige Gattungen und Arten aufgeführt wurden. Die Teilung und Fragment- bildung, Bestandteile der Spaltpilzzelle, Bewegungsorgane, dann die Sporen- und Zoogloeenbildung sind in diesem Abschnitt knapp und übersichtlich erörtert. Im Kapitel über Physiologie würde man eigentlich erwarten, nicht bloss über die Ernährung der Spaltpilze, ihr Verhalten gegen Wärme, Licht, Elektrizität, Gase, chemische Stoffe, sondern in dem $. » Wirk- ungen auf das Substrat« auch über ihre, für den Menschen so unmittel- bar wichtigen krankheitserregenden Einflüsse belehrt zu werden; es ist aber allerdings selbstversändlich, dass die Berücksichtigung dieser weit- schichtigen Fragen den Verf. bedeutend über den ihm gesteckten Rahmen hinausgeführt haben würde. In sehr zeitgemässer Ausführlichkeit werden dann die Methoden der Untersuchung behandelt; den grössten Raum nimmt aber natürlich die Entwickelungsgeschichte und Systematik ein. 158 Litteratur und Kritik. Die genauer bekannten Formen werden in die vier Gruppen der Cocca- ceen, Bacteriaceen, Leptothricheen und Cladothricheen verteilt, und daran reiht sich die leider noch recht erhebliche Zahl der unvollständig er- forschten Formen, zu denen gerade einige der wichtigsten Krankheits- erreger, wie der Pilz des hückfallstyphus, der Diphtheritis, der Pocken, der Hühnercholera, des Erysipels, des Aussatzes u. s. w. gehören. Die ganze, seither auch separat erschienene verdienstvolle Arbeit ist vor- züglich geeignet, eine gründliche und auf die neuesten Forschungen ge- stützte Kenntnis der Spaltpilze zu vermitteln. Als höchst stattliche, durchaus selbständige Leistung präsentiert sich GößErs vergleichende Entwickelungsgeschichte der Pflanzenorgane. Der Verf. stellt sich entschieden auf den Boden der Deszendenztheorie und be- seitigt unbarmherzig auch die letzten Auswüchse jener früheren >»ver- gleichenden« Richtung, welche, hauptsächlich von GoETHE in die Botanik ein- geführt und noch von Ar. Braun mit Energie vertreten, darauf ausging, alle Einzelbildungen auf ein »Urbilds zurückzuführen, das doch nur eine pure Abstraktion und im Grunde nichts anderes war als eine »Idee« im echt platonischen Sinne, eine besondere Wesenheit mit ihr eigentümlichen Strebungen und Lebensäusserungen. Wir möchten in dieser Hinsicht namentlich auf die musterhaft klare Darstellung der Metamorphosenlehre in ihren verschiedenen Fassungen aufmerksam machen, wobei die gesunde realistische Anschauungsweise des Verf. am deutlichsten zum Ausdruck kommt. Den speziellen Teil, dessen 1. Abteilung: Entwickelungsgeschichte der Vegetationsorgane (und zwar des Laubsprosses, des Sexualsprosses, der Anhangsgebilde und der Wurzel, nebst Anhang über die Parasiten) beinahe vollständig vorliegt, während die 2. Abteilung (Fortpflanzungs- organe) noch aussteht, können wir hier nicht eingehend analysieren; es genüge zu bemerken, dass er eine würdige Fortsetzung des Handbuchs der Botanik bildet und durch seine anziehende lebendige Darstellung selbst den dieser Wissenschaft Fernerstehenden zu fesseln vermag. Einen etwas langsameren Fortschritt hat das »Handwörterbuch der Zoologie, Anthropologie und Ethnologie« zu verzeichnen, wie es bei der umfassenden Aufgabe dieses Werkes und der Schwierigkeit, die zahlreichen Mitarbeiter zu gleichzeitigem und harmonischem Zusammenwirken zu bringen, kaum anders sein kann. Dasselbe ist bis zum Beginn des Buch- stabens @ vorgerückt. Von F' an ist die Redaktion in die Hände von Dr. A. Rerıcnexow übergegangen, zugleich und zum Teil schon früher sind mehrere andere Mitarbeiter neu hinzugetreten, so dass zu hoffen ist, das nicht allzu glücklich angelegte Werk werde wenigstens durch immer grössere Vollständigkeit und Einheitlichkeit der Behandlung an innerem Werte gewinnen und zu einem so brauchbaren Repertorium werden, wie es gerade für die genannten Wissenschaften so sehr zu wünschen wäre. Von der II. Abteilung der »Encyklopädie«, die überhaupt erst im Februar 1882 zu erscheinen begann, liegen gegenwärtig vor: 1) Das»Handwörterbuch der PharmakognosiedesPflanzen- reichs« vollständig. Dasselbe (994 S. in 7 Ligen.) ist von Prof. G. Wırrstein allein bearbeitet (nur der eine grosse Artikel »Chinarinden« Litteratur und Kritik. 159 stammt von Prof. GarckE) und steht daher natürlich, was Konsequenz der Durchführung betrifft, allen anderen Teilen des Werkes voran. Die einzelnen Artikel bringen, nach den gebräuchlichsten deutschen bez. Handelsnamen alphabetisch geordnet, ausser der offizinellen lateinischen Benennung, dem systematischen Namen der Mutterpflanze und deren Stellung im Pflanzensystem je eine kurze Charakteristik der Mutterpflanze mit Angabe ihres Vorkommens, eine gründliche Beschreibung der davon im Gebrauch stehenden Teile, deren wesentliche chemische Bestandteile, die Merkmale der Echtheit resp. der Verwechselungen und Verfälschungen, die medizinische oder sonstige Anwendung und endlich Bemerkungen über die Zeit und Art der Einführung des Stoffes, geschichtliche und etymologische Notizen. Dadurch hat das Buch nicht bloss für den Phar- mazeuten, sondern auch für den Arzt, den Botaniker, ja selbst für den Philologen und Historiker grosses Interesse gewonnen, und dass es in jeder Hinsicht gründlich und zuverlässig ist, dafür bürgt hinlänglich der Name seines Verfassers. Im Anhang finden sich einmal sämtliche zur Sprache gekommenen Pflanzengattungen, nach Karsrens natürlichem Sy- stem geordnet, dann die genannten Droguen nach den betreffenden Pfanzen- teilen u. dergl. gruppiert, z. B. Balsame, Blätter, Blüten u. s. w., und endlich drei Register über deutsche und lateinische Droguennamen und die Namen der Mutterpflanzen. 2) Vom »Handwörterbuch der Mineralogie, Geologie und Paläontologie« erschienen 5 Lieferungen. Hier wie bei der Chemie ist aber, trotzdem das Ganze als Nachschlagewerk bequem zu verwenden ist, doch nicht eine streng lexikalische Anordnung des Stoffes befolgt worden, die nur zur Folge haben kann, dass Zusammengehöriges auseinander gerissen, wirkliche Belehrung fast unmöglich gemacht und Wiederholungen veranlasst werden, sondern eine verhältnismässig geringe Anzahl meist längerer Artikel oder Abhandlungen, welche je ein ziemlich abgeschlossenes Ganzes bilden, führt uns das reiche Material in über- sichtlicher und anziehender Gliederung vor. Dadurch ist es denn auch möglich geworden, von vornherein die Aufgabe jedes Mitarbeiters und den Bereich der einzelnen Artikel genau abzugrenzen. Im »Handwörter- buch der Mineralogie etc.« ist dies sogar in der Weise geschehen, dass die von jedem der drei Autoren A. Krxxsorr, v. Lasaurx und F. Rote bearbeiteten Artikel zugleich, wenn in eine entsprechende Reihenfolge gebracht (worüber eine besondere Abhandlung Aufschluss gibt), sich zu einer zusammenhängenden und systematischen Darstellung der betreffenden Wissenschaft zusammenfügen. Besonders wertvoll scheinen uns die geo- logischen Beiträge zu sein, welche bei durchaus gemeinverständlicher Darstellung doch den neuesten wissenschaftlichen Standpunkt wahren und auch solide Kritik nicht vermissen lassen; wir nennen bloss die schönen Artikel Atmosphäre, Chemische Prozesse in der Geologie, Deltabildungen, Erdball, Erdbeben, Gebirge, Gletscher. Weniger dürfte die paläontolo- gische Abteilung diesen Anforderungen entsprechen, wobei allerdings auch der fast gänzliche Mangel von Abbildungen bedeutend ins Gewicht fällt. Dieser Mangel ist hier sowie im zoologischen Teil des Unternehmens um so auffallender, als beide doch ausdrücklich »jedem allgemein gebildeten 160 Litteratur und Kritik. Leser zur Belehrung dienen sollen«. Es wäre im Interesse der Sache sehr zu wünschen, dass der bildlichen Darstellung, die ja oft so un- endlich viel mehr wahren Nutzen schafft als lange Beschreibungen, in Zukunft grössere Aufmerksamkeit zugewendet würde. 3) Das »Handwörterbuch der Chemiet«, dessen Plan wir bereits besprachen, ist bis zur sechsten Lieferung vorgeschritten. Der Herausgeber Prof. LApExsurg und seine zahlreichen Mitarbeiter haben sich, wie es der Stoff verlangte, wenn eine irgendwie eingehende Dar- stellung desselben gegeben werden sollte, viel ausschliesslicher an »Che- miker und andere mit der Chemie einigermassen vertraute Naturforscher« gewendet und ihre Abhandlungen daher in ein etwas strenger wissenschaft- liches Gewand gekleidet. Die Ordnung des wie bekannt in unendliches Detail zersplitterten Stoffes folgt einem wohl überdachten Schema, das man freilich im Kopf haben muss, um das Werk (das mindestens auf 20 Bände von je 700 S. anschwellen wird, denn der 1. Bd. reicht bloss bis »Anthracen«!) mit Leichtigkeit benutzen zu können; doch tragen dazu auch wesentlich die vollständigen alphabetischen Register aller in den einzelnen Bänden überhaupt erwähnten chemischen Körper bei, die jedem Bande beigegeben sind und am Schluss wohl noch durch ein General- register ergänzt werden dürften. Sicherlich wird das Ganze, namentlich wenn es im bisherigen raschen Tempo fortschreitet, bald eine in ihrer Art einzig dastehende Fundgrube für alles auf Chemie bezügliche bilden und die immense Entwickelung dieser jugendlichen Wissenschaft in die Breite wie in die Tiefe getreulich zum Ausdruck bringen. Wie aus dem Gesagten hervorgeht, hat die gesamte Encyklopädie auch im verflossenen Jahre höchst erfreuliche Fortschritte und Erfolge zu verzeichnen gehabt, welche zu der Hoffnung berechtigen, dass auch die noch ausstehenden Teile (Astronomie und Physik) bald in Angriff ge- nommen und samt den übrigen rasch zum Abschluss gebracht werden können. Die zum grössten Teil so trefflich gelungene Ausführung des ursprünglichen Planes lässt zugleich den lebhaften Wunsch entstehen, der- selbe möchte noch auf andere Disziplinen ausgedehnt werden und es möchten namentlich spezielle Physiologie, Psychologie und Sociologie eine ähnliche Bearbeitung erfahren. Y; Ausgegeben den 29. Februar 1884. AuTr use Am 25. August 1883 starb nach kaum dreitägiger Krankheit, im Begriffe von einer in die Alpen unternommenen Forschungsreise in seine Heimat zurückzukehren, zu Prad in Tirol der Oberlehrer Professor Dr. Hermann Müller im Alter von beinahe 54 Jahren, von denen er 28 Jahre ununterbrochen am jetzigen Realgymnasium in Lippstadt als Lehrer der Naturwissenschaften in ganz hervorragend erfolgreicher Weise gewirkt und sich nicht allein die Liebe und Hochachtung seiner vielen Schüler und seiner Spezialkollegen und Mitbürger in hohem Masse erworben, sondern auch als einer der scharfsinnigsten und dabei gewissenhaftesten Naturforscher der Jetztzeit durch seine vielfachen Beobachtungen und schriftstellerischen Arbeiten auf dem naturwissenschaftlichen Gebiete unter seinen Fachgenossen auf der ganzen Erde hohes und wohlverdientes An- sehen sich errungen hat. — Welche vortreffliche Eigenschaften den Ver- storbenen als Familienvater zierten, wissen vor allen seine tiefbetrübten Hinterbliebenen zu würdigen, deren Wohl er stets in der aufopferndsten Weise und unter eigenen Entbehrungen zu fördern beflissen war und die durch sein allzufrühes Hinscheiden ihres treuen und liebevoll sorgenden Ernährers beraubt worden sind. Was das Realgymnasium zu Lippstadt und dessen Schüler an MüLter, dem ausgezeichneten Jugendlehrer, ver- loren, erscheint geradezu unersetzlich. Seine Freunde, Kollegen und Mit- bürger betrauern ihrerseits tief den Verlust des zuverlässigen, charakter- vollen, überzeugungstreuen, für das Gemeinwohl ohne Sonderinteresse strebenden, so hochbegabten und doch so rührend einfachen und be- scheidenen Mannes, und wird derselbe in dem, was er als Vorsitzender und geistiger Leiter des Lippstädter »Bürger-Vereins« für die Hebung der Bildung dessen Mitglieder in der anspruchslosesten Weise gethan hat, unvergessen sein. Was endlich der Dahingeschiedene als Forscher und Schriftsteller in der Naturwissenschaft geleistet hat, beweisen seine grösseren und kleineren Werke, Aufsätze, Rezensionen etc., deren Zahl sich auf mehr als 200 beläuft, und seine Korrespondenzen mit gegen 150 Naturforschern, unter denen sich die bedeutendsten des In- und Auslandes befinden, und von denen z B. CHAruzs Darwın in der Zeit vom 28. Februar 1867 bis zum 6. August 1881 46 und FEDERICO DEL- PInNO in Genua in der Zeit vom 12. Mai 1868 bis zu Mürrer’s Hin- scheiden 29 teils sehr ausführliche Schreiben an denselben gerichtet haben, worin sie für dessen Leistungen die höchste Anerkennung, ja Bewun- derung aussprechen. Die Erinnerung an diese vielen und hervorragenden Verdienste, Herzens-, Charakter- und Geisteseigenschaften legte es seinen in Lipp- stadt, dem Mittelpunkte seines langjährigen erfolg- und segensreichen Wirkens, wohnhaften Schülern, Freunden und Verehrern nahe, dahin zu wirken, dass das Angedenken des leider so früh Verblichenen zugleich Kosmos 1884, I. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XIV). al 162 Aufruf. unter angemessener Berücksichtigung seiner Hinterbliebenen in würdiger und dauernder Weise geehrt werde. Es bildete sich daher in Lippstadt zunächst ein aus neun Personen bestehendes provisorisches Komitee, welches inmittelst durch Auswärtige auf die Zahl von 26 Personen sich verstärkt hat, um Sammlungen in Lippstadt zu veranstalten und Gelder von auswärts zusammenzubringen, deren Gesamtertrag dazu dienen soll, nach Möglichkeit: >das Andenken des Professors MÜLLER in geeigneter Weise sicher- »zustellen, den Hinterbliebenen die erforderlich erscheinende Unter- »stützung zu gewähren, und unter dem Namen »Müller-Stiftung« »eine Stiftung zu errichten, welche in nähere Beziehung zu dem »jetzigen Lippstädter healgymnasium gebracht werden und deren »Revenuen bei Lebzeiten der hinterbliebenen Witwe Professor MÜLLER »letzterer zufliessen, nach deren Ableben aber dazu dienen sollen, »dürftige und würdige Schüler der Anstalt, welche Naturwissenschaft »zu studieren beabsichtigen, zu unterstützen, wobei jedoch die »Müllersche Nachkommenschaft auch ohne Rücksicht auf Bedürf- »tigkeit in erster Linie berücksichtigt werden soll.« Ob und inwieweit diese ins Auge gefassten Ziele erreicht werden können, hängt selbstverständlich von dem Ertrage der Sammlungen ab. Die Endesunterzeichneten ersuchen daher alle früheren Schüler, Freunde und Verehrer Mürrer’s, sowie alle diejenigen, die grosse und bleibende Verdienste auch durch die That zu würdigen gesonnen sind, durch Ge- währung und Sammlung reichlicher Gaben dem Komitee die Erreichung aller oben gedachten Zwecke zu ermöglichen und die selbstgeleisteten oder gesammelten Beiträge unter Beifügung der Namen der einzelnen Geber, welche demnächst eine Biographie Mürter’s mit Bildnis zugesandt erhalten werden, dem Schatzmeister des Komitees Stadtkämmerer WILHELM Tuurmanx in Lippstadt einzusenden. Im Januar 1384. Dr. Wilhelm Julius Behrens in Göttingen, Alfred W. Bennet in London, Dr. W. Cramer in Barr, Francis Darwin in Cambridge, Dr. Arnold Dodel- Port in Zürich, Dr. Ernst Haeckel in Jena, Dr. Ernst Krause in Berlin, Dr. Alfred Kirchhoff in Halle a. d. S., Professor Dr. Karsch in Münster i. W., Dr. phil. Friedr. Ludwig in Greiz, Thür., Dr. Landois in Münster i. W., Dr. P. Magnus in Berlin, D’Arcy W. Thompson in Cambridge, Dr. Perceval E. Wright in Dublin — und zahlreiche andere Unterschriften. Indem wir mit Freuden der an uns ergangenen Aufforderung, diesen Aufruf im »Kosmos« zu veröffentlichen, hiermit nachkommen, erklären wir uns zugleich bereit, Beiträge für die Hermann Müller-Stiftung entgegenzunehmen. Wir sind überzeugt, dass unsere Leser gerne diese schöne Gelegenheit ergreifen werden, um das Andenken des unvergess- lichen Forschers und Lehrers nach ihren Kräften zu ehren! Über die eingelaufenen Beiträge wird seiner Zeit an dieser Stelle quittiert werden. Prof. B. Vetter in Dresden-Blasewitz. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung, Stuttgart. Die Moundbuilders und ihr Verhältnis zu den historischen Indianern. Von Dr. E. Schmidt (Leipzig). (Schluss.) IM. Es wurde bisher nur die negative Seite des hesultates hervor- gehoben, welches uns eine unbefangene Prüfung der Thatsachen geliefert hat: die Moundbuilders waren nicht ein einheitliches Volk, und sie be- sassen nicht die hohe Kulturstufe, welche ihnen eine enthusiastische Auffassung zuschreiben wollte. Wenn sie aber das nicht waren, wofür man sie gehalten hat, was waren sie denn ? Der erste Schritt auf dem Wege, diese Frage zu beantworten, muss der sein, dass wir die Kulturleistungen der Indianer, so wie sie sich noch möglichst unberührt von europäischen Einflüssen darstellen, mit denen der Moundbuilders vergleichen. Wir finden dabei, dass man, gerade wie man das Niveau der Moundbuilders sehr überschätzt hat, so auch auf der anderen Seite der Kulturhöhe der historischen In- dianer nicht gerecht geworden ist. Überreich fliessen uns die histo- rischen Quellen über die Kulturzustände der Indianer, soweit sie im Ver- gleich mit den Altertümern der Mounds in Betracht kommen; in neuester Zeit haben BALpwın und CARrR eine grosse Menge einschlägiger That- sachen zusammengestellt. Es würde eine ermüdende Wiederholung sein, wollten wir eine grössere Anzahl entsprechender Angaben anführen, und wir wollen uns daher beim Nachweis der Analogie zwischen den Leist- ungen der Moundbuilders und der Indianer immer nur auf wenige Citate beschränken. In den meisten Schriften über Mounds findet man mit einem ge- wissen Behagen den Gegensatz ausgemalt zwischen den sesshaften, un- gemein volkreichen, blühenden Ackerbau treibenden hochzivilisierten Moundbuilders und den in kleinen Horden hin- und herziehenden, vor- zugsweise von der Jagd lebenden und nur sehr armseligen Feldbau trei- benden Indianern. Das ist nach beiden Seiten hin eine Übertreibung. Alle alten Beobachter wissen davon zu erzählen, dass der Ackerbau bei 164 E. Schmidt, Die Moundbuilders und ihr Verhältnis den Indianern in hoher Blüte stand, dass auch sie eine weit grössere Volkszahl hatten, als es lediglich durch die Jagd möglich gewesen wäre, dass auch sie in kleineren und grösseren Dörfern ein sesshaftes Leben führten. Ja um die ganze europäische Kolonisation von Amerika stünde es schlecht, die ersten Ansiedler wären fast überall verhungert, wären nicht die reichen Kornspeicher der Indianer gewesen, aus welchen sich die Europäer den Mais kauften, erbettelten oder stahlen. Schon DE Bry gibt uns bildliche Darstellungen üppiger Felder und Beschreibungen des Landbaues der Indianer. Hupson fand im jetzigen Staat New-York in einem einzigen Dorfe so viel Bohnen und Mais aufgestapelt, dass er da- mit drei Schiffe hätte befrachten können. Apaır und BARTRAM versichern uns, dass die Maisfelder der südlichen Indianer nicht nach Acres, son- dern nach Meilen gemessen wurden. Wie bedeutend der Feldbau selbst im Norden noch in den beiden letzten Jahrhunderten, also nach langer, nicht gerade zur Hebung des Indianers dienender Anwesenheit der Euro- päer in Amerika, war, beweisen folgende Thatsachen: als die Franzosen unter DenonvILLEe 1687 vier Dörfer der Senecas verbrannten, wurden dabei 1 200 000 Bushels Mais vernichtet; die französische Mannschaft musste sieben Tage lang mähen, um den noch auf den Feldern stehenden Mais dieser vier Dörfer zu zerstören. Um dieselbe Zeit (1696) sah FontenAc in der Nähe der Irokesendörfer 1'/g bis 2 lieues grosse Mais- felder. Fast hundert Jahre später zerstörte SuLLıvaAn bei einem Einfall ins Land der Irokesen 160 000 Bushels Mais, in einem einzigen Baum- garten hieben seine Soldaten 1500 Äpfelbäume ab, und noch 1794 konnte General Wayne aus den Ohiogegenden schreiben: »an den Ufern des Miami und des Au Glaize scheint sich meilenweit ein zusammen- hängendes Dorf hinzuziehen: nirgends in Amerika, von Canada bis nach Florida hinunter habe ich je zuvor so endlose Maisfelder gesehen. « Diese wenigen Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, dass auch die Indianer zum grossen Teil sesshafte, landbautreibende, volkreiche Stämme waren, gerade wie wir dies von den Moundbuilders annehmen mussten. Aber bauten sie denn, wie diese, auch feste Plätze auf Bergen und in der Ebene? Ja! Auch hierfür sind sehr zahlreiche direkte Nachrichten vorhanden. Und zwar finden wir alle Eigentümlichkeiten der festen Mounddörfer in den Beschreibungen dieser Indianerfestungen wieder. Starke Bergwälle, bis zu 50 Acres gross, hatten die Indianer New-Yorks; die Wälle umschlossen oft 20—30 »Langhäuser«, jedes 180 Yards lang und 20 Fuss breit. Solche starke Bergforts werden bei fast allen Indianerstämmen erwähnt. Ausserdem hatten sie aber auch noch befestigte Dörfer in der Ebene: »Ausser jenen festen Plätzen haben sie noch andere Dörfer und Städte, welche gleichfalls umwallt sind,« wie v. p. Donck von den Indianern am Hudson berichtet, und La- FITEAU erzählt von den indianischen Befestigungen im allgemeinen: »Die Beschaffenheit des Bodens bestimmt die Form ihrer Umwallung. Es gibt darunter vieleckige, die meisten aber sind rundlich und kreisförmig.« Lx Moynxe hat uns Zeichnungen solcher kreisförmigen Palissadendörfer, nach der Natur aufgenommen, hinterlassen. Fast alle Berichterstatter stimmen zu den historischen Indianern. 165 darin überein, dass die Ringwälle mit Palissaden oft in zwei- oder drei- facher Reihe besetzt waren (in letzterem Fall wurde zwischen den Palis- saden oft Erde aufgehäuft); ein Graben liegt bald vor, bald hinter der Palissadenlinie, und in einzelnen Fällen wird berichtet, dass die Ver- teidiger in diesen brusthohen Gräben selbst gegen die Kugeln der Europäer geschützt waren. Die Gruppierung kleinerer Forts oder fester Häuser auf Fundamentmounds zu einem grösseren Ganzen, wie wir sie bei manchen Mounds Ohios und der südlichen Staaten angetroffen haben, finden wir bei dem Ritter von Elvas auf p& Soros’ Zug in den »grossen umwallten Städten« wieder, die von vielen, Bogenschussweite von einander entfernten Häusern umgeben waren; ja selbst die Parallelwälle, welche von alten Umwallungen Ohios aus häufig den Zugang zu einem benach- barten Fluss beschützen, haben ihr Gegenstück in den »gedeckten Gängen«, welche nach den Beschreibungen neuerer indianischer Walldörfer von diesen zum Wasser hinabführen. Dass die Indianer (gerade wie die Mound- builders) sich mit Vorliebe in den fruchtbaren Thälern ansiedelten, erzählt uns Loskıen: »Zu Welschkornfeldern nehmen sie das niedrige fette Land an den Flüssen und Bächen, welches viele Jahre hintereinander trägt. Ist aber ein Feld ausgesogen, so legen sie ein neues an; denn vom Düngen wissen sie nichts und an Land fehlt es ihnen nicht.« Die Lage der Dörfer auf den höheren Thalterrassen, die zu so viel Spekulation Veran- lassung gegeben hat, wird in den Berichten von GARCILASSO, CHARLEVOIX, Larıtkau, Loskien etc. ausdrücklich motiviert. »Der Überschwemmungen wegen siedeln sich die Indianern soviel als möglich auf höhergelegenen Stellen an« (Garcır). »Daher findet man ihre Dörfer gemeiniglich an einem Landsee oder Flusse oder Bache, doch an erhabenen Orten, um bei dem hohen Wasser, das im Frühjahr gewöhnlich ist, nicht in Gefahr zu kommen« (LoskiEL). Zugleich geben uns diese Autoren einen Finger- zeig, der uns die Bedeutung der grossen Anzahl von alten Walldörfern in den Seitenthälern des Mississippi auf ihr richtiges Mass zurückführen lässt. So schreibt LarrteAu: >»Da die Wilden ihre Felder nicht düngen und sie nicht einmal brach liegen lassen, so erschöpfen sich dieselben bald und veröden, weshalb sie genötigt sind, ihre Dörfer anderswohin zu verlegen und auf noch unbebauten Strecken neue Felder herzurichten.« Auch der bald in der Nähe einer grösseren Niederlassung auftretende Holzmangel zwingt die Indianer nach LArıtEAU zu öfterem Wechsel der Wohnsitze. LoskıeL führt gleichfalls den Holzmangel durch Abholzung der Nachbarwälder sowie durch häufige Waldbrände als Ursache hierfür an. Die Häuserform der Moundbuilders war, wie die kleineren Schutt- wälle und Haufen innerhalb der Wälle gezeigt haben, bald rund, bald viereckig. Das stimmt genau mit der Beschreibung der indianischen Häuser, wie sie uns alle Reisenden geben. Schon in den Abbildungen von L£ Moyn£ finden wir beide Formen in demselben Dorf vereinigt. LArıtEAu berichtet: >Was die Form betrifft, so sind manche rund, ander- seits erfahren wir von Du PraArz: »Die Hütten der Natchez bilden stets ein vollkommenes Quadrat.« Auch die Sitte, die Toten im Boden der Hütte zu begraben, die wir in manchen alten Walldörfern Tennessees antreffen, findet sich häufig bei den neueren Indianern; so berichtet es BArTrAMm 166 E. Schmidt, Die Moundbuilders und ihr Verhältnis von den Muscogulges in Carolina, ScooLcRAFT von den Creeks und Se- minolen, BERNARD Roman von den Chickasaws, und selbst jenseits der Felsengebirge kommt diese Sitte vor, bei den Navajos, den Round valley Indians Californiens etc. Gehen wir über zur Vergleichung der alten und der modernen Erd- hügel. Als erste Gruppe der Mounds haben wir kennen gelernt die Reliefmounds Wisconsins, Michigans etc. Sie sind ein lokal beschränktes Vorkommen, für das wir fast im ganzen übrigen Moundbezirk jede Ana- logie vermissen. In derselben Lage befinden wir uns auch, wenn wir bei den modernen Indianern ähnliche Bauten suchen. Nur eine, wie es scheint, bisher unbeachtet gebliebene Notiz bei CHARLEVoIx (Journal d’un voyage VI. p. 51) ist vielleicht geeignet, etwas Licht zu werfen auf Zweck und Bedeutung dieser Reliefmounds. Er sagt: »Früher bauten die Irokesen ihre Hütten viel sorgfältiger als die andern Stämme und als sie selber es gegenwärtig thun; man fand bei ihnen Figuren in Relief dargestellt, obwohl die Ausführung derselben allerdings sehr grob war; seitdem man aber bei verschiedenen Expeditionen fast alle ihre festen Dörfer verbrannt hat, haben sie sich nicht mehr die Mühe genommen, dieselben im früheren Zustand wiederherzustellen.< Könnten diese grob ausgeführten »figures en relief« nicht die Fundamente für die Häuser gewesen sein, von welchen CHARLEVoIx spricht? Weitere Ausgrabungen in den Reliefmounds, die besonders auf die Struktur der- selben ihr Augenmerk zu richten hätten, könnten uns vielleicht über die Bedeutung dieser Hügel ebenso sichere Aufschlüsse verschaffen, wie sie uns über die Natur der »Tempelmounds« richtige Belehrung gaben. Dass unsere jetzige Auffassung dieser letzteren richtig ist, dafür haben wir wieder ausgiebige geschichtliche Beweise. Von dem Zuge DE Soros’ an finden wir häufig die Platform-Mounds erwähnt und beschrieben, welche Häuser (in der Sprache der Spanier Paläste oder Tempel) trugen. GarcıLasso beschreibt uns ausführlich die Konstruktion dieser Fundamente: »Die Indianer bemühen sich ihre Städte auf hochgelegenen Stellen zu er- richten; weil sie aber in Florida selten solche Örtlichkeiten finden, welche den zum Bauen nötigen Raum darbieten, so führen sie selbst solche Erhöh- ungen in folgender Weise auf. Sie wählen einen geeigneten Platz, häufen daselbst eine Masse Erde auf und stellen so eine Art Platform her, die zwei bis drei Piken hoch ist und auf deren Oberfläche zehn bis zwölf, ja sogar fünfzehn und zwanzig Häuser zur Aufnahme des Kaziken samt seiner Familie und dem ganzen Gefolge Raum finden. . ... Um hinauf- gelangen zu können, ziehen sie in gerader Linie Strassen von oben nach unten, jede fünfzehn bis zwanzig Fuss breit, und verbinden dieselben unter einander durch dicke Balken, welche weit in die Erde hineinragen und diesen Strassen als Mauern dienen. Dann bauen sie die Treppen aus starken Stämmen, die querüber gelegt, zusammengefügt und regel- recht zugehauen werden, damit das Werk festeren Halt bekomme. Die Stufen dieser Treppen liegen sieben bis acht Fuss auseinander, so dass auch die Pferde ohne Mühe hinauf- und hinuntersteigen können. Am ganzen übrigen Umfang der Platform, mit Ausnahme der Treppen, führen die Indianer eine steile Böschung auf, an der man nicht hinaufklettern zu den historischen Indianern. 167 kann, und die Wohnung des Häuptlings ist somit recht gut befestigt.< Lange noch in historischer Zeit hielt sich bei den Indianern des Südens der Brauch, die Wohnung auf künstlich erhöhten Fundamenten zu bauen: noch 1773 sah W. Barrram die Hütten der am unteren Mississippi leben- den Indianerstämme ... . .. »über das Land zerstreut auf Erdhügeln, die sie mit eigener Hand aufgeführt hatten.«< Und Avaır sagt von den Creeks: »Jede Stadt enthält ein grosses Gebäude, welches man passend das Berg- haus nennen könnte.« Den grössten Teil der noch übrigen, konischen Mounds haben wir als Leichenhügel kennen gelernt, in welchen sowohl Leichenbrand als Erdbestattung vorkommt. Auch hier finden wir wieder in historischer Zeit genaue Gegenstücke, und zwar für beide Arten der Beisetzung. Bei der Verbrennung der Leichen wird von den Indianern stets alles in die Flamme geworfen, wovon man annahm, dass es noch dem Toten angehöre und dass es ihm noch im Jenseits dienlich sein könne. Oft wird der ganze Besitz, ja selbst das Haus mit verbrannt. >Alles und jedes, was der Verstorbene besass, wird ym den Leichnam herum auf- gehäuft< (Ross Cox). Bei den Tolkotins in Oregon wird nach demselben Autor die Asche nach der Verbrennung unter dem Mound begraben, die grösseren Knochen aber noch jahrelang, in Birkenrinde eingehüllt, von den Witwen mit sich herumgetragen. Erklären solche Gebräuche nicht auf sehr einfache Weise die Fälle, wo man auf sogenannten Altären (hartgebrannten Thonherden), den Brandstätten der Leichen, keine Menschengebeine, wohl aber Asche und oft sehr wertvolle und zahlreiche Grabbeigaben fand’? Und wenn wir auf den Brandstätten ganze Depots von gleichartigen Ge- genständen finden, auf der einen z. B. nur Pfeifen, auf einer andern nur Lanzenspitzen ete., liegt dann die Erklärung nicht nahe, dass hier der Nachlass eines Künstlers oder Händlers wieder ans Tageslicht gebracht ist? Jedenfalls ist dies eine ungesuchtere Erklärung, als wenn man von mystischen Opfern, rätselhaften Gottheiten etc. spricht. Der »Altar« dieser Mounds steht nicht unvermittelt da: auch die Indianer wählen zur Ver- brennung der Leichen »eine Erderhöhung, auf welche zahlreiche Stöcke gelegt werden«e. Ebenso dürfte die konzentrische Schichtung dieser so- genannten sacrificial mounds ihr Gegenstück in der Errichtung eines Mound durch die Osagen haben, von welcher uns FRATHERSToNE erzählt: Einer ihrer Häuptlinge war plötzlich gestorben, während die Mehrzahl der Männer fern auf der Büffeljagd war. Der provisorische kleine Leichenhügel wurde nach der Rückkehr der Jäger »zeitweilig vergrössert, indem jeder- mann neues Material herbeischleppen half, und so dauerte die Anhäufung von Erde lange Zeit fort, bis der Hügel seine gegenwärtige Höhe erreicht hatte«. Von der Häufung eines Erdmound über unverbrannten Leichen sind uns sehr viele Beispiele von den verschiedensten Stämmen mitgeteilt, so von den Osagen, manchen Algonkinstämmen, den Fox, den Irokesen, Santees ete. Auch die bei der Beschreibung der Mounds angedeuteten verschiedenen Arten der Beisetzung der Leichen sind genaue Illustra- tionen zu den durch direkte Beobachtung bekannten Begräbnissen der Indianer. Auch bei diesen sehen wir überall die ängstliche Sorge, den 168 E. Schmidt, Die Moundbuilders und ihr Verhältnis Kontakt der Leiche mit der umgebenden Erde zu vermeiden: »wenn dieselbe in der Grube liegt, so achtet man darauf, sie so zu bedecken, dass die Erde sie ja nicht berühre.aus dem verdauenden Endoplasma durch die nachfolgenden in das Ektoplasma gedrängt wurden, wo sie nach glücklich überstandener Gefahr des Ver- dautwerdens durch sich schnell wiederholenden Teilungsakt in Pseudo- chlorophylikörperchen zerfielen und das Ektoplasma zu ihrem Vegetations- gebiete okkupierten.< Ferner gelang es mir und meinem Freunde Kessuer, chlorophyllfreie Infusorien mit den grünen Körpern zerquetschter Süss- wasserschwämme oder abgestorbener Armpolypen direkt zu infizieren. Endlich hat v. Grarr neuerdings die wichtige Beobachtung gemacht, dass sich aus Eiern des grünen Süsswasserstrudelwurmes (Vortex viridis), die in filtriertem Wasser gezüchtet wurden, ausnahmslos farblose Individuen ohne grüne Zellen entwickelten. Aus allen diesen Beobachtungen und Experimenten folgt mit Sicherheit, dass die grünen Körper oder Pseudo- chlorophylikörper der Tiere einzellige Algen sind, die von aussen in die Tiere einwandern. Wie bereits erwähnt, kommen diese grünen Algen vorzugsweise in Süsswassertieren vor, und zwar bei sehr zahlreichen Urtieren, z. B. Amö- ben, Sonnentierchen, Infusorien, ferner bei Spongilla, beim Armpolypen, einigen Strudelwürmern und einem Süsswasser-Regenwurm (Aeolosoma). Kosmos 1884. I. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XIV). 12 178 K: Brandt, Über Chlorophyll im Tierreich. Seltener finden sie sich in Meerestieren, z. B. in der Nacktschnecke Elysia und in dem Strudelwurm Convoluta Schultzüi. Die Meerestiere sind vorzugsweise mit einer anderen Algenart ver- sehen, die statt des echten grünen Chlorophylis eine gelbe oder bräun- liche Modifikation des Chlorophylifarbstoffes enthalten und schon seit mehr als 30 Jahren unter dem Namen der »gelben Zellen« bekannt sind. Während bei den grünen Körpern der Nachweis der Zellnatur die Hauptschwierigkeit bereitete, das Vorhandensein des Chlorophylis aber kaum jemals ernstlich bezweifelt wurde, lag umgekehrt bei den gelben Zellen die cellulare Beschaffenheit klar zu Tage, während man erst sehr spät auf den Gedanken kam, dass der Farbstoff ein Chromophyll, d.h. ein chlorophyllartiger Farbstoff, sein könne. Die gelben Zellen wurden zunächst als Pigmentzellen, in manchen Fällen auch als Leberzellen an- gesprochen; man hielt sie aber stets für selbstgebildete Teile der Tiere. Erst als Cıexkowskt (1871) die Zugehörigkeit der gelben Zellen zu den Radiolarien, in denen sie vorkommen, durch den Nachweis, dass sie im isolierten Zustande wochenlang weiter leben und sich durch Teilung noch vermehren, höchst unwahrscheinlich gemacht hatte, wurden immer mehr Gründe für die Algennatur der gelben Zellen durch O. u. R. Herrwıc, den Verfasser und Geppes beigebracht und durch diese und andere Forscher die weite Verbreitung dieser Algen im Tierreiche gezeigt. Die gelben Zellen oder Zooxanthellen zeigen eine weit grössere Mannigfaltigkeit - des Baues als die grünen Körper. Bei allen lässt sich aber ein Zellkern, gelbes oder braunes Chromophyll neben dem farblosen Protoplasma, ein oder mehrere, meist ausgehöhlte Körner eines Stärke-artigen Assimila- tionsproduktes und fast immer auch eine Cellulosemembran mit Sicherheit nachweisen. Ausserdem konnte ihre Selbständigkeit auch durch Kultur isolierter gelber Zellen dargethan werden. Sie gehen dabei entweder durch starke Verquellung der Zellmembran in einen Palmella-artigen Zu- stand über oder nehmen — bei Anwendung grösserer Wassermengen — die Form von Schwärmsporen an. Die weitere Entwickelung ist leider noch unbekannt, so dass es vorläufig auch nicht möglich ist, sie in einer der bekannten Gruppen von Algen unterzubringen. >Gelbe Zellen« finden sich in -der Klasse der Urtiere bei einigen Foraminiferen, Geissel- und Wimperinfusorien und bei den meisten Radio- larien, ferner bei einigen Schwämmen, zahlreichen Coelenteraten, und zwar sowohl bei Hydroidpolypen, Medusen und Ctenophoren, als bei Aktinien und Korallen, endlich noch bei einigen Echinodermen, Bryozoen, Strudelwürmern und sogar bei einem Borstenwurme (Eunice). Ausser den grünen und gelben oder braunen Algen kommen endlich noch in der Klasse der Schwämme nach den Untersuchungen von LIEBERKÜHN, CARTER, F, E. SCHULZE, SEMPER, MARSHALL und mir auch blaugrüne und violette Fadenalgen, also Öscillarien und Florideen vor. LIEBERKÜHN (1859) war auch, soweit bis jetzt festgestellt ist, der erste Forscher, welcher Algen in Tieren sicher nachwies. Er entdeckte in verschiedenen Schwämmen zwei neue Florideen, die N. PRINGSHEIM als Oallithamnia und Polysiphonia bestimmte. Lange vor ihm hatte zwar schon Bory pE Sr. Vıncext (1824) die kurze Angabe gemacht, dass die K. Brandt, Über Chlorophyll im Tierreich. 179 Färbung von Spongillen durch eine Alge, Anabaina impalpabilis, bedingt wird und dass die Schwämme nur ergrünen, wenn Anabaina in der Nähe vorkommt. Da aber aus der dürftigen Notiz nicht zu ersehen ist, ob der Autor sich für seine Behauptung genügende Beweise verschafft habe, so wurde ihr nur wenig Beachtung geschenkt. Ähnlich erging es auch den Angaben einiger späterer Forscher über gelegentlich gemachte Funde von Algen in der einen oder der andern Tierspezies; ihre Mitteilungen wurden entweder nicht beachtet oder bald vergessen oder auch durch entgegengesetzte Behauptungen anderer abgeschwächt. Von allgemeiner Bedeutung wurden erst die zielbewussten Untersuchungen der letzten Jahre. Sie ergaben für Hunderte von Tierarten, die man bis dahin erossenteils für chlorophylifreie gehalten hatte, dass sie'zwar Chlorophyll enthalten, dass aber der grüne Farbstoff nicht von den Tieren selbst erzeugt ist, sondern eingewanderten Pflanzen, einzelligen Algen, sein Dasein verdankt. In Süsswassertieren sind bisher nur grüne, in Meeres- tieren ausserdem auch blaugrüne, rote, violette, gelbe und braune Algen aufgefunden worden. Mit dem Vorhandensein oder Fehlen selbsterzeugten Chlorophylis schien ein ebenso wichtiger wie durchgreifender Unterschied zwischen Tieren und Pilzen einerseits und den Pflanzen anderseits gefunden und die Möglichkeit gegeben zu sein, in schwierigen Fällen zu entscheiden, ob ein Organismus zu den Tieren oder zu den Pflanzen gehört. Im letzten Jahre haben aber EnGELMANN für ein Glockentierchen (Vorticella campanula) und Kregs für eine Anzahl von unzweifelhaft tierischen Geisselinfusorien gezeigt, dass es echte Tiere gibt, die eigenes, an ihr lebendiges Körper- plasma gebundenes, funktionierendes Chlorophyll besitzen. Das Vorhanden- sein von selbstgebildetem Chlorophyll ist allerdings in höherem Grade, als man früher glaubte, ein pflanzlicher Charakter; zur sicheren Grenz- bestimmung zwischen Tier- und Pflanzenreich kann es aber ebensowenig wie irgend ein anderes Unterscheidungsmittel verwertet werden*. — Es galt weiter festzustellen, wie sich die Algen in den Tieren ver- halten und ob wirklich, wie man früher in betreff der grünen Körper glaubte, das in Tieren vorkommende Chlorophyll dieselbe wichtige Be- deutung für die Ernährung hat wie das pflanzliche Chlorophyll. Wie oben erwähnt, sind die Pflanzen im stande, vermöge ihrer Chlorophyll- körper bei Einwirkung von Sonnenlicht aus unorganischen Stoffen, wie Wasser, Kohlensäure u. s. w., organische Substanzen, besonders Stärke, zu bilden und Sauerstoff dabei auszuscheiden. Auch die in Tieren leben- den Algen können assimilieren, denn sie kommen nur in durchsichtigen Wassertieren vor und finden an ihrem Aufenthaltsort reichliche Mengen von * In neuester Zeit ist von Macchiati, Mac Munn und Tschirch in grünen Insekten (Aphiden, Kanthariden), von Mac Munn auch in Lebern von Krebsen , Mollusken und Echinodermen „Chlorophyll“ gefunden worden. Die An- gaben beruhen nur auf spektroskopischen Untersuchungen. Es ist unwahr- scheinlich und bisher durchaus nicht bewiesen, dass es sich in einem dieser Fälle um lebendes und von den Tieren selbst erzeugtes Chlorophyll handelt, da keiner der Forscher die Art des Vorkommens und die Assimilationsfähigkeit des grünen Farbstoffes nachgewiesen hat. 180 K. Brandt, Über Chlorophyll im Tierreich. Kohlensäure und Wasser. In der That bilden auch, wie man seit Jahren weiss, die gelben und grünen Algen ein Stärke-artiges Assimilationspro- dukt, dessen Menge und Färbbarkeit mit Jod, wie ich neuerdings zeigte, von dem Grade der Belichtung abhängt. Ausserdem ist zuerst von GEDDES, bald darauf auch von ENGELMANN und mir, der Nachweis geliefert wor- den, dass die algenführenden Tiere-bei gehöriger Belichtung bedeutende Quantitäten Sauerstoff ausscheiden. Dadurch war es wahrscheinlich ge- macht, dass die grünen und gelben Algen der Tiere ihren Bedarf an Nährmaterial selbst durch Assimilationsthätigkeit produzieren, und es er- gab sich nun die weitere Frage, ob die Algen nur soviel Stoffe bilden, wie sie selbst brauchen, oder ob sie noch an ihre Wirte davon abliefern. Beobachtungen machen es wahrscheinlich, dass in gewissen Fällen die Algen ihre Wirttiere ernähren. Exrz macht darauf aufmerksam, dass manche Wimperinfusorien, wie Vorticella, Vaginicola, Stichotricha u. s. w., und das Sonnentierchen Acanthocystis keine Nahrung mehr zu sich nehmen, wenn sie genügende Mengen grüner Algen beherbergen. Ich fand bei Stentor und anderen Wimperinfusorien dasselbe und konnte ausserdem bei koloniebildenden Radiolarien, wie Collozoum etc., konstatieren, dass dieselben nur im Jugendzustande, solange sie noch gar keine oder nur wenige gelbe Zellen enthalten, sich in animalischer Weise, d. h. durch Festhalten und Verdauen von anderen kleinen Organismen ernähren, während sie nach Einwanderung und reichlicher Vermehrung der gelben Zellen wenig oder gar keine festen Stoffe mehr aufnehmen, sondern sich augenscheinlich während der ganzen Dauer ihres späteren Lebens, sicher also mehrere Monate lang, allein von ihren gelben Zellen ernähren lassen. Anderseits gibt es allerdings sehr zahlreiche Tiere (Aktinien, Hydren, viele Infusorien u. s. w.), welche trotz reichlichen Besitzes von einge- mieteten, lebenden Algen noch andere Organismen erbeuten und nach Möglichkeit verdauen; diese Fälle beweisen aber keineswegs, dass die Ernährung der Tiere nicht auch allein durch die Algen stattfinden könnte. Die Armpolypen z. B. verschlingen, nach Jıckzur’s Beobachtung, alles, was sie an entsprechender Nahrung erreichen können und fressen sich dabei häufig zu Tode. Wenn also algenführende Tiere noch Nahrung aufnehmen, so kann das auch aus Fresslust und nicht wegen Hunger geschehen. Eine sichere Entscheidung der Frage, ob die Algen ihre Wirttiere ernähren können, ist überhaupt nicht durch Beobachtungen, sondern allein durch Experimente möglich. Zu den Versuchen in dieser Richtung wählte ich die Aktinien, die wegen ihrer ausserordentlichen Lebenszähigkeit ganz besonders geeignet erschienen. Die Experimente wurden in der Weise angestellt, dass einige Exemplare dem Lichte ausgesetzt, andere durch Überstülpen eines Holzkastens vollkommen dunkel gehalten wurden. Im ersteren Falle konnten die in den Tieren enthaltenen Algen assimilieren, im letzteren dagegen nicht. Im übrigen wurden die belichteten und die dunkel gehaltenen Tiere denselben Bedingungen unterworfen: sie befanden sich in sehr sorgfältig filtriertem Seewasser und erhielten mittelst der Spengelschen Durchlüftungsapparate grosse Mengen von Luft zugeführt. Da bei der Assimilationsthätigkeit der im Lichte befindlichen Exemplare K. Brandt, Über Chlorophyll im Tierreich. 87 ausser Ernährungsmaterial auch Sauerstoff produziert wird, bei den dunkel- gehaltenen dagegen weder das eine noch das andere, so wurden in eini- gen Fällen die dunkelgehaltenen Exemplare noch sehr viel stärker als die belichteten mit Luft versorgt; doch hatte diese Änderung des Expe- rimentes gar keinen Einfluss auf die Lebensdauer der Versuchstiere. Das Wasser wurde ausserdem in sämtlichen Versuchsgläsern während der ersten Wochen jeden zweiten oder dritten Tag, später nach 8S—10 Tagen durch frisches, mehrfach filtriertes Seewasser ersetzt. Unterliess man diese Vorsichtsmassregel, so konnte bei den dunkel gehaltenen Exem- plaren durch das Auswerfen der abgestorbenen Algen das Wasser faulig werden und vermehrten sich bei den belichteten die ausgeworfenen leben- den Zooxanthellen so stark, dass sie bald die Glaswände mit einem dicken grünbraunen Überzug bedeckten, der das Licht absorbierte und die Assi- milationsthätigkeit der in den Tieren befindlichen Algen schliesslich ganz unmöglich machte. Um ferner zu untersuchen, ob nicht der Aufenthalt im Finstern allein schon schädlich sei, wurden zwei Versuche angestellt. Es wurden mehrere Individuen von (erianthus membranaceus, einer Aktinie, die gar keine Algen enthält, teils in vollständige Dunkelheit gebracht, teils aber auch gut belichtet. Dabei zeigte sich, dass (bei sonst gleichen Bedingungen) Cerianthus im Dunkeln ziemlich ebensolange wie im Lichte lebt. Alle Exemplare starben bei gänzlichem Ausschluss der Ernährung nach 5—4 Monaten. Ein anderer Versuch wurde mit algenführenden Exemplaren von Aöptasia diaphana in der Weise angestellt, dass einige Exemplare nur gerade so weit verdunkelt wurden, dass ihre gelben Zellen unmöglich assimilieren konnten. Nach achtwöchentlichem Aufenthalt im Halbdunkel waren die Exemplare vollkommen frei von gelben Zellen. Sie wurden nun dem Lichte gut exponiert; doch konnte dadurch der Tod ebensowenig aufgehalten werden wie bei den stets in völliger Dunkelheit gehaltenen Exemplaren. Nachdem durch diese Kontrollversuche festgestellt war, in welcher Weise Experimente anzustellen seien, bei denen die algen- führenden Aktinien entweder ganz fasteten oder ausschliesslich von ihren Algen ernährt werden konnten und bei denen für alle Exemplare eine andere Todesursache als die mangelnde Ernährung ausgeschlossen war, begannen die eigentlichen Versuche. Dieselben wurden an verschiedenen algenführenden Aktinien mit allen Vorsichtsmassregeln angestellt. Stets wurde gut filtriertes, frisches Meerwasser, das häufig erneuert wurde, an- gewendet, und reichlich Luft zugeführt. 1) Von 12 gleichen Exemplaren der Aiptasia diaphana wurden 5 gut belichtet, die anderen 7 im Dunkeln gehalten. Letztere besassen nach 2 Monaten gar keine gelben Zellen mehr und starben sämtlich nach 2'/» bis 6 Monaten. Sie schrumpften allmählich zusammen, stülpten sich, als sie etwa zur Grösse eines Stecknadelknopfes reduziert waren, um und zerfielen schliesslich zu einem Klümpchen, das aus den Hüllen zahl- loser Nesselkapselzellen und krümeligem Detritus bestand. Der Hunger- tod fand bei Aiptasia stets in derselben Weise statt. Von den 7 belich- teten Aiptasien starben 2 im achten, eine dritte im zehnten Monat, während die beiden letzten noch nach 12 Monaten vollkommen normal waren. 182 K. Brandt, Über Chlorophyll im Tierreich. 2) Dasselbe Resultat ergab der entsprechende Versuch mit Anthea cereus var. smaragdina. Zwei belichtete Exemplare lebten noch nach 11 Monaten, während 2 dunkel gehaltene Individuen nach 8 bis S!/s Mo- naten starben, und zwar unter ähnlichen Erscheinungen wie verhungernde Aiptasien. 3) Am auffälligsten war der Erfolg des Experimentes bei Cereactis aurantiaca. Zwei Exemplare, die durch mehrwöchentlichen Aufenthalt in einem ungenügend belichteten Becken ihre gelben Zellen vollkommen ein- gebüsst hatten, wurden in filtriertes Wasser gesetzt. Sie starben trotz genügender Belichtung und reichlichster Luftzufuhr unter allmählicher Verkleinerung schon nach 3, bez. 4 Wochen. Dagegen lebten 2 Exem- plare, die aus einem gut belichteten Becken genommen waren und zahl- lose gelbe Zellen enthielten, mehr als 7 Monate in filtriertem Wasser. Als der Versuch im Anfang des achten Monats durch ein Versehen ab- gebrochen wurde, waren beide noch vollkommen lebenskräftig. 4) Ein anderer Versuch wurde mit einigen Exemplaren von Anthea cereus var. plumosa, die nach monatelangem Aufenthalt in einem schwach belichteten Aquarium sich allmählich völlig ihrer gelben Zellen entledigt hatten, in der Weise angestellt, dass alle 5 Tiere in filtriertem Wasser dem Lichte ausgesetzt, aber nur 2 derselben mit kleinen Fischstückchen gefüttert wurden. Diese besonders gefütterten Exemplare lebten noch nach 4 Monaten, während die 5 hungernden Individuen nach 3 bis S Wochen unter allmählicher Reduktion starben. Früher hatte ich bereits festgestellt, dass grüne Spongillen bei Belichtung monatelang von Wasser und Luft zu leben vermögen und dass auch Hydra viridis 4 bis 5 Wochen in belichtetem filtriertem Wasser leben kann. Ferner gibt Geppes an, dass grüne Meeresplanarien im Dunkeln sämtlich in 2 bis 4 Tagen starben, während andere, die dem diffusen Lichte exponiert waren, mindestens 2 Wochen lebten. Ausserdem hat v. Grarr konstatiert, dass grüne Exemplare von Vortex viridis im Dunkeln nach 7 Tagen farblos werden und nach 18 Tagen sämtlich zu Grunde gehen, dass dagegen im Lichte gehaltene Convoluten 4 bis 5 Wochen lang hungern können. Endlich ist es mir auch gelungen, koloniebildende Radiolarien wochenlang in filtriertem Wasser und bei ge- nügendem Luftzutritt am Leben zu erhalten. Zwei Exemplare von Sphae- rozoum punctatum lebten 5'/e bez. 6 Wochen in einem Glasgefässe, das bis zur Hälfte mit filtriertem Seewasser gefüllt und dann gut verschlossen war. Um Erschütterungen zu vermeiden, wurde das Wasser nicht, wie bei den Versuchen mit Aktinien, durchlüftet. Nach Ablauf der angege- benen Zeit gingen die beiden Kolonien nicht etwa zu Grunde, sondern zerfielen in normale Kristallschwärmer. In den mitgeteilten 4 Experimenten an algenführenden Aktinien blieben die Tiere am Leben, wenn ihren gelben Zellen Gelegenheit zur Assimilationsthätigkeit geboten wurde; sie starben, wenn die Assimilations- thätigkeit ihrer eingemieteten Algen verhindert wurde. Da durch ver- schiedene Versuche festgestellt war, dass bei der von mir gewählten Ver- suchsanordnung der Tod weder infolge von Sauerstoffmangel noch durch Verunreinigungen des Wassers herbeigeführt sein konnte, und da ich mich K. Brandt, Über Chlorophyll im Tierreich. 183 ausserdem davon überzeugt hatte, dass der Aufenthalt im Dunkeln oder im Halbdunkel den Aktinien im allgemeinen nicht schädlich ist, so bleibt nur eine Erklärung für die allmähliche Verkümmerung und das schliess- liche Absterben der dunkel gehaltenen Aktinien: die gänzlich aus- geschlossene Ernährung. Der Tod trat dagegen nicht oder erst viel später ein, wenn man entweder durch Belichtung den Algen die Möglich- keit gewährte, Nährstoffe zu bereiten, oder wenn man die Tiere in rein animalischer Weise ernährte. Die. allmähliche Verringerung der Körper- masse, welche ich bei Hydren, Antheen und Aiptasien beobachtete, wenn dieselben ausschliesslich auf die Ernährung seitens ihrer Algen angewiesen waren, scheint aber darauf hinzuweisen, dass diese Tiere nicht dauernd auf jede Fleischnahrung verzichten können. Radiolarien dagegen, ebenso wohl auch viele Süsswasserprotozoen, kommen vollständig mit dem von ihren eingemieteten Algen gelieferten Nährmaterial aus. — Über die Art und Weise, wie die Algen zur Ernährung ihrer. Wirt- tiere beitragen, liegen zwei verschiedene Ansichten vor. Grza Entz be- obachtete, dass bei Hydren und Infusorien die grünen Körper selbst dem Tiere zu Nahrung dienen können, während ich mich bei Radiolarien be- stimmt davon überzeugen konnte, dass von den gelben Zellen im Über- fluss produzierte Stoffe von den Tieren weiter verarbeitet und verwertet werden. Im ersten Falle gehen die Algen zu Grunde, im letzteren bleiben sie am Leben. Der zweite Modus scheint viel häufiger vorzukommen als der erste. Man kann sich davon überzeugen, dass die gelben und grünen Algen vortrefflich im Tiere gedeihen und sich durch Teilung vermehren, und dass bei Aktinien immer nach Verlauf einiger Tage grössere Klumpen gelber Zellen lebend ausgeworfen werden, die sich im freien Wasser noch weiter vermehren und die belichtete Wand des Glasgefässes mit einer braunen Schicht bedecken. Ferner findet man nur bei sehr jungen Radiolarienkolonien, die nur wenige gelbe Zellen enthalten und sich noch durch Festhalten und Verdauen von Fremdkörpern ernähren, zuweilen einige der Algen in Zerfall begriffen, während die älteren Kolonien nur zahlreiche intakte gelbe Zellen beherbergen. Auch in anderen algen- führenden Tieren begegnet man nur höchst selten gelben Zellen, die der Verdauung unterworfen zu sein scheinen. Einen Beweis dafür, dass die Wirttiere die Assimilationsprodukte, welche ihre Algen im Überfluss bei Belichtung liefern, sich nutzbar machen, die Algen aber am Leben lassen, sehe ich in folgender Beobachtung: Bei koloniebildenden Radiolarien fand ich nach Jodbehandlung zu wiederholten Malen zahlreiche kleine Stärkekörnchen im Protoplasma des Tieres. Sie kamen besonders häufig an der äusseren Oberfläche der gelben Zellen und in der Nähe vollkommen unversehrter gelber Zellen vor und stimmten in Form, Grösse und Mangel der Doppelbrechung so vollkommen mit den innerhalb der gelben Zellen nach Belichtung vorhandenen kleinen Stärkekörnchen überein, dass sie nur als freigewordene Assimilationsprodukte der gelben Zellen aufgefasst werden können. Auch bei Akanthometren konnte ich in unmittelbarer Nähe vollkommen rormaler gelber Zellen solche Stärkekörnchen auffinden, dagegen vermisste ich dleselben stets in algenfreien Exemplaren. Endlich habe ich bei Collozoum und Sphaerozoum wiederholt nach Jodbehandlung 184 K. Brandt, Über Chlorophyll im Tierreich. grosse, blassviolette Flecke in der extracapsularen Sarkode bemerkt, welche wohl halbverdaute Stärke darstellen. Aus den mitgeteilten Beobachtungen geht hervor, dass die Assimi- lationsprodukte der lebenden gelben Zellen den Tieren teilweise zu gute kommen und dass die Algen so ihre Wirte ernähren können. In dieser Hinsicht zeigt die Symbiose von Algen und Tieren grosse Ähnlich- keit mit dem Zusammenleben von Algen und Pilzen zu den sogenannten Flechten. Auch bei den Flechten liefern die Algen für die auf ihnen schmarotzenden Pilze das Nährmaterial. Die Algen erzeugen aus anor- ganischen Stoffen, bei deren Zuführung ihre Schmarotzer behilflich sind, organische Substanzen, und die Pilze verbrauchen davon. In beiden Ge- nossenschaftsverhältnissen, sowohl bei den Flechten als bei den mit Algen vergesellschafteten Tieren, erscheinen die Algen wie Gewebsteile der Flechten bez. Tiere und entsprechen in ihrer Hauptfunktion den Chloro- phylikörpern der Pflanzen. Die meisten Forscher, welche sich bisher mit der Symbiose von Algen und Tieren beschäftigt haben, sehen den wesentlichsten Vorteil der Algen für die Wirttiere in der Produktion von Sauerstoff, und GEDDES sucht das sogar zu beweisen. Wie in einem früheren Hefte des »Kosmos« (6. Jahrgang, Bd. 11, p. 223) ausführlicher besprochen ist, fand er, dass Algen, wie Ulva, Haliseris und Diatomeen, mehr Sauerstoff entwickeln als algenführende Tiere. Daraus kann man aber nicht mit Geppes fol- gern, dass die Differenz beim Passieren des Tierkörpers verbraucht und dem Wirte zu gute gekommen ist. Die Gesamtmenge des Chlorophylis, welches Aktinien und andere algenführende Tiere in ihren gelben Zellen besitzen, ist stets erheblich geringer als die in freilebenden Algen. Es ist daher ganz natürlich, dass die algenführenden Tiere weniger Sauerstoff ausscheiden als die Algen, ebenso wie es nicht auffallend ist, dass z.B. Diatomeen weniger Sauerstoff produzieren als Ulven. Obwohl bei den Diatomeen und den Ulven die Differenz der Menge des produzierten Sauer- stoffes viel bedeutender ist, als zwischen algenführenden Tieren und freien Algen, so wird man doch nicht behaupten können, dass die Diatomeen mehr Sauerstoff verbrauchen als die Ulven. Auch die anderen Beweise sind nicht stichhaltig. So ist z. B. die Behauptung entschieden unrichtig, dass die algenführenden Tiere besser als die verwandten algenfreien Spezies in schlechtem Wasser zu leben vermögen. Bei zahlreichen Versuchen, welche ich in dieser Hinsicht anstellte, ergab sich, dass von den Aktinien gerade Anthea cereus var. plumosa, die nach Behauptung von GEDDEs am meisten gelbe Zellen von allen Aktinien enthalten soll, beim Verderben des Wassers zuerst stirbt, während die gänzlich algenfreien Arten Dunodes und Actinia mesembryanthemum kaum durch Ausfaulen des Wassers zu töten sind. GEDnDES’ weitere Angabe, dass von den Medusen die algen- führende Cassiopea wochenlang, die algenfreie Pelagia aber nur einen oder höchstens zwei Tage im Aquarium. leben, ist ebenfalls unrichtig. Zwischen der Lebenszähigkeit der beiden Quallen ist kein nennenswerter Unterschied vorhanden. Endlich glaubt Geppes noch durch eine Be- obachtung an Anthea zeigen zu können, dass den algenführenden Tieren die Sauerstoffproduktion seitens ihrer eingemieteten Algen nützlich und K. Brandt, Über Chlorophyll im Tierreich. 185 angenehm sei. Er beobachtete, dass die Antheen im Sonnenlichte ihre Tentakel schwingen, >wie wenn sie angenehm erregt würden, von dem in ihren Geweben entwickelten Sauerstoff.< Man könnte gewiss mit dem- selben Rechte das Gegenteil behaupten und die Bewegung der Tentakel für Unlust und die Ruhe für Behagen deuten. Versuche zeigen auch, dass die letztere Auffassung berechtigter ist, denn die Erregung ist weder eine Folge der Lichtwirkung, noch ist sie angenehmer Natur. Die leb- haften Bewegungen, welche Aktinien bei direkter Belichtung ausführen, haben vielmehr in der zu starken Erwärmung des Wassers ihre Ursache. Sie finden sowohl bei algenführenden wie bei algenfreien Exemplaren von Anthea u. s. w. statt, und es ist dabei vollkommen gleichgültig, ob man die Temperaturerhöhung durch Einwirkung direkten Sonnenlichtes oder unter möglichstem Liehtabschluss auf dem Wasserbade ge- schehen lässt. Ebenso unbegründet ist die weitere Behauptung, dass den Tieren nur geringe Sauerstoffentwickelung angenehm, starke oder lange fort- gesetzte dagegen lebensgefährlich sei. Zum Beweise führt GEpDESs an, dass Aktinien ein »dunkles ungesundes Ansehen« bekommen, wenn sie einen ganzen Tag lang der Einwirkung direkten Sonnenlichts ausgesetzt gewesen sind, und dass Radiolarien in derselben Zeit getötet werden. Damit sei auch die eigentümliche Lebensweise der Radiolarien erklärt. Sie verlassen angeblich früh morgens die Oberfläche des Meeres und sinken in dunklere Tiefen, um allzuschneller Sauerstoffproduktion seitens ihrer gelben Zellen vorzubeugen. Das Untersinken sei noch dadurch be- günstigt, dass durch die in den gelben Zellen erzeugten Stärkemassen das spezifische Gewicht vermehrt wird. Dagegen ist einzuwenden, dass die Radiolarien überhaupt gar nicht das Licht fliehen, sondern im grell- sten Sonnenschein zu Tausenden an der Meeresoberfläche zu finden sind. Weder das Licht noch die Sauerstoffproduktion üben, wie Versuche sofort lehren, einen ungünstigen Einfluss auf die Radiolarien aus. Wenn man die Erwärmung ausschliesst, kann man sie stundenlang dem direkten Sonnenlicht aussetzen, ohne dass sie — trotz reichlicher Sauerstoffent- wickelung und Stärkeproduktion — irgend welche Neigung zum Unter- sinken verraten. Auch das »ungesunde Ansehen« der Antheen hat in- folge unrichtiger Versuchsanordnung nur in der zu starken Erwärmung des Wassers seinen Grund. Es ist also weder ein angenehmer und vor- teilhafter, noch ein todbringender Einfluss des von den Algen entwickelten Sauerstoffes bei den Tieren nachzuweisen. Alle bis jetzt bekannten algenführenden Tiere leben in sauerstoff- reichem Wasser, oft aber unter Bedingungen, in welchen sie wenig Ge- legenheit haben, sich nach Art von Tieren durch Aufnahme und Ver- dauung von anderen Lebewesen zu ernähren. So finden sich z. B. die gelben Zellen vorzugsweise in festsitzenden oder in flottierenden pela- gischen Tieren, die nicht im stande sind, ihre Beute zu verfolgen. Ähn- lich ist das Verhältnis bei den Flechten. Sauerstoff finden die Pilze da, wo sie mit Algen zu Flechten vereinigt sind, in mehr als hinreichender Menge. Da sie sich aber nicht, wie die chlorophylihaltigen Pflanzen, selbst organische Stoffe zu bereiten vermögen und an nackten Felswänden 186 L. Zehnder, Über den Bau der Kometen. weder zu parasitischer noch zu saprophytischer Eınährungsweise Ge- legenheit haben, so sind sie ganz auf die Assimilationsthätigkeit ihrer Algengenossen angewiesen. Bei den Flechten sowohl als bei den algen- führenden Tieren besteht die hauptsächlichste Bedeutung der Algen in der Lieferung von Nährstoffen. Ausserdem kommt auch, wie zuerst v. GRAFF ausgesprochen hat, in vielen Fällen die durch die Algen her- vorgerufene grüne Färbung als Schutzfärbung dem Wirte zu gute. Dagegen ist die Ansicht, dass eine wesentliche oder sogar die haupt- sächlichste Bedeutung der Algen für die Wirttiere in der Sauerstoffent- wickelung und der dadurch bedingten » günstigen Gewebsrespiration« be- ruhe, ungerechtfertist. Über den Bau der Kometen. * Von L. Zehnder (Basel). (Mit 5 Holzschnitten.) Die rätselhaftesten Gebilde unseres Sonnensystems sind unzweifel- haft die Kometen; über ihre Natur ist sozusagen gar nichts bekannt. Das wenige Gewisse, das uns die neuesten genaueren Beobachtungen und die Spektralanalyse an die Hand geben, hat nur zu gewagten Spe- kulationen und zu seltsamen, unglaubwürdigen Hypothesen Anlass gegeben. Eine richtige und unanfechtbare Vorstellung von der Zusammensetzung der Kometen ist bisher nicht veröffentlicht worden. Die gegenwärtig von den meisten Astronomen adoptierte Anschauung ist in kurzen Zügen folgende (nach OLBErs, BesseL, ZÖLLNER, SIEMENS U. 4.): Der Kopf des Kometen besteht aus einer wolkenartigen Ansamm- * Bemerkung der Redaktion. Wir verhehlen uns nicht, dass die in vorstehender Arbeit ausgesprochenen Ansichten zu mancherlei Bedenken Anlass geben mögen. Dabei scheint sie uns aber zugleich einige sehr beachtenswerte Ideen zu enthalten, unter denen besonders darauf hingewiesen sei, dass in rascher Bewegung befindliche Himmelskörper von sehr grossen Dimensionen unserem Auge eine andere Gestalt darbieten müssen, als sie wirklich besitzen. Aus diesem Grunde haben wir uns zur Aufnahme der ein so bedeutsames Thema behandelnden Arbeit entschlossen, müssen aber natürlich dem Verfasser die volle Verantwortlichkeit auch für seine thatsächlichen Angaben und Berechnungen überlassen. L. Zehnder, Über den Bau der Kometen. 187 lung von Meteoriden, der Kern ist der dichtere, die Coma der den Kern umhüllende weniger dichte Teil dieser Wolke. Der ganze Komet wird von der Sonne angezogen und gehorcht den Gesetzen der Gravitation, genau wie die übrigen Sonnentrabanten. Wenn nun der Komet in die Nähe der Sonne gelangt, so tritt entsprechende Erwärmung seines Kopfes ein. Ein grosser Teil der Masse verdunstet, erhält eine der Sonnen- Elektrizität gleiche Elektrizität, wird infolge dessen von der Sonne ab- gestossen und erscheint uns als Kometenschweif. Je näher der Komet der Sonne steht, um so stärker ist die Verdunstung, um so grösser auch die elektrische Abstossung: es wird also in der Sonnennähe der Kometen- schweif am glanzvollsten erscheinen müssen. Aus der abstossenden Wirk- ung der Sonne ergibt sich, dass der Schweif immer vom Kern aus an- fangend, der Sonne entgegengesetzt gerichtet erscheinen muss. Wenn unser Jahrhundert schon vielfach das .elektrische genannt wurde, so hat dies allerdings gute Gründe. Ausserordentlich viel ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten im elektrischen Gebiete geleistet worden. Dass aber für alle Naturerscheinungen, die man noch auf keine andere Weise erklären kann, die Elektrizität herhalten muss und dass man derselben gar noch Kräfte zuschreibt, deren Vorhandensein allen unsern bekannten und bewährten physikalischen Gesetzen geradezu Hohn sprechen würde, das scheint mir in der That höchst ungerechtfertigt. Die Elektrizität hat ihre ungeheure Wichtigkeit, das ist gewiss, allein ihre Bedeutung überschätzen ist gerade so fehlerhaft wie sie unter- schätzen. In meiner Abhandlung in Dineuer’s polytechn. Journal 1885 Bd. 249 S. 395-ff. über die atmosphärische Elektrizität habe ich vorläufig nur durch Aufdecken von Widersprüchen und Verstössen gegen bewährte physikalische Gesetze gezeigt, dass die oben angedeutete Annahme einer Sonnen-Elektrizität von ungeheurer Spannung eine durchaus unrichtige sein muss, nähere Untersuchungen über die notwendige Beschaffenheit der Sonnenoberfläche einer spätern Arbeit überlassend. Mit demselben Rechte frage ich die Urheber der elektrischen Kometentheorie, wie sich auf den Kometen nur die der Sonnenelektrizität gleiche Elektrizität bilden soll, ohne die entgegengesetzte? Es wird hierfür nie ein stichhaltiger Grund erfindbar sein, wenn nicht unsere ganze jetzige Elektrizitätslehre völlig umgestossen wird. Aber noch viele andere Einwände bieten jener Theorie unübersteigliche Schwierigkeiten : Die Sonne soll z. B. von ihrem ungeheuren Vorrat von Elektrizität den Planeten und Kometen abgeben, indem die letztere ähnlich wie das Licht in den Raum ausströmt und so jene Trabanten trifft? Auf unserer Erde sind die Kraftäusserungen dieser Sonnenelektrizität auch mit unseren empfindlichsten Apparaten unmessbar. Wir drehen uns auf unserer Erdkugel herum, sind mittags der Sonne zu, nachts von ihr abgewandt, ohne eine Spur von der un- geheuren elektrischen Wirkung der Sonnenelektrizität zu empfinden, wäh- rend ein Komet, welcher z. B. viermal weiter als die Erde von der Sonne entfernt ist, so sehr von der Sonne influiert werde, dass die den ‚Schweif bildenden Teilchen mit ganz unbegreiflicher Geschwindigkeit vom Kopfe weggetrieben werden, ziemlich in der der Sonne entgegengesetzten 188 L. Zehnder, Über den Bau der Kometen. Richtung! — Sein Kopf selbst werde hingegen weder angezogen noch abgestossen von diesen elektrischen Kräften! Ganz besonders bei der Sonnennähe müsste die abstossende Kraft der Sonne eine unglaublich grosse sein, wenn sie im stande sein sollte, die Kometenmaterie direkt vom Kometenkopf aus in der angenähert der Sonne entgegengesetzten Richtung abzustossen. Wenn irgendwelche Materie in dieser Weise ab- gestossen würde, so müsste bei ihrer Entwickelung aus dem Kometen- kopfe ihre Anfangsgeschwindigkeit (in Beziehung auf den bewegten Kometenkopf als Ausgangspunkt) gleich Null sein und sie würde pro- gressiv mit dem durchlaufenen Wege anwachsen. Der beschriebene Weg der Materie, welche den sichtbaren Schweif darstellt, müsste also im Zentrum des Kometenkopfes die Kometenbahn tangieren, nicht nahezu senkrecht auf ihr stehen. Gesteht man jener elektrischen abstossenden Kraft die grösste von uns beobachtete beschleunigende Wirkung zu, in- folge deren die Kometenmasse allmählich eine Geschwindigkeit von einigen hundert Kilometern per Sekunde annähme, so würde trotz alledem die Schweifkurve sehr deutlich mit der Bahn die gleiche Tangente besitzen und nur allmählich in grosser Kurve eine der Richtung zur Sonne direkt entgegengesetzte Richtung einschlagen. Mit keiner nur denkbaren Ge- schwindigkeit irgend einer Materie gelangen wir zu einem genügenden Resultate und müssen ausserdem noch bedenken, dass eine so leichte, dünne und durchsichtige Masse, wie die Kometenmasse sein soll, in ihrer (reschwindigkeit gewiss viel mehr begrenzt sein muss als die feste Pla- netenmasse, weil vermutlich der Äther, das widerstehende Mittel, ihr grössere Hindernisse bietet als den gewichtigen festen Körpern. Manche Kometen-Beobachter wie HAtuney, DoxArtı und viele andere wollen gesehen haben, dass sich aus den Kometenkernen eine gasartige Masse entwickelte, die sich zuerst in der Richtung gegen die Sonne be- wegte, nachher sich umwandte und in den Schweif überging, also direkt von der Sonne sich entfernte. Bei diesen Kometen wäre also die Be- wegungsrichtung und Geschwindigkeit der ausströmenden Materie gegeben. Die elektrische Masse müsste sich mit plötzlich eintretender ungeheurer Geschwindigkeit vom Kopf losgelöst und gegen die Sonne bewegt haben. Ihre Geschwindigkeit würde abnehmen, nahezu auf Null heruntersinken und müsste in entgegengesetzter Richtung wieder so schnell anwachsen, dass die Materie bei ihrer Rückkehr den Kometen noch an der nämlichen Stelle anträfe, an welcher sie ihn verlassen. Die Masse würde sich hier- auf zu beiden Seiten des Kopfes an demselben gleichmässig vorbei- bewegen, um in den Schweif überzugehen. An diesem Beispiel lässt sich am besten nachweisen, dass jene Ausströmungshypothese elektrischer Materie zu ganz unmöglichen Geschwindigkeiten führt. Nehmen wir an, der Weg, den die elektrische Materie vom Kopfmittelpunkte aus gegen die Sonne zurückzulegen hätte, betrage 10000 km und ebensoviel der hückweg bis zur Mittellinie der Kometenbahn. Weniger als so viel können wir nicht wohl annehmen, wenn ein wirkliches Ausströmen sicht- bar gewesen sein soll. Ferner habe der Kometenkern 1200 km, die Coma dagegen einen Durchmesser von 20000 km, die Kometen-Ge-. schwindigkeit sei 100 km per Sekunde. Wenn die Materie nun 10000 L. Zehnder, Über den Bau der Kometen. 189 . km gegen die Sonne und. einen gleichen Rückweg durcheilt hat, so darf der Kometenkopf-Mittelpunkt noch nicht um !/5o seines Durchmessers = 400 km fortgeschritten sein, denn bei einer so grossen Ortsver- änderung würde die eine Hälfte der Coma nur 9000, die andere aber 9800 km breit sein (Fig. 1), also nahezu 10°/o breiter hinter dem Ko- meten (in seiner Bahnrichtung) als vor demselben, welche Differenz un- fehlbar auffallen müsste. 400 km werden aber vom Kometen in 4 Se- kunden zurückgelegt. Die elektrische Materie müsste also in 4 Sekunden den Weg von 10000 gegen die Sonne und 10000 zurück = 20000 km zurücklegen, also 20000 : 4 —= 5000 km mittlere Geschwindigkeit per Sekunde haben, ein Wert, von welchem die grösste uns bekannte Ge- schwindigkeit wirklicher Materie nur ungefähr den zehnten Teil ausmacht, ganz abgesehen von dem bei weitem grösseren Geschwindigkeitsmaximum, welches erreicht werden muss, weil während verhältnismässig langer Zeit ro ' » 1290 Flugbahn un Richtung \ N ı N i w-- I000-A120“---9800--—-n “-- 9400-1200“ --9400---R & a: x---19900--- %- --19090---» Richtung. 1 ' x H Jormen - Y Fig. 1. am Anfange der Bewegung und bei der Umkehr in die entgegengesetzte Richtung die Geschwindigkeit —= 0 ist. Man wird hier vielleicht ein- wenden, ein Widerstand des Äthers sei absolut nicht möglich und nicht nachgewiesen. Infolge dessen müsse die elektrische Materie ausser der oben betrachteten Bewegung sich noch mit der Geschwindigkeit des Ko- meten selbst in der Richtung seiner Bahn bewegen. Unter Zugrunde- legung dieser Ansicht wollen wir die mittlere Geschwindigkeit berechnen, welche jener elektrischen Materie innewohnen müsste, damit sie einen Kometenschweif in annähernd der Sonne entgegengesetzter Richtung bilden könnte. Würde die Mittellinie des Schweifes mit der Verbindungs- linie von Sonne und Kometenkopf den Winkel « bilden, so wäre un- gefähr cotangens & gleich dem Verhältnis der gesuchten Geschwindigkeit der elektrischen Kometen-Materie zur Kometen-Geschwindigkeit, welche wir wie oben —= 100 km per Sekunde annehmen wollen. 190 L. Zehnder, Über den Bau der Kometen. Es ist nun annähernd km per Sekunde für e = 14% cotg «a = 4 also Geschw, der elektr. Materie = 4% 100400 een —= ' 8x10TZ2208 DE — 19 — 19 X 100 ea Di 29 — 2X 1ER ODE HN —= 57.x10 35108 allanyr all — 115 x 10 33308 Ua aid ; — 344 X 100 — 34400 Wie oben angedeutet ist die grösste wahrscheinliche, uns bekannte Ge- schwindigkeit wirklicher Materie ca. 570 km per Sekunde, es würde aber die Bedingung, dass der Kometenschweif sich nur um einen Winkel von 7° von der genauen Sonnenrichtung abwenden dürfe, schon auf 800 km, noch kleinere Winkel und grössere Kometengeschwindigkeiten, z. B. 570 km per Sekunde, progressiv auf ganz ungeheure Geschwindigkeiten führen, auf Werte, die nach unseren Begriffen nur von materielosen Erscheinungen wie Licht und Elektrizität erreicht werden. Weil die erwähnte elektrische Materie überhaupt so grosse Ge- schwindigkeiten schon im Momente ihres Entstehens aufweisen müsste, dass unsere intensivsten Explosionen nur ein Kinderspiel dagegen wären, so müsste auch die Repulsivkraft dieser Materie gegen den Kometenkopf während des Ausströmens gegen die Sonne hin eine ungeheure sein, die noch unterstützt würde durch die elektrisch abstossenden Kräfte von Sonne und Kometenkopf, welche beide Körper gleichartige Elektri- zitäten entwickeln sollen. Alle diese Kräfte dürften nicht im stande sein, den Kometen in irgendwelcher Weise aus seiner durch die Gravitation vorgeschriebenen Bahn zu heben. Und doch könnte gewiss die Wirkung jener Repulsivkraft der ausströmenden Materie auf den Kometenkopf keine untergeordnete sein, wenn man in Betracht zieht, dass die Schweif- materie oft einen Millionen und Billionen mal grösseren Kubikinhalt besitzt, als der Kometenkopf selbst. Die Annahme einer zu geringen Dichtigkeit des Schweifes schliesst dessen Sichtbarkeit für uns völlig aus. Wenn man aber auch über alles irgendwie Vorstellbare hinausgeht, so muss doch die Gesamtmasse des Schweifes zur Masse des Kopfes in einem Verhältnis stehen, das sehr fühlbare Kraftäusserungen notwendig macht und das auch unbedingt dem Kometen nur ein Bestehen von einigen Stunden gestatten könnte. Nach dieser Zeit müsste die gesamte Kometenmasse verdunstet und in den Weltraum zerstoben sein. Man sieht aus diesen Erörterungen, dass wir bei näherer Be- trachtung zu Werten gelangen, von denen wir uns absolut keine Vor- stellung mehr machen können. Es bleibt nur übrig einzuwenden, die Kometenmasse habe eben auf der Erde gar kein Analogon; infolge dessen sei es unmöglich, sich die Vorgänge vorzustellen. Aller Wahrscheinlich- keit nach und allen Beobachtungen am besten entsprechend geschehe eben die Ausströmung wie beschrieben und es werden sich wohl nie bessere Erklärungen vorbringen lassen. Die Kometenmasse sei unglaublich gering, die elektrische Materie des Schweifes, welche dem Kopf entströmt, soll wiederum im Vergleich L. Zehnder, Über den Bau der Kometen. 191 zur Kometenkernmasse selbst von unglaublich geringer Dichtigkeit sein und doch müsste sich diese Materie später in so unermesslicher Weise verdichten, dass sich Meteoriden bilden, bestehend aus Eisen, Gesteinen ete, etc., welche ziemlich häufig die Bahn unserer Erde kreuzen und in- folge dessen sich auf dieselbe stürzen. Die elektrische Repulsivkraft des Kometenkopfes auf die Kometenmasse wird unglaublich gross angenommen, dieselbe Repulsivkraft von der Sonne aus desgleichen. Umgekehrt sei die Reaktion der Schweifmaterie auf den Kometenkopf gleich Null und die Wirkung der Sonne auf den Kometenkopf von ganz verschwindendem Einfluss, während doch Kometenkopf und Sonne ungeheure Ladungen gleichartiger Elektrizität haben müssten. Wiederum wäre aber die Geschwindigkeit, mit welcher die elektrische Kometenmaterie in den Weltraum hinausgeschleudert würde, eine so ungeheure, dass sie an diejenige des Lichtes grenzen müsste. Für manchen beneidenswert ist derjenige, welcher alles dieses Un- glaubliche gläubig annimmt und sich damit tröstet, man kenne eben hier auf der Erde kein Analogon für die Kometenmaterie. Noch glück- licher, wer diese Werte so zu kombinieren vermag, dass sich alles zu einem harmonischen Ganzen gestaltet. Wahrhaftig! Mir ist sol- ches nicht möglich und ich begreife auch niemals, wie man bei solchen kläglichen Resultaten in grösster Gemütsruhe und Genügsam- keit stehen bleiben konnte, anstatt fortwährend neue Gesichtspunkte aufzudecken und sein möglichstes zur Aufklärung dieser glanzvollen und doch in ihrem Wesen noch so unergründeten Erscheinungen beizu- tragen. Licht in diese Kometenerscheinungen zu bringen, soll meine jetzig Aufgabe sein und zwar nicht bildliches, sondern wirkliches Licht. Wir kennen die Geschwindigkeit des Lichtes; sie ist ungefähr 300 000 km per Sekunde, ein Wert, mit welchem die Geschwindigkeit der Kometen- schweifmaterie vergleichbar wird. Wir kennen die Kometenmaterie: Es ist die Materie der Meteore und Aerolithen, allgemein der Meteoriden. Wir wissen ferner, dass die Masse des Kometenkopfes weder gasförmig noch flüssig, noch auch fest sein kann und dennoch durch starke Kräfte verbunden zu sein scheint. Das Kometenspektrum lässt auf vorhandene feste Materie mit reflektiertem Licht und auch auf selbstleuchtende Gase schliessen. Es ist sogar bereits die bestimmte Vermutung ausgesprochen worden und hat sehr vielfachen Anklang gefunden, die teleskopischen Ko- meten (ohne Schweif) bestehen aus einer ausserordentlich grossen Anzahl diskreter Teilchen, weil die Sterne ohne Lichtbrechung, also ohne schein- bare Ortsveränderung sogar durch den Kometenkern hindurch gesehen werden können. Mehr zu wissen haben wir vorderhand nicht nötig, denn sehr vieles lässt sich durch richtige Kombinationen und Reflexionen aus obigem ableiten. Gehen wir von dem vollständigen Sonnensystem aus: Der Zentral- körper (die Sonne) sei unbeweglich. Um denselben drehen sich in nahezu kreisförmigen Bahnen die Planeten und Planetoiden, deren sämtliche Bahnen mit der Ekliptik nahe zusammenfallen. Quer durch die Ekliptik gravitieren eine Anzahl von Kometen und Meteoridenschwärmen in lang- 192 L. Zehnder, Über den Bau der Kometen. gestreckten Ellipsen ebenfalls um die Sonne. Dieses System lassen wir nun in Gedanken folgende Veränderungen durchmachen: Sämtliche Planetenmasse denke man sich nicht in Gestalt von wenigen Kugeln um die Sonne kreisend, sondern in Form von unzähligen Planetoiden, welche in der ganzen Ekliptik ungefähr gleichmässig verteilt sind. — Die bestehenden Planetoiden beweisen, dass das Sonnensystem diese Form haben könnte, wenn die Bedingungen zur Planetenbildung andere gewesen wären. — Es bestehe auch der Zentralkörper nicht aus einer einzigen grossen Kugel, sondern aus einer sehr grossen Zahl kleinerer Körper, deren Gesamtmasse gleich der Masse des Zentralkörpers ist. Gibt man allen diesen Körpern eine Revolutionsbewegung in der Ekliptik um den Mittel- und Schwerpunkt ihrer ganzen Masse, in welchem Mittel- punkt sich eine verhältnismässig etwas grössere Kugel befinden mag, so hat diese Veränderung resp. die Zerteilung des Zentralkörpers in ausser- ordentlich viele kleinere Zentralkörperchen auf die ausserhalb befind- lichen Planetoiden sozusagen absolut keinen Einfluss. Nach diesen Ver- änderungen besitzen wir nun folgendes System: Um eine ganz kleine Zentralsonne kreisen sehr viele noch kleinere Zentralkörper ziemlich nahe beisammen, so dass sie von weitem betrachtet das Aussehen eines zusammenhängenden Körpers haben können. Ihre Gesamtmasse und also die Wirkung nach aussen ist diejenige der Sonne selbst. Um diese Zentralkörper bewegt sich die gesamte Planetenmasse (ca. '/oo der Sonnenmasse) in Form von sehr kleinen Planetoiden. Die Drehung finde nahezu in einer Ebene statt, welche fast senkrecht durch- schnitten wird von einer grossen Zahl von Kometen und Meteoriden- schwärmen. Nach dem bekannten Gravitationsgesetz hat ein solches System unbedingte Existenzberechtigung, so gut wie unser jetziges Sonnensystem. An dieses System legen wir nun den Massstab der Ver- kleinerung an: Die sämtlichen Planetoiden sollen in ganz kleine Körperchen zu- sammengeschrumpft gedacht werden, so klein wie etwa die Meteoriden sein mögen. Es kann dies ihre Revolutionsbewegung um die gemein- samen Zentralkörper in keiner Weise behelligen, noch die Geschwindig- keit in ihrer Bahn verändern. Ferner sei die Masse der Zentralkörper nicht mehr glühend und sende kein Licht mehr aus, sie sei statt dessen erstarrt und kalt. So lange nur ihre Gesamtmasse dieselbe bleibt, ändert sich in der Geschwindigkeit der Planetoiden nichts. Die Attraktionskraft von welcher jene Geschwindigkeit direkt abhängt, ist für jedes Körperchen, für den Fall, dass die Masse aller Planetoiden im Verhältnis zu der Zentralkörpermasse als verschwindend klein angenommen wird, proportional M Masse der Zentralkörper ı? ° Quadrat der "Entfernung der betr. Planetoiden vom Schwerpunkt aller Zentralkörper. Wenn wir nun unser ganzes beobachtetes System kleiner und kleiner werden lassen, bis der neue Halbmesser ein Hundertstel des früheren Halbmessers r geworden ist, so wird dadurch r? auf ein Zehntausendstel gebracht. Wenn wir gleichzeitig M auf ein Zehntausendstel des früheren L. Zehnder, Über den Bau der Kometen. 193 Wertes bringen, so bleiben die auf die Planetoiden wirkenden beschleu- nigenden Kräfte dieselben; bei weiterer Verringerung von M wird nun stets die Geschwindigkeit der die Zentralkörper umkreisenden, nun zu Meteoriden gewordenen Planetoiden abnehmen, aber eine Revolution findet nach wie vor statt. Nach allen diesen Reduktionen habe nun unser betrachtetes System ungefähr folgende Gestalt: Im Schwerpunkt befinde sich ein kalter Körper noch etwas kleiner als die kleinsten der uns jetzt bekannten Planetoiden, also z. B. mit einem Durchmesser von ca. 1—5 km. Um diesen drehe sich eine Scheibe von ca. 2000 km Durchmesser und ca. 100 km Dicke, bestehend aus den mehrfach erwähnten Zentralkörperchen von ca. 100 bis 1000 m Durchmesser, und ausserhalb dieser Scheibe kreisen in gleicher Ebene die sämtlichen Meteoriden bis in eine Ent- fernung von ca. 50 Millionen km vom Mittelpunkte aus. Die Durch- messer der Meteoriden sollen durchschnittlich nur ca. 1 m betragen. Wir denken uns nun dieses ganze Rotationssystem in zur Ekliptik senk- rechter Richtung ungefähr in die Entfernung des Neptun von unserer Sonne versetzt, so werden wir unmöglich nur eine Spur von demselben wahrnehmen können. Trotzdem übt die Sonne ihre anziehende Kraft auf das System aus, zieht es gegen sich und für den Fall, dass dasselbe keine Anfangsgeschwindigkeit abweichend von der Sonnenrichtung hätte, würde das Zentrum desselben immer schneller gegen die Sonne sich be- wegen und sich schliesslich in dieselbe stürzen. Diesem wirken aber besonders die grossen Planeten Jupiter und Saturn entgegen, indem sie eine kleine seitliche Anziehung auszuüben im stande sind, infolge deren die geradlinige Bahn sich in eine Kurve verwandelt und also das Zentrum des Systems an der Sonne vorbei, um sie herumfliegt und in entgegen- gesetzter Richtung auf angenähert elliptischer Bahn wieder in die Nähe des Ausgangspunktes zu gelangen sucht. Das System wird uns bei grosser Sonnennähe als (teleskopischer) Nebelfleck sichtbar sein, die sehr exzentrische Bahn und deren grosse Neigung sind Anhaltspunkte, dass wir dasselbe als Kometen betrachten und in deren Zahl einreihen. Wir unterscheiden deutlich die Gruppe der grösseren Zentralkörper als Kern, die kleineren sie umkreisenden Meteoriden als Coma des Kometen. Auf einen Kometenschweif könnte aus den bisherigen Betrachtungen nicht geschlossen werden, es sind also weitere Untersuchungen über die Be- schaffenheit des Systems eines solchen Meteoridenschwarmes vorzunehmen. Wir haben uns sowohl Sonne als Planeten in eine unendliche Zahl kleiner Körperchen, der Meteoriden, geteilt gedacht. Es folgt daraus, dass die Atmosphären jener Körper ebenfalls zu teilen sind. Alle ent- standenen Meteoriden haben ihre kleinen Atmosphären, die im Verhältnis sehr dünn und gering wären, wenn die Schwerkraft, welche jeder Körper auf die ihn umgebenden Gase ausübt, z. B. gleich der Schwerkraft un- serer Erde wäre. Dem ist aber nicht so: Die von so kleinen Meteoriden entwickelte Schwerkraft und also ihr Luftdruck auf der Oberfläche ist nahezu gleich Null. Die Gase haben ganz ungehinderte Freiheit, sich ausserordentlich auszudehnen, so dass solche Atmosphären ein bei weitem grösseres Volumen erreichen als die festen Kerne der Meteoriden selbst. Kosmos 1884, I. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XIV). 13 194 L. Zehnder, Über den Bau der Kometen, Denken wir uns vor allem die den Kometenkern bildenden Zentral- körperchen von sehr umfangreichen Atmosphären umgeben, welche zum mindesten das hundertfache Volumen der festen Körper einnehmen; die die Coma bildenden mittelgrossen Me- NS teoriden seien mit verhältnismässig kleineren und die ausserhalb der Coma herumkreisenden ganz kleinen Meteori- den mit noch geringeren Atmosphären ausgestattet. Ein solcher Meteoriden- schwarm mit einer Umlaufszeit von eini- gen hundert Jahren wird in der Sonnen- ferne vollständig die ungeheure Kälte \ By des Weltraums annehmen, seine ein- I) \ zelnen Körper haben zu geringe Dimen- Y sionen, als dass sie der stets einwir- kenden Kälte jahrelang zu widerstehen vermöchten. Umgekehrt wirkt aber die Sonne sehr erwärmend auf die einzelnen Körperchen ein, sobald dieselben in ihre Nähe gelangen. Zweifellos sind die festen Teile rasch um einige hundert Grad erwärmt und es werden infolge dessen ausser Wasser und anderen leicht flüch- tigen Stoffen mehrere weniger leicht zu verdampfende unter dem dort sozusagen verschwindenden Luftdrucke gasförmig. Bei der Sonnenannäherung nehmen die einzelnen Atmosphären ganz ausser- ordentlich an Grösse zu, in der Weise, dass die innerhalb derselben befindlichen festen Kerne nur noch einen äusserst ge- ringen Bruchteil des Ganzen ausmachen. Es ist leicht einzusehen, dass eine solche Gaskugel in der Nähe der Sonne wie eine Linse, ein Brennglas wirkt: Die Brechung der aus dem Äther in solche Kugeln von ausserordentlich ge- ringem Drucke und geringer Dichte ein- tretenden Lichtstrahlen kann entspre- BR chend nur ausserordentlich gering sein, der Sowmen-Öberfläche aber eine Brechung aus einem Mittel Sonne schr nahe. ins andere findet statt und zwingt ganz besonders das durch die grössten Gas- kugeln der Zentralkörper geströmte Licht, anstatt sich von der Sonne aus gleichmässig auszubreiten, sich stärker zu kontrahieren und eine bedeutend grössere Helligkeit in dem von der Sonne aus gesehen hinter dem Kometenkopf liegenden Raume zu entwickeln (Fig. 2). dunkel dunkel Tel "S S& S N Sonne sehr weit entfernt Fig. 2. L. Zehnder, Über den Bau der Kometen. 195 Die kleinsten Meteoriden von ungefähr 1 m Durchmesser, welche wir als in einer äussersten Scheibe um die Zentralkörper kreisend angenommen haben, können von uns auf so ungeheure Entfernungen nur gesehen werden, wenn sie diese helle Lichtzone passieren; sie selbst machen erst die Lichtzone sichtbar, ähnlich wie der feinste im Zimmer herum- fliegende Staub nur gesehen wird, wenn ein heller Lichtstrahl in das völlig dunkel gemachte Zimmer fällt. Ausser der Lichtzone scheinen die kleineren Meteoriden gar nicht vorhanden zu sein. Monde und Planetenringe der mit schnellerer fortschreitender Ge- schwindigkeit versehenen Planeten bewegen sich annähernd in der Ebene der Planetenbahn. Nehmen wir an, auch unser ganzes System der um ein Attraktionszentrum kreisenden Meteoriden, welches den Ko- meten bildet, drehe sich annähernd in derselben Ebene, in welcher die Kometenbahn liegt, so wird dies System dem Erdbewohner als ein beschweifter Komet erscheinen. Die sämtlichen Zentralkörper bil- den zusammen den Kern, die grösseren Meteoriden, welche in beträcht- licher Zahl ganz in der Nähe der Zentralkörper kreisen und welche einen allmählichen Übergang von den grossen Zentralkörpern zu den ganz kleinen Meteoriden bilden, stellen die Coma dar. Alle diese Körper wären einzeln völlig unsichtbar, nur eine ungeheure Anzahl kleinster Lichtpunkte kann unserem Auge auf solche Distanzen sicht- bar werden. Je grösser die Lichtpunkte selbst und je mehr deren in einem kleinen Raume beisammen sind, um so heller ist eben der be- treffende Teil des Kometen. Von den ausserhalb der Coma liegenden Meteoriden sind alle diejenigen wie ein feiner Staub oder Nebel sichtbar, welche die Lichtzone passieren. Es wird daher diese Lichtzone selbst sichtbar. Jeder Lichtstrahl, welcher, durch die Atmosphären der Zen- tralkörper gebrochen, mit der Geschwindigkeit von 300000 km per Sekunde in den Raum flieht, trifft, so lange die Schweifentfaltung stattfindet, fortwährend neue, vorher unbeleuchtete Meteoriden, erhellt sie und dieses stetige Hellerwerden macht auf unser Auge den Eindruck des Ausströmens. Der Verlauf der hellen Lichtzone ist durchaus nicht derjenige einer Geraden, sondern der einer transcendenten Kurve, die sich sehr bequem und übersichtlich durch Konstruktion der Resultierenden aus Liehtgeschwindigkeit und fortlaufender Geschwindigkeit des Kometen dar- stellen lässt (Fig. 5). Nach dem oben (Seite 190) erläuterten wird diese Schweifkurve nur um ca. 1 Bogenminute von der Sonnenrichtung abweichen, d.h. also der Sonne nahezu genau diametral gegenüberstehen. Während wir aber unter günstigen Verhältnissen einen von uns abge- wendeten Schweif von 150 Millionen km Länge in einem und demselben Moment übersehen, hat das Licht 500 Sekunden oder 81/3 Minuten zur einmaligen Zurücklegung jener Strecke nötig und trifft von den entfern- testen Meteoriden unser Auge beinahe 17 Minuten später als dasjenige von den uns zunächst befindlichen. Durch diese Verzögerung des Lichtes, welches den grossen Weg zweimal durchlaufen muss, bis es unser Auge erreicht, erscheint uns die Schweifkurve doppelt so stark gekrümmt als in Wirklichkeit. Kombinieren wir damit noch die relative Bewegung der 196 L. Zehnder, Über den Bau der Kometen. Erde zum Kometen, so wird sogar die scheinbare Kurve der hellen Licht- zone (des Kometenschweifes) im allgemeinen eine transcendente räum- liche Kurve, welche, von einzelnen Punkten des Sonnensystems aus - Mehtgeschwindigkeit gesehen, ziemlich scharfe Krümmungen auf- zuweisen hat; doch stimmt sie, so weit sie wenigstens sichtbar sein wird, mit dem Ver- lauf der geraden Linie nahezu überein, weil die Lichtgeschwindigkeit noch über 500 mal grösser als die grösste bekannte fortlaufende Geschwindigkeit eines Kometen ist. In ähnlicher Weise wie ein Ausströmen der Kometenmaterie in den Schweif, soll auch ein Ausströmen gegen die Sonne hin beobachtet worden sein. Ganz analog ist die Erklärung: Die Sonnenstrahlen dringen ein in die Atmo- sphären der Meteoriden; ein ganz kleiner Teil trifft den festen Kern und wird von ihm reflektiert nach allen Seiten, der grössere Teil passiert an demselben vorbei und setzt seinen Weg weiter fort. Der geringe reflektierte Teil lässt uns die betreffenden Meteoriden als Licht- pünktchen erscheinen, die uns nur in un- geheurer Anzahl sichtbar zu werden vermögen. Den Kern erkennen wir am besten, weil dessen Meteoriden am grössten sind und am meisten Licht reflektieren. Es ergibt sich aber unmittel- bar, dass die den Kern bildenden Zentral- körper ihre ganze Umgebung erleuchten müssen, und weil senkrecht auffallendes Licht sehr in- tensiv wirkt und entsprechend stark reflek- tiert werden muss, so werden uns viele zwi- schen Sonne und Kometenkopf sich bewegende Meteoriden sichtbar; denn ihre eine Hälfte wird direkt von der Sonne, die andere Hälfte in- direkt durch das vom Kern des Kometen reflektierte Licht beleuchtet. Solche Licht- punkte gewinnen dadurch an Umfang und Hellig- keit und erhalten das Ansehen von gegen die Sonne gerichteten Schweifen. Sind die um das Attraktionszentrum kreisenden Meteoriden bald dichter gedrängt, bald spärlicher vorhanden, so scheint der gegen die Sonne gerichtete Schweif abwechselnd länger und kürzer zu werden. Es bewirkt dies die scheinbare Ausströmung, ein Zurückbiegen, Zurückströmen u. s. w., überhaupt eine gewisse flackernde Bewegung, die eben zu allerlei Deutungen Anlass gegeben hat. Auch scheinbare pendel- artige Schwingungen des gegen die Sonne gerichteten Schweifes wurden L. Zehnder, Über den Bau der Kometen. 197 beobachtet. Sie erklären sich ausserordentlich leicht durch die oben ausgesprochene Annahme, die Meteoridenschwärme seien ringsum nicht von völlig gleichmässiger Dichte. Man sieht z. B. in regelmässigen Intervallen von einigen Tagen (3—7) eine deutliche Bewegung quer über den Schweif weg, und in der richtigen Voraussetzung, eine Bewegung könne nicht plötzlich spurlos verschwinden, gibt man sich der Täuschung hin, auch die Rückwärtsbewegung gesehen zu haben. Rotationsbewegungen von 3—7 Tagen gehören vollständig in das Gebiet der Wahrscheinlichkeit*. Mehrere Satelliten kreisen in diesen Zeiträumen um ihre Planeten. Zwar ist die Planetenmasse unvergleichlich grösser als die Masse eines Kometenkernes; dagegen sind aber auch die Entfernungen jener Monde von ihrem en ausserordentlich viel grösser als die Entfernung der in 5—7 Tagen eine Rotation vollenden- den Meteoriden von ihrem Attraktionszentrum. Selbstverständlich haben die äussersten Meteoriden eines Kometen, in Distanzen von vielen Millionen Kilometer, entsprechende Umlaufszeiten von Jahrhunderten, so dass während der kurzen Sonnennähe des ganzen Kometen eigentlich nur ihre mit dem Kometen fortschreitende Bewegung in Betracht kommt. Eine wirklich stattfindende Rotation wäre unzweifelhaft schon längst nachgewiesen worden, wenn jene Schwingungen in denselben Perioden und abwechselungs- weise auch hinter dem Kometenkern sichtbar gewesen wären. Der Kometenkern besteht aber wie mehr erwähnt aus einer wesentlich stärkeren Ansammlung von grossen Meteoriden, zwischen welchen hindurch nur ein kleinerer Teil von Lichtstrahlen fallen kann. Es entsteht also gerade hinter dem Kern eine relative Dunkelheit, ein dunkler Streifen, welcher sich gewöhnlich durch den ganzen Kometenschweif hinzieht, und infolge dessen kann das Kreisen der Meteoriden hinter dem Kern weniger leicht erkannt werden. In ähnlicher Weise erklärt sich die Erscheinung eines flammigen Kometenschweifs aus sehr ungleichen Meteoridenansamm- lungen, Meteoridenringen. — Viele Schwierigkeiten in der Bestimmung des Aggregatzustandes der Kometenmasse machte stets der Umstand, dass vom Kometen verdeckte Fixsterne, nur unerheblich geschwächt, durch denselben, sogar durch den eigentlichen Kern hindurch gesehen werden. Als grössten Zentralkörper des Kometen habe ich einen solchen von höchstens 5 km Durchmesser in Betracht gezogen. Wenn dieser Körper mit einer Geschwindigkeit von nur 50 km per Sekunde zwischen uns und einer entfernten Lichtquelle hindurchfliegen würde, so hätte unser Auge eine Lichtunterbrechung von !/ıo Sekunde. Eine solche Unter- brechung, und wenn sie sich in der Sekunde oftmals wiederholen sollte, würde doch höchstens das Licht eines Fixsterns schwächen, dieser würde uns weniger hell erscheinen und schwerlich eine Spur von raschen Licht- änderungen (Funkeln) verraten. Nun sind aber nach unserer An- nahme die Durchmesser der einzelnen Meteoriden im Verhältnis zu ihren Abständen von einander ganz ausserordentlich klein. Es wird also nur im äussersten Zufall genau ein solcher Körper zwischen den betreffenden = Aus der Rotationsdauer lässt sich hier wie bei den Planeten auf die Masse der Zentralkörper schliessen. 198 L. Zehnder, Über den Bau der Kometen. & Fixstern und unser Auge treffen. Häufiger kommen uns die Atmosphären der Meteoriden in den Weg. Aber auch diese bewegen sich mit so rasender Geschwindigkeit, dass nie an eine sichtbare Lichtunterbrechung, höchstens an eine Schwächung des Fixstern-Lichtes zu denken ist. Viel- leicht gelingt es späteren sehr genauen Untersuchungen, die Lichtstrahlen eines durch den Kometen verdeckten hellen Fixsternes mittels licht- starker Instrumente so auf ein Photophon zu leiten, dass die angedeuteten Variationen der Lichtintensität sich im Telephon kundgeben, so dass also gewissermassen der Komet gehört werden kann vermittelst der un- zähligen Unterbrechungen, welche seine kleinsten Teilchen, die Mu auf das konstante Licht der Fixsterne ausüben. Sehr interessant ist die allmähliche Schweifentwickelung bei der Annäherung der Kometen an die Sonne. Bei grossen Entfernungen fallen die Sonnenstrahlen beinahe parallel in die Meteoridenatmosphären ein, werden beim Ein-und Austritt gebrochen und vereinigen sich in einem Brenn- punkte sehr nahe hinter der Kugel, um sich nachher wieder stark zu zerstreuen. (Fig. 2.) Je kleiner dieser Zerstreuungswinkel ist, um so heller wird die Lichtzone. Je mehr also der Komet gegen die Sonne sich bewegt, um so näher rückt diese letztere einem Punkte, von welchem ausgehend das Licht jenseits in parallelen Strahlen austreten wird. Wenn demnach der wirksamste Teil, der Kern, der Sonne sich nähert, rücken die hinter den Atmosphären sich bildenden Brennpunkte, bis zu welchen sich doch mindestens die helle Lichtzone erstrecken muss, weiter und weiter vom Kern weg, die Lichtzone wird fortwährend grösser, der Kometenschweif länger. Das Maximum der Schweiflänge müsste in der Sonnennähe annähernd erreicht werden. Es wirkt aber die Sonne wie oben bemerkt (Seite 194 ff.) bei verhältnismässig so kleinen Distanzen stark verdunstend auf die Meteoriden ein und vergrössert deren Atmosphären sehr beträchtlich. Infolge dessen muss auch erst nach der Sonnennähe, wenn ungefähr der gasförmige Zustand der Materien auf ein Maximum gestiegen ist, die Schweiflänge ein Maximum erreichen. Ähnlich wie die Zunahme der Schweiflänge erfolgt die Abnahme derselben. Wir haben bisher angenommen, die Rotationsebene der Meteoriden liege in der Flugebene des Kometen, es ist dies aber gar nicht absolut notwendig. Wie die Satelliten oft in stark geneigten Ebenen um ihre Planeten sich drehen, so kann auch die Rotationsscheibe des Kometen schief zu der Ebene seiner Flugbahn stehen. In diesem Falle fällt die helle Lichtzone bald aus der Meteoriden-Rotationsscheibe hinaus und es resultiert nur ein sehr mässiger Schweif. Nur einmal tritt die Sonne in die Ebene dieser Scheibe ein — unserer Tag- und Nachtgleiche entsprechend — und in dieser kurzen Zeit muss der Schweif un- glaublich rasch zu- und aber beim Austritt der Sonne ebenso rasch wieder abnehmen. Alle sehr raschen, sozusagen plötzlichen Formänderungen des Schweifs erklären sich am besten aus der erwähnten schiefen Lage der Rotationsebene zur Flugebene. Bei geringer Neigung der Kometen- scheibe gegen die Kometenbahn wird nur ein Teil der hellen Lichtzone im Innern der Meteoridenscheibe bleiben, der Schweif wird also durch einen Bogen abgegrenzt, welcher den Meridian der gesamten Kometen- L. Zehnder, Über den Bau der Kometen. 199 scheibe abzeichnet; die Krümmung des Schweifes kann auf diese Weise je nach der Meridiankurve viel entschiedener ausfallen als nur durch die Lichtverzögerung, wie oben (Seite 195 ff.) beschrieben. (Fig. 4.) Wie unser Sonnensystem die Kometen, so besitzt oft das System eines Kometen eine Unmasse von Meteoriden in senkrechter Richtung zur Revolutionsscheibe. Solche Meteoriden beschreiben in ähnlicher Weise nicht Kreise, sondern langgestreckte Ellipsen und füllen den ganzen Raum zu beiden Seiten der eigentlichen Rotations-Scheibe aus, in verhältnis- mässig geringerer Anzahl, und wenn die Lichtzone zum Teil neben die Rotationsscheibe in den leeren Raum trifft, so beleuchtet sie noch solche weniger dicht gesäte Meteoriden, wodurch ein fast geradliniger, aber Debenschweif Flugbahnrichtung 2 —-- RK | ) ! | ! ! Sonnen-\ Richtung Fig. 4. sehr schwacher Nebenschweif gebildet wird, eine Erscheinung, welche beim Donatischen Kometen sehr deutlich gesehen wurde. — Die in der Nähe der Rotationsaxe stark eingezogene Form der den obigen Betrachtungen zu Grunde gelegten Meteoriden-Rotationsscheibe wird bedingt durch den Mangel aller Zentrifugalkraft auf der Rotationsaxe; infolge dessen hat die Schwerkraft die Oberhand und zieht alle dort befindlichen Meteoriden ins Zentrum. Denken wir uns die den Kern des Kometen bildenden grössten Me- teoriden um den Zentralkörper ähnlich gelagert wie die Saturnringe, also gewissermassen in Schwerringen um ihr gemeinsames Zentrum rotierend, so werden wir diese Ringe bei genügender Vergrösserung als helle Halb- 200 L. Zehnder, Über den Bau der Kometen. kreise erkennen; ihre von der Sonne abgewendete Seite ist verdunkelt, weil sie in der zentralen dunkleren, von dem helleren Lichte umschlos- senen Zone liegt, von welcher wir oben gesprochen (Seite 197). Finden sich ausser diesen Schwerringen noch ähnliche Schwerringe in annähernd zu der gemeinschaftlichen Rotationsebene senkrechten Ebenen (ein Ana- logon zu den Meteoridenschwärmen in unserem Sonnensystem), so er- scheinen uns solche Ringe als radiale helle Linien. In solcher Weise scheint der Kopf des Donatischen Kometen und ähnliche gebildet zu sein. (Fig. 5.) Wenn berichtet wird, diese Ringe haben sich in bestimmten Perioden von einigen Tagen aus dem Kerne entwickelt, einem Ausströmen vergleichbar, so halte ich dies ebensowohl wie die oben erwähnten Aus- strömungen für Selbst-Täuschung, d. h. ungenau beobachtete Thatsache. Nimmt man an, jene erwähnten schweren Ringe seien nicht ringsum von gleicher Dichte, einzelne Massenansammlungen haben gegen gewisse mit- rotierende Attraktionszentra stattgefunden, so muss allerdings das jedes- malige Hindurchtreten der Massen durch die beleuchtete Zone den Eindruck des Fliessens oder Ausströmens aufuns machen. Man könnte einwenden, dass ein gleichzeitiges Bestehen von mehreren der- artigen schweren Ringen in verschiedenen sich schneidenden Ebenen nicht statt- haben könne, weil in der Schnittlinie fort und fort Meteoriden zusammen- stossen und also aus ihrer Ebene heraus- geschleudert werden müssten. Dem steht aber entgegen, dass diese Meteoriden im Verhältnis zu ihrer Entfernung von ein- ander ausserordentlich klein sind und dass infolge dessen nur ganz zufällig zwei solche genau aufeinander treffen. Über- dies ist zu beachten, dass in der Haupt- rotationsebene nur einige Ringe rotieren, nicht eine einzige kompakte Scheibe. Zwischen diesen Ringen hindurch können ganz wohl in senkrechter Richtung perio- Fig. 5. dische Meteoridenschwärme sich bewegen, um so mehr, als dieselben infolge der längs der Rotationsachse stark kontrahierten Meteoriden-Scheibe (Fig. 4) nur auf ganz kurzen Bahnstrecken Widerstände antreffen. Wenn ein dichterer Schwarm die Zone hellen reflektierten Lichtes vor dem Zen- tralkörper des Kometen passiert, so erscheint er uns, wenn unser Auge sich zufällig nahe der Ebene seiner Flugbahn befindet, als radiale Licht- linie und muss das oft erwähnte Ausströmen täuschend darstellen. Betrachten wir in einem speziellen Falle einen Kometen, dessen Rotationsscheibe von zwei anderen ähnlichen Rotationsscheiben nahezu in einer Linie geschnitten wird. — Es entspricht dieser Fall vollständig dem vorhin erwähnten, in welchem wir verschiedene in ungleichen Ebenen Se . ; 2 Sonnen - Richtung. L. Zehnder, Über den Bau der Kometen. 201 liegende Meteoriden-Ringe zunächst dem Zentrum um den gemeinschaft- lichen Zentralkörper kreisen sahen. — Wenn die Verlängerung jener Schnittlinie der drei Ebenen annähernd durch die Sonne geht und gleich- zeitig eine sehr helle Lichtzone entsteht, welche direkt hinter dem Kern eine dunkle Zone einhüllt, so wird in jeder der 3 Ebenen ein dunkler Streifen, eingeschlossen von zwei hellen Schweifen, gebildet. Es ergeben sich so 6 Schweife, welche den Kometen so lange begleiten, d. h. so lange für uns sichtbar sind, als die Schnittlinie jener 3 Ebenen an- genähert durch die Sonne geht. Nur einmal ist dieses seltene Phänomen bis heute beobachtet worden, so dass es wohl gerechtfertigt ist, dem- selben ganz spezielle zufällige Kombinationen zu Grunde zu legen. Die Kometen zeigen uns meistens ein sehr schwaches kontinuierliches Spektrum, welches wir als Beweis für das Vorhandensein fester Körper, der Meteoriden, im Kometen betrachten dürfen. Diesen Körpern können wir einen glühenden Zustand nicht einräumen. Sie sind sehr klein, brachten Jahrtausende in grössten Sonnenfernen, in äusserst kalten Re- gionen zu, wo sie unbedingt alle ihre eigene Wärme schon vor undenk- licher Zeit verloren haben, und die Sonne selbst wird dieselben im all- gemeinen nicht auf Glühhitze zu bringen vermögen. Es müssen also jene festen Kerne, die Millionen von Meteoriden, das reflektierte Sonnenlicht uns senden und ziemlich genau das Sonnenspektrum, wenn auch sehr schwach und vielleicht mit mehr schwarzen Absorptionslinien, aufweisen. Auffallend sind aber im Kometenspektrum die hellen Banden, welche auf das Vorhandensein von Kohlenstoff, Kohlenwasserstoff und anderen ähnlichen Kohlenstoffverbindungen in glühendem Zustande schliessen lassen. In der Sonnenferne erhalten die kleinen Kometenkörper (Meteoriden) ganz gewiss eine Temperatur von weniger als — 100°, während ihr Atmosphärendruck sozusagen gleich Null ist. Infolge dieses äusserst geringen Luftdrucks bewahren sehr viele Körper ihre Gasform. Nähern sich die Meteoriden der Sonne, so dass sie von ihr Licht und Wärme in ansehnlichen Quantitäten erhalten, so vermehrt sich das Volumen der die festen Kerne umgebenden Gasmassen sehr bedeutend, teils durch Ausdehnung, teils dadurch, dass unter so geringem Drucke weitere Körper ebenfalls gasförmig werden, verdunsten. Je grösser aber die At- mosphären werden, um so mehr Licht und Wärmestrahlen der Sonne konzentrieren sich in den Brennpunkten der linsenartig wirkenden Gas- kugeln. Es ist gar nicht unwahrscheinlich, dass in diesen Brennpunkten und in deren Nähe Stoffe (z. B. leicht entzündliche Gase) von Meteoriden, welche sich zufällig an solcher Stelle befinden, auf Hunderte von Graden erhitzt werden und also sich entzünden müssen. Wegen des geringen Luftdruckes und des daraus folgenden spärlichen Vorhandenseins von Gasen in jenen Meteoriden-Atmosphären wird die Verbrennung nur eine lokale sein, sich nicht durch die ganze Atmosphäre der betreffenden von den Brennstrahlen getroffenen Meteoriden fortsetzen. Es ist ja auch nur eine ausserordentlich geringe Menge wirklich brennender Gase nötig, um schon ein ganz bemerkenswertes Spektrum zu bilden. Wenn wir uns einen Kometen mit 250 Millionen km Schweiflänge vorstellen, nach obigen Auseinandersetzungen, so müssten seine äus- 202 L. Zehnder, Über den Bau der Kometen. sersten, uns noch sichtbaren Trabanten (Meteoriden) einen Kreis von 500 Millionen km Durchmesser durchlaufen, wozu sie selbstverständlich Jahrhunderte und vielleicht Jahrtausende nötig haben. In der kurzen Zeit der Sonnennähe beschreiben demnach alle weiter entfernten Tra- banten einen so kleinen Weg in ihrer Rotation um den gemeinschaft- lichen Kometenkern, dass wir annähernd annehmen dürfen, jeder dieser Einzelkörper durchlaufe eine eigene langgestreckte Ellipse, deren Brenn- punkt von der Sonne um die Distanz des betreffenden Körpers von seinem Rotationszentrum und in gleicher Richtung entfernt liegt. Es erhellt daraus ohne weiteres, dass ein sehr grosser Teil Trabanten die Sonne nie erreicht und nicht dazu gelangt, um dieselbe herum zu kreisen, in der Weise also, dass die Sonne mitten durch alle Kometen-Trabanten hindurch- tritt, einen grossen Teil der ihre Bahn nahezu treffenden an sich zieht und die übrigen sehr nahe an ihr vorbeifliegenden Meteoriden so stark aus ihren Bahnen ablenkt, dass dieselben sich von ihren Kometen los- lösen und ganz neue Bahnen beschreiben, in der Ebene der Kometen- Flugbahn. Alle diese durch die Sonne abgelenkten Meteoriden bewegen sich zukünftig in gleicher Ebene weiter in neuen Ellipsen, bis sie endlich infolge anderer Einflüsse direkt auf die Sonne zustreben und von ihr verschlungen werden, wenn nicht der Komet bei einem nächsten Um- lauf sie wieder an sich zu ziehen vermag. Auf die massigsten Kometen- teile hat die Sonne verhältnismässig weniger störenden Einfluss. Diese Körper bewegen sich beinahe genau in der Bahn ihres Attraktionszentrums, für welches die Sonnen-Attraktionskraft durch die Zentrifugalkraft der Massen ausgeglichen wird, so dass gar keine metallische Dichtigkeit der Kometenmaterie verlangt werden muss, wie Prırcz in Cambridge be- rechnen wollte. Eine schwache Flutbewegung wird sich allerdings auch bei den dem Zentrum nächst liegenden Körpern geltend machen, welche be- strebt ist, alles vom Zentrum zu entfeınen. Eine solche Kraft bewirkt eine fortwährende Vergrösserung des Kometenkernes in der Sonnennähe und kurz nachher, infolge deren viele vorher durch einen dichteren Kern verdunkelte Zentralkörper ebenfalls direktes Licht erhalten und ihre Lichtzone entwickeln, so dass der Schweif auch infolge dieser Einwirkung eine grössere Helligkeit entfalten muss. Es ist gezeigt worden, wie der Komet bei jedem Durchgang durch die Sonnennähe eine grosse Zahl seiner Trabanten verliert, indem die Sonne sie teils völlig an sich zu ziehen vermag, teils in andere Bahnen lenkt. Man kennt sogar ein Beispiel, dass die Sonne einen Kometen in der Sonnennähe in zwei annähernd gleiche Teile zertrennte, so dass für die Folge zwei kleinere Kometen in fast derselben Bahn ihren Weg fortsetzten (Bırza’s Komet). Viele andere Kometen mag schon früher ein Ähnliches Los getroffen haben, bevor wissenschaftliche Beobachtungen und Forschungen gemacht wurden. — Ebenso wie die Sonne wirken aber auch die Planeten ein. Die daraus folgenden Perturbationen vermögen sowohl die Umlaufszeit der Kometen sehr bedeutend zu ändern, als besonders die ihnen oft sehr nahe kommenden kleineren Trabanten so sehr anzuziehen, dass diese ähnlich wie von der Sonne ganz aus ihrer ursprünglichen Bahn abgelenkt werden. Weil aber die Planeten im all- L. Zehnder, Über den Bau der Kometen. 203 gemeinen nicht in der Kometen-Flugbahn-Ebene liegen, so entstehen durch stark wirksame Perturbationen Meteoridenschwärme in ganz neuen Ebenen, so dass auf diese Weise der ganze Raum mit Meteoriden bevölkert wird, welche sämtlich in Ellipsen um die Sonne kreisen und ihr Vorhanden- sein vermutlich durch das Zodiakallicht uns verraten. Sonne und Planeten suchen die Kometen zu verkleinern und immer mehr Trabanten von ihnen abzulösen, so dass dieselben im Laufe der Zeit kleiner und kleiner werden müssen. Aber nur diejenigen Teile, welche durch Planetenperturbationen abgelenkt werden, und solche, welche sich direkt in die Sonne stürzen, sind für den Kometen auf immer verloren. Die übrigen bleiben in seiner Flugbahnebene; wenn sie auch neue ganz eigene Bahnen beschreiben, so gelangen sie doch früher oder später wieder einmal in den Bereich ihres Kometen und werden von ihm wieder mit- gerissen. Es erklärt dies, dass sehr langbeschweifte Kometen doch Tau- sende von Malen die Sonnennähe passieren können, bevor sie ihre weiter entfernten Trabanten d. h. also den Schweif völlig verloren haben. Eine Kometen-Schweiflänge von ca. 250 Millionen km ist bis heute so ziemlich das Maximum von beobachteter Länge und Ausdehnung ge- wesen. Es ist aber nicht nötig, nach dem früher Bemerkten einem solehen Kometen ringsum Trabanten in grosser Zahl bis zur Ent- fernung von 250 Millionen km zuzusprechen. Wenn man die Bewegung der Kometen in ihren überaus langgestreckten Bahnen verfolgt, so er- kennt man leicht, dass dieselben, so lange sie noch weit entfernt sind, in beinahe gerader Richtung gegen die Sonne hingezogen werden, mit fortwährend gesteigerter Geschwindigkeit. Diese Steigerung erfahren mehr oder weniger alle Trabanten ringsum. Sobald aber der Komet in seine Sonnennähe gelangt, ist sein schwerster, massigster Teil, der Kern, gezwungen, in scharfem Bogen um die Sonne sich zu drehen, um der ihm vorgeschriebenen elliptischen Bahn Genüge zu leisten. Die weiter entfernten Trabanten hingegen können infolge ihres grösseren Abstandes von der Sonne nicht so schnell in andere Richtungen abgelenkt werden; sie schiessen gewissermassen über das Ziel hinaus und zwar um so mehr, je grösser die fortschreitende Geschwindigkeit des Kometen gewesen ist; das Maximum ihrer Entfernung vom Kometen-Attraktionszentrum tritt etwas nach der Sonnennähe des Kerns ein und trägt also unzweifelhaft ausserordentlich viel zu der in diesem Zeitraum aussergewöhnlich grossen Ausdehnung des Schweifes bei. Betrachtungen über den Ursprung der Kometen würden sich leicht hier beifügen lassen. Ich ziehe aber vor, späterhin über die ganze Ent- wickelung und den ewigen Kreislauf unseres Sonnensystems eingehende Erörterungen zu pflegen und Prinzipien weiter auszuführen, welche in gegenwärtiger Arbeit nur leicht angedeutet sind, aus denen aber mit einigem Scharfblick bereits die fortwährenden Umgestaltungen abgeleitet werden können. Einige Fälle von schützender Ähnlichkeit aus der brasilianischen Provinz Rio Grande do Sul. Von Dr. Wilhelm Breitenbach. (Mit 3 Holzschnitten.) Während meines Aufenthaltes in der süd-brasilianischen Provinz Rio Grande do Sul sind mir ungesucht einige wie mir scheint bisher unbekannt gebliebene oder doch nicht beachtete Fälle von schützender Ähnlichkeit bei Insekten aufgefallen, mit denen ich die Leser dieser Zeitschrift im folgenden bekannt machen möchte. In Carus STERNE’S >Werden und Vergehen«, II. Aufl. pag. 605, findet sich die Abbildung einer »ein welkes Blatt nachahmenden Heuschrecke aus Brasilien<«. Das Tier gehört der Gattung Pterochroza an, die auch in Rio Grande do Sul vertreten ist. Von meinem Freunde Fr. Hrıssen, der vor einigen Jahren Direktor der Kolonie Neu-Petropolis war, erhielt ich gelegentlich zwei solcher Tiere. Dieselben waren, wie er mir mitteilte, an einem Figueira- Baum gefunden worden, und in der That waren die Flügel des Tieres sowohl in der Grösse wie in der Form und Farbe den Blättern des ge- nannten Baumes auffallend ähnlich, dazu kamen noch mancherlei braune kleine Flecken, welche unregelmässig auf den Vorderflügeln zerstreut waren und an Flechten oder Pilze erinnerten. Da die Flügel sowie der übrige Körper des Tieres, mit Ausnahme der Hinterflügel, schön saftiggrün gefärbt sind, so darf man wohl kaum sagen, das Tier ahme ein welkes Blatt nach. Das Insekt hält sich in dem Blätterwerk des Baumes auf und entgeht eben durch seine wirklich frappante Ähnlichkeit mit grünen Blättern den Nachstellungen seiner Feinde. Lebend habe ich die Tiere nicht gesehen. auch habe ich trotz vielfachen Bemühens nicht in den Besitz solcher gelangen können; ich möchte daraus schliessen, dass sie eben nicht sehr häufig sind oder durch ihre Blattähnlichkeit in vorzüglichster Weise ge- schützt werden. Sehr häufig hingegen ist eine andere blätternachahmende Heuschrecke, die der Gattung Phylloperta und speziell Phylloperta Tanceolata Burm. nahe steht, wenn sie nicht mit derselben identisch ist. Fig. 1 gibt eine Abbildung des Tieres in natürlicher Grösse. Die pergamentartigen, lebhaft grün gefärbten Vorderflügel erinnern in ihrer Form am meisten an die Blätter W. Breitenbach, Einige Fälle von schützender Ähnlichkeit ete. 205 der Weiden (Salix). Es fehlt nur der gezähnelte Rand derselben. Die dicken, glänzenden Vorderflügel sind 50 mm lang und werden von den etwas spitzer zulaufenden Hinterflügeln um 5 mm überragt. Dieses vor- stehende Stück der Hinterflügel ist wie die Vorderflügel pergamentartig und grün gefärbt, nur etwas weniger intensiv wie die letzteren. Der ganze übrige nicht sichtbare Teil der Hinterflügel ist fast ganz häutig und durchsichtig. Durch die Mitte der Vorderflügel läuft eine an der Basis dicke, nach der Flügelspitze, respektive dem unteren Flügelrande in der Nähe der Spitze zu sich verdünnende Hauptader, die schwach S-förmig gebogen ist und sehr prächtig die Mittelrippe eines Blattes wiedergibt. Von dieser Mittelrippe gehen nun Seitenzweige ab, auf der unteren Seite mehr und in regelmässigerer Anordnung als auf der oberen; diese obere Hälfte der Flügel hat ausserdem noch eine Ader mit wenigen Nebenästen, welche mit der Hauptader in keinem direkten Zusammenhang steht. Die ie. einander zugekehrten Basalteile der Vorderflügel sind fast rechtwinkelig umgebogen und bilden so übereinanderliegend einen nach hinten spitz zulaufenden Sattel oder Rücken. Durch diese Umbiegung wird bewirkt, dass die Flügel selbst nicht wagerecht liegen, sondern mehr vertikal zu beiden Seiten des Tieres ihren Platz finden. Es ist also eigentlich richtiger zu sagen, die ganzen Flügel mit Ausnahme des kleinen den Sattel bildenden Rückens haben sich so umgebogen, dass sie eine fast senkrechte Lage bekommen haben. Die oberen Ränder der Vorderflügel liegen in ihrer ganzen Ausdehnung dicht aneinander, so dass sie ein sehr spitzwinkeliges Dach bilden, welches, da der Regen in ganz vortrefflicher Weise ablaufen kann, den Hinterflügeln einen guten Schutz gewährt. Wie die Farbe der Flügel, so ist auch die aller anderen sichtbaren Teile ein lebhaftes Grün. Entsprechend der Weidenblatt-Ähnlichkeit habe ich die vorliegende Phylloperta zu sehr wiederholten Malen auf Weiden-Bäumen angetroffen, namentlich an der Strasse von Porto Alegre nach Navegantes und in der Nähe dieses kleinen Fleckens selbst. Das Tier ist in der Umgebung von Porto Alegre so häufig, dass ich an einem einzigen Nach- 206 W. Breitenbach, Einige Fälle von schützender Ähnlichkeit mittag während einer Exkursion mit meinen Schülern oft 20—30 ge- sammelt habe. Zur genaueren Charakteristik gebe ich noch einige weitere Merk- male. Das Pronotum ist oben, wo es die beiden den Sattel bildenden Basalstücke der Flügel in ihrem Endteil überdeckt, .halbkreisförmig nach hinten gebogen. Entsprechend dem Basalteil der Hauptader der Vorder- flügel sieht man eine tiefe Ausbuchtung des Pronotums nach vorn. Am zweiten Brustring ist ein grosses deutliches Stigma zu erkennen. Die Trommelfelle sind ziemlich gross, beiderseits symmetrisch und offen. An der Basis der Vorderbeine befindet sich vorn ein spitzer, einen Millimeter langer Dorn. Die Hinterschienen sind vierkantig und an allen vier Kanten mit nach vorn gerichteten Dornen versehen, von denen die der unteren Kanten stärker sind wie die der oberen. Ganz vorzügliche und merkwürdige Beispiele von schützender Ähnlich- keit liefert unter den Orthopteren bekanntlich die Gattung Proscopia. Die Angehörigen dieser Gattung ahmen in manchmal unübertrefflicher Weise trockene Stengel oder besser wohl noch von der Sonne verdorrte Grashalme nach. Von den mir in der unmittelbaren Umgebung von Porto Alegre bekannt gewordenen Proscopia kann ich deutlich drei Spezies und weniger klar noch mehrere Varietäten unterscheiden. Ich führe hier nur die drei Spezies an: 1) Grundfarbe braunrot; der Rücken ist in Form einer schwachen Leiste ein wenig erhoben und dunkler gefärbt. Die Unterseite des Körpers ist mehr grau als braun gefärbt. Länge des ganzen Tieres 65 mm, des Kopfes 13 mm, des Stirnfortsatzes 7 mm. 2) Grundfarbe hellgrau, mit gelblichgrünen Stellen untermischt. Im übrigen ist die ganze Oberfläche fein schwarz gesprenkelt. Körperlänge 35 mm, Kopflänge 9 mm, Stirnfortsatz 4,5 mm. 3) Grundfarbe dunkelgrau bis schwarz; zu beiden Seiten des Thorax zieht sich eine scharfe gelbe Linie hin. Körperlänge 45 mm, Kopflänge 10 mm, Stirnfortsatz 4 mm. Ich fand die Tiere in der Regel auf kleinen steinigen Hügeln, die mit spärlichem, niedrigem Gras bewachsen sind, besonders häufig auf den Hügeln unmittelbar bei Menino Deus bei Porto Alegre. Hier konnte ich mich überzeugen, wie ausgezeichnet die Form und Farbe dieser Tiere schützt. Ging ich ganz vorsichtig vor, sorgsam den niedrigen Graswuchs vor mir musternd, so konnte ich keines der Tiere erblicken. Nur dann und wann, wenn ich z. B. einen Grasbusch mit der Hand oder mit dem Fuss etwas unsanft berührte, blitzte es einen Augenblick vor meinen Augen auf. Es hat ziemlich lange gedauert, bis ich lernte diesem Blitz zu folgen, der eben nichts anderes war als eine kräftig und schnell weg- hüpfende Proscopia. Wenn ein solches Tier in einem etwas trockenen Grasbüschel sitzt, so dürfte es vollkommen geschützt sein. Während diese Proscopien, von denen sich eine Abbildung in Carus STERNE’sS »Werden und Vergehen«, Il. Aufl. pag. 606, vorfindet, entsprechend ihrem Aufenthalt und ihrer Farbe dünne Grashalme oder dünne Stengel kleiner Kräuter nachahmen und dadurch geschützt werden, halten sich An- gehörige der Gattung Phasma in grünem Grase oder Buschwerk auf und sind aus der brasilianischen Provinz Rio Grande do Sul. 207 wie dieses grün gefärbt. Unter dieser Abteilung der Orthopteren gibt es wie bei den Proscopien ungeflügelte Arten. Dieselben sind schmal, langgestreckt und etwas plattgedrückt, so dass sie Grasblättern am ähnlichsten sehen. Das Pronotum ist an beiden Seiten sehr regelmässig gezähnelt. Die Vorder- beine haben jene Scherenform, die den Mantiden eigentümlich ist. Da ist mir nun ein Exemplar eines Phasma (?) in die Hand gekommen, welches wegen seiner rudimentären Flügel Interesse haben dürfte; nach BurMmEISTER’s Entomologie habe ich das Tier nicht bestimmen können. Das Mittel- stück des Tieres gebe ich in Fig. 2 etwas vergrössert wieder, um die Flügelrudimente zu zeigen. Die Vorderflügel (al. a) sind schwach ziegel- rot gefärbt und zeigen noch deutlich die seitlich liegende Hauptader mit zahlreichen, nach Innen zu abgehenden Nebenadern, die in regel- mässigen Abständen von einan- der verlaufen. Die Hinterflügel, soweit sie unter den Vorder- flügeln hervorsehen, sind so hellgrün gefärbt und liegen dem Körper so dicht an, dass man sie bei oberflächlicher Betrach- tung kaum bemerkt; man über- zeugt sich aber leicht von dem Vorhandensein derselben, in- dem man sie mit einem feinen Messer oder einer Nadel etwas abhebt. Das Tier war 90 mm lang und hatte unter den Flü- geln eine Breite von 4 mm. Die Vorderflügel haben eine Länge von 5 mm, die Hinter- flügel ragen 5 mm über die- selben hinaus. In den Hinter- flügeln selbst sind keine Adern mehr zu erkennen. Die Beine Fig. 2. sind ungewöhnlich lang, so z. B. das Femur der Hinterbeine 25 mm. Dass die vorhandenen Flügel dem Tier nutzlos sind, ist selbstverständlichh Da ich nur dies eine Exemplar mit rudimentären Flügeln gefunden habe, gänzlich flügel- lose dagegen in grosser Anzahl, so bin ich zweifelhaft, ob wir es hier mit einer besonderen Spezies zu thun haben oder ob hier vielleicht nur ein merkwürdiger Fall von Rückschlag vorliegt. Ich habe mehreren Freunden in Rio Grande do Sul den Auftrag gegeben, auf solche Tiere zu fahnden; vielleicht lässt sich die Frage in einiger Zeit entscheiden. Angehörige der Gattung Oedipoda oder doch eines sehr nahe stehen- den Genus zeichnen sich vielfach dadurch aus, dass ihr Hautpanzer eine überaus höckerige Beschaffenheit besitzt und von einer schmutzigbraunen oder braunen Farbe ist. Wenn die Tiere still zwischen Erde oder kleinem Steingeröll sitzen, so ist es sehr schwierig, sie zu erkennen; nur wenn sie weghüpfen, sind sie bemerkbar. Von einigen Spezies sind mir auch 208 W. Breitenbach, Einige Fälle von schützender Ähnlichkeit ete. Jugendformen bekannt geworden; dieselben hatten zwar schon die höckerige Beschaffenheit ihres Chitinpanzers, waren aber grün gefärbt. Vielleicht lässt das darauf schliessen, dass die jetzt braun oder grau gefärbten Spezies früher grün waren oder auch haben wir es vielleicht mit einer sogenannten Larvenanpassung zu thun. Es wäre möglich, dass die jungen Tiere sich mehr zwischen grünem Grase aufhalten, die älteren mehr auf wenig bewachsenem Lande; leider finde ich hierüber in meinen Notizen keine weiteren Aufzeichnungen. Frırz Mütter berichtet (Kosmos, Band V, pag. 104) von einer Heuschrecke, welche Spinnen nachahme. Ich habe einen ebensolchen Fall zu verzeichnen. Unter einer Sammlung von Naturalien, welche ich meinem Freunde Aus. BECKER in Porto Alegre verdanke, der dieselbe aus dem Innern der Provinz, von der Serra, mitgebracht hatte, befanden sich zwei Tiere, welche ich für Spinnen hielt und welche von vielen Personen, denen ich sie zeigte, gleichfalls für Spinnen erklärt wurden. Bei näherem Zusehen entdeckte ich natürlich, dass unsere Tiere nur drei Paar Beine hatten. Mein Beispiel ist aber noch frappanter als das von Frırz MÜLLER; denn während das von diesem betrachtete Tier wegflog, hätten die meinigen dies beim besten Willen nicht ge- konnt, da sie keine ausgebildeten Flügel, sondern nur sehr unscheinbare Rudimente hatten. Die Farbe der Tiere war schwarz, die Beine sehr lang, ebenso die Fühler, die man, wenn sie sich mit ihrem vorderen Ende nach unten senkten, allenfalls für ein viertes Beinpaar halten konnte. Ein prachtvolles Beispiel von schützender Ähnlich- keit lieferte mir eine Schmetterlingspuppe, welche ich der Freundlichkeit eines Bekannten in Porto Alegre ver- danke und von der ich in Fig. 3 eine etwa ums dop- pelte vergrösserte Abbildung gebe. Die Puppe ist 50 mm lang und in der Mitte 7,5 mm dick; sowohl was Farbe als Gestalt anbelangt, gleicht sie namentlich in ihrem oberen Teil aufs täuschendste einem abgebrochenen dürren Zweigende. Die Grundfarbe ist ein mitteldunkles Grau bis Gelblich, ähnlich der Rinde von Pappeln und Weiden. Das Kopf- ende der Puppe ist unregelmässig gestaltet, ähnlich wie das Ende eines abgebrochenen trockenen Zweiges. Verschieden geformte Vertiefungen und Erhöhungen, dunklere und hellere Striche und Flecken von unregel- mässiger Gestalt machen die Täuschung noch vollkommener. Alle Einzel- heiten der Skulptur und Farbe, die Höcker, Vertiefungen, Flecken, Striche etc. finden sich an unserer Puppe vollkommen symmetrisch vor. Der Bekannte, dem ich dieses Prachtstück verdanke, sagte mir, es habe in einem Baume gesessen, derart, dass das stumpfe Ende hervorgeschaut habe, während das spitze Ende in dem Baum verborgen gewesen sei. In der That würden wohl die meisten Menschen an der Puppe, wenn sie sich in einer solchen Lage befände, vorbeigehen, ohne sie zu erkennen. Erkennung und Fixierung organischer Formen. Von Prof. Dr. G. von Koch (Darmstadt). Formen, im allgemeinsten Sinne des Wortes, bilden das wesentliche Material für die vergleichende Anatomie und den morphologischen Teil der Entwickelungsgeschichte, mag es sich dabei um ganze Organismen, ihre einzelnen Organe oder die letzten nur mit dem Mikroskop zu er- kennenden Teile (die Struktur) handeln. Damit diese Formen zur Ver- gleichung, welche allen Folgerungen und Schlüssen vorangehen muss, geschickt seien, erscheint es notwendig, sie dem Auge vollständig klar vorzuführen und eine Veränderung derselben während einer kürzeren oder längeren Zeit zu verhindern. Betrachten wir hinsichtlich der eben ausgesprochenen Forderungen die Objekte beider Disziplinen, so finden wir, dass nur verhältnismässig wenige denselben entsprechen: so vor allem viele ganze Organismen, so- weit es sich um ihre äussere Gestalt handelt, dann die Gehäuse der Konchylien und anderer Tiere. Bei allen übrigen wird es notwendig, durch geeignete Behandlung die interessierenden Gegenstände erst für die Ver- gleichung vorzubereiten, und dies kann bei relativ unveränderlichen Teilen einfach durch Freilegen derselben mittels des Messers oder anderer In- strumente geschehen, wie wir es ja allgemein bei Knochen oder anderen harten Teilen thun. Vielfach erweist sich aber diese Methode als un- zureichend, indem nämlich eine grosse Anzahl organischer Gebilde sich nach dem Freilegen bald verändert. Diese müssen dann durch besondere Präparation, so z. B. durch Einlegen in fäulniswidrige Flüssigkeiten, durch Injektionen etc. erhaltungsfähig gemacht werden oder man kann ihre Form fixieren, ohne ihre Substanz aufzubewahren. Letzteres ge- schieht durch Herstellung von Modellen, die womöglich direkt als Abgüsse angefertigt werden, oder häufiger durch Abbildungen, welche man mit Hilfe der Photographie, durch Zeichnen mittels des Prismas, des Diopter- pantographen oder anderer Apparate ausführt*. Diese Zeichnungen ver- treten dann beim Vergleichen die wirklichen Gegenstände. * Freihandzeichnungen genügen in der Regel nur für mehr schematische Darstellungen. Kosmos 1884, I. Bd. (VII. Jahrgang, Bd. XIV). 14 210 G. v. Koch, Erkennung und Fixierung organischer Formen. In vielen Fällen lässt uns aber auch diese Methode im Stiche, nämlich überall da, wo wir es mit Teilen zu thun haben, welche in anderen eingeschlossen sind und sich nicht ohne Schädigung frei legen lassen. Dazu gehören alle eine gewisse Grösse nicht überschreitenden Organe, dann viele weiche Gewebe, welche Höhlungen in harten Körpern auskleiden u. s. w., und ausserdem muss man auch die mikroskopische Struktur organischer Körper hier mit anführen. Die letztere bietet in der Regel noch die wenigsten Schwierigkeiten, indem es meist genügt, sehr dünne Scheiben des betreffenden Körpers anzufertigen, was ent- weder durch Schneiden (bei vielen weichen Organen, Leber etc.) oder Schleifen (bei Knochen) geschieht, und diese mittels des Mikroskops bei passender Vergrösserung zu betrachten und zu zeichnen. Zur Erleich- terung der Übersicht werden diese Scheibchen oder Schnitte häufig mit Farbelösungen behandelt, welche von den verschiedenen Elementarteilen in verschiedener Quantität aufgenommen werden, wodurch eine ver- schiedene Färbung derselben bedingt ist; ausserdem lassen sich dieselben durch stark lichtbrechende Mittel leicht aufhellen und bieten so günstige Objekte für das Mikroskop. Viele von ihnen haben auch die Eigenschaft, bei richtiger Behandlung (Aufbewahrung in Kanadabalsam oder anderen Harzlösungen zwischen zwei Glasplättchen) sich lange Zeit unverändert zu erhalten. — Solche einzelne Schnitte oder die Kombination mehrerer, die dann am besten in verschiedenen Ebenen geführt werden, genügen oft auch zur Aufklärung über die Form eines einfacheren Organs. Ist ein solches aber verwickelter gebaut, so kommt man am einfachsten, manchmal auch nur auf diese Weise, zum Ziel, indem man dasselbe in eine Reihe gleich dicker Schnitte zerlegt (es wird dazu eine Maschine, das Mikrotom angewendet), die gezeichnet werden. Mit Hilfe der Zeich- nungen lassen sich dann entweder Modelle durch Aufeinanderlegen von entsprechend ausgeschnittenen Scheiben darstellen oder man kann aus ihnen durch einfache geometrische Konstruktionen die gesuchte Form in beliebiger Darstellung (als Projektion oder perspektivische Ansicht etc.) gewinnen. — Sehr harte Körper, welche sich durch kein Mittel für Schnitte geeignet machen lassen, kann man in vielen Fällen auf folgende Art behandeln. Sie werden auf eine Unterlage fest aufgekittet und auf der freien Seite angeschliffen, dann die Schlifflläche bei auffallendem Licht gezeichnet, hierauf weiter abgeschliffen und dann wieder gezeichnet, bis man eine genügende Serie von Durchschnittszeichnungen besitzt, um wie vorhin verfahren zu können. Wissenschaftliche Rundschau. Ethnologie. Die quaternären Rassen Portugals. In den Kjoekkenmoedings bei Mugem, in der Nähe des Tajo, in Portugal wurden neuerdings Schädel und Knochen ausgegraben, die nach den Lagerungsverhältnissen und der Fauna zu urteilen der quaternären Epoche fast mit Sicherheit zugezählt werden können. Die erste Rasse war dolichokephal. Derselben gehört eine Anzahl Schädel an, die von bewunderungswert gleichartiger Bildung sind und so wenige oder nur se- xuelle Unterschiede darbieten, dass wir es hier sicherlich mit einer homoge- nen Rasse zu thun haben. Der Prognathismus der Schädel erinnert geradezu an afrikanische Rassen und die Kapazität der Schädel ist eine so geringe, dass sie nur mit derjenigen der Australier verglichen werden kann. An die afrikanischen Rassen erinnert ferner die Länge des Vorderarms, wie sie nur bei den Negern angetroffen wird. Es gibt ferner nur noch wenige Rassen von einer so kleinen Statur, wie es die Urbevölkerung Portugals gewesen ist. (Vergl. As Racas dos Kjoekkenmoedings de Mugem por FRAncısco DE Pauza e OrLıvera. Lisboa 1881.) Ich spreche daher die Vermutung aus, dass diese Urbevölkerung Portugals mit den Pygmäen Zentralafrikas, mit den sog. Akka oder Tiki-Tiki, verwandt war. Die Vermutung PEnkA’s, dass Europa die Heimat des Menschengeschlechts ist, hat in den Funden von Mugem eine neue Stütze gefunden (?? Red.). Über die brachykephale Rasse von Mugem kann dagegen nur wenig gesagt werden. Nur drei brachykephale Schädel sind dort gefunden worden. Nach den osteolo- gischen Merkmalen zu urteilen, gehörten diese Brachykephalen einer Rasse von höherer Statur an, als es die Dolichokephalen gewesen sind. Dr. FLIGIER. Zoo010qg1e. Die Entstehung der Korallenriffe schien durch Darwın’s geniale Theorie, wonach Barrieren oder Kanalriffe und Atolls nur verschiedenen Phasen einer lang andauernden säkularen Sen- kung, Küsten- oder Strandriffe dagegen einer ebensolchen Hebung des 212 Wissenschaftliche Rundschau. Meeresbodens entsprechen sollten, ihre abschliessende Erklärung gefunden zu haben. In der That befriedigte dieselbe nicht bloss alle Ansprüche von biolo- gischer Seite, indem sie einen einheitlichen Ausgangszustand für alle Riff- formen nachwies und die bis dahin völlig rätselhafte Erscheinung begreiflich machte, dass man bis in Tiefen von über hundert Faden hinab die Reste von Korallen verfolgen kann, die bestimmt nur in verhältnismässig seichtem Wasser (8 bis höchstens 20 Faden) sich anzusiedeln und zu gedeihen im stand sind — die Theorie empfahl sich namentlich auch der Geologie als eine der glänzendsten Beispiele dafür, wie die in verschiedenen Wissens- gebieten gewonnenen Verallgemeinerungen einander gegenseitig stützen und zu einer höheren umfassenderen Idee führen können. Es hat daher schon aus diesen Gründen und wohl noch mehr um der Pietät und Ver- ehrung willen, die dem Urheber dieser Theorie mit vollstem Rechte über- all gezollt wird, nicht an lebhaftem Widerspruch gefehlt, so oft bisher der Versuch gemacht wurde, die Unzulänglichkeit derselben nachzuweisen oder gar eine andere Erklärung an ihre Stelle zu setzen. In neuester Zeit sind aber so zahlreiche mit ihr direkt unvereinbare Thatsachen und so vielfache genauere Beobachtungen über die Lebensbedingungen und die Verbreitung der Riffkorallen bekannt geworden, dass eine gründliche Prüfung der Darwinschen Prämissen und eine Umgestaltung seiner Theorie unabweisbar erscheint. Wir folgen im nachstehenden hauptsächlich einer Zusammenstellung der einschlägigen Forschungsergebnisse, die Professor A. Geikıe kürzlich in der »Nature< (Vol. 29, Nr. 735 und 736) ge- geben hat, zum Teil aber auch der ausführlichen Diskussion dieser Frage in Prof.. C. Semrer’s ideenreichem Werke »Die natürlichen Existenz- bedingungen der Tiere« (Internat. wiss. Bibliothek, Bd. 39/40), Leipzig 1880, das dem erstgenannten Autor unbekannt geblieben zu sein scheint, da er wohl die ersten Publikationen Srmrer’s über diesen Gegenstand, nicht aber jene eingehendste und gründlichste Beleuchtung desselben aus den letzten Jahren citiert. Von den vor Darwın aufgetauchten Erklärungsversuchen hatte am meisten Anklang jener gefunden, welcher die ringförmigen Riffe im offenen Meere als auf den Rändern unterseeischer Krater senkrecht empor- gewachsene Korallenmauern ansah. Dagegen blieb merkwürdigerweise die schon früher von CmAamısso ausgesprochene, auf ganz richtige Be- obachtung gegründete und, wie Darwın selbst sagt, »bessere« Ansicht ziemlich unbeachtet, die Ringform beruhe einfach darauf, dass die am Rande eines von Korallen besiedelten Gebietes befindlichen massiveren Formen in der Brandung rascher wachsen könnten als die zentralen. Beide Versuche ignorierten aber die Kanal- und die Küstenriffe vollständig, ebenso auch die allerdings erst später ermittelte Thatsache, dass die echten Riffkorallen nur in sehr geringen Tiefen leben. Indem Darwın diese Lücken ergänzte und zugleich seine Theorie mit der geologischen Folgerung verknüpfte, dass weite Strecken der Erdoberfläche in säkularer Hebung und Senkung begriffen sein können, schien er alle Einwürfe be- seitigt und die interessante Frage definitiv erledigt zu haben, ja die Korallenriffe galten von nun an ihrerseits als die gewichtigsten Zeugen für das Vorkommen und den Verlauf solcher Hebungs- und Senkungs- Wissenschaftliche Rundschau. 213 erscheinungen. — Eine beinahe rückhaltlose Bestätigung erfuhr die Theorie sodann durch Daya, der als Teilnehmer an der Wilkesschen Expedition 1835—42 eine ausserordentlich grosse Anzahl von Koralleninseln zu untersuchen Gelegenheit hatte und Darwın’s Fundamentalsatz, dass sich Atolls und Kanalriffe nur während der Perioden der Senkung bilden können, uneingeschränkt annahm. Während aber nach Darwın Küsten- riffe nur in Perioden der Ruhe oder noch mehr der neuerlichen Hebung entstehen sollen — wie er denn auch durch seine Karte zu veranschau- lichen sucht, dass aktive Vulkane nur in solchen Regionen vorkommen, die nach dem Bau der in ihnen vorhandenen Riffe bloss Hebungsgebiete sein können — fordert Dan& als Bedingung für das Entstehen von Küsten- riffen sogar eine noch stärkere Senkung in jüngster Vergangenheit als für die übrigen Formen. Damit war nun freilich einer der Haupt- vorzüge von Darwın’s Ansicht in Zweifel gezogen, die Möglichkeit näm- lich, aus dem Charakter eines Riffs die Art der säkularen Bewegung des betreffenden Stückes der Erdrinde zu erschliessen, und in der That er- klärt denn auch Dawsa den ganzen Stillen Ozean für eine Region der Senkung, während Darwın z. B. die Salomons-, Neu-Hebriden-, Schiffer- und Sandwich-Inseln für Hebungsgebiete hält; nach Dana soll sich das westindische Meer gegenwärtig senken, während Darwın es in seiner ganzen Ausdehnung in der Hebung begriffen sein lässt. Trotz dieses keineswegs unwesentlichen Gegensatzes wurden Dana’s Forschungen, deren Ergebnisse er nachträglich in dem schönen Werke »On Corals and Coral- Islands«e 1872 einem grösseren Publikum zugänglich machte, doch im allgemeinen als Bestätiguug der längst feststehenden Auffassung gedeutet, die schon früh auch durch CourHouy 1844 auf Grund seiner Unter- suchungen in Westindien und im Stillen Ozean volle Anerkennung ge- funden hatte. Von späteren selbständigen Erklärungsversuchen verdienen bloss noch diejenigen von L. Acassız und C. SempEr besondere Erwähnung. Jener zeigte 1851, dass die Senkungstheorie wenigstens nicht für die von ihm untersuchten Riffe an der Küste von Florida genüge, vielmehr baue sich das Südende der Halbinsel selbst aus einer Reihe konzentrischer Kanal- riffe auf, die allmählich mit einander verbunden und verkittet worden seien, und derselbe heute noch stattfindende Vorgang müsse schliesslich auch die sogenannten Keys bis zu den Tortugas-Inseln in festes Land verwandeln. — Semper’s Anschauungen dagegen gingen von den Riffen der Philippinen und insbesondere des östlich davon gelegenen kleinen Palau-Archipels aus. Hier konstatierte er die wichtige Thatsache, dass auf einer Strecke von SO Seemeilen alle drei Arten von Riffen neben einander vorkommen, dass überdies auf der Ostseite des schmalen, fast genau in nord-südlicher Richtung ziehenden Hauptarchipels, wo der See- boden sehr sanft abfällt, das Riff ganz nahe an die Küste heranrückt und ein echtes Küstenriff darstellt, während es auf der Westseite trotz des steilen Abfalls des Bodens als breites und ansehnlich mächtiges Kanalriff mit stattlicher Lagune erscheint, und dass endlich nicht nur keine Spuren von Senkung, sondern im südlichen Teile des Archipels sogar sehr auffällige Anzeichen einer Hebung seit der letzten geologischen 214 Wissenschaftliche Rundschau. Epoche zu finden seien, welche die südlichsten Inseln, die wahrscheinlich echte Atolls waren, zu einer Höhe von 400—500 Fuss über dem Meeres- spiegel erhoben habe. — Auf die positive Erklärung Semrer’s, der übri- gens die Senkungstheorie für andere Gebiete gern gelten lassen will und nur ihre allgemeine Anwendbarkeit bestreitet, kommen wir weiter unten zurück und gedenken hier bloss noch 1) des berühmten, nach seinem Ent- decker benannten PourrAtzs-Plateaus im westindischen Meere, einer viele Meilen weiten lachen Erhebung des Meeresbodens, die, in etwa 150 Faden Tiefe liegend und aus Trümmern von Muscheln und Korallen, Sand und Schlamm nebst den Resten dort lebender Tiefseetiere gebildet, mit der Zeit so hoch sich heben muss, dass Riffkorallen darauf weiter bauen und endlich ein wahres Atoll bilden können, und zwar um so schneller, wenn gleichzeitig, wie es wahrscheinlich der Fall ist, eine säkulare Hebung des Meeresbodens stattfindet — und 2) der Bermuda-Inseln, deren Bau sich nach J. Rzın (1869) am einfachsten durch die Annahme erklären lässt, dass sie auf die eben angedeutete Weise von einer unterseeischen Bank durch die Thätigkeit der Korallen bis zum Meeresspiegel empor- gewachsen sind. Auch in dieser Frage hat jedoch erst die Challenger-Expedition hin- länglich umfassende Erfahrungen zu Tage gefördert, um die Basis für eine neue Ansicht legen zu können. Ein Bericht von Murray an die Roy. Society von Edinburg (1880) betont namentlich folgende Punkte: 1) Die ozeanischen Inseln sind fast sämtlich vulkanischen Ursprungs und es ist daher höchst wahrscheinlich, dass auch die zahlreichen submarinen Er- hebungen und Spitzen auf gleiche Weise entstanden sein werden. Jeden- falls stellen die vorhandenen Inseln nicht, wie Darwın’s Theorie es fordert, die letzten Reste eines ausgedehnten versunkenen Kontinents dar. Dass so viele vulkanische Aufschüttungen im offenen Meere gerade bis in das Niveau reichen, auf welchem riffbauende Korallen ihre Thätigkeit be- ginnen konnten, ist nicht schwer zu begreifen. Ragten sie ursprünglich über den Meeresspiegel hinaus, so werden sie sehr häufig, weil aus lockerem Material aufgebaut, durch die Brandung bis zur unteren Grenze der Wellenwirkung hinab zerstört und so in eine zur Ansiedelung von Korallen trefflich geeignete Plattform umgewandelt worden sein. Blieben sie aber ursprünglich mehr oder weniger tief unterhalb dieses Niveaus, in der Tiefseezone, so trat ein anderer, bisher immer noch weit unter- schätzter Faktor in Wirksamkeit, nämlich 2) die Ablagerung unorganischer Reste von pelagischen und Tiefseetieren. Nach den neueren Forschungen kann man sich gar keine Vorstellung von der Fülle des pelagischen Lebens in den tropischen Meeren machen. Murray berechnet, dass in der oberen Region (bis zu 100 Faden Tiefe) auf jede Quadrat- (See-) Meile über 16000 kg kohlensaurer Kalk in Form von Schalen frei schwimmender Tiere kommen, die denn also nach verhältnismässig kurzer Lebensdauer absterben und als feiner Regen in die Tiefe sinken, um hier zum Teil einer zweiten, ebenfalls sehr reichen und vielfach mit Kalk- schalen versehenen Fauna zur Nahrung zu dienen!. In sehr grosser Tiefe ' Vgl. hierzu auch Kosmos XII, 8. 143 u. 369. Wissenschaftliche Rundschau. 915 {unter ca. 2000 Faden) scheinen die herabsinkenden Kalkschalen aller- dings infolge des grösseren Gehaltes des Seewassers an Kohlensäure bald aufgelöst zu werden, oder sie gelangen gar nicht bis auf den Grund, weil ihnen schon während des langsamen Herabsinkens ein gleiches Schicksal widerfahren ist; in mittleren und geringeren Tiefen aber muss dadurch ‘eine Erhöhung des Bodens und vorzüglich der einzelnen in solche Höhen emporreichenden vulkanischen Kegel erfolgen, die allmählich einer immer reicheren und mannigfaltigeren Fauna von Schwämmen, Hydroiden, Tiefseekorallen, Aleyonarien, Anneliden, Bryozoen, Echinodermen, Mol- lusken u. s. w. geeignete Lebensbedingungen darbietet und ein immer rascheres Höhenwachstum der Kegel ermöglicht. Gelangen sie zuletzt in den Bereich der Riffkorallen, so nehmen hauptsächlich diese den vor- handenen Raum in Anspruch, ohne jedoch die übrigen Ansiedler jemals völlig zu verdrängen. Eine durch das Zusammenwirken der genannten Faktoren bis zum Wasserspiegel aufgeführte Erhebung muss, sie mag auf einem einzelnen Kegel, auf einer breiten vulkanischen Aufschüttung oder auf einem sub- marinen Bergrücken emporgewachsen sein, bald die Gestalt eines kleineren oder grösseren, rundlichen oder länglichen Atolls annehmen, denn wie schon CHAamısso und namentlich SEmrer betonten und auch Darwın für vereinzelte Fälle zugab, leben die zentralen Teile einer solchen Kolonie unter wesentlich ungünstigeren Verhältnissen als die peripherischen, jene werden absterben und nur einen Kranz von lebhaft gedeihenden und immer weiter sich ausdehnenden Korallen übrig lassen. Die Bildung der La- gune im Innern wird noch wesentlich gefördert durch die auch erst neuer- dings festgestellte lösende Einwirkung des gewöhnlichen Seewassers auf die toten Korallenstöcke; an ihre Stelle treten dann andere langsamer wachsende Gattungen, weichhäutige Anneliden, Hydroiden u. s. w., die mit spärlicherer Nahrung vorlieb nehmen und auch eine gelegentliche Überschüttung mit Schlamm und Sand ohne Schaden ertragen können. Auf solche Weise kann aber auch auf einer langgedehnten sub- marinen Bank eine ganze Reihe von den Rand derselben umsäumenden Atolls entstehen, die je nach der Beschaffenheit ihrer Unterlage mehr oder weniger unregelmässige Formen zeigen, stets jedoch an ihrer peri- pherischen Seite am kräftigsten entwickelt sein werden. In einem spä- teren Stadium werden diese deshalb die Neigung erkennen lassen, zu einem grossen Atoll zusammenzufliessen, in dessen Mitte aus den Resten ihrer zentralen Partien und durch Anhäufung von Sand eine flache Insel entstehen mag. So erklärt Murray insbesondere die Riffe der Malediven, Laccadiven, Carolinen und des Chagos-Archipels, welcher letztere gerade von Darwin als Beispiel eines dem Untergang anheimgefallenen Atolls hervor- gehoben wurde, dessen Senkung allzu rasch erfolgt sei, als dass die Korallen damit hätten Schritt halten können; in Wirklichkeit haben wir es aber hier wohl umgekehrt mit einem erst in der Ausbildung begriffenen Atoll zu thun. Allein auch die Erscheinungen der Kanalriffe lassen sich, wie Mur- RAY zeigt, bei näherem Zusehen ohne Zuhilfenahme hypothetischer Senk- ungen erklären. An dem Riff von Tahiti konstatiert er, dass in der Regel ganz übertriebene Vorstellungen hinsichtlich der Meerestiefe un- 216 Wissenschaftliche Rundschau. mittelbar ausserhalb solcher Riffe und in Zusammenhang damit hinsicht- lich der Mächtigkeit derselben vorherrschen. Der äussere Rand des Riffes stürzt allerdings steil ab, kann sogar etwas überhängen; am Fusse des- selben stösst man aber nicht auf den eigentlichen Meeresboden, sondern auf einen hoch aufgeschütteten Abhang von toten Korallenblöcken, welche durch die Brandung beständig vom oberen Rande losgerissen werden und mit der Zeit eine geeignete Unterlage für weiter seewärts vorgeschobene Korallenbauten darbieten. Jenseits dieses Abhangs senkt sich der Grund, mit Korallensand bedeckt, unter einem Winkel von höchstens 6°, so dass einer allmählichen Ausdehnung der Peripherie des Riffs nach Herstellung der erwähnten Unterlage nichts im Wege steht. Dazu kommt endlich noch, das hier wie anderwärts zahlreiche Beweise von neueren Hebungen des Bodens vorliegen, was ja auch mit der vulkanischen Natur desselben durchaus in Einklang steht, dagegen der Theorie von über ganze Ozeane hin sich erstreckenden Senkungsgebieten direkt widerspricht. MurrAY glaubt daher die letztere gänzlich verlassen und die Bildung der Korallen- inseln ausschliesslich auf die angedeuteten Einwirkungen zurückführen zu sollen. SEMPER ist, wie schon angedeutet wurde, insofern selbständig zu ganz ähnlichen Ergebnissen gekommen, als auch er die Senkungstheorie für zahlreiche und namentlich für die von ihm genau untersuchten Fälle bestreitet, die Bedeutung der Tiefseetiere als Vorläufer der Riffkorallen auf untermeerischen Erhebungen betont und die vermeintliche ausser- ordentlich grosse Mächtigkeit der meisten Korallenriffe in Abrede stellt; nach ihm sind es aber ausser der Konfiguration des Meeresgrundes vor allem auch die Stärke und die Richtung der vorherrschenden Meeres- strömungen,. welche die Gestalt und den Typus der Korallenbauten bedingen. Seine Darlegung geht von der scheinbar gar nicht hierher gehörigen Thatsache aus, dass die so häufig auf lebenden Korallen sich festsetzenden kleinen Krebse zwar von diesen gewöhnlich vollständig um- wachsen werden, sich aber doch einen oder zwei bald trichter-, bald spaltförmige Zugänge zu ihrer Höhle offen zu halten vermögen, indem der von ihnen erregte Atemwasserstrom die Polypenkelche zwingt, ihre regelmässige, senkrecht zur Oberfläche des Stockes orientierte Wachstums- richtung zu verlassen, sich mehr oder weniger schief zur Strömungs- richtung zu stellen und eine derselben im ganzen parallel verlaufende Mauer zu bilden. Die Wirksamkeit dieses Faktors erkannte SEMPER in grossem Massstabe deutlich an der Küste von Mindanao (Philippinen), wo eine konstante ziemlich starke Strömung durch einen schmalen Kanal gerade auf eine kleine Insel zufliesst, vor welcher er sich natürlich teilt, um hinter ihr wieder zusammenzufliessen: an den Küsten jenes Kanals bilden die von Astraeen, Poritiden, Madreporen u. s. w. aufgebauten Korallenriffe schmale, schroff abfallende Mauern, weil sie hier von der Strömung zu senkrecht aufsteigendem Wachstum gezwungen waren; in dem Dreieck vor und ebenso hinter der Insel dagegen, wo das Wasser verhältnismässig ruhig ist, wachsen dieselben Arten nach allen Richtungen hin, meist in isolierten Blöcken, selbst die ästigen Formen gehen un- verkennbar stark in die Breite; es senkt sich also auch das ganze Riff Wissenschaftliche Rundschau. >17 sehr allmählich gegen die Tiefe des Kanals hin, um jedoch zu beiden Seiten der Insel, an denen der Strom vorbeistreicht, abermals zur senk- rechten Mauer zu werden. Wesentlich übereinstimmende Beobachtungen machte SEmrer auch an anderen Stellen der Philippinen und ebenso auf den Palauinseln. Hier stösst der nordäquatoriale ostwestliche Strom des Stillen Ozeans im Verein mit den Flut- und Ebbeströmungen gerade gegen die östliche Breitseite der Inselgruppe, steigt auf dem hier langsam sich hebenden Boden des Meeres gegen die Küste an und verhindert das senk- rechte Emporwachsen der Riffkorallen, und dies ist die einfache Ursache dafür, dass das eigentliche Riff trotz des sanften Abfalls des Grundes doch ganz nahe an die Küste herangerückt ist und dass zwischen beiden keine Lagune entstehen konnte. Nachdem aber der Strom, in viele Arme geteilt, sich zwischen den Inseln hindurch ergossen, wenden sich diese auf der Westseite des Archipels z. T. nord- und südwärts, streichen tangierend an derselben entlang und bedingen dadurch ein steiles Empor- wachsen des Riffs, das sich als auf einer untermeerischen Bank mit schroffem westlichem Abfall aufgeführtes echtes Kanalviff darstellt, trotz- dem besonders an seinem südlichen Ende die sichersten Anzeichen einer Hebung zu finden sind. Die Entstehung der breiten Lagune und der von dieser zum Meere führenden, das Riff durchbrechenden Kanäle, welche 30—45, bei dem kleinen und offenbar jüngeren Atoll Kreiangel nur 6—10 Faden Tiefe haben, ist der lösenden und auswaschenden Ein- wirkung des Wassers auf die zentralen abgestorbenen Partien zuzu- schreiben, was am deutlichsten daraus erhellt, dass die Lagune nicht etwa, wie man sich gewöhnlich vorstellt, ein gleichmässig tiefes, flaches und ruhiges Becken ist, sondern viel eher ein System verästelter, von den Hauptabflusskanälen sich abzweigender und gegen die innere und äussere Peripherie der Lagune hin immer seichter werdender Rinnsale bildet, in denen fast beständig eine starke Strömung herrscht. Nach alledem kann es nicht länger zweifelhaft sein, dass in der That die Strömungsverhältnisse einen wesentlichen Anteil an der Gestaltung und dem Vorkommen der Riffe haben und dass je nach den Besonderheiten dieses Faktors auf ruhendem oder selbst in Hebung begriffenem Boden alle irgend denkbaren Formen von Riffen entstehen können. Die eingehendste und mit allen Hilfsmitteln der Gegenwart durch- geführte Untersuchung haben endlich die Ritfe an der Südspitze von Florida durch A. Acassız ! erfahren, der hier das Werk seines Vaters zum schönsten Abschluss brachte. Er stellte mit völliger Sicherheit fest, dass ein Teil von Florida in der späteren Eocänzeit in Form eines langen niedrigen Rückens aus dem Meere gehoben wurde, der sich aber nach Süden weit unter dem Meeresspiegel fortsetzte — ein Vorgang, der nebenbei bemerkt zugleich eine Verschiebung des Golfstroms nach Osten hin zur Folge haben musste. Auf diesem und den angrenzenden Gebieten des Meeresbodens entfaltete sich nun ein ungemein reiches Tierleben, von dessen ausserordentlicher Fülle erst die neuesten Dredgeungen eine Vorstellung gegeben haben. Nicht selten wurden grosse Blöcke eines ganz rezenten Kalksteins herauf- ı „On the Tortugas and Florida Reefs“ in: Trans. Amer. Acad. XI. 1583. 218 Wissenschaftliche Rundschau. gebracht, der sich ausschliesslich aus den Resten derselben Arten zusammensetzt, welche heute auf diesem Bezirke leben. Diese über viele tausend Quadratmeilen ausgedehnte Gesteinsbildung mag wohl mehrere hundert Fuss mächtig sein. Unzweifelhaft sind es die von Süd- osten ins Caribische Meer und den mexikanischen Golf eintretenden warmen äquatorialen Meeresströme, welche durch reichliche Zufuhr von pelagischer Nahrung ein solch üppiges Gedeihen der Tiefseefauna 'ermög- lichen, wie sie denn auch nur an einer Stelle der Erde, im Kuro-Siwo an der japanischen Küste ihresgleichen findet, während umgekehrt die Westküsten aller Kontinente eine auffallend spärliche Littoral- und Tiefen- fauna aufweisen, weil ihnen eben solche warme Wasserströme fehlen. Ganz besonders reichlich musste sich dies Leben natürlich auf den zahlreichen unterseeischen Erhebungen des westindischen Meeres entfalten, die zwischen Zentralamerika und Jamaica, an der Küste von Yukatan, Honduras u. s. w. bis hinüber nach Cuba sich erstrecken und wohl alle vulkanischen Ursprungs sind, wie die vielen Beweise neuerer Hebungen andeuten: auf Martinique steigen rezente vulkanische Gesteine bis 4000 Fuss empor, auf Guadeloupe und den Barbadoes finden sich zahlreiche Terrassen rezenter Kalksteine und auf Cuba liegen einige Korallenriffe nicht weniger als 1100 Fuss ü. M. Sobald nun, durch Hebung allein oder zugleich durch Anhäufung tierischer Reste, die für Riffkorallen geeignete Tiefenzone erreicht ist (welche übrigens, wie Acassız nachweist, in diesen Meeren wenigstens nicht unter 7 bis höchstens 10 Faden hinabgeht), beginnt die Reihe jener Riffbildungen in den verschiedensten Graden der Ent- wickelung aufzutreten, wie sie namentlich an der Südspitze von Florida genau sich verfolgen liessen. Hier zieht eine lange vielfach unterbrochene Linie von Inselchen, Sandbänken und schmalen Landstreifen erst parallel der Küste südwärts, dann allmählich immer stärker umbiegend westwärts, um mit der Riffgruppe der Tortugas zu endigen. Diese eigentümliche Krümmung ist hauptsächlich dem Einfluss einer starken, 10—20 Meilen breiten Gegenströmung zuzuschreiben, welche zwischen der Küste und dem linken Rande des Golfstroms nach Westen zieht und eine Menge organischer Reste mit sich führt, die er in seinem Verlaufe immer weiter westwärts ablagert, während weiter östlich ein Riff ums andere empor- wächst und sich zuletzt dem festen Lande unmittelbar anschliesst. Auf die Beschreibung der einzelnen Etappen dieses beständig weitergreifenden Vorgangs können wir hier nicht eingehen; es sei bloss noch folgendes hervorgehoben. Brandung und Sturmfluten richten gewaltige Verheerungen unter den Riffen an: oft färbt sich die See sechs bis zehn Meilen weit von den zermalmten Kalkteilchen weisslich. Abgebrochene Knollen und Äste von Korallen, tote Korallinenalgen, Muschel- und Schneckenschalen, Serpularöhren, Gorgonidengerüste und andere Reste werden dann in Form von niedrigen Dämmen längs der Riffe aufgeworfen und bald im Innern derselben als bewegliche Dünen zusammengehäuft, oder sie bilden sub- marine Bänke, welche durch teilweise Auflösung zu festen Massen mit steilem Abfall bis zu 33° zusammenbacken und so die Anlage neuer Riffe begünstigen. Fassen wir alle diese und die oben erwähnten Resultate zusammen, Wissenschaftliche Rundschau. 219 so erhalten wir eine schon sehr zuverlässige Grundlage, um die Ent- stehung und Verbreitung der Korallenriffe erklären zu können. Jeden- falls können Kanalriffe und Atolls auch ohne Senkung des Bodens, ja sogar bei Hebung desselben ebensogut sich entwickeln wie Küstenriffe, und ihre spezielle Form und Anordnung scheint von so zahlreichen Ein- flüssen abzuhängen, dass gewiss SEmper’s Forderung, es müsse jeder ein- zelne Fall besonders geprüft werden, vollberechtigt erscheint. Vom Stand- punkt der Senkungstheorie könnte man nun zwar noch auf manche Schwierig- keiten hinweisen, die scheinbar nur durch sie befriedigend erklärt werden; von allgemeinerer Bedeutung sind jedoch bloss die folgenden drei Punkte: 1) Nur die Annahme, dass bei langsamer Versenkung eines Kontinents eine Erhöhung, eine Bergspitze um die andere bis ins Niveau des Meeres gelangt und von da an durch die Korallen auf gleicher relativer Höhe erhalten wird, scheint die Existenz so zahlreicher Koralleninseln begreiflich zu machen. Allein wenn wir auch diese Ursache für einen gewissen Bruchteil der Fälle anerkennen, so haben wir zur Erklärung des Restes nicht weniger als drei andere Thatsachen zur Verfügung, welche ver- einzelt oder kombiniert jenes Endresultat herbeigeführt haben können: allgemeine Hebung, insbesondere aber einerseits Reduzierung vulkanisch aufgeschütteter Inseln durch die Atmosphärilien bis aufs Meeresniveau, anderseits Erhöhung submariner Bänke und Spitzen durch organische Reste, was beides schliesslich einen zur Ansiedelung von Riffkorallen ge- eigneten Boden schafft. — 2) Die »unergründliche« Tiefe, in welche der Aussenrand von Kanalriffen und Atolls abstürzen oder aus welcher die Riffmauer fast senkrecht aufsteigen soll, ist freilich nur denkbar, wenn die Basis der Mauer sich einst dicht unter dem Meeresspiegel befand. Allein wo sind die Beweise für jene Tiefe und für den Aufbau dieser ganzen Riffmasse aus an Ort und Stelle gewachsenen Korallen? Wie übertrieben die Vorstellungen über den ersten Punkt zumeist sind, haben wir bereits gesehen. Bezeichnend ist auch, dass das Riff der Gambier- Inseln z. B. von Darwın auf 2000, von Dasa dagegen das eine Mal auf 1750, das andere Mal auf 1150 Fuss Mächtigkeit berechnet wird — stets aber unter der gewiss irrigen Voraussetzung, dass die Neigung der Ober- fläche an der Küste sich auch unter dem Meere beliebig weit in gleicher Stärke fortsetze. Noch weniger aber ist in irgend einem Falle der zweite Beweis erbracht worden, während anderseits die Beobachtungen von Acassız und MurrAy es höchst wahrscheinlich machen, dass ein Riff durch beständige Abbröckelung am Aussenrande und Verkittung der Trümmer mit den Resten anderer Seetiere sich eine beliebig weit hinaus und in die Tiefe reichende Basis zur fortwährenden Vergrösserung seines Umfangs zu schaffen vermag. — 3) Die grosse Tiefe mancher Lagunen von Atolls (bis zu 40 Faden) und vieler Lagunenkanäle endlich würde nur unter An- nahme einer Senkung erklärlich sein, wenn uns nicht die lösende und auswaschende Kraft des strömenden Wassers bekannt wäre, wofür oben schon SEmrER’s Beobachtungen angeführt wurden. Erweisen sich diese Einwände somit den neueren Erfahrungen gegen- über nicht mehr als stichhaltig, so werden wir anderseits durch Verlassen der Senkungstheorie von zwei bedenklichen Unzuträglichkeiten befreit, deren 220 Wissenschaftliche Rundschau. Gewicht man eigentlich schon längst gefühlt hatte, ohne es richtig an- erkennen zu wollen. Wenn die Koralleninseln des Stillen und Indischen Ozeans die letzten Reste versunkener Kontinente sind, warum findet man auf ihnen nirgends die für die kristallinischen Gesteine anderer Festlands- massen so charakteristischen Mineralien? Sie bestehen thatsächlich nur aus vulkanischem Material oder dann aus Korallenkalk. Und zweitens: der unmittelbaren Beweise für Senkungen im Gebiet der Kanalriffe und Atolls sind es so wenige und so lokale und diese lassen sich so ungezwungen auf andere zufällige Ursachen zurückführen (Einsturz von im Korallen- kalk ausgewaschenen Höhlen, Zusammensinken des Schuttwalles, auf dem der äussere Teil des Riffes steht, u. s. w.), dass die Senkungstheorie in der That schon deswegen recht schwach begründet erscheint, während anderseits in direktem Widerspruch mit ihr aus allen Teilen der Korallen- meere eine Menge von Thatsachen bestimmt für neuere Hebungen von sehr verschiedenem Grade und Umfang zeugen — Thatsachen, die teil- weise schon Dana zusammengestellt hat. So dürfen wir denn wohl nicht länger zögern, das schöne ein- heitliche Gebäude von Darwın’s Senkungstheorie zu verlassen und die hiffe als das Ergebnis einer grossen Zahl verschiedener Faktoren auf- zufassen, deren Produkt im einzelnen ebenso mannigfaltig sein kann wie die Art ihres zufälligen Zusammenwirkens. Am fühlbarsten dürfte die dadurch entstehende Lücke in der Geologie werden, welche sich genötigt sehen wird, ihre Beweise für weit ausgedehnte säkulare Hebungen und Senkungen einer gründlichen Revision zu unterziehen; aber auch der Biologie erwächst daraus die Verpflichtung, mit neuen, jedes Detail berück- sichtigenden Studien in die Lebenserscheinungen jener zierlichen Bau- meister des Meeres einzudringen und dieselben als Glieder der grossen Biocoenose, in welcher sie ihre Existenzbedingungen finden, begreifen zu lernen. Die Verwandtschaftsbeziehungen der Malakostraken. Die unter diesem Namen zusammengefassten höheren Krebse bilden unzweifelhaft, trotz der grossen äusserlichen Verschiedenheit ihrer Ver- treter (Flohkrebs, Assel, Mysis, Flusskrebs, Krabbe ete.), doch eine aus gemeinsamer Wurzel entsprungene Gruppe, was schon die eine Thatsache beweist, das bei ihnen allen, im Gegensatz zu der wechselnden Segment- zahl der niederen Krebse oder Entomostraken, stets 5 Segmente (mit Antennen und eigentlichen Mundgliedmassen) auf den Kopf, 8 auf den Thorax und 7 auf das Abdomen kommen. Innerhalb der Gruppe selbst stellt man gewöhnlich Arthrostraken und Thorakostraken einander gegenüber, neuerdings wird jedoch (von Craus) beiden noch die Ab- teilung Leptostraka mit dem einzigen Repräsentanten Nebalia (und Parane- balia) vorangestellt, als Übergangsglied von den Phyllopoden her, mit denen diese Gattung bisher vereinigt worden war. Zu einer wesentlich andern Einteilung ist J. E. V. Boas auf Grund einer genaueren Prüfung der anatomischen Verhältnisse insbesondere der Gliedmassen gekommen Wissenschaftliche Rundschau. 221 (Morphol. Jahrb. VIII, 1885). Zunächst erklärt er die ersten oder inneren Antennen (die Antennulae) für nicht zur Reihe der eigentlichen Glied- massen gehörige Gebilde, vielmehr für echte Sinnesorgane ähnlich wie die Stielaugen, die man ja früher auch den Gliedmassen zugezählt hat. Ihre beiden Äste oder Geisseln entsprechen nicht etwa den Ästen des typischen Krustaceenspaltfusses (dem Exo- und Endopodit), denn der äussere Ast entspringt hier stets vom zweiten, bei der ersten Antenne dagegen vom dritten Gliede, ausserdem fehlt das Äquivalent des inneren Astes noch beim Nauplius und allen Entomostraken, dieser stellt also eine neue Erwerbung der Malakostraken dar, während der äussere Ast mit seinen Riechborsten die Fortsetzung des primitiven Anhangs bildet. Nebalia hält BoAs für näher mit den Phyllopoden als mit den Malakostraken verwandt, worauf auch in der That die Form ihrer Thorakal- füsse, die gesonderten Brustringe und die Schwanzgabel hinweisen ; dass sie aber dabei eine eigenartige Richtung eingeschlagen hat und also keine reine Ahnenform ist, verrät schon der Umstand, dass sie das Ei nicht als Nauplius, sondern in einem dem fertigen Tiere bis auf die noch rudimentäre Schale sehr ähnlichen Zustand verlässt. — Unter den Thorako- straken selbst pflegt man gegenwärtig zumeist die niederen und jeweils nur durch wenige Formen repräsentierten Ordnungen der Cumaceen, Squilliden und Schizopoden von der höheren und reich gegliederten Gruppe der Dekapoden zu unterscheiden, ja CLaus vereinigt die beiden letztgenannten Abteilungen als Unterordnungen zu einer gemeinsamen Ordnung der Podophthalmen. Dem gegenüber betont Boas vor allem, dass die Schizopoden keine natürliche Einheit darstellen. Die eine Ab- teilung derselben, die Euphausiiden, umfasst sehr primitive Formen: alle Thorakalfüsse sind noch gleichartig gebildet; 7 Segmente des Thorax bleiben frei; der Embryo verlässt das Ei als Nauplius, der sodann eine sehr vollständige Metamorphose mit Protozoaea-, Zoaea- und noch an- deren Stadien durchläuft; die Spermatozoiden sind einfache Zellen ohne Geisselanhang. Daneben haben sie aber doch auch einige sekundäre Anpassungscharaktere erworben, so die Kleinheit des Rückenpanzers, die mehr oder weniger vollständige Rückbildung des 8. (bei Euphausia auch des 7.) Thorakalfusses u. s. w. — Die andere Abteilung der Schizo- poden dagegen, die Mysideen, repräsentiert einen weiteren Fortschritt, der entschieden zu den Arthrostraken hinüberleitet: von den Brustglied- massen sind die erste oder die beiden ersten zu Kieferfüssen umgestaltet; die vorderen Brustsegmente verwachsen mit dem Rückenschild, das jedoch verhältnismässig klein bleibt; von den kurzen Basalgliedern der Brustbeine wachsen beim Weibchen breite Brutplatten nach innen, welche wie bei den Isopoden die junge Brut während ihrer ganzen Entwickelung beschützen; letztere ist dementsprechend sehr verkürzt, der Embryo be- sitzt beim Verlassen des Eies ausser den Naupliusanhängen bereits einen langen Schwanz, und endlich haben die Spermatozoiden fadenförmige An- hänge, was beides auch den Isopoden zukommt. Diese lassen sich denn in der That ganz leicht von einem Mwysis- artigen Vorfahren ableiten, an welchem sich allmählich der Rückenschild, die Augenstiele, der innere Ast der Antennulae, die Antennenschuppe, die 222 Wissenschaftliche Rundschau. äusseren Äste der Brustgliedmassen und die Schwanzregion mehr oder weniger rückgebildet haben. Dass Sitzaugen und Mangel eines Rücken- schildes primitive Charaktere sein sollen, wie man gewöhnlich annimmt und auf Grund dessen man die Arthrostraken als ursprünglichere Gruppe den Malakostraken voranzustellen pflegt, widerlegt sich durch einen Blick auf so viele Phyllopoden mit gestielten Augen und einem mächtigen hückenschild, den ja auch die paläontologisch ältesten Formen zumeist ausgebildet zeigen. Zur direkten Ableitung der Arthrostraken von phyllo- podenartigen Vorfahren fehlt überdies jeder Anhalt, während die Annahme von Boas, dass Euphausiiden und Mysideen die Übergangsglieder vertreten, sehr plausibel erscheint. Vielleicht dürften auch die merkwürdigen Scherenasseln (Tanaidae), die man früher gern als »stieläugige Edrioph- thalmen« charakterisierte, als vorletztes Glied in diese Übergangsreihe gehören. Die Amphipoden würden hiernach eine noch stärker abweichende Gruppe darstellen, welche denn auch mehrfache Rückbildungen an ein- zelnen Gliedmassen aufweist. Was die oben erwähnten Gumaceen betrifft, so hält Boas auch sie für einen Seitenzweig der Isopodenvorfahren. Allerdings besitzen sie gleichfalls sessile Augen, die sogar zu einem unpaaren Organ verschmelzen, das Weibchen ist mit Brutplatten ausgestattet, der Rückenschild ist klein und lässt 5 (resp. 4) Brustsegmente frei, die Entwickelung stimmt wesentlich mit derjenigen der Isopoden überein; doch zeigen sie auch gewisse Besonderheiten, die zum Teil noch primitiver sind als die ent- sprechenden Verhältnisse der Mysideen. — Die Dekapoden sodann lassen sich trotz ihrer äusserlichen Ähnlichkeit mit Mysideen doch nur mit den viel ursprünglicheren Euphausiiden in nähere Beziehung bringen. Besonders wichtig als verknüpfende Form ist Penaeus, bei welchem, wie uns Frrrz MÜLLER gelehrt hat, die freie Nauplius- und die Protozoaea- form noch sich erhalten haben, ebenso die einfache zellige Gestalt der Spermatozoiden und der Besitz von sogenannten Epipoditen an den Thorakalfüssen. Mit den Euphausiiden haben sie ferner die Verwendung des ersten Abdominalfusspaares beim Männchen zum Begattungsorgan und die Befruchtung durch Spermatophoren gemein. Dagegen haben sie allerdings noch sehr wichtige selbständige Neuerwerbungen gemacht: so die Umbildung der drei ersten Brustgliedmassen zu Kieferfüssen, die Ver- wachsung sämtlicher Brustsegmente mit dem Rückenschilde, die Ent- wickelung mächtiger büschelförmiger Kiemen als Auswüchse der Thorax- wand u. Ss. w. Fast am isoliertesten stehen endlich die Squilliden (Stomatopoden) da. Ihr Rückenschild ist kurz, die Brustsegmente bleiben mit Ausnahme des ersten sämtlich frei, die drei letzten Brustgliedmassen sind noch einfache spaltästige Ruderfüsse, die breiten Schwimmfüsse des Abdomens tragen aussen wohlentwickelte Kiemenbüschel, das Herz ist langgestreckt und vielkammerig wie bei Phyllopoden und XNebalia, während es bei allen andern Malakostraken nur drei Ostienpaare besitzt; die Larvenentwickelung überspringt wie es scheint das Naupliusstadium und beginnt gleich mit der sog. Erichthusform, welche von der Zoaea der Dekapoden be- deutend abweicht; die Larve ist mit der für die niederen Krebse charak- Wissenschaftliche Rundschau. 223 teristischen Schalendrüse ausgerüstet, die sonst nur noch bei Sergestes vorkommt. Wenn sich die Squilliden durch alle diese Eigentümlichkeiten als einen sehr alten Zweig des Malakostrakenstammes kennzeichnen, so dokumentieren sie anderseits durch die hohe Differenzierung ihrer fünf vorderen Brustgliedmassen eine Selbständigkeit, welche sie weit von der einfachen Vorfahrenlinie entfernt. Das Gesamtresultat seiner vergleichenden Betrachtung veranschau- licht uns der Verfasser zum Schluss in folgendem Stammbaum der Malako- straken. Amphipoden Isopoden Cumaccen Mysideen Lophogastriden Dekapoden Squilliden Euphausiiden Phyllopoden Wir fügen dem bloss noch die Bemerkung bei, dass diese Gruppierung, abgesehen von der allerdings sehr wichtigen Auflösung der Schizopoden, ziemlich genau zusammenfällt mit derjenigen, zu welcher schon BALFoUR (in der Vergleichenden Embryologie, I. Band, S. 434) auf Grund ent- wickelungsgeschichtlicher Erwägungen gelangt ist, freilich ohne dieselbe eingehender zu motivieren. 2924 Wissenschaftliche Rundschau. Geologie Die Eiszeit in den deutschen Alpen, nach A. Penck. (Schluss. 1. Ältere Vergletscherungen von Oberbayern und Nordtirol. Überblickt man sämtliche Spuren des Glazialphänomens in unserm Gebiet, so erkennt man, dass nicht alle sich auf die oben geschilderte letzte Vergletscherung zurückführen lassen. Nördlich von Innsbruck findet sich eine alte Breccie, die Höttinger Breccie, das verfestigte Material eines alten Schuttkegels. Diese Breccie bildet, wie Penck entdeckte, das Hangende typischer Moränen. Sie selbst führt vielfach Urgebirgsgesteine und es gelang sogar 1383 auf einer Exkursion, an welcher sich Referent beteiligte, einen grossen deut- lich geschrammten Kalkblock in derselben zu entdecken. Nur spärliche und undeutliche Pflanzenreste finden sich in derselben, so dass ihr Alter sich nicht mit Sicherheit bestimmen lässt. Im Höttinger Graben sieht man, dass diese Breccie von dem unverfestigten Schutt eines Wildbachs überlagert wird, welcher gleichfalls reichlich Urgebirgsgeschiebe führt, viel reichlicher, als sie sich in der Breccie nachweisen lassen. Dieser Schutt seinerseits wird wieder von Grundmoränen überlagert. Fasst man diese Verhältnisse ins Auge und bedenkt man, dass das Auftreten von Urgebirgsgeschieben am Nordgehänge des Innthals nur durch Gletscher zu erklären ist, die das Innthal erfüllten, so ergibt sich folgende Ge- schichte der Gegend von Innsbruck: 1) Erste Vergletscherung, welche bei ihrem Rückzuge die Moränen hinterlässt, die heute das Liegende der Breccie bilden. 2) Bildung eines grossen Schuttkegels; die Gehänge des Innthals sind mit Pflanzen bewachsen, deren Reste sich in der Breccie finden ; Verfestigung des Schutts zur Höttinger Breccie; Erosion derselben. 3) Vermutliche neue Verbreitung von Gesteinen der Zentralalpen über die nördlichen Kalkalpen, vielleicht durch eine zweite Vergletscherung. 4) Anhäufung von dem Schutte eines Wildbaches über der Breccie, in welchem sich die Urgebirgsgeschiebe der gemutmassten zweiten Ver- gletscherung finden. Vertiefung des Innthals bis zu seiner heutigen Tiefe. 5) Herannahen der letzten Vergletscherung. Anhäufung der untern Glazialschotter; Ablagerung von Moränen auf der Höhe und an den Ge- hängen der Terrasse, Rückzug der Vergletscherung. 6) Erosion des Innthals; Bildung der Schluchten in der Terrasse; Ablagerung von Schuttkegeln auf derselben. Dieser Gang der Ereignisse lehrt, dass die drei verschiedenen Ver- gletscherungen der Gegend von Innsbruck, von denen zwei durch PEnck nachgewiesen, die dritte wahrscheinlich gemacht worden ist, durch Zeit- abschnitte nicht geringer Dauer von einander getrennt sind. Es ist daher kaum anzunehmen, dass sie durch Oszillationen einer und derselben Eiszeit erzeugt wurden. Wissenschaftliche Rundschau. 225 Nun finden sich in den Kalkalpen noch mehrere ganz ähnliche Breccien, welche nachweislich in bezug auf die letzte Vergletscherung präglazial sind und teilweise, wie z. B. eine Breccie im Isarthal, zugleich Urgebirgsgeschiebe führen. Prxck hält es daher für sehr wahrscheinlich, dass sie als gleichartige Bildungen auch gleichaltrig mit der Höttinger Breceie, d. h. interglazial sind. Es gelang Pzxck, auch für die zweifache Vergletscherung des Iller- thals einen unanfechtbaren stratigraphischen Beweis in einem Lager dilu- vialer Kohlen zu entdecken, welches sich in einer mächtigen Schicht alpinen Gerölls eingebettet findet, die ihrerseits von Grundmoränen über- vagert und unterteuft wird. Die Annahme blosser Öszillationen einer und derselben Vergletscher- ung erklärt, wie PEnck ausführt, diese Verhältnisse nur gezwungen, da sie sowohl Voraussetzungen als auch Ergebnisse kompliziert. Alle Schwie- vigkeiten fallen mit der Annahme von mindestens zwei scharf getrennten allgemeinen Vergletscherungen. Dasselbe Resultat, zu welchem Hrer durch paläontologische Gründe geführt wurde, gewann Punck aus strati- graphischen Verhältnissen. Nicht allein im Gebirge, auch auf der Hochebene finden sich Spuren von älteren Vergletscherungen. Es werden an vielen Stellen die unteren Glazialschotter von einer festverkitteten Nagelfluh unterteuft, welche von denselben durch eine Schicht Verwitterungslehm bald mehr bald weniger deutlich geschieden ist. Ihre Südgrenze verläuft analog der oben gezogenen Nordgrenze der Moränenzone und bildet wie diese der Mündung eines Thales in die Hochebene gegenüber bald mehr bald weniger tiefe Ausbuchtungen nach Norden. Diese Nagelfluh besitzt ganz den Charakter der unteren Glazialschotter: wie diese ist sie eine rein fluviatile Ablagerung; sie führt nicht nur an Stellen, wo sich ein solches Vorkommen nur durch Gletscher erklären lässt, Urgebirgsgesteine, son- dern auch an ihrer Südgrenze gekritzte Geschiebe; ihre Mächtigkeit nimmt wie die der unteren Glazialschotter von Süden nach Norden fort- während ab. Kurz alles weist darauf hin, dass ihre Bildung unter den- selben Verhältnissen vor sich ging wie die der unteren Glazialschotter, dass sie also glazialen Ursprungs ist. Derselben Vergletscherung können aber beide Schottersysteme ihre Entstehung nicht verdanken, denn die Nagel- fluh war nicht allein, wie Gletscherschliffe auf derselben beweisen, schon verfestigt, als die unteren Glazialschotter abgelagert wurden, sondern bereits wieder stark erodiert und oberflächlich verwittert. Ein langer Zeitraum, eine Interglazialzeit muss demnach die Bildung beider getrennt haben. Damit ist die Reihe der Schottersysteme auf der bayerischen Hochebene noch nicht erschöpft: noch ein drittes System glaubt Prxck in Schwaben zwischen Nagelfluh und den unteren Glazialschottern nach- weisen zu können, von gleicher Zusammensetzung wie jene, nicht ver- festigt und von der Nagelfluh und den unteren Glazialschottern durch Erosionserscheinungen und je eine Schicht Verwitterungslehm getrennt. Die Nordgrenze der Moränenlandschaft, deren Verlauf wir oben kurz beschrieben, ist nicht die Nordgrenze aller Moränenvorkommnisse. Es finden sich noch nördlich von derselben Moränen, deren Grenze nach Kosmos 1884, I. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XIV). 15 226 Wissenschaftliche Rundschau. Norden wieder dieselben Ausstülpungen zeigt wie die der südlicheren Moränen. Prnxck nennt jene Moränenzone die äussere. Während die innere Moränenzone uns die typische Moränenlandschaft darstellt, macht die äussere Moränenzone einen sehr verwaschenen, alten Eindruck * die Gliederung in Wälle fehlt hier bereits; die Erosion hat die Moränen stark zerfetzt; Löss lagert vielfach auf ihnen; die in dieselben einge- schnittenen Thäler sind mit unteren Glazialschottern angefüllt, die mehr- fach sich direkt unter die Moränen der inneren Zone fortsetzen. Mithin sind die Moränen der äusseren Zone älter als die unteren Glazial- schotter, also auch älter als die letzte Vergletscherung. Auf der andern Seite sind sie aber auch weit jünger als die diluviale Nagelfluh, da sie in Thälern derselben eingelagert sind und Bruchstücke derselben führen. Mithin müssen sie der zweiten Vergletscherung zugezählt werden, deren Schotter Prnck (vergl. oben) in Schwaben fand. Im Gebirge wie in der Ebene finden sich also Spuren mehrerer Vergletscherungen. Wenn es auch schwer halten würde, nachzuweisen, dass die Spuren der drei in der Ebene nachgewiesenen Vergletscherungen auch den Spuren der drei im Gebirge erkannten Vergletscherungen ent- sprechen, da sich die Schottersysteme nicht ununterbrochen in die Alpen- thäler hinein verfolgen lassen, sondern am Ausgang derselben gänzlich fehlen, so glaubt Prxck doch berechtigt zu sein, eher eine gleichzeitige Entstehung der entsprechenden Bildungen anzunehmen als das Gegenteil. Nach ihm ergibt sich folgende Chronologie der Glazialzeit für Ober- bayern und Nordtirol: 1) Erste Vergletscherung; Ablagerung der Moränen im Liegenden der Höttinger Breecie bei Innsbruck und der Kohlen im Illerthal; Ver- breitung ausgedehnter Glazialschotter über die Ebene. 2) Erste Interglazialzeit; Verfestigung der Glazialschotter zu der diluvialen Nagelfluh; tief einschneidende Erosion derselben; Bildung von Schuttkegeln in den Alpen und Verfestigung derselben zu Breccien. 3) Zweite Vergletscherung; Ablagerung des mittleren Schottersystems auf der Hochebene und der Moränen der äusseren Zone. 4) Zweite Interglazialzeit; Erosion der Moränen der äusseren Zone; Entstehung des Löss auf denselben; Bildung des Wildbachschuttes bei Höttingen, in welchem sich die Urgebirgsgeschiebe der zweiten Ver- gletscherung finden. 5) Dritte und letzte Vergletscherung, welche an Grösse der vorher- gehenden bedeutend nachsteht, wie der Verlauf der Nordgrenze der von beiden abgelagerten Moränenzonen zeigt. Bei ihrem Eintritt Aufschütt- ung der unteren Glazialschotter, Erfüllung des Innthals mit denselben; Entstehung der Moränen der inneren Zone sowie der Moränen im Han- genden der Innterrassen; beim Rückzug der Vergletscherung Ablagerung der oberen Glazialschotter. 6) Postglazialzeit; weitere Erosion des Innthales; Herstellung des gegenwärtigen Zustandes. Prxck glaubt diese seine Resultate auf die gesamte Alpenkette übertragen zu können. Die grosse Analogie, welche die diluviale Nagel- -fiuh Südbayerns mit der löcherigen Nagelfluh der Schweiz und ähnlichen Wissenschaftliche Rundschau, 997 Bildungen bei Lyon und in Oberitalien besitzt, lässt ihn vermuten, dass wir auch in ihnen Spuren einer ersten Vergletscherung der alpinen Vor- länder vor uns haben, besonders da die betreffenden Gebilde von man- chen Gelehrten bereits für Anschwemmungen einer ersten Vergletscherung angesprochen wurden. Jener Komplex von Erscheinungen ferner, welcher eine dritte Vergletscherung Oberbayerns beweist, vor allem die Scheidung der Moränen in eine äussere und innere Zone, kehrt rings um die Alpen wieder und führte bereits früher zur Annahme zweier Vergletscherungen der Alpen. Prxck gelang zuerst der Nachweis, dass die diluviale Nagel- tluh keiner der zwei Vergletscherungen ihre Entstehung verdankt, welche die Moränen der äusseren und der inneren Zone ablagerten, dass wir mithin eine dreifache Vergletscherung der Alpen anzunehmen haben. II. Gletschererosion und Bildung der oberbayerischen Seen. Die Frage von der Gletschererosion ist vielfach erörtert worden; die Geologen teilen sich in zwei Lager: die einen, wie unter anderem PEscHher, Reezus, RÜTIMEYER und Heim, bestreiten die Möglichkeit einer Erosion durch Gletscher vollständig und wollen diesen nur insofern einen Einfluss auf die Bildung der Seen zugestehen, als sie deren Becken durch das Eis vor dem Zugeschüttetwerden bewahren, sie konservieren; die anderen, wie Ramsay, Daxa, Croru, J. und A. GEIKIE, verfechten die Annahme einer erodierenden Wirkung der Gletscher und lassen die Alpen- seen durch dieselben »ausgepflügt« werden. Den letzteren schliesst sich Prnck auf Grund seiner Beobachtungen mit aller Entschiedenheit an. Man hat die Möglichkeit einer Erosion durch Gletscher vielfach bestritten, indem man nachwies, dass der Gletscher an einer bestimmten Stelle nicht erodiert hat. Aber dass der Gletscher an einer Stelle nicht erodiert hat, beweist noch nicht, dass er nirgends erodiert. Auch das Wasser erodiert nicht überall, je nach den Verhältnissen wirkt es auch anhäufend. Das fliessende Wasser erodiert ferner nicht so sehr durch seine eigene Bewegung, als durch die Bewegung der festen Bestandteile, die es als Geschiebe oder Sand mit sich führt. Ebenso der Gletscher: das Eis selbst erodiert gewiss nur wenig; es erodiert dagegen im höch- sten Grade mit Hilfe des festen Materials, das es an seiner Seohle mit- schleppt: die Grundmoräne ist die Feile, mit welcher der Gletscher ar- beitet; Gletscherschliffe und Rundhöcker sind die Spuren dieser Feile. Wie sollte auch eine Masse wie die Grundmoräne, wenn auf 1 qm ihrer Oberfläche ein Druck von etwa einer Million kgr lastet, während sie ab- wärts bewegt wird, den Untergrund nicht erodieren können? — PEnck führt noch andere Beweise für die Gletschererosion an. Es zeigt sich, dass die Grundmoräne je nach dem Untergrund, den sie überschritten hat, verschieden zusammengesetzt ist. Es fanden sich ferner in ihr Kalk- blöcke, deren eine Seite nach Art der Gletscherschliffe auf anstehendem Gestein poliert und geschrammt war, während die anderen Teile der Oberfläche unregelmässig gestaltet und gekritzt erschienen. Offenbar war der Block ein Teil eines anstehenden Felsen gewesen, zuerst von der Grundmoräne geschrammt, dann losgebröckelt worden und bei der 228 Wissenschaftliche Rundschau. Fortbewegung in derselben war seine zum Teil rauhe Oberfläche ge- glättet und mit den zahlreichen unregelmässigen Kritzen bedeckt worden. Es ist jedenfalls klar, dass der Gletscher unter Umständen erodieren kann. Aber er kann auch anhäufen. Nicht überall bewegt sich der Glet- scher mit gleicher Geschwindigkeit, auch für ihn muss der Satz gelten, dass bei stetigem Fliessen durch jeden Querschnitt des Gletscherbettes in gleichen Zeiten die gleiche Menge Eis hindurchfliesst. Daher wird derselbe Gletscher in engen Thälern rasch, in weiten langsam fliessen. Wo er rasch fliesst, wird er das gesamte Moränenmaterial wie eine Feile über den Boden hinwegschleppen und diesen erodieren; wo er aber nur langsam fliesst, wird er nicht alles Material, das er herbeigeschafft hat, weiter transportieren können; er wird vieles liegen lassen, anhäufend wirken. In den Querthälern der nördlichen Kalkalpen, welche verhält- nismässig starkes Gefälle und geringen Querschnitt haben, mussten die Eismassen sich rasch bewegen; daher finden sich dort nur wenig mächtige Moränen an besonders geschützten Stellen, während in den weiten Längs- thälern mit geringerem Gefälle, vor allem im Innthal Moränen von 60 bis 100 m Mächtigkeit sich finden. Dass sich in der That die unteren Schichten dieser besonders mächtigen Moränen bereits in Ruhe befanden, während die oberen sich noch bewegten, dass also eine Anhäufung von Moränenmaterial unter dem Gletscher möglich ist, gelang Penck im Inn- thal zu beweisen. Abgesehen von alledem beweist schon die ungeheure Menge von Gesteinsmaterial, welche von den Gletschern über die Hochebene ver- breitet wurde, wie ausserordentlich stark die Gletscher erodierten. PEnxcKk fand, dass alle Glazialablagerungen der Ebene über die Teile des Ge- birges ausgebreitet, über welche die oberbayerischen Gletscher sich er- streckten, dieselben überall um 36 m erhöhen würden. Wenn nun auch die Gletscher erodierten, so sind doch die Thäler, in denen sie flossen, gewiss präglazial und nur in ihren Details von den Gletschern verändert; das zeigen schon die Terrassen des obern und mittlern Innthales, welche, obwohl sie aus untern Glazialschottern be- stehen, also beim Herannahen der letzten Vergletscherung gebildet wurden, doch bis zur gegenwärtigen Thalsohle hinabreichen. Dieses könnte nicht der Fall sein, wenn die letzte Vergletscherung das Innthal wesentlich vertieft hätte. Die Schotter selbst sind freilich von den Eismassen stark erodiert worden, wie das Auftreten von Moränen am Fuss der Terrassen deutlich erkennen lässt. Je weiter man das Innthal abwärts verfolgt, um so mehr nehmen die erhaltenen Reste der unteren Glazialschotter ab, bis sie schliesslich an der Mündung des Thales in die Ebene gänzlich verschwinden. Manche Anzeichen beweisen jedoch, dass sie einst auch hier abgelagert wurden; wenn sie nun nach dem Schwinden der Eisbedeckung fehlen, so können sie nur während der Vergletscherung fortgeschafft, d. h. vom Eis erodiert worden sein. Der Gletscher beschränkte sich nicht nur auf die Ent- fernung der Schotter, er bildete eine zentrale Depression an seiner Mün- dung aus, welche bis in die anstehenden Gesteinsschichten hinabreicht. Solche Zentraldepressionen finden sich überall, wo ein Gletscher die Wissenschaftliche Rundschau. 229 bayerische Hochebene betrat. Der Chiemsee, der frühere Rosenheimer See, dessen Spuren wir in dem Rosenheimer Moos erkennen, der Würmsee, der Ammersee sind von den Gletschern ausgehöhlte Becken, Zentral- depressionen; denn nachdem Prnck gezeigt hat, dass die oberbayerischen Alpenseen völlig unabhängig von dem geologischen Bau der Schichten sind, in welche sie eingesenkt sind, dass sie mithin keine Einsturzseen und keine Abdämmungsseen sein können, dass sie ferner auch nicht durch Senkung der Alpenkette oder Hebung der oberbayerischen Hochebene abgesperrte Flussthäler sind, so können sie einzig und allein Erosions- seen sein. Fliessendes Wasser aber kann nie einen See bilden, es ist im Gegenteil der grösste Feind der Seen, indem es deren Abfluss durch Erosion tiefer legt und mit den herbeigeführten Geschieben die Depression auszufüllen bestrebt ist. Einzig und allein die erodierende Kraft der Gletscher kann daher die Seebecken geschaffen haben. IV. Ursachen der Eiszeit. Dreimal sind nach Prxck die Alpen vergletschert gewesen; zwei Vergletscherungen sind von HELLAND, GREWINGK und Prxck in Skan- dinavien, Russland und Deutschland nachgewiesen worden; gerade in Norddeutschland kann man vielfach zwei verschiedene Grundmoränen durch Zwischenbildungen von einander getrennt meilenweit über einander verfolgen ; eine dritte Vergletscherung ist hier freilich noch zu beweisen. Fast in jedem grösseren Gebirge finden sich Spuren einer alten Verglet- scherung: nicht nur die Alpen und Skandinavien, der Schwarzwald, die Vogesen, die Pyrenäen, die Karpathen, Schottland waren vereist, auch die Gebirge Nordamerikas lassen keinen Zweifel daran aufkommen, dass hier einst mächtige Gletscher sich entfalteten. Prxck hält es angesichts solcher Thatsachen für unstatthaft, die Eiszeit als ein blosses Lokal- phänomen aufzufassen; die Vergletscherung der Alpen ist ihm nur »der lokale Ausdruck einer allgemeinen Erscheinung auf der Erde«, einer all- gemeinen Eiszeit. Alle Hypothesen, welche die Eiszeit aus lokalen Ver- hältnissen zu erklären suchen, weist er dementsprechend von sich. Das ganze diluviale Glazialphänomen war lediglich eine Steigerung des heutigen. Gletscher finden sich heute da, wo die jährlichen Nieder- schläge vorwiegend in Form von Schnee fallen. Eine Vermehrung der Niederschläge muss daher auch ein Anwachsen der Gletscher nach sich ziehen. Doch wird dabei dem Anwachsen durch das Abschmelzen eine gewisse Grenze gesetzt. Die Gletscherverhältnisse Neuseelands zeigen in der That, dass reichliche Niederschläge allein noch nicht zu einer eis- zeitlichen Entwickelung der Gletscher führen. Zwei Momente erachtet daher Pexck zu einer Erklärung der Eiszeit für notwendig, einerseits Mehrung der schneeigen Niederschläge, anderseits Erniedrigung der Temperatur, mit andern Worten einen klimatischen Wechsel. Nun ergeben sich überall da, wo das quartäre Glazialphänomen genau untersucht worden ist, Andeutungen oder Beweise mehrerer wäh- rend der Diluvialzeit stattgehabter Vergletscherungen. Dieses führt not- wendig zur Annahme wiederholter allgemeiner klimatischer Schwankungen. Die meteorologische Forschung hat zwar innerhalb des kurzen Zeitraums 230 Wissenschaftliche Rundschau. ihrer Existenz keine klimatischen Veränderungen nachweisen können, jedoch wenigstens zur Aufdeckung jener Thatsachen geführt, welche das jetzige Klima der Erde beherrschen, durch deren Veränderungen also auch das Klima der Erde Schwankungen erleiden wird. So können Veränderungen in der Verteilung von Wasser und Land gewiss solche klimatische Veränderungen veranlassen; doch kann diese Thatsache zur Erklärung der Eiszeit nicht herbeigezogen werden; denn »die quartären Vergletscherungen haben sich auf dem heutigen Boden entwickelt, sie standen in ihrer Gesamtentwickelung unter den heutigen physiographischen Zügen. Nachweislich hat seit der Quartärperiode keinerlei Verschiebung der Grenzen zwischen Wasser und Land statt- gefunden; das einzige, was sich geltend machte, sind lokale randliche Untertauchungen am Saume der bestehenden Festlandmassen.« Verteilung von Land und Wasser wirken nur indirekt auf das Klima, insofern als sie den Lauf der Meeresströmungen beeinflussen. Es frägt sich also, ob bei der bestehenden Verteilung von Wasser und Land die Meeresströmungen Variationen unterworfen sein können. Die Meeresströmungen sind ein Produkt der herrschenden Winde, speziell der Passate, wie Crouu und Zörprırz nachgewiesen haben. Eine Änder- ung der herrschenden Winde wird demnach eine Änderung der Meeres- strömungen und dadurch eine Änderung des Klimas nach sich ziehen. Die beiden Zonen der Passate, welche durch die Kalmen von ein- ander getrennt sind, verändern im Laufe eines Jahres fortwährend ihre Lage, indem die Kalmenzone der Sonne folgt. Da die Sonne gegen- wärtig 6 Tage länger auf der nördlichen Hemisphäre verweilt, so liegt auch die Kalmenzone 6 Tage länger auf der nördlichen Hemisphäre als auf der südlichen. Daher greift der Passat der Südhemisphäre 6 Tage länger auf die Nordhemisphäre über als der Passat der Nordhemisphäre auf die Südhemisphäre. Dadurch werden warme Wassermassen der Süd- hemisphäre auf die Nordhemisphäre gepeitscht. Es ist dieses eine der Ursachen, weswegen die Nordhemisphäre gegenüber der Südhemisphäre thermisch begünstigt erscheint. Infolge der Präzession der Tag- und Nachtgleichen ändert sich das Verhältnis zwischen Nord- und Südhemisphäre: nach 10500 Jahren wird die Sonne länger auf der Südhemisphäre verweilen als auf der Nord- hemisphäre; dementsprechend werden die Kalmen sich verlegen und die Passate und Meeresströmungen von der Nordhemisphäre auf die Süd- hemisphäre übergreifen. »Zufolge der schwankenden Exzentrizität der Erdbahn ist die Dauer der Jahreszeiten eine verschiedene, es kann der Fall eintreten, dass die eine Halbkugel 36 Tage länger die Sonne über sich hat als die andere. Da die Sonne am längsten im Zenithe jener Orte steht, welche den Wendekreisen näher liegen als dem Äquator, so wird jener Überschuss von 36 Tagen Insolation zumeist den höheren Breiten zu gute kommen und dementsprechend wird die Kalmenregion nach jenen höheren Breiten zu sich verschieben. Die Halbkugel, welche den längeren Sommer hat und welche demnach auch — wie PExnck annimmt — die Kalmenregion trägt, empfängt durch die Meeresströmungen einen Teil der der anderen Litteratur und Kritik. 231 Halbkugel gespendeten Wärmemenge. Ihre Meere werden erwärmt, wäh- rend die der letzteren Wärme abgeben. So kann in Perioden grosser Exzentrizität der Erdbahn, wenn also die eine Halbkugel beträchtlich länger beschienen ist als die andere, eine noch grössere Temperaturdifferenz zwischen beiden entstehen, als wir heute wahrnehmen. Es werden dann die Meere der einen Halbkugel vorwiegend kalt, die der anderen dagegen warm sein. Die erstere hat dann ‚ein kaltes maritimes Klima. Ein solches ist, wie A. WoEIKor zeigt, der Gletscherentfaltung günstig; in der That, es gewährt reichliche Niederschläge und niedere Temperatur, die Existenzbedingungen von Gletschern.«< Damit will Prxck keineswegs sagen, dass eine periodische Wiederkehr von Vergletscherungen in jedem Fall notwendig sei. : >Denn abgesehen von einer Störung in der Wärmezirkulation der Erde gehören auch bestimmte geographische Momente zur Erzeugung gewaltiger Vergletscherungen, zu den Existenzbedingungen von Eiszeiten, und wenn man sich erinnert, in welch’ hohem Masse diese Wärmezirku- lation auf der Erde durch geographische Züge bedingt wird, so muss man eingestehen, dass es des wohl äusserst selten vorkommenden Zu- sammenwirkens verschiedenster teils meteorologischer, teils geographischer Thatsachen bedarf, um eine Eiszeit zu erzeugen, und dass, wenn auch die eine Ursache periodisch wiederkehrt, das Glazialphänomen nicht in regelmässigen Intervallen aufzutreten braucht. »>Sind aber einmal die geographischen Verhältnisse der Entstehung von Vergletscherungen günstig, so ist in den periodischen Schwankungen der Wärmezirkulation ein wesentliches Moment für deren Wiederkehr gegeben *.« E. B. Litteratur und Kritik. Origines Ariacae. Linguistisch-ethnologische Untersuchungen zur äl- testen Geschichte der arischen Völker und Sprachen von KARL PrNKA. Wien und Teschen. 1883. Prochaska. Ein interessantes Buch, das seine Verdienste hat. Wir wünschen, dass es das Studium der Ethnologie in weitere Kreise verbreite. Über die Bedeutung der Ethnologie spricht sich der Verfasser folgendermassen aus: Mit Hilfe der auf den Ergebnissen der Anthropologie und Linguistik fussenden Ethnologie dürfte es nun nützlich sein, die Geschichte in den Kreis der Naturwissenschaften einzuführen und die geschichtlichen Vor- gänge ebenso als gesetzmässige verstehen zu lernen, wie man bereits den grössten Teil der im Bereiche der physischen Natur sich abspielenden * Penck schliesst sich, wie man sieht, Croll’s Theorie vom Wechsel des Klimas an, jedoch nicht ohne dieselbe wesentlich zu modifizieren. 232 Litteratur und Kritik. Vorgänge in ihrer strengen Gesetzmässigkeit erkannt hat. Hierbei dürfte der Ethnologie dieselbe Rolle beschieden sein, wie sie innerhalb der Natur- wissenschaften der Chemie zugefallen ist, die ebenfalls vielfach Körper als aus zwei oder mehreren Elementen zusammengesetzt nachgewiesen hat, die man früher als einfache ansehen zu können geglaubt hat. Was für die Chemie die Elemente oder Grundstoffe sind, sind für die Ethnologie die Rassen. Schon jetzt ist es erwiesen, dass eine Reihe von Völkern aus zwei, ja aus drei Rassenelementen zusammengesetzt sind, die man noch vor kurzem als einheitliches Ganzes angesehen hat. Und wie es die Auf- gabe der Chemie ist, die Eigenschaften der verschiedenen Grundstoffe festzustellen und ihr Verhalten zu einander zu erforschen, ebenso ist es Aufgabe der Anthropologie, die somatischen und psychischen Eigenschaften der verschiedenen Rassen kennen zu lernen und die Gestaltungen zu stu- dieren, die sich in physischer, linguistischer und sozial-politischer Hin- sicht ergeben, wenn zwei oder mehrere Rassen zu einander in eine nähere Verbindung treten. Hierauf spricht der Autor von der Zersetzung dieser gemischten Rassen und verweist auf den Zusammenbruch der germanischen Feudalordnung in Frankreich, Deutschland und Österreich, auf den Ver- lust der von Österreich als deutschem Staate ausgeübten politischen Herr- schaft in Italien und Ungarn, auf den Verlust der politischen Selbständig- keit Süddeutschlands u. s. w. und bemerkt: Die Anthropologie allein ist im stande, für die hier berührten Vorgänge die richtige Erklärung zu geben; sie liegt in dem numerischen Rückgange des arisch-germanischen Rassenelements innerhalb der hier zunächst in Betracht kommenden Völker, gewissermassen in ihrer physischen Ent-arisirung, welche, da der anthro- pologischen Umbildung nicht gleichzeitig eine ethnisch-sprachliche Um- bildung zur Seite gegangen, so lange Zeit unbeachtet geblieben. Dass dieser Rückgang stattgefunden hat, hat seine Ursache in dem Umstande, dass die arische Rasse, wie PrwkAa nachweist, eine eminent nordische Rasse ist, die sich für die Dauer in südlichen Ländern nicht erhält. Das anarische Element, das seiner Hauptmasse nach sowohl in Frankreich wie in Süddeutschland aus der Zeit vor der germanischen Okkupation stammt, bildet die Majorität. Dort aber, wo das arische Element das entsprechende Klima gefunden, bewahrt es seine volle alte Kraft, und daher kommt es, dass die politische Führung Deutschlands von dem weniger germanisch gewordenen Süden nach dem mehr germanisch gebliebenen Norden überging. Aus demselben Grunde bewahrten die nord- germanischen Völker (Schweden, Norweger, Dänen), welche die arische Rasse in so hohem Masse repräsentieren, die sie auszeichnende Produk- tivität bis heute noch ungeschwächt fort und konnten z. B. Schweden und Norwegen bei einer verhältnismässig geringen Einwohnerzahl in den Jahren 1871—78 nicht weniger als 130000 Menschen an die Ver- einigten Staaten abgeben und hat sich die Auswanderungszahl in den fol- genden Jahren noch um ein bedeutendes vermehrt. PenkA’s Buch be- handelt die Frage nach dem physischen Typus der Arier, ihrer Heimat, dem Verhältnis der arischen Rasse zu den fossilen und den noch jetzt existirenden Menschenrassen, den ältesten Wanderungen der arischen Völker und ihrer Zusammensetzung. PrxkA glaubt ferner, dass seit der gegen- Litteratur und Kritik. 233 wärtigen geologischen Periode die treibenden Kräfte der Geschichte un- verändert dieselben geblieben sind und auch ihre Richtung im wesent- lichen keine Änderung erfahren hat. Die in der Ethnologie gewonnenen Resultate hat der Autor dazu benutzt, um der vergleichenden Grammatik der arischen Sprachen in der Anthropologie der arischen Völker ihre na- türliche Grundlage zu geben, und schliesst seine Einleitung mit den Worten: Bei dem Umstande, als die arische Sprachwissenschaft mehr und mehr der Methodenlosigkeit, Phantasterei und Verflachung verfällt, kann es nur von Nutzen sein, wenn dieselbe einer Disziplin angegliedert wird, die infolge ihres exakt naturwissenschaftlichen Charakters schon von vornherein nicht dazu angethan ist, zum Tummelplatze subjektivischer Velleitäten herabzusinken. In der Frage nach dem Ursitz des Menschengeschlechts schliesst sich Prxka an M. WacsEr an, der die Wiege des Menschengeschlechts nach dem nördlichen Europa und Asien verlegt. Fossile Menschenknochen sind bisher ausserhalb Europas nirgends aufgefunden worden. In der quaternären Periode war Europa bereits von verschiedenen Rassen be- wohnt und es ist daher auch anzunehmen, dass in der Tertiärzeit der Mensch gerade in Europa zuerst aufgetreten ist. — In demselben Masse, als später die Vergletscherung des Nordens immer mehr zunahm, flüchteten die Menschen immer weiter nach Süden, so dass die Entstehung der Rassen als das Ergebnis der Wirkung aller jener äusseren Verhältnisse sich dar- stellt, welche sich sowohl in der europäischen Heimat als auch in den Ländern, in die der Mensch später gezogen ist, geltend gemacht haben. Die Wanderungen aus Europa infolge der zunehmenden Vergletscherung dieses Erdteils erfolgten nach allen Richtungen mit Ausnahme des Nordens: nach Osten, Süden und Westen. Europa war damals wenigstens noch an zwei Stellen (bei Sizilien und Gibraltar) mit Afrika verbunden; ebenso hatte das schwarze Meer noch keinen Abfluss zum mittelländischen Meer durch den Bosporus und die Dardanellen. Beide Meere waren Binnen- seen und es war daher leicht, trockenen Fusses von Europa nach Afrika und nach Kleinasien zu gelangen. So erklärt es sich, dass die einzelnen Rassen, mit einander verglichen, eine aufsteigende Entwickelungsreihe darstellen, die in Europa in den Ariern ihren Höhepunkt erreicht. Die einzelnen Glieder dieser Kette sind einerseits die Australier, Papua, Dra- vida und Semiten, anderseits die Hottentotten, Kaffern, Neger, Fulahs und Hamiten. Sehr früh musste von dem nordeuropäischen Ursprungs- zentrum eine Auswanderung nach dem mittleren Asien stattgefunden haben. Unter den eigenartigen äusseren Umgebungen dieser mittleren Teile des grossen Kontinents musste eine neue Rasse entstehen und das ist die mongolische oder turanische. Nach der Eiszeit wanderten die Arier mit dem Ren und anderen Tieren, die nicht ausgewandert waren, nach Norden. Skandinavien war zu jener Zeit noch mit Norddeutschland ver- bunden und konnte daher in leichter Weise die Wanderung nach dem skandinavischen Norden unternommen werden. Der nördliche Teil der Halbinsel hatte die Folge der Eiszeit nicht vollständig überwunden, um für Menschen und Landtiere bewohnbar zu sein. Zwei der bemerkenswertesten 23: Litteratur und Kritik. Eigenschaften des physischen Habitus der arischen Rasse finden jetzt ihre leichte Erklärung: die lichte Komplexion (blonde Haare, blaue Augen und weisse Haut) einerseitsund die ausserordentliche Grösse der Statur ander- seits. Erstere Eigenschaft beruht bekanntlich auf dem Mangel an Pig- ment. Der Kohlenstoff wird weggeatmet, der sich in der Haut des Ne- gers ablagert. Penka nimmt ferner an, worin ich ihm völlig beistimme, dass die nordische Rasse, wie dieselbe die alten Germanen und die jetzigen Skandinavier am besten repräsentieren, die helle Komplexion schon aus Mitteleuropa nach dem Norden mitgebracht habe, dass wir also in ihnen das Resultat der Einwirkung der Eisperiode zu sehen haben. Die physische Stärke und Grösse war eine Folge der ausserordentlich schwierigen Verhältnisse, unter denen sie Jahrtausende leben mussten. Während der Eiszeit konnten sich nur die kräftigsten Kinder am Leben erhalten. Durch tausendjährige erbliche Anhäufung der von jeder Ge- neration erworbenen Eigenschaften musste sich schliesslich eine so kräf- tige Rasse ausbilden, als welche wir eben die alten Germanen kennen lernen. Die sieben Fuss grossen Burgunder des SIDoXIUs APOLLINARIS sind keine poetische Übertreibung. Diese grosse dolichokephale Rasse hat in der Quaternärzeit an den Ufern des Rheins und der Seine, in Frankreich bis zu den Pyrenäen, in Zentralitalien ihre Repräsentanten gehabt. Es ist die sogenannte Canstatt-Rasse des Herrn DE QUATREFAGES (die Schädel von Egisheim, Clichy, La Denise, Olmo u. a.), welche PEnkA vielleicht mit Recht mit der germanischen Rasse in Verbindung bringt. Ich bemerke dazu, dass nach Herrn Vırcnow’s auf kraniologische und allgemein somatologische Untersuchungen gegründeter Ansicht nicht nur die Kelten, sondern auch die Germanen schon seit der jüngeren Steinzeit in Deutschland gesessen haben. Und da die Hallstadt-Kultur bis 2000 Jahre v. Chr. reichen soll, so finden wir nach sehr mässiger Schätzung, dass die Stein- zeit in diesen Gegenden mindestens 3000 Jahre v. Christus fällt. Die Germanen — setzt RaAnk& hinzu — haben diese Kulturentwickelung von der Steinzeit zur Metallzeit in Europa durchgemacht und sitzen seit dieser Zeit auf ihrem Boden. Kein Wunder, dass diese dolichokephale Rasse schon in den Dolmen Frankreichs aus der Steinzeit (nach BrocA), auf Friedhöfen aus der gallisch-römischen Zeit und aus dem Mittelalter, in Irland und Schottland gefunden wird. Die dolichokephalen alten Schädel aus den baltischen Provinzen, aus Litauen, Polen, Wolhynien, Galizien zähle ich bestimmt im Gegensatz zu Prnka und Maımow den vom Norden vordringenden Germanen zu. Die germanische Rasse war zu zahlreich, als dass Skandinavien dieselbe einst ganz beherbergt haben sollte. Auf beiden Seiten der Ostsee sassen die Germanen. Die Haupt- masse des zahlreichen germanischen Volkes sass unzweifelhaft auf der russischen Seite der Ostsee. Hier haben Germanen in einer Periode, die vielleicht in das zweite Jahrtausend oder noch höher hinaufreicht, jenen Einfluss auf die Sprachen der finnischen Völker ausgeübt, den uns THomSEN, ANDERSON und DIEFENBACH neuestens so gründlich geschildert haben. Ausser den Germanen können nur noch drei andere arische Völker der uralten dolichokephalen Rasse zugezählt werden: die mit den Kelten linguistisch verbundenen Kymren, deren Litteratur und Kritik. ‘ 18) 3D Nachkommen noch heute im nördlichen Frankreich, in Wales, Ir- land und Schottland zu suchen sind, ferner die Hellenen und die Italiker. Die Hellenen waren dolichokephal und ihre Nachkommen sind es heute noch zum Teil. Sie müssen wir uns auch vorwiegend als blond und gross von Statur vorstellen. Die Männer von rein erhaltener hel- lenischer Rasse waren nach Anamantıos (bei PrnkA p. 24) ueyakoı, ev- gVTEQ01, HgF101, Evrayels, hevxoregoı ınv Ko0av, Savı$ol. Die Hellenen, welche sich mit den zahlreichen Urbewohnern von Hellas nicht vermischt haben, müssen wir uns von demselben Typus vorstellen wie die alten Germanen. Die Hellenen haben erst kurz vor Beginn des 1. Jahrtausends die Länder am ägeischen Meere betreten. Ihre primitive Kultur, wie sie dieselbe von Norden mitgebracht hatten, lernen wir in HeLzig’s aus- gezeichnetem Werke (Italiker in der Poebene 1879) kennen. Ihre Spuren führen bis zur pannonischen Ebene, wo sie sich von den Italikern ge- trennt haben mögen. Ihre Einwanderung von Nordosten kann nicht durch die Karpaten geschehen sein, sondern durch die Spalte zwischen den Karpaten und den Sudetenländern. Die alten Niederlassungen in den Höhlen bei Krakau und die von GLOGER und Rapzımısskı in Wolhynien aufgedeckten Kurgangräber aus der Steinzeit, die ein dolichokephales Volk beherbergt haben, mögen den Helleno-Italikern angehört haben. Das Pfahlbautenvolk war dolichokephal und ich habe in diesen Blättern die Gründe auseinandergesetzt, welche mich bewogen haben, dieselben für Italiker oder richtiger Umbro-Sabeller zu erklären. Auch diese Ita- liker müssen wir uns als ein Volk von grosser Statur vorstellen. Die dolichokephalen Nachkommen der alten Marser, in denen noch reines Samniterblut fliessen wird, bezeichnet Nıcovuccr ihrer Grösse wegen als die Patagonier Italiens. Möglich, dass auch die Inder als fünftes arisches Volk diesen Ty- pus an sich getragen haben. Sind ja die Kafir oder Siaposch, welche für die reinsten Arier Indiens gelten können, von ausgesprochenem hellem Typus. Im übrigen sind die Arier Indiens mit den indigenen Dravida so vermischt, dass dort der reine Arier als Mythe bezeichnet werden kann. Diesen vier oder fünf dolichokephalen arischen Stämmen stehen gegen- über die brachykephalen Slawen und die brachykephalen und mesokephalen Litauer, die brachykephalen Rumänen, Nachkommen der alten arischen Thraker, die, wie es scheint, hyperbrachykephalen Albanesen, Nachkommen der arischen Illyrier und zuletzt die kompakte Masse der brachykephalen Kelten des südlichen Frankreichs bis zur Loire, der Kelten Lothringens, Belgiens und der Lombardei, die sich kraniologisch an die Süd- slawen anschliessen. Die blonden iranischen Osseten im Kaukasus und die blondhaarigen brachykephalen Galtschas Zentralasiens gehören gleich- falls hierher. Usräuvı und TormAarn haben die kraniologische Verwandt- schaft der letzteren mit den kroatischen und den keltischen Schädeln konstatiert. Die blonden Osseten und Galtschas sind die einzigen Re- präsentanten des ursprünglichen iranischen Typus. Im eigentlichen Per- sien, in Afghanistan und Belutschistan hat sich der arische Typus im Laufe der Zeiten verloren. Die heutigen Perser sind von dunkler Kom- 236 Litteratur und Kritik. plexion und dolichokephal. Der vorarische Typus ist in Iran der all- gemein herrschende. Wir haben somit zwei ganz verschiedene Typen unter den arischen Völkern. Ich behaupte, dass beide Typen in Europa schon seit der Quaternärzeit existiert haben. Eine brachykephale Rasse erscheint schon sehr früh im Westen. QuATREFAGES verlegt die Schädel von Furfooz, Grönelle und Truchere in die quaternäre Epoche, während CARTAILHAC und CAZALıS DE FonDoucz sich für die neolithische Periode entscheiden. Das Gros dieser brachykephalen Rasse müssen wir uns in- dessen in Osteuropa wohnend denken. Dort in Osteuropa haben sämt- liche arischen Stämme in der Zeit zwischen 5000— 3000 v. Chr. eine ge- meinsame arische Ursprache ausgebildet. Die Anfänge der Kulturreiche am Nil und Euphrat waren zu dieser Zeit bereits gelegt. Da wir die europäische Eiszeit in eine viel frühere Epoche verlegen müssen, so können wir mit Bestimmtheit behaupten, dass die Arier in der sog. jüngeren Steinzeit ihre Sprache ausgebildet haben, und damals bestanden die Arier bereits aus zwei Typen: aus den hellen Dolichokephalen und den meist hellen Brachykephalen. Wenn die Slawen nur zur Hälfte die hellen Typen zeigen, so beweist das nur, dass sie, südlich von den Germanen wohnend, den Einflüssen des kalten Klimas nicht in gleicher Weise ausgesetzt waren. Die nördlich von den Slawen wohnenden Litauer sind schon vorwiegend blond. Beide Rassen bestanden aber schon von anfang an nebeneinander. KoLLmann hat gezeigt, dass der Mensch physisch vollendet sofort in ver- schiedenen Rassen auf europäischem Boden auftritt und seit der Eiszeit seine Rassencharaktere nicht mehr geändert hat. Wer sind nun die eigent- lichen Arier? Die Dolichokephalen oder die Brachykephalen ? Nach dem Urteile der französischen Anthropologen sind es die Brachykephalen, weil sie noch heute den grössten Teil der Arier ausmachen. Nach Herrn PexkA sind nur die blonden Dolichokephalen reine Arier, die Brachy- kephalen sind dagegen — Turanier, d. h. Kelten, Slawen, Rumänen, Al- banesen und Litauer sind — Mongolen. Ich bedaure aufrichtig, dass ich hinfort dem scharfsinnigen Verfasser, dem ich bis jetzt zumeist gefolgt bin, nicht weiter folgen kann. Die nun zu besprechende Partie der Schrift des Herrn PrxkA dürfte den heftigsten Widerspruch erfahren. Und mit Recht. In dieser Partie ist der Verfasser aus der wissenschaftlichen Reserve herausgetreten und baut Theorien auf, die auch nur bei einer oberflächlichen Prüfung in nichts zerstieben. Wenn Herr PenkA die brachykephalen Kelten und Slawen zu Turaniern macht, so übersieht er ein positives Resultat der Forschungen Vämszery's (vergl. Die primitive Kultur des turko-tatarischen Volkes auf Grund sprachlicher Forschungen erläutert. Leipzig 1879, Brockhaus), dass die turko-tatarischen Völker sich in den Steppen Zentralasiens ganz abgesondert von allophylen Völkern ausgebildet haben. Die türkischen Sprachen sind in der Urzeit von keiner arischen Sprache beeinflusst worden, wie es bei den finnisch- ugrischen der Fall ist. Nur das Iranische hat auf die türkischen Sprachen einen Einfluss gehabt, aber — in sehr später Zeit. Aus Vämgiry’s lin- guistischen Forschungen ergab sich weiter der Schluss, dass das Gros des türkischen Volkes viele Jahrtausende auf sich allein angewiesen, ohne einen engen Verkehr mit der Aussenwelt existierte, und dass Litteratur und Kritik. 937 ferner die Zersplitterung der Türken in einzelne Stämme in einem ver- hältnismässig jüngeren Zeitabschnitte stattgefunden haben muss. Schon aus diesem Grunde sind die vielfach aufgestellten Hypothesen von der turanischen (türkischen) Herkunft der Skythen, Parther, Saken, Mas- sageten ein für allemal als unrichtig zurückzuweisen. Die Arisierung dieser angeblich turanischen Brachykephalen denkt sich Herr PrxkA in folgender Weise: Er nimmt an, dass die zahlreichen turanischen Brachy- kephalen von einem arischen Stamme der Dolichokephalen unterworfen und arisiert wurden. Er verweist z. B. schon in der Einleitung auf die Herrschaft des Adels in Polen. KaArtL SzAJNocHA, ein hervorragender polnischer Historiker, hat, was Herr PrxxA übersieht, einmal ganz den- selben Gedanken gehabt. Das Entstehen des polnischen Adels erklärte sich derselbe damit, dass die skandinavischen Waräger einst Polen erobert und unterjocht haben. Die Unrichtigkeit dieser Ansicht hat SzaswocHA in seinen späteren Jahren selbst eingesehen. Der polnische Adel hat sich aus dem polnischen Volke selbst entwickelt (vergl. Hüprz, Verfassung ‚Polens 1870). Es sei dies ferner als eine anthropologische Thatsache konstatiert, dass der polnische Adel sich kraniologisch von den übrigen Ständen Polens gar nicht unterscheidet. Ein anderes Beispiel! K. E. vox Baer hat einige Schädel aus einem skythischen Kurganengrab untersucht. Der dort gefundene dolichokephale Schädel gehörte unzweifelhaft einem Häuptlinge an, während die brachykephalen den Sklaven oder Unterwor- fenen angehört haben. PrxxA folgert gleich daraus, dass hier ein brachy- kephales Volk von einem dolichokephalen beherrscht wurde. Darauf antworte ich mit folgendem Beispiele: die Polen sind ein brachykephales Volk. Im Jahre 1870 fand man in der Domkirche zu Krakau die Ge- beine Kasimirs des Grossen. Prof. MAser, der gelehrte Präsident der Akademie der Wissenschaften in Krakau, dem die Knochen zur Unter- suchung übergeben waren, hat zu seinem Erstaunen gefunden, dass der polnische König Kasimir d. Gr. von germanischer, dolichokephaler Schädelbildung war. Soll man gleich daraus den Schluss ziehen, dass ein dolichokephales Volk die brachykephalen Polen beherrscht habe? Die dolichokephale Schädelbildung hat indessen der polnische König von einer hohenstaufischen Prinzessin, die einer seiner Ahnen geheiratet, ge- erbt. Es ist zu wahrscheinlich, dass bei dem bekannten Umstande, als die Skythen recht gerne Griechinnen heirateten, der bestattete sky- thische König oder Häuptling von einer griechischen Mutter die doli- chokephale Schädelform geerbt habe. Im Gegensatz zu Herrn PrxkA halte ich an der iranischen, also arischen Abstammung der Skythen fest. Die skythische Sprache war bestimmt eine iranische. Den sprach- lichen Nachweis hat MÜLLENHOFF geführt, was auch PrxkAa nicht be- zweifeln kann. Die Schilderungen des HırrorrArTzs passen allerdings auf ein turanisches Volk; dem widersprechen aber die noch erhaltenen Ab- bildungen der Skythen. Nach diesen Abbildungen könnte man die Sky- then geradezu für Hellenen erklären. Ebensowenig können wir es dem Verfasser billigen, dass er die uralte europäische Cro-Magnon-Rasse, welche bereits in der Eiszeit Europa bewohnt hat, mit den Semiten in Verbindung bringen will. Wie kann 238 Litteratur und Kritik. die blonde dolichokephale Cro-Magnon-hasse mit der zumeist brachy- kephalen semitischen Rasse von dunkler Komplexion zusammenhängen? Die europäischen Juden sind ja zumeist brachykephal (vergl. BLECHMANnN, die Juden Russlands, Dorpat 1882, und MAser und KopkrnIck1, die Juden Galiziens). Die topographischen Homonymien in Nordafrika und auf der pyrenäischen Halbinsel sind, wie ich dies schon früher nachgewiesen zu haben glaube, auf die von Europa eingewanderte blonde Bevölkerung zurückzuführen, deren Einwanderung gegen Anfang des Il. Jahrtausends von den ägyptischen Denkmälern bezeugt ist. Reste dieser dolichokephalen Blonden sich noch jetzt in Marokko und Algier zahlreich. Wir stimmen wiederum mit dem Verfasser vollständig überein, wenn er diese Cro-Magnon- Rasse mit den blonden dolichokephalen Basken in Verbindung bringt. Aus Mangel an Raum müssen wir uns versagen, auf eine weitere Reihe kontroverser ethnologischer Fragen einzugehen. Der Verfasser, von Haus aus Sprachforscher, beherrscht die anthropologisch-ethnologische Litteratur in anerkennenswerter Weise. Sein freilich von kühnen Theorien strotzendes Werk mögen nicht nur Sprachforscher und Ethnologen einem aufmerk- samen Studium und einer ernsten Prüfung unterwerfen, sondern auch alle diejenigen, welche sich für die Entwickelungsgeschichte der Mensch- heit interessieren. Dr. FLiGIEr. Anmerkung der Redaktion. Wir können hier die Bemerkung nicht unterdrücken, dass uns jeder irgendwie über die bescheidenste Vermutung hinaus- gehende Satz auf dem Gebiete der prähistorischen Ethnologie als blosse Behauptung und das neuerdings so beliebt gewordene Zusammenkramen verstreuter Beweis- brocken, um darauf einen imponieren sollenden Völkerstammbaum zu errichten, als durchaus unwissenschaftliches Treiben erscheint. Die gänzliche Unfruchtbarkeit solcher bodenloser Spekulationen könnte unseres Erachtens kaum besser illustriert werden als durch die vorstehenden Abstammungs- und Wanderhypothesen des Herrn Penka. Die wissenschaftliche Ethnologie bietet glücklicherweise noch an- dere lohnendere Aufgaben; dieselben wollen aber freilich mit grosser Geduld und Vorsicht bearbeitet sein, um bleibenden Gewinn zu gewähren. Unsere modernen Mikroskope und deren sämtliche Hilfs- und Nebenapparate für wissenschaftliche Forschungen. Ein Handbuch für Histologen, Geologen, Mediziner, Pharmazeuten, Che- miker, Techniker und Studierende von Orro BACHMANN, kgl. Lehrer an der Kreis-Ackerbauschule in Landsberg a.L. M. 175 Abbildgn. München und Leipzig, R. Oldenbourg, 1883. 344 8. 8°, Wie schon aus dem Titel dieses Buches hervorgeht, beabsichtigt der Verf., dessen vor kurzem erschienener »Leitfaden zur Anfertigung mikroskopischer Dauerpräparate« mit Recht allgemeine Anerkennung ge- funden hat, mit der hier gegebenen Darstellung nicht etwa die grösseren, auf streng wissenschaftlicher Basis ruhenden Handbücher der Mikroskopie, an denen wir nachgerade keinen Mangel mehr haben, überflüssig zu machen: er wendet sich vielmehr an die grosse Zahl derer, die zu irgend welchen praktischen Zwecken das Mikroskop zu gebrauchen ver- Litteratur und Kritik. 239 stehen müssen, ohne dass es ihnen darauf ankommt, die Theorie des- selben genauer zu kennen. So werden denn die »allgemeinen optischen Grundsätze«, das Sehen mit unbewaffnetem Auge etc. und mit der Lupe, alle einzelnen Teile und Apparate des zusammengesetzten Mikroskops sowie dessen Leistungen zwar sehr vollständig und gründlich, aber doch stets in allgemein verständlicher Form besprochen und überall unmittel- bar auf die praktische Verwertbarkeit des Gesagten Rücksicht genommen. Stützt sich auch der Verf. dabei hauptsächlich auf seine Vorgänger, so ist ihm doch zuzugestehen, dass er durch sorgfältige Einbeziehung auch der neuesten Erfindungen und Verbesserungen auf allen Gebieten wesent- lich mehr und besseres geliefert hat. In noch höherem Masse gilt dies von dem umfänglichsten Kapitel, welches »die Mikroskope der Gegen- wart« behandelt und wohl kaum eines der neueren Instrumente, auch solche für besondere Zwecke, unerwähnt lässt. Endlich finden auch die Mikrotome, das Zeichnen mikroskopischer Gegenstände und der Gebrauch des Mikroskops eingehende Berücksichtigung, und in einem stattlichen Anhang sind sämtliche bisher in Vorschlag gekommenen Reagentien, Tinktions- und Imprägnationsverfahren, Einbettungs- und Verschlussmittel mit Angabe ihrer Herstellungsweise bezw. Zusammensetzung und ihrer speziellen Verwendung in der Histologie verzeichnet, so dass gewiss ein jeder die für seine Bedürfnisse wünschenswerten Aufschlüsse in dem Buche finden wird. W DieGeburt bei den Urvölkern. Eine Darstellung der Entwickelung der heutigen Geburtskunde aus den natürlichen und unbewussten Gebräuchen aller Rassen von Dr. G. J. EngEeLmanx in St. Louis. A. d. Engl. übertr. und mit einigen Zusätzen vers. von Dr. ©. Hanni, Prof. a. d. Univ. in Leipzig. Mit 4 Taf. und 56 Abb. im Texte. Wien 1884, Braumüller. Die Einführung zum 1. Kapitel handelt von jener peruanischen Bestattungsurne, deren Prüfung den Autor zum Studium der Naturvölker anregte — zunächst in Rücksicht auf die Stellung beim Gebären. Im folgenden werden die zahlreichen mehr ethnologischen als medizinischen Ergebnisse in dem Buche aufgespeichert. Ein Schatz tiefen Verständnisses lässt sich heben, wenn man die verschiedenen Stellungen zergliedert, welche die Frauen verschiedener Völker in der Zeit der Not annehmen. Je nach ihrer Bauart, der Form des Beckens, stehen, kauern, knieen oder liegen sie auf dem Bauche; desgleichen ändern sie ihre Haltung je nach der Richtung des Kindskopfes im Becken. Weist die grössere Zahl naturgemässer Geburten nicht auf ein von den gegenwärtigen Lehren der Kunst stark abweichendes Gesetz hin? Erhellt nicht daraus die Nötigung, in verschiedenen Geburtsperioden verschiedene Stellungen an- zuraten? Dazu gehört jedoch — sagt EnGELmann — dass wir erst 240 Litteratur und Kritik. noch tiefer in die Gesetze des Gebärens eindringen. Einstweilen besitzen wir hier die Thatsachen. Am Schlusse des 8. Kapitels sagt EnGELMANN, dass die Nordamerikanerinnen (d. h. Indianerinnen) und Afrika-Negerinnen seit Jahrtausenden sich eines so vollkommenen Verfahrens bedienen, dass die erleuchtetsten unter unseren Geburtshelfern erst in den letzten Jahren in der Lage sind, mit ihnen verglichen zu werden. Die wilde Mutter, die Australierin oder Negerin, deren Lehrmeister nur der Naturtrieb war, hat das Kulturweib überflügelt. Wwundersamer Weise besteht auch in betreff des Stillens derselbe Zwiespalt der Gewöhnung bei den verschie- denen ursprünglichen Rassen, wie bei den heutigen Ärzten. Nur kurz sei hier auf einige anziehende Punkte hingewiesen, um zu zeigen, wie das hebärztliche Vorgehen der Naturvölker der Vergangenheit und der Gegenwart dem unseren ähnelt; aber in manchen Punkten sind die Roheren uns voraus. Bei den Urvölkern ist in dieser Hinsicht sehr viel zu lernen! Ein grosses Feld öffnet sich für die Untersuchung der Lage, welche der gebärenden Mutter entspricht und die Stellung des Kindskopfes erheischt. Die Urvölker — sagt EnGenmann — haben diese Aufgabe aus eigenem richtigem Gefühle gelöst. Den Forschungen über die Kulturrassen ist es vorbehalten, zu bestimmen, wann und weshalb dieses zu geschehen hat. Dr. FLIGIER. Ausgegeben-den 31. März 1884. Von der Macht des Geistes. Von B. Carneri. Gar mancher, der die Grundsätze, von welchen wir ausgehen, kennt, wird bei der Überschrift dieser Abhandlung eines Lächelns kaum sich er- wehren können. Wir begreifen es, und eben darum wollen wir das an verschiedenen Orten Gesagte in gedrängter Kürze zusammenfassen zu einer übersichtlichen Darstellung. Aus dieser wird von selbst sich er- geben, weshalb wir, wie der Ausdrücke Leben und Seele, auch des Ausdrucks Geist bedürfen, um das, was wir darunter verstehen, fest- zuhalten, und dass wir darunter etwas verstehen, was, obgleich es für sich genommen sowenig Wesenheit hat als die sogenannte Lebenskraft, jedennoch für den Menschen von höchster Bedeutung ist. Um sogleich auf die Höhe unserer Aufgabe uns zu stellen, setzen wir drei Worte aus dem vierten Buch Marc AUREL’s — nach SCHNEIDER’S Übersetzung, Breslau 1875, Seite 36 und 37 — hierher, die den edlen Stoiker in seiner ganzen Grösse kennzeichnen. »Ändere deine Ansicht, und du hörst auf, dich zu beklagen. Beklagst du dich nicht mehr, ist auch das,Übel weg. Denn Widerwärtigkeiten gibt es nur für den, der sie dafür hält.«< Wir verkennen durchaus nicht den Halt, welchen ihm dabei ein grossartiger Gottesbegriff gewährte; allein nicht weniger wichtig ist die Erwägung, dass er mit diesem Begriffe nicht im entferntesten die Vorstellung einer persönlichen Unsterblichkeit verband. Seinem Materia- lismus, für welchen der Tod die Auflösung in die ursprünglichen Ele- mente, daher nur etwas sehr Natürliches bedeutete, galt zwar die Seele als etwas Besonderes, aber doch nur als der beste Teil des Leibes. Er wusste eben alles Dasein im Weltall, den Menschen mitinbegriffen, als einheitlich und jegliches Entstehen und Vergehen in seinem allgemeinen Zusammenhang aufzufassen. Sein Wille galt ihm als determiniert, zugleich aber als identisch mit seiner Vernunft, die sozusagen seinen Charakter ausmachte. Von der Zweckmässigkeit der Natur durchdrungen, erblickte er im richtigen Erkennen und Beurteilen derselben die höchste Vollkommenheit; und aus dem Bewusstsein, alles Leiden im Hinblick auf seine Unvermeidlichkeit leicht ertragen und nie gezwungen werden zu können, gegen seine Überzeugung zu handeln, ergab sich Kosmos 1884, I. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XIV). 16 242 B. Carneri, Von der Macht des Geistes. ihm, was er den Genius des Einzelnen nannte. Darauf beruhte die oberste Maxime der Stoa: »Lebe stets deiner Natur gemäss.« Und in der That kann der Mensch, wenn gleich nicht allein aus sich selbst, zu einer Natur gelangen, die den Namen eines Genius verdient. Im Adel der entscheidenden Motive liegt das Merkmal des ethisch er- hobenen Menschen; und der echte Stoiker steht dem echten Epiku- räer weit näher, denn gemeinhin angenommen wird. Ist auch das Ideal des einen der Genuss, das Ideal des andern die Verachtung des Leidens: wonach beide streben, ist tiefinnere Glückseligkeit, und diese gibt es für beide nur im Befolgen der eigenen Grundsätze, für keinen von beiden ausserhalb der sittlichen Schranken. Alles auf Erden ist und lebt, soweit es nicht auf unüberwindliche Hindernisse stösst, seiner Natur gemäss; aber der Mensch ist seiner Lage so vollkommen sich bewusst, dass er nicht nur wie das Tier Hindernisse absichtlich entfernen oder umgehen, sondern durch eine hohe Entwickelung des Denkens über seine ganze Lage sich hinwegsetzen kann. Dabei kommt zuvörderst die Frage des Bewusstseins in be- tracht, aber nicht von der Seite ihrer Erklärbarkeit, welcher nach unserer Theorie, sobald nämlich Empfindung und Bewusstsein nicht in einen Topf geworfen werden, keine unübersteigliche Schwierigkeit im Weg steht. Die Frage, die hier sich aufwirft, bezieht sich auf das Ver- hältnis der Begriffe Seele und Geist zu unserer Auffassung der Be- wusstseinsthätigkeit. Sie lautet: können wir von dieser voraus- setzen, die Grundlage jener zu bilden? Ebenso kann man nicht von einer Macht des Geistes reden, ohne darüber sich Rechenschaft zu geben, was man unter Seelenstärke versteht. Hierbei haben wir selbst- verständlich abzusehen von aller krankhaften Nervosität, mag auch oft deren Hauptgrund in übeln Gewohnheiten zu suchen sein. Ein vor- züglich funktionierender Organismus ist ganz besonders von der Vorstellung eines Stoikers untrennbar; und wollen wir näher darauf eingehen, so haben wir, wenn auch nur im allgemeinen, erst über die Seele uns auszusprechen. Wir thun dies um so lieber, da wir bei der Klarlegung unserer Aufgabe auf zwei Gelehrte uns stützen können, deren Beobachtungen dem neuesten Stande der Wissenschaft entsprechen, und welche zu Aussprüchen gelangen, die in einer für uns sehr erfreulichen Weise mit unsern Anschauungen übereinstimmen. Wir beginnen mit M. C. Goucı, der das Vorhandensein geschlossener Rindenfelder, wie sie eine eigentliche Lokalisation der Grosshirnthätigkeit voraussetzen würde, auf das entschiedenste bestreitet. Nicht einmal eine vollständige Trennung der sensitiven und motorischen Funktionen nach verschiedenen Rindenzonen gibt er zu, und weist vielmehr nach, dass derselbe Zentralprozess, der nach der einen Richtung eine Empfindung auslöst, nach der andern Richtung als Willensimpuls und mit diesem als Bewegung zur Erscheinung kommt. Die Ganglien sind weder nach ihren Typen, noch nach ihrer Grösse derart in den Windungen des Ge- hirns verteilt, dass man davon auf eine spezifische Funktionslokalisation schliessen könnte. Eine Arbeitsteilung besteht, aber keine unabänderliche, so dass es sich nur um Anpassungen handelt, welche gegebenenfalls durch B. Carneri, Von der Macht des Geistes. 243 neue Anpassungen ersetzt werden können. Wir berufen uns da auf die ebenso klare als ausführliche Besprechung von RoBERT KELLER, »Kosmos« Band XIII, S. 65 ff. Vom anatomischen wie vom histo-morphologischen Standpunkt bilden die Untersuchungen des italienischen Gelehrten, welche mit allen hervorragenden Vertretern der Lokalisationstheorie sich be- schäftigen, die glänzendste Bestätigung der Anschauungen, die der Strass- burger Physiologe Frrieprick GotLtz in seinen Abhandlungen über die Verrichtungen des Grosshirns niedergelegt hat. Wir haben diese letzteren in dem Aufsatz: der Begriff des Ganzen — »Kosmos« Band XII, S. 1 ff. — eingehend erörtert und können es uns nicht versagen, nun auch auf seine »Beiträge zur Lehre von den Funktionen der Nervenzentren des Frosches« (Berlin 1869) zurückzugreifen. Wir wissen ganz gut den Unterschied zwischen dem Gehirn hoch- organisierter Tiere und dem eines Frosches zu würdigen. Allein nicht nur lassen sich an diesem viel gründlichere Versuche anstellen, denn an jenen: für die Feststellung des Begriffes Seele in seiner Allgemeinheit, als Prinzip des animalischen Lebens, reicht die Sache vollständig aus. Wir möchten sogar weitergehen und sagen: bei einem niederer organi- sierten Tiere, in welchem die höheren geistigen Thätigkeiten noch gar nicht zum Durchbruch kommen, trete der einfache Seelenbegriff in seiner ganzen Reinheit leichter hervor. Wenigstens sind die Resultate, zu welchen Goutz gelangt, für unsere Theorie von höchstem Wert. Der vollständig enthauptete Frosch lebt fort; jedoch sein Leben ist nur mehr ein Vegetieren. Mit dem Entfallen der zentralen Einigung aller Teile zu einem Ganzen, welches jedem einzelnen Teil es ermöglicht, als Teil des Ganzen, als mit jedem Teile zusammengehörig sich zu fühlen, entfällt die empfundene Empfindung. Die einfache Empfindung, das organische Reagieren ist noch da, ungefähr wie bei einer Pflanze; aber die bewusste, die gefühlte Empfindung, das Gefühl ist erloschen. Die noch möglichen Bewegungen sind nur mehr Reflexe, und wir haben ein Lebewesen vor uns, das von einer Maschine nicht mehr sich unter- scheidet. Der Vergleich mit dem Automaten (a. a. OÖ. S. 117 ff.) ist frappant; der diesen Abschnitt unbefangen liest, kann nicht länger dar- über in Zweifel sein, dass vom blossen Rückenmark eine Beseelung nicht ausgeht. Von der einfachen Maschine unterscheidet sich das be- seelte Wesen dadurch, dass es mit Bewusstsein seine Bewegungen voll- führt und sie folglich nicht bloss in für es zweckmässiger Weise zu voll- führen, sondern den jeweiligen Umständen sie anzupassen weiss. Alle vererbten Bewegungen, die in Beziehung auf die Natur und die Lebensweise des Frosches als zweckmässig erscheinen, sind darum noch nicht Akte, von welchen man auf Intelligenz schliessen darf. Wir acceptieren hier rückhaltlos den Ausdruck Intelligenz, in der von Goutz gebrauchten Bedeutung, die das Schwergewicht auf die jeweilige Anpassung legt und damit Klarheit bringt in die Zweckmässigkeit und überraschende Mannigfaltigkeit der allein vom Rückenmark ausgehenden Bewegungen. Goutz sagt ausdrücklich: »Ich brauche hier nicht darauf zurückzukommen, dass die hohe Zweckmässigkeit dieser Bewegungen nichts dafür beweist, dass sie von einem im Rückenmark thätigen Seelen- 244 B. Carneri, Von der Macht des Geistes. vermögen abhängen. Auch die grosse Mannigfaltigkeit in der Form der Bewegungen ist an sich kein Grund, sie als Ausfluss von Seelenthätigkeit anzusehen. Wie ebenfalls schon früher auseinandergesetzt wurde, müsste eine etwa im Rückenmark wohnende Seele, um jene Bewegungen nicht bloss wollen, sondern auch ausführen zu können, die dazu geeigneten Mechanismen gesondert zur Verfügung haben. Sind aber die Mecha- nismen erst da, so können sie in ihrer vollen Mannigfaltigkeit sich ab- spielen auch ohne das Zuthun der Seele.< (A. a. O0. S. 109.) Die Thätigkeit des eigentlichen Gehirns ist eben mehr als eine blosse Be- gleiterscheinung der Seelenthätigkeit. Nichts ist leichter als beim Ver- lust des Gehirns eine transcendente Seele anzunehmen und ihrem Wollen all’ die bleibenden Zweckmässigkeitsäusserungen zuzuschreiben. Wird aber diese Seele mit der unbefangenen Konsequenz eines FRIEDRICH GOLTZ auf die Probe gesetzt, so lässt Einen deren Wollen im Stich. Dass sie gewisse Hindernisse zu überwinden vermag, gewinnt für uns eine ganz andere Bedeutung, sobald wir sehen, dass sie die Hindernisse, die sie überwindet, durch Bewegungen überwindet, welche sie auch macht, wenn diese Hindernisse nicht vorhanden sind. Für jene, die von einem so komplizierten Reflexmechanismus trotz alledem und alledem nicht annehmen können, dass er all’ seine Leistungen ohne Seele zuwege bringe, hat Gourtz folgende treffende Antwort: >Mir fällt da ein Wort ein, das, so viel ich mich erinnere, von LotzE her- rührt. Wer einen solchen Schreck empfindet vor der Annahme einer Masse höchst feiner und verwickelter Reflexvorrichtungen im Rückenmark, gebärdet sich gerade so, als wenn er in Gefahr käme, sich zu ver- pflichten, eine Maschine von gleicher Vollkommenheit zu bauen. Nein, das haben wir fürwahr nicht nötig. Es genügt, dass wir einen solchen Apparat denken können, und das übersteigt durchaus nicht unser Fassungsvermögen.«< (A. a. O. S. 126.) Und vor die Frage ge- stellt, ob er verstümmelten Tieren Empfindungsvermögen zuschreibe, er- klärt GouLtz: »Ich für meine Person glaube nicht, dass ein Frosch ohne Grosshirn bewusste Empfindung hat, weil ich, wie oben ausgeführt wurde, überhaupt nicht mich dazu verstehen kann, ihm Bewusstsein zuzusprechen. < (Ebenda.) Ganz richtig fügt er bei, dass man in dieser Beziehung es jedem überlassen müsse, zu glauben, was er will, insofern bei einem so rein subjektiven Vorgang ein unwidersprechlicher Beweis nicht erbracht werden könne. Allein für die Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit seiner Ansicht führt er nichts Geringeres an, als die Thatsache, dass man einen enthaupteten Frosch in heisses Wasser geben und zu Tode sieden kann, ohne dass er durch die leiseste Bewegung einen Schmerz kundgebe. Er schliesst mit den Worten: »Es gehört wohl ein starker Glaube dazu, um anzunehmen, dass ein solches Tier noch bewusste Empfindungen hat. Wie viel besser stimmt das Ergebnis dieser Versuche zu unserer Ansicht, dass der enthirnte Frosch nichtsist, als ein Komplex von einfachen Reflexmechanismen.< (A. a. O. S. 130.) Aus alledem ergibt sich, dass das Gehirn, die gesamte Empfindungs- und Bewegungsfähigkeit des Organismus einheitlich zusammenfassend, als das eigentliche Organ der Seelenthätigkeit angesehen werden B. Carneri, Von der Macht des Geistes, DAN, kann. Im Gehirn wird mit Hilfe der Sinnes- und Muskelthätigkeit die Empfindung dem daselbst sich konzentrierenden Ganzen vorgestellt, und dadurch die Empfindung des Teils zur Empfindung des Ganzen. Diese Erscheinung nennen wir Bewusstsein. Nicht die Gehirnthätig- keit ist eine Begleiterscheinung des Psychischen, sondern das Bewusstsein ist eine Begleiterscheinung des höher organisierten animalischen Lebens. Allein wenn auch nur eine Begleiterscheinung, so ist sie doch für das betreffende Lebewesen als sein innigstes Ergebnis und wegen des Nutzens, den sie ihm gewährt, von der allerhöchsten Wichtigkeit. Mag man sie auch nach unserer Beschreibung als nichts mehr, denn als einen Spiegel gelten lassen: in diesem Spiegel sieht und erkennt sich das Individuum, durch ihn gelingt es ihm, sich selbst als Ich zu erfassen, dem Ich sein Nicht-Ich als Aussenwelt klar entgegenzusetzen, und aus dieser seine Erfahrung zu schöpfen. Hier befinden wir uns an der Schwelle des Denkens, und dieser Eine Blick genügt, um uns zu zeigen, dass die Seelen- stärke und Energie des Geistes auf der Einheitlichkeit des Ganzen beruht, und dass wir da Erscheinungen vor uns haben, welche wert sind, eigene Namen zu führen, ja, über welche wir zu keiner Klarheit kommen können, wenn wir ihnen nicht bestimmte Namen bei- legen. Gewiss ist die für sich existierende, metaphysische Seele und der ihr entsprechende Geist etwas ganz anderes, als was wir darunter verstehen, aber die Thätigkeit, welcher sie zum Grunde gelegt werden, ist dieselbe geblieben, und schliesslich ist diese das Wichtigere. Gewiss geht aus dem Prozess des Lebens die Seelenthätigkeit und aus dieser die geistige Thätigkeit hervor; aber dennoch oder vielmehr eben darum steht das Psychische, höher als das Physische, das Vernünftige höher als jenes, und dürfen wir das Eine mit dem andern nicht verwechseln. Durch die Erfindung neuer Bezeichnungen würden wir das Verständnis noch mehr erschweren, weil dann auch die Thätigkeiten, über welche nicht Streit ist, im unklaren blieben. Worauf es hauptsächlich ankommt, ist, die Einheit des Prozesses nachzuweisen und die Fälle darzulegen, in welchen das Leben zur Beseelung sich zusammenfasst und das beseelte Wesen zu einem geistigen Wesen sich erhebt. Der unver- sehrte Frosch hat Seele, der enthirnte lebt nur. Der unversehrte Hund ist nicht nur beseelt, er tritt uns, wie Goutz treffend sagt, als Persönlichkeit entgegen, und wir sehen es seinem Thun an, dass es von einem höheren Bewusstsein getragen ist. Beim Menschen ent- wickelt sich durch den höheren Organismus und die durch ihn ermög- lichte wirkliche Sprache das Bewusstsein zum Selbstbewusstsein und dieses zum Geist. Freilich, wenn wir beim Menschen mit der Untersuchung des psychischen Moments beginnen, da stehen wir vor einem unlösbaren Rätsel. Beginnen wir dagegen bei den untersten Stufen der Lebewesen, und verfolgen wir auf genetischem Wege die höheren Entwickelungs- formen, so kann wohl von einem Problem, aber nimmermehr von einem Rätsel die Rede sein. Die Kluft, die den Menschen von den höchstorganisierten Tieren trennt, hat HAEcKEL in einer Weise gekennzeichnet, welche uns die Ent- stehung des Geistes klarlegt. Die Kluft ist eine unüberbrückbare, 246 B. Carneri, Von der Macht des Geistes. obwohl der Mensch keines andern Ursprungs ist als die gesamte übrige Natur. HaEckEu bezeichnet als den Grund dieser Kluft vier Eigenschaften, welche auch bei Tieren, aber bei keinem Tiere vereint wie beim Menschen vorkommen: »Die höhere Differenzierungsstufe des Kehlkopfs (der Sprache), des Gehirns (der Seele) und der Extremitäten, und end- lich den aufrechten Gang.« (Generelle Morphologie der Organismen, Berlin 1866, Band II, S. 430.) Aus dem Zusammenwirken dieser vier Eigenschaften ergibt sich die Befähigung des Menschen zur bildenden Mitteilung, zum vollbewussten Denken, zur alles bewältigenden Arbeit, zu einem, hohen Zielen zugewendeten Fortschritt. Was wir heute Geist nennen, kann nur allmählich sich entwickelt haben, und ist uns nur verständlich als die Vollendung des ganzen Menschen. So wenig es einen ersten Menschen im gemeinen Sinn gegeben haben kann, so wenig gibt es einen an und für sich seienden Geist. Dieser ver- hält sich zur Seele wie die Seele zum Leben. Was wir Seelen- stärke nennen, ist untrennbar von geistiger Thätigkeit, setzt aber auch eine tiefgehende Harmonie des Denkens und Fühlens, eine umfassende Läuterung der Affekte voraus. Wie die Seelenstärke, ist die Macht des Geistes der Ausdruck einer klaren Einheitlichkeit des Organismus; aber während mit der Seele die Möglichkeit zu Anpassungen gegeben ist, welche den Kreis der vererbten Fähigkeiten überschreiten: ermöglicht der Geist Entwickelungen, welche nicht nur zu den nächstliegenden Er- scheinungen, sondern zum grossen Ganzen in Beziehung treten. Der fortschreitende Mensch ist eben vorgedrungen zum Erfassen des Allgemeinen. Und somit wären wir beim Geist angelangt, von dessen Macht diese Blätter handeln sollen, beim Geist, welcher unserer Anschauung nach, insofern immer der ganze Mensch es ist, der fühlt, denkt und handelt, als identisch sich herausstellt mit dem ganzen gebil- deten Menschen. Diese nähere Bestimmung werden manche rundweg ablehnen, ohne aber darum bestreiten zu können, dass ein Mensch, den man ohne allen Umgang mit Menschen in einer Wildnis aufwachsen liesse, keine Spur von Geist an den Tag legen würde. Er bliebe ein beseeltes Wesen, jedoch ohne in der kurzen, zum Leben ihm eingeräumten Spanne Zeit eine wirkliche Sprache oder ein nennenswertes Werkzeug erfinden zu können. In der Tierheit bliebe er befangen, und das Tier verfügt über keinen Geist, sondern nur über die ersten Ansätze zur geistigen Entwickelung. Diese Thatsache steht fest, obwohl sie unver- einbar ist mit einer metaphysischen Natur des Geistes. Allein eben daraus geht hervor, dass die Verbindung eines metaphysischen Geistes mit einem physischen Leibe nicht bloss unerklärlich wäre, sondern über- haupt nicht vorhanden ist. Es genügt übrigens nicht, darüber mit sich im klaren zu sein: man muss es auch sein darüber, dass der freie Geist der Metaphysiker zu den entsetzlichsten Konsequenzen führen müsste. Wollte man ihn nicht auffassen als einen nach jeder Richtung vollkommenen — und dagegen spricht die einfachste Beurteilung des Menschengeschlechts — so wäre es unvermeidlich, zuzugeben, dass seine schrankenlose Willkür ein gesellschaftliches Chaos zur Folge haben würde. B. Carneri, Von der Macht des Geistes. 247 Gerade die undurchbrechbare Verkettung, in welche ihn die monistische, das Kausalgesetz nicht nur in Worten, sondern thatsächlich unbedingt heilighaltende Weltanschauung mit allem Geschehen bringt, bildet den gebahnten Weg, der seine Abirrungen einschränkt, und dadurch seinen Fortschritt ermöglicht oder, wenn man lieber will, begreiflich macht. Bei dem Geiste, wie wir ihn da auffassen als identisch mit dem Individuum, ist der Wille als die andere Seite des Geistes ein durch- weg determinierter, aber auch determiniert in Gemässheit seines Denkens. Die metaphysische Zweiteilung der Menschennatur drängt sich selbst ein Problem der Freiheit auf, das niemand zu lösen vermag. Für die Einheitlichkeit, welche wir der Menschen- natur vindizieren, gibt es kein Freiheitsproblem. Es gibt nur eine nichtbegriffene und eine begriffene Notwendigkeit, und diese ist die allein mögliche Freiheit. Diese Freiheit aber ist nicht von Haus aus dem Menschen eigen, sondern, wie der menschliche Geist, Sache der Entwickelung, d. h. einer noch höhern Entwickelung. Durch die Erziehung wird uns die Achtung vor dem, was Gesetz ist, zur eigenen Natur, und dadurch das allgemeine Gesetz zum eigenen Gesetz, in wel- chem wir uns dann unserer Natur gemäss bewegen. Und unter die Er- zieher des Menschen zählen wir nicht nur seine persönlichen Lehrer, sondern die ganze Vergangenheit des Menschengeschlechts, die Erfahrungen des Einzelnen und sein eigenes Zuthun, sobald er dahin gekommen ist, den Wert der Fortentwickelung so innig zu würdigen, dass daraus ein Motiv ihm erwächst, welches mächtig wie kein anderes seine Geistes- richtung bestimmt. Ernst LaAs, der unter den Philosophen der Neuzeit zu den ganz unbefangenen gehört und in Fragen der Transcendenz und des Determinismus keinerlei auch nur scheinbare Konzession kennt, schreibt in seiner meisterhaften Kritik Uruuzs’, ScHhurtE’s und Karran’s: »Gewiss nennen auch wir ‚frei‘ ein Wesen, das alle relevanten Handlungsmomente zu überlegen im stande ist; und auch wir halten diese Freiheit für ein Erziehungsergebnis, gegründet auf die Macht der Einübung und Gewöhnung, die keine ‚mechanische‘ Potenz ist. Aber weder möchten wir damit eine vage Unbeständigkeit und Unregelmässig- keit der menschlichen Handlungen zulassen, noch glauben, dass, wenn wir Zukunftsrücksichten nehmen und soziale Anforderungen auf uns wirken lassen, wir jemals über das ‚Gesetz der Lust und Unlust‘ hinauskämen, welches Karran als Vertreter einer Offenbarungsreligion das ‚Gesetz der Sünde‘ nennt. Alle Erziehung kann nur dazu führen, wie PLATON sagte, Freude zu fühlen an dem, was man soll (yatosıy ois dei). Und der nicht völlig Durchgebildete thut das Rechte aus Furcht.« (Avenarius’ Vierteljahrsschrift, Leipzig 1883, VII. Jahrg. 2. Heft, S. 246.) Es ist für uns von hohem Wert, dass ein Mann von solchem Schlage mit ganzer Entschiedenheit für den Grundsatz eintritt, mit dem unsere Glückseligkeitslehre steht und fällt. Mit dem einfachen Überlegen der Handlungen können wir zwar das, wofür wir den Ausdruck Frei- heit uns gestatten, noch nicht beginnen lassen. Dieses Überlegen bedarf eines Erfolges, und dazu ist der Wille des. Guten unerlässlich, weil 248 B. Carneri, Von der Macht des Geistes. der Verstand kein anderer ist, als der Wille. Der überlegende Verstand ist sittlich wertlos, insofern der Wille nicht in ihn aufgegangen, die Iden- tität beider keine klare ist. Allein darum steht uns doch dieser Den- ker viel näher, als es nach jener Wendung scheint, denn das Schwer- gewicht seiner Worte liegt für uns in der Entschiedenheit, mit welcher er das »Gesetz der Sünde« nicht gelten lässt. Auch nach unserer Über- zeugung lassen sich alle unsere Handlungen — bei den sogenannten indifferenten ist vielleicht die Sache nur schwerer zu ergründen — auf Lust- oder Unlustgefühle zurückführen. Was den Menschen unab- weisbar zurück hält oder vorwärts drängt, ist der mit seinem selbst- bewussten Empfinden gegebene Glückseligkeitstrieb. Die Läuterung dieses Triebes, die Erweiterung des Egoismus zum Altruismus ist die Hauptaufgabe der Erziehung, auf die wir noch zurückkommen. Ge- lingt es ihr aber auch, ihr Ziel völlig zu erreichen, einen Menschen dahin zu entwickeln, dass er in der Beglückung anderer seine höchste Glückseligkeit findet; so kann dieser Glückliche doch niemals seine Voll- endung sich selbst zuschreiben. Seine Erziehung ist nicht sein Werk; von dem Moment an, in welchem er begonnen hat, selbst dabei mitzu- wirken, konnte er nicht anders; endlich ist immer, wenn er anders wahr- haftig sein will gegen sich selbst, sein erstes und letztes Ziel seine eigene Glückseligkeit gewesen. Es kann daher, selbst abgesehen von der Kau- salität, von diesem Standpunkt aus ein Verdienst niemals angesprochen werden; und zwar von dem etwaigen Erzieher so wenig, als von dem glücklich Erzogenen. Der Erzieher — selbst der sich geisselt und kasteit oder das grösste Opfer bringt, thut nur, was ihn am höchsten reizt — wurde dabei gleichfalls durch seinen eigenen Glückseligkeitstrieb geleitet. Dass beide, dass alle das Bewustsein wirklicher Willensfreiheit in sich tragen, ist dadurch bedingt, dass wir nur in Gemässheit unserer, gleich- viel ob angeborenen oder anerzogenen Natur handeln können. Dieses Bewusstsein, selbst zu thun, was wir thun, beruht auf der Einheitlich- keit, welche die Durchgeistigung ausmacht, und ist uns als identisch mit ihr ein viel zu kostbares Gut, als dass wir es je uns könnten rauben lassen: es ist das Gefühl der Selbständigkeit, das zum Unterschied von der blossen Maschine jedem beseelten Wesen und vor allen dem denkenden Menschen eigen ist. Dieses Bewusstsein, das keiner je ver- leugnen wird, genügt zur Aufrechthaltung der Verantwortlichkeit, die selbst der grösste Verbrecher nicht ablehnt, weil jeder lieber alle Folgen seiner Handlungen tragen, denn sich selbst zur Null degradieren wird. Darum kann unsere Anschauung auf die Rechtspflege keine anderen Wirkungen ausüben als jeder Fortschritt in der Bildung und Aufklärung. Die Gesetzgebung wird eine mildere werden, aber auf ihre Strafsanktionen nie verzichten: diese werden immer mehr den Charakter des einfachen Unschädlichmachens an sich tragen. Das Recht des Staates, den einzelnen und sich selbst vor Übergriffen zu schützen, ist unbestreitbar von Seite aller, welche ihn als notwendig anerkennen; und dem einzelnen sind die Bestimmungen der Gesetze ebensoviele Mo- tive für sein Verhalten. Die Besorgnis, dass die Rechtspflege er- schüttert werden könnte, ist neben dem Wunsche, in einer bessern B. Carneri, Von der Macht des Geistes. 249 Welt durch Belohnung in Gemässheit des Verdienstes eine Aus- gleichung der sogenannten Ungerechtigkeiten dieser Welt zu finden, der Hauptgrund des Widerstandes, auf den unsere Anschauung stösst. Dass wir auf letzteres nicht eingehen, hat nicht seinen Grund in einem man- gelnden Verständnis für religiöse Bedürfnisse. Wir geben auch gerne zu, dass wir vom Standpunkt jenes Wunsches aus das Festhalten am Ver- dienste für gerechtfertigt halten, zumal auch die Frage der Freiheit in diesem Falle eine ihm möglichst entsprechende Lösung findet. Allein zugeben können wir nicht, dass für den Ethiker die Tugend, welche eine Belohnung anspricht, an Wert gewinne; und was wir gar nicht be- greifen können, ist die Logik jener, welche zum Determinismus sich bekennen, und das Kausalitätsgesetz hochzuhalten vorgeben, aber das mit der Tugendübung verbundene Verdienst nicht fahren lassen wollen. Einen eklatanten Fall dieser Art bringt die oben citierte Viertel- jahrsschrift, VII. Jahrgang, 1. Heft, S. 85, in einer: die Ethik der Gegen- wart in ihrer Beziehung zur Naturwissenschaft — überschriebenen Ab- handlung von Tus. Acuzuis. Da wird zuerst geklagt, dass die un- begründeten Besorgnisse, es könnte eine rückhaltlose Anerkennung des Kausalitätsgesetzes zu einer besinnungslosen Identifizierung von Gut und Böse, von Tugend und Verbrechen u. s. w. führen, eine einheitliche wissen- schaftliche Weltanschauung bisher unmöglich gemacht haben. Wir be- greifen, dass eine solche Besorgnis die allgemeine Anerkennung des Kausalgesetzes und die Verbreitung einer ihm entsprechenden Weltanschauung erschwert; aber dass sie die letztere überhaupt unmöglich mache, ist eine Gedankenverbindung, die wir dem geschätzten Autor überlassen, welcher folgendermassen fortfährt: »Vielleicht ist die unvorsichtige Art, wie entschiedene Deterministen solchen Einwänden begegneten, nicht unwirksam zur Bestärkung solcher nichtigen Vorurteile gewesen; so leugnet z. B. CArnERI völlig die Möglichkeit eines sittlichen Verdienstes bei dem deterministischen Standpunkte (Grundlegung der Ethik, Wien 1881, p. 295). Nichts kann falscher sein wie diese Schlussfolgerungen; denn, so sehr wir im Interesse einer konsequenten Weltanschauung die ausnahmslose Geltung des Kau- salitätsgesetzes vertreten, so sehr für einen universellen Blick die Summe alles Geschehens fest und unabänderlich daliegen müsste und nichts neues (?) sich ereignen könnte, so unbedingt halten wir an dem Ge- fühle der Freiheit, als einer unbestreitbaren Thatsache des Bewusstseins fest.« — Dieses »denn« ist herrlich: stellt man beide »wir« zusammen, so ist unsere Folgerung falsch, weil unser Kritiker am Freiheitsgefühl festhält. Wir heben diese wie die frühere Gedankenverbindung nur hervor, weil sie gleich auf den ersten Blick eine gewisse Beruhigung uns ge- währt hat gegenüber der niederschmetternden Bestimmtheit, mit welcher da von unsern Folgerungen, deren übrigens nur eine als genannt er- scheint, ausgesagt wird: »nichts könne falscher sein.« Jene Thatsache des Bewusstseins lassen wir ja gelten, und geben sie als eine allgemeine zu; allein ihretwegen den Determinismus weniger entschieden auffassen zu wollen — unsern verehrten Gegner choquiert offenbar nur unsere Entschiedenheit — kommt uns gerade so vor, als 250 B. Carneri, Von der Macht des Geistes. meinte Einer, man dürfe die Umdrehung der Erde um ihre Achse samt allem, was daraus folgt, nicht mit voller Entschiedenheit aussprechen, weil man dem damit in Widerspruch stehenden Auf- und Untergang der Sonne, an welchem der Mensch immer festhalten wird, einen wenn auch nur geringen Grad von Wahrheit gelten lassen müsse. Wie die eigentliche Willensfreiheit, ohne welche es ein Verdienst nicht gibt, be- ruht diese Erscheinung auf einer Täuschung. Wir haben es da mit einer Thatsache des Gefühls zu thun, die mit der Natur des Menschen genau so innig verwachsen ist, wie jene Thatsache des Bewusstseins. Der Mensch fühlt nicht die Umdrehung der Erde, und kann sie nicht fühlen. Es ist aber auch gut für ihn, dass er sie nicht fühlt, weil er sonst seine ganze Thatkraft darauf verschwenden würde, an den drehenden Ball sich festzuklammern: wie es auch gut für ihn ist, dass er sich frei fühlt, weil darauf, als auf dem Gefühl der Selbstheit, die Energie seiner Thatkraft beruht. An jenem Gefühl wie an diesem Bewusstsein wird nichts dadurch geändert, dass der Mensch darüber sich aufklären lässt, woran er in Wahrheit sei, während er dabei gewinnt, wie man durch jede Aufklärung gewinnt, indem er nämlich einsieht, wie lächerlich es sei, krampfhaft an diese Erde sich zu klammern — im moralischen wie im physischen Sinn — und seinen irdischen Handlungen einen Wert beizulegen, den sie nicht haben. Das Wahre am Freiheitsgefühl ist die Einheitlichkeit unseres Wesens, wie das Wahre an der stillstehenden Erde die einheitlich mit ihr sich drehende Atmosphäre ist. Dies erklärt uns aber eben nur die Täuschung. Unser strenger Kritiker würde gewiss nicht gestatten, an das Gefühl, dass die Erde stille steht, ernstere Kon- sequenzen zu knüpfen. Warum gestattet er es beim Gefühl der Willens- freiheit? Der Begriff des Verdienstes ist eine sehr ernste Konsequenz. Die Zeiten GAuıLEers sind vorüber; aber ihr Geist findet noch immer Partien der Wissenschaft, in welchen er sein Richteramt nicht für er- loschen hält. Die Moral der Geschichte ist die Geschichte der Moral. Wir können hier nicht wiederholen, was wir in unserer Grundlegung der Ethik ausführlicher darüber gesagt haben; denn so »vorsichtig« waren wir schon, die Sache von ihren wichtigern Seiten zu erwägen, und verweisen den gütigen Leser, der dieser sehr ernsten Frage das richtige Interesse entgegenbringt, auf die im Register — er braucht darum nicht durch das ganze Buch sich hindurchzuarbeiten — unter den Artikeln Verdienst und Verpflichtung angemerkten Seiten. Hier wollen wir nur noch beifügen, dass unserer Ansicht nach die Allzu- vorsichtigen und Unentschiedenen es sind, welche es verhindern, dass das Kausalgesetz, der Tod alles Aberglaubens und allesdessen, wasdaran hängt, zu einer allgemeinen und rückhalt- losen Anerkennung gelange. | Gerade die Entschiedenheit, mit welcher wir für den Determi- nismus eintreten, ist es, die uns gestattet, ebenso entschieden für den hohen Wert einzutreten, welcher unveräusserlich unserm sittlichen Ver- halten zukommt. Um an das weiter oben nach Praron citierte Wort anzuknüpfen: mit dem sittlichen Verhalten ist unzertrennlich eine edle Freude verbunden, von welcher jede Vorstellung eines Verdienstes, B. Carneri, Von der Macht des Geistes. 251 wofür doch nur der Unbescheidene einen ausgeprägtern Sinn hat, weit überstrahlt wird. Wie der Schöne seiner Schönheit sich freut, der Starke seiner Kraft, der Gesunde seiner Gesundheit, nicht weil er seine Schön- heit, seine Kraft, seine Gesundheit sich selbst verdankt, sondern weil er selbst der Schöne, der Starke, der Gesunde ist: so freut sich der sittlich erhobene Mensch seiner Sittlichkeit nicht als seines Werkes, son- dern als derihm eigen gewordenen Natur. Worauf es dabei wieder allein ankommt, ist, sobald man einmal die Teleologie ablehnt, mit der nötigen Entschiedenheit sie abzulehnen, nicht mehr die Tugend zu betrachten als den Weg zur Glückseligkeit, sondern die wahre Glück- seligkeit als den Weg zur echten Tugend. Und weil wir schon bei der Entschiedenheit sind, so wollen wir hier ein entschiedenes Wort über die Erziehung in der Volksschule einschalten. Der moderne Staat wird alle seine höhern Zwecke nur halb erreichen, mit der sittlichen Entwickelung seiner Bürger nicht vorwärts kommen, so lang er nicht gründlich mit einer Tugendlehre bricht, die längst nicht mehr verfängt. Was gestorben ist, ist gestorben, und die frömmsten Wünsche wecken die Toten nicht auf. Der Staat hat in der Volksschule selbst Moral zu lehren, und zwar eine zeitgemässe Moral. Kein Kind hat heranzuwachsen, ohne dass mit ihm heranwachse das Gefühl seiner Pflichten gegen sich selbst, gegen seine Mitmenschen und gegen den Staat. Dieses Pflichtgefühl hat dem Kinde nicht weit- läufig begründet, sondern einfach eingeprägt zu werden, wie das Kind folgen zu lernen hat, nicht aus Gründen, sondern nur um des Folgens willen, damit es später befähigt sei, ins Unvermeidliche sich zu fügen, das über uns hereinbricht, ohne früher, meist auch ohne später auf unser Warum eine Antwort zu geben. Die allgemein menschliche Staats- moral, die uns da vorschwebt, braucht nicht in Widerspruch zu geraten mit den Gründen der Moral, welche die Kirchen lehren. Sie darf es auch nicht, um die kindlichen Gemüter nicht zu verwirren. Sie hat eben nur zu verhindern, dass dort, wo die Kirche über ihren Gründen auch die Moral vergisst — ihre Gründe sind ihr oft die ganze Moral — gar keine Moral gelehrt werde. Die Begründung der allgemein menschlichen Staatsmoral gehört in die höhern Lehranstalten, an welchen der kirch- liche Moralunterricht nicht mehr am Platze ist. Dort ist der Wider- spruch unvermeidlich, denn dort darf nichts gelehrt werden, was mit der Wissenschaft in Widerspruch steht. Die Wissenschaft aber kann man ruhig walten lassen, und man hat sie ruhig walten zu lassen, wenn es Einem Ernst ist mit dem Fortschritt. Bei diesem ist, wie bei allem Grossen, nur die Halbheit gefährlich. Der Staat braucht den ganzen Fortschritt, weil er ganze Menschen braucht. Was zum Durchbruch kommen soll, ist der Geist mit seiner ganzen Macht, und der ganze Mensch ist der Geist, der Mensch in seiner geläutertsten Einheit- lichkeit. Wir haben mit MArc AurEL begonnen und wollen mit ihm schliessen. Uns thut die Wahl weh, überblicken wir all’ die Gedanken, die in edelster Weise seiner unerschütterlichen Gesinnung und Todesverachtung Ausdruck geben. Gott und Natur waren ihm ein einziger Begriff, weil er in der 252 B. Carneri, Von der Macht des Geistes. Materie, aus der alles hervorgeht und in die alles zurückfliesst, die Quelle und den Urgrund der Dinge erblickte. Wie er, das Leben ins Auge fassend, aus ganzer Seele ausrufen konnte: »Welche Gewalt hat doch der Mensch, der nichts thut, als was Gott loben kann, und alles hinnimmt, was Gott ihm sendet;« (XII. 8.) — ebenso konnte er, den Tod ins Auge fassend, aus ganzer Seele ausrufen: »Weihrauch auf dem Altar der Gottheit — das ist des Menschen Leben. Wie viel davon gestreut schon ist, wie viel noch nicht, was liegt daran?« (IV. 15.) Mit welcher Feinheit er das Verhältnis des Menschen zu den Göttern aufzufassen wusste, und wie für ihn nur die subjektive Seite des Gebetes, als praktische Konzentration des Geistes, einen Wert hatte, sagt uns am besten folgende Stelle: »Entweder die Götter vermögen nichts, oder sie haben Macht. Können sie nichts, was betest du? Haben sie aber Macht, warum bittest du sie nicht lieber darum, dass sie dir geben, nichts zu fürchten, nichts zu begehren, dich über nichts zu betrüben: als darum, dass sie dich vor solchen Dingen, die du fürchtest, bewahren oder solche, die du möchtest, dir gewähren? Denn, wenn sie den Men- schen überhaupt helfen können, so können sie ihnen doch auch dazu verhelfen. Aber vielleicht entgegnest du, das hätten die Götter in deine Macht gestellt? Nun, ist es denn da nicht besser, was in unserer Macht steht, mit Freiheit zu gebrauchen, als mit knechtisch gemeinem Sinn dahin zu langen, was nicht in unserer Macht steht? Wer aber hat dir gesagt, dass die Götter uns in den Dingen, die in unserer Hand liegen, nicht beistehen? Fange nur an, um solche Dinge zu bitten, dann wirst du ja sehen. Der bittet, wie er möchte frei werden von einer Last; du bitte, wie du’s nicht nötig haben möchtest, davon befreit zu werden. Jener, dass ihm sein Kind erhalten werden möge; du, dass du nicht fürchten mögest, es zu verlieren u.s. f. Mit einem Wort: gieb allen deinen Gebeten eine solche Richtung, und siehe was geschehen wird.« (IX. 21.) Für jene, welche meinen, der Stoiker habe keinen Sinn gehabt für die Anschauungen ErIKUR's, setzen wir folgende zustimmende Worte hierher: >ErIkur erzählt: in meinen Krankheiten erinnere ich mich nie eines Gesprächs über die Leiden des Menschen; nie sprach ich zu jenen, die mich besuchten, über dieses Thema. Sondern ich arbeitete weiter, über naturhistorische Gegenstände im allgemeinen und besonders darüber nachdenkend, wie die Seele trotzdem, dass sie an den Bewegungen im Körper teil hat, ruhig bleiben und das ihr eigentümliche Gut bewahren möge.« (IX. 22.) Die folgenden zwei Stellen über das Glück sind charakteristisch: »Wie die Gedanken sind, die du am häufigsten denkst, ganz so ist auch deine Gesinnung. Denn von den Gedanken wird die Seele gesättigt. Sättige sie also mit solchen, wie: dass man, wo man auch leben muss, glücklich sein könne.« (V. 16.) »So sei denn endlich ein- mal, und gerade wenn du recht verlassen bist, ein glücklicher Mensch, d.i. ein Mensch, der sich das Glück selbst zu bereiten weiss, d. i. die guten Regungen der Seele, die guten Vorsätze und die guten Hand- lungen.« (V. 36.) Und zum Schluss eine Erörterung, die den Satz, dass man den Lohn seiner Handlungsweise in ihr selbst zu suchen habe, nicht geist- B. Carneri, Von der Macht des Geistes. 253 voller durchführen könnte, und unwiderleglich klar legt, dass die Sittlich- keit, weit entfernt, durch das Vorhandensein eines Verdienstes be- dingt zu sein, in ihrer vollen Reinheit nur ohne dieses erfasst werden kann. >»So oft dir jemand mit seiner Unverschämtheit zu nahe tritt, lege dir die Frage vor, ob es nicht Unverschämte in der Welt geben müsse? Denn das Unmögliche wirst du doch nicht verlangen. Und dieses ist nun eben einer von den Unverschämten, die in der Welt existieren müssen. Dasselbe gilt von den Schlauköpfen, von den Treu- losen, von den Lasterhaften. Und sobald dir dieser Gedanke geläufig wird, dass es unmöglich ist, dass solche Leute nicht existieren, siehst du dich auch sofort freundlicher gegen sie gestimmt. Ebenso frommt es, daran zu denken, welche Tugend die Natur jeder dieser Richtungen gegenüber dem Menschen verliehen hat. So gab sie z. B. der Lieblosigkeit gegen- über, gleichsam als Gegengift, die Sanftmut. Überhaupt aber steht dir frei, den Irrenden eines Bessern zu überführen. Und ein Irrender ist jeder Böse: er führt sich durch sein Unrecht selbst vom vorgesteckten Ziele ab. Was aber schadet es dir? Kann er etwas wider deine Seele? Und was ist denn Übles oder Fremdartiges daran, wenn ein zuchtloser Mensch thut, was eben eines solchen Menschen ist? Eher hättest du dir selbst Vorwürfe zu machen, dass du nicht erwartet hast, er werde derart handeln. Deine Vernunft gab dir doch Anlass genug zu dem Ge- danken, dass es wahrscheinlich sei, er werde sich auf diese Weise ver- gehen; und nun, weil du nicht hörst auf das, was sie dir sagt, wunderst du dich, dass er sich vergangen hat! Jedesmal also, wenn du jemand der Treulosigkeit oder der Undankbarkeit beschuldigst, richte den Blick in dein eigenes Innere. Denn offenbar ist es doch dein Fehler, wenn du einem Menschen von solchem Charakter dein Vertrauen schenktest, oder wenn du ihm eine Wohlthat erwiesest mit allerlei Nebenabsichten, und ohne den Lohn deiner Handlungsweise nur in ihr selbst zu suchen. Was willst du noch weiter, wenn du einem Menschen wohlgethan? Ist’s nicht genug, dass du deiner Natur entsprechend gehandelt? Strebst du nach einer besonderen Belohnung ? Als ob das Auge Bezahlung forderte, dafür, das es sieht, und die Füsse dafür, dass sie schreiten! Und wie Aug und Fuss dazu geschaffen sind, dass sie das Ihrige haben in der Erfüllung ihrer natürlichen Funktionen: so hat auch der Mensch, zum Wohlthun geschaffen, so oft er ein gutes Werk gethan und andern irgendwie äusserlich beistand, eben nur gethan, wozu er bestimmt ist, und hat darin das Seinige.« (IX. 23.) Allerdings nicht der Mensch, wie er kommt aus der Hand der Natur; denn diese ist weder gütig noch bösartig: aber der sittlich erhobene Mensch nimmt diesen Standpunkt ein. Seine Gefühle, Vorstellungen und Begriffe werden immer adäquater, d.i. klarer in ihrem Zusammenhang mit dem grossen Ganzen, und volle Geltung hat für ihn der Satz: »Widerwärtigkeiten gibt es nur für den, der sie dafür hält.« wWildhaus, 26. Juli 1883. Einige Bemerkungen zu Gl. König's „Untersuchungen über die Theorie der wechselnden kontinentalen und insularen Klimate“ im Kosmos 1883. Von Prof. A. Blytt (Christiania). Herr Cr. Könıs hat meine Theorie der säkularen Wandelungen des Klimas in dieser Zeitschrift einer längeren Kritik unterworfen. Wenn ich voraussetzen dürfte, dass die Leser des »Kosmos« aus eigener Anschauung die Arbeiten kennen, welche Hr. K. zum Gegenstand seines Angriffes gemacht hat, so würde ich es kaum für notwendig erachtet haben, auf jene Kritik zu antworten; da indessen wahrscheinlich der grösste Teil derer, welche Hr. K’s »Untersuchungen« lesen, nicht in die Lage ge- kommen ist, von meinen Arbeiten Kenntnis zu nehmen, muss ich die Redaktion um Platz für folgende Bemerkungen ersuchen. Durch die Lektüre von Hrn. K’s »Untersuchungen« erhält man — eine höchst unvollkommene und fehlerhafte Vorstellung von meiner Theorie. Hr. K. hat nämlich von vornherein den Grundgedanken meiner Theorie durchaus missverstanden. Er glaubt, die- selbe laufe hinaus auf einen gleichzeitigen Wechsel extremer Klimate für die ganze Halbkugel. Er sagt nämlich (p. 337): »Gesetzt es sei so, wie die Theorie behauptet, dann müsste das Klima der nördlichen Erdhälfte jetzt entweder kontinental oder insular sein, eine Folgerung, welcher die heutigen meteorologischen Resultate widersprechen.« P. 342 erzählt er mir sogar, dass die norwegische Westküste ein insulares Klima hat — eine Wahrheit, die mich nicht gerade überraschen konnte, da sie sich mir durch die persönliche Erfahrung vieler Sommer recht nahe gelegt hat. Auf Grund der ebenerwähnten Thatsache macht er sogar den Vorschlag, die ganze Theorie auf den Kopf zu stellen und der Ge- genwart ein relativ feuchtes Klima beizulegen. Es heisst (l. e.): > Wäre die Theorie in dieser Form vorgetragen« (d. h. im vollständigsten Wider- spruch mit dem Zeugnis der Natur, wie uns dasselbe in unsern aus- getrockneten Torfmooren vor Augen liegt), »dann wäre die Kritik kaum herausgefordert« u. s. w. Und weiter: »Infolge so arger Verkennung des gegenwärtigen Klimas von Norwegen« (— ich soll nämlich annehmen, A. Blytt, Einige Bemerkungen zu Cl. König’s „Untersuchungen etc.“ 255 dass ganz Norwegen zur Zeit ein ausgeprägtes Kontinentalklima be- sitze —) >mag man ihr« (der Kritik) »die Dreistigkeit verzeihen, die Frage zu stellen: sind etwa alle kontinentalen Perioden gleichen Charak- ters mit der Zehnten« (d. h. der Gegenwart)? »Dann würde die Theorie zusammenschrumpfen auf einen Wechsel zwischen gleichmässigem Klima mit sehr wenig Niederschlägen und einem gleichmässigen Klima mit viel Niederschlägen. Oder rechtfertigt die geologische Vergangenheit des Landes einen anderen Gedanken auszusprechen?« Nun ist der Sachver- halt aber der, dass jener dürftige Rest, auf welchen nach Hrn. K. die Theorie einzuschrumpfen droht, nichts anderes ist als die ursprüngliche und unverfälschte Grundlehre in allen meinen Arbeiten, und dass somit Hr. K. sich leider »einer argen Verkennung« der ganzen Theorie schuldig ge- macht hat. Aus dem Titel meiner Abhandlung in ExGLer’s Jahrbüchern hat er sich zu dem Glauben verleiten lassen, dass meine Theorie einen Wechsel extremer Klimate verlange, was mir indessen nie in den Sinn gekommen ist. Dies Missverständnis des Hrn. K. ist indessen um so weniger zu entschuldigen, da meine Meinung mit dem Ausdruck »wechselnde kontinentale und insulare Klimate« nicht nur unzweideutig aus dem ganzen Zusammenhang hervorgeht, sondern auch noch zum Überfluss gleich am Anfang der Abhandlung deutlich erklärt wird, indem es heisst, »dass Zeiträume mit einem feuchten und milden Klima mit andern Zeiträumen abwechseln, in welchen ein trockneres und mehr kontinentales Klima herrscht.« Hätte ich wirklich behauptet, dass die ganze nördliche Halb- kugel zu einer Zeit ein ausgeprägtes Kontinentalklima und zu anderer Zeit ein ebenso ausgeprägtes Küstenklima besessen haben sollte, so kann ich nicht verstehen, wie man es für notwendig halten konnte, ganze 200 Spalten daran zu opfern, um eine so ungeheuerliche Theorie zu Grabe zu tragen. Die, meine ich, hätte sich selbst das Urteil gesprochen. Hr. K. befindet sich ferner in vollständigem Irrtum in bezug auf das, was EneLEer und ich als »schrittweise« oder langsame Wanderung verstehen. Er nimmt das Wort »schrittweis«< durchaus wörtlich und legt mir die wunderbare Meinung bei, dass die Arten unserer Flora Zoll um Zoll eingewandert seien, d.h. bloss durch Ausläufer und Wurzeltriebe und durch den im nächsten Um- kreis der Mutterpflanze niederfallenden Samen, aber ohne irgend welche Mitwirkung von Wind, Wasser oder Tieren. Er räumt nun freilich ein, dass ich nirgends etwas Derartiges ausgesprochen habe, sagt aber, dass er es zwischen den Zeilen lese, dass dies meine Meinung sei. Ein so grobes Missverständnis meines Ausdrucks >»schrittweise Wanderung« ist um so unverzeihlicher, da es aus dem ganzen Zusammenhang deutlich hervorgeht, dass die schrittweise Wanderung nur den Gegensatz bildet gegen die zufällige Wanderung oder Verschleppung eines einzelnen Samen- korns nach fernen Inseln oder Ländern durch Vögel oder Meeresströme. In meinem »Essay on the Immigration« p. 31 heisst es: It is doubtless far more easy for plants to extend themselves over connected tracts of country. But the migration (by meansofwind, birds, mammalia) seems also in this case.to be effected little by little, as it is no doubt an exceptional case for animals to migrate all at once without resting, 256 A. Blytt, Einige Bemerkungen zu Cl. König’s „Untersuchungen across large tracts of country.< Aus diesem Ausspruch ist klar genug zu ersehen, was ich unter schrittweiser Wanderung verstehe, und ein Kritiker hat nicht das Recht, zwischen den Zeilen etwas anderes heraus zu lesen. Es wäre übrigens sowohl für ihn als für mich erspriesslicher ge- wesen, wenn er sich nicht mit solchem Lesen zwischen den Zeilen befasst hätte. Es hätte uns beiden ein ganz hübsches Stück Arbeit erspart, und viel Tinte, Schwärze und Papier hätten sich besser verwenden lassen. Sogar von den Wasserpflanzen will Hr. K. wissen, dass dieselben meiner Theorie zufolge Zoll um Zoll eingewandert seien, so dass ich mich in die »unangenehme Situation« versetzt finden soll, mich zu der Ansicht bekennen zu müssen, dass »alle Bäche, Flüsse, Teiche und Süsswasserseen ehemals Eins miteinander gewesen seien«. Es gibt viele Lokalitäten, an welchen der Pflanzenwuchs nie hat gedeihen können, es gibt nackte Felsen, wo nichts Wurzel schlagen kann, es gibt Schnee- felder und Gletscher u. s. w., alles das sind nach Hrn. K. ebenso viele Beweise gegen meine Theorie, da ich ja eine Zoll um Zoll fort- schreitende Wanderung der Pflanzen lehre. An Aufdeckung und Wider- legung aller dieser wunderlichen Meinungen wendet Hr. K. viele Mühe und Arbeit, aber leider nur aus dem Grunde, weil er zwischen den Zeilen das gerade Gegenteil herausgelesen hat von dem, was in meinen Arbeiten sich mit klaren und deutlichen Worten ausgesprochen findet. Meine Meinung ist nämlich ganz einfach diese: die Arten wandern in der Regel langsam, d. h. die häufigsten Transportmittel: der Wind, die Standvögel und die Säugetiere befördern die Pflanzen gewöhnlich nur über kürzere Wegstrecken hin von einem geeigneten Standort zum andern. Die Lücken in der Verbreitung sind aber dermalen so gross, dass man sie kaum allein mit Hilfe der noch wirksamen Transportmittel zu erklären vermag. Man wird sich vielmehr genötigt sehen, für die Vorzeit eine gleichmässigere Verbreitung anzunehmen, bei welcher die Lücken nicht grösser waren, als dass sie mittels der bekannten Transport- mittel überschritten werden konnten. In den Gegenden, in welchen die Arten einer Gruppe zur Zeit mangeln, finden sich nämlich zahlreiche Lokalitäten, welche passende Standorte für jene Arten abgeben würden, wenn nur das Klima sich ihrem Gedeihen nicht widersetzte. Ich habe aber selbstverständlich weder gemeint noch gesagt, dass die Artgruppen jeden Zollbreit des Terrains, das zwischen den Kolonien liegt, besetzt gehalten hätten. Diese beiden Missverständnisse sind die schlimmsten. Aber auch in andern Punkten laufen recht wunderbare Irrtümer mit unter. Ich habe z. B. nie, wie p. 342 behauptet wird, die Eiszeit durch meine Theorie erklären wollen; ich habe nie gesagt (cf. p. 482), dass die Buche kontinental und boreal sei; es ist keine »Verhöhnung der Natur- wissenschaft« (p. 483), wenn ich sage, dass Eryngium maritimum, Crambe maritima, Atriplex littoralis, Statice bohusiensis u. a. das ausgeprägte Küstenklima scheuen, »denn mit letzterem Satz ist einfach eine That- sache ausgesprochen, jene Arten fehlen nämlich in unseren westlichen Küstengegenden. P. 483 sagt Hr. K.: »Der für die Theorie so wichtige über die Theorie der wechselnden kontinentalen und insularen Klimate“. 9257 Satz »»mit jedem neuen Klima wanderte eine neue Pflanzenwelt ein««, verliert vierzig Prozent von seiner Wahrheit, indem die Theorie von 10 Perioden und nur von 6 Floren in Norwegen spricht.< Man ver- gleiche hiermit meine eigenen Worte (Ener. Jahrb. II, p. 10): »So lange die Landverbindungen zwischen unserer Halbinsel unddenanderen Gegenden eine Einwanderungin grösserem Massstabe möglich machten, wanderte unter jeder kontinentalen Periode eine kontinentale Artgruppe, und unter jeder Regenzeit eine insuläre Flora ein.«e Warum Hr. K. in seinem Citat die oben hervor- gehobenen Eingangsworte des Satzes weggelassen hat, bleibt mir un- verständlich. Hätte er dieselben mit abdrucken lassen, würde nichts zu kritisieren gewesen sein. Auf Seite 490 kritisiert Hr. K. in Anlass der Entwaldung des Küstensaums folgende Behauptung, die mir zugeschrieben wird: »Mit Zunahme der atmosphärischen Feuchtigkeit schwindet der Wald.< Obwohl dieser Satz zwischen Anführungszeichen gesetzt ist, als sei er wörtlich mir entlehnt, findet sich doch ein so eigenartiger Aus- spruch nirgends in meinen Schriften. Er ist von Hrn. K. erfunden, und mir liegt keine Verpflichtung ob, ihn zu verteidigen. Ich habe nichts weiter gesagt, als dass klimatische Veränderungen möglicherweise das Ihre zur Ausrottung des Waldes längs der Küste gethan haben können, und habe mich mit grosser Vorsicht ausgesprochen. (Essay on Immigration p. 47—48.) Dass der grosse Holzverbrauch der Sennhütten (Säter) zum Sinken der Waldgrenze beigetragen hat, habe ich übrigens, wie ich glaube, lange vor SCHÜBELER ausgesprochen in meinem Buch »über die Vege- tationsverhältnisse am Sognefjord«, Christiania 1869, p. 33. Mein geehrter Herr Kritiker verwickelt sich ausserdem nicht selten in eigentümliche Widersprüche. So heisst es p. 452: »Die arktische Flora ist auch im grossen und ganzen nicht kontinental«e und p. 605: »Die grosse Wiege der arktisch-alpinen Pflanzen, so halten wir mit CHrist und GRISEBACH fest, sind die Berge und Thäler des Altai.« Nun glaube ich aber doch, dass eine Flora, deren rechte Heimat im Innern von Hochasien zu suchen ist, mit ziemlichem Recht als eine kontinentale charakterisiert werden darf. Hr. K. sagt weiter über die arktische Flora: >Sie ist an der Küste von Spitzbergen weit’ reicher und entwickelter, als im Innern, und Eis und Meeresströmung ist ihr Fahrzeug, ihre Trieb- kraft, um von Küste zu Küste zu wandern. GkiIsEBAcH hat diese That- sache so schön und ausführlich dargestellt.< Diese Äusserungen zeigen, dass Hr. K. sehr wenig von der Ausbreitung der Pflanzen auf Spitzbergen weiss. NATHORST, der die Flora Spitzbergens sehr genau studiert hat, erzählt ', dass die arktische Flora auf Spitzbergen die offene Meeresküste flieht und am reichsten an den inneren Enden der Fjorden sich entfaltet. Hieraus erhellt, dass derselben ein kontinentaler Charakter zukommt und dass dieselbe kaum auf Treibeis eingewandert sein kann, denn solchenfalls würde sie am reichsten sein in der Nähe des Meeres an den dem Treib- eis am meisten ausgesetzten Küsten. NArHorst nimmt demgemäss auch an, dass diese Flora über ein gesunkenes Land eingewandert ist. Und ! Studien über die Flora Spitzbergens (Engler’s Jahrb. IV, 4. p. 441). Kosmos 1884, I. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XIV). af 258 A. Blytt, Einige Bemerkungen u Cl. König’s „Untersuchungen für die: Thatsache, dass Dryas und einige andere arktische Pflanzen auf den Faröern wachsen, hat Drupz! eine vorzügliche Erklärung geliefert. Hätten diese Pflanzen, sagt er, mit zahlreichen Einwanderern zu kämpfen gehabt, so würden sie kaum sich erhalten haben. Auf dieser Inselgruppe war aber die Konkurrenz geringer. Von anderen Widersprüchen, deren Hr. K. sich schuldig macht, will ich nur noch folgenden nennen. p. 484 heisst es, dass die sechs Elemente, in welche ich die norwegischen Pflanzen geteilt habe, »gesucht und gekünstelt< sind; p. 486 heisst es dagegen: »>das Bild beweist aber, dass Bryrr mit Recht sechs Formationen unterscheidet,< und p. 491: »Vergleichen wir sie (es ist immer noch von jenen Elementen die Rede) mit der Karte der klimatischen Bezirke, so überrascht uns die wunder- bare Übereinstimmung. « Obwohl Hr. K. wirklich grossen Fleiss angewendet hat, und in der Benutzung der Litteratur nicht sparsam sich zeigt, willes mir doch be- dünken, dass er meine Arbeiten, die er nun einmal zum Gegenstand seiner Kritik gewählt, etwas gründlicher hätte benutzen und dieselben mit etwas grösserem Verständnis hätte lesen können. Es wäre vielleicht auch nicht ganz unzweckmässig gewesen, wenn er meine norwegische Flora eines Blickes gewürdigt hätte, eine Arbeit in 35 Bänden, welche vor einigen Jahren ans Licht getreten ist. Aus letzterem Buche würde er nämlich ersehen haben, dass es keineswegs mit der Wahrheit überein- stimmt, wenn er behauptet, dass jene sechs Elemente von mir erfunden sind, um vorausgefasste Theorien zu beweisen. Er sagt nämlich p. 575: »Nirgends baut Bryrr die Verbreitungsbezirke der einzelnen Arten, nicht einmal für Norwegen, auf. Die Flora Norwegens ist derart gedeutet, wie es die Theorie verlangt, und eine solche Flora ist ein testis suspeetus. « Nachdem ich manches Jahr hindurch die verschiedenen Gegenden Nor- wegens durchwandert und mit grosser Mühe alle mir zugänglichen Notizen über die Verbreitung der norwegischen Pflanzen gesammelt hatte, wobei die verschiedenen Herbarien und alle mir erreichbaren gedruckten und un- ungedruckten Quellen zu Rate gezogen wurden — erst da bin ich, bei der Ordnung dieses grossen Materials, durch die Zusammenstellung der vielen Tausende von Fundorten ganz naturgemäss darauf geführt worden, meine sechs Floraelemente aufzustellen; und erst nach Vollendung dieser Arbeit habe ich angefangen über die so ermittelten Thatsachen nach- zudenken und eine Theorie über dieselben aufzubauen. In dieser Weise bin ich zu meinen Anschauungen gelangt, und es macht daher auch keinen grossen Eindruck auf mich, dass Hr. K. diese Elemente unnatürlich findet. Boreale und subboreale Arten sind in Nor- wegen durch eine verschiedenartige Ausbreitung von einander getrennt, und das Gleiche ist der Fall mit der atlantischen und subatlantischen Flora. Dass diese Gruppen sich ausserhalb Norwegens nicht in der Art auseinander halten lassen, hat mit ihrer Verbreitung in Norwegen nichts zu schaffen. Der grösste Teil der Arten, welche in meinen Listen in Eneuer’s Jahrbüchern (Nachtrag) fehlen, gehört der subarktischen Flora an. ı Ausland 23. April 1883. über die Theorie der wechselnden kontinentalen und insularen Klimate“. 259 Hr. K. huldigt der alten Grisebachschen Ansicht, dass die Pflanzen- wanderung der Gegenwart zur Erklärung der Pflanzenverbreitung aus- reichend sei. Dies ist jedoch nichts weiter, als eine Behauptung, für welche weder G. noch K. einen Beweis geliefert haben. Dass die Pflanzen vom Klima der Gegenwart abhängig sind, beweist selbstverständlich keineswegs, wie Hr. K. zu meinen scheint, dass die wechselnden klima- tischen Verhältnisse der Vorzeit auf die gegenwärtige Verbreitung keinen Einfluss gehabt haben; eine derartige Nachwirkung des früheren Klimas ist vielmehr fast die notwendige Folge aus dem erstgenannten Er- fahrungssatze. Im Gegensatz zu der Grisebachschen Behauptung hat bereits FORBES gelehrt, dass die Begebenheiten der Vorzeit sich in der Fauna und Flora der Gegenwart abspiegeln. Dieser Theorie huldigen auch die bedeutendsten neueren Pflanzengeographen. Darwın bekannte sich zu derselben; ebenso HookEr, Asa GrAY, DE CANDOLLE, ENGLER, DRUDE, KERNER u. a. Hr. K. glaubt, dass die atlantische Flora unserer Westküste durch Meeresströme eingewandert sei. Dies meint er beweisen zu können durch Hinweis auf die bekannten Fälle, wo Samen einiger tropischer Pflanzen an unserer Küste angespült worden sind. Hat Hr. K. aber untersucht, ob die Samen aller unserer atlantischen Flora angehörigen Arten auch wirklich im Wasser schwimmen, was doch die unerlässliche Bedingung dafür ist, dass sie durch Meeresströmungen transportiert werden können? In alten Muschelbänken an der Christianiafjorde finden sich zahlreiche Reste solcher Seetiere, welche jetzt nicht mehr dort leben, sondern nur in süd- westlichen wärmeren Meeren. Auch die gleichzeitig gebildeten Torfmoore zeigen, dass die Küsteneiche /@Quercus sessiliflora) damals weit häufiger war, als jetzt. Diese beiden Umstände beweisen, dass nach der Eiszeit eine Zeit eingetreten, in welcher das Klima milder war, als gegenwärtig. Es lässt sich deshalb auch dagegen kein Zweifel erheben, dass die atlan- tische Flora in jener Zeit ebenfalls eine grössere Ausbreitung gehabt hat und dass dieselbe an der Christianiafjorde hat leben können. In letzterer Gegend finden sich denn auch immer noch einzelne zerstreute Reste jener Flora, gewissermassen als lebende Fossilien, welche das Gedächtnis jener entschwundenen Zeiten bewahrt haben. Wir haben demnach gute Gründe für die Annahme einer Einwanderung dieser atlan- tischen Flora durch das südliche Schweden, wo noch immer der grösste Teil derselben sich vorfindet, und um die Christianiafjorde herum, und jene K’sche Hypothese von einer Einwanderung derselben durch Meeres- strömungen erweist sich als durchaus überflüssig. Dasselbe lässt sich von der durch Hr. K. verfochtenen Grisebach- schen Anschauung in ihrer Gesamtheit sagen. Denn dass arktische Pflanzen einst viel häufiger gewesen sind, als in der Gegenwart, beweisen NarHorst’s schöne Funde von arktischen Pflanzenresten an vielen Orten in Süd-Schweden und Dänemark. Dieselbe Thatsache wird für die bo- realen Pflanzen durch die Torfmoore erhärtet. In letzteren findet man nämlich borale Arten, wie Corylus Avellana und Prunus avium an vielen Stellen, sogar in den Küstengegenden, wo dieselben jetzt fehlen. Wir 260 A. Blytt, Einige Bemerkungen zu Cl. König’s „Untersuchungen wissen also, dass alle diese Artgruppen, welche jetzt nur als versprengte Kolonien vorkommen, einst weit häufiger gewesen sind. Wir finden die- selben fossil in den Gegenden, welche die Kolonien von einander trennen. Die Hypothese der Hrn. G. und K., nach welcher die Kräfte der Gegen- wart ausreichen sollen, um den Samen von einer Kolonie zur andern zu tragen, ist demnach nicht allein überflüssig, sondern sogar unwahr- scheinlich, und kann nur als eine lose Behauptung gelten, für welche nicht der geringste Beweis angeführt wird. Meine Anschauung dagegen, nach welcher die Lücken in der Verbreitung den Veränderungen der klimatischen Verhältnisse ihre Entstehung verdanken, während die Kolo- nien als Asyle oder überlebende Reste der Vergangenheit anzusehen sind, lässt sich durch gute und gewichtige Gründe stützen. Hr. K. muss sich übrigens ziemlich sonderbare Vorstellungen über den Einfluss des Klimas auf die Ausbreitung der Pflanzen gebildet haben. Aus p. 491 seiner Kritik sehen wir, dass er sich überrascht fühlt durch »die wunderbare Übereinstimmung«, welche in der Gegenwart zwischen der Ausbreitung der Pflanzen und dem Klima der verschiedenen Gegenden stattfindet. Aus p. 584 erhellt dagegen, dass es nach seiner Meinung in alten Zeiten anders gewesen sein soll. Er sagt nämlich hier, dass nach der Eiszeit zuerst die Zwergweide und Zwergbirke eingewandert sind, danach die Espe und Betula odorata, dann die Kiefer, dann der Haselstrauch und endlich Prunus avium (an einem anderen Ort sagt er freilich, dass Prunus avium nicht wild wächst, sondern von Menschen eingeführt ist!) und schliesslich die Eiche, aber »dieser Wechsel ist nicht durch Veränderungen des Klimas, sondern aus ihrer Natur und aus dem Kampf ums Dasein zu erklären«e. Um einen so eigentümlichen Ausspruch zu stützen, beruft er sich auf Wıeswer und Coun. Ich fürchte, die ge- nannten Herren werden sich dafür bedanken, dass ihnen derartige Mein- ungen zugeschoben werden, und glaube vielmehr, dieselben werden mit mir darin einig sein, dass das Klima der Eiszeit strenger gewesen ist, als das der Gegenwart, dass die genannten Arten in der genannten Ord- nung eingewandert sind, je nachdem das Klima milder wurde, und dass die Wandelungen des Klimas im Verein mit dem Kampf u um das Dasein die dermalige Verbreitung bedingt haben. Es würde zu weit führen, wollte ich den vielen absonderlichen An- sichten nachgehen, welche Hr. K. an andern Stellen zum besten gibt. Was will es z. B. sagen, wenn er p. 605 ausspricht: »Norwegen war während der Eiszeit ein Bildungsherd ersten Ranges für blütenlose Pflanzen« ? Welches sind die endemischen Arten, welche damals bei uns sich bildeten? Ich würde Hrn. K. dankbar sein, wenn er mir eine Liste derselben zustellen wollte. p. 600 hält er sich darüber auf, dass die Arten einer und derselben Gattung oft zweien oder noch mehreren Flora- elementen angehören, und behauptet, dass dies gegen meine Einwanderungs- theorie spreche. Dieser Einwand ist mir durchaus unbegreiflich. Ebenso unfasslich ist mir die Äusserung auf p. 602: »Die jüngste Pflanzen- schöpfung ist in Norwegen die älteste und die älteste die jüngste« und p. 598: »die arktisch-alpine Flora repräsentiert das nervöse Element in der Pflanzenwelt. Sie ist die modernste aller Schöpfungen.« über die Theorie der wechselnden kontinentalen und insularen Klimate*. 261 Hr. K. gebärdet sich die ganze Zeit, als ob die Theorie der wechseln- den Klimate ausschliesslich auf die gegenwärtige Verbreitung der Pflanzen sich gründete. Die geologischen Gründe, welche für diese Anschauungen sprechen, übergeht er ganz mit Schweigen. Die Torfmoore fertigt er mit einer kühnen Bemerkung ab über den Dynastienwechsel im Walde, obwohl diese Dinge nichts miteinander zu schaffen haben; die Gründe aber, welche ich den Steenstrupschen und meinen eigenen Untersuchungen entnommen habe, erwähnt er gar nicht einmal, obwohl ich glauben möchte, dass dieselben recht gewichtig und nicht gerade leicht zu er- schüttern sind. So viel räumt Hr. K. indessen ein, dass die Entstehung der Muschelbänke, der Terrassen und der Strandlinien sich nach der Theorie recht natürlich und gleichsam von selbst erklärt. Er tröstet sich jedoch damit, dass ich kein »berufener Geologe« bin, und findet es nicht der Mühe wert, meine Ansichten zu prüfen. Soll ich meine Ansicht über Hrn. K’s Kritik in wenige Worte zusammenfassen, so sehe ich mich genötigt auszusprechen, dass Hr. K. trotz alles Fleisses seinen Beruf zum Kritiker nicht gerade in hervorragender Weise bewährt, jeden- falls nicht durch Gerechtigkeit und Billigkeit gegen den, dessen Arbeiten er zum Gegenstand eines Angriffs gewählt hat. Von meiner Theorie hat er nur ein Zerrbild gegeben und zwischen den Linien das gerade Gegenteil von dem herausgelesen, was mit klaren und deutlichen Worten auf denselben steht. Endlich hat er eine ganze Menge gar nicht zur Sache gehöriger Dinge miteingemischt. So finden wir z. B. Bemerkungen über die Ausdehnung des Kartoffelbaus und die Einführung dieser Frucht, über den Bergwerkbetrieb Norwegens und den Ausfuhrwert der verschie- denen Fischarten, nicht einmal der altnorwegische Aberglaube ist ver- gessen; auch fehlt es nicht an Anführungen von Bsörnson und andern Dichtern, ja sogar kurze Biographien einzelner dieser Männer haben neben so vielem andern Aufnahme gefunden. Dabei hat er durchaus keinen klaren Blick für den Unterschied zwischen wesentlichem und unwesent- lichem. Denn während er annimmt, dass die klimatischen Wechsel der Vorzeit, ja sogar die Eiszeit nicht mit in betracht gezogen werden dürfen, wenn man die Pflanzenverbreitung unserer Tage erklären will, macht er mir Vorwürfe darüber, dass ich beim Aufbau meiner Theorie über die Einwanderung der norwegischen Flora unter dem Wechsel der geologi- schen Perioden gar wichtige pflanzengeographische Faktoren ganz übersehen habe, z. B. >einzelne Männer« wie SCHÜBELER und GLÖRSEn, Kinder, die mit den Ähren des Wegerichs sich bekämpfen, ja sogar »entzweite Ehe- leute«, welche die Knollen von Orchis ins Bett legen, um zur Versöhnung zu gelangen. Ich schmeichle mir jedoch noch mit der Hoffnung, dass die ehelichen Zwistigkeiten in meinem Vaterlande nicht eine derartige Ausbreitung erlangt haben, dass man denselben eine geologische Be- deutung beilegen müsste. Ehe ich die Feder niederlege, will ich in füchtigen Zügen einen Über- blick über die Thatsachen geben, auf welche meine Theorie sich gründet, und anzudeuten versuchen, was die wahrscheinliche Ursache jener klima- tischen Wandelungen sein dürfte. Da dies jedoch nur in grösster Kürze 2652 A. Blytt, Einige Bemerkungen zu Cl. König’s „Untersuchungen geschehen kann, muss ich diejenigen, welche sich genauer mit meinen An- sichten bekannt machen möchten, auf die besonderen Abhandlungen ver- weisen, in welchen ich die Gründe, auf denen meine Anschauungen ruhen, ausführlicher entwickelt habe. Das milde Klima der Polarlande in der Vorzeit, das Eintreten der Eiszeit und ähnliche grosse Veränderungen des Klimas liegen ausserhalb des Bereichs der Thatsachen, mit deren Erklärung sich die Theorie be- fasst. Dieselbe behauptet aber folgendes: 1. Zu allen Zeiten ist das Klima periodischen Schwankungen unter- worfen gewesen, und die Dauer dieser Perioden rechnet nach Jahr- tausenden. 2. Die Änderungen, von welchen hier die Rede ist, hatten keinen besonders grossen Umfang; sie waren keine tiefgreifenden, vollzogen sich aber innerhalb grösserer klimatischer Provinzen in derselben Richtung, und sind demgemäss auch auf Ursachen von allgemeiner Wirkung zurück- zuführen. 3. Nach den Indizien, welche die Periode in den Torfmooren und an andern Orten hinterlassen hat, ist man zu der Annahme berechtigt, dass dieselbe nach Verlauf einer bestimmten Zeit einigermassen regel- mässig zurückkehrt. Die Theorie setzt dagegen nicht voraus, dass die klimatischen Änderungen auf der ganzen nördlichen (oder südlichen) Halb- kugel gleichzeitig die gleiche Richtung eingehalten haben. Dieselbe stützt sich auf eine ganze Reihe von einander unabhängiger Beobachtungen und Thatsachen, welche alle leicht und natürlich aus der- selben sich erklären lassen. Diese Thatsachen sind folgende: 1. Die Lücken in der Verbreitung sowohl der kontinentalen als der insularen Pflanzen. Jene Lücken sind so gross, dass dieselben sich kaum anders, als durch klimatische Änderungen erklären lassen, und die Er- klärung wird, wie oben erwähnt, durch fossile Pflanzen und Tierarten bestätigt". 2. Der Mangel endemischer Arten in Norwegen. Wenn unsere Flora, wie die Flora der ozeanischen Inseln, durch zufällige Transporte einzelner Samenkörner aus fernen Gegenden von Zeit zu Zeit eingewandert wäre, so würden wir erwarten müssen, viele endemische Arten in Nor- wegen anzutreffen, wie dies auf solchen ozeanischen Inseln der Fall ist. Die Einwanderung der norwegischen Flora scheint dagegen langsam sich vollzogen zu haben; die Arten sind gruppenweis gewandert, den Wandel- ungen des Klimas folgend, und immer in so grossen Mengen von Indi- viduen, dass die Kreuzung das Entstehen neuer Arten hinderte. 3. Die von der Eiszeit hinterlassenen Moränen des südlichen Nor- wegens ordnen sich (nach Kseruur’s Karten) in hinter einander gelegenen Reihen. Diese Moränenreihen erstrecken sich über grosse Teile des Landes und bezeichnen die Oszillationen im Rückzug des Eises. Diese ! cf. Essay on the Immigration of the Norwegian Flora during alternating rainy and dry Periods. Christ. 1876. Engler’s Jahrbücher II, 1—2: Die Theorie der wechselnden kontinentalen und insularen Klimate. über die Theorie der wechselnden kontinentalen und insularen Klimate“. 9263 Oszillationen lassen sich allein durch allgemeine periodische Änderungen des Klimas erklären. 4. Die ältesten norwegischen Torfmoore sind aufgebaut aus vier Torfschichten mit drei eingelagerten Schichten von Stammresten und Wur- zeln. Ebendieselben wechselnden Schichten (auch in gleicher Anzahl) findet man sowohl in Schweden, als in Dänemark. Ihr Auftreten ist dasjenige von geologischen Etagen die durch bestimmte Fossilien charakterisiert werden. Die Moore des südöstlichen Norwegens sind in unsern Tagen trockner, als sie in der nächsten Vorzeit gewesen sind, und da dies eine durchgehende Regel ist, lassen die Wechsel von Torf und Waldresten sich nicht durch lokale Änderungen der Feuchtigkeit erklären, denn wären lokale Ursachen hier bestimmend, so müssten ja doch auch manche Torf- moore jetzt sich feuchter zeigen, als früher. Die Bohrungen zeigen aber, dass dies nicht der Fall ist'. 5. Während des »Aufsteigens« des Landes bildeten sich an der Küste Muschelbänke, an den Flussmündungen Terrassen aus losem Material und im Innern der Fjorde im festen Fels ausgehöhlte Strandlinien. Diese Andeutungen älterer Meeresniveaus treten in Stufen auf, die man durch die Annahme von »Pausen« im Aufsteigen hat erklären wollen. Jene Stufen liegen aber selbst in benachbarten Gegenden in verschiedener Höhe und keine Erklärung dürfte besser alle Schwierigkeiten lösen, als die Theorie der klimatischen Wandelungen. Während des Aufsteigens waren die Verhältnisse der Bildung von Terrassen, Muschelbänken und Strandlinien bald günstig, bald ungünstig. Das Transportvermögen der Flüsse variierte, darum bilden die Terrassen eine Stufenreihe. Die Strand- linien können nicht durch die Brandung der Meereswellen gebildet sein, denn dieselben fehlen draussen am offenen Meer; ihre Entstehung während der stetigen Hebung des Landes haben wir vielmehr darauf zurückzuführen, dass die Kälte in den strengeren Wintern der kontinentalen Perioden stark genug war, um unter dem wechselnden Spiel von Ebbe und Flut durch das Sprengvermögen des Frostes hie und da im Innern der Fjorden eine Strandlinie in den Uferklippen auszuhöhlen. In solchen strengen Wintern bildete sich ebenfalls im Innern der Fjorden Eis, so dass die Muschelbänke während des Aufsteigens zerstört wurden °. 6. Durch alle geologischen Formationen hindurch läuft die Er- scheinung der Wechsellagerung von verschiedenen Sedimenten. Die Schichten sind zum grössten Teil in der Nähe des Landes abgelagert, so dass Änderungen in der Regenmenge und der von dieser abhängigen Grösse und Transportvermögen der Flüsse sich in der Beschaffenheit der- selben muss abspiegeln können. Der rasche Wechsel der Fossilien in einer zusammenhängenden Schichtenreihe von nur geringer Mächtigkeit beweist, dass dünne Schichten lange Zeiten repräsentieren. Auf einen durch eine bestimmte geologische Fauna oder Flora charakterisierten Horizont fallen in der Regel nur wenig Wechsellagerungen, ja jede Schicht hat häufig ihre eigenartigen Fossilien. Ich sehe deshalb in dieser Wechsel- ! s. Engler’s Jahrbücher 1. e. und Christ. Vidensk. Selsk. Forh. 1882, n. 6, wo die Detailuntersuchungen mitgeteilt werden. ® cf. Engler’s Jahrbücher |. ce. 264 A. Blytt, Einige Bemerkungen zu Cl. König’s „Untersuchungen lagerung eine Stütze für meine Theorie der wechselnden klimatischen Perioden. Dies ist doch in der That eine ganz hübsche Reihe von Thatsachen, welche die Theorie unter einen gemeinschaftlichen Gesichtspunkt zusammen- fasst, und ich muss gestehen, dass ich darum auch eine mildere Beur- teilung dieser Ansichten erwartet hätte. Schliesslich will ich noch einen kurzen Auszug aus einer Abhandlung geben, in welcher ich die wahrscheinliche Ursache der periodischen Änder- ungen in der Stärke der Meeresströmungen darzulegen versucht habe. Diese Abhandlung ist bisher nur norwegisch erschienen‘. In derselben suche ich zuerst darzuthun, dass es nicht der Voraus- setzung grosser Änderungen bedarf, um den Thatsachen, auf welche die Theorie gebaut ist, gerecht zu werden. Danach gehe ich dazu über, den natürlichen Grund dieser Perioden aufzusuchen. Die winterliche Abkühlung verursacht hohen Luftdruck über den Festlanden. Prof. Monn hat gezeigt, dass dieser hohe Luftdruck den wesentlichsten Grund abgibt für die Andauer des niedrigen Luftdrucks über den weniger abgekühlten Meeren. In den höheren Schichten der Atmosphäre strömt nun (wie HıLDEBRANDTsoN dies aus der Bewegung der Cirruswölkchen nachgewiesen hat) die Luft nach den abgekühlten Gegenden hin, um den durch den niedersteigenden Luftstrom entstehenden Verlust auszugleichen, und diese Luft kommt von den wärmeren Meeren her. Über den Meeren bilden sich demgemäss im Winter aufsteigende Luft- ströme. Der niedrige Luftdruck bei Island hält sich (wahrscheinlich infolge des Binnenlandeises und der Gletscher in Grönland und Island) auch den Sommer über, wenn gleich minder ausgeprägt, als während des Winters. Nach dem Buys-Ballotschen Gesetze bedingt dieser niedrige Luftdruck das Vorherrschen südwestlicher Winde im nordatlantischen Meere und im westlichen Europa die ganze Dauer des Jahres hindurch. Die Winde sind nun aber, wie ÜroLL und Zörprırz nachgewiesen haben, die eigentliche Triebkraft der Meeresströmungen. Der Hauptstrom folgt der Richtung des herrschenden Windes, und seine Stärke und Geschwindig- keit ist abhängig von der mittleren Geschwindigkeit der Oberfläche im letzten grossen Zeitabschnitt. Der warme nordatlantische Strom fliesst demgemäss in derselben Richtung, wie die herrschenden Südwestwinde, denen er seine Entstehung verdankt. Da dieser warme Meeresstrom ja aber als die Hauptursache für das milde Klima Westeuropas anerkannt wird, haben wir unzweifelhaft Recht es auszusprechen, dass die Abkühlung der grossen Kontinente eigentlich die Ursache ist, der wir unsere milden Winter verdanken. Wie bekannt rücken nun aber die Nachtgleichenpunkte stetig vor in der Art, dass dieselben in ungefähr 21000 Jahren einen vollen Um- ı cf. Über Wechsellagerung und deren mutmassliche Bedeutung für die Zeit- rechnung der Geologie und für die Lehre von der Veränderung der Arten, im Biologischen Centralblatt. 1883. ? Dieselbe wird aber demnächst im Biologischen Centralblatt veröffentlicht werden. über die Theorie der wechselnden kontinentalen und insularen Klimate“. 265 lauf beschreiben, und damit hängt eine Schwankung in der Dauer von Winter und Sommer auf jeder Halbkugel zusammen. In der einen Halb- periode von 10 500 Jahren ist der Winter bei uns kürzer als der Sommer (wie dies gegenwärtig der Fall), in der anderen Halbperiode ist er länger. Dieser Unterschied wächst mit der Zunahme der Erdbahnexzentrizität. In der gegenwärtigen Halbperiode beträgt der durchschnittliche Überschuss an Sommertagen auf der nördlichen Halbkugel ungefähr 5, so dass in den gesamten 10500 Jahren ungefähr 50 000 Tage mehr auf den Sommer, als auf den Winter fallen. Bei der grössten Exzentrizität steigt die jähr- liche Mitteldifferenz bis über 20 Tage, und die Anzahl der überschiessenden Tage in jeder Halbperiode bis auf beinahe 220 000 Tage (oder ungefähr 600 Jahre). Die Kräfte, welche die warmen Meeresströmungen in den mittel- warmen Meeresgebieten befördern, wirken im Winter am stärksten. Die mittlere Stärke der herrschenden Südwestwinde im nordatlantischen Ozean ist (nach noch nicht veröffentlichten, von Prof. Moux ausge- arbeiteten Karten über die Lage der Isobaren dieses Meeresteils in den verschiedenen Monaten) im Winter dreimal so gross als im Sommer. Auch auf der südlichen Halbkugel sind die Winde, welche das warme Wasser dem Pole zuführen (Nordwestwinde), im Winter am stärksten. In solcher Weise begünstigt der Winter diese Ströme und zwar sowohl, wenn er mit der Sonnennähe, als wenn er mit der Sonnenferne zu- sammentrifft. Da nun die Länge des Winters und Sommers im Lauf von 10500 Jahren schwanken, da ferner die Windstärke im Winter viel grösser ist, als im Sommer, und da endlich die Stärke der Meeresströmungen von der mittleren Windstärke im letzten grossen Zeitabschnitt abhängig ist, so kann es doch wohl nicht gleichgültig sein, ob jene Tausende von Tagen während einer 10 500jährigen Halbperiode als Überschuss auf den Winter oder auf den Sommer fallen. Es spricht alles dafür, dass die warmen Meeresströme zunehmen werden, wenn der Winter in die Sonnen- ferne fällt, und dass demgemäss das norwegische Klima in der Gegen- wart etwas strenger und trockener sein muss, als es in dem letzt- verlaufenen grösseren Zeitraum gewesen ist. Dies stimmt durchaus mit der Annahme der Theorie. In Gegenden mit andern Windverhältnissen, z. B. in Ostasien, Nord- Amerika u. s. w., wo während des Winters nordwestliche Winde und während des Sommers südöstliche und südwestliche Winde herrschen, werden die Winter in Sonnenferne die Mittelstärke der Nordwestwinde für die Halbperiode anwachsen lassen. Die klimatischen Schwankungen werden demgemäss wahrscheinlich dort gerade die entgegengesetzte Rich- tung annehmen, als bei uns, wo die Südwestwinde das ganze Jahr hin- durch das Übergewicht haben. Jedenfalls ist es einleuchtend, dass die periodischen Änderungen nicht überall auf derselben Halbkugel gleichzeitig dieselbe Richtung innehalten werden. ı Öroll gelangt zum entgegengesetzten Resultat. Seine Betrachtungen leiden jedoch nach meiner Meinung an wesentlichen Missverständnissen. 2366 A. Blytt, Einige Bemerkungen zu Cl. König’s „Untersuchungen“ etc. Berechnet man, mit Benutzung der meteorologischen Werte der Gegenwart, den Einfluss der verschiedenen Dauer der Jahreszeiten in den beiden Halbperioden, so kommt man zu dem Resultat, dass die Triebkraft desselben Meeresstromes während des Jahres sich um ein bis mehrere Prozent vergrössern wird, wenn der Winter in die Sonnen- ferne fällt. Könnte man bei der Berechnung auch den verschiedenen Abstand der Sonne mit in betracht ziehen, so würde der Unterschied wahrscheinlich noch grösser ausfallen, denn die Kontinente werden im Winter stärker abgekühlt und im Sommer stärker erwärmt, als die Meere. Die Trieb- kraft für die Bewegung der Luft wird daher in beiden Jahreszeiten haupt- sächlich von den Kontinenten geliefert, während die Meere eine mehr passive Rolle spielen. Wie ich in meiner Abhandlung nachzuweisen suche, muss dieser Umstand wahrscheinlich die Wirkung haben, dass die Verschiebung der Nachtgleichenlinie eine periodische Änderung des Klimas veranlasst, die gross genug ist, um die ganze Reihe von Thatsachen zu erklären, auf welche meine Theorie der wechselnden Klimate bezug nimmt. Die Schwere oder das Wirksamwerden der potentiellen Energie. Von Baron N. Dellingshausen. Einleitung. Als Ursache der Schwere wird gegenwärtig noch eine unvermittelt in die Ferne, sogar durch den leeren Raum wirkende Anziehungskraft vorausgesetzt. Da es jedoch in keiner Weise gelingen will, sich eine Vor- stellung von einer derartigen Kraft zu bilden, so haben sich viele Natur- forscher veranlasst gesehen, die Erklärung der Schwere auf einem anderen Wege zu versuchen. Selbst Nzwrox, obgleich der Begründer der At- traktionslehre, glaubte eine Zeitlang die Ursache der Gravitation in dem Weltäther entdecken zu können. Dasselbe Ziel verfolgten auch HuycHaens, LesaGEe und Eurer. Die Thätigkeit in dieser Beziehung ist aber erst in neuerer Zeit besonders rege geworden. In der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts allein finden wir eine Reihe namhafter Naturforscher, die sich mit dem vorliegenden Gegenstande beschäftigt haben. SPILLER, Fritsch, SCHRAMM, SECCHI, ZÖLLNER, THOMSON, TAIT, PRESTON, ISENKRAHE, ÄNDERSSOHN u. m. a. haben das Widersinnige einer unvermittelten An- ziehungskraft anerkannt und neue Gravitationstheorien aufgestellt. Leider sind aber alle Versuche, einen Ersatz für die Anziehungskraft zu finden, erfolglos geblieben; ihre grosse Zahl beweist nur, wie lebhaft das Be- dürfnis nach einer Erklärung der Schwere empfunden wird. Die Erfolglosigkeit der neueren Gravitationstheorien — die in meinem letzten Werke »Das Rätsel der Gravitation« entwickelte Theorie nicht ausgenommen — lässt sich bei allen auf einen und denselben Grund zurückführen. Die ebengenannten Naturforscher und ich ebenso- gut, wie alle übrigen, wir haben uns zwar eifrig bemüht, eine mecha- nische Erklärung für die unter dem Einflusse der Schwere vor sich gehenden Bewegungen zu finden. Dennoch ist die Frage nach dem Ur- sprunge der lebendigen Kraft bei den fallenden Körpern oder nach der Arbeitsfähigkeit der ponderabelen Körper bisher unerledigt geblieben. — Erst in der letzten Zeit ist mir die Lösung dieses bei den Erschein- ungen der Schwere unvermeidlichen Problems geglückt. 268 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden Wenn wir nämlich die gegenwärtige Entwickelung der Wissenschaft betrachten, wenn wir uns insbesondere mit den Grundsätzen der mecha- nischen Wärmetheorie genauer bekannt machen, so stellt sich heraus, dass sämtliche in der Natur vor sich gehenden Veränderungen sich als Übertragungen der Energie oder als Umwandlungen derselben aus einer Form in eine andere darstellen lassen. Dieser Satz gilt bei allen Natur- erscheinungen. Die lebendige Kraft, welche ein stossender Körper ver- liert, findet sich als lebendige Kraft oder als Wärme in dem gestossenen Körper wieder. Durch Arbeit können wir Wärme gewinnen und durch Wärme wieder Arbeit leisten; durch Arbeit bringen wir Elektrizität her- vor und die Elektrizität können wir in Licht, Wärme und Bewegung umwandeln; die Wärme, welche bei dem Verdampfen der Flüssigkeiten verschwindet, tritt bei der Kondensation der Dämpfe wieder auf; die bei der chemischen Vereinigung der Körper freiwerdende Wärme muss wieder angewendet werden, um die Bestandteile der Verbindung von einander zu trennen. So ist es in allen Fällen; stets sehen wir das Gesetz der Unvergänglichkeit der Energie und der äquivalenten Verwandlungen durchgeführt und überall dort, wo es uns gelingt, die Geltung dieses Gesetzes zu erkennen, beruhigt sich vorläufig unser Erkenntnisbedürfnis durch den Nachweis der Quelle, aus welcher die Energie der Er- scheinungen stammt. Dasselbe gilt auch von den Erscheinungen der Schwere, ein Umstand, welcher in allen modernen Gravitationstheorien nicht hinreichend berücksichtigt worden ist. Man hat sehr viel vom Ätherdruck, von dem Stosse der Ätheratome, ja sogar von Ätherspiralen geredet, dabei aber unterlassen, das Gesetz von der Äquivalenz. der Verwandlungen in Anwendung zu bringen. Die lebendige Kraft ist aber ein Teil der in der Welt vorhandenen Energie, die weder entstehen noch vergehen kann; kommt die Energie als lebendige Kraft an den fallenden Körpern zum Vorschein, so muss sie irgendwo anders in äqui- valenter Menge verschwinden. Es genügt daher nicht, nur nach einer Erklärung der unter dem Einflusse der Schwere stattfindenden Beweg- ungen zu suchen, denn ebenso mannigfaltig, wie die Veranlassungen zu einer Bewegung, en auch die darüber aufgestellten Hypothesen sein, ohne dass die eine einen höheren Wert hätte als die andere, — sondern die gestellte Aufgabe besteht vielmehr darin, einen Arbeitsvorrat zu entdecken, der an Energie ebensoviel verliert, als die fallenden Körper an lebendiger Kraft gewinnen. Dass es den modernen Ätherstosstheorien nicht gelingen kann, einen solchen Arbeitsvorrat nachzuweisen, ist leicht einzusehen. Nach diesen Theorien wird die Ursache der Schwere ausserhalb der Körper in dem Stosse der Ätheratome gesucht; die lebendige Kraft der fallenden Körper kann daher auch nur aus der Energie der Ätheratome her- stammen. Berechnen wir aber: einerseits die Energie welche die Äther- atome in einer bestimmten Zeit einem fallenden Körper abgeben können, anderseits: die lebendige Kraft, welche der Körper während derselben Zeit erlangt, so erhalten wir ganz verschiedene Werte. Es ist jeden- falls klar und deutlich und jeder Begründer einer Ätherstosstheorie wird es selbst zugeben müssen, dass das eine Ätheratom nicht mehr Energie der potentiellen Energie. 269 abgeben kann, als das andere — die später eintreffenden Ätheratome wegen der bereits vorhandenen Geschwindigkeit des fallenden Körpers eher weniger als mehr. Deshalb können auch die Atheratome wegen ihrer gleichmässigen Aufeinanderfolge in gleichen Zeitabschnitten nur gleiche Mengen von Energie auf einen fallenden Körper übertragen. Die lebendige Kraft eines fallenden Körpers ist aber be- kanntlich dem Quadrate der Geschwindigkeit proportional und daher bei einer gleichförmig beschleunigten Bewegung auch proportional dem Quadrate der seit Beginn der Bewegung verflossenen Zeit; sie kann daher nicht aus der Energie der Ätheratome herstammen, weil das Quadrat der Zeit nicht gleich ihrer ersten Potenz sein kann. Wo kommt dann die lebendige Kraft der fallenden Körper her? Da die Ätherstosstheorien keine andere Quelle der Energie kennen, als die Be- wegung der Ätheratome, so müsste die lebendige Kraft der fallenden Körper wenigstens teilweise aus nichts entstehen, ein Resultat, welches wohl genügt, um alle diese modernen Erklärungsversuche der Schwere zu widerlegen. Derselbe Widerspruch muss sich übrigens bei jeder Theorie wieder- finden, welche wie z. B. auch »die Theorie des Massendruckes< von ÄNDERSSOHN die Ursache der Schwere ausserhalb der Körper sucht. Die notwendigerweise als gleichmässig vorauszusetzende Einwirkung von aussen bedingt eine der Zeit proportionale Übertragung von Energie, während die lebendige Kraft der fallenden Körper dem Quadrate der Zeit proportional ist. Diese beiden Grössen können unter den ge- gebenen Bedingungen nicht äquivalent sein und daher auch nicht durch Übertragung oder Umwandlung in einander übergehen. Wir schliessen daraus: dass die wahre Ursache der Schwere oder die Quelle der lebendigen Kraft der fallenden Körper nurin diesen selbst enthalten sein kann. In vieler Beziehung ist die alte Lehre der Attraktionisten allen modernen Gravitationstheorien vorzuziehen. Nach ihr ist die lebendige Kraft eines fallenden Körpers das Äquivalent der zu seinem Emporheben verbrauchten Arbeit und diese als latenter Arbeitsvorrat oder als potentielle Energie in dem gehobenen Körper angehäuft. Auf diese Weise ist das Prinzip von der Erhaltung der Energie vollkommen gewahrt, und wenn auch die Attraktionslehre an die Stelle einer wirk- lichen Erklärung der Schwere nur ein leeres und inhaltloses Wort »An- ziehungskraft< zu setzen hat, so macht sie sich doch keiner Verstösse gegen die exakte Wissenschaft und die Mechanik schuldig. Allerdings ist der Ausdruck »potentielle Energie« für den Augenblick auch nur ein Wort, welches zwar einen latenten Arbeitsvorrat bedeutet, selbst aber noch einer Erklärung bedarf. Diese Erklärung kann die Attraktionslehre nicht geben, weil sie die Schwere, welche beim Heben eines Körpers zu überwinden ist und beim Niedersinken desselben Arbeit leistet, einer für uns völlig unbegreiflichen Anziehungskraft zuschreibt, deren Voraus- setzung nicht geeignet ist, Aufschluss darüber zu erteilen, auf welche Weise ein Arbeitsvorrat in einem Körper angehäuft sein kann. Es fehlt 270 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden daher der Wissenschaft die Erkenntnis dessen, was man unter potentieller Energie zu verstehen hat. Diese Lücke auszufüllen ist stets das Bestreben meiner wissen- schaftlichen Arbeiten gewesen. Ich bin dadurch zu der Aufstellung einer kinetischen Naturlehre geführt worden, welche von der alleinigen Thatsache der Bewegung ausgehend ohne Voraussetzung von Kräften neben der kinetischen auch eine potentielle Energie in den Körpern anerkennt und sich daher in voller Übereinstimmung mit den bewährten Lehren der Mechanik befindet. Als Nachweis dieser Be- hauptung und als Vorbereitung zu der darauf folgenden Gravitations- theorie möchte ich die Grundsätze, auf welchen die kinetische Natur- lehre aufgebaut ist, hier aus meinen früheren Werken, »Grundzüge einer Vibrationstheorie der Natur«, »die rationellen Formen der Chemie«, »das Rätsel der Gravitation«, in aller Kürze wiederholen. 10 Die kinetische Naturlehre. »Die einzige sichere Quelle unserer Erkenntnis ist die Erfahrung, die Beobachtung, das Experiment.« Dieser Satz der empirischen Natur- forschung dient auch der kinetischen Naturlehre als Richtschnur, mit dem Unterschiede jedoch, dass, während erstere sich darauf beschränkt, die wahrgenommenen Thatsachen zu sammeln und zu ordnen, letztere es sich zur Aufgabe macht, die Bedeutung und den Zusammenhang der Erscheinungen zu erkennen. Die kinetische Naturlehre enthält sich dabei jeder Hypothese und entwickelt sich allein auf Grundlage der That- sachen oder solcher Resultate der Wissenschaft, welche durch ihre Zu- verlässigkeit den Wert einer Thatsache erlangt haben. Die erste uns entgegentretende und alle übrigen umfassende That- sache ist die Wahrnehmung einer Welterscheinung. Sie entsteht durch unsere sinnlichen Empfindungen, die jedoch als subjektive nicht erkennen lassen, auf welche Weise sie hervorgerufen werden. Erst durch die Wissenschaft werden wir in die Lage versetzt, die Kluft zwischen un- seren Sinnen und den Objekten der Wahrnehmung, den Körpern, zu überbrücken und zu erkennen, dass alle unsere Empfindungen nur Wir- kungen von Bewegungen sind. In der That, untersuchen wir in dieser Beziehung unsere fünf Sinne, so belehrt uns die Wissenschaft, dass das Sehen und Hören durch periodische Bewegungen hervorgerufen werden, welche durch ihre Einwirkungen auf unser Auge und unser Ohr als Licht und Schall er- scheinen. Das Tasten ist ein Druck, den wir ausüben, oder ein Widerstand, den wir empfinden, d. h. zwei Bewegungen, die sich gegenseitig aufheben. Die Empfindung von Wärme und Kälte ist nur eine Zufuhr oder Ableitung von Wärmevibrationen an der Oberfläche unseres Körpers. Das Schmecken und Riechen sind Empfindungen, welche bei direkter Berührung der entsprechenden Sinne mit gewissen Stoffen oder ihren Emanationen entstehen und auch sie werden unzweifel- haft durch Bewegungen bewirkt. Mit einem Worte, wir erhalten durch der potentiellen Energie. 271 unsere Empfindungen nur die Kenntnis von Bewegungen, deren Ein- wirkungen auf unsere Sinne auf einem für uns noch unbekannten Wege zu unserem Bewusstsein gelangen und uns dann das Bild einer Welt- erscheinung vorspiegeln. Dabei ist vor allem zu berücksichtigen, dass die Wahrnehmung einer Welterscheinung nur durch die Verschiedenheit unserer Empfindungen zustande kommt. Bei völliger Unterschiedslosigkeit wäre jede Unter- scheidung und somit auch jedes Erkennen von Gegenständen unmöglich. Schon HEsEL sagt: >Im reinen Lichte sieht man nichts — ebensowenig als in der reinen Finsternis.< Die Welterscheinung ist daher nur eine Wahrnehmung von Verschiedenheiten. Indem wir aber die verschiedenen wahrgenommenen Gegenstände nebeneinander und die an denselben vorsich- gehenden Veränderungen nacheinander erkennen, erhalten wir die Vor- stellung des Raumes und der Zeit. Wir werden dadurch in die Lage versetzt, die auf uns einwirkenden Bewegungen, z. B. die Lichtwellen, auf ihrer Bahn rückwärts zu verfolgen, und gelangen so zu ihren Ausgangs- orten — den Körpern. Indem wir die Entfernungen der Körper von einander messen, können wir ihre gegenseitige Lage, sowie den von ihnen eingenommenen Raum oder ihr Volumen bestimmen. Aus der Verschieden- heit unserer Empfindungen schliessen wir auf eine Verschiedenheit der auf uns einwirkenden Bewegungen, und aus der Verschiedenheit dieser auf die Verschiedenheit der Körper, von welchen sie ausgehen. Auf diese Weise wird die für uns nur subjektive Welterscheinung zu einer äusseren objektiven Welt. Wir können jedoch an der Hand der Wissenschaft auch in das Innere der Körper, d. h. in den von ihnen eingenommenen Raum ein- dringen. Wenn schon die Ausstrahlung der Licht- und Wärmewellen zu der Ansicht geführt hat, dass derartige Bewegungen von ähnlichen Be- wegungen in den Körpern ausgehen, so hat der durch die mechanische Wärmetheorie gelieferte Nachweis von der Äquivalenz von Wärme und Arbeit diese Voraussetzung zu einer unzweifelhaften Gewissheit erhoben und wir erkennen jetzt, auf die Wissenschaft gestützt, dass die Körper nicht bloss Wellen ausstrahlen, dass sie nicht allein die ausgedehnten Ausgangsorte von Bewegungen sind, sondern dass sie auch in ihrem Innern sich in einem beständigen Bewegungszustande befinden. Die Veränderungen, welche in unseren sinnlichen Wahrnehmungen eintreten, beziehen wir auf Veränderungen, welche in den Körpern vor sich gehen, und bezeichnen sie dann vorzugsweise als Naturerschein- ungen. Sie sind entweder bloss Veränderungen der relativen Lage der Körper, d. h. äussere Bewegungen derselben, oder sie treten an den Körpern selbst hervor. Alle diese Veränderungen lassen sich aber nach den Resultaten der neueren Wissenschaft als Umwandlungen oder Über- tragungen der Bewegung darstellen, welche als Ortsveränderung, Schall, Licht, Wärme, Elektrizität, Magnetismus u. s. w. nur die Form wechselt, unter welcher sie in der Erscheinung auftritt. Mit einem Worte, alle Naturerscheinungen sind nur Veränderungen der Bewegungen, die durch ihr buntes und wechselvolles Spiel die uns umringende Welt hervor- bringen. 279 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden Die Verschiedenheit der Einwirkungen, welche die Körper auf unsere Sinne und unter einander ausüben oder auch erleiden, bezeichnen wir als ihre Qualität, wobei jedoch nicht zu übersehen ist, dass diese qualitativen Verschiedenheiten immer nur in den äusseren Wirkungen auftreten, während ihnen in der That nur quantitative Verschiedenheiten der Bewegungen entsprechen. So ist das Licht nur für das sehende Auge da, ausser ihm gibt es nur Schwingungen von verschiedener Dauer und Amplitude, die qualitativ als Farbe, quantitativ als Intensität des Lichtes erscheinen; die Höhe und Tiefe der Töne empfindet nur das hörende Ohr, in Wirklichkeit entsprechen dem Schalle nur Luftwellen von verschiedener Länge; Wärme und Kälte sind nur subjektive Empfind- ungen, die durch stärkere und schwächere Schwingungen hervorgerufen werden. Überhaupt existiert die Welterscheinung nur für das wahr- nehmende Subjekt, objektiv gibt es nur Bewegungen, die zwar quanti- tativ von einander verschieden sein können, aber an sich weder hell noch dunkel, weder warm noch kalt, weder süss noch sauer u. s. w. sind. Alle unsere Wahrnehmungen, Erfahrungen und Beobachtungen führen uns somit zu der Anerkennung einer einzigen Thatsache — der Bewegung, welche uns aus allen Naturerscheinungen entgegentritt. Was ist aber das Bewegte in den Körpern? Weil wir nur die Wirkungen der Bewegungen auf unsere Sinne empfinden, bleibt das Bewegte selbst für unsere Wahrnehmung unerreichbar. Wenn wir ein solches dennoch anerkennen, so geschieht es nur deshalb, weil wir bei den äusseren Be- wegungen der Körper stets einen bewegten Gegenstand erblicken und daraus schliessen, dass zu ihren inneren Bewegungen auch ein Bewegtes gehöre. Das Bewegte in den Körpern nennen wir Materie. Von dem aber, was die Materie an sich ist, wissen wir absolut nichts. Alle Spe- kulationen der Philosophen und alle Untersuchungen der Naturforscher sind in dieser Beziehung resultatlos geblieben und keinem ist es noch bis jetzt gelungen, das Wesen der Dinge zu erforschen. Deshalb sagt auch Kant: »Was die Dinge an sich sein mögen, weiss ich nicht und brauche es auch nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding anders, als in der Erscheinung vorkommen kann.<« Das Wesen der Materie ist aber nicht allein bis jetzt für uns ver- schlossen geblieben, sondern es lässt sich auch nachweisen, dass die Erkenntnis desselben überhaupt nicht möglich ist; auf empirischem Wege nicht, weil wir immer nur die Wirkungen der Bewegungen empfinden, nicht aber das Bewegte wahrnehmen, und ebensowenig auf spekulativem Wege, weil jeder Versuch, über die Erscheinungswelt hinauszugehen, zu unauflösbaren Widersprüchen führt. Die Aufgabe, das Wesen der Materie oder das »Ding an sich« zu erkennen, schliesst die Forderung in sich, ein Etwas zu entdecken, das als Einheit allen Naturerscheinungen zu Grunde liege und keines der äusseren Merkmale an sich trage, wie sie an den einzelnen Objekten wahrgenommen werden; es soll ein Absolutes sein, das frei von allen anderweitigen Bestimmungen nur sich selbst allein voraussetze. Ein solches Etwas müsste aber, wegen seiner Bestimmungslosigkeit, zugleich unbegrenzt, unendlich, unentstanden, unvergänglich,unterschiedslos, unveränderlich u.s.w., der potentiellen Energie. 273 schliesslich noch das an sich Unbewegte sein, da es erst durch die Be- wegung zu einem Bewegten wird. Vergebens suchen wir aber nach einem Etwas, welches den gestellten Bedingungen entspräche. Alle obigen Bestimmungen sind rein negativ; sie gelten daher ebensogut für das absolute Nichts, wie für das absolute Etwas. Das Etwas wird durch sie nicht bestimmt und das Wesen der Materie nicht ermittelt. Indem wir nach einem realen Etwas suchen, das allen Körpern zu Grunde liegen soll, gelangen wir zu dem reinen Sein, zu einem Etwas, das mit dem Nichts identisch ist. Das ist ein Widerspruch, auf den man stets bei dem Forschen nach dem Wesen der Dinge trifft und der jede weitere Erkenntnis unmöglich macht. Auch die Bestimmungen der Ausdehnung und Dauer, welche wir als wesentliche Merkmale dem Etwas beizulegen pflegen, genügen nicht, um eine Unterscheidung zwischen dem Etwas und dem Nichts zu begründen, weil der leere Raum und die leere Zeit aus dem Nichts nicht ausgeschlossen sind. Die einzige Unterscheidung zwi- schen dem Etwas und dem Nichts beruht daher in unserer Vorstellung, indem wir dem Etwas einen Inhalt zuschreiben, bei dem Nichts aber da- von abstrahieren. Dieser Inhalt selbst bleibt aber, als sich selbst wider- sprechend, für uns auf immer verschlossen. Das Wesen der Dinge er- forschen zu wollen, ist daher ebenso ungereimt, wie die Versuche, den Stein der Weisen zu entdecken, die Quadratur des Kreises zu finden oder ein Perpetuum mobile zu konstruieren. Zum Glück für uns bedürfen wir als Naturforscher der Kenntnis von dem Wesen der Materie nicht. Unsere Aufgabe besteht darin, die Einheit und den Zusammenhang der Erscheinungen zu erkennen, nicht aber über das »Ding an sich« zu spekulieren. Da alle Naturerschein- ungen nur auf Bewegungen beruhen, so finden sie auch alle ihre Erklärung durch Bewegung und wir können daher nach dem Ausspruche KIRCHHOFF’s uns darauf beschränken: »Die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen auf die einfachste und vollständigste Weise zu beschreiben. « Die Materie ist somit für uns nur das allgemeine, allen Körpern zu Grunde liegende Substrat, welches wir zwar als das Bewegte voraus- setzen können, über welches wir aber, ohne die Grenzen unserer Er- kenntnis zu überschreiten, keine Bestimmungen treffen dürfen. Von der Materie darf nur das ausgesagt werden, was von ihr nicht gelten soll. Deshalb werden wir dieselbe auch nicht als aus Atomen oder Molekülen zusammengesetzt voraussetzen, denn das hiesse doch nur gleich von An- fang an willkürliche und unbegründete Hypothesen in die Naturlehre ein- führen, die ausserdem noch völlig zwecklos sind, da es der Atomistik trotz ihres dreitausendjährigen Bestehens noch nicht gelungen ist, irgend eine Naturerscheinung auf genügende Weise zu erklären, und man noch immer gezwungen ist, die gesuchten Ursachen zuerst in die Atome hinein- zulegen. Im Gegensatz zu der Atomistik entsteht nun allerdings in der kinetischen Naturlehre die Vorstellung von einer kontinuierlichen Ma- terie; doch ist diese Vorstellung keine positive Bestimmung, sondern nur eine Negation willkürlich gesetzter Grenzen. Die Kontinuität der Materie ist zu der Weiterentwickelung der kinetischen Naturlehre nicht erforderlich ; sie ist nur eine erschwerende Bedingung, welche die Forderung Kosmos 1884, I. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XIV), 18 974 IN: Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden in sich enthält, keine Voraussetzung zuzulassen, die mit ihr im Wider- spruche wäre. Ebensowenig werden wir aber auch die Materie als ver- schiedenartig, veränderlich, oder gar als ponderabel voraussetzen, denn solche Behauptungen wären positive Bestimmungen, zu welchen die kine- tische Naturlehre sich nicht für berechtigt hält. Dagegen bezeichnet sie die Materie oder das allgemeine Substrat der Körper als unter- schiedslos, unveränderlich und imponderabel, und zwar aus dem Grunde, weil die Verschiedenheit und Veränderlichkeit der Körper, sowie ihre Schwere, nicht vorausgesetzt werden dürfen, sondern erklärt werden sollen. Übrigens werden wir von nun an, ebenso wie die Materie bei allen Wechselwirkungen der Körper sich als vollständig teilnahmslos und indifferent erweist, sie auch völlig unberücksichtigt lassen und in der Thatsache der Bewegung allein nach der Ursache der Naturerschein- ungen suchen. Und in der That gewährt uns die Bewegung einen vollständigen Ersatz für die uns mangelnde Kenntnis von dem Wesen der Materie. Wie sie für den empirischen Naturforscher die erste und unzweifelhafteste Thatsache ist, so bietet sie auch dem Metaphysiker die Möglichkeit eines absoluten Anfangs für seine Spekulationen. Raum und Zeit sind uns a priori als die notwendigen Beding- ungen der Möglichkeit eines Seins gegeben. Mit dem Raume und der Zeit erhalten wir zugleich ihr Verhältnis, die Geschwindigkeit, d. h. bestimmte Bewegung. Die Bewegungen können aber verschieden sein. — Mit der Verschiedenheit tritt die Möglichkeit der Unterscheidung ein und aus der Unterscheidung geht die Wahrnehmung einer Welterschein- ung hervor, die nichts anderes als die Gesamtheit aller Bewegungen ist. Durch die Bewegung erhalten wir zugleich die Brücke, die den Philosophen von jeher zu dem Übergange von der Einheit zu der Vielheit fehlte. Als das Verhältnis von Raum und Zeit ist die Beweg- ung die Einheit, nach welcher unser Erkenntnisbedürfnis strebt; durch die Verschiedenheit und Veränderlichkeit ihrer Geschwindigkeit, Zusammen- setzung, Richtung u. s. w. ist die Bewegung zugleich die Vielheit, welche uns in den Naturerscheinungen entgegentritt. Auf diese Weise lässt sich aus den Einheiten des Raumes und der Zeit mit Hilfe der Bewegung auch ohne Kenntnis der Materie auf rein deduktivem Wege die Welterscheinung konstruieren und zugleich der Philosophie und der empirischen Naturwissenschaft genügen. Zu einem deduktiven Aufbau der Welterscheinung wäre vor allem, weil alle Naturerscheinungen, welche an den Körpern beobachtet werden, durch Bewegungen bedingt sind, die Kenntnis ihrer Art und ihrer Form erforderlich. Die inneren Bewegungen lassen sich aber weder direkt be- obachten, noch hypothetisch erraten und wir sind daher gezwungen, zuerst induktiv zu verfahren und, von den an den Körpern beobachteten Erscheinungen ausgehend, auf ihren inneren Bewegungszustand zu schliessen. — Ohne Mathematik lässt sich zwar in dieser Beziehung nur wenig leisten, doch auch das Wenige, was wir mit blossen Worten aus- sagen können, genügt, um sich eine Vorstellung von dem Zusammenhange der potentiellen Energie. 275 der verschiedenartigsten Naturerscheinungen zu bilden, da es sich dabei weniger um die Formen der Bewegung als vielmehr um die Umwandlung und Übertragung ihrer Energie handelt. Aus den Erscheinungen des Lichtes und der strahlenden Wärme, welche sich als periodische, wellenförmige, von den Körpern ausgehende Bewegungen, erwiesen haben, können wir mit völliger Sicherheit schliessen, dass auch die inneren Bewegungen der Körper ähnliche periodische Be- wegungen, d. h. Schwingungen sind, die ebenfalls durch Wellen weiter fortgepflanzt werden. Bei der Fortpflanzung der Wellen kann aber nach dem bekannten Huyghensschen Prinzipe jeder Punkt als der Ausgangs- punkt besonderer elementarer Wellen betrachtet werden, die sich zu resultierenden Wellen vereinigen und sich dabei nach allen Seiten aus- breiten. Indem wir das Huyghenssche Prinzip auch für die inneren Bewegungen als gültig anerkennen, entsteht in der kinetischen Natur- lehre die Vorstellung, dass im Inneren der Körper jeder Punkt, durch die von ihm ausgehenden Wellen, die Bewegungen aller übrigen Punkte beeinflusse, zugleich aber sich unter dem Einflusse der von den übrigen Punkten ausgehenden Bewegungen befinde, wodurch bei einer voll- kommenen Gegenseitigkeit der Wechselwirkungen die Unvergänglichkeit der Bewegungen begründet wird. Die Bahn, welche jeder Punkt dabei beschreibt, ist notwendigerweise die Resultierende aller ihm in jedem Augenblicke durch Wellen mitgeteilten Bewegungen, wobei sich leicht erkennen lässt, dass diese Bahn bei einem relativ ruhenden Körper, d. h. auf ein mit ihm fest verbundenes Koordinatensystem bezogen, nur eine geschlossene Kurve sein kann, weil jeder Punkt nach einem Um- schwunge genau wieder an seinen früheren Ort zurückkehren muss. Die inneren Bewegungen der ruhenden Körper sind demnach Rotationen, die auch innerhalb eines kontinuierlichen Mittels sich als die allein mög- lichen Bewegungen erweisen, aus den elementaren Schwingungen zu- sammengesetzt werden können oder, auf die Koordinatenebenen projiziert, sich in Schwingungen zerlegen lassen, deren Wirkungen wir als die Er- scheinungen des Lichtes und der Wärme beobachten. Berücksichtigen wir jedoch, dass wir keinen Körper in absoluter Ruhe kennen, sondern dass jeder von ihnen schon wegen des Umschwunges der Weltkörper um einander an verschiedenen Bewegungen teilzunehmen hat, so stellt sich heraus, dass streng genommen in keinem Körper für die einzelnen Punkte geschlossene Bahnen angenommen werden dürfen. Es kommt nur darauf an, welches Koordinatensystem wir unseren Betrachtungen zu Grunde legen. Die Bahnen, welche in bezug auf ein mit den Körpern fest verbundenes Koordinatensystem geschlossen sind, werden stets in bezug auf ein in dem Raume feststehendes Koordinatensystem als offene Kurven erscheinen. Im letzteren Falle setzt sich die Bewegung jedes einzelnen Punktes zum mindesten aus zwei verschiedenen Bewegungen zusammen, nämlich nicht allein aus den inneren Rotationen des Körpers, welche in bezug auf diesen immer als geschlossen zu betrachten sind, sondern auch aus der translatorischen. Bewegung, welche sich als die Ortsveränderung des Körpers im Raume äussert. Aus der Vereinigung der rotierenden und translatorischen Bewegungen eines Punktes resultieren aber, wie 276 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden leicht ersichtlich und wie solches bereits aus der Mechanik bekannt ist, schraubenförmige Kurven, welche uns somit die wahren Formen der Bahnen für die Bewegungen der Punkte im Raume darstellen. Das Vorangehende genügt, um dem Leser eine Vorstellung von dem inneren Bewegungszustande der Körper zu geben. Jeder Punkt beschreibt seine eigene Bahn und niemals dürfen die Koordinaten zweier Punkte, auch wenn diese beliebig nahe aneinander liegen, für einen bestimmten Zeitmoment gleich werden. Die Punkte schliessen sich da- her gegenseitig aus und begründen dadurch einen Zustand, den man bisher als die Undurchdringlichkeit der Materie bezeichnet hat, der aber allein auf der Harmonie der inneren Bewegungen beruht; keine Elastizität oder sonstigen Kräfte treiben im Inneren der Körper ihr geheimnisvolles Spiel, sondern jeder Punkt schiebt und wird geschoben und bewegt sich dorthin, wo ihm die übrigen Punkte durch ihre Be- wegungen Platz dazu lassen; kein Beharrungsvermögen ist er- forderlich, um diese Bewegungen aufrecht zu erhalten, sondern ihre un- unterbrochene Fortdauer beruht auf der vollkommenen Gegenseitigkeit aller Wechselwirkungen, wodurch ein einzelner Punkt nicht plötzlich stille stehen kann, während alle übrigen Punkte ihre Bewegungen fortsetzen. Die inneren Bewegungen der Körper sind die letzten mechanischen Ursachen, welche allen Naturerscheinungen zu Grunde liegen, zugleich die erste Thatsache, von welcher die Naturlehre auszugehen hat. Keine Er- scheinung, von der geringsten Volumenänderung an bis zur Gravitation der Weltkörper darf als erklärt betrachtet werden, bevor sie nicht auf diese Bewegungen zurückgeführt ist; sie selbst aber bedürfen keiner weiteren Erklärung mehr, sondern können nur noch beschrieben werden, weil an den einzelnen Punkten überhaupt nichts mehr zu erklären übrig bleibt; durch ihre ununterbrochene Aufeinanderfolge sind die Bewegungen zugleich die Wirkung der vorangehenden und die Ursache der nachfolgenden Bewegungen und so von Ewigkeit zu Ewigkeit. Die inneren Bewegungen der Körper tragen daher ihre Ursache in sich selbst und es liegt keine Veranlassung vor, nach einer weiteren Erklärung zu suchen, wodurch unserem Kausalitätsbedürfnisse vollkommen genügt wird. Nach dem Vorhergehenden lassen sich die Grundlagen der kinetischen Natur- lehre in folgender Weise kurz zusammenfassen. Vor allem enthält sich die kinetische Naturlehre jeder Voraussetzung über das allgemeine Substrat oder das Bewegte in den Körpern und beschränkt sich darauf wegen der Bestimmungslosigkeit, in welcher sie die Materie lässt, diese als unbegrenzt (kontinuierlich), unterschiedslos, unveränderlich und imponderabel zu bezeichnen. Die Erfahrungsthatsache der Bewegung ist demnach der einzige Ausgangspunkt der kinetischen Naturlehre. Indem sie die Bewegung jedes einzelnen Punktes als die Resultierende aller ihm in jedem Augen- blicke von den übrigen. Punkten mitgeteilten Bewegungen betrachtet, wird in ihr wegen der vollkommenen Gegenseitigkeit der Wechsel- wirkungen zwischen allen Punkten die Unvergänglichkeit der Bewegungen und ihrer Energie begründet. Die Richtung, in welcher ein Punkt sich bewegt, wird durch die der potentiellen Energie. PACHT auf ihn einwirkenden Wellen bestimmt. Weil aber diese in verschiedenen Momenten mit verschiedenen Phasen zusammentreffen, so ist die Be- wegungsrichtung jedes Punktes mit der Zeit veränderlich, d. h. jeder Punkt erleidet unter dem Einflusse der ihn erreichenden Wellen gleich- zeitig eine Drehung und eine Verschiebung oder er beschreibt eine schraubenförmige Linie, wie solches bereits aus der Mechanik bekannt ist und wir es auch induktiv aus den Erscheinungen abgeleitet haben. Befindet sich ein Körper in einem stationären Zustande, d. h. ist er beständig gleichen Wirkungen von aussen ausgesetzt und übt er auch gleiche Wirkungen nach aussen aus, so ist die Energie seiner inneren Bewegungen konstant und ebenso bleibt die Form der schraubenförmigen Bahnen, auf welchen seine Punkte sich im Raume bewegen, unverändert. Die obigen Sätze bilden die Grundlage der reinen kinetischen Naturlehre, sie sind hypothesenfrei, weil sie keine Voraussetzung #ber das Bewegte in den Körpern in sich enthalten und allein die gegebene Thatsache der Bewegung anerkennen. Trotz ihrer Einfachheit und ihrer Kürze sind sie dennoch genügend, um von ihnen aus zu einer Erklärung sämtlicher Naturerscheinungen zu gelangen. In der That, wenn wir die aus der Mechanik und aus den bekannten Wellenerscheinungen sich er- gebenden Gesetze auf die inneren Bewegungen der Körper anwenden, so gelangen wir zu Schlussfolgerungen, welche in jeder Beziehung der Wirklichkeit entsprechen. So finden wir zunächst, dass die schrauben- förmigen Bewegungen der Punkte im Raume sich in translatorische und rotierende Bewegungen zerlegen lassen; diesem entsprechend beobachten wir auch an den Körpern eine äussere Bewegung und gewisse spezifische Eigenschaften, durch welche sie sich von einander unterscheiden. Die äussere Bewegung eines Körpers ist nur eine Folge der translatorischen Komponente der Bewegung seiner Punkte, welche diese durch die ge- meinsame Einwirkung der sie erreichenden Wellen erhalten, wobei es selbstverständlich ist, dass bei einem Körper, der sich in gerader Richtung bewegt, diese Komponente für alle Punkte gleich sein muss. Die spezi- fischen Eigenschaften der Körper werden dagegen durch ihre inneren Be- wegungen bedingt, womit wir uns zunächst ausschliesslich beschäftigen wollen. Zu diesem Zweck setzen wir die Körper als ruhend voraus, d. h. wir beziehen ihre inneren Bewegungen auf ein mit ihnen selbst fest verbundenes Koordinatensystem. Die Bahnen der Punkte im Innern der Körper sind dann geschlossene Kurven, d. h. die inneren Bewegungen sind Rotationen, die, auf die Koordinatenachsen projiziert, sich in Schwing- ungen zerlegen lassen. Die Schwingungen werden durch Wellen weiter fortgepflanzt und dadurch nicht allein die Wechselwirkungen zwischen den Teilen eines Körpers, sondern auch zwischen den Körpern selbst vermittelt. Wenn aber nach dem Huyghensschen Prinzipe jeder Punkt bei der Fortpflanzung der Wellen als Ausgangspunkt besonderer elemen- tarer, nach allen Richtungen fortschreitenden Wellen betrachtet werden kann, so müssen diese Wellen im Innern der Körper bei ihrer allseitigen Ausbreitung notwendigerweise auch in entgegengesetzter Richtung auf- einandertreffen. Die Folge eines solchen Zusammentreffens in entgegen- gesetzter Richtung von fortschreitenden Wellen, welche wir innerhalb 278 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden t eines homogenen Körpers von gleicher Länge und gleicher Schwingungs- dauer vorauszusetzen haben, ist aber bekanntlich ihre Umwandlung in stehende Wellen, ein Vorgang, den wir häufig an den Wasserwellen, den Luftwellen in den Orgelpfeifen und an den Chladnischen Klang- figuren zu beobachten Gelegenheit haben. Die einfache Anwendung der aus den bekannten Wellenerscheinungen ermittelten Gesetze auf die inneren Bewegungen der Körper führt uns somit zu der Vorstellung von stehenden Wellen, unter deren Einflusse jeder Punkt in den Körpern seine eigene Bahn zu durchlaufen hat, und gibt uns sofort durch die Unterscheidung der fortschreitenden und stehenden Wellen die möglichst einfache Erklärung für die Verschiedenheit der strahlenden und ruhenden Wärme, da die flüchtige Erscheinung der strahlenden Wärme in derselben Weise der Vergänglichkeit der fortschreitenden Wellen ent- sprieht, wie die Beständigkeit der Temperatur eines Körpers der un- veränderlichen Fortdauer der stehenden Wellen. Stehende Schwingungen oder, wenn man sich dieselben zu resul- tierenden Bewegungen vereinigt denkt, stehende Rotationen sind somit der dauernde und stationäre Bewegungszustand, den wir im Innern der Körper vorauszusetzen haben; in diesem Bewegungszustande haben wir auch die Erklärung für die an den Körpern hervortretenden spezifischen Eigenschaften und Erscheinungen zu suchen. Zunächst erkennen wir, dass die Beständigkeit der Erscheinung, mit welcher die Körper in un- serer Wahrnehmung auftreten und durch welche sie sich von einander unterscheiden, durch die unveränderliche Fortdauer und durch die Ver- schiedenheit ihrer inneren Bewegungen bedingt wird. Die Fläche, an welcher die einen Körper durchströmenden Wellen reflektiert werden und welche somit stehende Schwingungen von verschiedener Dauer oder Inten- sität von einander trennt, bezeichnen wir als die Grenzfläche oder Oberfläche der Körper. Eine solche Fläche ist in sich abgeschlossen, und der Teil des Raumes, der durch sie begrenzt wird, ist das Volumen eines Körpers. Ein Körper bedeutet daher im Sinne der kinetischen Naturlehre einen zusammenhängenden Teil des Raumes oder des allgemeinen Sub- strates, der sich in einem vollkommen gleichen Bewegungszustande be- findet und daher auch in sich als gleichartig erscheint. Die durch ihre Berührungsflächen von einander getrennten Körper besitzen dagegen ver- schiedene innere Bewegungen, weshalb sie sich auch durch ihre äussere Erscheinung und durch ihr Verhalten gegen andere Körper als verschieden‘ erweisen. Diese Verschiedenheiten können aber zweierlei Art sein. Die Körper unterscheiden sich nämlich von einander nicht allein bei gleicher Temperatur, wie z. B. Wasserstoff und Sauerstoff, Kalium und Natrium u.s. w., durch ihre spezifischen Eigenschaften, sondern derselbe Körper erleidet auch durch Zufuhr von Wärme gewisse Veränderungen, durch welche er beim Wechsel der Temperatur von sich selbst verschieden wird. Um diese Verschiedenheit der Körper zu erklären, lässt die kinetische Natur- lehre sich einfach durch die an den Erscheinungen des Lichtes und des Schalles gemachten Beobachtungen leiten. Aus diesen Beobachtungen geht aber hervor, dass die qualitativen Verschiedenheiten des Lichtes der potentiellen Energie. 279 und Schalles, d. h. die Farben des Lichtes sowie die Höhe und Tiefe der Töne auf einer verschiedenen Dauer der sie hervorbringenden Schwing- ungen beruhen, während die quantitativen Verschiedenheiten dieser Er- scheinungen, d. h. die Stärke des Lichtes und Schalles durch die Inten- sität ihrer Schwingungen bestimmt werden. Indem wir mit vollem Rechte dasselbe Verhalten auch für die inneren Bewegungen der Körper voraus- setzen, werden wir bei der Unterschiedslosigkeit und Unveränderlichkeit des allgemeinen Substrats dahin geführt, die qualitativen Verschieden- heiten, wie sie an den chemisch verschiedenen Körpern hervortreten, einer verschiedenen Umlaufsdauer der inneren Rotationen zuzuschreiben, die quantitative Verschiedenheit der Wärme dagegen, d.h. die Verschieden- heiten, welche sonst vollkommen gleiche Körper bei verschiedener Tempe- ratur zeigen, oder vielmehr die Veränderungen, welche ein Körper bei der Erwärmung oder Erkaltung erleidet, durch die wechselnde Intensität der inneren Bewegungen zu erklären. — Von diesem rein kinetischen Stand- punkte aus erklärt sich auch auf die einfachste Weise die Verschieden- heit der chemisch einfachen und zusammengesetzten Körper. Als ein- fache Körper können in der kinetischen Naturlehre nur solche anerkannt werden, in deren Innern Bewegungen von der einfachsten Form, d. h. nur von einer bestimmten Umlaufsdauer vor sich gehen. Durch die Ver- einigung der einfachen inneren Bewegungen zweier Körper zu zusammen- gesetzten Bewegungen entstehen durch chemische Verbindung die zusam- mengesetzten Körper und die chemische Zerlegung der zusammengesetzten Körper in ihre Bestandteile ist daher auch nur eine Trennung ihrer inneren Bewegungen in einfachere Formen. Alle chemischen Prozesse sind dem- nach nur Bewegungserscheinungen und finden ihre Erklärung durch ein- fache Anwendung der mechanischen Gesetze auf die inneren Bewegungen der Körper. Unter den Naturerscheinungen, welche wir am häufigsten zu be- obachten Gelegenheit haben, sind diejenigen noch besonders hervorzuheben, welche mit Volumenänderungen der Körper verbunden sind. Da die ge- naue Betrachtung dieser Vorgänge bei den chemischen Prozessen und bei dem Übergange der Körper aus einem Aggregatzustande in einen andern uns zu weit führen würde, so wollen wir uns darauf beschränken, nur die einfacheren Erscheinungen dieser Art, wie sie durch Druck und Wärme hervorgebracht werden, näher zu untersuchen. Auch an ihnen kann die Bedeutung, welche in der kinetischen Naturlehre den Volumen- änderungen beizulegen ist, erkannt werden. In der atomistischen Theorie werden die Volumenänderungen der Körper einem Weiter- und Näherrücken der Atome zugeschrieben. Nach den Grundsätzen der kinetischen Naturlehre sind dagegen solche Vor- stellungen völlig unzulässig; es ist vielmehr selbstverständlich, dass eine unterschiedslose und unveränderliche, den Weltraum kontinuierlich er- füllende Materie weder ausgedehnt noch zusammengedrückt werden kann. Die Volumenzunahme eines Körpers ist daher nicht eine Ausdehnung und die Volamenabnahme nicht eine Zusammendrückung der Materie, son- dern nur eine Ausbreitung oder eine Beschränkung seiner inneren Beweg- ungen auf einen grösseren oder kleineren Raum. Bei diesen Vorgängen 280 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden bleibt die Materie selbst vollkommen unbeteiligt, da sie nur die Trägerin der Bewegungen ist, durch welche die Erscheinung eines Körpers hervor- gebracht wird. Durch die Ausbreitung oder die Beschränkung der in- neren Bewegungen auf einen grösseren oder kleineren Raum werden einem grösseren oder kleineren Teile des allgemeinen Substrats die Eigenschaften eines bestimmten Körpers erteilt und dadurch die Erscheinungen der Zu- nahme oder Abnahme seines Volumens bewirkt. Es verhält sich damit in dieser Beziehung genau in derselben Weise, wie mit der äusseren Bewegung der Körper. Für die kinetische Naturlehre ist es nämlich vollkommen gleich, ob man eine Bewegung der Materie selbst oder nur eine wellenartige Fortpflanzung der inneren Bewegungen eines Körpers innerhalb eines unbeweglichen und unter- schiedslosen Substrates annimmt. Überall dort, wohin diese Bewegungen verpflanzt werden, wird auch die Erscheinung eines bestimmten Körpers hervorgebracht. Der innere Vorgang ist dabei genau derselbe, wie bei der Fortpflanzung der Wellen überhaupt. Die Wasserwellen sind z. B. kein Fliessen des Wassers, sondern nur eine Fortpflanzung gewisser Be- wegungen, welche den Wellen ihre Form erteilen. Dasselbe gilt auch für die äussere Bewegung der Körper; indem die inneren Bewegungen sich von Ort zu Ort weiter fortpflanzen, erteilen sie nacheinander ver- schiedenen Teilen der an sich ruhenden und unterschiedslosen Materie die spezifischen Eigenschaften eines bestimmten Körpers und bringen dadurch die Erscheinung seiner äusseren Bewegung hervor. — Die An- nahme, dass die Materie selbst in Bewegung sein könne, widerspricht zwar nicht den Grundsätzen der kinetischen Naturlehre, jedoch nur unter der Bedingung, dass sie keine Veränderung erleide, dass dabei kein Wider- stand zu überwinden sei. Letzteres ist aber nur bei der Bewegung eines Körpers innerhalb eines kohäsionslosen und widerstandslosen Mittels oder bei Bewegungen in geschlossenen Bahnen, wie bei den inneren Rotationen der Körper und bei dem Umschwunge der Weltkörper umeinander möglich. In allen diesen Fällen können die Teile des kontinuierlichen Substrats einfach auf einander folgen, ohne sich zu stören. In diesem Sinne haben wir auch die schraubenförmigen Bewegungen der Punkte eines Körpers im Raume angenommen. In allen Fällen dagegen, wo ein Widerstand zu überwinden und eine Arbeit zu leisten ist, kann die äussere Bewegung eines Körpers nur durch Mitteilung seiner inneren Bewegung an die zu- nächst vor ihm liegenden Teile des Substrats erfolgen, da eine Arbeits- leistung in der That nur eine Übertragung der Energie ist. Bei der Ausdehnung eines Körpers muss aber stets, um den äusseren Druck zu überwinden, eine Arbeit geleistet werden. Wird ein Körper z. B. erwärmt, d. h. die Energie seiner inneren Bewegungen erhöht, so erlangen sie das Übergewicht über den äussern Druck. Die dabei ge- leistete Arbeit wird dazu verbraucht, die inneren Bewegungen der an- grenzenden Körper zurückzudrängen und sie durch die inneren Bewegungen des wärmeren Körpers zu ersetzen. Dadurch aber, dass die zunächst liegenden Teile der Materie die inneren Bewegungen und somit auch die Eigen- schaften des sich ausdehnenden Körpers annehmen, wird die Erscheinung seiner Volumenzunahme hervorgebracht. der potentiellen Energie. 281 Bei der Erkaltung tritt genau der entgegengesetzte Vorgang ein. Durch ihre abnehmende Energie sind die inneren Bewegungen eines Kör- pers nicht mehr im stande, dem äusseren Drucke das Gleichgewicht zu halten, sie werden durch seine Arbeit auf einen kleineren Raum zurückgedrängt und das Volumen des Körpers nimmt ab. Auf dieselbe Weise verhält es sich bei allen Volumenänderungen der Körper, mögen sie durch Druck oder Wärme, durch chemische Pro- zesse oder bei Veränderung des Aggregatzustandes eintreten. Stets ist das Volumen eines Körpers der Raum, in dem die ihn qualifizierenden Bewegungen vor sich gehen. Aus dem obigen geht hervor, dass die reine kinetische Naturlehre, obgleich sie nur eine Thatsache, die Bewegung, als ihren Ausgangs- punkt anerkennt, dennoch im stande ist, die verschiedenartigsten Erschein- ungen, sowohl die physischen, wie die chemischen, unter einem Gesichts- punkte zusammenzufassen. Dieses gilt namentlich dann, wenn es sich darum handelt, die an den Körpern wahrgenommenen Verschiedenheiten, sowie diejenigen Veränderungen zu erklären, welche unter dem Einflusse nach- weisbarer, äusserer Einwirkungen eintreten. In dem einen wie in dem anderen Falle werden die an den Körpern beobachteten qualitativen Ver- schiedenheiten auf die Verschiedenheit ihrer inneren Bewegungen und die durch äussere Einwirkungen hervorgebrachten Veränderungen auf Ver- änderungen derselben inneren Bewegungen zurückgeführt und auf diese Weise die Ursache der betreffenden Naturerscheinung ohne weiteres nach- gewiesen. Neben diesen Erscheinungen kommen dagegen auch andere vor, bei welchen die Körper von sich aus häufig plötzlich mächtige Wirkungen ausüben, ohne dass eine äquivalente Veranlassung dazu von aussen so- fort zu erkennen wäre. So leistet z. B. ein schwerer Körper bei seinem Niedersinken eine Arbeit oder entwickelt bei seinem Fallen eine beständig zunehmende lebendige Kraft, ohne dass eine äussere Ursache zu diesen Erscheinungen bis jetzt hätte ermittelt werden können. Bei der Konden- sation der Dämpfe tritt die freiwerdende latente Wärme auf, die zwar als Ersatz für die beim Verdampfen der Flüssigkeit verbrauchte Wärme gilt, dem Dampfe aber nicht während seiner Kondensation zugeführt wird. Die chemische Wärme der Körper, wie z. B. die Verbrennungswärme des Wasserstoffes, ist ein weiteres Beispiel dafür, dass die Körper von sich aus mächtige Wirkungen ausüben können, ohne dass eine äquivalente Zufuhr von Energie von aussen nachweisbar wäre. — So verschieden- artig auch die soeben erwähnten Erscheinungen — die Arbeitsleistung eines schweren Körpers, das Freiwerden der latenten Wärme, die Ver- brennungswärme des Wasserstoffs u. s. w. — sein mögen, so stimmen sie doch alle darin überein, dass die Körper unter gewissen Umständen sich als Reservoire verborgener Arbeitsvorräte erweisen, die unter ver- änderten Verhältnissen entweder als äussere Arbeit — wie beim Sinken der schweren Körper — oder als lebendige Kraft — bei ihrem freien Fallen — oder als Wärme — bei der Kondensation der Dämpfe und bei den chemischen Prozessen zum Vorschein kommen. In allen Fällen werden wir zu der Frage geführt, auf welche Weise ein derartiger Arbeitsvorrat 283 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden in den Körpern verborgen sein kann und unter welchen Bedingungen er zur Wirksamkeit gelangt ? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns wieder zu den uns bekannten Wellenerscheinungen wenden und zusehen, ob wir nicht bei ihnen entsprechende Vorgänge antreffen. Dabei werden wir sofort an die Interferenzerscheinungen der Wellen erinnert. Zwei Schallwellen, bei welchen die Verdichtung der einen mit der Verdünnung der anderen zusammentrifft, üben keine Einwirkung auf unser Ohr aus und lassen keinen Ton wahrnehmen, obgleich sie getrennt von einander vollkommen gut hörbar sind. Zwei Lichtstrahlen, welche in entgegengesetzten Schwingungs- zuständen zusammentreffen, heben gegenseitig ihre Wirkungen auf, wie solches an den vielfachen Interferenzerscheinungen des Lichtes beobachtet werden kann. Dasselbe gilt auch von den Wellen der strahlenden Wärme, für welche Interferenzen ebenfalls nachgewiesen sind. Treten dagegen die Wellen des Schalles, des Lichtes oder der Wärme aus ihren Inter- ferenzen heraus, so beobachten wir die entgegengesetzten Erscheinungen; wir erhalten: statt der Stille — einen Ton, statt der Finsternis — Licht, statt Kälte — Wärme. Genau dasselbe muss nun auch im Innern der Körper vor sich gehen. Wie auch die inneren Bewegungen der Körper beschaffen sein mögen, so ist doch unvermeidlich, dass die sich fortpflanzenden Wellen bei der Vielfältigkeit der Richtungen, in welchen sie sich durchkreuzen, nicht allein in entgegengesetzter Richtung auf einander stossen und sich dabei in stehende Wellen umwandeln, sondern auch, in gleicher oder fast gleicher Richtung fortschreitend, mit verschiedenen Schwingungsphasen, d. h. mit entgegengesetzten Geschwindigkeiten zusammentreffen, sich dabei durch Interferenz ganz oder teilweise neutralisieren und die Wirkungen, welche jede einzelne Welle für sich hervorbringen würde, gegenseitig auf- heben. Es ist dabei besonders zu bemerken, dass diese gegenseitige Neu- tralisation der Bewegungen im Innern der Körper sich nur auf ihre Wirkungen nach aussen bezieht, dass sie sich dabei nicht vernichten. Wie die Oberfläche des Wassers an der Stelle, wo zwei Wellen sich in der Weise kreuzen, dass ein Wellenberg und ein Wellenthal zusammen- fallen, verflacht erscheint, was jedoch nicht verhindert, dass über den Kreuzungspunkt hinweg Wellenberg und Wellenthal sich wieder voll- ständig entwickeln, wie in einem Konzertsaale bei guter Akustik die Töne ungeachtet ihrer vielfachen Interferenzen dennoch ungeschwächt bis zu unserem Ohr gelangen, so bestehen auch die inneren Bewegungen der Körper trotz aller Interferenzen unveränderlich weiter fort. Indem jeder Punkt immer nur die resultierende Bahn aller ihm in jedem Augen- blicke mitgeteilten Bewegungen beschreibt, ist zwar das Fortbestehen aller elementaren Bewegungen in den Körpern gewahrt, es tritt jedoch bald hier, bald dort der Umstand ein, dass die Geschwindigkeiten der ein- zelnen Punkte durch die stattfindenden Interferenzen momentan ganz oder teilweise aufgehoben werden, wodurch jedoch nicht verhindert wird, dass die auf diese Weise neutralisierten Bewegungen sich weiter fort- pflanzen und ihren Einfluss auf die übrigen Punkte des Körpers in der der potentiellen Energie. 283 Weise ausüben, als ob sie durch keine Interferenzen hindurchgegangen wären. Weil aber dieser Vorgang sich immer von neuem wiederholt und an allen Punkten des Körpers beständig eintritt, wird ein Teil der inneren Bewegungen nach aussen wirkungslos und in den Körpern da- durch ein verborgener Arbeitsvorrat begründet, der nur dann zum Vor- schein kommt, wenn die inneren Bewegungen unter veränderten Umständen aus ihren Interferenzen heraustreten und die Erscheinungen hervorbringen, die uns häufig — wie z. B. die Explosion des Knallgases, das Auftreten der latenten Wärme und die Schwere der Körper — als unerklärlich er- scheinen. Der verborgene Arbeitsvorrat, welcher in den Körpern durch die interferierenden Bewegungen begründet wird, ist das, was man bisher als potentielle Energie bezeichnet hat. Wegen der gegenseitigen Neutralisation der Bewegungen verschwindet dieser Arbeitsvorrat aus der Erscheinung und kann nur unter veränderten Umständen durch das Heraus- treten der Bewegungen aus ihren Interferenzen zur Wirksamkeit gelangen. Die Energie der nach allen Interferenzen resultierenden freien Bewegungen ist dagegen die kinetische Energie, mit welcher die Punkte eines Körpers ihre schraubenförmigen Bahnen im Raume durchlaufen. In der- selben Weise aber, wie die schraubenförmigen Bewegungen der Punkte sich in rotierende und translatorische Bewegungen zerlegen lassen, zerfällt auch die kinetische Energie eines Körpers in die Energie seiner inneren Rotationen und in die Energie seiner translatorischen Bewegung. Die Energie der inneren Rotationen ist die Wärme der Körper und bringt den äusseren Druck und die Temperatur derselben hervor, die Energie der translatorischen Bewegung äussert sich dagegen als lebendige Kraft. Die Summe der potentiellen und kinetischen Energie oder die Summe der potentiellen Energie der Wärme und der lebendigen Kraft ist die Totalenergie der Körper. Um diese Definitionen noch bestimmter zu fassen, wollen wir ihnen einen mathematischen Ausdruck geben. Unter der Totalenergie verstehen wir die Energie sämtlicher Bewegungen, an welchen die Punkte eines Körpers teilzunehmen haben. In gleichartigen Körpern ist die Total- energie bei gleichem Volumen jedenfalls gleich oder — was dasselbe be- deutet — sie ist dem Volumen der Körper proportional. Bei qualitativ verschiedenen Körpern wird die Totalenergie aber nicht allein durch das Volumen bestimmt, sondern sie ist ausserdem noch und zwar — weil bei der Unterschiedslosigkeit des allgemeinen Substrats von einer Ver- schiedenheit desselben nicht die Rede sein darf — nur noch von der Geschwindigkeit aller in den Körpern vorkommenden Bewegungen ab- hängig. Die Totalenergie eines Körpers kann daher durch den mathe- matischen Ausdruck dargestellt werden, in welchem V das Volumen des Körpers bedeutet, unter S u? die Summe der Quadrate aller Geschwindigkeiten seiner einzelnen Punkte zu verstehen ist und K endlich ein konstanter und wegen der Unterschiedslosigkeit des allgemeinen Substrats für alle Körper 284 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden gleicher Koeffizient ist, der dazu dient, die Äquivalenz zwischen der Total- energie der Körper und dem Gesamtwert ihres inneren Arbeitsvorrats herzustellen. Wenn wir aber, statt die sämtlichen stets positiven Energien in einem Körper zusammen zu addieren, zuerst die einem Punkt mitgeteilten Geschwindigkeiten unter Berücksichtigung ihrer positiven und negativen Zeichen nach den Grundsätzen der Mechanik miteinander verbinden, so erhalten wir eine resultierende Geschwindigkeit s, mit welcher die Punkte des Körpers ihre schraubenförmigen Bahnen im Raume durch- laufen. Die dieser Geschwindigkeit entsprechende kinetische Energie lässt sich dann durch den Ausdruck RR Vs? 9 4 HE. = darstellen. Ziehen wir diesen Ausdruck von der Totalenergie ab, so er- halten wir die potentielle Energie BZ E als Differenz der Totalenergie und der kinetischen Energie. Aus der letzten Gleichung folgt Te --E und wenn wir die kinetische Energie E in Wärme W und lebendige Kraft L zerlegen T=P-IW-L woraus wir erkennen, dass sämtliche Erscheinungen, welche bei konstanter Totalenergie, d. h. ohne Zufuhr oder Ableitung von Energie von oder nach aussen an den Körpern beobachtet werden, nur Umwandlungen der potentiellen Energie in Wärme und lebendige Kraft oder umgekehrt sein können. — Während die Totalenergie, die kinetische Energie, die Wärme und die lebendige Kraft für die Naturforscher völlig geläufige Ausdrücke sind, die eine bestimmte Bedeutung in der Wissenschaft haben, kann dasselbe nicht von der potentiellen Energie gesagt werden. In der Attrak- tionslehre verstand man darunter einen durch Zentralkräfte begründeten latenten Arbeitsvorrat ohne Angabe, auf welche Weise derselbe zur Wirksamkeit gelangen könne. Die moderne kinetische Atomistik dagegen, welche die Zentralkräfte bestreitet und nur eine Bewegung der Atome voraussetzt, glaubt die potentielle Energie vollkommen entbehren zu können und verzichtet dadurch zugleich auf die Erklärung vieler Natur- erscheinungen. Erst in der reinen kinetischen Naturlehre, wie sie von uns entwickelt worden ist, lässt sich die wahre Bedeutung der poten- tiellen Energie auch ohne Voraussetzung von Kräften nachweisen, und erkennen, dass sie die Energie der in den Körpern inter- ferierenden und sich in ihren Wirkungen nach aussen gegen- seitig neutralisierenden Bewegungen ist. Die Bestätigung der soeben erlangten Erkenntnis geht aus den vielfachen Anwendungen derselben bei der Erklärung der verschieden- artigsten Naturerscheinungen hervor. Bei dem Übergang der Körper aus dem festen in den flüssigen der potentiellen Energie. 285 und aus dem flüssigen in den gasförmigen Zustand verschwindet ein Teil der zugeführten Wärme für das Gefühl und das Thermometer; sie wird — wie man sich auszudrücken pflegt — latent. Dieselbe Wärme tritt bei den entgegengesetzten Zustandsänderungen der Körper wieder her- vor. Wo bleibt die während der Veränderung des Aggregatzustandes als Wärme zugeführte Bewegung? Nach der alten Lehre behauptet man, dass die bei jenen Zustandsänderungen verschwindende Wärme nicht mehr als Wärme in den Körpern vorkomme, sondern zur Über- windung der inneren Kräfte als Arbeit verbraucht sei, und dass die bei den entgegengesetzten Zustandsänderungen wieder zum Vorschein kommende Wärme nicht aus der Verborgenheit hervortrete, sondern durch die Arbeit der Zentralkräfte wieder erzeugt werde. Diese Erklärungsweise genügt aber nicht, da man sich keine Vorstellung von den Zentralkräften und von der Art ihrer Wirkungen bilden kann. In der kinetischen Atomistik, welche die inneren Molekularkräfte bestreitet, fehlt dagegen jede Erklärung für die obenerwähnten Erscheinungen. Viel einfacher in dieser Beziehung ist das Verfahren der kinetischen Naturlehre; sie braucht eigentlich nur die beobachteten Erscheinungen in ihre Sprache zu übersetzen. Die während der Veränderung des Aggregatzustandes den Körpern als Wärme zugeführten Bewegungen treten nach ihr in einen Zustand des beständigen Interferierens ein, sie neutralisieren sich dabei gegenseitig und gehen dadurch für das Gefühl und das Thermometer verloren, d. h. kürzer ausgedrückt: die zugeführte Wärme wird in potentielle Energie umgewandelt. Bei den entgegengesetzten Erscheinungen, d. h. bei der Konden- sation der Dämpfe und dem Festwerden der Flüssigkeiten treten die inneren Bewegungen durch die veränderten Umstände aus ihren Inter- ferenzen hervor und erscheinen dann als freiwerdende latente Wärme, d. h. es wird die potentielle Energie der Körper in Wärme umgewandelt. Die Explosion des Knallgases beim Hindurchschlagen eines elek- trischen Funkens und die hohe Verbrennungswärme des Wasserstoffes können als weitere Beispiele für das Wirksamwerden der in den Körpern enthaltenen potentiellen Energie dienen. Das Knallgas ist be- kanntlich ein Gemisch von 1 Volumen Sauerstoff und 2 Volumen Wasser- stoff. Beide Gase bestehen bei gewöhnlicher Temperatur friedlich neben einander und nichts deutet auf die gewaltige Energie hin, welche sie entwickeln können. Kommt aber nur der geringste Funke hinzu, so sehen wir das Knallgas durch eine plötzliche Explosion seinen Behälter sprengen oder wir beobachten, wenn ein Wasserstoffstrahl in einer At- mosphäre von Sauerstoff angezündet wird, auf jede Gewichtseinheit Wasserstoff eine Entwickelung von nicht weniger als 34462 Wärme- einheiten. Diese mächtigen Wirkungen können weder dem geringen elek- trischen Funken, welcher die Explosion des Knallgases veranlasst, noch der Flamme zugeschrieben werden, welche benutzt worden ist, um den Wasserstoffstrahl anzuzünden. Auch in diesem Falle wird in der alten Lehre die bei den erwähnten Erscheinungen auftretende Energie der Arbeit irgend welcher Zentralkräfte zugeschrieben, während die kinetische Ato- 286 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden mistik überhaupt keine Erklärung dafür hat. Die kinetische Naturlehre gibt dagegen über die Ursache jener Erscheinungen eine vollständige Auskunft. Nach ihr ist der Arbeitsvorrat, welcher die Explosion des Knallgases und die Verbrennungswärme des Wasserstoffs hervorbringt, in den Bestandteilen des Wassers bereits vor ihrer Vereinigung als die Energie der interferierenden Bewegungen oder als potentielle Energie enthalten. So lange die beiden Gase, wenn auch mit einander gemischt, doch noch räumlich von einander getrennt sind, besteht auch die gegen- seitige Neutralisation ihrer inneren Bewegungen und die Energie der- selben bleibt wirkungslos. Der geringste Funken genügt aber, um die chemische Vereinigung des Wasserstoffs mit dem Sauerstoff durch gegen- seitige Übertragung und Vereinigung ihrer inneren Bewegungen einzu- leiten. Unter den veränderten Verhältnissen treten die inneren Bewegungen der beiden Gase aus ihren Interferenzen heraus und bringen die ge- waltigen Wirkungen hervor, welche wir sodann zu beobachten Ge- legenheit haben. Dieselben Erläuterungen, welche wir über die Verbrennungswärme des Wasserstoffs gegeben haben, gelten auch in allen Fällen, in welchen es sich darum handelt, die chemische Wärme der Körper zu erklären. Stets ist die Energie der im freien Zustande der Körper sich gegenseitig neutralisierenden inneren Bewegungen oder die potentielle Energie die Quelle der Wärme, welche bei den chemischen Prozessen durch Störung der Interferenzen zum Vorschein kommt. Bei den entgegengesetzten Erscheinungen, d. h. bei der Dissociation der Verbindungen ist auch der innere Vorgang ein genau entgegen- gesetzter. Durch die Wärme werden den zusammengesetzten Körpern die Bewegungen zugeführt, welche bei ihrer Bildung als chemische Wärme ausgestrahlt worden sind. Indem diese Bewegungen in den Zu- stand des Interferierens eintreten, ersetzen sie die bei der Vereinigung der Körper verbrauchte potentielle Energie und erteilen dadurch den Bestandteilen einer Verbindung die Fähigkeit wieder, im freien Zustande bestehen zu können. Zu ähnlichen Resultaten führen uns auch die elektrischen und magnetischen Erscheinungen, welche wie die chemische Wärme und die Schwere bisher noch zu den ungelösten Problemen der Wissenschaft gehören; noch jetzt werden sie häufig auf imponderable Flüssigkeiten Fer okkekühr, Öffnet man ein Lehrbuch der Physik, so findet man den Unterschied zwischen dem gewöhnlichen und dem elektrischen Zustande der Körper auf die Weise erläutert, dass im ersten die elektrischen Flüssigkeiten mit einander verbunden sein sollen und sich dabei neutrali- sieren, durch Reibung oder durch chemische Prozesse aber von einander getrennt werden können und dann die Erscheinungen hervorbringen, welche wir der Elektrizität zuschreiben. Diese Vorstellungen sind aber gegenwärtig stark im Schwinden begriffen; in Übereinstimmung mit der kinetischen Naturlehre überzeugen sich die Naturforscher von Jahr zu Jahr immer mehr, dass die Elektrizität nur eine von den vielen Formen ist, unter welchen die inneren Bewegungen der Körper in der Erscheinung auftreten. Diese Bewegungen sind aber im gewöhnlichen, nicht elek- der potentiellen Energie. 287 trischen Zustande — wenn man sich so ausdrücken darf — durch Inter- ferenzen mit einander verbunden, neutralisieren sich dabei gegenseitig und begründen dadurch die potentielle Energie, welche sich unter den gegebenen Bedingungen nicht zu äussern vermag. Wenn aber die Inter- ferenzen durch Reibung oder durch chemische Prozesse gestört werden, so trennen sich die inneren Bewegungen der Körper von einander, die potentielle Energie derselben gelangt zur Wirksamkeit und bringt dann je nach den getroffenen Einrichtungen bald die Erscheinungen der Wärme, bald die der Elektrizität hervor. In derselben Weise verdanken die galva- nischen Ströme, welche auf elektromotorischem Wege erzeugt werden, ihre Entstehung der in den Brennstoffen angehäuften potentiellen Energie. Indem die inneren Bewegungen des Kohlenstoffes beim Verbrennen aus ihren Interferenzen heraustreten, wird ihre potentielle Energie zuerst in Wärme, dann in Arbeit und schliesslich in Elektrizität umgewandelt. Die Quelle der Elektrizität und somit auch des Magnetismus ist daher nur in der potentiellen Energie der Körper zu suchen, wobei nicht zu zweifeln ist, dass zugleich mit der Erklärung der Schwere auch die Ur- sache der sogenannten elektrischen und magnetischen > Anziehungen« und »Abstossungen« sich in derselben Weise ergeben wird. Aus den soeben erwähnten Erscheinungen geht bereits der un- zweifelhafte Beweis für die Existenz verborgener Arbeitsvorräte oder der potentiellen Energie in den Körpern hervor; zugleich ergibt sich auch für uns die Möglichkeit, den Ursprung der lebendigen Kraft bei den fallenden Körpern nachzuweisen, ohne deshalb gezwungen zu sein, irgend- welche anziehende Kräfte oder den Stoss der Ätheratome anzunehmen. Wir erkannten bereits, dass die lebendige Kraft der fallenden Körper nicht von aussen herstammen könne, weil sie dann bei den notwendiger- weise als gleichmässig vorauszusetzenden äusseren Einwirkungen in gleichen Zeitabschnitten nur in gleichen Mengen übertragen werden könnte, während sie in Wirklichkeit dem Quadrate der Zeit proportional ist, und schlossen daraus, dass die wahre Ursache der Schwere oder die Quelle der lebendigen Kraft als latenter Arbeitsvorrat in den fallenden Körpern selbst enthalten sein muss. Bisher fehlte uns aber noch die Erkenntnis dessen, was man unter potentieller Energie zu verstehen habe. Diese Lücke ist nun auch ausgefüllt. Durch die Anerkennung der po- tentiellen Energie als der Energie der in den Körpern interferierenden und sich in ihren Wirkungen nach aussen neutralisierenden Bewegungen erhalten wir den Arbeitsvorrat, aus dem die fallenden Körper durch Störung der inneren Interferenzen ihre lebendige Kraft schöpfen können, und erkennen zugleich, dass auch die äussere Arbeit, welche ein langsam sinkender Körper leistet, nur eine Übertragung eines Teiles seiner po- tentiellen Energie auf einen anderen Körper, auf das Material der Arbeit ist. Umgekehrt dient die Arbeit, welche beim Heben eines Körpers verbraucht wird, dazu, ihn in den früheren Zustand, in dem er sich vor seinem Herabsinken befand, wieder zurückzuführen. Durch diese Arbeit werden dem Körper neue Bewegungen zugeführt und durch das Interferieren derselben die bei seinem Falle verbrauchte potentielle Energie wieder hergestellt. Der Zuwachs an potentieller Energie, welchen .der Körper 288 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden dabei erhält, ist notwendigerweise äquivalent der Arbeit, welche bei seinem Emporheben verbraucht worden ist, und ebenso äquivalent der Arbeit, welche er bei seinem Herabsinken leisten kann, oder der leben- digen Kraft, welche er bei seinem freien Herabfallen von derselben Höhe erreicht. Auf diese Weise wird in der kinetischen Naturlehre der Zu- sammenhang zwischen der beim Heben eines Körpers verbrauchten und der bei seinem Herabsinken geleisteten Arbeit ohne Voraussetzung von Kräften durch die Energie der im Körper interferierenden Bewegungen hergestellt und der Kreis der äquivalenten Verwandlungen auch für die Erscheinungen der Schwere geschlossen. Durch die Erkenntnis der potentiellen Energie gelangt die kine- tische Naturlehre, indem sie dadurch die Möglichkeit erhält, den Zusammen- hang der verschiedenartigsten Naturerscheinungen nachzuweisen, zu einem vorläufigen Abschlusse. Wir können jedoch auf diesen Gegenstand nicht weiter eingehen, da die vorliegende Arbeit vorzugsweise nur dazu be- stimmt ist, sich mit den Erscheinungen der Schwere zu beschäftigen. Dennoch möchte ich auf einige Resultate meiner kinetischen Naturlehre aufmerksam machen, die wohl geeignet sind, ihren Wert erkennen zu lassen. So findet sich auf S. 221 meines Buches »das Rätsel der Gra- vitation« für die vollkommenen Gase das Verhältnis der spezifischen Wärme c, bei konstantem Drucke und der spezifischen Wärme c, bei konstantem Volumen oder 2 1 Cr angegeben. Die Bedeutung dieses einfach durch Rechnung ohne Be- nutzung irgend welcher vorhergehenden Beobachtung erhaltenen Re- Co» sultates ist leicht zu erkennen. Vergleicht man nämlich den für aus- Cy gerechneten Wert mit den Werten, welche sich dafür bei den permanenten Gasen aus den Beobachtungen ergeben, z. B. beim Wasserstoff 1,417, so findet man zunächst, dass die Abweichung eine nur sehr geringe ist. Ferner stellt sich aus den Beobachtungen heraus, dass das Verhältnis Ep um so kleiner wird, je mehr die Gase und Dämpfe sich von dem Cy vollkommenen Gaszustande entfernen. Der ausgerechnete Wert 1,444 “® ei den wirklichen ist daher ein Maximum, dem sich das Verhältnis Gasen nähert, der aber nur im vollkommenen Gaszustande erreicht werden kann und dessen Abweichung von dem beobachteten Werte ein Mass für die Abweichung des Gases von dem ideellen Zustande gibt. Der Umstand aber, dass das Verhältnis der spezifischen Wärme bei konstantem Drucke und bei konstantem Volumen einfach durch Rech- nung gefunden werden kann, ist wohl der beste Beweis für die Sicher- heit der Grundlagen, auf welchen die kinetische Naturlehre aufgebaut ist. Ein weiteres, nicht weniger wertvolles Resultat der kinetischen Naturlehre ist die gegebene Möglichkeit, die kinetische Energie zu be- stimmen; der Werth derselben in einem Kubikmeter und bei einem mitt- der potentiellen Energie. 289 leren atmosphärischen Druck stellt sich nach den zu diesem Zweck an- gestellten Rechnungen (Das Rätsel der Gravitation, S. 222) auf 23251 Meterkilogramme heraus. Durch diese Zahl erhalten wir eine Vorstellung von dem Arbeits- vorrate, welcher als freie Wärme in den Körpern enthalten ist. Anders verhält es sich damit in bezug auf die potentielle Energie; diese tritt in den Gleichungen der kinetischen Naturlehre als die bei der Inte- gration der Totalenergie hinzuzufügende Konstante auf, deren Wert vor- läufig sich noch nicht genau bestimmen lässt; eine einfache Betrachtung führt uns aber zu der Erkenntnis, dass dieser Wert eine Grösse besitzt, welche alle unsere Vorstellungen übersteigt. Denken wir uns einen Körper, z. B. eine Kanonenkugel, von der Schwere in bezug auf alle Weltkörper bis auf einen, z. B. den Sirius befreit und nach diesem hin fallend, so wird seine lebendige Kraft infolge der beschleunigten Bewegung zuletzt einen Wert erreichen, der alle Arbeitsvorräte, die uns auf der Erdoberfläche zur Verfügung gestellt sind, bedeutend übersteigt. Die nach dem Sirius fallende Kanonenkugel kann aber ihre lebendige Kraft nur aus sich selbst, aus ihrer eigenen inneren Energie schöpfen und wir erkennen daher, dass diese einen Wert besitzen muss, zu dessen Bestimmung unsere irdischen Masse sich als völlig ungenügend erweisen. Ein anderes Beispiel können wir dem Verhalten der Körper auf der Erdoberfläche selbst entnehmen. Denken wir uns gewisse Mengen Wasserstoff und Sauerstoff in dem Verhältnisse, wie sie im Knallgase enthalten sind und lassen wir sie verschiedene Zustandsänderungen erleiden, so erhalten wir zunächst durch die chemische Vereinigung der beiden Gase einen bedeutenden Arbeitsvorrat als Verbrennungswärme des Wasserstoffs; durch Abkühlung entziehen wir dem Wasserdampfe ferner einen Teil seiner kinetischen Energie; bei der Kondensation zu Wasser kommt die Verdampfungswärme wieder zum Vorschein und das sich bildende heisse Wasser ist immer noch im stande, weitere Mengen von Wärme auszustrahlen. Aber auch das abgekühlte Wasser trägt noch unermessliche Vorräte von Energie in sich; bei seinem Herabfallen bringt es unsere Maschinen in Bewegung, wobei es den dazu erforder- lichen Arbeitsvorrat nur aus sich selbst, aus seiner inneren Energie schöpfen kann, und behält trotzdem noch immer die Fähigkeit, einem erhöhten äusseren Drucke einen unüberwindlichen Widerstand entgegen- zusetzen. — Diese Widerstandsfähigkeit kann aber das Wasser eben- falls nur seinen inneren Bewegungen entnehmen und wir erkennen somit, dass seine innere Energie und aus denselben Gründen auch die innere Energie der übrigen Körper einen Wert besitzen muss, der fast an das Unendliche streift. Die kinetische Energie, welche die Erscheinungswelt hervorbringt, ist daher ein verschwindend kleiner Teil der Totalenergie der Körper; sie ist nur das leise Kräuseln der Wellen auf der Oberfläche eines Ozeans, der selbst aus potentieller Energie besteht. Die Bedeutung der potentiellen Energie, als der Energie der inter- ferierenden und sich in ihren Wirkungen nach aussen neutralisierenden Kosmos 1884, I. Bd. (VII. Jahrgang, Bd. XIV). 19 290 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden etc. Bewegungen steht von nun an fest und auch die Zukunft wird daran nichts mehr ändern können. Doch wie jede Errungenschaft der Wissen- schaft nur eine Sprosse auf der unendlichen Leiter der Erkenntnis ist, so tritt auch jetzt, wo es uns kaum gelungen ist, die wahre Quelle der Schwere zu entdecken, die Frage nach der weiteren Ursache auf, durch welche das Wirksamwerden der potentiellen Energie in den Körpern ver- anlasst wird. In vielen Fällen sind uns die veranlassenden Ursachen durch die Bedingungen selbst gegeben, unter welchen die Erscheinungen eintreten. Die Ableitung der Wärme, die Zunahme des äusseren Druckes, die Berührung mit einer Flamme, der geringste elektrische Funken ge- nügen, um bei der Kondensation der Dämpfe, den chemischen Prozessen, der Explosion des Knallgases u. s. w. das Heraustreten der inneren Be- wegungen aus ihren Interferenzen zu bewirken und die potentielle Energie der Körper zum Vorschein zu bringen. Anders verhält es sich damit bei den Erscheinungen der Schwere. Wird ein Körper seiner Stütze be- raubt, oder wird der Faden, an dem er hängt, durchgeschnitten, so gerät er scheinbar von selbst in eine nach dem Mittelpunkte der Erde gerich- tete beschleunigte Bewegung, ohne dass eine äussere Veranlassung dazu, noch eine Veränderung an dem Körper wahrzunehmen wäre. Da aber diese Erscheinung nicht ursachlos sein kann, so folgt daraus, dass ausser der potentiellen Energie, welche nur die Quelle für die lebendige Kraft der fallenden Körper ist, noch eine zweite Ursache vorhanden sein muss, welche den Anstoss zu der Entstehung der Bewegung und zu ihrer Be- schleunigung gibt. Dass diese zweite, die Erscheinung der Schwere bloss veranlassende Ursache nicht in den Körpern selbst enthalten sein kann, ist leicht einzusehen. Die Richtung, in welcher die Schwere wirkt, ihre Verschiedenheit auf den verschiedenen Weltkörpern, ihre Abnahme mit dem Wachsen der Entfernung von den Gravitationsmittelpunkten, sind unabhängig von den fallenden Körpern und beweisen, dass der Anstoss, welcher gleich dem elektrischen Funken in dem Knallgase das Wirksam- werden der potentiellen Energie in den ponderablen Körpern veranlasst, ausserhalb derselben zu suchen ist. Da aber die Schwere nicht allein auf der Erde, sondern auch in die weite Ferne wirkt, so erkennen wir, dass diese zweite ihre Richtung und Intensität bestimmende Ursache nur in den interstellaren, die Weltkörper von einander trennenden Räumen enthalten sein kann. (Fortsetzung folgt.) Nägelis Einwände gegen die Blumentheorie, erläutert an den Nachtfalterblumen. Von W. ©. Focke. Den Anlass zu den Betrachtungen, welche ich auf den folgenden Blättern mitzuteilen beabsichtige, hat mir ©. v. NÄGELI’s neues Werk: »Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre« gegeben. Es ist bekannt, dass NÄczuı sich schon früh und bei vielen Gelegenheiten im Sinne der Entwickelungslehre ausgesprochen hat. Er hat sich jedoch stets eine selbständige wissenschaftliche Stellung gewahrt, indem er keinen Zweifel darüber bestehen liess, dass er durchaus nicht in allen Bezieh- ungen mit den verbreiteten Anschauungen, wie sie namentlich durch DAarwın und HÄcker vertreten wurden, einverstanden war. Für mich war es manchmal eine Beruhigung, wenn ich bei meinen eigenen kleinen Ketzereien gegen die herrschenden deszendenztheoretischen Ansichten mich mit einem so ausgezeichneten Forscher, wie es NÄGELI ist, einverstanden wusste. Das obengenannte neueste Werk dieses Gelehrten zeigt indes, dass NÄgzuı nicht nur über den einen oder andern Punkt etwas anders denkt, als die Mehrzahl der Naturforscher, sondern dass er durch eine weite Kluft von der Darwinschen Anschauungsweise getrennt ist. Es ist nicht meine Absicht, die Nägelische Naturauffassung ' im Zusammenhange zu besprechen; ich möchte jedoch glauben, dass es nicht überflüssig sein wird, an einem einzigen Beispiele den Unterschied zwischen den theo- retischen Deduktionen des Münchener Botanikers und den auf strengerer Induktion begründeten Anschauungen, zu welchen die Mehrzahl der beob- achtenden Naturforscher gelangt ist, näher nachzuweisen. ! Verfolgtman den Gedankengang, durch welchen Nägeli zu seiner Idioplasma- Theorie und zu allen daraus gezogenen Folgerungen gelangt ist, weiter nach rück- wärts, so wird man bald den Punkt finden, an welchem es für den vorurteilsfreien For- scher noch an jedem Wegweiser fehlt. Dieser Punkt ist die Erblichkeitsfrage. Das Irrlicht, welches von dort aus Darwin zur Pangenesis, Nägeli zum Idio- plasma gelockt hat, ist die beliebte Rückschlag-Theorie, welche als bequemes Mittel zur Erklärung der Variationen benutzt wird. Alexander Braun hat einmal beiläufig, aber mit vollem Nachdruck, auf die Unhaltbarkeit der Rückschlagideen hingewiesen, doch fehlt es wenigstens in der Botanik noch an einer umfassenden und unbefangenen Untersuchung über die betreffenden Thatsachen. 293 W. 0. Focke, Nägeli's Einwände gegen die Blumentheorie, Auf S. 149 des genannten Werkes heisst es: Aus »schuppenartigen Staubgefässen, in einigen Fällen auch aus sterilen, dieselben umhüllenden Deckblättern sind durch beträchtlich ge- steigertes Wachstum die Kronblätter hervorgegangen. Diese Steigerung des Wachstums mag wesentlich durch den Reiz veranlasst worden sein, welchen die blütenstaub- und säfteholenden Insekten fortwährend durch Krabbeln und kleine Stiche verursachten«. Ferner auf S. 150: >Zu den merkwürdigsten und allgemeinsten Anpassungen, die wir an der Gestalt der Blüten beobachten, gehören die langröhrigen Kronen in Verbindung mit den langen Rüsseln der Insekten, welche im Grunde der engen und langen Röhren Honig holen und dabei die Fremdbestäubung der Pflanzen vermitteln. Beide Einrichtungen, die vegetabilische und die animalische, erscheinen so recht wie für einander geschaffen. Beide haben sich allmählich zu ihrer jetzigen Höhe entwickelt, die langröhrigen Blumen aus röhrenlosen und kurzröhrigen, die langen aus kurzen Rüsseln. Beide haben sich ohne Zweifel in gleichem Schritt ausgebildet, so dass stets die Länge der beiden Organe ziemlich gleich war. » Wie könnte nun ein solcher Entwickelungsprozess nach der Selektions- theorie erklärt werden, da in jedem Stadium desselben vollkommene An- passung bestand? Die Blumenröhre und der Rüssel hatten beispielsweise einmal die Länge von 5 oder 10 mm erreicht. Wurde nun die Blumen- röhre bei einigen Pflanzen länger, so war die Veränderung nachteilig, weil die Insekten beim Besuche derselben nicht mehr befriedigt wurden und daher Blüten mit kürzeren Röhren aufsuchten; die längeren Röhren mussten nach der Selektionstheorie wieder verschwinden. Wurden ander- seits die Rüssel bei einigen Tieren länger, so erwies sich diese Veränderung als überflüssig und musste nach der nämlichen Theorie als unnötiger Aufwand beseitigt werden. Die gleichzeitige Umwandlung der beiden Organe aber wird nach der Selektionstheorie zum Münchhausen, der sich selbst am Schopfe aus dem Sumpfe zieht. »Nach meiner Vermutung konnten die langen Blumenröhren aus kurzen in gleicher Weise entstehen wie die grossen Blumenblätter aus kleinen. Durch die beständigen Reize, welche die kurzen Rüssel der In- sekten ausübten, wurden die kurzen Röhren veranlasst, sich zu verlängern. Dieses Wachstum erfolgte als notwendige Wirkung ihrer Ursache, obgleich es zunächst für die Pflanzen sich unvorteilhaft erwies. Mit der wachsenden Länge der Blumenröhre, welche, weil durch die nämliche Ursache be- wirkt, eine allgemeine Erscheinung bei den Individuen einer Sippe war, verminderte sich für die Insekten die Leichtigkeit des Nektarholens. Dieselben wurden zu grösseren Anstrengungen gezwungen, und der damit verbundene Reiz, sowohl der physische, den das Organ bei der Arbeit erlitt, als der psychische, welcher in der gesteigerten Begierde nach dem Ziele lag, verursachte eine Verlängerung des Rüssels, so lange, als eine Verlängerung der Blumenröhre ihr vorausging.< Es schien mir unerlässlich, die vorstehende Darstellung wörtlich wiederzugeben, weil jeder Versuch einer Kürzung den Sinn hätte modi- fizieren können. Schwer zu verstehen ist in obiger Auseinandersetzung erläutert an den Nachtfalterblumen. 293 zunächst der Umstand, dass der Verfasser einen Widerspruch darin findet, wenn einerseits die zunehmende Rüssellänge gewisser Insekten durch die zunehmende Länge der Kronröhre gewisser Blumen erklärt, anderseits aber auch die Ursache der Verlängerung der Kronröhren in der Zunahme der Rüssellänge gefunden wird. Eine derartige gegenseitige Beeinflussung findet sich in der Natur wie im Menschenleben überall, wohin wir auch blicken. Neuson’s Linienschiffe und Kanarıs’ Brander würden heutzutage im Vergleich mit unseren jetzigen Panzerfregatten und Torpedobooten als ziemlich harmlose und völlig wehrlose Feuerwerksfahrzeuge erscheinen. Wie ist diese Veränderung in den Kriegsflotten vor sich gegangen? Die stärkeren Angriffswaffen der Schiffe haben eine Verstärkung der Schutz- bewaffnung herbeigeführt und umgekehrt; von Jahrzehnt zu Jahrzehnt haben sich sowohl die Zerstörungsmittel als die Widerstandsfähigkeit der Kriegsschiffe vermehrt. Ebenso ist es mit den Verkehrsmitteln einerseits, dem Verkehr und der Arbeitsteilung anderseits: sie steigern einander gegenseitig. Dasselbe sehen wir z. B. bei dem deutschen Zuckerrübenbau einerseits, der deutschen Zuckergewinnungstechnik anderseits. Die Arbeit des Technikers an der Verbesserung der Fabrikationsmethoden lohnt sich, weil der Rübenbau so bedeutend geworden ist, und der Rübenbau lohnt sich, weil die Zuckertechnik sich so sehr vervollkommnet hat. Bleiben wir bei Näczrr’s Beispiel stehen und gehen aus von einer Blume mit einer 5 mm langen Kronröhre, die von Insekten mit einem 5 mm langen Rüssel ausgebeutet und befruchtet wird. Nun ist jene Länge von 5 mm niemals eine unveränderliche Grösse. Am ersten Tage der Blüte ist die Kronröhre in der Regel kürzer als am letzten; die absolute Grösse der Blüten und damit auch die absolute Länge der Kronröhren ist ferner von der Gunst der Vegetationsbedingungen, unter welchen die einzelne Pflanze wächst, abhängig. Ebenso ist auch bei den Insekten die absolute Rüssellänge je nach der Grösse der einzelnen Individuen etwas veränderlich. Insekten mit 6 mm langem Rüssel finden die Blumen mit 6 mm langer Kronröhre weniger ausgebeutet als die kurzröhrigen, die ihnen übrigens keineswegs verschlossen sind. Die grossen und lang- rüsseligen Exemplare einer Insektenart werden somit ihre Nahrung in reichlicherer Auswahl finden; sie bedürfen aber auch mehr davon und werden somit in ausgedehnterem Masse die Kreuzung der Blumen ver- mitteln. Aus den durch Kreuzbefruchtung erzeugten Samen werden lebens- kräftigere Pflanzen hervorgehen und unter den Nachkommen der lang- röhrigen Pflanzen wird die Zahl der langröhrigen Exemplare durch Ver- erbung immer mehr zunehmen. Betrachten wir umgekehrt die kurzröhrigen Blumen, so wird deren Honig verschiedenen Insekten zugänglich sein, welche auch andere Pflanzenarten besuchen und daher den Pollen nutzlos verschleppen. Unter der Nachkommenschaft der kurzröhrigen Exemplare werden somit zahlreiche durch Selbstbestäubung erzeugte Schwächlinge sein, so dass im Laufe der Generationen die erblich kurzröhrigen Formen immer mehr in Nachteil kommen müssen. Von Interesse ist auch die Erfahrung, dass eine Varietätenkreuzung in der Regel nicht nur kräftigere Pflanzen, sondern auch grössere Blumen liefert. Es trifft somit eine Reihe von Umständen zusammen, durch welche sowohl die langröhrigen 294 W. O0. Focke, Nägeli's Einwände gegen die Blumentheorie, Blumen als auch die langrüsseligen Insekten begünstigt werden, wenn sie auf einander angewiesen sind. NÄseLr’s Beweisführung würde nur dann stichhaltig sein, wenn Kronröhrenlänge und Rüssellänge innerhalb der Pflanzen- und Insekten- spezies zur Zeit absolut konstante Grössen wären. Erfahrungsgemäss ist dies jedoch durchaus nicht der Fall; ausserdem könnte, wenn es der Fall wäre, von keiner Entwickelung der organischen Arten die Rede sein. NÄGELI gibt daher unbedenklich die Möglichkeit zu, dass Varietäten einer Blumenart mit längerer Kronröhre entstehen, macht aber nun die äusserst unwahrscheinliche Annahme, dass die Verlängerung sofort exzessiv genug sei, um allen Individuen der befruchtenden Insekten die Honiggewinnung zu erschweren. Zu einer wirksamen Befruchtung würde übrigens schon ein Versuch seitens der Insekten genügen; abgesehen davon ist aber auch Jene Annahme, dass die Variation immer eine plötzliche und grosse sein müsse, durchaus willkürlich. NÄseLı lässt auf die wörtlich citierten Stellen nun noch eine Be- sprechung verschiedener anderer Eigentümlichkeiten folgen, welche sich bei den von Insekten besuchten Blumen häufig finden. Die Honig- absonderung in den Blüten erklärt er durch Insektenreiz; Honigdrüsen kommen auch an den vegetativen Organen häufig vor. Die Nützlichkeit der Honigdrüsen für die Pflanzen hatte nach seiner Meinung keinen Einfluss auf die Entstehung des Organs. — Die Klebrigkeit des Pollens bei vielen von Insekten besuchten Pflanzen wird durch den von den In- sekten ausgeübten Reiz erklärt. — Die Farben und Gerüche der Blumen sollen nach Näczrı ebensowenig in Beziehung zu der Insektenthätigkeit stehen, weil sich Farben und Gerüche auch an andern Pflanzenteilen finden. Die Kronblätter als metamorphosierte Staubblätter konnten von vornherein nicht die grüne Farbe der Laubblätter zeigen. Nicht be- sprochen sind die häufigen Schmuckfarben von Kelchblättern, Deckblättern und Hüllblättern, welche gewis keine metamorphosierten Staubblätter sind, nicht besprochen sind ferner die sterilen Schmuckblüten, welche die Augenfälligkeit ganzer Blütenstände vermehren. Auch der Umstand, dass viele Blumen nur zu bestimmten Stunden geöffnet sind oder zu bestimmten Stunden duften, hat keine Erwähnung gefunden. Ohne in eine kritische Untersuchung der Nägelischen Ideen ein- zugehen, darf hier doch wohl beiläufig auf einige Bedenken hingewiesen werden, welche zu den erörterten Fragen in besonders naher Beziehung stehen. Die Annahme, dass die Grössenentwickelung eines bestimmten Pflanzenorgans gefördert sein könne durch mechanische Reize, welche auf das entsprechende Organ der Vorfahren der betreffenden Pflanze aus- geübt wurden, ist nicht bewiesen und lässt sich auch leider schwer be- weisen. Man könnte freilich die Blüten einer Pflanze mit Zuckerwasser benetzen und eine grosse Menge Fliegen mit dieser Pflanze zusammen einsperren; wenn man dann die Samen des so behandelten Exemplars aussäete und mit den daraus hervorgegangenen Pflanzen in gleicher Weise verführe, so würden schliesslich im Laufe der Generationen, falls NÄGELı recht hat, die von ihm erwarteten Erfolge sichtbar werden müssen. Aber erläutert an den Nachtfalterblumen. 295 wie viele Generationen würden wohl dazu erforderlich sein? Die Er- fahrung zeigt, dass die Kronblätter vieler Blüten, welche massenhaft von Insekten besucht werden, verhältnismässig klein geblieben oder gar nicht zur Entwickelung (Castanea, Salix) gelangt sind. Es ist daher nicht be- sonders wahrscheinlich, dass der Zeitraum, den die gegenwärtige geo- logische Periode zur Verfügung stellt, genügen würde, um den Versuch zu Ende zu führen. Unter diesen Umständen ist man doch wohl berechtigt, sich eine andere Vorstellung von der Entstehung der grossen Blumen zu bilden, zumal wenn man sieht, dass es durch methodische Züchtung leicht zu gelingen pflegt, eine Vergrösserung der Blumenkronen zu erzielen. Ein anderer Punkt, über den man sich klar werden muss, ist folgender. Entwickelt und gezüchtet können nur solche Eigenschaften werden, welche bereits in der Anlage vorhanden sind. Farbige und riechende Stoffe sind ohne Zweifel zunächst nur gelegentliche Produkte des vegetabilischen Stoffwechsels gewesen. Wir finden sie manchmal in Organen, in denen sie anscheinend ohne besondere biologische Bedeutung sind, z. B. in unterirdischen Pflanzenteilen (Alcanna, Iris Florentina). Wenn aber die stärker gefärbten und stärker riechenden Exemplare einer Pflanzenart klimatischen Unbilden oder Angriffen von Tieren weniger aus- gesetzt sind, oder wenn ihre Fortpflanzung begünstigt, die Lebenskraft ihrer Nachkommenschaft gesteigert ist, dann werden auch die durch ihren höheren Gehalt an Riech- und Farbstoffen bevorzugten Exemplare in immer grösserer Zahl erhalten bleiben und werden ihre Eigenschaften auf die späteren Generationen vererben. Aus den nämlichen Gründen werden sich Farb- und Riechstoffe besonders in denjenigen Organen an- häufen, in denen sie der Pflanze am nützlichsten sind. Es schien mir nicht überflüssig, an diese einfachen Grundsätze der Selektionstheorie, auf eine besondere Eigenschaft angewandt, zu erinnern, weil NÄgeLı zu glauben scheint, der Nachweis, dass Farb- und Riech- stoffe nicht ausschliesslich in Blumen vorkommen, genüge, um die Bedeutung dieser Substanzen für die Blumen als nebensächlich erscheinen zu lassen. Unsere Gärtner haben Anlagen zu bunten Blattfärbungen in der Natur vorgefunden und haben diese Anlagen durch Kreuzung und Auslese gezüchtet und z. T. in erstaunlichem Grade entwickelt, sie haben aber nicht vermocht, an Laubblättern Färbungen (z. B. Scharlach oder Cyanenblau) zu erzeugen, die nicht bereits in leichten Anfängen in der Natur vorhanden waren. Für die Blumen würden Pfeif- oder Klapper- organe sehr nützlich sein, um durch deren Geräusche Insekten anzulocken ; den Nachtblumen würde zu gleichem Zwecke Phosphoreszenzlicht sehr zu statten kommen. Derartige Eigenschaften konnten aber selbst im Laufe geologischer Epochen nicht gezüchtet werden, weil sich keine Anlagen zu denselben bei den höheren Pflanzen vorfanden. Dass Farbe und Duft Eigenschaften sind, welche vorzugsweise den Blumen zukommen, ist eine Erfahrungsthatsache, für welche man doch gewiss kein Beweismaterial mehr zu sammeln braucht. Gefärbt sind namentlich die Nachbarteile der Sexualorgane, am häufigsten die Kronblätter, in andern Fällen aber auch Staubfäden, Staubbeutel oder Narben, in noch andern Kelchblätter, 296 W. 0. Focke, Nägeli’s Einwände gegen die Blumentheorie, Hüllblätter oder Deckblätter (Arten von Cornus, Melampyrum, Salvia, Bromeliaceen, Poinsettia!), in noch andern ist eine Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen Blüten einer Infloreszenz durchgeführt, indem nur ein Teil derselben die geschlechtlichen Funktionen beibehalten hat, während die andern durch Grösse und Farbe als Lockmittel dienen. Wie mit Farbe und Duft, so verhält es sich auch mit den Honig- drüsen ; sie finden sich in einzelnen Fällen an den verschiedensten Teilen der Pflanzen, aber sie finden sich ganz allgemein in den Blüten der auf Insektenbefruchtung angewiesenen Gewächse. Verlöre einmal eine solche Pflanze ihren Honigsaft, so würden die Insekten ausbleiben und die Art müsste aussterben — eine Betrachtung, die uns sofort wieder mitten in die von NÄgELı bekämpfte Selektionstheorie hineinführt. Unter den Insekten zeichnen sich besonders die Schmetterlinge durch einen langen Rüssel aus, der sie befähigt, Honig aus engen langen Röhren zu gewinnen. Von den Schmetterlingen haben wenigstens viele Arten einen lebhaften Farbensinn, dagegen scheint ihr Sehorgan wenig befähigt zu sein, körperliche Formen aufzufassen. Lehrreich war mir unter anderm folgende Beobachtung. Auf einer Wiese sah ich einem Schmetterling zu, welcher die leuchtend karminroten Blumen einer Nelken- art (Dianthus deltoides) besuchte. Zwischen den Nelken wuchs auch ziemlich viel roter Klee (Trifolium pratense), dessen blassere, mattrosa gefärbte Blütenköpfe für ein menschliches Auge wenig Ähnlichkeit mit den Nelkenblumen hatten. Der Schmetterling irrte sich aber manchmal; er flog auf die Kleeblüten zu und es bedurfte jedesmal einer mehrere Sekunden dauernden Untersuchung mittels der Fühler, um ihn von seinem Missgriff zu überzeugen. — Während die Augen der Schmetterlinge wahr- scheinlich wenig mehr als Licht und Farben zu unterscheiden vermögen, ist der Geruchssinn bei vielen dieser Insekten sehr ausgebildet, nament- lich bei den Schwärmern und auch wohl bei den echten Nachtfaltern und Motten!. Nach diesen Vorbemerkungen möchte ich auf die von NäÄgkuı be- strittenen Anpassungen zurückkommen und an einem besonderen Falle darlegen, wie durch die Blumentheorie Erscheinungen verständlich werden, welche ohne dieselbe einfach als unerklärlich hingenommen werden müssen. Ich will dabei nicht verhehlen, dass ich in einzelnen Punkten NäÄceur’s Einwände und Bedenken für beachtenswert halte. So sollte man, wie ich glaube, möglichst vorsichtig sein mit der Annahme von Farben- Liebhabereien bei gewissen Insektenarten. Die Bevorzugung besonderer Farben könnte in manchen Fällen viel einfacher durch individuelle und vererbte Erfahrung erklärt werden. Kurz, ich denke, man wird wohlthun, auch in der Blumentheorie die Vermutungen von den besser begründeten Erfahrungen möglichst zu sondern. ‘ Der Kürze wegen begreife ich in diesem Aufsatze unter dem allgemeinen Namen Nachtfalter die sämtlichen Gruppen, welche vorzugsweise bei Nacht und in der Dämmerung fliegen, also namentlich auch die Schwärmer (Sphingiden) und Motten. Zum Unterschiede davon nenne ich die Noctuae eigentliche oder echte Nachtfalter. Ich folge übrigens in diesem Sprachgebrauche einfach den be- währtesten Forschern. erläutert an den Nachtfalterblumen. 297 Unter den Anpassungen, welche die Blumen zeigen, sind insbesondere auch diejenigen bemerkenswert, welche eine Befruchtung durch Schwärmer und Nachtfalter bezwecken. Wegen der Schwierigkeit, direkte Beobacht- ungen anzustellen, ist über die Blumenbesuche der eigentlichen Nacht- schmetterlinge und Motten wenig bekannt, während die Thätigkeit der grossen Schwärmer sich der Wahrnehmung viel weniger entzieht. Für die Falter ist, wie erwähnt, der im Grunde einer engen Röhre geborgene Honig zugänglich, mag nun diese Röhre einen freien oder einen dem Blütenstiel angewachsenen (Pelargonium) Sporn darstellen, mag sie in einem Kronblatte liegen (Lilium) oder mag sie durch röhrig verwachsene Kelchblätter (Sileneae) oder Kronblätter gebildet sein. Soll eine Blume in der Dämmerung oder im Mondlicht gut sichtbar sein, so muss sie eine möglichst rein weisse Farbe besitzen. In der Dämmerung sollen ausserdem auch die hellblauen und violetten Tinten gut gesehen werden können. Es ist ferner von besonderem Werte, wenn die Blume recht gross ist oder wenn viele kleinere Blumen gehäuft stehen. Da der Geruchssinn der Falter besser ist als ihr Gesicht, so ist es klar, dass duftende Blumen ganz besonders geeignet sind, diejenigen Schmetter- linge anzulocken, welche in der Dämmerung oder im Dunkeln fliegen. Ist der Duft stark ausgesprochen, so wird die Grösse und Farbe der Nacht- blumen entbehrlich. Die Blumen können dann grünlich werden und die Spreite der Kronblätter wird mitunter sehr klein, so dass zuletzt kaum etwas anderes übrig bleibt als die honigführende Röhre. Es hat dies den Vorteil, dass die unscheinbar gewordenen Kronen nicht mehr leicht gelegentlich von andern Insekten, namentlich nicht von Tagfaltern be- sucht werden, welche den Blütenstaub unnütz verschleppen würden. Ein noch wirksamerer Schutz gegen die schädliche Ausbeutung durch Tagesinsekten besteht darin, dass manche Nachtblumen nur während der Dämmerung und Dunkelheit geöffnet sind. Die meisten duftenden Nachtblumen ent- wickeln während des Tages einen viel schwächeren oder gar keinen Geruch. Rote oder andere lebhaft gefärbte Tagfalterblumen können auch von Nachtfaltern besucht werden, wenn sie duftend sind. Durch eine kräftigere nächtliche Entwickelung von Riechstoffen können sich solche Blumen mehr und mehr der Nachtfalterbefruchtung anpassen. Die Farben werden dann wertlos für sie; während aber aus den weissen Blumen grünliche oder grüne hervorzugehen pflegen, werden aus den roten und bunten in der Regel missfarbige, bräunliche oder selbst schwärzliche. Manchmal werden auch diese dunkeln duftenden Blumen ungewöhnlich klein, während in anderen Fällen auch die missfarbigen Blumen gleich vielen weissen tagsüber geschlossen bleiben. In den polwärts vom 45. Breitengrade gelegenen Gegenden sind um Mitte Sommers die Nächte so hell, dass die weisse Farbe für die dort an offenen Stellen wachsenden Nachtblumen stets von Wert bleibt. Nur in tiefem Waldesschatten wird auch in der kühleren gemässigten Zone die weisse Blumenfarbe zur Nachtzeit wenig sichtbar sein. Die meisten grünen und missfarbigen Nachtblumen scheinen der subtropischen oder der wärmeren gemässigten Zone anzugehören, doch finden sich auch in 298 W. 0. Focke, Nägeli’s Einwände gegen die Blumentheorie niederen Breiten, namentlich auch in den Tropen, zahlreiche rein weisse Nachtblumen. Um die Eigentümlichkeiten der Nachtfalterblumen noch besser zu charakterisieren, wird es nützlich sein, sie mit denen der Windblüten und Tagfalterblumen zu vergleichen. Windblüten sind honiglos und haben unscheinbare grünliche, seltener bräunliche Hüllen ohne Sporne oder röhrige Organe. Öffnen sich die Blüten periodisch, so geschieht dies in den Morgen- oder Mittags- stunden. Sie duften selten; die duftenden Arten sind wahrscheinlich keine reinen Windblüten mehr. Tagfalterblumen besitzen Honig, der in röhrigen Organen ge- borgen ist; sie sind sehr lebhaft gefärbt, besonders häufig karminrot oder purpurn, aber auch scharlach oder mehrfarbig bunt oder lebhaft blau. Öffnen sich die Blüten periodisch, so geschieht dies in den spä- teren Morgen- und Mittagsstunden. Sie duften manchmal. Nachtfalterblumen besitzen Honig, der in röhrigen Organen geborgen ist; sie sind meistens weiss gefärbt, zum Teil aber auch grün, braun oder verwaschen unrein. Öffnen sich die Blüten periodisch, so geschieht dies in den Abendstunden. Die meisten weissen und alle grünen, braunen oder missfarbigen Blumen haben einen sehr kräftigen, angenehmen oder seltener widerwärtigen Duft, falls nicht schon die ganze Pflanze riechend ist. Nur grosse, weisse, an offenen Stellen wachsende Nachtblumen sind manchmal geruchlos. Es gibt manche Blumen, welche sowohl von Tagfaltern als von Nachtfaltern besucht werden, wie es ja auch einige Schwärmer und eigent- liche Nachtschmetterlinge gibt, welche häufig bei Tage fliegen. NÄgerı erkennt die Selektionstheorie nicht an. Betrachtet man nun aber die näher geschilderten Eigenschaften der Tag- und der Nachtblumen, so ist es doch gewiss sehr schwer, dieselben für zufällig zu halten oder anders als durch Anpassungen zu erklären, die mittels Auslese zu stande gekommen sind. Wie sind manche Blumen dazu gekommen, sich nachts zu erschliessen, während die nächst verwandten Arten bei Tage blühen ? Wie sind sie dazu gekommen, nachts stärker zu duften? NÄGELLI setzt den Blumenduft einfach als gleichwertig mit den Riechstoffen der grünen Pflanzenteile. In manchen Fällen hat man allerdings auch in den Blumen Camphene und Terebene als Träger des Geruchs erkannt. Daneben scheinen aber doch auch andere Stoffe vorhanden zu sein, welche in sehr geringen Mengen die Geruchsnerven lebhaft affizieren. Diese feinsten Blumendüfte sind noch nicht chemisch isoliert, weil sie in zu geringen Quantitäten vorkommen. Die Verdampfung der ätherischen Öle, welche sich in Blät- tern und andern Pflanzenteilen finden, hängt im wesentlichen von der Temperatur und von der vorausgegangenen Verdunstung des überschüssigen Wassers aus ölreichen Pflanzenteilen ab. Rutaceen, Labiaten und Koni- feren verbreiten ihre balsamischen Düfte vorzüglich bei warmem trockenem Wetter. Offenbar muss aber das nächtliche Duften so mancher weissen und missfarbigen Nachtblumen ganz andere Ursachen haben; es handelt sich in diesem Falle gewiss nicht um eine von den gewöhnlichen physi- kalischen Ursachen abhängige Verflüchtigung von vorher vorrätigen und erläutert an den Nachtfalterblumen. 299 in besondern Drüsen abgelagerten Ölen!. Und nun die Farben! — Warum öffnen sich nicht auch manche lebhaft gefärbte Blumen abends? Warum finden sich unter den lebhaft gefärbten Blumen nicht auch manche nachts duftende? Warum sind die weissen Nachtblumen durchschnittlich grösser, die grünen und braunen durchschnittlich kleiner als die lebhaft gefärbten Tagblumen der verwandten Arten? Doch genug der Fragen — wenn hier kein Verhältnis von Ursache und Wirkung vorliegt, so würde alles Forschen nach Kausalität in der organischen Natur überhaupt eine Thorheit sein. Als Beispiele von Nachtblumen seien hier folgende angeführt: Cereus grandiflorus Mıwn., die »Königin der Nacht«. Die Blumen sind von ausserordentlicher Grösse, prächtig weiss und sehr wohlriechend; sie öffnen sich abends gegen 8 Uhr und schliessen sich schon nach etwa 6 Stunden für immer. Sie sind nur bei Fremdbestäubung fruchtbar. In der That ist diese Pflanze die ausgeprägteste, schönste und grösste aller Nachtblumen. Vermutlich sind auch die übrigen weissblumigen Kakteen Nachtblüher; die Mehrzahl der Arten aus dieser Familie blüht übrigens prächtig rot oder gelb. Convolvulus sepium L., die weisse Zaunwinde, die ansehnlichste un- serer in Nordeuropa einheimischen Nachtblumen. Die Blumen sind ge- zuchlos und schliessen sich — nach Herm. MÜLLER — in sehr dunkeln Nächten, während sie bei Mondlicht stets geöffnet bleiben. Lonicera caprifolium L. und L. periclymenum L., die » Jelängerjelieber«- Arten, sind langröhrige Schwärmerblumen, deren Färbung zwar hell, aber nicht rein weiss ist, die jedoch abends durch kräftigen Wohlgeruch und reichen Honiggehalt die Schwärmer und eigentlichen Nachtfalter anlocken. Mirabilis longiflora L. hat weisse, bei Tage geschlossene Blumen mit sehr langer (14 cm) enger Röhre. Hesperis tristis L. hat missfarbige, nachts köstlich duftende Blumen. Die Daphne-Arten, von denen sich einige durch prächtige Blumen- farben, andere durch Wohlgeruch auszeichnen, sind zum Teil Falterblumen. Bemerkenswert sind die unscheinbaren, grünen, aber abends köstlich duf- tenden Blüten von D. laureola L. — Spezielle Beobachtungen über die Insekten, welche Daphne laureola und Hesperis tristis befruchten, sind mir nicht bekannt. Liliaceae. Die weissen Blumen der Yucca-Arten sollen von kleinen Nachtfaltern befruchtet werden. Paradisia liliastrum Bert. wächst auf Alpenwiesen, hat sehr ansehnliche, rein weisse Blumen und wird von Schwärmern befruchtet. Bei Zilium findet sich der Honig in einer engen Rinne der Kronblätter; die grossen reinweissen wohlriechenden Blumen der allbekannten weissen Lilie (Z. candidum L.) sind offenbar der Befruchtung durch Schwärmer vorzüglich angepasst. Ähnlich wird es sich mit den andern Arten verhalten, welche durch grosse, helle, meist weisse Blumen ausgezeichnet sind. Auffallend erscheint es auf den F Einige Thatsachen legen den Gedanken nahe, dass die Riechstoffe mancher Blumen schwache Basen (wie Diphenylamin oder der Moschusduft) sind, welche vielleicht bei Tage von fixen Säuren des Zellsaftes gebunden werden, während sie abends, von stärkeren Basen ausgetrieben, mit der Kohlensäure abdunsten. 300 W. ©. Focke, Nägeli’s Einwände gegen die Blumentheorie, ersten Blick, dass nach Hrxrm. Mürver’s Beobachtung auch das rote L. martagon eine Schwärmerblume ist. Vergleicht man indes die matten Tinten der Blumen dieser Art mit den leuchtenden Farben der Tagfalter- lilien, so ist der Unterschied sehr ausgesprochen. In der That ist L. martagon an seinen natürlichen Standorten eine wenig augenfällige und leicht zu übersehende Blume. Eine in Dalmatien wachsende Lokalrasse, das L. Cattaniae Vıs., ist in der Verfärbung noch weiter fortgeschritten; es hat dunkelbraune Blumen. Auch die dunkelblumige Sarana wird eine Nachtblume sein. Amaryllideae. Die Arten der Gattungen Pancratium, Ismene, Crinum u. s. w. zeichnen sich durch grosse weisse Blumen mit engen Honigröhren aus und scheinen in ausgeprägter Weise der Befruchtung durch Schwärmer angepasst; manche dieser Blumen sind ungemein wohl- riechend. — Die ansehnlichen weissen Blüten von Nareissus poöticus ver- breiten abends einen starken würzigen Duft. Auch andere weissblühende Narzissen dürften der Nachtfalter- befruchtung angepasst sein. Eine südspanische Art, N. viridiflorus, hat grüne Blüten. Irideae. COrocus vernus Auu. mit weissen oder blauvioletten Blumen ist, wie RıccA und Hrrm. MÜLLER nachgewiesen haben, wesentlich, wenn auch nicht ausschliesslich, eine Nachtfalterblume. In der Gattung Gla- diolus herrschen leuchtendes Karminrot und ähnliche lebhafte Farben vor. Der südafrikanische @l. tristis indes ist durch düstere Blütenfärbung und starken Duft als Nachtfalterblume charakterisiert; einige andere Arten scheinen sich ähnlich zu verhalten. OÖrchideae. Unter unsern einheimischen Arten verbreiten die langspornigen Platanthera-Arten abends einen köstlichen Wohlgeruch. Die auf offenen Stellen wachsende PI. bifolia (solstitialis) blüht weiss, während P!. chlorantha, die schattige Standorte vorzieht, grünliche Blumen hat. Gymnadenia albida wird nach Hrrm. Mütter durch kleine Nacht- falter befruchtet. Unter den tropischen Orchideen ist die Gattung An- graecum durch weisse Blumen und ausserordentlich lange Sporne aus- gezeichnet. Solaneae. Die Blüten der Datura-Arten erinnern in ihrer Gestalt an die von Convolvulus sepium, doch scheinen sie in Mitteleuropa über- haupt nicht von befruchtenden Insekten besucht zu werden. Ausser den weissen kommen auch viele blassblaue Blumen in der Gattung vor. — Von Petunia kultivieren wir in unsern europäischen Gärten zwei ver- wandte Arten, die violette P. violacea Lınpr., und die weisse P. nycta- giniflora Juss., nebst deren zahlreichen Kreuzungsprodukten. Alle diese Garten-Petunien werden ausserordentlich emsig von Schwärmern besucht. — Die Gattung XNicotiana, enthält zahlreiche langröhrige weisse nacht- blühende Arten (N. acuminata, affınis, suaveolens, vincaeflora, alata ete.), von denen einige abends köstlich duften. An diese Arten schliessen sich mehrere grünblumige, welche sich während des Tages nicht schliessen und bei welchen der freie Saum, der bei den weissblumigen als Lock- mittel sehr entwickelt ist, von geringer Breite zu sein pflegt. Die Blume von N. paniculata L. besteht z. B. nur aus einer ziemlich engen langen erläutert an den Nachtfalterblumen. 301 grünlichen Röhre mit einem ganz schmalen grünen Saum, der gerade gross genug ist, um als Anflugplatz zu dienen. Ihre Abstammung von mehr entwickelten Blumen verraten diese grünen Nicotianen dadurch, dass sie gleich den andern Arten noch deutliche Spuren von Zygomorphie zeigen. Sie besitzen keinen besondern Blumenduft, aber der nauseose Geruch der ganzen Pflanze ist stark genug, um Insekten heranzulocken; seine Entwickelung ist auch nicht von der Einwirkung der Sonnenwärme abhängig, wie dies bei den ätherischen Ölen der Fall ist. — Die Arten von Cestrum blühen fast alle weiss, blassgelblich oder blassgrün; ihr Laub hat einen starken unangenehm nauseosen Geruch, aber die Blüten vieler Arten entwickeln nachts einen starken und köstlichen Wohlgeruch (z. B. C. vespertinum, nocturnum, Parqui, paniculatum, odontospermum ete.). Der Gegensatz zwischen dem widerwärtigen betäubenden Geruch der Blätter und dem köstlichen nächtlichen Duft der Blüten ist besonders ausgeprägt bei (. foetidissimum Jacq. Es gibt übrigens auch einige . Cestrum-Arten, welche ihren Wohlgeruch bei Tage nicht verlieren (Ü. di- urnum, (0. fastigiatum). Die Gattung Cestrum zeigt besonders deutlich, dass der Blütenduft in gar keiner direkten Beziehung steht zu den Riech- stoffen der vegetativen Pflanzenteile. Rubiaceae. Diese grosse Familie ist besonders reich an lang- röhrigen weissen Blumen, ‚welche oft auch sehr wohlriechend sind. Unter den europäischen Arten ist die wohlriechende weisse Asperula taurina eine ausgeprägte Schwärmerblume (nach Herm. MüLter). Die andern Arten von Asperula haben kürzere Blumenröhren und sind daher auch Hyme- nopteren zugänglich; man könnte nichtsdestoweniger vermuten, dass kleine Nachtfalter die wichtigsten Befruchter sind. Unter den auslän- dischen Arten sei an die weissblühenden langröhrigen Gardenien und Ixoren erinnert, deren Wohlgerüche zu den allerbeliebtesten gehören. Die Gat- tungen Bowvardia, Rondeletia und andere charakterisieren sich durch ihre röhrigen Kronen als für Falterbefruchtung berechnet; die einzelnen Arten pflegen teils schön rot (für Tagfalter), teils weiss zu blühen. Cinchona scheint der Befruchtung durch kleine Nachtfalter angepasst, während der Bau von Exostemma auf Schwärmer deutet. Auch die durch ihre Pollen- schleudervorrichtung bekannte Gattung Posoqueria wird vorzugsweise von Schwärmern befruchtet. Geraniaceae. Die Gattung Pelargonium besitzt eine sehr enge, dem Blütenstiel angewachsene Honigröhre, welche nur für Schmetterlinge zugänglich ist. Die meisten Arten haben lebhaft gefärbte Blumen, welche geeignet sind, Tagfalter anzulocken. Es gibt aber auch weissblumige Arten, darunter P. yrandiflorum Wıuuo., welche wahrscheinlich von Schwär- mern besucht werden; mehrere Arten haben bunte, meistens weiss und rote Blumen. — Merkwürdiger sind die Arten mit kleinen, missfarbigen, bei Tage geruchlosen, aber nachts ungemein stark und würzig duftenden Blumen. Bei P. gibbosum Wiınuv. ist die Blütenfarbe gelbgrün, bei P. lobatum Wıuun., P. multiradiatum Wexpt. und einigen andern Arten dunkelbraunrot, fast schwarz. Diese düstern nachtduftenden Pelar- gonien sind sicherlich ebensoviel von Insekten besucht worden, wie die farbenprächtigen bei Tage blühenden Arten; nach der Nägelischen 302 W. ©. Focke, Nägeli's Einwände gegen die Blumentheorie etc. Ansicht hätten sich daher auch ihre Kronblätter ebensogut entwickeln müssen. Sileneae. Während in vielen andern Fällen durch Verwachsung der Kronblätter eine sowohl die Sexualorgane als auch den Honig bergende Röhre gebildet wird, sind es bei den Sileneen die Kelchblätter, welche zu einer Röhre verwachsen sind, innerhalb welcher Sexualorgane, Honig und die untern Teile (sog. Nägel) der Kronblätter enthalten sind. Im Gegen- satz zu den nahe verwandten Alsineen, deren Kelchblätter frei sind, zeich- nen sich die Sileneen durch ansehnliche Blumen aus, deren Kronen ent- weder weiss oder rot in verschiedenen Nüancen (Karmin, Rosenrot, Schar- lach) zu sein pflegen; die gelbe Farbe ist selten. In den Gattungen Dianthus, Saponaria, Lychnis, Coronaria, Melandryum, Silene und deren Verwandten sind die Blumen im allgemeinen der Falterbefruchtung an- gepasst. Von den karminroten Arten sind einige nur während der Tages- stunden offen (Dianthus), von den weissen sind einige während des Tages geschlossen. Den stärksten Duft entwickeln weisse Dianthus-Arten. Sind eine weisse und eine rote Art nahe verwandt, so hat die weisse die grösseren Blumen (Zychnis senno, Melandryum album). Melandryum rubrum und M. album sind einander so ähnlich, dass Lins& sie nicht als Arten, sondern nur als Varietäten unterschied; M. rubrum hat rote, sich nicht schliessende Blumen und wächst vorzugsweise an schattigen Stellen; das Kraut riecht ziemlich stark. Bei M. album sind die Blumen grösser, vein weiss und während des Tages geschlossen; es wächst an offenen Plätzen; der Geruch ist schwach. Beide Arten sind zweihäusig, können daher nur durch Insekten befruchtet werden. M. album schliesst die bei Tage fliegenden Insekten aus, während M. rubrum zwar vorzüglich durch Tagfalter, aber auch durch Schwärmer, die vom Geruch geleitet werden, befruchtet werden kann. — In ausgezeichneter Weise den Schwärmern angepasst sind die sehr langröhrigen, schön weissen (seltener grünlichen) Blumen mancher Silene-Arten. Es kann unmöglich geleugnet werden, dass bei den genannten Blumen ebenso wie bei vielen tausend anderen eine genaue Beziehung zwischen ihren Eigenschaften und den Insektenbesuchen vorhanden ist. Gibt man einmal die Möglichkeit von Variationen zu, so würden auch z. B. geruchlose schwarze Pelargonien oder bei Tage geschlossene rote Nelken entstehen können. Derartige Varietäten würden aber nicht be- fruchtet werden, folglich auch nicht existenzfähig sein und würden da- her wieder verschwinden müssen. Gibt man dies einmal zu, so ist es doch auch klar, dass ausser den lebensunfähigen auch die minder lebens- fähigen, d. h. die minder gut ausgerüsteten Abänderungen im Laufe der Zeit aussterben müssen. Und wenn man diese Schlussfolgerungen aner- kennt: wozu denn eigentlich ein Kampf gegen die Selektionstheorie? Wo- zu an deren Stelle unbeweisbare neue Hypothesen ? Biologische Studien, angestellt in der Zoologischen Station in Neapel. Von Dr. Hugo Eisig.“ VIll. Über den Einfluss künstlicher Beleuchtung auf das Verhalten verschiedener Seetiere. Durch häufige während der Nacht im Aquarium angestellte Beob- achtungen wurde ich darauf aufmerksam, dass sich die verschiedenen Tiere der künstlichen Beleuchtung gegenüber sehr verschieden verhalten. Die meisten Knochenfische zogen sich scheu zurück, sobald die Lampe in die Nähe kam; dabei richteten sie ihre Rückenflossen ganz so auf, wie sie es bei Tage nach heftiger Beunruhigung, im gegenseitigen Kampfe oder während des Ergreifens der Beute zu thun pflegen; andere wichen zwar dem Lichte nicht sofort aus, gaben aber doch durch Auf- richtung der Flossenstrahlen ebenfalls ihre Aufregung zu erkennen. Eine Teleostierspezies aber, die Zichia glauca, zeigte sich nicht im geringsten beunruhigt, im Gegenteil: sie schwamm mit Vorliebe an den von der Lampe am intensivsten beleuchteten Stellen. Die im ganzen viel stumpfsinnigeren Selachier zeigen auch in ihren durch die Beleuchtung der Bassins hervorgerufenen Reaktionen einen viel trägeren Ausdruck als die Teleostier: Scyllium und Torpedo, welche um diese Zeit ab und zu in Bewegung getroffen werden, ziehen sich ge- wöhnlich bald von den durchleuchteten Stellen der Behälter nach dunk- leren hin zurück; Mustelus dagegen macht auf seinen kontinuierlichen Schwimmtouren umgekehrt häufig an den durchleuchtetsten Stellen eine Pause, ja er kommt sogar zuweilen an die Scheibe, in die Nähe des Lichts. Von den Cephalopoden zeigten die Octopus stets die grösste Em- pfindlichkeit gegen die Einwirkung greller Lichtstrahlen: sie zogen sich so tief wie möglich in ihre Verstecke zurück, schlossen ihre Augen und veränderten stark die Farbe; alles Merkmale starker Furcht, Ärgers oder Schrecks bei diesen Tieren. Viel weniger unangenehm berührt pflegte * s. Kosmos XII, S. 388, 438; XIII, S. 128. 304 Hugo Eisig, Biologische Studien. sich Sepia zu zeigen: nicht nur dass sie ihren Standort nicht verliess und die Augen nicht schloss, junge Individuen kamen sogar häufig nahe zur Scheibe heran. Aber ganz dem Benehmen des Octopus entgegengesetzt ist nun gar dasjenige des Loligo: diese Tintenfische erscheinen wie dämonisch vom Lichte angezogen. Sobald ich nur die Lampe in die Nähe brachte, , eilten diese sonst in rhythmischen Bewegungen hin und her schwimmenden Tiere in heftigen, raschen Stössen zur Lichtquelle und kehrten nach einer etwaigen Exkursion stets wieder zu derselben zurück. Es ist bemerkenswert, dass nahezu alle die genannten lichtliebenden Tiere (Zichia, Mustelus, Loligo) auch zu den konstant sich bewegenden gehören (vergl. Biolog. Studien II: Über das Ruhen der Fische, Kosmos xal 1883, Ss. 438). IX. Pathoiogisches. Wenn man unter den Seetieren nur selten Krankheiten zu kon- statieren vermag, so liegt dies wohl vorwiegend daran, dass der Kampf ums Dasein im Meere Individuen, welche nicht mehr in der Vollkraft ihrer Leistungen stehen, rasch zum Untergange führt; sodann aber in unserer geringen Übung, pathologische Zustände, selbst wenn solche vor- liegen sollten, in den oft normal noch nicht einmal genügend bekannten Organen solcher Tiere zu unterscheiden. Bezüglich des ersten Punktes ist die Erfahrung von Interesse, dass selbst in der Gefangenschaft Fische, die bis dahin aufs friedlichste mit einander in demselben Behälter ge- haust hatten, einen Gefährten von dem Moment ab bedrohen, in dem er Zeichen des Krankseins erkennen lässt; bezüglich des letzteren aber die- jenige, dass, wenn man sich nur intensiv mit einer marinen, selbst von den höheren Formen sehr abweichenden Art beschäftigt, aussergewöhnliche Organverhältnisse resp. pathologische Störungen ebensogut zur Beob- achtung gelangen wie bei jenen. Ferner mag der Thatsache gedacht werden, dass sog. äussere, also leicht erkennbare Krankheiten, insbesondere Haut- und Augenleiden, bei den Fischen z. B. nichts weniger als selten vor- kommen, ganz abgesehen vom Parasitismus, von welchem nahezu alle Meeresbewohner, z. T. sogar in sehr hohem Grade zu leiden haben. -Im nachfolgenden möchte ich nun einen Beitrag zum Kapitel der >Krankheiten mariner Tiere« liefern, welcher die Tintenfische, speziell den Pulpen (Octopus vulgaris) betrifft; es darf derselbe um so mehr Interesse in Anspruch nehmen, als die Symptome der betreffenden Erkrankung es sehr wahrscheinlich machen, dass wir, sei es nun unmittelbar oder mittelbar, in einer Störung der intellektuellen Sphäre die Ursache des Leidens zu suchen haben. Bereits dreimal im Laufe von etwa 8 Jahren wurden jeweils im Sommer, zur Zeit, da sich diese Tiere in der höchsten Geschlechtsthätigkeit be- fanden, im Aquarium der Station Pulpen beobachtet, welche sich selbst ihre Arme abfrassen. An dem zuletzt (im vergangenen Sommer) beob- achteten Fall ging das so weit, dass das sich selbst auffressende Indi- viduum, ein nahezu 1!/a Fuss Länge des Rumpfes messendes Männchen, schliesslich alle acht Arme teils zur Hälfte, teils fast bis zur Scheibe hinauf verzehrt hatte. Vier Tage hindurch konnte das Tier, und zwar meistens in Hugo Eisig, Biologische Studien. 305 solcher Selbstverstümmelung begriffen, beobachtet werden; in der darauf- folgenden Nacht verendete es. Pulpen, sowohl Männchen als Weibchen, pflegen während der Geschlechtsthätigkeit, insbesondere während der Brutpflege, an welchem Akte sich beide Geschlechter beteiligen, keine Nahrung zu sich zu nehmen: sie kommen daher während dieser Periode stets sehr herunter und die Sterblichkeit ist gross. Die sich selbst auffressenden Pulpen sind nun solche während der Geschlechtsperiode bereits »herabgekommene Individuen«, und damit ist eigentlich schon gesagt, dass es nicht etwa Nahrungsmangel sein könne, der sie zu so selbstmörderischem Thun anspornt. Um aber dies über jeden Zweifel sicher zu stellen, habe ich einem so erkrankten Tiere selbst alle jene Speisen dargeboten, die sonst am gierigsten verschlungen werden; um- sonst — nicht nur wurde solches Futter nicht angenommen, es wurde sogar zu meiner Überraschung durch einen der abgefressenen Stümpfe demonstrativ zur Seite geschoben. Die Krankheit ist auch nicht von der Gefangenschaft abhängig, denn es sind schon Tiere mit ähnlich ange- fressenen Armen von Fischern gefangen und der Station abgeliefert worden. Fälle von Selbstverstümmelung kommen auch bei andern marinen Tieren vor: so gibt es gewisse Würmer, die sich auf einen blossen Reiz hin selbst in Stücke abschnüren; Holothurien pflegen misshandelt ihren ganzen Darmkanal auszuspeien u. S. w. Diese Tiere sind aber von so niederer Organisation und in ihrem Leben und Treiben überdies so wenig bekannt, dass man auch nicht einmal versuchsweise Vermutungen über ihr Thun und Lassen zu äussern ver- möchte. Anders bei unserem Pulpen: er gehört zu den intellektuell am höchsten entwickelten Bewohnern der See. Seine Handlungen sind uns, so lange er sich normal befindet, meistens durchaus verständlich; sie machen in hohem Grade den Eindruck, aus folgerichtigem Überlegen zu entspringen. Ob solch ein Tier beim ersten Tritt des in der Nähe des Bassins mit dem Futter erscheinenden Wächters an den Wasserspiegel schiesst, ob es die Beute von seinem Winkel aus beschleicht, ob es sich vor einem übermächtigen Gegner zu schützen sucht, ob es sich zum Kampfe mit dem Rivalen rüstet, oder ob es endlich Steine zum Nestbau herbei- schleppt — stets begreifen wir, auch von unserem bloss beobachtenden Standpunkte aus, das der Situation entsprechende Thun des Geschöpfes. Dem gegenüber können wir daher auch das Thun des erkrankten Tieres, welches überdies einem der mächtigsten Instinkte aller Organismen, dem Selbsterhaltungstriebe schnurstracks zuwiderläuft, nicht anders denn als ein — verrücktes Thun bezeichnen. X. Medusenfressende Fische. Unter den Glocken von Cassiopea borbonica und Rhizostoma pulmo — der zwei ansehnlichsten Medusen des Golfs — pflegen häufig kleinere ! Es mag hier auch des spontanen Abwerfens ganzer Gliedmassen von seiten beunruhigter Krebse gedacht werden. Nur liegt die Sache in diesem Falle insofern anders, als hier ein spezifischer, auf reflektorische Reizung hin die Abtrennung be- wirkender Mechanismus vorhanden ist und es daher keinem Zweifel unterliegen kann, dass man es mit einer den betreffenden Geschöpfen im Kampfe ums Dasein nützlichen Einrichtung zu thun habe. Kosmos 1884, I. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XIV). 20 306 Hugo Eisig, Biologische Studien. Fische zu hausen, welche so unzertrennlich von ihren Genossen sind, dass sie nicht selten mit ihnen in die Gefangenschaft geraten. Auch noch in den Bassins schwimmen sie beständig um die Me- dusen herum und ziehen sich zuweilen auch unter deren Schirm zurück. Ich war lange Zeit hindurch der Meinung, dass diese Fische die Medusen nur deshalb begleiten, um bei herannahender Gefahr Schutz unter deren Schirm zu suchen; aber es stellte sich heraus, oder es bestätigte sich, dass dieses Verhältnis kein so harmloses ist. Von diesen Begleitern der Medusen sind folgende sämtlich zur Familie der Makrelen gehörigen Formen zur Beobachtung gekommen: Stromateus microchirus, Caranı trachurus und Schedophilus medusophagus. Stromateus ist weitaus der am häufigsten erscheinende und ein ungefähr zwei Zoll langes Exemplar dieser Gattung wurde eines Tages mit einer ungefähr fünf Zoll Schirm- weite messenden Cassiopea zusammengebracht. Am nächsten Morgen schon fand ich die Meduse aller ihrer Wurzelspitzen beraubt; der Fisch hatte sie aufgefressen. Bald hatte ich Gelegenheit, ein anderes Exemplar beim Fressen zu beobachten, so dass gar kein Zweifel über die Thatsache walten kann. Dass aber diese Nahrung nicht etwa nur aus Mangel an anderem geeignetem Futter gewählt wurde, geht aus folgendem hervor. Ein grösseres, etwa sechs Zoll langes Tier, welches längere Zeit hindurch in einem Bassin ohne Medusen gehalten worden war, nahm keinerlei Nahrung zu sich und kam schliesslich so sehr herab, dass ich für sein Leben fürchtete; nachdem ihm aber eine Cassiopea zugesellt worden, wurde das vorher ziemlich träge Tier ganz lebhaft, schwamm beständig um die Meduse herum, und es dauerte nicht lange, bis es sie anzufressen begann. Zwei Dinge sind nun in diesem Verhältnisse auffallend. Erstens, dass sich die genannten Fische unbehelligt um die mit Nesselbatterien ausgerüsteten Arme der Medusen herumtreiben können, während so viele andere Arten, und häufig ihnen an Grösse nicht nachstehende, tot den Armspitzen anhängend getroffen werden. Zweitens, dass sich diese Makrelen von einem Gewebe zu ernähren vermögen, welches auf die meisten anderen Fische als Gift wirkt oder doch zum mindesten als Nahrung verschmäht wird!. Xl. Über die Eiablage der Seebarsche (Labrax) und Lippfische (Crenilabrus). In dem grossen Bassin des Aquariums leben seit einem Jahre etwa ein Dutzend Exemplare von ZLabrax lupus beiderlei Geschlechts. Das grösste Exemplar, ein Weibchen, begann vor mehreren Monaten einen beträchtlicheren Umfang anzunehmen: es reiften seine Eierstöcke. Leider entleerte das Tier nach einiger Zeit die Geschlechtsprodukte unbemerkt, wahrscheinlich in der Nacht, denn eines morgens erschien es in seinem normalen Leibesumfang. Glücklicher gestaltete es sich mit dem zweiten, nicht ganz so grossen Weibchen der Gruppe, welches schon seit mehreren Wochen ! In dieser Hinsicht mag an Balistes capriscus erinnert werden, welcher, un- bekümmert um die von andern Fischen so gefürchteten Nesselfäden, Aktinien zu verspeisen pflegt. Hugo Eisig, Biologische Studien. 307 ebenfalls durch auffallendes Anschwellen des Körpers die herannahende Geschlechtsthätigkeit verraten hatte. Heute früh! nämlich meldete mir der Wärter des Aquariums, dass das genannte Tier im Begriffe sei, seine Eier abzulegen, und dabei beständig von einer Anzahl Männchen umschwärmt werde. Ich begabmich sogleich an das betreffende Bassin und fand das bezeichnete Weibchen rascher und unruhiger als sonst umherschwimmend. Dicht hinter ihm aber folgten bald drei, bald vier, bald fünf kleinere Tiere, die ihrem ganzen Gebahren nach für die Männchen gehalten werden mussten. Unter allen zeichnete sich eines der- selben durch Geschicklichkeit und Beharrlichkeit im Verfolgen aus; denn es gelang ihm, wie immer auch das Weibchen sich drehen und wenden mochte, letzterem den Weg abzuschneiden und es bei dieser Gelegenheit mit dem Maule zu berühren oder seinen Leib an demjenigen des Ver- folgten zu reiben. Darauf schien es aber den brünstigen Männchen an- zukommen, denn so oft es einem anderen der drei geschickteren Männchen (welche allein von den fünf unaufhörlich den Bewegungen des Weibchens folgten) gelungen war, das letztere zu erreichen, so führten sie ganz ähnliche Berührungen mit dem Maule und dem Leibe aus, wie das zu- erst hervorgehobene Männchen. Oft kam es vor, dass alle drei Männchen zugleich das Weibchen erhaschten und es von allen Seiten so bedrängten, dass dem letzteren kaum ein Ausweg blieb. Dieser Umstand wird wohl auch das Weibchen zum Teil veranlasst haben, vor seinen Bewerbern — allerdings ohne Erfolg in dem engen Raume eines relativ auch noch so srossen Bassins — die Flucht zu erstreben. Der Wärter hegte aller- dings eine andere Vermutung: er meinte, die Zabrax pflegten, wie ihm aus der Beobachtung im freien Meere bekannt sei, ihre Eier auf Pflanzen abzulegen und unser Weibchen suche in dem allen Strauchwerks ent- behrenden Behälter ängstlich nach dem gewohnten Brutplatze; daher seine Unruhe und Hast in den Bewegungen. Das Verhalten der Männchen im Verfolgen der Weibchen verglich er treffend mit demjenigen von brün- stigen Hunden. Ich verweilte etwa eine Stunde vor dem Bassin und sah unauf- hörlich dasselbe, im vorhergehenden geschilderte Manöver sich wieder- holen, ja dieses Verfolgen von seiten der Männchen und Ausweichen von seiten des Weibchens dauerte noch zwei volle Tage in derselben Weise fort. Am dritten Tage erst legte das Weibchen die Eier ab und während dieses Aktes erfolgte auch die Entleerung des Samens von seiten der Männchen. Die letzteren bewegten sich dabei wie Pfeile um das Weibchen herum und trübten durch die grosse Menge des ergossenen Sperma das Wasser. Wie ungestüm sich die Tiere während des Befruchtungsaktes gebärdeten, mag daraus entnommen werden, dass sie, die sonst so vorsichtig jede derbe Berührung vermeiden, sich gar nicht selten so heftig an den Felsen anstiessen, dass Schuppen abfielen. Als besonders bemerkenswert muss hervorgehoben werden, dass die ! Die diesem Aufsatze zu Grunde liegenden Notizen wurden am 16. Januar 1876 niedergeschrieben. 308 Hugo Eisig, Biologische Studien. Männchen in keinerlei Weise irgend welche Eifersucht verrieten, keines war bestrebt, das andere zu verdrängen. Ein ganz entgegengesetztes Verhalten zeigen die zu den Tippnschen gehörigen Orenilabrus-Arten. Das zur Eiablage sich anschickende Weibchen bereitet sich ein Nest, in welchem es in Gesellschaft eines offenbar von ihm auserwählten Männchens ruhig schwebend oft Tage lang verweilt. Zeitweise erfolgen am Leibe des Weibchens heftig zitternde Bewegungen und während derselben bringt das Männchen seinen Leib mit demjenigen des Weibchens in ähnliche Berührungen, wie sie von den Labrax ge- schildert wurden. Den grössten Teil der Zeit bis zur Ablage der Ge- schlechtsprodukte bringt aber das Männchen damit zu, etwaige Rivalen zu verdrängen. Auf jeden in die Nähe kommenden Insassen des Bassins, selbst wenn er einer ganz anderen Gattung angehört, richtet das bevor- zugte Männchen wütende Angriffe; ich habe solche eifersüchtige Tiere unverhältnismässig viel grössere Rivalen in die Flucht schlagen resp. beissen sehen. Die Labroiden befestigen ihre Eier wie so viele andere Fische auf festen Körpern, mit Vorliebe auf Pflanzen. Im Bassin des Aquariums werden zu diesem Behufe Zostera-Büsche gehalten. Vor der Eiablage nun bemühte sich das Weibchen, alle die Blätter dieser Pflanze mit dem Maule zu reinigen. Die Eiablage selbst erfolgt ähnlich wie bei Zabrax unter heftig zitternden Bewegungen des Leibes; gleichzeitig ergiesst das Männchen unter fortwährenden Berührungen des Weibchens das Sperma. Nachdem der Befruchtungsakt vorüber, bekümmert sich das Weibchen nicht mehr um die Brut; das Männchen dagegen bewacht dieselbe in wahrhaft staunenerregender Weise. Unaufhörlich verfolgt es jeden Mit- bewohner des Bassins — die eigenen Weibchen ausgenommen — der sich dem Brutplatze nähert, auch grössere, stärkere Tiere werden mutig angegriffen und — soweit meine Beobachtungen reichen — stets über- wunden. Dieser Schutz dauert wochenlang, wahrscheinlich bis zum Aus- schlüpfen der Jungen. Den Endpunkt der Brutpflege festzustellen ist übrigens aus dem Grunde schwer, weil ein und dasselbe Männchen sich successive immer neue zur Eiablage bereite Weibchen zugesellt und so Eier verschiedenen Alters auf ein und demselben Stocke abgesetzt werden. Wissenschaftliche Rundschau. Botanik Ein neues Pflanzensystem. In zwei Artikeln »Pens6&es sur la taxinomie botanique«! schlägt T. CArurL vor, an Stelle des bisherigen botanischen Systems folgendes neue zu setzen: Div.I. Phanerogamae. Cl. I. Angiospermae. Subel. I. Monocotyledones. Coh. I. Lirianthae. . 1. Labelliflorae. Ord Ord. Ord Ord Gohs IL Ord Coh. IH. 2. Ben De Liliiflorae. Spadiciflorae. Glumiflorae. Hydranthae. . 1. Alismiflorae. Ord. 2. Fluviiflorae. Centranthae. Ord. Centriflorae. Subel. II. Dicotyledones. Coh. 1. Subecoh. 1. Ord. Ord. Ord. Ord. Ord. Ord. Ord. Ord. Ord. Dichlamydanthae. Explanatae. 1. Corolliflorae. 2, Asteriflorae. 3. Campaniflorae. 4. Oleiflorae. 5. Umbelliflorae. 6. Celastriflorae. 7. Primuliflorae. 8. Ericiflorae. 9. Rutiflorae. ı Botanische Jahrbücher für S TaVB ieHett Ord. Ord. Subeoh. 2. Ord. Ord. Ord. Ord. 10. Cruciflorae. 11. Tiliiflorae. Cupulatae. 1. Rosiflorae. 2. Lythriflorae. 3. Myrtiflorae. 4. Cirriflorae. Coh.UH.Monochlamydanthae. Ord. Ord. Ord. Ord. Ord. Ord. Coh. I. Ord. Ord. Ord. Ord. Ord. Ord. 1. Daphniflorae. . Cytiniflorae. . Cactiflorae. Raniflorae. 5. Involucriflorae. 6. Nadiflorae. Dimorphanthae. >» wo vw Begoniflorae. Euphorbiflorae. Urticiflorae. . Claviflorae. . Globiflorae. . Juliflorae. SPD Cl. II. Anthospermae. Coh. Dendroicae. Ord. Spermiflorae. ystematik etc. von A. Engler, IV. B. 5. Heft 310 Wissenschaftliche Rundschau. Cl. UI. Gynospermae. Subecl. II. Zoosporophorae. Coh. Coniferae. Coh. I. Oosporatae. Ord. 1. Coniflorae. Ord. 1. Fucideae. Ord. 2. Strobiliflorae. Ord. 2. Vaucherideae. Div.II. Prothallogamae. Coh. II. Zygosporatae. Cl. I. et Coh. Heterosporae. Ord. 1. Peronosporideae. Ord. 2. Zygnemideae. delerRhı iae. Or izocarpariae Ord. 3. Pandorinideae. Ord. 2. Phyllocarpariae. Cl. II. et Coh. Isosporeae. Coh. II. Euzoosporatae. Ord. 1. Conariae. Ord. Ulvideae. Ord. 2. Calamariae. Subel. II. Conidiophorae. Ord. 3. Filicariae. Coh. I. Angiosporatae. Div. II. Schistogamae. Ord. 1. Lichenideae. Cl. et Coh. Puterae. Ord. 2. Sphaerideae. rd Puterne, Ord. 3. Gymnoascideae. . Coh. II. Gymnosporatae. iv. IV. B amae. y p ae! IYOSnae Ord. 1. Puccinideae. el’set Coh. MSc year Ord. 2 An Ord. 1. Musci. | Ord. 3. Stilbideae. 5) s win =. Hepaticae. | Subel. IV. Schizosporophorae. Div. V. Gymnogamae. Coh. Schizosporatae. Cl. I. Thallodeae. Ord. Nostochideae. Subcl. I. Tetrasporophorae. | b oh Tatrasporatae. | Cl. II. Plasmodieae. OrlaltHlorideae. | Coh. Plasmodiatae. Ord. 2. Pseudoflorideae. Ord. Myxomycetes. Es möge uns gestattet sein, die Diagnosen einiger der voran- stehenden systematischen Begriffe in Kürze zu reproduzieren und etwas spezieller bei den neuen Klassifikationsbegriffen (Schistogamae, Antho- spermae etc.) zu verweilen. Die wesentlichsten morphologischen Charaktere der Phanerogamae sind folgende: Die Phanerogamae sind trimorph, d. h. jede zu dieser Divisio gehörige Pflanze besteht aus dreierlei verschiedenartigen Individuen, die in bestimmter Ordnung auf einander folgen. Das meist cormoide In- dividuum hat keine begrenzte Entwickelungsfähigkeit und kann auf ungeschlechtlichem Wege neue Individuen erzeugen. Bald sind diese ihm höchst ähnlich (die gewöhnlichen Zweige), bald sind sie mehr oder weniger verschieden von ihm, jedoch vom gleichen Typus, d.h. cormoid, modifizierte Sprosse (Blütensprosse). Die geschlechtlichen Individuen sind der Pollen und die Samenknospe. Das männliche Individuum ist der Pollen, welcher beim Verstäuben zu voll- ständiger Individualität gelangt und zu einem thalloiden Pflanzen- körper mit begrenzter Entwickelung wird. Das Oogonium oder der Embryosack, in welchem die Keimbläschen oder die Oosphaeren entstehen, das weibliche Geschlechtsprodukt der Blüte, bleibt stets ein Wissenschaftliche Rundschau. 371 wesentlicher Teil der Samenknospe und gelangt deshalb nie zur wirk- lichen Individualität. Vielmehr teilt er seinen Geschlechtscharakter der ganzen Samenknospe, deren integrierender Bestandteil er ist, mit, so dass man also die Samenknospe als die dritte Individuenform, als ein weibliches Individuum mit cormoidem Charakter und begrenzter Entwickelung betrachten kann. Die befruchtete Oosphaere wird zu einem Proembryo, welcher einen oder mehrere Em- bryonen erzeugt. Diese sind hinwieder die ersten Stadien des gewöhn- lichen ungeschlechtlichen Individuums. Die Prothallogamae sind dimorph. Eine Art der Individuen ist ungeschlechtlich, cormoid, mit unbegrenzter Entwicke- lung, entspricht somit den ungeschlechtlichen cormoiden Individuen der Phanerogamen. Die geschlechtlichen Individuen sind dem Pollen ent- sprechende Sporen, welche auf analoge Weise wie der Pollen durch Endogenese von den Sporophyllen erzeugt werden. Wie der Pollen sind sie thalloide Körper mit begrenzter Entwickelung. Doch sind sie von den Pollenindividuen dadurch verschieden, dass sie nicht mehr bloss männliche Individuen repräsentieren, sondern vielmehr bald männlich, bald weiblich, bald androgyn sind. Bei ihrer Entwickelung bilden sie einen Prothallus, der an seiner Oberfläche Antheridien und Archegonien bildet. In jenen entstehen die Phytozoiden (Spermatozoiden); diese enthalten eine Oosphaera, welche nach der Befruchtung sich un- mittelbar in den Embryo, das erste Entwickelungsstadium der ungeschlecht- lichen Pflanze verwandelt. (Selaginella macht eine Ausnahme. Bei ihr entsteht zuerst ein Proembryo, aus welchem erst der Embryo sich ent- wickelt.) Die Schistogamae umfassen die Characeen der Autoren, Pflanzen, die bekanntlich schon sehr verschiedene Stellen im pflanzlichen System einnahmen, die man aber gegenwärtig gemeiniglich als eine Klasse des Algentypus auffasst. CarueL hält dafür, dass sie weder dem einen noch andern der gewöhnlichen Pflanzentypen mit Recht zugezählt werden dürften, dass sie vielmehr Repräsentanten eines eigenen Typus darstellen. Sie sind dimorph und zwar treffen wir männliche und weib- liche Individuen; die ungeschlechtlichen fehlen. Die männ- lichen haben eine unbegrenzte Entwickelung und bilden wurmförmige Phytozoiden im Innern der Antherocysten, schliessen sich darin also den Prothallogamae, ebenso den Bryogamae an, die, wie wir sehen werden, mit den Schistogamae auch durch das Vorhandensein einer geschlechtlichen unbegrenzten Individuenform ausgezeichnet sind. Die weiblichen Individuen sind die Oogemmae, die später zum Samen werden und eine Oosphaera enthalten, aus welcher nach der Befruchtung der sog. Prothallus der Characeen entsteht. Wie bei den Prothallogamae wechseln auch bei den Bryo- gamae ungeschlechtliche und geschlechtliche Individuen mit einander ab. Die Bryogamae sind also dimorph. Doch sind hier die un- geschlechtlichen Individuen die in der Entwickelung begrenzten. Sie sind thalloid und bilden an ihrem Gipfel eine Kapsel, in welcher agamisch die Sporen entstehen. Diese entwickeln sich wieder zu einem 312 Wissenschaftliche Rundschau. thalloiden Körper, dem Protonema, das bald persistiert, bald Zweige treibt, doch von unbegrenzter Entwickelung ist und die Fähigkeit besitzt, in unbegrenzter Folge Reproduktionsorgane zr erzeugen. Diese, die An- theridien und Archegonien, kommen bald auf demselben Individuum, bald auf verschiedenen vor. Die Phytozoen sind wurmförmig. Die be- fruchtete Oosphaere wird zum Embryo, der das früheste Entwickelungs- stadium der ungeschlechtlichen Individuen ist. Die Gymnogamae sind monomorphe, seltener dimorphe alternie- rende, sehr selten trimorphe Pflanzen. Die monomorphen können in be- grenzten ungeschlechtlichen oder in unbegrenzten geschlechtlichen oder ungeschlechtlichen Formen auftreten. Bei den dimorphen ist die geschlecht- liche Form die unbegrenzte; bei den trimorphen die weibliche unbegrenzt, die männliche begrenzt. ; Neu ist die Klasseneinteilung der Phanerogamae. Die Systematiker pflegen bekanntlich zwei Subklassen, Gymnospermae und Angio- spermae zu unterscheiden. Eine nackte Samenknospe, die Entwickelung des Endosperms schon vor der Befruchtung, die mehızelligen Pollenkörner und die starke Entwickelung des Proembryo sind die Charaktere der Gymnospermen. Bei den Angiospermen ist die Samenknospe von einem Fruchtknoten umschlossen, das Endosperm entsteht erst nach der Be- fruchtung, die Pollenkörner sind einzellig. Die Loranthaceae und Viscaceae, die nach der bisher gebräuchlichen Auffassung die Ord- nung der Santalinae bildeten, welche wieder unter eine der verschie- denen Reihen der Dikotyledonen, die Monochlamydeae fällt, stimmen durch ihre ganz eigenartige Blütenstruktur nicht vollständig weder mit den Angiospermen noch mit den Gymnospermen. Sie entfernen sich nach CAruEL in wesentlichen Merkmalen von den Angiospermen, zu denen sie gewöhnlich gezählt werden, ohne sich wieder dem Begriff Gymnospermae völlig unterzuordnen. Carurs bezeichnet ihre Samenknospe als nackt, weil ihr wesentlicher Teil, der Kern, freiliegt. Ein Fruchtknoten, d. h. ein Körper, welcher die Samenknospe umhüllte, findet sich nicht; diese ist vielmehr die wirkliche Endung des Blütenstieles. Am Gipfel des Kernes sind zwei Kreise appendikulärer Anhänge inseriert, ein innerer Kreis von styli und ein äusserer von staminae. Diese beiden Kreise entsprechen nach CAruEL durch ihre Lage den zwei Hüllen des Kernes in der männlichen Blüte von Welwitschia Hook£r, deren innere Hülle augenscheinlich pistillär, deren äussere staminifer ist. Auch den beiden Hüllen der weiblichen Blüte von Gnetum Gnemon BECCARI, deren innere noch deutlich genug ihre pistilläre Natur zeigt, deren äussere dagegen allerdings keinen speziellen Charakter mehr hat, sind beide Kreise homolog. In der weiblichen Blüte von Welwitschia dagegen haben die beiden Hüllen keine bestimmte Spezialität; namentlich der innere ist auf jenen Zustand reduziert, auf welchem man allgemein die einzige Hülle des Kerns bei den Koniferen trifft. In dem Kern der Loranthaceen und Viscaceen liegt das Oogonium in der Tiefe, wie bei den Gymnospermen. Der Pollen ist aber einzellig, das Gynaeceum besitzt ein Stigma, das Endosperm bildet sich nach der Befruchtung. Es sind das Charaktere, welche auf die Verwandtschaft der Gruppe mit den Angiospermen hinweisen. Wissenschaftliche Rundschau. 313 Auf diese Beobachtungen sich stützend, teilt CaAruvEL die Phanero- gamae ein in 1) Angiospermae, 2) Anthospermae und 3) Gyno- spermae, mit welch letzterem Namen auf die Schwierigkeit der Unter- scheidung zwischen Samenknospen und Gynaeceum bei den bislang Gymno- spermae genannten Pflanzen hingewiesen werden soll. CarueL berührt auch die Frage der gegenseitigen Stellung der beiden Unterklassen der Angiospermae, der Dikotyledonen und Mono- kotyledonen. Er polemisiert gegen die allgemein gebräuchliche Über- ordnung der erstern über die letztern, die auf der Ansicht beruht, es seien die Dikotyledonen höher organisierte Pflanzen als die Monokoty- ledonen. Diese Ansicht erklärt CArurLr, und wohl mit Recht, als eine haltlose. Denn der Umstand, dass die Embryonen der erstern zwei, die der letztern nur ein Keimblatt besitzen, spricht doch in keiner Weise weder für eine höhere, noch für eine niedrigere Organisation. Höhere Organisation verrät scheinbar die Struktur der Blüte, in welcher die grössere Komplikation als Resultat der Vermehrung un- ähnlicher Teile auf kosten ähnlicher Teile, die also vermindert wurden, erscheint. Sie ist aber nicht, wie z. B. De Can- DOLLE sich dachte, das Resultat der Vermehrung ähnlicher Teile. Beide Unterklassen fasst CArUEL als zwei parallele Reihen auf. In jeder von ihnen lassen sich die einfachsten Blütentypen bis zu den kompli- ziertesten verfolgen, so dass man wirklich in Verlegenheit kommen kann, wenn man die kompliziertesten Blütentypen beider Unterklassen, z. B. eine Orchidaceen- und eine Stylidiaceenblüte, mit einander ver- gleicht, welche von beiden man als die kompliziertere erklären will. Anderseits weisen wohl die Monokotyledonen kaum so einfache Typen auf wie die zu den Dikotyledonen gehörigen Myriaceae oder Betu- laceae. Die Klassifikation der II. und IV. Division stimmt im wesentlichen mit der gebräuchlichen Systematik überein. Die III. Division, die nur eine Familie (Characeae) umfasst, ist in der Cl. Coh. und Ord.-nomen- elatur Puterae genannt worden, das ist nach Carver der latinisierte toskanische Name der hierhergehörigen Pflanzen. Neu ist wieder die Divisio Gymnogamae. Diese Abteilung deckt sich mit dem Begriff Thallophyten. Diese werden bekanntlich in die beiden Klassen Algen und Pilze (inkl. Lichenes) geteilt, eine Einteilung, die im wesentlichen auf dem Vorhandensein oder Fehlen des Chlorophylls basiert. Eine Gruppe, die »Moneren« des Pflanzen- reiches, die in vielfacher Beziehung interessanten Myxomyceten, wird von CARUEL mit vollem Recht nicht einfach als ein Appendix der Pilze aufgefasst. Ihr Vegetativkörper, das Plasmodium, ist von einem wirklichen Thallus, unter dem wir uns einen bestimmt geformten, seiner Struktur nach zellulären Pflanzenkörper vorstellen, so verschieden, dass die Trennung der Gymnogamae in zwei Klassen, in Plasmodieae (synonym mit Myxomycetes, die Carver als Ordnungsnamen verwertet) und Thallodeae (die übrigen Thallophyten) natürlich erscheint. Die in unserer systematischen Übersicht berührte Einteilung der Thallodeae gründet sich in der Hauptsache auf die Verschieden- 314 Litteratur und Kritik. heit ihrer Reproduktionsorgane. Die Subklassen Tetrasporo- phorae und Zoosporophorae sind dem bisherigen Begriff Algae gleichwertig. Die Conidiophorae decken sich mit den Pilzen inkl. Lichenes, exkl. Myxomyceten. Dr. RoßERT KELLER. Litteratur und Kritik. Fossile Pferde aus deutschen Diluvialablagerungen und ihre Beziehungen zu den lebenden Pferden. Ein Beitrag zur Ge- schichte des Hauspferdes von Dr. A. Neurıng. Berlin, Paul Parey. 1884. 160 8. gr. 8°. 5 Taf. Preis 4 Mark. (S.-A. aus d. Land- wirtsch. Jahrbüchern 1884.) Bei der hohen Bedeutung, welche die fossilen Pferde für die Ent- wickelungstheorie namentlich durch die amerikanischen Forschungen er- halten haben, müssen dem Zoologen nicht minder als dem Paläonto- logen auch die Studien über die fossilen Pferde jüngerer geologischer Schichten stets willkommen sein, zumal wenn sie auf so exakter Basis aufbauen wie die vorliegenden von NEHRING. Die Equiden, die NeurınG besonders berücksichtigte, stammen aus den Berglingschen Gipsbrüchen bei Westeregeln zwischen Magdeburg und Halberstadt. Hier fanden sie sich namentlich in den mittleren Lagen zugleich mit Alactaga jaculus, der heute noch in den Steppen Südeuropas und Asiens vorkommenden Springmaus, Spermophilus rufescens, dem Steppen- ziesel, Arctomys bobac, dem Steppenmurmeltiere Russlands, Lagomys pu- sillus, dem Pfeifhasen. In den tiefern Lagen fanden sie sich neben den Resten von Mammut, KRhinoceros tichorhinus, Rentier, Hyäne, Wolf ete. Eine zweite Fundstätte ist im Diluvium des Gipsbruches von Thiede bei Wolfenbüttel. Auch hier wurden die Equidenreste von Überresten der genannten Tiere begleitet. Auch die Lindenthaler Hyänenhöhle bei Gera lieferte nicht nur ein zahlreiches, sondern auch ein schönes Material. Von besonderem Werte wurde für die Untersuchung ein ziemlich voll- ständiges Skelett einer etwa zehnjährigen Stute, das sich neben Resten von Mammut, Rhinozeros, Moschusochs, Bos priscus, mehreren Hirschen und Murmeltieren fand. Die Equiden waren im Diluvium Mittel- und Norddeutschlands durch zwei Arten, Eguus caballus foss. und E. hemionus, den Halbesel oder Dschiggetai, der allerdings im Vergleich zum eigentlichen Pferde selten vorkam, vertreten. — Die Untersuchung stellt sich wesentlich die Aufgabe, die Beziehung des diluvialen E. caballus zu den heutigen Pferden festzustellen. Auf Grund seiner Vergleichungen kommt Neurıne zu dem Schluss, dass »das aus Nord- und Mitteldeutschland bekannt gewordene diluviale Pferd ein mittelgrosses, schweres Pferd war, welches dem schweren »occidentalen« Litteratur und Kritik. 315 Typus Franck’s, resp. dem E. caballus germanicus SANsoXN’s, so nahe steht, dass wir es als den direkten Vorfahren dieser Rasse betrachten dürfen. « Von allgemeinem Interesse und für die Beurteilung der genetischen Stellung besonders wichtig ist, >dass die Griffelbeine des diluvialen Pferdes von Westeregeln, Thiede und andern Fundorten durchweg stärker und länger entwickelt sind, als dies bei unserm Hauspferde der Fall zu sein pflegt.< Mit einer Ausnahme sind die Griffelbeine nicht mit dem Metatarsus medius verwachsen. Dieses bisher besonders hoch geschätzte Unterscheidungsmerkmal diluvialer und rezenter Equiden wird allerdings nach einer Zusammenstellung von NEHrıne ziemlich hinfällig, da auch bei den lebenden Pferden die Griffelknochen häufiger nicht verwachsen als verwachsen sind, insbesondere bleibt das äussere Griffelbein stets frei und die Verwachsungen des inneren betreffen viel häufiger das des Metakarpus als des Metatarsus, was gegenüber der Beobachtung v. Ine- rıng’s an brasilianischen polydaktylen Pferden (s. Kosmos 1884, I. S. 99) und der dort citierten Ansicht Hrxser’s nicht ohne Interesse ist. In bezug auf das Verhältnis von Ulna und Radius schreibt NeHrine: »>An den mir vorliegenden Exemplaren des Unterarms kann ich keine stärkere Ausbildung der Ulna in ihrem mittleren und unteren Teil er- kennen als bei den lebenden Pferden«, wo sie bekanntlich im unteren Drittel meistens verkümmert und nur selten, aber doch keineswegs so ausnahms- los, wie man gewöhnlich annimmt, als zusammenhängender, durchlaufen- der Knochen erscheint. Was wir hier kurz als einige allgemeiner interessierende Resultate der Untersuchung angedeutet haben, ist nur ein kleiner Teil der Schlüsse, die sich an Hand der zahlreichen Tabellen ziehen lassen, welche die sorgfältigen Messungen aller Skelettteile und deren Vergleichung mit ver- schiedenen Rassen lebender Pferde enthalten, Messungen, welche die Ab- handlung sehr wertvoll und Zoologen und Paläontologen empfehlenswert erscheinen lassen. BR: Anmerkung d. Redaktion. Im Anschluss an vorstehendes glauben wir noch auf folgende Partien der schönen Nehringschen Arbeit eingehen zu sollen. Was die Grösse und das Äussere unseres Diluvialpferdes be- trifft, so kommt Verf. durch genaue Vergleichung der verschiedensten Masse zu dem Ergebnis, dass dasselbe »eine Widerristhöhe gehabt hat, welche etwa die Mitte hält zwischen derjenigen unserer grössten und kleinsten Rassen. Es war also ein mittelgrosses, untersetztes, diekknochiges Pferd, das vollständig die Statur unserer schweren Pferde geringerer Grösse gehabt haben dürfte, jener sog. gemeinen Pferde, welche bei uns jetzt immer mehr verdrängt werden.< Ihm gegenüber erscheint das französische Diluvialpferd (von Solutre) kleiner und zier- licher, und dasselbe gilt für das süddeutsche von Schussenried, das ausserdem mehr eselartigen Typus zeigt, während das von Nussdorf bei Wien grösser war als das unserige. Hinsichtlich seiner Behaarung lässt sich natürlich nur vermuten, dass dieselbe entsprechend dem rauhen Klima eine verhältnismässig lange und dichte gewesen sei, was aber ganz mit den bildlichen Darstellungen übereinstimmt, die uns aus so manchen 316 | Treat Re Knochenhöhlen erhalten sind: diese führen uns ein zumal am Kinn und der Kehle lang behaartes Tier vor Augen; die Mähne steht aufrecht, der Schwanz erscheint ziemlich lang und nicht sehr stark behaart. Die Ohren sind, auf den Bildern von Thayingen wenigstens, verhältnismässig kurz, der Leib schwer und gedrungen; die Beine sind, entsprechend den am gleichen Orte gefundenen Knochen, zierlicher, als sie beim norddeutschen Diluvialpferd gewesen sein müssen. Dass die Pferde von Thiede und Westeregeln echte Steppentiere waren und inmitten einer ausgeprägten Steppenfauna und -flora lebten, hat Verf. in früheren Arbeiten zur Genüge nachgewiesen. Sein Haupt- feind war schon damals der Mensch, welcher sich in Mittel- und West- deutschland ganz wesentlich von der Pferdejagd genährt zu haben scheint. In der Nähe seiner festen Wohnplätze (Höhlen , Grotten) verwertete er auch die Knochen, Zähne, Sehnen, Haare und Häute; auf blossen Jagd- stationen aber, zu denen auch die genannten Fundstätten gehörten, blieben die Knochen mit Ausnahme der Gehirnkapsel meist unversehrt, was ihren guten Erhaltungszustand erklärt. Schon damals werden jedoch auch ver- einzelte Anfänge in der Zähmung des einheimischen wilden Pferdes ge- macht worden sein, wie sich denn in der That die Reste dieses schweren »occidentalen« Pferdes durch die alluvialen Ablagerungen bis zur Gegen- wart hinauf nachweisen lassen. Jedenfalls sind unsere früheren gemeinen Pferderassen nicht, wie noch so vielfach behauptet wird (auch von V. Hr#v), aus Asien importiert worden, denn Asien hat noch keine Fossil- reste von schweren Pferden geliefert; erst viel später, vielleicht in der Bronzezeit, gelangten die ersten Sprösslinge der in Asien wahrscheinlich seit uralter Zeit in Pflege genommenen zierlicheren Form nach Mittel- europa. Dass es übrigens hier schon in der »Steppenzeit« verschiedene Lokalrassen gab, beweisen die oben erwähnten Formen von Schussenried und Nussdorf sowie von Solutr& deutlich genug. — Wir müssen es uns versagen, endlich auch noch auf die vom Verf. gleichfalls erörterte Frage einzugehen, wie lange das wilde Pferd in Europa sich erhalten und ob und wo vielleicht in Zentralasien noch Nachkommen desselben existieren. Sicherlich wird jeder, der sich für die Geschichte der Haustiere und der so innig mit derselben zusammenhängenden menschlichen Kultur interes- siert, die Bemerkungen NeHrıng’s hierüber mit Vergnügen und Anerken- nung lesen. Elemente der Paläontologie (Paläozoologie) von Dr. R. Hörnes. Leipzig 1884. Die Anzahl der neueren paläontologischen Arbeiten, in welchen auf die Deszendenzlehre Rücksicht genommen wird, mehrt sich von Jahr zu Jahr. Die soeben erschienenen »Elemente der Paläozoologie« von Hörnes schliessen sich ihnen an. Der Verf. bezeichnet als Aufgabe der Zoopaläontologie als einer selbständigen Wissenschaft, die »Stammesver- wandtschaft der rezenten und fossilen Formen durch Untersuchung der letzteren mit Zugrundelegung der Erfahrungen über die heute lebende Tierwelt in vergleichend anatomischer und embryologischer Hinsicht klar Litteratur und Kritik. 317 zu legen«, und sagt in dem Vorwort: »Dass die Deszendenzlehre von dem Verfasser als Ausgangspunkt aller Betrachtungen genommen wurde, wird man ihm heute wohl kaum mehr verübeln. Morphologie, Dimorphismus und Polymorphismus, Mimiery, die Kenntnis der rudimentären Organe, Entwickelungsgeschichte, geographische Verbreitung haben ebenso viele Beweismittel für die Deszendenzlehre ergeben, als die Ergebnisse der paläontologischen Forschung. « Dem Geologen ist nur zu bekannt, wie oft ein anscheinender Widerspruch zwischen Thatsache und Theorie konstatiert werden muss; am schärfsten wurde er durch BARRANDE zwischen der »paläontologischen Theoriexs und der Zusammensetzung der »Primordial-Fauna« betont, in- sofern er zeigte, dass in den tiefsten überhaupt Versteinerungen führen- den Schichten höher organisierte Formen (Trilobiten) auftreten, während erst in den höheren Etagen der Silurformation Reste von niedriger stehenden Organismen (Korallen, Pelecypoden u. s. w.) in grösserer Zahl sich finden, eine Thatsache, die von niemand bestritten werden kann. Doch wie weiss Hörnes das Rätsel zu lösen? Er betont, dass nur die Berücksichtigung der chorologischen Verhältnisse der Vorwelt (Chorologie — Lehre von der räumlichen Verbreitung der Organismen) uns das Ver- ständnis für das lückenhafte geologische Geschichtsbuch, welches die Schichten der Erde darstellen, zu erschliessen vermöge, da die Lücken- haftigkeit der paläontologischen Überlieferung und die Diskontinuität der geologischen Urkunden nur auf der vielfachen chorologischen Verschieden- heit der Sedimente bestehe, welche notwendigerweise mit einer entsprechen- den Verschiedenheit der Organismen, deren Reste in den betreffenden Schichten eingeschlossen wurden, Hand in Hand gehe. Fast alle Formationsgrenzen und selbst alle kleineren Unterabtei- lungen, welche die historische Geologie gemacht hat, liessen sich haupt- sächlich auf Verschiebungen in den chorologischen Verhältnissen zurück- führen, welche lokal, aber auch nur lokal, eine durchgreifende Änderung der organischen Welt herbeigeführt haben. Was nun die Primordialstufe BARRANDE’s anbetrifft, so sei hervorzuheben, dass alle ihre organischen Reste, sowie die der kambrischen Schichten einer Facies angehören, welche des petrographischen Charakters wegen der Erhaltung der Reste noch ziemlich günstig war. Die vorhandenen Einschlüsse von Organismen deuteten auf eine Facies, welche in der Tiefsee zu Hause sei, was be- stätige, dass ein Teil der Trilobiten verkümmerte Augen zeige, ganz so wie es die in letzter Zeit in der heutigen Tiefsee aufgefundenen höher stehenden blinden Krustaceen bekundeten. Und Formen mit rückgebil- deten Organen könnten unmöglich als ursprüngliche betrachtet werden, sondern müssten von Seichtwasserformen mit entwickelten Augen abstam- men, mithin hätten wir die sogenannte Primordialfauna als eine jüngere und derivierte, an die eigentümlichen Verhältnisse der Tiefsee angepasste aufzufassen. In den ältesten Seichtwasserbildungen hätte man sich somit nach den Resten der ersten Organismen umzusehen, die aber bei der hochgradigen Umwandlung, welche die älteren Kalksteine erlitten, gründ- lich vertilgt worden seien. Übrigens enthielten die Silurablagerungen Böhmens mehr als einen Beweis für die Deszendenzlehre. 318 Litteratur und Kritik. Weiterhin betont der Verf., dass die Paläontologie mit dem Linne- schen Speziesbegriff definitiv gebrochen habe und dass die Systematik im Lichte der Deszendenzlehre lediglich als der Ausdruck der genetischen Stammesverwandtschaft der einzelnen Formen erscheine, weshalb auch heute der Paläontologe gezwungen sei, den unmittelbaren genetischen Zusammenhang einzelner Formen auch im Namen auszudrücken. Dieser Notwendigkeit habe der geologische Kongress in Bologna Rechnung ge- tragen, indem er in den Regeln für die paläontologische Nomenklatur den Speziesbegriff dahin erweiterte, dass eine Art mehrere Modifikationen umfassen könne, welche in der Zeit (»Mutation«) oder im Raum (» Varie- tät«) zusammenhängen könnten, wodurch eine trinome Bezeichnung ent- stehe, die heute freilich nur in sehr wenigen Fällen angewendet werden könne, danur in sehr wenigen Fällen das Material hierfür gesammelt sei. Die heute von den Zoologen unterschiedenen grossen Gruppen oder Typen des Tierreichs sind ihm für die ideale, auf der Erforschung des genetischen Zusammenhangs beruhende Systematik von zweifelhaftem Werte, sie dienten, wie er ausdrücklich erklärt, uns vorläufig nur dazu, das Material zu ordnen, und würden vielleicht später besser gebildeten Abteilungen Platz machen müssen. Dies zur Charakterisierung der Stellung, die der Verf. in seinem Werke der Deszendenzlehre gegenüber einnimmt. Dasselbe ist für Stu- dierende an den deutschen Hochschulen bestimmt und bietet auf 500 mit 672 instruktiven und guten Holzschnitten versehenen Seiten in ge- drängter Kürze eine treffliche Auswahl aus dem ungeheuer angeschwolle- nen paläontologischen Materiale, das Tag für Tag weitere Vermehrung erfährt. Bezüglich der Einzelheiten müssen wir auf das treffliche Buch, das sicher vielen Beifall ernten wird, selbst verweisen. Dresden. H. ENGELHARDT. Eine sehr beachtenswerte neue Erscheinung, die auch hier erwähnt zu werden verdient, ist die »Internationale Zeitschrift für All- gemeine Sprachwissenschaft«, herausgegeben von Dr. F. TEcHMER in Leipzig (Verlag von J. A. Barth), deren erstes Heft uns vorliegt. Eine Übersicht seines reichen mannigfaltigen Inhalts gewährt besser als lange Auseinandersetzungen eine adäquate Vorstellung von dem, was die Zeit- schrift anstrebt, und von der Notwendigkeit, beim gegenwärtigen Stande der Sprachwissenschaft ein solches wahrhaft und im schönsten Sinne internationales Organ für die internationalste aller Wissenschaften zu haben. Nach einigen dem Andenken des Begründers der Sprachvergleich- ung, WILHELM von HumsoLpr’s gewidmeten Seiten folgt das Programm des Herausgebers, das zugleich über die Entstehungsgeschichte seines Unternehmens sowie über Inhalt und Umfang des darin zu behandelnden Gebiets Aufschluss gibt. — Zunächst wird die naturwissenschaft- liche Seite betont, welche auch die Beziehungen zur Anthropologie knüpft, und zwar handelt es sich hier 1) um die akustischen Ausdrucks- bewegungen, die Phonetik, welche auf Physik, Anatomie, Physiologie Litteratur und Kritik. 319 und Pathologie des gesamten Sprachorgans und Ohres eingeht, auch den Artikulationswandel und die Lautgesetze physiologisch zu erklären sucht; 2) um die optischen Ausdrucksbewegungen, die Graphik, insbesondere um Gebärdensprache und Schrift, und 3) um das gegenseitige Verhalten der beiderlei Ausdrucksmittel zu einander, um die Methodik, die Verbindung von Laut und Schrift u.s. w. Dazu kommen ferner die psychologische und die historische Seite der Aufgabe, jede für sich ebenso umfang- reich wie die naturwissenschaftliche; jene, die Psychik, hat insbesondere die psychologischen Vorbedingungen und Entwickelungsgesetze von Arti- kulation, Laut, Wurzel, Wort und Satz, die Historik dagegen die phylogenetische sowohl als die ontogenetische Entwickelung der Sprache zu erforschen. Welch eine Fülle interessantester Probleme thut sich hier auf, in welch unmittelbare Beziehung tritt die so erweiterte Sprachwissen- schaft zur biologischen Forschung, zur Physiologie und Psychologie! Wir halten es schon deshalb für unsere Pflicht, der wir mit Freuden nachkommen, unsere Leser nachdrücklich auf diese in so würdiger Form zum Ausdruck kommenden Bestrebungen aufmerksam zu machen und sie auch in Zukunft vom Fortgange des glänzend begonnenen Unternehmens in Kenntnis zu setzen. Die Reihe der eigentlichen Abhandlungen dieses Heftes eröffnet der Nestor der deutschen Sprachforscher, A. F. Porr in Halle, mit einer geistreich geschriebenen »Einleitung in die allgemeine Sprachwissenschaft«, welche zugleich unter Anführung der betreffenden Litteratur eine gedrängte Übersicht über ihre bisherigen Ergebnisse bietet, während die Zeitschrift selbst nun in Originalarbeiten, Auszügen, Besprechungen, Bibliographien die zukünftige Entwickelung der Sprachforschung darzustellen strebt. — Der Herausgeber gibt auf 124 Seiten eine » Naturwissenschaftliche Analyse und Synthese der hörbaren Sprache«, im wesentlichen eine für allgemeineres Verständnis berechnete Zusammenfassung der Resultate seines 1880 er- schienenen grossen Werkes über Phonetik, jedoch mit zahlreichen Er- gänzungen und trefflich erläutert durch eine Menge Holzschnitte und Tabellen und 7 grosse Tafeln. Von grosser praktischer Bedeutung sind des Herausgebers Vorschläge zur möglichst einheitlichen Transskription der Sprachteile mittels der lateinischen Kursivschrift. Es folgen sodann: G. Martery in Washington: >Sign Language« mit einem »Scheme of Illustration« und » Notable points for further researches« ; FRIEDRICH MÜLLER in Wien: »Sind die Lautgesetze Naturgesetze?« — eine Frage, welche auf SCHLEICHER’s Ansicht von der Sprache als einem Naturorganismus und der Sprachwissenschaft als einer Naturwissenschaft zurückgeht, die der Verfasser in Übereinstimmung mit Warrney widerlegt zu haben glaubt; dann ein kleiner Beitrag zur vergleichenden Mythologie auf Grundlage der Etymologie der Götternamen von Max Mürrer in Oxford: »Zephyros und Gähusha« ; L. Anam in Nancy: »De la categorie du genre«; A. H. SAycE in Oxford: »The person-endings of the indo-european verb«, und endlich eine auch für den Anthropologen und Ethnologen hochinteressante ein- gehende Untersuchung von K. BruGmAann in Leipzig: »Zur Frage nach den Verwandtschaftsverhältnissen der indogermanischen Sprachen«, die sich einstweilen noch auf einen sehr skeptischen Standpunkt stellt, von 320 Litteratur und Kritik. der rüstig fortschreitenden Wissenschaft aber die wertvollsten Aufschlüsse erhofft. Es wäre höchst unbillig, zum Schlusse nicht auch der ganz vor- züglichen Ausstattung der Zeitschrift in jeder Hinsicht rühmend zu ge- denken. Papier und Druck sind geradezu elegant zu nennen. Es soll jährlich ein Band, bestehend aus zwei Heften von je ca. 15 Bogen Roy. 8°, zum Abonnementspreis von 12 Mk. ausgegeben und darin zu- gleich jedesmal das Bild eines der Hauptvertreter der Sprachwissenschaft geboten werden. Das vorliegende Heft ist mit einem trefflichen Kupfer- stich, das Denkmal W. v. Humsornpr’s in Berlin darstellend, geschmückt. Die so bestimmt sich dokumentierende Opferwilligkeit des Verlegers wird gewiss nicht wenig dazu beitragen, der Zeitschrift einen durchschlagenden Erfolg zu sichern, den sie vollauf verdient und den auch wir derselben von ganzem Herzen wünschen. V. Anfrage, Chr. K. Sprengel betreffend. Professor H. A. Hagen in Cambridge, Mass., hat vor kurzem die für viele gewiss überraschende Behauptung aufgestellt, in Deutschland seien CHR. K. SprenGev’s Entdeckungen jedem Naturforscher während dieses ganzen Jahrhunderts wohlbekannt gewesen. Sicherlich seien diese Thatsachen zwischen 1830 und 1840 auf jeder preussischen Universität als wohlbekannte Thatsachen von höchster Wichtigkeit gelehrt worden und natürlich jedem Studenten bekannt gewesen *. Da die Studenten der dreissiger Jahre wohl schon zum grossen Teile aus unserer Mitte geschieden sind, wäre es jetzt höchste Zeit, zu ermitteln, in wie weit HAGrn’s mit so zuversichtlicher Bestimmtheit aus- gesprochene Behauptung richtig ist, und ich möchte hiermit alle, die darüber Auskunft zu geben vermögen, auffordern, es zu thun. Es han- delt sich um Feststellung einer für die Geschichte der Pflanzenkunde nicht unwichtigen Thatsache. Für das Jahrzehnt von 1840 bis 1350, während dessen ich selbst und mein Bruder Hermann Studenten waren, trifft HaAczn’s Behauptung nicht zu; in den botanischen und zoologischen Vorlesungen, die wir in Berlin, Greifswald und Halle gehört, ist niemals von SPRENGEL, seinen Entdeckungen und seiner Blumentheorie die Rede gewesen. Ich habe Grund zu vermuten und hoffe in kurzem Beweise dafür bringen zu können, dass es in Königsberg, dem damaligen Wohnorte HAgen’s nicht anders war. Blumenau, Prov. Sta. Catharina (Brasilien), 31./3. 1884. Fritz MÜLLER. * Nature, Vol. XXIX pag. 29 vom 8. November 1883. Ausgegeben den 5. Mai 1884. Die Veränderungen des velbstbewusstseins. Von Prof. Dr. A. Herzen (Lausanne). In einer vor fünf Jahren veröffentlichten Abhandlung! habe ich über die Beziehungen zwischen Bewusstsein und Nerventhätigkeit eine Theorie aufgestellt, welche sich auf bekannte Thatsachen und folgende Erwägungen stützt: 1) Das Nervengewebe bietet keine Ausnahme von dem allgemeinen biologischen Gesetze dar, dass während des Lebens jede Periode der Thätigkeit zugleich eine Periode der Desorganisation ist, worauf sofortige Wiederherstellung des früheren Zustandes folgt — ohne diese würde ja das Leben zum Tode führen — ; die Nervenelemente desintegrieren (zer- setzen) sich, indem sie ihre Funktion ausüben, und reintegrieren sich (bauen sich wieder auf) unmittelbar danach. Es zerfällt also eigentlich jede Nerventhätigkeit in zwei Abschnitte, einen Abschnitt der Zersetzung und einen des Wiederaufbaues. Nun lehrt aber die Beobachtung, dass das Bewusstsein immer nur den ersten dieser beiden Abschnitte begleitet; es ist daher an die funktionelle Zersetzung der Nerven- elemente geknüpft. 2) Die Beobachtung lehrt ferner, dass die gewohntesten, die am meisten automatischen Handlungen, diejenigen, welche uns am wenigsten ermüden und sich mit dem geringsten Masse funktioneller Zersetzung voll- ziehen, stets die am wenigsten bewussten, die ungewohnten Hand- lungen dagegen, diejenigen, welche uns am meisten ermüden und die grösste Menge Zersetzungsprodukte liefern, zugleich die am meisten bewussten sind. Wir sehen demnach, dass die Lebhaftigkeit des Bewusstseins in geradem Verhältnis steht zur Lebhaftig- keit der funktionellen Zersetzung der thätigen Nerven- elemente. 3) Endlich lehrt die Beobachtung noch, dass ein ganz besonders auszeichnendes Merkmal der gewohntesten, automatischen, halb- oder ganz unbewussten Handlungen in ihrer verhältnismässig sehr ! In „Atti della Regia Accademia dei Lincei“, Roma 1879. Dieselbe Ar- beit erscheint soeben, durchgesehen und vervollständigt, im „Journal of Mental Science“, London. Kosmos 1884, I. Bd. (VII. Jahrgang, Bd. XIV). 21 322 A. Herzen, Die Veränderungen des Selbstbewusstseins. schnellen Fortleitung durch die Nervenzentren hindurch besteht. Jedermann weiss, dass die »Reaktionszeit« durch Übung bedeutend ver- kürzt werden kann und dass wir fortwährend eine Menge von Handlungen verrichten, ohne uns ihrer Ausführung bewusst zu werden (beim Gehen z. B.). Demzufolge scheint also die Lebhaftigkeit des Bewusstseins in umgekehrtem Verhältnis zur Schnelligkeit und Leichtig- keit der zentralen Fortleitung zu stehen. Wenn wir nun diese drei partiellen Schlüsse in einen gemein- schaftlichen Ausdruck zusammenfassen, so erhalten wir das von mir so genannte >physische Gesetz des Bewusstseins«: »Das Bewusstsein ist ausschliesslich an die Zersetzung der zentralen Nervenelemente geknüpft; seine Lebhaftigkeit steht in geradem Verhält- nis zu dieser Zersetzung und zugleich in umgekehrtem Verhältnis zu der Leichtigkeit, mit welcher jedes dieser Elemente auf andere die Zersetzung überträgt, die sich seiner bemächtigt hat, und mit welcher es in die Phase des Wiederaufbaues übergeht.« Das Selbstbewusstsein (Bewusstsein des Ich) ist nun aber bloss ein besonderer Fall des Bewusstseins im allgemeinen und muss folgerichtig denselben Gesetzen unterworfen sein, d. h. es muss auftreten oder fehlen, je nachdem die zentralen Elemente, welche zu seiner Erzeug- ung mitwirken, sich zu zersetzen im Begriffe sind oder nicht, und es muss Veränderungen erleiden, wenn die Art der Thätigkeit dieser Elemente sich ändert. Dies zeigt sich unzweideutig in den extremen Fällen von Geistes- krankheit, viel weniger jedoch im Normalzustande und in jenen dazwischen liegenden Zuständen, welche auf leichten, vorübergehenden, periodisch wiederkehrenden oder dauernden Geistesstörungen beruhen. Mit diesem Teil des Gegenstandes möchte ich mich im folgenden beschäftigen. Wir haben keinerlei Bewusstsein von unserer Identität mit jenem armseligen kleinen Wesen, das wir bei unserer Geburt waren. Das Ge- fühl, die Fortsetzung desselben Individuums zu sein, tritt erst viel später mit der ersten klaren und dauernden Erinnerung an einen bestimmt wahrgenommenen Bewusstseinszustand hervor und zwar zu einer Zeit, die bei jedem einzelnen eine andere ist. Wir bestreiten dem Neugebornen nicht etwa das Bewusstsein überhaupt, wohl aber das Selbstbewusstsein. Es ist ganz selbstverständlich, dass er Empfindungen hat, allein ebenso unverkennbar ist es, dass er dieselben nicht lokalisiert. Er könnte dies auch nicht, da es hierzu des Zusammenwirkens mehrerer Sinne bedarf, was erst als Folge einer bestimmten Gruppierung von Verhält- nissen zu stande kommt, die bei ihm noch gar nicht eintreten kann. Ohne Zweifel werden die Empfindungen, welche von zwei verschiedenen Stellen des Körpers stammen, auch beim Neugebornen jede ihren be- sonderen Charakter besitzen; allein um dieselben unterscheiden zu lernen, um sie einem bestimmten Punkte im Gegensatz zu anderen zuschreiben und vor allem ihren Ursprung auf äussere Dinge beziehen zu lernen, ist durchaus eine lange Erfahrung nötig. Die häufige Wiederholung dieser Empfindungen muss erst ihre subjektive, mit dem Bilde des Körperteils, von welchem sie herstammen, oder der äusseren Dinge, von welchen sie erzeugt werden, innig verknüpfte Reproduktion ermöglichen. Nur ganz all- A. Herzen, Die Veränderungen des Selbstbewusstseins. 323 mählich kommt daher das Kind soweit, sich eine immer vollständigere Kennt- nis der Topographie seines eigenen Körpers zu erwerben und die einzelnen Teile desselben von einander und von den Objekten, die nicht zu ihm gehö- ren, unterscheiden zu lernen. Da nun alle Teile unseres Körpers durch die Nervenzentren mit einander in Verbindung stehen, da ferner diese letzteren jedesmal das Bild von mehreren Körperteilen oder sogar von ihrer Ge- samtheit subjektiv reproduzieren, sobald auch nur einer derselben gereizt wird, und da endlich unter allen Reproduktionen gerade diese notwendig weitaus am häufigsten vorkommt — so nimmt das Ich die Gewohnheit an, sich als ein Individuum, als ein Ganzes, als ein Eines und Un- teilbares zu betrachten und sich als solches in Gegensatz zum Nicht- Ich zu stellen. Von da an hat der Mensch das Bewusstsein seines Ich; allein dies ist ein Bewusstsein von sehr kurzer Dauer: um auch das Ge- fühl von der Kontinuität dieses Ich erlangen zu können, muss das Gedächtnis schon einen hohen Grad der Ausbildung erreicht haben, was erst nach längerer Zeit der Fall sein kann. Das Gedächtnis also ist der Eckstein dieses Gebäudes der Persönlichkeit. Nun handelt es sich darum, zu wissen, bis zu welchem Grade dies Gebäude, wenn es einmal aufgerichtet ist, wirkliche oder nur scheinbare oder gar imaginäre Einheit besitzt. Nach der landläufigen Ansicht begleitet das Bewusstsein des Ich beständig alle unsere Gedanken und Handlungen und wird es nur selten während des traumlosen Schlafes oder während einer Ohnmacht unter- brochen; aber die aufmerksame Beobachtung unserer selbst bestätigt diese Ansicht keineswegs. Ein heftiger physischer oder moralischer Ein- druck nimmt uns so vollständig in Anspruch, bemächtigt sich so sehr aller empfindenden Elemente, dass neue Eindrücke, welche in jedem an- deren Augenblick unsere Aufmerksamkeit erregt haben würden, unbe- merkt vorübergehen; unser Sensorium schenkt den neuen Bildern, die sich darbieten, kein Gehör mehr, das ganze Bewusstsein wird von dem vorherrschenden Gedanken in solchem Grade eingenommen, dass neben demselben kein Platz mehr für einen andern bleibt, nicht einmal für das Subjekt, welches demselben unterworfen ist. Während dieser Zeit ist also das Bewusstsein unseres Ich unterbrochen. Allerdings erinnern wir uns später, dass wir es sind, welche diesen Eindruck gehabt haben: wir treten aus einer Art Traum ohne Schlaf hervor; wir stehen dann eben nicht mehr unter der Herrschaft des Eindrucks, der uns in Anspruch nahm; dieser ist vorüber. Es genügt übrigens, uns die Erinnerung daran lebhaft zurückzurufen, damit er von neuem das ganze Bewusstsein er- greife und wir abermals unsere ganze Subjektivität verlieren, indem wir uns, soweit es das Bewusstsein betrifft, in etwas Unpersönliches ver- wandeln. Wenn man darauf achtet, wird man sich leicht überzeugen, dass dies jedesmal geschieht, so oft wir über irgend etwas tief nach- denken; so oft der Denker die logische Entwickelung seiner Gedanken intensiv verfolgt; so oft die Einbildungskraft des Dichters oder Künstlers sich ganz dem Drange des Schaffens hingibt: dann verschwindet die Persönlichkeit; das Bewusstsein ist nicht mehr unser, es wird von dem Gegenstande des Gedankens gänzlich eingenommen; der Denker wird zum Gedanken und es ist kein Ich mehr vorhanden. Dasselbe geschieht je- 394 A. Herzen, Die Veränderungen des Selbstbewusstseins. doch nicht bloss in diesen extremen Fällen, sondern auch in jedem Augen- blicke unseres täglichen Lebens, wenn z. B. materielle Schwierigkeiten zu überwinden sind, welche sich der Kundgebung unseres Gedankens entgegensetzen: wenn wir ihn etwa niederschreiben oder erst den Blei- stift spitzen müssen, um ihn zu Papier bringen zu können. Dann be- gleitet unser Selbstbewusstsein nicht mehr ununterbrochen die Gedanken, welche einander folgen, oder vielmehr, dasselbe wird unvollständig, par- tiell.e. Je nachdem wir uns z. B. vorstellen, mit einer wissenschaftlichen Untersuchung oder mit unserer Toilette beschäftigt zu sein, wird der In- halt unseres Bewusstseins ein anderer. sein. Derselbe wird bald durch das Bild unseres gesamten Körpers gebildet, der in sitzender Stellung über ein Buch gebeugt ist; bald durch das des Fusses, welcher bestrebt ist, sich in ein neues Schuhwerk zu pressen, und der Hände, welche daran zerren; und diese Zerlegung des Ich wird um so vollständiger sein, je stärker die ‘Aufmerksamkeit auf einen dieser Bruchteile konzen- triert ist. Plötzlich erinnern wir uns dann wieder, dass wir ja wir sind; ein Gesamtbild, schnell entworfen, tritt an die Stelle des Teilbildes, aber das Gesamtbild ist sozusagen bloss eine »Restaurierung« des Individuums, das Gedächtnis »restauriert« dasselbe etwa so, wie der Geologe die fos- silen Tiere auf Grund der spärlichen Überreste restauriert, welche er ausgegraben hat. Es findet eine momentane Synthese der Teilbilder statt, die nach einander das ganze Bewusstsein ausgefüllt hatten und während deren Überwiegen, streng genommen, kein Bewusstsein des Ich vorhan- den war, sondern nur ein Bewusstsein des Denkobjekts, welches sich in diesem besonderen Falle als ein Teil des Ich herausstellte. Die einzigen Gedanken, während deren wir ein lebhaftes Gefühl von unserem Ich behalten, sind diejenigen, von welchen das Gesamtbild unserer eigenen Person einen wesentlichen und notwendigen Teil darstellt, Wenn wir z. B. über gewisse wissenschaftliche Thatsachen nachdenken, über die Hypothesen, zu denen sie Veranlassung gaben, über die Ex- perimente, welche diese Hypothesen bestätigen könnten, über die Folgen, die sich daraus ergeben würden, — dann kommt das Bewusstsein unseres eigenen Ich nicht mit ins Spiel. Allein dies wird anders, sobald wir uns vorstellen, wie ein besonderer Versuch ins Werk zu setzen wäre: das Denken verknüpft sich dann notwendigerweise mit der Vorstellung von den erforderlichen Bewegungen, von ihrer Form, Geschwindigkeit und Energie, mit anderen Worten also mit dem Bilde des in verschie- denen Stellungen und auf verschiedene Weise thätigen Ich, und zwar betrachten wir die Wirkungen der letzteren, die in uns durch eine Reihe von Reflexempfindungen d. h. von auf Grund unserer vorhergegangenen Erfahrung antizipierten Vorstellungen hervorgerufen werden. Ganz be- sonders aber ist dies dann der Fall, wenn die Empfindung, die man Wille nennt, ins Denken eintritt, denn nun bildet das Ich in Thätig- keit den Hauptgegenstand des Denkens und füllt dasselbe vollständig aus, so sehr, dass, wenn dieser Gedanke aufhörte, ohne dass sogleich ein anderer an seine Stelle träte, das Selbstbewusstsein mit demselben aufhören und gar nichts übrig bleiben würde: unsere innere Thätigkeit, unsere Individualität wären damit verschwunden. Dies geschieht that- A. Herzen, Die Veränderungen des Selbstbewusstseins. 335 sächlich in dem Augenblicke, wo eine Ohnmacht plötzlich den Gang der Gedanken mehr oder weniger lang und manchmal für immer unter- bricht. Sehen wir jedoch von diesem Ausnahmsfall ab, so wird der Gedanke, in welchen das Ich als Bestandteil eingetreten war, sogleich von einem andern, unpersönlichen ersetzt; nachdem wir über die Aus- führung des Experiments nachgedacht, betrachten wir von neuem die Folgen desselben, und nun verwischt sich die Individualität abermals, das Ich verschwindet. Die Idee des Ich ist also keineswegs ein so konstantes Element des Bewusstseins, als man zu glauben geneigt ist; da sie aber sehr häufig auf- tritt, ja am häufigsten unter allen, weil sie jeden Augenblick durch die interzentrale Reflexthätigkeit (gewöhnlich Ideenassociation genannt) her- vorgerufen wird und sich allen den Gedanken beigesellt, die nachein- ander auftauchen; da ferner die Reflexthätigkeit keine regelmässigere und eingewurzeltere Gewohnheit hat als diejenige, das Ich gleichsam zu vervollständigen, indem sie gleich das Gesamtbild desselben entwirft, so- bald irgend eine Empfindung das Bild eines seiner Teile hervorruft; da es überdies beinahe unvermeidlich ist, dass ein schwaches Aufleuchten des Gesamtbildes jedes Teilbild begleitet (ebenso wie die harmonischen Obertöne, welche den ganzen Akkord bilden, den Grundton begleiten, der durch Anschlagen einer einzigen Saite erzeugt wird); und da end- lich das Gesamtbild fast immer nahezu dasselbe ist, während die Teil- bilder einander folgen — ohne sich zu gleichen — so ist es ganz natür- lich, dass das Gesamtbild vorherrscht im Geiste derjenigen, die nicht gewohnt sind, sich aufmerksam zu beobachten, und dass es die Täusch- ung von einer Kontinuität hervorbringt, die es doch weit entfernt ist, zu haben. So kann das Ich manchmal gänzlich aus der Panästhesie! ent- fallen. Anderseits kann dieselbe manchmal auch gänzlich von einem Teilbild des Ich gebildet sein, und den Charakter des eigentlichen Selbst- bewusstseins nimmt sie erst dann an, wenn das Gesamtbild unseres Ich einen der wesentlichsten Faktoren der Gedanken darstellt, die uns vorherrschend beschäftigen. Sehen wir nun zu, ob das Selbstbewusstsein wenigstens dann, wenn es wirklich auftritt, mit sich selbst identisch ist. In der Revue philosophique? von Tr. Rızor führt H. Taısz ein langes Citat aus dem Werke des Dr. Krıshager über eine Krankheit der Nervenzentren an, welche die Panästhesie der Kranken bedeutend stört und eine mehr oder weniger vollständige Verkehrung der Ideen zur Folge hat, welche sie sich von ihrem Ich bilden. Taımz dringt auf ! Ich schlage das Wort „Panästhesie“ (Gesamtgefühl) vor, um die Ge- samtheit dessen zu bezeichnen, waseinIndividuumineinem gegebenen Augenblicke empfindet. Man bezeichnet denselben Begriff häufig mit dem Worte Cönästhesie (Gemeingefühl), aber dieses scheint mir etymologisch weniger passend, und es hat den Übelstand, dass es auch angewendet wird, um die esamntheit der visceralen oder organischen Empfindungen auszudrücken, — was sehr verschieden ist von dem rein psychologischen Sinne, welchen ich dem Worte Panästhesie beilegen möchte. ®? Vol. DH. 1876. 326 A. Herzen, Die Veränderungen des Selbstbewusstseins. den ersten Schlag in die ganze psychologische Tragweite dieser Thatsache ein und schliesst daraus, »dass das Ich, die moralische Persönlichkeit, ein Produkt ist, dessen Empfindungen seine ersten Faktoren sind und das, in verschiedenen Zeitabschnitten betrachtet, nur deswegen dasselbe ist und sich als dasselbe erscheint, weil die es zusammensetzenden Em- pfindungen immer dieselben bleiben; wenn aber diese Empfindungen plötzlich andere werden, so wird auch es ein anderes und erscheint sich als ein anderes; jene müssen erst wieder dieselben werden, da- mit es wieder dasselbe werde und sich selbst aufs neue als dasselbe er- scheine. « Dieser Schluss ist nicht neu für die Physiologie; diese geht sogar noch einen Schritt weiter und behauptet, dass, da die Panästhesie nie- mals wieder genau dieselbe wird, das Ich es ebenfalls nie mehr werde, und dass es folglich in verschiedenen Abschnitten des Lebens be- trächtlich von sich selbst abweiche, so dass das, was in der »Nevropathie cerebro-cardiaque« stattfindet, nur eine Steigerung dessen ist, was im normalen Zustande beständig vor sich geht. Gewöhnlich bleibt das Ich während kürzerer oder längerer Perioden des Lebens ungefähr das- selbe, weil in dieser Zeit das Produkt der gegenwärtigen und ver- gangenen, der peripherischen und zentralen Empfindungen auch un- gefähr dasselbe ist, aber es wird ein anderes, je nachdem dieses Produkt ein anderes wird. Die Modifikationen des Ich hängen manch- mal von physiologischen Bedingungen ab und sind dann langsam und stufenweise (Übergang von der Kindheit zum Jünglingsalter, von diesem zum reifen Alter, von diesem zum Greisenalter), bald von toxikologischen Bedingungen und dann sind sie plötzlich und tief eingreifend, wie die Wirkung der Substanzen, welche sie hervorbringen (Einfluss von Alkohol, Opium, Morphium, Wein, Kaffee u. s. w., kurz aller sogenannten »Nervina«); endlich sind sie aber auch von pathologischen Bedingungen abhängig und verlaufen alsdann mehr oder weniger rapid, sind anhaltend oder remit- tierend in wechselnder oder gleichbleibender Stärke, je nach dem Sitz, dem Wesen und dem Gang der Krankheit im einzelnen Falle. Wir kommen später auf diesen Punkt zurück ; hier sei nur noch darauf hin- gewiesen, wie uns oft sogar die gewöhnlichen physiologischen Veränder- ungen des Ich in Erstaunen setzen und wir manchmal nicht geringe Mühe haben, uns selbst in einer der Phasen unserer Vergangenheit wiederzuerkennen. J. Forster hat dieser Thatsache in folgenden Worten humoristischen Ausdruck verliehen: »Im Laufe eines langen Lebens,« sagt er, »kann ein Mensch successive mehrere Personen sein, die ein- ander so wenig ähnlich sind, dass, wenn jede einzelne Phase dieses Lebens sich in einem besonderen Individuum verkörpern könnte und man sodann diese Leute zusammenbrächte, dieselben eine sehr heterogene Gesellschaft bilden, sich gegenseitig heftig widersprechen, einander gründ- lich verachten und sobald als möglich wieder auseinander laufen würden, ohne zu wünschen, sich jemals wieder zu sehen.« Man wird uns vielleicht entgegenhalten: wenn das Ich nur eine unterbrochene und wechselnde Form der Panästhesie wäre, so könnte es uns doch nur ein Chaos von Einzelbildern ohne verbindendes Band lie- A. Herzen, Die Veränderungen des Selbstbewusstseins. 327 fern, gleichsam einen Haufen farbiger Steinchen, aus denen sich zwar ein Mosaik zusammensetzen liesse, die aber ohne jegliche Ordnung und ohne Beziehung zu einander herumliegen. Diesen Einwurf weise ich ein- fach als nicht stichhaltig zurück. Mit der moralischen Persönlichkeit verhält es sich genau wie mit der physischen: die Einheit und die Kon- tinuität des psychischen Ich, soweit dieselben überhaupt wirklich be- stehen, werden ja durch die vorstehenden Bemerkungen keineswegs ge- fährdet — jedenfalls ebensowenig wie die Einheit und die Kontinuität des körperlichen Ich (welche doch niemand bestreitet) gefährdet werden durch die unaufhörliche Auswechselung von Baustoffen zwischen dem Körper und der Aussenwelt. Dazu kommt, dass sich die Veränderungen, welche die psychische Persönlichkeit erleidet, gleich denen der physischen Persönlichkeit, von Ausnahmefällen abgesehen, nur nach längeren Zeit- räumen erkennen lassen und dass wir stets geneigt sind, sie abzuleugnen, sie für nicht vorhanden oder mindestens für unbedeutend zu halten, bis zu dem Augenblicke, wo sie sich uns unabweisbar aufdrängen und uns veranlassen, beschämt die Augen niederzuschlagen — manchmal wohl auch, sie freudig zu erheben. Dank der Aufzeichnung der empfangenen Eindrücke in den zen- tralen Elementen und dank dem Mechanismus der Reflexempfindungen, welche zusammen das Gedächtnis darstellen, folgt auf jede Empfindung unmittelbar die Vorstellung von vielen andern früheren; diese rufen ihrer- seits ein Bild von zahlreichen noch älteren hervor u. s. w. Diese Erinnerungen an unsere aufeinanderfolgenden Bewusstseinszustände, zu- sammengruppiert und zu einem Ganzen verschmolzen, sind es, welche bedingen, dass das Ich sich immer mehr vervollständigt und sich in- mitten aller seiner Wechselfälle stets wiedererkennt, gleichzeitig an den verschiedensten Phasen seiner Entwickelung Anteil nimmt und mehr oder weniger lebhaft empfindet, dass es die Fortsetzung dessen bildet, was es war, wenn es auch nicht mehr genau dasselbe und manchmal sogar ein anderes ist. Würde es sich nicht erinnern, etwas anderes ge- wesen zu sein, so wüsste es ja auch nicht, dass es im Grunde dasselbe geblieben ist; und in der That fehlt ihm geradezu das Gefühl seiner Kontinuität und seiner Einheit vollständig, sobald das Gedächtnis seinen Dienst versagt. Dieses Gefühl fehlt uns durchaus für die erste Periode unseres Lebens; wir besitzen nur eine nachträgliche, durch »Hörensagen«e und durch Analogie erworbene Vorstellung davon, dass wir die Fortsetzung des kleinen Wesens sind, dem unsere Mutter das Leben gab; nur durch Überlegung gelangen wir zu diesem Schluss, das Gefühl aber, jenes Wesen gewesen zu sein, mangelt absolut und beginnt wie gesagt erst mit der ersten klaren und dauernden Erinnerung an einen bestimmt wahrgenommenen und gehörig eingeprägten Bewusstseinszustand. Aus dieser Darlegung ergibt sich, dass die Gruppe von Erschein- ungen, welche wir das Ich nennen, nichts anderes ist als die Pan- ästhesie in den Zeiten, wo sie nicht unpersönlich ist; dass die Kontinuität und Einheit des Ich, beide in hohem Grade relativ, ausschliesslich auf dem Gedächtnis beruhen; endlich, dass seine Identität nichts weiter ist als eine mehr oder weniger lang anhaltende Täuschung. 3238 A. Herzen, Die Veränderungen des Selbstbewusstseins. So zwingend auch diese Folgerung ist, so dürfte es doch nicht überflüssig sein, einige Beispiele zu ihrer Bestätigung anzuführen. Unter diesen werde ich jedoch die durch Giftwirkungen hervorgerufenen Ver- änderungen des Ich ganz bei Seite lassen: dieselben sind jedermann zu genau bekannt, als dass es nötig wäre, sie besonders hervorzuheben. . Ich beschränke mich daher vorzugsweise auf seine pathologischen Ver- änderungen. Unter seinen physiologischen Umgestaltungen ist am auffallendsten diejenige, welche in der Pubertätsperiode eintritt. Niemand bezweifelt die tiefgreifenden Veränderungen, welche alsdann im körperlichen Ich Platz greifen; davon aber, dass die sie begleitenden psychischen Ver- änderungen nicht minder bedeutsam sind, gibt man sich im allgemeinen keine Rechenschaft. Hören wir, wie sich über diesen Punkt einer der berühmtesten Irrenärzte ausspricht, den leider ein vorzeitiger Tod der Wissenschaft entrissen hat, W. GrissisgGer!: »Eines der deutlichsten und lehrreichsten Beispiele einer noch dem physiologischen Gebiete an- gehörenden Erneuerung und Umwandlung des Ich, mit Rücksicht auf die Ursachen des Irrsinns betrachtet, bietet uns das Studium jener Seelen- erscheinungen dar, welche mit der Mannbarkeit hervortreten. Damit, dass gewisse Körperteile, die bis dahin in vollkommener Ruhe verharrt hatten, in dieser Epoche des Lebens in Thätigkeit treten und überhaupt eine vollständige Umwälzung im ganzen Organismus sich vollzieht, gehen auch in verhältnismässsig kurzer Zeit grosse Massen von Bewegungs- empfindungen in den Bewusstseinszustand ein. Sie durchdringen nach und nach den bisherigen Ideenkreis und bilden schliesslich einen in- tegrierenden Bestandteil des Ich; dieses wird hierdurch zu etwas ganz anderem, es erneuert und verjüngt sich und das Selbstgefühl erfährt eine gründliche Umgestaltung. Allein so lange freilich die Assimilation der neuen Elemente nicht vollständig durchgeführt ist, können sich diese Durchdringungen und diese Zersetzung des ursprünglichen Ich kaum voll- ziehen, ohne dass stürmische Bewegungen in. unserem Bewusstsein ent- stehen, ohne dass dieses eine gewaltsame Erschütterung erleidet, mit andern Worten ohne dass in unserer Seele eine Menge der verschieden- artigsten Erregungen auftauchen. Dieser Lebensabschnitt ist es auch hauptsächlich, in welchem man so häufig das Auftreten innerer Gemüts- bewegungen ohne äusseren Anlass beobachten kann.« Gehen wir nun zu den pathologischen Umwandlungen des Ich über. Dieselben sind noch auffälliger, weil sie plötzlicher und mannigfal- tiger sind. Im Jahr 1873 veröffentlichte Dr. Krısuager eine Monographie über einen Krankheitszustand, den er »Neuropathia cerebro-cardiaca« nennt. Die Ursache dieser Krankheit scheint in einer plötzlichen Er- nährungsstörung der sensorischen Zentren zu liegen, die wahrscheinlich auf lokaler krampfhafter Zusammenziehung der Blutgefässe beruht, wäh- rend die höheren Zentren, die Grosshirnwindungen in normalem Zustand verbleiben. Dies führt dann zu einer Verdrehung der Empfindungen, ı Handbuch der Geisteskrankheiten. A. Herzen, Die Veränderungen des Selbstbewusstseins. 329 d. h. der Elemente des Verstandes; dieser fährt zwar, insoweit er als logischer Mechanismus in betracht kommt, ganz regelmässig zu funktio- nieren fort und gelangt gleichwohl zu falschen Resultaten, weil er ge- zwungen ist, falsche Daten zu verarbeiten, und somit seine logisch ganz richtigen Folgerungen auf irrtümlichen Voraussetzungen beruhen. Der Kranke ist nicht etwa verrückt: im Anfang berichtigt er sogar selbst die falschen Anschauungen, zu denen ihn die Fremdartigkeit seiner Eindrücke verleitet; er sträubt sich gegen diese Anschauungen und erklärt sie für Täuschungen — allein zuletzt erschöpft sich sein altes Ich und unter- liegt: er glaubt sich in eine andere Welt versetzt, dann glaubt er gar nicht mehr zu existieren, endlich glaubt er ein anderer zu sein. Be- züglich der Einzelheiten verweise ich auf den Artikel von Tamr und das Buch von Dr. KrısHABeEr. In anderen Fällen handelt es sich umgekehrt um eine lokale oder reflektorisch hervorgerufene Veränderung der Rindenzentren. Hier sind die Empfindungen als Elemente des Verstandes ungestört geblieben und es ist der Verstand selbst, welcher durch die krankhafte Thätigkeit seines Mechanismus gefälscht wurde. Ich wähle als besonders lehrreich ein Beispiel von solcher Er- krankung mit intermittierenden Symptomen aus, welche jene merkwür- dige Erscheinung bedingen, die man als doppeltes Bewusstsein be- zeichnet. In der »Revue scientifigue« v. J. 1876 machte Dr. Azam den fol- genden Fall bekannt: Felida macht abwechselnd Zeiten von schweigsamer Traurigkeit und Zeiten von Frohsinn und Gesprächigkeit durch; die er- steren werden aber immer häufiger und stellen schliesslich ihren gewöhn- lichen Zustand dar, um nur in seltenen Zwischenzeiten einer vorüber- gehenden Fröhlichkeit Platz zu machen. Während der traurigen Perioden hat sie keinerlei Erinnerung an die Zeiten der Fröhlichkeit, welche dann wie aus ihrem Bewusstsein ausgelöscht sind; während der fröhlichen Zeiten dagegen erinnert sie sich der traurigen Perioden, jedenfalls aber hält sie, so lange sie sich in einem der beiden Zustände befindet, stets diesen bestimmt für ihren Normalzüstand und bezeichnet den andern als >ihre Krankheit<. Dr. Azam glaubt, es handle sich um Amnesie (Ge- dächtnisschwäche), dabei hält er aber Felidas fröhliche Perioden für pathologisch und schreibt ihre Ursache einer Zusammenziehung der Blutgefässe in den Rindenschichten des Grosshirns zu. Ich erlaube mir hierüber einige Zweifel zu äussern: wenn wirklich Amnesie vorliegt, so besteht sie jedenfalls nicht während der fröhlichen Perioden, in denen sich ja Felida ihrer traurigen Zeiten erinnert, sondern vielmehr während der letzteren: diese also stellen den krankhaften Zustand dar und wir haben keinen Grund, ihren fröhlichen Zustand für pathologisch zu er- klären. In der That gehören ja auch alle andern hysterischen Sym- ptome, an denen sie leidet, mit Einschluss der Amnesie durchaus den traurigen Zeiten an, und der ganze Verlauf der Krankheit scheint mir anzudeuten, dass der schweigsame und hysterische Zustand sich während der Pubertätsperiode langsam entwickelt und lange fortgedauert hat, um nur noch von Zeit zu Zeit durch kurze fröhliche und nicht hysterische 330 A. Herzen, Die Veränderungen des Selbstbewusstseins. Perioden unterbrochen zu werden, welche jedesmal eine vorübergehende Rückkehr in den Normalzustand darstellen. Dies wird noch wahrschein- licher durch die Thatsache, dass in einem gewissen Alter diese Rück- schläge häufiger und anhaltender wurden, was eine günstige Prognose stellen lässt und zu der Hoffnung berechtigt, die völlige Heilung werde mit dem Zeitpunkt zusammenfallen, wo das definitive Aufhören einer wichtigen periodischen Funktion des weiblichen Organismus in der Regel auch das Verschwinden der sogenannten hysterischen Erscheinungen nach sich zieht. Wie dem auch sei, uns ist hier zunächst von Wichtigkeit, dass der Unterschied in der Gesamtrichtung ihrer Gefühle und Gedanken, mit einem Wort in ihrem Ich während der abwechselnden Perioden augen- scheinlich daher stammt, dass eben jede ihrer beiden Perioden durch ihre besondere Panästhesie ausgezeichnet ist und dass jeder Panästhesie ein besonderes Ich entspricht. Nun betrachtet Felida, so lange sie sich in einem der beiden Zustände befindet, jedes dieser beiden Ich als ihr eigentliches normales Ich; sie hat also thatsächlich zwei Bewusstseine, welche je nach dem Zustand, den die krankhaften Einflüsse in ihrem Gehirn hervorrufen, mit einander abwechseln. Das eine dieser beiden Bewusstseine ist dem andern vollständig fremd, weil dieses von der Existenz des ersteren nichts weiss; dieses dagegen kennt das letztere, jedoch nur, um es zu verleugnen und als etwas Krankhaftes zurückzuweisen. Felida weiss während einer dieser Perioden, dass sie stets dieselbe ist, einzig deshalb, weil sie sich erinnern kann, manchmal eine andere zu sein; in der andern Periode weiss sie davon nichts. Im ersten Falle ist es die Identität des Ich, welche leidet, im zweiten ist es seine Kon- tinuität, welche aufgehoben ist. Was müsste nun eintreten, wenn der letztere Zustand zum dauern- den würde? P. Janer hat im Hinblick‘ auf diese wichtige Frage einen Artikel über die Vorstellung von der Persönlichkeit geschrieben, worin er den Fall einer Fischhändlerin anführt, welche glaubte, Marie-Louise geworden zu sein, zugleich aber sich erinnerte, dass sie Fischhänd- lerin gewesen war; er bemerkt hiezu: »In diesem Falle erkennt man deutlich die Fortdauer des wesentlichen Ich in der Veränderung des äusserlichen Ich. Denn es war doch wohl augenscheinlich dasselbe Ich, das sich für Marie-Louise hielt und das sich erinnerte, Fischhändlerin gewesen zu sein.< Das Gedächtnis also stellt P. Janer als absolute Bedingung der behaupteten Identität des Ich hin. Daraus folgt, dass, wenn die Fischhändlerin eines Tages ihren früheren Zustand ganz ver- gässe, ihr »wesentliches«e Ich in diesem Falle ipso facto aufhören würde zu existieren; ihr »äusserliches« oder accessorisches Ich würde dann offenbar zum wesentlichen werden. Dies sagt freilich der Verfasser nicht, dazu ist er zu sehr Spiritualist; glücklicherweise aber ist die Folgerung so selbstverständlich, dass es beinahe überflüssig erscheint, sie besonders auszusprechen. Immerhin ist es hier wie bei Felida doch nur eine sehr wahrscheinliche Annahme, ich halte es daher für ange- zeigt, noch einige Beispiele zu eitieren, um darzuthun, dass wirklich dieser Fall eintritt, wenn die Veränderung in den Gehirnzentren nicht vorüber- A. Herzen, Die Veränderungen des Selbstbewusstseins. 331 gehend oder periodisch, sondern dauernd und definitiv ist, wenigstens mit bezug auf die zentralen Elemente, welche zu dem verschwundenen Ich beigetragen hatten, das nun vollständig durch ein neues Ich ver- drängt ist, und zwar ohne dass das Individuum sich nun in einem pa- thologischen Zustand befände. Sonst würde es ja genügen, einige Fälle von unheilbarem Irrsinn anzuführen. Ich möchte aber einleuchtend machen, nicht allein dass ein Individuum sein vergangenes Ich wegen krankhafter Entartung des grössten Teils der dazu beitragenden zentralen Elemente vollständig verlieren kann, sondern auch und insbesondere dass in demselben Masse, als immer neue Elemente ins Spiel kommen und die Ausarbeitung eines andern Ich beginnen, das Individuum zuletzt in immer vollständigeren und dauernderen Besitz eines neuen Ich gelangt, das vom ersten absolut verschieden ist und nicht die geringste Vorstellung davon hat, jemals mit demselben in irgend welcher Beziehung gestanden zu haben. Der Mechanismus des Gehirns kann Beschädigungen verschiedener Art erleiden; gleich einer Uhr kann er stillstehen, entweder weil ein fremder Körper eingedrungen ist und sein Räderwerk gehemmt hat (dies entspricht den auf Giftwirkung beruhenden Veränderungen der Gehirn- thätigkeit), oder weil eine Feder, ein Rad verschoben ist (so bei Ge- hirnerschütterung durch traumatischen Einfluss), oder endlich weil einer oder mehrere seiner Bestandteile, manchmal sogar alle zerstört worden sind (so bei der partiellen oder totalen dauernden Amnesie). Dieser grobe Vergleich soll nichts weiter als auf die Möglichkeit einer mehr oder weniger langsamen- und vollständigen Wiederherstellung in einer grossen Zahl ähnlicher Krankheitsfälle und der Fortdauer des patholo- gischen Zustandes in anderen, allerdings sehr seltenen Fällen hinweisen. Ein Beispiel: Dr. Hoy berichtet von einem 19jährigen jungen Manne, welcher das Bewusstsein verloren hatte infolge eines Schlages, den ihm eine Stute namens Dolly versetzt, wodurch sein Schädel eingedrückt worden war. Sobald das Knochenstück entfernt war, rief er laut: »Ho, Dolly!« und schaute überrascht um sich, voll Verwunderung über das, was mit ihm vorging. Seit dem Unglück waren bereits drei Stunden verflossen, der Patient hatte aber nicht die geringste Ahnung davon, wusste auch nicht einmal, dass die Stute ihn geschlagen: das letzte, dessen er sich erinnerte, war, dass die Stute ihm das Hinterteil zu- kehrte und ihre Ohren nach hinten senkte!. — Eine junge Frau, die ihren Mann leidenschaftlich liebte, wurde bei ihrer Entbindung von einer langen Ohnmacht ergriffen, infolge deren sie die Erinnerung an die ganze Zeit verlor, welche seit ihrer Verheiratung, mit Einschluss der letzteren, verstrichen war. Ihres ganzen übrigen Lebens bis zu diesem Zeitpunkte wusste sie sich ganz genau zu erinnern. ... Sie stiess mit Schrecken ihren Gatten und ihr Kind zurück und erlangte nie wieder die Erinner- ung an diesen Abschnitt ihres Lebens. Ihre Verwandten und Freunde kommen herbei, um sie zu überzeugen, dass sie verheiratet ist und ein Kind hat, und sie gibt sich alle Mühe, es zu glauben, weil sie doch ! Citiert von Maudsley in „Pathologie de l’Esprit“, p. 10. 332 A. Herzen, Die Veränderungen des Selbstbewusstseins. lieber annehmen will, sie habe die Erinnerung an einen Teil ihres Lebens verloren, als sie alle für Betrüger zu halten. Allein ihre Über- zeugung, ihr innerstes Bewusstsein bleibt trotz alledem dasselbe: sie sieht ihren Mann und ihr Kind vor sich, ‘ohne sich vorstellen zu können, durch welchen Zauber sie zu jenem gekommen und diesem das Leben gegeben hat!. Diese beiden Beispiele zeigen deutlich, dass die ver- schobenen Räder manchmal wieder in ihre richtige Stelle einrücken, manchmal aber auch einige auf die Dauer ausfallen können — ohne jedoch die übrigen an ihrem Gange zu hindern. Das folgende Beispiel dagegen wird zeigen, dass das Instrument unseres Gehirns auch umge- stimmt werden kann, so dass es abwechselnd zwei Musikstücke spielt, die gar nichts mit einander gemein haben: es -ist gewissermassen der Fall von Felida in gesteigerter und vervollständigter Form. »Eine junge Amerikanerin verlor nach einem anhaltenden Schlafe jede Erinnerung an das, was sie früher gelernt hatte. Ihr Gedächtnis war einfach zur ta- bula rasa geworden. Man musste sie alles von vorne wieder lehren. So hatte sie sich allmählich wieder ans buchstabieren, lesen, schreiben, rechnen zu gewöhnen und die Dinge und Personen ihrer Umgebung kennen zu lernen. Nach einigen Monaten verfiel sie abermals in einen tiefen Schlaf, und als sie daraus erwachte, war sie wieder dieselbe wie vor dem ersten Schlafe: sie hatte alle ihre Kenntnisse und die Erinner- ung an ihre ganze Jugend wieder, dagegen war ihr vollständig ent- schwunden, was zwischen den beiden Anfällen geschehen war. Im Ver- lauf von mehr als vier Jahren ging sie dann abwechselnd aus dem einen in den andern Zustand über, jedesmal infolge eines langen, tiefen Schlafes.... Sie hat ebensowenig ein Bewusstsein von ihrer doppelten Persönlichkeit, als zwei verschiedene Merischen gegenseitig ein solches von der des andern haben können. So stehen ihr z. B. im früheren Zustand alle ihre ursprünglich erworbenen Kenntnisse zur Verfügung. Im neuen Zustande aber besitzt sie nur diejenigen, die sie seit ihrer Krankheit erwerben konnte, und dies geht bis in die kleinsten Einzel- heiten ihres Verhaltens hinein: im alten Zustand hat sie eine schöne Schrift, im neuen dagegen ist dieselbe sehr steif und ungeschickt, da sie eben noch zu wenig Zeit zum Üben gehabt. Wird ihr jemand in dem einen ihrer beiden Zustände vorgestellt, so genügt dies nicht, sie muss ihn, um ihn gehörig zu kennen, in beiden Zuständen gesehen haben. Und dasselbe gilt für alles andere ?.« Um sich die vollständige und bleibende Umgestaltung des Ich und die dauernde Ersetzung des verschwundenen Ich durch eine neue Per- sönlichkeit ganz zu vergegenwärtigen, bedarf es nur noch eines Schrittes: es genügt, wenn die Störung im Gehirn derart ist, dass die Rückkehr zum ursprünglichen Ich für immer unmöglich gemacht ist. Hier ein merkwürdiges Beispiel dieser Art?®. Eine Engländerin, Frau H., 24 Jahre alt, seit einem Jahre verheiratet, erfreute sich bis zu ihrer Verheiratung ı Citiert von Ribot „Maladies de la M&moire“, p. 61. ? Nach Macnish, in Taine, „De YIntelligence“, T. I, p. 165, und in Combe, „System of Phrenology“, p. 173. ® Nach dem Bericht von Carpenter in „The Brain“, April 1869. A. Herzen, Die Veränderungen des Selbstbewusstseins. 333 und auch noch einige Monate nachher einer vollständigen Gesundheit, obgleich sie im allgemeinen von zarter Konstitution war. Nun aber be- gann sie den Appetit zu verlieren, an Melancholie zu leiden und länger zu schlafen als gewöhnlich. Von einer Luftveränderung günstige Wirk- ung hoffend, begab sie sich nach Schottland, wo sie von Professor Smarpey beobachtet wurde, der ihren allgemeinen Zustand befriedigend fand, auf psychischem Gebiete aber eine Schwächung des Gedächtnisses und der Aufmerksamkeit und eine gesteigerte Schlafsucht konstatierte. Bald nahm die letztere so zu, dass Frau H. manchmal zu jeder beliebigen Stunde und in jeder Lage in einen tiefen traumlosen Schlaf verfiel, der nur von Zeit zu Zeit durch ein allgemeines Zucken und unzusammen- hängende Worte unterbrochen wurde; nach dem Aufwachen hatte sie gar keine Erinnerung an das, was geschehen war und was sie gesprochen hatte. Letzteres waren stets Ausrufungen des Abscheus und Schreckens, die sie fast unabänderlich in denselben Worten ausdrückte.. Um sie zu wecken, gab es nur ein Mittel: man musste sie aufrecht auf die Füsse stellen und zum Gehen veranlassen; allein jedesmal, wenn sie auf diese Weise geweckt worden war, zeigte sie sich unruhig und betrübt und weinte lange. Im Mai steigerten sich die Symptome: es wurde täglich schwieriger, sie zu wecken, und schliesslich in den ersten Tagen des Juni gelang dies gar nicht mehr. So schlief sie denn, abgesehen von einigen kurzen Augenblicken des Erwachens in seltenen Pausen, ununter- brochen bis Anfang August. Während dieses zweimonatlichen Schlafes wurde sie auf die Weise ernährt, dass man ihr flüssige Nahr- ungsmittel löffelweise einflösste.. Sobald der Löffel ihre Lippen berührte, öffnete sie den Mund und schluckte die Flüssigkeit hinunter; war sie gesättigt, so biss sie die Zähne aufeinander und wendete, wenn man sie weiter nötigen wollte, das Gesicht ab. Sie schien auch den Ge- schmack zu unterscheiden, denn gewisse Speisen verweigerte sie hart- näckig. Von Zeit zu Zeit äusserte sie dieselben Worte wie früher, je- doch mit dem höchst sonderbaren Unterschied, dass sie dieselben nun mit einem Ausdruck der Befriedigung aussprach oder sie nach einer sanften Melodie sang. Dieser Schlaf wurde nur zeitweilig durch einige schmerzhafte Empfindungen unterbrochen; so hatte man ihr z. B. ein- mal, zehn Tage nach dem Beginn ihrer Lethargie, eine Arznei eingegeben. welche ihr Leibschmerzen verursachte; da erwachte sie mit dem Rufe: Schmerzen, Schmerzen; ich sterbe! und hielt sich den Leib mit den Händen. Nachdem man sie durch warme Überschläge beruhigt, blieb sie mehrere Stunden wach, während deren sie auf keine Frage antwortete und niemand erkannte, ausser eine alte Freundin, welche sie ein Jahr lang nicht gesehen hatte. Sie betrachtete dieselbe lange, dann ergriff sie mit dem Ausdruck lebhafter Freude ihre Hände; endlich sprach sie den Namen dieser Person aus, wiederholte denselben unaufhörlich und fuhr damit sogar noch fort, nachdem sie wieder eingeschlafen war. Gegen Ende Juli wurde der Schlaf weniger tief, die Kranke gab Zeichen von sich, die annehmen liessen, dass sie nicht mehr so gänzlich unbewusst war; es wurde auch möglich, sie aufzuwecken, indem man ihre Augen öffnete und ihr einen Gegenstand zeigte, der ihren Blick zu fesseln ge- . 334 A. Herzen, Die Veränderungen des Selbstbewusstseins. eignet war. Dann lächelte sie und war offenbar sehr vergnügt; ihre ganze Aufmerksamkeit schien auf den Gegenstand und die Person, welche denselben hielt, konzentriert zu sein, aber sie sprach noch nicht und antwortete auf keine Frage. Endlich gegen Anfang August wurden die Unterbrechungen ihres Schlafes immer länger und zuletzt schlief sie nicht mehr als im normalen Zustande. Jetzt erst wurde man einer höchst überraschenden Erscheinung in ihrem psychischen Leben gewahr: sie hatte alles vollkommen vergessen, ihr Seelenleben war eine vollständige tabula rasa, sie wusste so sehr gar nichts mehr, dass alles ihr neu war; sie erkannte niemand, selbst ihren Gatten nicht. Dabei war sie fröhlich, unaufmerksam, zerstreut und unruhig und schien von allem, was sie sah und hörte, entzückt zu sein — ganz wie ein kleines Kind. Allmählich wurde sie ruhiger, ernster und aufmerksamer, ihr Gedächtnis, das für ihr ganzes früheres Leben mit Einschluss des Schlafzustandes vollständig ausgelöscht war, zeigte sich im jetzigen Leben sehr lebhaft. So konnte man denn ihre Erziehung von neuem beginnen. Sie eignete sich einen Teil dessen, was sie gewusst hatte, in einigen Fällen mit der grössten Leichtigkeit an, in andern wurde es ihr schwerer; bemerkens- wert ist aber, dass, obschon das zur Wiedererlangung ihres früheren Wissens eingeschlagene Verfahren weniger darin bestanden zu haben scheint, es von neuem zu lernen, als ihr dasselbe mit Hilfe ihrer näch- sten Umgebung ins Gedächtnis zurückzurufen, sie dennoch auch hierbei offenbar nicht das geringste Bewusstsein davon hatte, all das schon früher innegehabt zu haben. Ausserdem erkennt sie niemand, selbst ihre nächsten Verwandten nicht, d. h. sie hat durchaus keine Erinner- ung, sie vor ihrer Krankheit gekannt zu haben. Jetzt bezeichnet sie dieselben entweder mit ihren richtigen Namen, die man sie erst lehren musste, oder mit Namen von eigener Erfindung, stets aber betrachtet sie sie als neue Bekanntschaften und hat keine Vorstellung davon, dass sie mit ihnen verwandt ist. Überhaupt hat sie seit ihrer Krankheit nur etwa ein Dutzend Personen gesehen und das ist für sie alles, was sie jemals gekannt zu haben meint. Sie hat auch wieder lesen gelernt, aber man musste mit dem ABC anfangen, denn sie kannte nicht einen einzigen Buchstaben mehr; dann lernte sie Silben und Wörter bilden und jetzt liest sie ganz ordentlich. Um schreiben zu lernen, begann sie mit den allereinfachsten Übungen, aber sie machte viel raschere Fort- schritte, als jemand machen würde, der es noch gar nie gekonnt hätte. Die Förderung, welche ihr bei der Arbeit des Wiederlernens ihre früheren Kenntnisse gewähren, von denen sie doch gar kein Bewusstsein hat, er- wies sich ganz besonders wirksam bei der Musik, ja der Mechanismus der Ausübung musikalischer Fertigkeiten scheint beinahe intakt geblieben zu sein. Und überdies scheint sie noch einige allgemeine Ideen von mehr oder weniger verwickelter Art zu besitzen, welche sie seit ihrer Genesung keine Gelegenheit gehabt hat, sich anzueignen. Nach Verlauf einer verhältnismässig ziemlich kurzen Zeit gelangte sie allmählich wie- der in einen vollständig normalen Zustand und erfreute sich einer ge- nügenden Bildung, aber nie hatte sie auch nur eine Spur von Erinner- ung daran, dass sie die wiedererworbenen Kenntnisse schon einmal be- A. Herzen, Die Veränderungen des Selbstbewusstseins. 335 sessen oder bereits ein anderes Leben gelebt. Ihr zweites, ziemlich langes Leben war ein in jeder Hinsicht normales Leben; sie war eine treffliche Gattin und Mutter und war noch in späten Jahren allgemein beliebt durch ihre geistigen und moralischen Eigenschaften und ihren Eifer in der Wohlthätigkeit. Dies einige extreme Fälle von durch Veränderungen des physi- schen Ich verursachten Veränderungen des psychischen Ich. Zwischen diesen äussersten Grenzen der Variation und der beständigen Behaup- tung eines normalen Ich, welches stets dasselbe bleibt, gibt es alle möglichen Abstufungen und Nüancen, denn die Form, welche der psy- chische Ausdruck der Individualität annimmt, ist ein getreues Spiegel- bild dessen, was in ihrer körperlichen Ausdrucksform, im Zustande und in der Thätigkeit des Organismus vor sich geht: — der Organismus ist die Persönlichkeit selber und das Bewusstsein sorgt nur dafür, uns dies zusagen. Die Einheit des Ich ist daher niemals voll- ständig, immer besteht eine mehr oder weniger tiefgehende Spaltung desselben. Jedes Teil-Ich vertritt gleichsam eine der vorwiegenden Ten- denzen des Individuums; man denke nur an die Verschiedenheiten und Gegensätze zwischen dem privaten und dem öffentlichen oder militärischen Ich einer und derselben Persönlichkeit, an das Ich manches Gatten und Familienvaters und das Ich desselben Mannes, wenn er sich dem Trunk, dem Spiel oder anderen Ausschweifungen ergibt; oder an das Ich des Frommen, während er betet, und das Ich eben dieses Menschen, wenn er seinem Nächsten bei Gelegenheit eines vorteilhaften Geschäftes das Fell über. die Ohren zieht. Man möchte fast sagen: die Seele kann sich ebensogut maskieren, wie der Körper, bald die Uniform und bald die Soutane anzieht. Hier wie überall stellt der pathologische Zustand nur eine Abweichung vom Normalzustand dar; dieser zeigt uns im kleinen, was jener übertrieben vergrössert. In der That erreicht ja auch der Mensch eine um so vollkommenere Einheit seines Wesens, je mehr sein Charakter ein Ganzes ist, je weniger tiefgreifende Umwandlungen er während seines Lebens erlitten hat, je geringer der Unterschied zwischen seinem gewöhnlichen einfachen Ich und dem Ich seines Berufes, seiner politischen Thätigkeit oder seiner religiösen Richtung, und vor allem je vollständiger die Harmonie zwischen seinen sittlichen Anschauungen und seinem Handeln. Diese Harmonie zu entwickeln und damit jene Einheit zu kräftigen und zu fördern — dies muss das wesentlichste Ziel der Erziehung im weitesten Sinne des Wortes sein. Die Schwere oder das Wirksamwerden der potentiellen Energie. Von Baron N. Dellingshausen. (Fortsetzung. Ir Der Weltäther und die Gravitationswellen. Wie in allen modernen Gravitationslehren, welche eine unvermittelt in die Ferne wirkende Anziehungskraft nicht mehr anerkennen, wird auch in der kinetischen Naturlehre die Existenz eines den unendlichen Welt- raum erfüllenden, kosmischen Mittels — des Weltäthers — voraus- gesetzt. Zu dieser Annahme sind wir durch viele Thatsachen berechtigt. Zunächst sind es die Lichterscheinungen, die den Beweis liefern, dass der Weltraum nicht absolut leer sein kann, da die Lichtwellen, welche von der Sonne und den Fixsternen ausgehen und bis zu uns gelangen, notwendigerweise eines Substrates zu ihrer Fortpflanzung bedürfen; ferner deuten die Abkürzungen, welche an der Umlaufszeit des Enke- schen Kometen beobachtet worden sind, auf einen Widerstand hin, der nur einem interstellaren Mittel zugeschrieben werden kann; schliesslich sind es die Erscheinungen der Schwere selbst, welche unbedingt die An- nahme eines Vermittlers bei den Wechselwirkungen der Weltkörper unter- einander erfordern. Die Existenz eines kosmischen Mittels vorausgesetzt, kommt es zu- nächst darauf an, sich eine richtige Vorstellung von demselben zu bil- den. Nun sind wir aber leider nicht in der Lage, uns mit unsern phy- sikalischen Apparaten in den Weltraum zu versetzen, um direkte Be- obachtungen über den Weltäther anzustellen, wir können aber aus den Eigenschaften unserer irdischen Atmosphäre einige Schlussfolgerungen ziehen, welche wohl geeignet sind, uns ein Bild von dem zu geben, was den Weltraum erfüllt. N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden etc. II. 337 Vor allem erkennen wir, dass der Weltäther weder ein fester, noch ein flüssiger Körper sein kann; als solcher wäre er den Beobach- tungen der Astronomen nicht entgangen und müsste dem Umschwunge der Planeten einen so grossen Widerstand entgegensetzen, dass ihre Be- wegungen um die Sonne unmöglich wären. Der Weltäther kann daher nur ein Gas — vielleicht das vollkommenste aller Gase — sein, was schon daraus hervorgeht, dass er uns als Fortsetzung unserer gas- förmigen, irdischen Atmosphäre entgegentritt. Aus demselben Grunde können die Eigenschaften des Weltäthers — bis auf seine chemische Zusammensetzung — nicht bedeutend von den Eigenschaften unserer Erdatmosphäre in ihren höchsten Regionen abweichen. Von unserer Atmosphäre wissen wir aber, dass ihr Druck mit zu- nehmender Höhe beständig geringer wird, dass derselbe in einer Höhe von 8 Meilen nur noch dem Druck einer Quecksilbersäule von 1 mm Höhe gleich ist, in noch grösseren Höhen sich auch durch die ge- nauesten Apparate nicht mehr nachweisen lässt, und wir müssen daraus schliessen, dass der Druck in dem Weltäther so gering ist, dass er entweder gleich Null oder fast gleich Null angenommen werden kann. Dasselbe gilt auch von der Temperatur des Weltäthers. In un- serer Atmosphäre nimmt die Wärme bekanntlich mit zunehmender Höhe ab, wie man es bereits an den mit ewigem Schnee bedeckten Bergen erkennen kann. Auf dem Fort Reliance in Nordamerika ist eine Tem- peratur von —56,7° C., in Sibirien von —73 °C. beobachtet worden; anderweitige Schätzungen haben für den Weltraum noch viel geringere Wärmegrade ergeben, so dass nichts dem entgegensteht, die Tem - peratur des Weltäthers gleich dem absoluten Nullpunkte, d. h. gleich —273°C. anzunehmen, eine schreckliche Kälte, die nur durch die von den Weltkörpern ausgehenden und sich im Weltraume kreuzenden Wärmewellen etwas gemildert wird. Aus dem obigen geht hervor, dass der Weltäther nur mit einem Gase verglichen werden kann, welches bei einer sehr geringen Temperatur sich ausserdem noch unter einem sehr geringen Drucke befindet. In einem schreienden Widerspruche mit diesen Thatsachen stehen die Vorstellungen, welche man sich in den modernen Gravitations- theorien über den Weltäther gebildet hat. Nach den Ätherstoss- theorien soll der Weltäther aus Atomen bestehen, die nach allen Rich- tungen den Weltraum durchfliegen und dabei durch ihren Stoss auf die ponderablen Körper die Erscheinungen der Schwere hervorbringen. Diese Lehre haben wir bereits durch den Nachweis widerlegt, dass die Energie, welche die Ätheratome auf die Körper übertragen, und die lebendige Kraft, welche die Körper bei ihrem Fallen erreichen, nicht äquivalent sein können. Aber auch in anderer Beziehung sind die Ätherstosstheorien völlig unhaltbar. Wenn die Erscheinungen der Schwere durch die Äther- atome hervorgebracht werden, so müssen diese durch ihren Stoss einen Druck ausüben können, der grösser ist, als das Gewicht jedes beliebigen Körpers, z. B. grösser als das Gewicht der Cheops-Pyramide oder des Kosmos 1884, I, Bd. (VIII, Jahrgang, Bd. XIV). 22 338 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden Mont-Blane, ja grösser als das Gewicht der ganzen Erde in bezug auf die Sonne u. s. w. Damit aber die Atheratome im stande wären, einen so grossen Druck auszuüben, sind die modernen Gravitationstheorien ge- zwungen, ihnen Geschwindigkeiten zuzuschreiben, die jedes Mass über- steigen. Dadurch wird nur ein neuer Widerspruch begründet. Nach den Grundsätzen der Molekulartheorie nimmt die Temperatur eines Gases mit der Geschwindigkeit seiner Atome zu; der Weltäther müsste daher wegen der ‚rasenden‘‘ Geschwindigkeit seiner Atome eine Temperatur besitzen, die noch um vieles die Weissglühhitze übersteigt. Trotz der Beliebtheit der Ätherstosstheorien empfinden wir von der hohen Hitze und dem grossen Drucke des Weltäthers nichts, sondern beobachten beim Ersteigen der Berge genau das Gegenteil, nämlich eine Abnahme der Wärme und des Druckes. Ein ähnlicher Widerspruch findet sich auch in der Anderssohn- schen Theorie des Massendruckes. Nach dieser Theorie ist der Welt- äther allerdings nur der Träger der Wellen, durch welche die Weltkörper einen Druck auf einander ausüben; dieser Druck müsste aber doch ein gewaltiger sein, wenn seine Differenz auf den verschiedenen Seiten eines Weltkörpers dazu genügte, diesen nicht allein von der geraden Richtung seiner Bewegung abzulenken, sondern ihn auch beständig auf seiner Bahn weiterzuschiebeen — und ist daher unvereinbar mit der Widerstands- losigkeit des Weltraumes gegen die Bewegungen der Planeten. Ganz anders ist dagegen das Verfahren der kinetischen Natur- lehre; vor allem enthält sie sich jeder Hypothese über Atome, Kräfte u. s. w. und geht einfach von der gegebenen Thatsache aus, dass der Weltäther ein Gas ist, unter sehr geringem Drucke und von sehr ge- ringer Temperatur, von dem man sich daher auch keine andere Vor- stellung bilden darf als von den übrigen Gasen oder den Körpern überhaupt. Von den Körpern wissen wir aber bereits aus dem vorigen Ab- schnitte, dass sie nicht allein äusserlich in Bewegung begriffen sind, son- dern dass sie sich auch in ihrem Inneren in einem beständigen Bewegungs- zustande befinden. Die inneren Bewegungen der Körper sind aber Ro- tationen, die sich in Schwingungen zerlegen lassen und durch Wellen weiter fortgepflanzt werden. Auf diese Weise wird jeder Punkt zum Ausgangspunkt eines elementaren Wellensystems und beeinflusst dadurch die Bewegungen aller übrigen Punkte im Körper, ja man könnte fast sagen im ganzen Universum. Umgekehrt werden auch die Bewegungen jedes Punktes durch die von den übrigen Punkten ausgehenden Wellen bestimmt und durch die vollkommene Gegenseitigkeit dieser Wechsel- wirkungen die Unvergänglichkeit der Bewegungen in der Welterscheinung begründet. Bei ihrem Zusammentreffen in entgegengesetzter Richtung verwandeln sich die gleichartigen fortschreitenden Wellen in stehende Wellen und bestimmen durch ihre Schwingungsdauer und ihre Energie die Eigen- schaften und die Temperatur der Körper. Bei der Mannigfaltigkeit der Richtungen, in welchen die Wellen sich in den Körpern durchkreuzen, ist es unvermeidlich, dass sie auch in gleicher oder fast gleicher Rich- tung fortschreitend mit entgegengesetzten Phasen oder Geschwindigkeiten der potentiellen Energie. II. 339 zusammentreffen; indem sie dabei, ohne sich zu vernichten, sich gegen- seitig neutralisieren, heben sie ihre Wirkungen nach aussen auf und können daher weder als Druck, noch als Wärme erscheinen. Die Energie der interferierenden und sich gegenseitig neutralisierenden Bewegungen haben wir als potentielle Energie, die Energie der nach allen In- terferenzen übrig bleibenden freien Bewegungen als kinetische Energie bezeichnet. Die Summe beider ist die Totalenergie der Körper. Genau dieselbe Vorstellung, wie von den Körpern, haben wir uns auch von dem inneren Zustande des Weltäthers zu bilden. Vor allem erkennen wir, dass das uns unbekannte Substrat, welches allen Körpern zu Grunde liegt, auch im Weltäther der alleinige Träger der Bewegun- gen ist, durch welche die Eigenschaften desselben bestimmt werden. Auch in dem Weltäther lässt sich jeder Punkt als der Ausgangspunkt elemen- tarer Wellen betrachten, welche bei ihrem Zusammentreffen in entgegen- gesetzter Richtung sich in stehende Wellen umwandeln, bei gleicher Fort- pflanzungsrichtung aber durch Interferenz sich gegenseitig neutralisieren und dadurch in dem Weltäther ebenso wie in den Körpern eine poten- tielle und eine kinetische Energie begründen. Stellt sich nun aus den Beobachtungen an unserer Atmosphäre heraus, dass der äussere Druck und die Temperatur in ihren obersten Regionen und somit auch im Welt- raume höchst geringfügig sind, so ist damit nur der Beweis geliefert, dass die Energie der inneren Bewegungen des Weltäthers vorzugsweise, wenn nicht ausschliesslich aus potentieller Energie besteht. In der That, wenn wir die Unendlichkeit der Räume, welche der Weltäther erfüllt und die in ihm nach allen Richtungen herrschende Gleichmässigkeit berück- sichtigen, so erscheint es als unvermeidlich, dass Jeder Bewegung, welche einem seiner Punkte mitgeteilt wird, eine andere Bewegung in entgegen- gesetzter Richtung entgegenwirkt und dass beide dabei sich gegenseitig neutralisieren. Der Weltäther ist daher nach der kinetischen Natur- lehre einin stehender Schwingung begriffenes Medium, welches durch seine fast ausschliesslich potentielle Energie, den An- nahmen der Astronomen über den Weltraum vollkommen entsprechend, uns als leer und widerstandslos erscheint. Die kinetische Naturlehre gelangt somit in bezug auf den Welt- äther zu Resultaten, welche mit den auf einem anderen, mehr empirischen Wege ermittelten Thatsachen vollkommen gut übereinstimmen, und es handelt sich daher nur noch darum, ob es uns gelingen wird, in einem derartigen, scheinbar inhaltlosen Medium die veranlassende Ursache zu den Erscheinungen der Schwere zu entdecken. Wäre der Weltäther allein vorhanden, so könnte der soeben ge- schilderte Zustand desselben ewig dauern, da bei der Gleichartigkeit des Ganzen auch jede Veranlassung zu einer Veränderung fehlen würde. — Ausser dem Weltäther sind aber noch andere Körper — Sonnen, Pla- neten, Fixsterne — in unendlicher Menge im Weltraum verteilt. — Durch den Einfluss dieser Körper werden notwendigerweise gewisse Stö- rungen in dem Weltäther hervorgebracht und wird dadurch die Veran- lassung zu der Entstehung der äusseren Bewegungen gegeben. Um uns eine recht klare und genaue Vorstellung von dem Ein- 340 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden flusse der Körper auf den Weltäther zu bilden, müssen wir uns vor allem mit ihrem Verhalten gegen fortschreitende Wellen bekannt machen. Dieses Verhalten geht aber aus verschiedenen Erscheinungen hervor. Be- kanntlich beruht die Farbe der Körper auf der Absorption der sie treffen- den Lichtwellen mit Ausnahme derjenigen, in deren Farbe sie erscheinen. Setzen wir einen Körper den Strahlen einer Wärmequelle aus, so erwärmt er sich, indem er die ihn treffenden Wärmewellen absorbiert und in innere Bewegungen umwandelt. Aus den Beobachtungen der Spektralanalyse erfahren wir, dass das Absorptionsvermögen der farbigen Flammen für Lichtstrahlen gleich ihrem Emissionsvermögen ist und dass sie gerade vorzugsweise diejenigen Lichtwellen in ihrer Fortpflanzung aufhalten, die sie selbst von sich aussenden. Aus diesen Erscheinungen ergibt sich, dass die Körper unter geeigneten Umständen die Fähigkeit besitzen, die auf sie eindringenden und sie durchströmenden Wellen in ihrer weiteren ungehinderten Fortpflanzung aufzuhalten und sie durch Absorption in innere Bewegungen umzuwandeln. Das geschieht aber auf die Weise, dass die von den Wellen den Körpern zugeführten Bewegungen sich mit den bereits vorhandenen inneren Bewegungen derselben zu neuen Re- sultierenden vereinigen, dabei ihre Energie entweder ganz oder teilweise einbüssen und dadurch in ihrer weiteren Fortpflanzung verhindert werden. In derselben Weise, wie gegen die Licht- und Wärmewellen, müssen die Körper sich auch gegen die sie treffenden Ätherwellen verhalten und durch ihre Absorption unmittelbar eine störende Einwirkung auf die inneren Bewegungen und auf die Bildung der stehenden Wellen in dem Weltäther ausüben. — Stehende Wellen gehen immer nur aus dem Zusammentreffen zweier gleichartiger, in entgegengesetzter Richtung fort- schreitender Wellen hervor. Fällt eine dieser Wellen durch irgend welche Veranlassung weg, so ist die Umwandlung der anderen in eine stehende Schwingung nicht mehr möglich, sondern sie ist gezwungen, als tort- schreitende Welle weiter zu bestehen und sich nach der Richtung hin fortzupflanzen, von wo aus die zur Bildung der stehenden Wellen unent- behrliche, nunmehr aber fehlende Komponente entgegenkam. Das ist aber genau der Einfluss, den die Weltkörper auf den Welt- äther ausüben; durch ihre Absorption der auf sie eindringenden Äther- wellen entziehen sie anderen Ätherwellen die zur Bildung der stehenden Wellen unentbehrlichen Komponenten und zwingen sie dadurch, als fort- schreitende Wellen weiter zu bestehen. Diese Wirkung macht sich so- fort bis in weite Fernen mit einer der Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Ätherwellen gleichen Geschwindigkeit nach allen Richtungen hin auf be- ständig sich erweiternde Kugeloberflächen fühlbar und veranlasst überall dort, wo die stehenden Wellen des Weltäthers eines ihrer Komponenten beraubt werden, die Entstehung einer allgemeinen, den ganzen Weltraum umfassenden und konzentrisch nach den Weltkörpern gerichteten Wellen- bewegung und zwar einer um so mächtigeren, je grösser die Absorptions- fähigkeit des Zentralkörpers für fortschreitende Wellen ist. Der Welt- äther erleidet somit unter dem Einflusse der Weltkörper eine tiefein- greifende Veränderung; er befindet sich nicht mehr in einer ausschliess- lichen stehenden Schwingung, sondern wird in bestimmten, nach den der potentiellen Energie. 11. 341 verschiedenen Weltkörpern konvergierenden und sich vielfach kreuzenden Richtungen von fortschreitenden Wellen durchlaufen, die wir bei der Aus- sicht, in ihnen die veranlassende Ursache der Schwere zu entdecken, be- reits jetzt schon als Gravitationswellen bezeichnen wollen. Die Gravitationswellen erweisen sich somit als fortschreitende Äther- wellen, die der entgegengesetzten Komponenten zur Bildung der stehen- den Wellen beraubt worden sind; auch sie sind dazu bestimmt gewesen, zur Bildung der stehenden Wellen in dem Weltäther beizutragen, unter- liegen aber denselben Einwirkungen wie die übrigen Ätherwellen; bei ihrer Konzentration in den Weltkörpern werden sie von diesen absoubieh und an der weiteren Fortpflanzung verhindert; dadurch werden wieder anderen Ätherwellen die zur Bildung der stehenden Wellen erforderlichen Komponenten entzogen und sie dadurch gezwungen, als fortschreitende Wellen weiter zu bestehen und sich in der Richtung nach dem absor- bierenden Körper hin in Bewegung zu setzen. Auf diese Weise wieder- holt sich der soeben geschilderte Vorgang immer wieder von neuem; die Weltkörper werden dadurch gleichsam zu Brennpunkten von fortschreiten- den Ätherwellen, die aus den weitesten Entfernungen des Raumes kom- mend und beständig aufeinanderfolgend als Gravitationswellen von allen Seiten nach ihren Zentralkörpern zusammenströmen. Die Gravitationswellen sind somit eine unbedingte Konsequenz der Vorstellungen, welche man sich in der kinetischen Naturlehre über die Körper und den Weltäther zu bilden hat; als solche sind sie bereits un- bestreitbar. Der thatsächliche Beweis für ihr Bestehen wird sich jedoch erst aus der Möglichkeit ergeben, mit ihrer Hilfe die Erscheinungen der Schwere zu erklären. Aber schon jetzt sind wir in der Lage, uns da- von zu überzeugen, dass die Gravitationswellen vollkommen den Beding- ungen entsprechen, welche man an die veranlassende Ursache der Schwere zu stellen hat. Wie die Schwere, so sind auch die Gravitationswellen konzentrisch nach den Weltkörpern gerichtet. Wie die Schwere von der Masse der Weltkörper abhängig ist, so wird auch die Energie der Gra- vitationswellen durch ihren Zentralkörper bestimmt, da für "jede Äther- welle, welche derselbe absorbiert, andere Ätherwellen als fortschreitende Wellen weiter bestehen und zu der Bildung der Gravitationswellen bei- tragen müssen. In derselben Weise aber, wie die Beschleunigung der Körper durch die Schwere in einem dem Quadrate der Entfernung von dem Gravitationsmittelpunkt umgekehrt proportionalen Verhältnisse zu- oder abnimmt, verhält sich auch die Energie der Gravitationswellen. Indem die Gravitationswellen bei ihrer Konzentration nach den Weltkörpern hin ihre Bewegungen auf beständig kleiner werdende Kugeloberflächen übertragen, bleibt zwar ihre Energie wegen der Unvergänglichkeit derselben, über die ganzen Kugelflächen genommen, unverändert, nimmt aber aus dem- selben Grunde auf gleiche Flächenabschnitte bezogen in einem dem Qua- drate der Kugelhalbmesser oder, was dasselbe bedeutet, dem Quadrate der Entfernungen von dem Mittelpunkte des Zentralkörpers umgekehrt proportionalen Verhältnisse zu. Die Gravitationswellen und die Schwere befolgen somit dieselben Gesetze und es liegt daher die Schlussfolgerung nahe, dass die Ursache der einen in den anderen zu suchen ist. 342 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden Abgesehen von den Erscheinungen der Schwere gibt es jedoch noch andere Thatsachen, welche einen unzweifelhaften Beweis für das Bestehen der Gravitationswellen liefern. Wir meinen damit die innere Wärme der Weltkörper und die Erhaltung der Sonnenenergie. Mit Recht hat man darauf aufmerksam gemacht, dass die Sonne nicht beständig Licht- und Wärmewellen ausstrahlen könne, ohne dafür einen Ersatz von aussen zu erhalten. Bisher hat man aber vergebens nach der Quelle eines der- artigen Ersatzes gesucht. Für die kinetische Naturlehre gestaltet sich dagegen die Aufgabe in ganz anderer Weise; nicht die Frage nach der Erhaltung der Sonnenenergie tritt bei ihr in den Vordergrund, sondern die Frage nach dem Verbleib der Gravitationswellen. Durch die Be- wegungen, welche die Gravitationswellen den Weltkörpern ununterbrochen zuführen, müsste die Temperatur derselben beständig zunehmen und zu- letzt mit der Zeit in das Unermessliche steigen. Da solches nicht ein- tritt, so ist damit nur der Beweis geliefert, dass der beständigen Zufuhr von Bewegungen eine ebenso beständige Ableitung entgegenwirkt. Als solche bieten sich uns aber sogleich die von den Weltkörpern ausge- strahlten Licht- und Wärmewellen von selbst dar und wir erhalten auf diese Weise nicht allein eine Erklärung für die Erhaltung der Sonnen- energie, sondern auch ein sicheres Zeugnis für das Bestehen der Gra- vitationswellen. Durch das Gleichgewicht der einstrahlenden Gravitationswellen und der ausgestrahlten Licht- und Wärmewellen wird die Eigenwärme der Weltkörper bestimmt. — An der Oberfläche der Erde würde sie, unab- hängig von der Sonnenwärme, wahrscheinlich eine sehr geringe sein, vielleicht nicht viel grösser als im Weltraum selbst. Im Innern der Erde wird aber die Ausstrahlung der Wärme durch die schlechte Leitungs- fähigkeit der oberen Schichten verhindert. Deshalb beobachten wir mit zunehmender Tiefe eine beständig wachsende Temperatur. Die innere Erdwärme ist daher nicht ein Rest einer früheren Hitze, sondern ein konstanter, durch das Gleichgewicht der Ein- und Ausstrahlung bestimmter Zustand. Dasselbe gilt auch von der Sonne; sie ist weder in einem be- ständigen Brennen begriffen, noch wird sie mit Meteorsteinen geheizt, noch beruht ihre Hitze auf einer fortschreitenden Kondensation — lauter Hypothesen, die gemacht worden sind, — noch erhält sie — wie WILLIAM SIEMENS es neuerdings behauptet hat — einen beständigen Zufluss eines kohlenstoff-wasserstoffhaltigen Äthers, sondern sie gibt durch ihre Licht- und Wärmewellen an Bewegung nur das zurück, was ihr durch die Gra- vitationswellen beständig zugeführt wird. Wir brauchen daher nicht ein Auslöschen der Sonne zu befürchten; wäre eine Abkühlung derselben mög- lich, so müsste sie seit dem Bestehen des Planetensystems schon lange eingetreten sein; die Sonne ist aber nur eine Werkstatt, in welcher die Gravitationswellen in Licht- und Wärmewellen umgewandelt werden; sie wird daher nach wie vor unsere Tage erhellen und bis in ferne Zeiten noch überallhin Leben und Gedeihen verbreiten. Die Gravitationswellen und die Licht- und Wärmewellen sind so- mit nur die verschiedenen Äusserungen einer und derselben Bewegung; sie befolgen daher auch dieselben Gesetze und sind mit Ausnahme der der potentiellen Energie. II. 343 entgegengesetzten Fortpflanzungsrichtung in bezug auf Geschwindigkeit, Wellenlänge und Schwingungsdauer einander gleich. Nur durch die Art der fortgepflanzten Bewegungen mögen sie sich von einander unterscheiden. Während sich die Licht- und Wärmewellen als transversale Schwingungen erwiesen haben, können die Bewegungen in den Gravitationswellen sich vielleicht durch eine longitudinale Komponente auszeichnen und deshalb, ohne auf unser Auge einzuwirken, besonders dazu geeignet sein, Bewegun- gen wie das Fallen der Körper in der Richtung ihrer Fortpflanzung her- vorzubringen. Die Gravitationswellen sind somit ein notwendiges Glied in der Kette der Erscheinungen; wir haben sie theoretisch erkannt und aus der Eigenwärme der Weltkörper eine Bestätigung dafür abgeleitet; es bleibt uns daher nur noch übrig, zu untersuchen, auf welche Weise sie dazu beitragen, das Wirksamwerden der potentiellen Energie in den ponde- rablen Körpern anzuregen. II. Die Schwere der Körper. Die Wirkung der Schwere, welche wir als das Fallen der Körper bezeichnen, ist eine gleichförmig beschleunigte, nach dem Mittelpunkte der Erde hin gerichtete Bewegung. Eine beschleunigte Bewegung setzt sich aber zusammen aus einer bereits bestehenden gleichförmigen Bewegung und aus dem Zuwachs an Geschwindigkeit, welchen der betreffende Kör- per durch irgend eine Ursache erhält. Um das Fallen der Körper zu erklären, haben wir uns daher zunächst nur Rechenschaft über das Fort- bestehen der gleichförmigen Bewegung zu geben und dann die Ein- wirkungen zu erkennen, durch welche die abwärts gerichtete Bewegung der fallenden Körper beschleunigt wird. Das Fortbestehen der gleichförmigen Bewegungen wird in der Me- chanik einem Beharrungsvermögen der Körper zugeschrieben. Man sagt, dass ein Körper, der in Ruhe ist, nicht von selbst in Bewegung gerathen könne, sondern dass dazu eine veranlassende Ursache erforder- lich sei, man behauptet aber auch, dass ein Körper, wenn er einmal in Bewegung versetzt worden ist, durch sein Beharrungsvermögen das Be- streben habe, sich geradlinig und mit gleichförmiger Geschwindigkeit weiter fortzubewegen. Obgleich der erste Teil dieses Satzes vollkommen genügt, weil die fortdauernde Unbeweglichkeit eines Körpers in der That nur auf dem Mangel an einer Veranlassung zu einer Bewegung beruht, so ist doch der Schluss des Satzes, welcher das Beharrungsvermögen der Körper in der Bewegung ausspricht, nicht sogleich ohne weiteres einleuchtend und ist deshalb auch nicht ohne Widerspruch geblieben. Die entstandenen Missverständnisse sind jedoch in diesem Falle wie in vielen andern Fällen nur durch die ungeschickte Wahl des Ausdruckes veranlasst worden. Statt das Fortbestehen der gleichförmigen Bewegun- gen, den beobachteten Erscheinungen entsprechend, einfach als ein Be- harren der Körper zu bezeichnen, hat man durch das Anhängen des Wörtchens »Vermögen«e manche Naturforscher — unter anderen auch 344 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden ÄNDERSOHN in Breslau — dazu verleitet, in diesem Ausdrucke die Be- hauptung einer Eigenschaft oder eines besonderen Bestrebens der Kör- per zu erkennen, und sie dadurch veranlasst, dieser Behauptung zu wider- sprechen. Es ist jedoch leicht, sich davon zu überzeugen, dass das Be- harren der Körper in der einmal angenommenen Bewegung ganz ebenso wie in der Ruhe nur durch den Mangel einer störenden Einwirkung von aussen besteht. Um solches nachzuweisen, genügt es einige Beispiele anzuführen. Ein Buch, das auf dem Tische liegt, bleibt auf dem Tische liegen, es beharrt in seiner Lage, und will man es wegschaffen, so muss man es aufheben und an eine andere Stelle versetzen. Eine Billardkugel bewegt sich nach dem Stosse in gerader Richtung fort, sie beharrt in ihrer Bewegung und verändert ihre Geschwindigkeit und Richtung nur durch die Reibung am Tuche und durch die Reflexionen an den Banden des Billards. Eine abgeschossene Kanonenkugel wird von der geraden Richtung ihrer Bewegung nur deshalb abgelenkt, weil sie der Einwirk- ung der Schwere unterliegt. Ein Stein, der an einer Schnur befestigt ist, wird durch ihren Widerstand gezwungen, eine Kreislinie zu beschreiben, setzt aber, wenn die Schnur reisst oder losgelassen wird, seine Beweg- ung in tangentialer Richtung und mit gleichförmiger Geschwindigkeit weiter fort. Aus diesen Beispielen geht deutlich hervor, dass zu jeder Verän- derung einer Bewegung eine besondere Einwirkung von aussen erforder- lich ist. Das sogenannte Beharrungsvermögen ist somit weder ein Ver- mögen, noch eine Eigenschaft, noch ein Bestreben, sondern vielmehr ein Unvermögen oder eine Unfähigkeit der Körper, ihre Bewegung von sich aus ohne äussere Veranlassung abzuändern. Durch diese Unfähigkeit der Körper wird das Fortbestehen der gleichförmigen Bewegungen be- gründet und ist somit eine Thatsache, welche nicht bestritten werden darf. Damit ist jedoch der Gegenstand noch nicht vollständig erledigt. Die Ursache, welche einen Körper in Bewegung versetzt hat, kann schon lange beseitigt sein, während dieser noch immer fortfährt, dem erhaltenen Impulse zu folgen. Wodurch wird der Körper veranlasst, seine Bewegung fortzusetzen ? Der Zustand eines sich gleichförmig bewegenden Körpers kann nicht als vollkommen unveränderlich angesehen werden, da seine Bewegung vielmehr eine beständige Veränderung seines Ortes ist und daher wie jede andere Veränderung einer Erklärung bedarf. Die Un- veränderlichkeit der Richtung und der Geschwindigkeit hat die Natur- forscher dahin geführt, das Beharrungsvermögen der Körper ohne weitere Erläuterung als eine genügende Erklärung für das Fortbestehen der gleich- förmigen Bewegungen zu betrachten. Augenscheinlich muss aber doch zwischen dem Zustande eines Körpers in der Ruhe und dem Zustande desselben Körpers in der Bewegung ein Unterschied bestehen und daher aus der Erkenntnis dieser Verschiedenheit auch die Beantwortung der gestellten Frage hervorgehen. Nach der hier vorgetragenen kinetischen Naturlehre darf eine Er- scheinung nur dann als erklärt betrachtet werden, wenn sie auf die inneren Bewegungen der Körper zurückgeführt ist. Diese inneren Be- wegungen sind die ersten uns gegebenen Thatsachen; sie bestehen durch der potentiellen Energie. II. 345 die vollkommene Gegenseitigkeit ihrer Wechselwirkungen und bedürfen daher selbst keiner weiteren Erklärung; sie bedingen aber den jeweiligen Zustand der Körper und daher auch die Ruhe und die Bewegung der- selben. Soll daher die Verschiedenheit zwischen dem Zustande eines Kör- pers in der Ruhe und dem Zustande desselben Körpers in der Bewegung erkannt werden, so handelt es sich zuerst darum, die Verschiedenheit seiner inneren Bewegungen in dem einen und in dem anderen Falle zu ermitteln. Die Vorstellung aber, welche wir uns von den inneren Be- wegungen der Körper bilden, hängt zunächst von dem Koordinatensysteme ab, welches wir unseren Betrachtungen zu Grunde legen. Beziehen wir nämlich die inneren Bewegungen eines Körpers auf ein mit ihm festver- bundenes Koordinatensystem, so müssen seine Punkte nach einem inneren Umschwunge genau wieder an ihren früheren Ort zurückkehren, sie bewegen sich in geschlossenen Bahnen, der Körper beharıt in seiner Lage, er befindet sich in Ruhe. Erleidet dagegen der Körper einen Stoss oder irgend einen Impuls von aussen, so tritt zu seinen inneren Bewegungen eine neue Komponente in einer bestimmten Rich- tung hinzu. Die Bahnen der einzelnen Punkte in seinem Inneren, die bis dahin geschlossen waren, werden in bezug auf das gewählte Ko- ordinatensystem geöffnet, jeder Punkt des Körpers befindet sich am Ende seines Umschwunges 'an einer anderen Stelle als im Beginn des- selben und somit ist auch der ganze Körper nach Verlauf einer be- stimmten Zeit aus seinem Orte verschoben; er befindet sich in Bewegung. Die Öffnung der Bahnen, auf welchen die Punkte eines Körpers sich bewegen, ist die Verschiebung, welche der Körper während der Dauer eines inneren Umschwunges erleidet, und der Quotient aus diesen beiden Grössen, d. h. der Quotient aus der Verschiebung oder dem durchlaufe- nen Wege und der Dauer eines Umschwunges oder der verflossenen Zeit ist die Geschwindigkeit, mit welcher der Körper sich weiter bewegt. Die Verschiedenheit eines Körpers in der Ruhe und in der Bewegung besteht somit nur darin, dass die Bahnen, auf welchen seine Punkte sich bewegen, in dem einen Falle geschlossene, in dem anderen Falle offene Kurven sind. Da wir jedoch keinen Körper in absoluter Ruhe kennen, sondern jeder von ihnen schon wegen des Umschwunges der Weltkörper um einander an verschiedenen Bewegungen teilzunehmen hat, so dürfen auch streng genommen in keinem Körper für die einzelnen Punkte geschlossene Bahnen angenommen werden, sondern die inneren resultierenden Beweg- ungen der Körper müssen stets so beschaffen sein, dass sie in bezug auf ein feststehendes Koordinatensystem allen vor sich gehenden Beweg- ungen, nicht allein den inneren Rotationen, welche die Wärme und die spezifischen Eigenschaften der Körper bedingen, sondern auch den trans- latorischen Bewegungen, welche sich als Ortsveränderungen der Körper äussern, zugleich Genüge leisten. Aus der Vereinigung der rotierenden und translatorischen Bewegungen gehen aber, wie leicht ersichtlich, schraubenförmige Kurven hervor, welche uns somit die wahren For- men der Bahnen für die Bewegungen der einzelnen Punkte eines Körpers 346 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden im Raume darstellen. Die Höhe der Schraubengänge ist dann die Ver- schiebung, welche die Punkte während der Dauer einer Rotation er- leiden, und der Quotient beider, d. h. der Quotient aus der Höhe der Schraubengänge und der Dauer eines Umlaufes ist die Geschwindig- keit, mit welcher der Körper sich im Raume bewegt. Die Körper, welche durch die schraubenförmigen Bewegungen ihrer Punkte in gleicher Weise im Raum verschoben werden, erscheinen in bezug auf einander in Ruhe; es genügt aber in dem einen oder anderen Körper die Form seiner inneren Bahnen abzuändern, z. B. die Höhe der Schraubengänge, auf welchen seine Punkte sich bewegen, zu vergrössern oder zu verkleinern, damit dieser Körper den anderen Körpern voraneile oder hinter ihnen zurückbleibe und dadurch die Erscheinung einer äusseren Bewegung zeige, die somit vollständig durch den inneren Bewegungszustand des Körpers bestimmt wird. Ruhe und Bewegung sind somit nur relative Zustände, welche zu- nächst von der Wahl des Koordinatensystems und von der Form der inneren Bewegungen in den Körpern abhängen. Welcher Art auch diese inneren Bewegungen sein mögen, so begründen sie doch stets einen stationären Zustand, der ohne eine Einwirkung von aussen nicht abge- ändert werden kann. Auf der Unveränderlichkeit ihres inneren Beweg- ungszustandes beruht daher auch das sogenannte Beharrungsver- mögen der Körper. Ein Körper, der in Ruhe ist, bleibt in bezug auf das gewählte Koordinatensystem in Ruhe und ein Körper, der in Be- wegung ist, setzt seine Bewegung weiter fort und kann seine Richtung und Geschwindigkeit nicht verändern, wenn nicht eine äussere Einwirkung seinen inneren Bewegungszustand modifizirt. Dasselbe gilt auch für die freibeweglichen ponderablen Körper. Ein fallender Körper müsste, wenn er in einem bestimmten Momente von der Wirkung der Schwere befreit wäre, durch sein Beharrungsvermögen die einmal angenommene Bewegung nach dem Mittelpunkte der Erde mit gleichförmiger Geschwindigkeit weiter fortsetzen. Wir haben deshalb bei dem Fallen der Körper nicht die Bewegung selbst, sondern nur die ihnen durch die Schwere erteilte Be- schleunigung zu erklären. Um aber die Beschleunigung eines Körpers, sowie überhaupt die Entstehung einer neuen äusseren Bewegung zu erklären, ist es nur er- forderlich, die entsprechenden Veränderungen in dem inneren Bewegungs- zustande des Körpers, sowie die äusseren Einwirkungen, durch welche diese Veränderungen hervorgebracht werden, zu erkennen. In vielen Fällen sind uns diese Einwirkungen bekannt, z. B. beim Zusammenstossen zweier Körper. Die Mitteilung der Bewegung geschieht in diesem Falle bei un- mittelbarer Berührung durch Übertragung von Energie von dem stossenden auf den gestossenen Körper. Die von dem stossenden Körper abgegebene Energie oder lebendige Kraft wird zunächst dazu verwendet, die Total- energie des gestossenen Körpers zu steigern, d. h. es wird die Geschwindig- keit, mit welcher seine Punkte ihre schraubenförmigen Bahnen im Raume durchlaufen, vergrössert. Eine grössere Geschwindigkeit der Punkte bringt aber unvermeidlicherweise eine Veränderung in der Form ihrer Bahnen hervor, schon deshalb, weil sie bei einer sich gleichbleibenden Rotations- der potentiellen Energie. II. 347 dauer der Punkte eine grössere Wegstrecke, d. h. eine grössere Länge der entsprechenden Schraubenlinie erfordert. Je nachdem, welcher Art die dadurch bewirkten Formveränderungen im Inneren der Körper sind, be- obachten wir an diesen verschiedene Erscheinungen und Eigensthaften. Bleiben bei der Übertragung der Energie durch den Stoss die Ge- schwindigkeit der Rotationen in dem gestossenen Körper und der Durch- messer der entsprechenden Schraubenlinien ungeändert, so kann die Ver- längerung der Bahnen, welche die Punkte des Körpers während der Dauer eines Umschwungs durchlaufen, nur durch eine Zunahme in der Höhe der Schraubengänge in einer durch den Stoss bestimmten Richtung erreicht werden. Mit der zunehmenden Höhe der Schraubengänge ist aber notwendigerweise, weil sie die Verschiebung des Körpers im Raume während der Dauer einer inneren Rotation darstellt, zugleich eine Zu- nahme seiner äusseren Geschwindigkeit in derselben Richtung verbunden. Da in diesem Falle die übertragene Energie nur auf die Steigerung der translatorischen Bewegung der Punkte verbraucht wird, so findet sich auch die von dem stossenden Körper abgegebene lebendige Kraft voll- ständig als lebendige Kraft in dem gestossenen Körper wieder. Einen solchen Körper bezeichnen wir dann als vollkommen elastisch. Wird dagegen die auf den gestossenen Körper übertragene Energie teilweise dazu verwendet, die Geschwindigkeit seiner inneren Rotationen zu erhöhen, wodurch auch der Durchmesser der entsprechenden Schrauben- linie vergrössert wird, so kann nur der Rest dieser Energie als trans- latorische Bewegung zum Vorschein kommen. Es verschwindet dann ein Teil der von dem stossenden Körper abgegebenen lebendigen Kraft aus der äusseren Bewegung, findet sich aber durch die erhöhte Geschwindigkeit der inneren Rotationen als Wärme in dem gestossenen Körper wieder. Einen solchen Körper bezeichnen wir dann als unelastisch oder als unvollkommen elastisch. Bei einem feststehenden, relativ unbeweglichen Körper wird endlich die durch einen Stoss auf ihn übertragene Energie, weil seine äussere Bewegung im Raume nicht verändert werden kann, ausschliesslich dazu verwendet, die Geschwindigkeit seiner inneren Rotationen zu erhöhen, d. h. sie wird vollständig in Wärme umgewandelt. Aus der obigen Darstellung geht deutlich hervor, dass die Erschein- ungen, welche wir an den Körpern beobachten, durch die Art der Ver- änderungen ihrer inneren Bahnen bedingt werden. Je nachdem, ob der Durchmesser oder ob die Ganghöhe der Schraubenlinien, auf welchen die Punkte eines Körpers sich im Raume bewegen, durch den erlittenen Stoss vergrössert werden, erscheint die von dem stossenden Körper auf den gestossenen übertragene Energie entweder als Wärme oder als lebendige Kraft. Die Zunahme der Ganghöhe der schraubenförmigen Bahnen ist dabei die Formveränderung, welche sich als Zuwachs der Geschwindigkeit oder als Beschleunigung äussert. Will man daher die Beschleunigung der fallenden Körper erklären, so sind vor allem die Formveränderungen zu ermitteln, welche ihre inneren Bewegungen unter dem Einflusse der Schwere erleiden. Die Wirkung der Schwere unterscheidet sich aber von derjenigen 348 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden des Stosses dadurch, dass die Körper durch sie in Bewegung versetzt werden, ohne dass eine der lebendigen Kraft der fallenden Körper äqui- valente Übertragung von Energie von aussen nachweisbar wäre. Auch haben wir uns bereits davon überzeugt, dass die lebendige Kraft der fallenden Körper nicht von aussen herstammen könne, weil ihre Zu- nahme dann eine der Zeit proportionale sein müsste, während sie in Wirklichkeit dem Quadrate der Zeit proportional ist, und dass die Kör- per sie daher nur aus sich selbst, aus ihrer eigenen inneren Energie schöpfen können; es frägt sich nur noch, auf welche Weise solches möglich ist? Aus der Darstellung des inneren Vorgangs bei dem Stosse der Körper erkennen wir, dass die äussere Bewegung nicht immer eine unmittelbare Wirkung der von aussen übertragenen Energie ist, sondern dass sie erst infolge der Formveränderungen entsteht, welche die Bahnen der Punkte im gestossenen Körper erleiden. Können doch alle gegen einen relativ unbeweglichen Körper ausgeübten Stösse diesen nicht in Bewegung ver- setzen, sondern ihre Energie wird in Wärme umgewandelt. Man denke sich nun, es sei uns ein Mittel gegeben, ohne Übertragung von Energie, d. h. ohne Steigerung der Geschwindigkeit mit welcher die Punkte des Körpers sich im Raume bewegen, eine Veränderung in der Form ihrer schraubenförmigen Bahnen, z. B. eine Zunahme des Steigungswinkels in einer bestimmten Richtung hervorzubringen, so überzeugt man sich leicht, dass eine derartige Veränderung auch sofort eine Veränderung in dem äusseren Bewegungszustande des Körpers nach sich ziehen muss. In der That wird durch die Zunahme des Steigungswinkels einer Schrauben- linie auch zugleich ihre Ganghöhe vergrössert und, weil diese den Weg darstellt, den ein Körper im Raume während der Dauer eines Umschwungs seiner Punkte zurücklegt, auch seine äussere Geschwindigkeit gesteigert. Die blosse Formveränderung der inneren Bahnen eines Körpers genügt also vollkommen, um denselben in Bewegung zu versetzen. Damit ist jedoch die Erscheinung noch nicht vollständig erklärt, sondern es muss ausserdem noch, wenn keine Übertragung von Energie von aussen statt- findet, der Ursprung der dabei zum Vorschein kommenden lebendigen Kraft nachgewiesen werden. Wenn ein Körper ohne Übertragung von Energie von aussen in Bewegung versetzt wird, so bleiben seine Totalenergie und somit auch die Geschwindigkeit, mit welcher seine Punkte sich im: Raume bewegen, ungeändert. Bei einer sich gleich bleibenden Geschwindigkeit und Um- laufsdauer eines Punktes muss aber die Länge der Schraubenlinie, auf welcher er sich bewegt, ebenfalls unverändert bleiben. Wird dagegen die Ganghöhe der Schraubenlinie vergrössert, so kann solches bei einer unveränderlichen Länge derselben nur dann stattfinden, wenn ihr Durch- messer sich zugleich verkleinert. In derselben Weise aber, wie die zu- nehmende Ganghöhe die Beschleunigung der translatorischen Bewegung eines Punktes bedingt, so kann auch die Abnahme ihres Durchmessers nur die Folge einer verminderten Rotationsgeschwindigkeit des Punktes sein. Wir erkennen daraus, dass die Formveränderungen der Bahnen im Inneren der Körper stets mit Umformungen ihrer inneren rotierenden der potentiellen Energie. II. 349 Bewegungen in translatorische Bewegungen oder auch umgekehrt ver- bunden sein müssen. Wenn aber die rotierende Geschwindigkeit der Punkte in einem Körper abnimmt, ihre translatorische Geschwindigkeit dagegen zunimmt, so ist die notwendige Folge davon, dass zugleich eine äquivalente Umwandlung der inneren Rotationsenergie des Körpers in translatorische Energie oder in lebendige Kraft eintritt, wodurch der Ur- sprung der letzteren ohne weiteres nachgewiesen ist und wir ein an- schauliches Bild erhalten, auf welche Weise ein Körper, wenn er ohne Übertragung von Energie von aussen in Bewegung versetzt wird, seine lebendige Kraft aus sich selbst, aus seiner eigenen inneren Energie schöpfen kann. Das ist aber genau die Aufgabe, welche die Schwere bei dem Fallen der Körper zu erfüllen hat, nämlich dieselben ohne Übertragung von Energie von aussen in eine nach dem Mittelpunkte der Erde gerichtete, beschleu- nigte Bewegung zu versetzen, wozu nur eine entsprechende Veränderung der Form der inneren Bewegungen der Körper erforderlich ist. Da aber solche Veränderungen nicht von selbst entstehen können, so haben wir vor allem uns nach einem Agens umzusehen, das geeignet wäre, sie her- vorzubringen. Ein solches, den Bedingungen der Schwere vollkommen entsprechendes Agens haben wir bereits in den Gravitationswellen er- kannt. Wir fanden, dass die blosse Anwesenheit eines fremdartigen Kör- pers innerhalb eines gleichförmigen, in stehender Schwingung begriffenen Mediums dazu genügt, um in diesem eine allseitige, nach dem Mittel- punkte des Körpers konzentrisch gerichtete Bewegung von fortschreiten- den Wellen anzuregen. In derselben Lage befindet sich auch die Erde; von dem Weltäther umflossen, wird sie von den nach allen Seiten sich fortpflanzenden Ätherwellen getroffen; indem sie dieselben absorbiert und in innere Bewegungen umwandelt, beraubt sie dadurch bis in weite Fernen andere Ätherwellen ihrer zur Bildung der stehenden Schwingungen un- entbehrlichen Komponenten und zwingt dadurch die entgegengesetzten Komponenten, als fortschreitende Wellen weiter zu bestehen und sich nach dem Orte ihrer Absorption fortzupflanzen. Die Erde wird dadurch zu einem Mittelpunkte, gleichsam zu einem Brennpunkte, von konzentrisch fortschreitenden , beständig aufeinanderfolgenden Ätherwellen, die wir, bei der Aussicht, in ihnen die veranlassende Ursache der Schwere zu ent- decken, bereits a Gravitationswellen bezeichnet haben. Die Gesamtwirkung der Erde auf den Weltäther setzt sich aber zusammen aus den Wirkungen der einzelnen, in ihr enthaltenen Körper. Jeder Körper, ja sogar jeder kleinste Teil eines Körpers übt seine ab- sorbierende Wirkung genau in derselben Weise auf die ihn treffenden Ätherwellen aus und veranlasst dadurch andere Ätherwellen, als fort- schreitende Wellen weiter zu bestehen und sich nach dem Mittelpunkte ihrer Absorption fortzupflanzen. Aus der Vereinigung dieser elementaren Ätherwellen gehen denn die resultierenden, nach dem Mittelpunkte der Erde gerichteten Gravitationswellen hervor, welche ihrerseits bei ihrer konzentrischen Fortpflanzung auf die einzelnen Körper treffen und jedem von ihnen den seiner Absorptionsfähigkeit für fortschreitende Wellen ent- sprechenden Teil an Bewegungen abgeben. Durch diese von den Gravi- 350 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden tationswellen den Körpern abgegebenen Bewegungen werden auf der Ober- fläche der Erde die Erscheinungen der Schwere hervorgebracht. Die nicht absorbierten Gravitationswellen gehen einfach durch die Körper hindurch; von den tiefer liegenden Körpern in dem Weltäther angeregt, sind sie auch dazu bestimmt, erst auf sie ihre schwermachende Wirkung aus- zuüben. Um uns jedoch von dem inneren Vorgange bei dem Fallen der Körper eine möglichst einfache und übersichtliche Vorstellung zu bilden, wollen wir zunächst die translatorische Bewegung, welche ein Körper zugleich mit der Erde im Raume besitzt, uns in der Weise in Komponenten zer- legt denken, dass die eine dieser Komponenten beständig durch den Mittel- punkt der Erde hindurchgehe. Denken wir uns ferner diese Komponente mit den transversal zu ihrer Richtung in dem Körper vor sich gehenden Rotationen zu einer neuen Resultierenden vereinigt, so finden wir, dass unter den vielen im Innern eines Körpers sich durchkreuzenden Beweg- ungen auch eine schraubenförmige nach dem Mittelpunkte der Erde ge- richtete Bewegung vorausgesetzt werden darf. In derselben Weise und mit gleichem Rechte können wir ähnliche Bewegungen in allen Teilen der Erde annehmen. Liegt nun ein Körper auf einer festen Unterlage, so wird er durch die soeben geschilderten Bewegungen mit der Erde zu- sammen in gleicher Richtung verschoben und befindet sich daher in be- zug auf die letztere in Ruhe. Werden dagegen in einem freibeweg- lichen Körper die nach dem Mittelpunkte der Erde gerichteten schrauben- förmigen Bewegungen in irgend einer Weise abgeändert, während die gleichen Bewegungen in der Erde selbst ungeändert bleiben, so ist die relative Unbeweglichkeit beider nicht mehr möglich und muss uns daher der Körper als in Bewegung versetzt erscheinen. Dazu dienen die Gra- vitationswellen; sie bringen in den freibeweglichen Körpern Veränderungen hervor, welche in den auf der Oberfläche der Erde liegenden Körpern nicht zu stande kommen. Indem die Gravitationswellen den frei beweg- lichen Körpern neue Bewegungen zuführen und diese sich nach dem be- kannten Gesetze des Parallelogramms der Geschwindigkeiten mit den be- reits vorhandenen Bewegungen zu resultierenden Bewegungen vereinigen, werden notwendigerweise gewisse Richtungsänderungen der inneren Bahnen in den Körpern hervorgebracht. Lassen sich nun diese Rich- tungsänderungen in einem freibeweglichen Körper als eine Zunahme des Steigungswinkels seiner inneren, nach dem Mittelpunkte der Erde ge- richteten, schraubenförmigen Bewegungen darstellen, so erkennt man leicht, dass die unmittelbare Folge davon eine relative Bewegung des Körpers in bezug auf die Erde sein muss. Durch die Zunahme des Steigungswinkels wird nämlich bei den schraubenförmigen Bewegungen auch ihre Ganghöhe vergrössert und, weil diese die Verschiebung dar- stellt, welche der Körper während der Zeit eines inneren Umschwungs im Raume erleidet, zugleich seine Bewegung in derselben Richtung be- schleunigt. Widerholt sich dieser Vorgang beständig von neuem, so er- hält auch der Körper mit jeder Gravitationswelle, die ihn durchströmt, in gleichen Zeitabschnitten einen gleichen Zuwachs an Geschwindigkeit und wird dadurch in eine gleichförmig beschleunigte, nach dem Mittel- der potentiellen Energie. II. 351 punkte der Erde gerichtete Bewegung versetzt, d. h. in eine Bewegung, die wir als das Fallen der Körper bezeichnen. Die Beschleunigung der fallenden Körper ist somit eine unmittel- bare Folge der Formveränderungen, welche die inneren Bewegungen unter dem Einflusse der Gravitationswellen erleiden und zwar, ohne dass eine besondere Übertragung von Energie von aussen dabei erforderlich wäre. Damit soll jedoch nicht gesagt sein, dass die Gravitationswellen, indem sie die Körper durchströmen und ihnen einen Teil ihrer Beweg- ungen abgeben, nicht auch dabei einen entsprechenden Teil ihrer Ener- gie einbüssen. Jede Wirkung, sie mag noch so geringfügig sein, setzt immer eine Arbeitsleistung voraus; daher müssen auch die Gravitations- wellen bei den Veränderungen, welche sie im Inneren der Körper her- vorbringen, einen äquivalenten Teil ihrer Energie auf die dabei geleistete Arbeit verwenden. Wir behaupten aber, dass die lebendige Kraft der fallenden Körper nicht das Äquivalent der von den Gravitationswellen abgegebenen Energie sein kann und zwar — wie schon häufig bemerkt — aus dem Grunde, weil die Gravitationswellen bei ihrem gleichmässi- gen Zuströmen in gleichen Zeitabschnitten nur gleiche Mengen von Energie den Körpern zuführen können, während die lebendige Kraft der fallenden Körper dem Quadrate der Zeit proportional wächst. Die fallen- den Körper müssen daher ihre lebendige Kraft aus einer anderen Quelle und zwar, weil sie ihnen nicht in genügender Menge von aussen zuge- führt wird, aus sich selbst, aus ihrer eigenen inneren Energie schöpfen. Die aus den Gravitationswellen absorbierte Energie wird dagegen von den Körpern in anderer Weise verwendet, wie wir uns bereits im vori- gen Abschnitte überzeugt haben, in Wärme umgewandelt, welche jedoch an der Oberfläche der Erde sich in der allgemeinen Temperatur der Um- gebung verliert und daher an den einzelnen denselben Einwirkungen unterworfenen Körpern nicht beobachtet werden kann, bei der Gesamtheit aller irdischen Körper sich aber als innere Erdwärme äussert. Die von den Körpern aus den Gravitationswellen absorbierte Energie kommt somit bei den Erscheinungen der Schwere zunächst nicht in Betracht; sie bringt nur gewisse Formveränderungen bei den inneren Bewegungen der Körper hervor. Da jedoch diese Veränderungen nur Richtungsänderungen sind, bei welchen kein bedeutender Verbrauch von Energie erforderlich ist, so genügt, um sie zu bewirken, auch die geringste Arbeitsleistung. Die von den Gravitationswellen auf die Körper übertragene Energie braucht daher als eine die Erscheinungen der Schwere bloss veranlassende Ursache im Verhältnis zu den hervorgebrachten Wirkungen nicht grösser zu sein als etwa die Arbeit, welche wir zu leisten haben, wenn wir einen Körper auf einer horizontalen Ebene verschieben und dabei von der Reibung abstrahieren, oder als die Arbeit, welche das labile Gleich- gewicht eines Körpers stört, oder als die Energie des elektrischen Funkens, der die Explosion des Knallgases hervorbringt. Die kinetische Natur- lehre ist daher auch nicht in der Verlegenheit, über den Weltäther und die Gravitationswellen übertriebene Voraussetzungen zu machen, und be- findet sich infolge dessen in voller Übereinstimmung mit der schein- baren Leere und der Widerstandslosigkeit des Weltraumes. 359 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden Wenn somit die Energie der Gravitationswellen zu gering ist, um das Äquivalent der lebendigen Kraft bei dem Fallen der Körper zu liefern, so genügt sie doch, um diejenigen Formveränderungen der inneren Bewegungen hervorzubringen, durch welche die Körper in eine beschleunigte, nach dem Mittelpunkte der Erde gerichtete Bewegung versetzt werden. Durch diese Formveränderungen werden zugleich die Interferenzen der inneren Be- wegungen in den fallenden Körpern gestört und ein Teil ihrer potentiellen Energie in Freiheit gesetzt. Die Formveränderungen der inneren Beweg- ungen sind ausserdem noch stets — wie wir solches bereits nachgewiesen haben — mit einer Überführung der rotierenden Bewegungen in eine translatorische Bewegung oder mit einer äquivalenten Umwandlung der inneren Energie in äussere lebendige Kraft verbunden. Erfolgt diese Umwandlung ausschliesslich auf kosten der aus ihren Interferenzen heraustretenden inneren Bewegungen, d.h. auf kosten der potentiellen Energie, so erklärt es sich, auf welche Weise es möglich ist, dass die Körper von einer bedeutenden Höhe herabfallen können, ohne dass wir im stande wären, an ihnen selbst irgend eine Veränderung wahrzuneh- men. Die Gravitationswellen beschränken sich somit darauf, nur den Anstoss zu den Veränderungen zu geben, durch welche die fallenden Körper in Bewegung versetzt werden, weshalb auch an einem bestimmten Orte der Erde bei stets gleichen Gravitationswellen die Beschleunigung durch die Schwere konstant und für alle Körper gleich ist und die Ge- schwindigkeit der Zeit proportional wächst. Die fallenden Körper erhalten dagegen durch Störung der inneren Interferenzen ihre lebendige Kraft aus sich selbst, aus ihrer eigenen potentiellen Energie. Die lebendige Kraft ist aber stets dem Quadrate der Geschwindigkeit und folglich bei einer konstanten Beschleunigung dem Quadrate der seit Beginn der Be- wegung verflossenen Zeit proportional. In demselben Masse wie die lebendige Kraft eines fallenden Körpers zunimmt, vermindert sich seine potentielle Energie; diese ist daher der von uns gesuchte Arbeitsvorrat, der an Energie ebensoviel verliert, wie die fallenden Körper an leben- diger Kraft gewinnen. Die kinetische Naturlehre erklärt somit nicht allein die Beschleunigung der fallenden Körper, sondern sie vermag auch den Ursprung ihrer lebendigen Kraft nachzuweisen. In derselben Weise erklärt sich auch der Druck, den die Körper auf ihre Unterlage ausüben, sowie die Arbeit, welche sie bei ihrem Herabsinken leisten können. Wenn ein Körper auf einer festen Unterlage ruht, so kann er zwar nicht in eine fallende Bewegung geraten, unterliegt aber nichtsdesto- weniger, wie alle übrigen Körper, der Einwirkung der Gravitationswellen. Die Veränderungen, welche seine inneren Bewegungen erleiden, können sich aber nicht als Beschleunigung, noch kann seine frei werdende po- tentielle Energie sich als lebendige Kraft äussern; sie wird nur auf die Unterlage übertragen und auf diese Weise zwischen den Körpern eine intermediäre Arbeit verrichtet, welche wir als Druck bezeichnen. Indem der belastete Körper dabei etwas zusammengedrückt wird, gelangt auch in ihm durch die eintretenden Veränderungen ein Teil der potentiellen Energie zur Wirksamkeit und wird ebenfalls zu einer intermediären, aber ent- gegengesetzten, von unten nach oben gerichteten Arbeit verwendet, welche der potentiellen Energie. II. 3083 als Widerstand erscheint und dem ausgeübten Drucke entgegenwirkt. Durch die Arbeit dieses Widerstandes werden die in den Körpern durch Gravitationswellen veranlassten Veränderungen immer wieder rückgängig gemacht, die vergrösserte Ganghöhe der nach dem Mittelpunkte der Erde gerichteten schraubenförmigen Bewegungen wird verkürzt, die gestörten Interferenzen werden wieder hergestellt und die übertragene Energie zu- rückerstattet. Auf diese Weise bleibt ein Körper auf seiner Unterlage scheinbar unthätig liegen, während doch zwischen beiden ein beständiger Austausch von Bewegungen stattfindet. Die in dem belasteten Körper in Freiheit gesetzte- potentielle Energie wirkt aber nicht allein dem Drucke entgegen, sondern in den Flüssigkeiten nach allen Seiten, in den festen Körpern dagegen in der Richtung nach dem Mittelpunkte der Erde, und überträgt auf diese Weise den erhaltenen Druck auf die tiefer liegenden Körper. Kann ein Körper nicht frei herabfallen, sondern nur arbeitleistend langsam niedersinken, so befindet er sich in einem Zustande zwischen der freien Bewegung und der Ruhe. Durch den Widerstand seiner Unter- lage werden jedoch in diesem Falle die durch die Gravitationswellen bewirkten Veränderungen nur teilweise wieder rückgängig gemacht, die Interferenzen nicht vollständig wieder hergestellt und die übertragenen Bewegungen nur zum Teil wieder zurückerstattet. Auf diese Weise ge- langt ein Teil der in Freiheit gesetzten potentiellen Energie zu einer äusseren Wirksamkeit, wird dabei auf einen anderen Körper übertragen und je nach den getroffenen mechanischen Vorrichtungen unter einem gleichzeitigen Sinken des Körpers zu einer bestimmten Arbeit verbraucht, die genau äquivalent ist der lebendigen Kraft, welche der Körper bei ‚einem freien Herabfallen von derselben Höhe erreicht hätte, und daher auch äquivalent seinem Verluste an potentieller Energie. Soll ein Körper in die Höhe gehoben werden, so muss zu dem Widerstande seiner Unterlage noch eine weitere von unten nach oben wirkende Arbeit hinzukommen, welche eine bestimmte Menge von Energie auf ihn überträgt und ihm neue Bewegungen zuführt. Indem diese Be- wegungen mit den in dem Körper während seines Emporsteigens unter dem Einflusse der Gravitationswellen aus ihren Interferenzen beständig heraustretenden Bewegungen sofort wieder interferieren, wird die bei dem Herabsinken des Körpers verbrauchte potentielle Energie wieder hergestellt, auf diese Weise ein latenter Arbeitsvorrat angesammelt, der genau äqui- valent ist der Arbeit, welche beim Heben des Körpers geleistet wird, und dieser selbst in denselben Zustand zurückversetzt, in dem er sich schon früher auf der Höhe befand. Soll ein Körper dagegen durch einen einmaligen Stoss in die Höhe hinaufgeworfen werden, so muss man ihm von unten nach oben eine ebenso grosse Geschwindigkeit mitteilen, wie er sie bei seinem Herab- fallen erreicht, oder eine Energie auf ihn übertragen, die äquivalent ist der Arbeit, durch welche er wieder auf dieselbe Höhe gehoben werden kann. Durch den Stoss wird zunächst in dem Körper die Ganghöhe der nach dem Mittelpunkte der Erde gerichteten schraubenförmigen Beweg- ungen seiner Punkte in dem Masse verkürzt, dass er dadurch gezwungen Kosmos 1884, I. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XIV). 23 354 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden etc. II. ist, bei seiner Bewegung im Raume hinter der Erde zurückzubleiben, und uns die Erscheinung einer aufwärts gerichteten Bewegung zeigt. Diese emporsteigende Bewegung kann jedoch von dem Körper nicht mit gleicher Geschwindigkeit fortgesetzt werden; durch den fortwährenden Einfluss der ihn erreichenden Gravitationswellen wird die verkürzte Gang- höhe der nach dem Mittelpunkte der Erde gerichteten schraubenförmigen Bewegungen seiner Punkte wieder vergrössert, seine äussere relative Be- wegung dadurch gleichförmig verzögert und zuletzt vollständig aufgehoben, so dass der Körper, auf einer bestimmten Höhe angelangt, momentan sich in Ruhe befindet und von da an wieder zu fallen beginnt. Während des Emporsteigens des Körpers tritt eine Umformung seiner translatori- schen Bewegung nach oben in innere Rotationen ein; indem diese Ro- tationen mit den in dem Körper bereits vorhandenen Bewegungen inter- ferieren, wird ein latenter Arbeitsvorrat als potentielle Energie angesammelt und der Körper überhaupt in den Zustand zurückversetzt, in dem er sich bereits vor seinem Herabfallen befand. Wir erkennen somit, dass sämtliche Erscheinungen der Schwere sich als Übertragungen der Energie oder als Umwandlungen derselben aus einer Form in eine andere darstellen lassen. Deshalb sind auch: die lebendige Kraft eines fallenden Körpers, die Arbeit, welche er bei seinem Herabsinken leisten kann, die Arbeit, welche ihn wieder in die Höhe hebt, und die Energie, welche ihm mitzuteilen ist, um ihn durch einen einmaligen Stoss emporzuwerfen, unter einander und ausserdem noch der potentiellen Energie äquivalent, die in derselben Zeit im Körper durch die Gravitationswellen in Freiheit gesetzt wird. Die Schwere ist daher eine von den Körpern untrennbare Eigen- schaft, die auf dem Wirksamwerden der potentiellen Energie beruht. (Fortsetzung folgt.) Darwinistische Streitfragen. Von Moritz Wagner. IN. Zweckmässigkeit und Fortschritt der organischen Gebilde. Ein von mir sehr verehrter kenntnisreicher Forscher, der meine verschiedenen Beiträge zur Migrationstheorie mit Aufmerksamkeit gelesen, teilte mir brieflich sein Hauptbedenken gegen dieselbe mit. Diese Lehre, bemerkt er, erkläre nicht die Zweckmässigkeit der Organismen. Selbst wenn man die in meinem letzten Essay dargelegten Hauptthesen unverändert annehmen wollte, würde man doch »vor dem grössten Rätsel der Natur, der Zweckmässigkeit aller organischen Gebilde, der wunderbaren Anpassung all’ ihrer einzelnen Teile an die gegebenen Lebens- bedingungen noch ebenso ratlos stehen, wie vorher«. Darüber, meinte der verehrte Forscher, gebe die Buchsche Hypothese gar keinen Aufschluss und es sei begreiflich, dass dieselbe gleich anderen Hypothesen vergessen worden, während Darwın doch etwas sehr »Plausibles« darüber zu sagen gewusst habe, was wenigstens sehr vieles erkläre. Für diese offene Bemerkung eines gemässigten Anhängers der Dar- winschen Selektionstheorie bin ich demselben aufrichtig dankbar. Auch Herrn OskAR ScHaipt, dessen Haupteinwand gegen die Lehre der Art- bildung durch räumliche Sonderung gleichfalls in dem Vorwurfe besteht: »dass dieselbe den unleugbaren Fortschritt in der Organisation der Lebe- wesen unerklärt lasse«, danke ich für seine verschiedenen Einwürfe, die ich bei einer andern Gelegenheit einer eingehenden Prüfung und Dis- kussion unterziehen will*. * Die Erkenntnis der Wahrheit kann durch jede sachlich geführte Polemik immer nur gewinnen. Der geehrte Leser, der sich nicht abschrecken lässt, diese wissenschaftliche Kontroverse bis zum Schlusse mit Aufmerksamkeit zu verfolgen, kann sich, nachdem er alle Thatsachen und Gründe beiderseits gehört und geprüft hat, sein Urteil selbst bilden. Gerne wollen wir hier unseren verehrten Gegnern das Zugeständnis machen, dass die Schwierigkeit eines völlig klaren Erkennens aller Phasen des Prozesses der Artbildung keineswegs allein in der Befangenheit des Forschers liegt, der sich in einer Streitfrage bereits seine bestimmte Meinung 356 Moritz Wagner, Darwinistische Streitfragen. III. Der Verfasser muss zugestehen, dass er das wichtige Thema der »>Zweckmässigkeit« in seinen früheren Aufsätzen nicht eingehend behan- delte, indem er eine ausführliche Erörterung dieser interessanten Frage auf den Schluss seiner Beiträge sich vorbehalten wollte. Dieser Darleg- ung sollte aber eine Mitteilung von besonders bedeutsamen zoogeogra- phischen Thatsachen vorausgehen, welche als Fortsetzung und Ergänzung der bereits 1375 in der Zeitschrift »Ausland« veröffentlichten chorolo- gischen Thatsachen die Migrationstheorie als gute induktive Wahrschein- lichkeitsbeweise stützen sollten. Um jedoch der begründeten Forderung gerecht zu werden, die volle Übereinstimmung der Migrationstheorie mit der grossen unbestreitbaren Thatsache der Zweckmässigkeit der organischen Gebilde und der fort- schrittlichen Richtung des bisherigen Entwickelungsganges nachzuweisen, will ich hier zunächst diese Frage in gedrängter Kürze behandeln und verspreche, die angekündigten chorologischen Mitteilungen im nächsten Aufsatze ausführlich folgen zu lassen. Der chemisch-physikalische Prozess, den wir Leben nennen, ist noch in Dunkel gehüllt*. Die chemische Analyse lehrt uns wohl die Stoffe kennen, aus welchen die zäh-flüssige, eiweissartige Substanz der gebildet hat und diese den widersprechenden Thatsachen gegenüber nicht aufgeben will, sondern zum guten Teil auch im der Sache selbst. Die inneren Vorgänge der individuellen Variation, welche die Grundursache jeder neuen Formbildung ist, entziehen sich der Beobachtung und die mitwirkenden äusseren Vorgänge, die mechanischen Ursachen, welche bei dem Entstehungsakt eines jeden geschlossenen Formenkreises, den wir Art nennen, eine so wichtige Rolle spielen, sind selbst bei dem aufrichtigen Streben nach strengster Objektivität in ihren Wirkungen oft einer sehr verschiedenen Deutung fähig. Es ist daher gewiss auch die Kompliziertheit des ganzen phylogenetischen Prozesses, welche die Schwierigkeit seines vollen Verständnisses vermehrt. Wir müssen aber, wenn wir uns mit dem vagen viel- deutigen Ausdruck „Auslese im Kampfe ums Dasein“, mit dem leider so viele eifrige Darwinisten in Ermangelung eines klaren Begriffes sich benebeln, nicht begnügen wollen, mindestens die relative Thätigkeitder verschiedenen mitwir- kenden mechanischen Hauptfaktoren so bestimmt wie möglich zu erkennen suchen. Vielleicht dürften die nachstehenden Bemerkungen und die chorologischen Thatsachen, welche die folgenden Aufsätze enthalten werden, doch ein klein wenig beitragen, gewisse nebelige Vorstellungen bezüglich der wirklichen äusseren Vorgänge bei der Bildung der Arten etwas zu klären. * Wie schwierig eine genügende Definition des Lebensprozesses ist, zeigt uns Herbert Spencer, einer der geistvollsten und kenntnisreichsten naturphilo- sophischen Denker der Gegenwart, welcher in seinen „Principien der Biologie“, I. Bd. (Stuttgart 1876) dieser Frage zwei lange Kapitel widmet. Nachdem er die verschiedenen Definitionen anderer Denker geprüft und verworfen, macht er das Geständnis: dass seine eigene früher (Westminster Review 1852) aufgestellte kurze Definition: „Leben ist die Koordination von Vorgängen“ und die später von ihm veränderte Fassung: „Leben ist die bestimmte Kombination ungleichartiger, sowohl gleichzeitiger als auch aufeinan- der folgender Veränderungen“ unvollständig und ungenügend seien. Zuletzt elaubt Herbert Spencer „die allgemeinste und vollkommenste Definition“ in der Formel gefunden zu haben: „Leben ist die fortwährende Anpassung innerer Relationen an äussere Relationen.“ Doch uns dünkt, dass auch diese dürftige Formel des be- rühmten britischen Naturphilosophen zu wenig sage und dass auch dieses Wenige unklar genug sei. Verständlicher und bestimmter dürfte folgende Definition sein: „Leben ist ein temporärer Zustand der Materie, welcher, die innere Selbstthätigkeit des Organismus erregend und erhaltend, diesen gegen die zersetzenden äusseren Einwirkungen schützt.“ Moritz Wagner, Darwinistische Streitfragen. II. 357 organischen Zelle besteht. Kohlenstoff, Stickstoff, Sauerstoff und Wasserstoff, zu denen meist auch noch Schwefel und Phosphor kommen, bilden jene komplizierten chemischen Verbindungen, welche wir »Protoplasma« nennen, Doch die künstliche Darstellung dieses Protoplasma ist der organischen Chemie bis heute nicht gelungen und die Lösung des grossen Problems bleibt daher einer vielleicht noch ziemlich fernen Zukunft vorbehalten. Die Physiologie hat uns indessen mit manchen sehr merkwürdigen Eigen- schaften dieses Protoplasma und der Zelle bekannt gemacht. Man weiss, dass jede belebte Zelle die Fähigkeit hat, Nahrung aufzunehmen und sich zu vermehren entweder durch Ansatz neuer Zellen oder bei den niedersten Organismen durch Teilung. Es ist der Prozess des Wachstums und als solcher wird auch die Fortpflanzung von den Physiologen auf- gefasst. Die Zellen sind bekanntlich auch befähigt, sich zu Fasern, Röhren, Häuten u. s. w. umzubilden und grössere Körperteile von eigen- tümlichem Bau, die wir Organe nennen, zusammenzusetzen. Als die wichtigste Eigentümlichkeit, durch welche belebte Körper von den leblosen sich unterscheiden, darf ihre von innen heraus wirksame Thätigkeit gelten, welche auch ohne unmittelbaren äusseren Anstoss stattfindet und die man als Spontaneität oder Selbsterregung bezeichnet. Lebendige Körper wachsen durch innere Vervielfältigung und Umwandlung der zelligen Ge- bilde gleichsam nach einem innewohnenden Typus, der als Vererbung schon in den Fortpflanzungszellen durch verschiedenartige Gruppierung der Atome seinen Ausdruck findet. In chemischer Beziehung hat man den Lebensprozess als eine fort- währende Umwandlung, Ausscheidung und Neubildung aufgefasst, mittels welcher die individuelle Form und Struktur sich zu erhalten und den zersetzenden äusseren Einwirkungen, besonders des atmosphärischen Sauer- stoffes, zu widerstehen vermag. Auch die Elektrizität spielt im Lebens- prozess eine unzweifelhaft bedeutsame, wenn auch noch nicht hinreichend erkannte Rolle, besonders in der Nerventhätigkeit der höheren Organis- men, bei welchen elektrische Ströme als Reize wirken und den Nerv in Thätigkeit versetzen. Die mikroskopische Beobachtung zeigte uns auch die winzigen Körnchen, die, mit elektrischen Gegensätzen behaftet, im Protoplasma der Zelle sich hin und her bewegen. Lässt man auf das Protoplasma Kräfte wirken: Elektrizität, Licht, Wärme, so wird das elek- trische Gleichgewichtsverhältnis zwischen diesen Molekülen gestört. Es erfolgt eine Lageveränderung derselben und damit eine Gestaltverände- rung des ganzen Protoplasmatropfens, welche nach dem Aufhören des Reizes, wenn: derselbe keine Zerstörung der Substanz bewirkt, einer zweiten Gestaltveränderung Platz macht. Man hat diese merkwürdige Erscheinung »die Kontraktilität« des Protoplasma genannt. Wir begnügen uns mit diesen kurzen Hindeutungen auf einige bedeut- same Erscheinungen des Lebensprozesses, da wir es hier nur mit der an uns gestellten Frage nach den wirksamen Ursachen der zweckmässigen und fortschrittlichen Gestaltung der Organismen zu thun haben, zu deren Er- klärung auch die Migrationstheorie einen nicht unerheblichen Beitrag liefert. Folgende diskutierbare Sätze stützen sich auf bekannte Thatsachen und tragen daher die Berechtigung ihrer Schlüsse in sich selber: 358 Moritz Wagner, Darwinistische Streitfragen. II. 1) Der Vermehrungstrieb der organischen Zelle und die bild- same Beschaffenheit des von einem Lebensstrom bewegten Protoplasma bedingen deren Befähigung zur Bildung plastischer Organe. In der plasti- schen Eigenschaft* belebter Organe ist die natürliche Anlage zu einer progressiven Gestaltung enthalten. 2) Jedes plastische Organ, das durch seine Lebensbedürf- nisse geleitet in zweckthätiger Richtung funktioniert, muss sich durch anhaltenden Gebrauch aus eigener Kraft auch möglichst zweckmässig gestalten. Durch fortgesetzte ziel- strebige Bewegung konstruiert sich ein Komplex verschiedener Organe (Organismus) in gegenseitiger Abhängigkeit (Korrelation), die den gegebenen Verhältnissen möglichst angepasste Form, deren allmählich ge- wonnener typischer Charakter sich in den Fortpflanzungszellen auf die Nachkommen vererbt. 3) Der erlangte Grad von zweckmässiger Gestaltung jedes einzelnen Organismus, d. h. die möglichste Anpassung an die ge- gebenen Verhältnisse ist teilweise von dessen individueller Anlage, hauptsächlich aber von der stärkeren oder schwächeren zweckthätigen funktionellen Übung seiner einzelnen Organe abhängig, welche durch die äusseren Lebensbedingungen mehr oder minder angeregt und bestimmt wird. ? 4) Jede Änderung in der Funktion der Organe muss, wenn sie längere Zeit dauert, auch entsprechende morphologische und physiologische Veränderungen des Organismus bei allen Arten herbeiführen, welche noch im Stadium der Variabilität stehen. 5) Migrationen und isolierte Kolonienbildungen geben durch den Wechsel der Lebensbedingungen, der jede Isolierung begleitet **, zu Änder- ungen im Gebrauch der Organe stets einen starken Impuls. 6) Jede räumliche Absonderung einzelner oder weniger Emigranten- paare an neuen Standorten muss, wenn sie längere Zeit dauert, neue Formen hervorbringen sowohl durch ungestörte Fortbildung persönlicher Eigenheiten (individueller morphologischer Merkmale und physiologischer Eigenschaften) der ersten Kolonisten in ihren Nachkommen bei bluts- verwandter Fortpflanzung als durch funktionelle Anpassung des Organis- mus an die veränderten Lebensbedingungen (Nahrung, Klima, Boden- beschaffenheit, Konkurrenz) der Kolonie. 7) In der unermesslichen Mehrzahl der Fälle ist die einfache funktionelle Anpassung isolierter Organismen an veränderte Nahrungs- verhältnisse für sich allein schon genügend, neue Arten auszuprägen ganz unabhängig vom »Kampf ums Dasein«, d. h. von der Konkurrenz mit anderen Organismen, auch wenn letztere als begleitende Erscheinung wirklich existiert und als ein untergeordneter auf den Transformations- * Plastizität wäre kürzer und richtiger mit der Definition, welche Bött- ger diesem Wort gibt: „Bildsamkeit durch eigene Kraft.“ ** Jede Isolierung einzelner Kolonisten in einem neuen Wohnbezirk ist von einer längeren Unterbrechung der Nahrungskonkurrenz mit den Artgenossen be- gleitet, auch wenn die übrigen Verhältnisse des veränderten Standortes von denen des Wohngebietes der Stammart nicht abweichen. Moritz Wagner, Darwinistische Streitfragen. III. 359 prozess nur wenig influierender Faktor in vielen einzelnen Fällen zu einer geringen Steigerung der Differenzierung beitragen kann. 8) Die Befestigung und Erhaltung jeder Neubildung hängt von einer genügenden Dauer der Kreuzungsverhinderung mit ihrer Stammform ab. Ungehinderte Massenkreuzung aller durch geschlechtliche Befruchtung sich fortpflanzenden Organismen und bei den niedersten geschlechtslosen For- men das massenhafte Beisammenwohnen im gleichen Areal lähmen die Wirksamkeit der Variabilität, indem sie beginnende Varietäten wieder zerstören. Freie Kreuzung bringt stets eine annähernde Gleichförmigkeit der Individuen eines geschlossenen Formenkreises hervor und gibt jedem Transmutationsprozess einer neuen Speziesform innerhalb eines begrenzten Wohngebietes den Abschluss. 9) Ein mässiger Fortschritt der Differenzierung muss in allen Fällen stattfinden, wo vorteilhaft ausgestattete individuelle Varietäten sich dauernd isolieren. Ein stärkerer Fortschritt der Or- ganismen wird nur in solchen Fällen zustandekommen, wo abnorm günstige individuelle Varietäten von Emigranten mit einem ihrer persön- lichen Anlage entsprechenden günstigen neuen Standort (Kolonie) zu- sammentreffen. Man darf annehmen, dass ein derartiges günstiges Zu- sammentreffen unter 100 Fällen von Differenzierung kaum einmal ein- tritt, denn die grosse Mehrzahl der Arten einer Gattung sind indifferente (gleichgültige) Formen, an welchen kein wirklicher organischer Fortschritt erkennbar ist. 10) Eine fortschrittlich differenzierte Art oder Gattung wird sich durchschnittlich in ihrer zeitlichen Existenz länger erhalten, als eine in- differente Form gleichen Alters. Doch hat die morphologische und phy- siologische Ursache ihrer längeren Erhaltung mit der mechanischen Ur- sache ihrer Bildung und Entstehung nichts zu thun. Auch vorteilhaft ausgestattete Arten und Gattungen verfallen dem Gesetze der Zeit, d. i. dem allmählichen Altern und Erlöschen. Dieselben werden aber von Speziesformen jüngern Ursprungs, auch wenn letztere oft morphologisch weniger günstig ausgestattet sind, überdauert, wie uns besonders viele erloschene Typen aus der Tertiärperiode beweisen. Zu einem deutlichen Verständnis der einfachen äusseren Vorgänge bei der Bildung fortschrittlicher Arten und konstanter Varietäten wollen wir uns hier nur auf einige wenige Beispiele aus dem Tierleben be- schränken. Wenn ein Paar Wölfe aus einem Steppenlande, wo eine stärkere Konkurrenz ihrer Artgenossen stattfindet, dieser Mitbewerbung sich ent- ziehend, in das anstossende Gebirge wandert, wo noch keine Wölfe sind und wo sie gleichwohl bei der Armut an Säugetieren ihre Beine stärker anstrengen müssen, um sich Nahrung zu verschaffen, so ist die Ent- stehungsursache einer neuen fortschrittlich organisierten langbeinigen Abart von Gebirgswölfen, wie sie uns SCHLEIDEN beschrieben, sehr ein- fach begreiflich. Die Variabilität war die Grundbedingung; der Emi- grationsakt gab den äusseren Anstoss; die starke Übung der Beine be- stimmte in Verbindung mit der individuellen Anlage der Einwanderer die Richtung der Variation. Die dauernde räumliche Absonderung und Kreu- 360 Moritz Wagner, Darwinistische Streitfragen. IL. zungsverhinderung mit der Stammart befestigten dieselbe. Eine Auslese durch den Konkurrenzkampf hatte hier gar nichts zu thun, sondern, im Gegenteil, die neue fortschrittliche Form begann ihre Bildung, indem ein- zelne Individuen der intensiven Konkurrenz mit ihren Artgenossen der Steppe sich durch Emigration entzogen und ihren neuen Wohnsitz ausser- halb des Areals der Stammart versetzten. Auf den Falklandsinseln kommt der Canis antarcticus vor, der sich auf diesem Archipel höchst wahrscheinlich aus isolierten Emigranten einer verwandten Canis-Art vom amerikanischen Festlande bildete. Die Einwanderung der letzteren konnte durch schwimmende Eisberge während der Eiszeit leicht vermittelt werden. Die Naturverhältnisse der Falklands- inseln, wo die starke Brandung mit der Bewegung von Ebbe und Flut zahllose Seetiere an das Ufer spült und sehr viele Seevögel nisten, boten dem eingewanderten Raubtiere eine günstige Heimat und so konnte sich daher bei vorteilhafter Veränderung der Nahrung, deren Erlangung jedoch bei der Grösse und der orographischen Beschaffenheit dieser Inseln eine verstärkte funktionelle Anspannung der verschiedenen Organe erheischte, eine grössere und stärkere Canis-Art entwickeln, als im gegenüberliegen- den Patagonien. Auf den kleineren Inseln an der Westküste von Unterkalifornien sehen wir den umgekehrten Fall. Der dort einheimische Fuchs ist kleiner und schwächer, als die ihm nächst verwandten Fuchsarten auf dem gegen- überliegenden Festlande. Er repräsentiert eine verkümmerte Form in- folge einer kargern Ernährung und geringern Bewegung auf diesem Ei- lande, welches viel kleiner ist als die Falklandsinseln und an Fischen, Schaltieren und Seevögeln nicht den gleichen Nahrungsreichtum bietet. In jedem der beiden Fälle war offenbar die Einwanderung und dauernde Absonderung die anstossgebende äussere Ursache der morphologischen Veränderungen dieser insularen Säugetiere. Noch bestimmtere Beispiele zeigen gewisse endemische Vogelgat- tungen der ozeanischen Inseln. Auf den Galapagos kommt eine Gruppe von Finken vor, welche dieser Inselgruppe eigentümlich sind und in der Struktur ihrer Schnäbel, in den kurzen Flügeln, in der Körpeıform und in der Farbe ihres Gefieders eine so nahe Verwandtschaft miteinander zeigen, dass der erfahrene Ornithologe GouLp keinen Anstand nimmt, sie sämtlich als aus einem Stammpaar durch Differenzierung hervorgegan- gen zu betrachten. Die Zahl dieser 13 verschiedenen, aber nächstver- wandten Vogelarten entspricht der gleichen Zahl der Inseln dieses Ar- chipels und es ist sehr wahrscheinlich, dass jede Art sich auf einer an- deren Insel durch Emigration und Übersiedelung eines Stammpaars ge- bildet hat. Wenn auch jetzt auf einigen der grösseren Inseln zuweilen mehrere Arten vorkommen, meist an getrennten Standorten, so besitzt doch in der Regel jedes einzelne Eiland seine besondere Art. Der morphologische Unterschied der einzelnen Spezies und Unter- gattungen dieser Finkengruppe (Geospiza), welche GouLp genau be- schreibt, besteht hauptsächlich in der sehr verschiedenen Grösse und Dicke des Schnabels, der bei 6 Arten zwischen der Schnabelform eines Kernbeissers und der eines Buchfinken, ja selbst eines Sylviaden schwankt. Moritz Wagner, Darwinistische Streitfragen. III. 361 @. magnirostris besitzt den grössten und stärksten Schnabel, welcher bei G. fortis auf der Nachbarinsel schon wesentlich reduziert ist, bei @. parvula die Form unseres Buchfinken trägt und bei der Gattung Certhidea, welche Gourn noch als stammverwandt mit dieser insularen Finkengattung be- trachtet, fast die Schnabelform eines Rotkehlchens zeigt. ‘ Die somatischen Veränderungen, welche diese endemischen Finken- arten durch ihre Ausbreitung und Absonderung auf den verschiedenen Inseln des Archipels erfahren haben, lassen sich mit voller Berechtigung als fortschrittliche bezeichnen, denn sie sind in der Regel den Nahr- "ungsverhältnissen jeder Insel vortrefflich angepasst. Je nachdem der ‚sehr variable Vogel vorzugsweise nur Quaivritobeeren oder härtere Körner und Samen anderer Pflanzen oder wie die beiden Arten der Untergattung Cactornis vorzugsweise die Blätter, Blüten und Früchte der Kaktusstauden verzehrt, hat sich besonders die Schnabelform dieser Vögel auf den ver- schiedenen Inseln verändert und je nach der grösseren und geringeren Arbeitsleistung dieses Organs hat sich dasselbe gestaltet. Den zwingen- den Anstoss zu dieser morphologischen Veränderung gab augenscheinlich die von einer einzigen Insel, dem ersten Bildungszentrum, ausgegangene Emigration. Jedes Emigrantenpaar, welches ein von den Artgenossen be- reits stark bevölkertes Eiland verlassend den trennenden Meeresarm über- flog und auf einer von Finken noch unbewohnten Nachbarinsel sich an- siedelte, wurde das Stammpaar einer neuen Form, welche, von der nivel- lierenden Wirkung der Massenkreuzung befreit, bei veränderter zweck- thätiger Übung der Organe in fortschrittlicher Richtung sich adaptierte. Wirkliche Raubtiere fehlen auf den Galapagos. Der einzige vorkommende Falke jagt nicht Vögel, sondern nährt sich ähnlich wie die amerika- nische aasfressende Gruppe der Polybori vorzugsweise von toten Schild- kröten. Von einer Auslese durch den Konkurrenzkampf kann hier keine Rede sein. Die fortschrittliche Transformation vollzog sich auch hier bei verminderter Konkurrenz der Artgenossen in ganz friedsamer Weise, so oft eine Einwanderung auf einer neuen Insel erfolgte. Das ist keine Selektion im »struggle for life!« Aus anderen formenreichen Tierklassen, besonders aus den ver- schiedenen Ordnungen der Insekten könnten wir eine ziemlich beträcht- liche Zahl von Arten und Gattungen anführen, deren Merkmale als ein morphologischer Fortschritt im Vergleiche mit den nächst verwandten Nachbarformen mit Fug und Recht gedeutet werden dürfen. Auch hier ist man aus zahlreichen chorologischen Thatsachen wohl berechtigt, die Migration und die sie begleitende Änderung in der zweckthätigen Funktion gewisser Organe bei veränderten Nahrungsverhältnissen des neuen Wohn- gebietes als die einfach wirkenden äusseren Ursachen dieser fortschrittlichen Differenzierung zu betrachten. Wenn wir z. B. in der artenreichen Käfer- familie der Melasomen neben der schwerfällig gebauten Gattung Pimelia eine andere schlanker gebaute und mit längeren Beinen ausgestattete Form, die Gattung Adesmia bemerken, so ist es uns aus dem chorologi- schen Vorkommen ihrer meisten Arten in nahrungsärmern Gegenden des afrikanischen Litorals und der Sandwüsten Westasiens wohl begreiflich, dass bei der Notwendigkeit einer stärkeren Bewegung zur Beschaffung 362 Moritz Wagner, Darwinistische Streitfragen. II. der Nahrung an ihren sandigen Standorten, also bei einer verstärkten Arbeitsleistung der Beine, eine derartige vorteilhafter ausgestattete Gat- tungsform sich bilden musste. Analoge Beispiele, welche, auf chorolo- gische Thatsachen gestützt, als induktive Wahrscheinlichkeitsbeweise gelten können, lassen sich auch bei anderen Tierklassen in nicht ge- ringer Zahl nachweisen. Allerdings können es der Natur der Sache nach eben immer nur Wahrscheinlichkeitsbeweise sein. Wir dürfen nie- mals vergessen, dass der grosse Prozess der Gestaltung und Umgestaltung der Organismen, bei welchem die Migrationen und isolierten Kolonien- bildungen eine so einflussreiche Rolle spielten, bereits eine unermessliche Vergangenheit hinter sich hat. Ein heller Einblick in die phylogeneti- schen Detailvorgänge einer Entwickelungsgeschichte von so ungeheurer Dauer bleibt uns versagt, da in jenen vergangenen Perioden der denkende Beobachter, der Kulturmensch, noch gar nicht existierte. Nur induktive Schlüsse sind daher möglich. Wer andere Beweise verlangt, der beweist damit nur sein eigenes mangelhaftes Verständnis der Frage. Es ist eine alte Erfahrung, dass man gerade auf die einfachsten und natürlichsten kausalen Deutungen der von uns noch nicht ergrün- deten oder nicht hinreichend verstandenen Geheimnisse unserer soge- nannten Schöpfung gewöhnlich am spätesten kommt und dass die minder einfache Interpretation, besonders wenn dieselbe eine kleine mystische Dosis als Beigabe enthält, in der Regel mehr Erfolg hat. Zuletzt bleibt freilich die nüchterne Wahrheit doch eine noch stärkere Macht. Eine andere Ursache der Schwierigkeit des Aufkommens reformierender An- sichten liegt in der Gewohnheit und Bequemlichkeit des Menschen, der seine herrschende Vorstellung nicht gerne aufgibt. Das ist auch häufig bei denjenigen Naturforschern der Fall, welche sich bereits eine bestimmte Meinung gebildet haben und diese nicht ändern wollen. Wird trotzdem eine neue These zuletzt als richtig und wahr erkannt, so wundern sich gewöhnlich viele, dass man dieselbe nicht schon längst als solche er- kannt und formuliert habe: »da sie ja auf ganz bekannten Thatsachen fussend eigentlich nichts Neues enthalte.« Gustav JÄGER bemerkt bezüglich der Deszendenztheorie einmal ganz richtig: »dass auch zu jener Zeit, wo die Abstammungslehre be- reits stark in der Luft lag, ihre stillen Anhänger wohl die Schlüssel zur Erklärnng in der Hand hielten, dass sie aber in den Hauptpunkten, auf die es ankam, das Schlüsselloch nicht fanden.« Vielleicht geht es mit der so oft wiederholten Frage nach der Ur- sache der zweckmässigen Formen aller Lebewesen und ihrer so einfachen Erklärung ebenso. Man könnte das Gesetz der Zweckmässigkeit und des Fortschrittes in grösster Kürze mit den Worten ausdrücken: »Die möglichst zweckmässige Gestaltung der Organismen ist eine notwendige Folge der zweckthätigen Übung ihrer einzelnen Organe. Der morphologische Fortschritt resultiert aus dem zufälligen Zusammentreffen günstiger individueller Variationen mit einem günstigen Wechsel der Lebensbeding- ungen in einem neuen Wohngebiet.« Moor und Torf.* Fin Beitrag zur Untersuchung über die Theorie der wechselnden kontinentalen und insularen Klimate. Von Clemens König in Dresden. ' Die Bedeutung der Moorfrage. Bryrr’s Plaidoyer. Disposition der Widerlegung. 1. Die eingehaltene Untersuchungsmethode erzwingt BryrT’s Resultaten eine Auf- nahme sub conditione. 2. Auf logischem Gebiete bleibt das Plaidoyer fehlerreich. Wohl niemals dürften die Torfmoore die allgemeine Aufmerksamkeit der Touristen auf sich lenken. Denn im Sommer, wenn der Wanderer Erholung und Genuss sucht, findet er hier — Kot, Strapaze, Langeweile. Dem weidenden Hornvieh müssen Bretter unter die Füsse gebunden wer- den, damit es nicht einsinke. Höchst selten sind die wenigen Orte, wo Menschen wohnen, zu Pferd und Wagen erreichbar. Zumeist gilt es, mit langen Springstöcken ausgerüstet, von Hügel zu Hügel, von Bulte zu Bulte zu springen und so kreuz und quer im wunderlichen Ziekzack dem vorgesteckten Ziele entgegenzueilen. Jeden Fehlsprung rächt sofort der hervorquellende schmutzige Pfuhl. Wenn die Dämonen der Nacht den Verspäteten irreleiten, dann kann für denselben der Ausgang so tragisch werden, wie ihn KasscH ” meisterhaft geschildert. Im Frühling und Herbst dagegen, wann Schnee und Regen unge- beten Ergiebiges leisten, wird das Moor weg- und pfadlos. Hingegen im Winter, wenn das trauliche Heim die Touristen festhält und die beissende Kälte das Erdreich erstarrt und aus stehendem Wasser aller- orten tragfähige Brücken konstruiert, ist das Moor leicht zu überschreiten; aber die einförmige, Leben weckende Pflanzenwelt, obgleich nur Heiden und Gräser, und in der Hauptsache nichts anderes als Gräser und Heiden aufweisend, liegt unter der toten Schneedecke vergraben. Und trotz alledem bleiben die weiten Torfmoore hochinteressante und bedeutungsvolle Glieder im Organismus unseres Planeten. Hochinteressant sind sie für den Geographen und Touristen. Wer * Dieser Aufsatz ist seit Anfang Januar 1884 in unseren Händen. Die Red. ‘ Auf Herm Biytt’s Bemerkungen im Kosmos 1884, I, S. 254 ff. werde ich zunächst im folgenden Hefte des Kosmos eine Berichtigung und später, wenn mir mehr Zeit und noch mehr Stoff zu Gebote steht, eine selbständige Schrift folgen lassen. Cl. König. ®2 Kabsch, Das Pflanzenleben der Erde. 1865. S. 212. 364 Clemens König, Moor und Torf. beispielsweise zwischen Hesepertwist und Ruetenbrock' das Moor von Bourtange und Twist kreuzt, wird hier, wo kein Baum, kein Strauch, keine Hütte, noch sonst ein Gegenstand von der Höhe eines Kindes auf der buckeligen Decke steht, das Schauspiel geniessen, seinen Blick, in welcher Richtung er auch über die unermessliche Einöde dahinfliege, von der reinen Kreislinie gefangen und eingeschlossen zu sehen, ein Schau- spiel, welches sich sonst nirgends auf dem festen Boden darbietet. Mächtig wird das empfängliche Gemüt durch den Zauber tiefen Friedens und heiliger weltvergessender Sehnsucht ergriffen. Unvergesslich bleibt ihm die gewordene Lektion: die Natur ist überall, selbst da, wo sie mit den geringsten Mitteln und in einförmigster Verkettung schafft, — gross, überwältigend, erhaben. Hochinteressant ist das Torfmoor ferner für den sammelnden Bo- taniker. Hier, wo das Ackerland nach sechs Ernten eine dreissigjährige Brache eıfordert ?, wo die Bevölkerung eine sehr bemerkbare Auflockerung erfährt, wo der rationelle Landbau von den kleinen Dörfern, den weit auseinander gelegenen Kulturzentren, nur in langsamen, kraftlosen Wellen über die weite Fläche hinzieht, hier müssen sich relativ grosse Zwischen- gebiete mit einer Vegetation vorfinden, auf deren Zusammensetzung der Mensch so gut wie keinen Einfluss ausgeübt hat. Diese Zwischen- gebiete zeigen uns die letzten Stücke der ursprünglichen Pflanzendecke, ohne damit zu sagen, dass dieselbe in allen ihren Teilen gerade der- artig zusammengesetzt gewesen. Die Formation des Moores ist ausser- dem zugleich zu einem Asyl geworden, wo verdrängte Geschlechter ihre letzten Tage verleben und von längst verschwundenen Zuständen und verklungenen Zeiten erzählen. Hierin wurzelt das überaus hohe Interesse, womit das Studium der Torfflora so reichlich lohnt. Das Moor ist aber mehr als interessant; es ist sogar in vieler Beziehung sehr bedeutungsvoll. Vorerst erscheint es als ein gross angelegter Speicher, welcher oft überreich mit rezenter Kohle bester Art angefüllt ist. Wollte man z. B. dem Bourtanger Moor auch nur eine mittlere Tiefe von 10 Fuss bei- messen, so wäre hier ein unausgebeuteter Schatz von 250 Kubikmeilen des vorzüglichsten Brennstoffes vorhanden und kommenden Geschlechtern eine fast unerschöpfliche Quelle des Wohlstandes sicher gewahrt. Sie zu erschliessen, bedarf es vieler Hände und reicher Mittel. Statt immer nur Expeditionen auszurüsten, welche respektable Summen nach Afrika tragen und keine Kolonien gründen, sollten wir daran denken, unser nord- westliches Deutschland mit noch mehr grossen Kanälen zu durchziehen. Dem ! Grisebach, Gesammelte Abhandl. S. 45. ® Finke, Der Moorrauch in Westfalen. 1825. S. 25. Guthe, Die Lande Braunschweig und Hannover. S. 60, 61. 8 Grisebach, l. e. S. 78. Guthe,l.c. S.59. „Eine 10 Fuss mächtige Schicht würde beim Zusammentrocknen auf etwa die Hälfte reduziert werden. Die so erhaltene Mächtigkeit von 5 Fuss würde ihrer Heizkraft nach einem Steinkohlen- lager von 3 Fuss Mächtigkeit entsprechen. Nehmen wir nun die produktive Moor- fläche zu etwa 100 Qu.-MIn. an (die Prov. Hannover allein hat 101,94 Qu.-Mln. produzierende Fläche), so würde unser im Torf enthaltenes Brennmaterial unsere Jährliche Steinkohlenproduktion um das Zehntausendfache übertreffen.“ Clemens König, Moor und Torf. 365 einzelnen wäre dann vielmehr Gelegenheit geboten, rechtwinkelig an- schliessende Nebenkanäle verschiedenen Ranges auszuwerfen. Das Schiff macht den Fehntjer selbständig, und das reichgegliederte Kanalsystem ver- wandelt die aufblühende Fehne (Moorkolonie) zugleich in eine Schule des Schiffbaues und der Seeschiffahrt, ein Umstand, welcher wiederum gewiss klar genug für die Wichtigkeit der Moorkolonien zeugen dürfte. Sobald aber der rationelle Landbau in diese Distrikte eingezogen, ist die Basis für einen Wohlstand geschaffen, welcher nicht durch Krisen und Konjunkturen ge- fährdet, sondern, stetig weiter geführt, einen intensiven Ackerbau gross- zieht und unserem nordwestlichen Deutschland eine glückliche Zukunft ver- heisst, wie sie das schwesterliche Holland in Gegenwart fröhlich geniesst. Eine solch anmutige, verlockende Aussicht lässt den Nationalökonomen gern bei den Moordistrikten verweilen und wünschen, dass dem Lande bald ein zweiter Dieprıch Von VEELEN?, ein zweiter Fınporr? werde. Damit ist jedoch die Bedeutung der Moore noch nicht erschöpft. Von gleichhohen und gleichnachhaltigen Reizen der Moore spricht begeisternd ferner der spekulative Forscher. Durch die Art ihres Schaffens, dass rezente Kohle entsteht, geben sie ihm einen nicht misszuverstehen- den Fingerzeig, in welcher Weise die Natur bei der Erzeugung minera- lischer Kohlen verfahren. Durch die Möglichkeit, die hier aufgespeicherten Pflanzenreste erforschen und bestimmen zu können, werden ihm die Moore zu gewaltigen Denkmalen organischer Thätigkeit, zu gut verwahrten Archiven voll gewichtiger Urkunden über längst vergangene Zustände. Denn, wer die Reste der in verschiedenen Torfetagen liegenden Pflanzen erkannt, rekonstruiert damit die einstmaligen Physiognomien des Moores. Da aber jede Pflanzenart, wie DE CAnDoLte sehr richtig meint, ein Spezial- thermometer ist, dessen Nullpunkt da liege, wo die atmosphärische Wärme ausreicht, das Pflanzenei keimen oder die Knospen schwellen zu lassen, da jede Pflanzenart, wie GRISEBACH immer und immer an bestimmten Beispielen hervorhebt, die zusagende Temperatur und Feuchtigkeit eine gewisse Anzahl Monate hindurch ununterbrochen geniessen muss, so kann aus der Existenz der im Moor gefundenen Pflanzen sogar auf den Zu- stand des Klimas zurückgeschlossen werden, vorausgesetzt, dass die Grenzwerte der betreffenden Pflanzen bekannt sind. Von diesem Gesichts- punkte aus, welchen Rennıe wohl zuerst andeutend verfolgte und zwar bereits 1307, betrachtet Bryrr die Moore des südöstlichen Norwegens, er verknüpft den geschilderten Gesichtspunkt mit den Hebungserschein- ungen seines Landes. Aus ersterem leitet er einen mehrmaligen regel- ! Grisebach, l.e.S.115f. Krümmel im Atlas des Deutschen Reiches, 1876. I. Teil. S.15. Guthe, 1. ce. S. 66, 68. Jetzt zählen die Gebiete an der mitt- leren Ems nur ca. 1000 Einw. auf eine Qu.-Ml. Jedoch die 19 Fehne Ostfrieslands umfassten 1858 in Summa 1°;7 Qu.-Mln., wovon noch nicht eine volle Qu.-Ml. in Kultur genommen war, und diese hatte 153 233 Einw. ? Diedrich von Veelen legte nach dem Muster der Holländer 1675 diejenige Moorkolonie an, welche heute die blühendste von allen ist — Papenburg. ® Karl Findorf, — auf dem Heiderberg bei Worpswede ist ihm ein Denk- mal errichtet — arbeitete (ca. 1760) mit seltenem Eifer an der Kultur der Moore des ehemaligen Herzogtums Bremen. 90 Kolonien hat er nach und nach gegründet (1720 die erste). 366 Clemens König, Moor und Torf. mässigen Wechsel von kontinentalen und insularen Klimaten und aus letzteren ein Zeitmass her, nach welchem der Bildungsprozess von Torf- massen verlaufe. Sein Ideengang, soviel als möglich mit seinen eigenen Worten wiedergegeben, ist in Kürze folgender: Der Torf besteht zum wesentlichsten Teile aus Überresten von Sumpf- und Wasserpflanzen, die an Ort und Stelle gewachsen sind und durch Wasser und Feuchtigkeit gegen die Einwirkung der Luft und die Verwesung beschützt werden. Viele Moore waren ursprünglich kleine Teiche. Zuerst fanden sich Wasserpflanzen und Wassertiere ein, später Sumpfpflanzen, besonders Sumpfmoose, die Sphagnum-Arten, welche einen nachgebenden, schaukelnden Teppich über dem Wasserspiegel bildeten. Erreichte die Moosdecke allmählich eine grössere Dicke, dann presste sie die unterliegenden Schlammschichten mehr und mehr zu- sammen, und die Torfschicht sank unter fortgesetztem Wachstum jener nach, bis sie endlich oft den ganzen Teich ausfüllte. Jedoch der eigentümliche anatomische Bau, welchen die Sphagnum- Arten besitzen, befähigt sie, auch an solchen Stellen Torf zu bilden, wo kein Wasserspiegel vorhanden. So findet man häufig Moore, die auf altem Waldboden ruhen. Waldreste und Baumstümpfe liegen aber auch schichtenweise zwischen dem Sphagnum-Torf. Die ältesten nor- wegischen Moore, deren mittlere Tiefe 16 Fuss beträgt, haben folgen- den Bau: Obenauf liegt eine Schicht von fast oder durchaus unvermischtem Sphagnum, welche 4 bis 6 Fuss mächtig ist. Darunter ruht zunächst eine Lage von Wurzelstöcken mit einzelnen umgeworfenen Stämmen, zumal von Kiefern und Birken. Weiter abwärts folgt eine dunkle Schicht aus mehr oder weniger verändertem Sphagnum-Moos. Daran schliesst sich in einer Tiefe von 85 bis 10 Fuss eine ältere Wurzelschicht, noch tiefer folgt eine holzfreie Lage fetten Brenntorfes, dann bei 12 bis 14 Fuss eine dritte Waldschicht und darunter liegt, auf Lehm oder Sand ruhend, eine an Mächtigkeit variierende Torfschicht. So sind die ältesten Moore aus vier Sphagnum- und drei Lagen von Wurzel- stöcken und Waldresten gebaut. Diese Wurzelstöcke sind nicht Reste von durch Menschenhand ge- fällten Bäumen, sondern von Bäumen, welche einst das trockengewordene Moorgebiet überzogen. Denkt man sich nun, so plaidiert Buyrr weiter, dass diese Waldmoore aufs neue nässer würden, so würde offen- bar der Wald zu Grunde gehen, und das Sphagnum-Moos würde aufs neue die Oberhand bekommen und die Wurzelstöcke überwuchern. Aus diesen Mooshügelchen mit ihren alten Wurzelstöcken würden sich im Laufe der Zeit Wurzellager derselben Art bilden, wie wir sie in den älteren Torflagern finden. Die Wurzellager bedeuten somit Zeiten, wo die Oberfläche des Moores trockener war als sonst, Zeiten, in welchen die Torfbildung vielleicht Tausende von Jahren hindurch aufhörte, um später wieder aufs neue anzufangen. Um diese Änderungen im Feuchtigkeits- zustande zu erklären, darf man nicht lokale Ursachen, wie Ver- Clemens König, Moor und Torf. 367 dämmung des Ablaufes, Sinken der Oberfläche, Ausgrabungen durch Bäche u. s. w., sondern muss vielmehr die Theorie der wechselnden trockenen (kontinentalen) und feuchten (insularen) Klimate heranziehen. Wenn dieRegenmenge undFeuchtigkeitderLuftsich veränderte, musste auch die Oberfläche der Moore trockener und feuchter werden, undin solcher Weise werden sich dann im Laufe der Zeiten derartige abwechselnde Schichten von Torf und Waldresten gebildet haben, wie wir die- selben in unseren Mooren finden. Wenn der Wechsel von Torf- und Waldschichten auf lokale Gründe zurückzuführen wäre, dann müsste man auch in den nassen Mooren ebenso oft Wurzelschichten finden, als in den trockenen; denn solchenFalls müssten ja doch auch manche Moore gegenwärtig nässer sein, als früher. Die Moore sind gegenwärtig im grossen Ganzen trockener als früher; sie sind mit Wald und Heide bedeckt, und nur da, wo die Oberfläche in unseren Tagen wald- und heidebewachsen ist, finden sich Wurzel- lager. Soweit meine Erfahrung reicht, sagt Bryrr, fehlen dieselben in nassen Mooren. Der Gegenwart ging somit eine nasse. Zeit voran, wäh- rend welcher die oberste Sphagnum-Schicht sich bildete. Ein bis zwei Fuss unter der Oberfläche finden sich in derselben häufig vorhistorische Steingeräte, ein Beweis, dass die Zeit ihrer Bildung weit zurückliegt. Norwegen ist seit der Eiszeit im Verhältnis zum Meer gestiegen. Die Torflager sind daher um so jünger, je näher sie dem jetzigen Wasser- spiegel liegen. Je jünger sie sind, desto seichter und desto kleiner ist die Zahl der wechsellagernden Schichten. In den niedrigsten Gegenden des südöstlichen Norwegens, d. h. bis 50 Fuss ü. d. M., finden sich Moore von 2 bis 4 Fuss Mächtigkeit; die Waldschieht fehlt ihnen. In der Höhe von 30 bis 50 Fuss ü. d. M. finden sich Moore von 5 Fuss Mitteltiefe mit einer Wald- und Torfschicht. Von 50 bis 150 Fuss wächst die mittlere Tiefe des Torfes von 5 bis 10 Fuss und es enthält zwischen zwei Torfschichten eine Waldschicht. Von 150 bis 350 Fuss ü. d. M. finden wir Moore von 10 bis 12 Fuss Mitteltiefe mit je zwei Wald- und Torfschichten. Höher als 350 Fuss finden wir Moore von 15 bis 14 Fuss mittlerer Tiefe mit zwei in Torf eingeschlossenen Waldschichten. In noch grösserer Höhe finden wir endlich die ältesten Moore mit vier Sphagnum- und drei Waldschichten. Oberhalb der höchsten Wasserstandszeichen (ca. 600 Fuss) wächst jedoch die Tiefe des Torfes nicht mehr mit der Meereshöhe; denn die Moore, welche 700 bis 800 Fuss ü. d. M. liegen, sind durchschnitt- lich ebenso tief als diejenigen, welche 1500 bis 2000 Fuss ü. d. M. liegen. Diese Regel ist nicht ohne Ausnahme: selbst in be- deutenden Höhen findet man nämlich oft Moore von geringer Tiefe, aber in letzteren findet man beständig Kohle und in den kohlenhaltigen Schichten stehen auch Wurzelstöcke, die nicht verbrannt sind. Kohle ist aber auch in unseren Wäldern häufig, und zwar so häufig, dass es kaum einen Wald ohne Kohlen gibt. Da der Blitz dürre Bäume an- zündet und solche in der Zeit der Urwälder im Überfluss vorhanden 368 Clemens König, Moor und Torf. waren, so konnten Waldbrände natürlich leicht entstehen und ohne Zu- thun der Menschen. Sehr trockene Torflager sollen in warmen Sommern sogar durch Selbstentzündung in Brand kommen können, und das Feuer soll sich bis 12 Fuss unter die ursprüngliche Oberfläche des Torfes ver- pflanzen können. Auf solche Weise wird es möglich, dassman Moore, dieauf Waldgrund ruhen, selbstin solchen Gegenden finden kann, die unter Regenzeiten aufgestiegen. Die zu oberst gelegene Sphagnum-Schicht aller Moore, gleichviel auf welcher Höhenstufe sie liegen, ist gleichalt. Voran ging eine Zeit, in welcher sich überall die oberste Waldschicht bildete. Unmittelbar voraus ging eine feuchte Zeit, in welcher sich, immer von oben herab gezählt, überall die zweite Moosschicht erzeugte. So sind überall die entsprechenden Schichten gleichalt, und den sieben Schichten ent- sprechen sieben Perioden, eine Zahl, die sich als zu klein erweist, wenn die dänischen Moore mit in Betracht gezogen werden. Diese enthalten unter der tiefsten Sphagnum-Schicht Reste glazialer Planzen, welche nach Bryrr auf eine trockene Zeit hinweisen. Als aber das Gletschermaterial sich bildete, in welchem diese Pflanzen wurzeln, da war das Ende der Eiszeit. Rechnen wir noch die Gegenwart, welche wiederum trocken ist, hinzu, dann erhalten wir die 10 Perioden bis zur Eiszeit, von denen Bryrr und seine Freunde sprechen. Erst die 10. Periode, die Gegenwart, schmückte Dänemark mit Buchen; denn davon sollen in keiner Torfetage Reste aufzufinden sein. Vielmehr sammle der Forscher, wenn er von oben nach unten fortschreitet, zu oberst die Reste der Erle (Alnus ylutinosa), dann die der Eiche (Quercus sessiliflora), darunter die der Kiefer (Pinus silvestris) und am tiefsten die der Zitterpappel (Populus tremula). Damit ist nach Bryrr aber nicht nur der Wechsel von trockenen und feuchten Zeiten, sondern auch die Herausbilduug eines immer wärmer gewordenen Klimas bewiesen, ein Wechsel, welcher, wie die Schieferkohlenlager bei Dürnten in der Schweiz angeblich darlegen, noch weiter zurück verfolgbar sei, denn die sieben durch Torfschichten getrennten Waldlagen berechtigten, der Interglazialzeit 13 oder 14 Perioden zuzuschreiben. Die meisten Kohlen- lager sollen einen ganz ähnlichen Wechsel dokumentieren. Nochmals sei hervorgehoben, dass diese kurze Wiedergabe des Blyttschen Plaidoyers nach Wort und Logik dem Original! getreulich nachgebildet worden ist. Zumeist ist die Wiedergabe eine rein wörtliche. »Wenn an der oben besprochenen, äusserst inhaltsreichen Schrift, so sagt der Referent in Jusr’s botanischem Jahresbericht (1876, 8. 693), etwas auszusetzen ist, so wäre es der Umstand, dass durch keinerlei Inhaltsangaben, Einteilung in Kapitel oder dergleichen, die Übersicht über die Menge von Thatsachen erleichtert wird und dass der Verfasser sehr oft die englischen Vulgärnamen statt der lateinischen Pflanzennamen ı Vgl. Engler’s bot. Jahrb. 1882. II. Bd. — Essay on the immigration of the Norwegian Flora during alternating rainy and dry periods. 1876. — Tidsskrift for Populäre Fremstillinger af Naturvidenskaben. 1878. S. 81 ff. — Jagttagelser over det sydöstlige Norges Torvmyre, in Christiania Videnskabsselskabs Forhand- linger. 1882. Clemens König, Moor und Torf. 369 anwendet.< Gleich vorteilhaft spricht Drupe in Benm's geographischem Jahrbuch (1882, S. 142) von vorgetragener Spekulation. Und das Echo dieser beiden Stimmen klingt an vielen Orten und zwar in solcher Über- treibung wieder, dass es not thut, dieselben auf das billige Mass zu- rückzuführen. Unsere im vorigen Jahrgang des Kosmos publizierten Aufsätze lassen daran kaum einen Zweifel aufkommen, dass die Theorie der wechselnden kontinentalen und insularen Klimate in dem Florenbilde Norwegens durch- aus keine Stütze findet. Mithin bleibt ihr als einzige Säule das in den Hauptpunkten wiedergegebene, auf den schwankenden Boden der Moore und Torflager gebaute Plaidoyer!. Ist aber dieser testis unicus, wie be- hauptet wird, wirklich ein testis omni exceptione major? Non numeranda, sed ponderanda argumenta. Diesen Satz respek- tieren wir ganz und voll. Wir wissen auch, dass GrisesacH” mit Recht niederschrieb, als er über NarHorsr’s Glazialflora auf dem Grunde der Moore referierte: »Die streitigen Ansichten über die klimatischen Änder- ungen seit der Eiszeit sind einer ernsten Prüfung zu unterwerfen.« Dieser Forderung ist aber bis heute noch nicht entsprochen worden. | Versuchen wir, diese Aufgabe zu lösen. Obgleich die Anerkennung, welche unseren Aufsätzen geworden, uns hierzu ermutigt, so bleiben doch die Mühen und Arbeiten, die unser warten, dieselben. Wie gross und umfänglich sie sind, verrät GriszBacH’s” Ausspruch: »Neuere und ältere Schriftsteller, welche sich mit der Theorie der Torfbildung beschäftigt haben, untersuchen die physischen Bedingungen, von denen die Entstehung und das Wachstum des Torfes abhängen, aber sie ver- nachlässigen die Frage, aus welchen Bildungsstoffen die Moore hervorgegangen sind, bis zu dem Grade, dass so zahlreiche als widersprechende Angaben, welche sichhier- über in einer umfangreichen Litteratur finden, ohne Aus- nahme als fehlerhaft oder unvollständig und von irrtüm- lichen Voraussetzungen ausgegangen, zu betrachten sind.« Damit ist zugleich angedeutet, dass unsere Aufgabe weit über Bryrr hinausgreift und nur von seiner Hypothese der Torfmoore aus- gehen kann. Dabei ordnen sich die vorzubringenden Stoffe wie von selbst unter nachstehende drei Fragen: 1. Gesetzt, alles was Buyrr geschrieben, sei durch und durch makel- los, so bleibt doch die Frage offen: Genügt die eingeschlagene Unter- suchungsmethode, so weittragende Resultate zu finden? 2. Wenn aber vorausgesetzt wird, dass die von BLyrr eingestellten Thatsachen richtig sind, dann bleibt zu fragen: Wie ist die innere Beziehung, die logische Verknüpfung und wie weittragend sind die vor- ! Kosmos 1884, I, S. 262 hat Herr Blytt seine Gründe als sechsfach hingestellt, Davon sind die ersten drei zurückgewiesen. Die letzten drei wollen wir auch im Zusammenhang behandeln; sind sie doch geologischer Art. Folglich ist unsere Zweiteilung berechtigt. 2 Grisebach, 1 c. S. 501. arısebach,.:c. 9, 59, Kosmos 1884, I. Bd. (VII. Jahrgang, Bd. XIV). 24 370 Clemens König, Moor und Torf. gebrachten Thatsachen? Damit ist aber auch der Inhalt der dritten Untersuchung bestimmt: 3. Das dargebotene Material muss auf seine eigene Solidität hin begutachtet werden. Indem wir diese drei Kapitel eingehend zu behandeln versuchen, werden und müssen wir nicht bloss scheinbar, sondern in der That drei von einander ganz unabhängige Resultate gewinnen, welche uns berechtigen, ein entscheidendes Schlusswort zu sprechen. I. Über die Untersuchungsmethode. Die von Bryrr untersuchten Moore und Torflager liegen im südöstlichen Norwegen. Von den 1534 Qu.-MlIn., welches Areal die Stifte Christiania und Hamar besitzen, kommen auf die Torfmoore 54'/g Qu.-Mln. unterhalb und 36 Qu.-Mln. oberhalb der Kulturgrenze für Cerealien'. Wir erfahren nicht, ob Bryrr alle diese Moore untersucht hat. Aber gesetzt, es sei so, dann bilden sie doch nur einen kleinen Bruchteil von der Gesamtfläche aller hierher gehörigen Distrikte des norwegischen Landes, vor allem von der betreffenden Gesamtfläche der skandinavischen Halbinsel. Dieser Bruch wird noch viel kleiner; er wird ein Minutissimum, sobald die untersuchte Moor- fläche als Zähler und der Flächenraum aller Moore der Erde als Nenner gesetzt wird. Wir verlangen also in diesem Stücke eine Methode, wie sie PrscHEL in seinen Problemen der vergleichenden Erdkunde meister- haft übt; wir müssen sie verlangen, denn Bryrr’s Moorstudien bieten keine detaillierten, keine mit dem Mikroskop ausgeführten Spezialunter- suchungen, wie vielfach gedacht wird; ausserdem verteidigt Bryrr den Gedanken, daraus Beweise gegen lokale Änderungen der Feuchtigkeit und für klimatische Wandlungen ableiten zu können. Ferner legt die Untersuchungsmethode sehr grosses Gewicht auf die angebliche Wechsellagerung von Sphagnum-Schichten und Wurzel- lagen im Torf. Aber dieses geologische Phänomen wird allein betrachtet, wird nicht in organischen Zusammenhang mit dem Kapitel von der Wechsel- lagerung überhaupt gebracht”. Die Steinsalzlager der Dyas und alle Steinkohlenflötze beispielsweise zeigen in der produktiven Schicht wechsel- lagernde Thon- und Lettenstraten, welche wohl mit grösserer Bestimmt- heit auf eine mehrmalige und weit grössere Wasseranstauung hinweisen, als die von Bryrr herangezogene Erscheinung. Aber keinem Forscher ist es bis jetzt eingefallen, hieraus einen Wechsel von trockenen und nassen Perioden zu je 10500 Jahren abzuleiten. Erwähnte Formationen, was wohl zu beherzigen sein dürfte, sind nach dem einstimmigen Urteil aller Geologen weit älter, als die Erscheinungen des Klimas. Eine nach- trägliche Erklärung dieser Art, d. h. jene Formationsglieder als Schöpf- ! Schübeler, Pflanzenwelt. S. 8. 3 ? Diese Lücke ist nicht durch die Abhandlung geschlossen: A. Blytt, Über Wechsellagerung und deren mutmassliche Bedeutung für die Zeitrechnung der Geo- logie und für die Lehre von der Veränderung der Arten. Vgl. Biologisches Cen- tralblatt. Bd. III. S. 417 ff. Clemens König, Moor und Torf. 371 ungen eines Wechsels der Klimate hinzustellen, würde nicht helfen; denn jeder -Geologe wird jetzt und so zu allen Zeiten das Problem der Wechsellagerung stets aus dem Lokalen erklären. Selbstverständlich ist, dass derjenige, welcher einen Klimawechsel innerhalb der Diluvialzeit, und sei es auch nur für Norwegen, nachweisen will, alle diluvialen Bildungen auf diese Frage hin untersuche. Dies ist hier nicht geschehen, nicht einmal mit dem vorhandenen diluvialen Pflanzen- material. Und doch ist allbekannt, dass in Skandinavien beispielsweise diluviale Kalktuffe und Süsswasserkalke zwischen stehenden Rohrstengeln von Arundo die Blätter unserer Pappel, Eiche, Buche, Linde und Weide, und zwar regellos unter einander gemischt, aufbewahren. Wollten wir alle die ausgelassenen homologen Erscheinungen auf- zählen, welche über dieses Thema mitzusprechen berufen sind, so würde unsere Reihe ziemlich lang. Erlaubt sei es uns, nur eine einzige noch heranziehen zu dürfen, nämlich das Verschwinden gewisser Pflanzen und Tiere innerhalb der Quartärzeit. Bekanntlich standen vor langen Zeiten rauschende Wälder längs der norwegischen Küste von Bergen bis hinauf nach Vadsö und Varanger, und selbst in Höhen, wo heute der Wald nicht mehr aufwachsen will. Und doch lehrt uns Bryrr, dass Norwegen seit dem Ende der Eiszeit niemals eine solch günstige »kontinentale Periode« genossen habe, als gegenwärtig. Ist das wahr, dann sollte sich der Wald überall ausbreiten, aber nicht trotz aller Pflege, die ihm zu teil wird, sich auf immer kleinere Areale beschränken. Dass beide Erscheinungen nicht im Klima, sondern in ganz anderen Faktoren begründet sind, haben wir bereits erwiesen und in SErLAnD’s Untersuchungen dafür eine neue Bestätigung gefun- den!. Dass die grossen diluvialen Tiere dahingestorben, resp. sich weiter nach Norden gezogen, zeigt gleichfalls auf umgestaltende Mächte hin, welche ausserhalb der Reihe der klimatischen Faktoren stehen. Denn das Klima zwingt sie nicht, die verlassenen Gebiete zu meiden. Ferner muss zugestanden werden, dass die Allgewalt einer Methode darin beruht, die aller schlagendsten indicia facti aufgefunden zu haben, ein Umstand, den wir bei BLyrr vermissen. Denn bekanntlich mangelt den Torfmooren des südöstlichen Norwegens grösstenteils der Zustand der Ursprünglichkeit. Zehn Jahre vor dem Erscheinen der Blyttschen Untersuchungen schrieb Schüserer? bereits: »Hier im südöstlichen Nor- wegen sind nach und nach ziemlich grosse Strecken dieser Moore urbar gemacht, und namentlich ist hier in den letzten Jahren von Seiten des Staates vieles für das schwierige Abzapfen geschehen, um die Moore auch zum Torfstechen nutzbar zu machen.« Welche weitere Veränder- ungen mögen hier der »hazardieuse Getreidebau«, die hohe Wertschätz- ung immatrikulierten Landes, die sorglichst gepflegte Drainage und Arrosage der Felder und Wiesen und vor allem die seit Urgrossvaterszeiten im grossen Stile betriebene Brandkultur nach sich gezogen haben! Burrr ! Kosmos XIII, 1883. S. 595 ff. — Österr. bot. Zeitschr. 1881. S.6. — Vgl. Sechster Jahresb. d. Annaberg-Buchholzer Vereins f. Naturkunde. 1883. S. 97, die Beforstung des Pöhlberges betreffend. 2 Pflanzenwelt. S. 8. 372 Clemens König, Moor und Torf. bekennt selbst, dass nicht ein Wald, nicht ein Torflager hier existieren dürfte, wo die vom fressenden Feuer zurückgelassene Kohle fehle! Alle diese Faktoren — und wir werden später noch andere und viel wichtigere zu verzeichnen haben — verfälschen und verändern den ursprünglichen Zustand; sie alle arbeiten auf ein Ziel, auf die Trockenlegung der Moore hin, ein Resultat, welches Bryrr benutzt, um die Existenz von trockenen klimatischen Perioden herzuleiten. Die im Torf eingelagerten Kohlen, sagt Bryrr wörtlich, erklären die geringe Tiefe der vielen Moore, welche von der Regel eine Ausnahme machen, von dem Schema, wie viel Fuss Tiefe und wie viel Schichten jedes Torflager, seiner Höhenlage entsprechend, besitzen solle. Das durch Blitz oder Selbstentzündung geschaffene Feuer soll sich bis 12 Fuss unter die ursprüngliche Oberfläche des Torfes verpflanzen können! Wer dergleichen Zugeständnisse macht, bekennt, dass die meisten Torflager sich nicht in statu nascenti, nicht im beweisfähigen Zustande befinden. Folglich bleibt nichts anders übrig, als entweder die Menge der be- treffenden Moore als beweisunfähiges Material auszuscheiden oder ein befriedigendes Rekonstruktionsverfahren ausfindig zu machen. Und beides ist nicht geschehen. Und wie steht es mit den Merkmalen, welche für die Hebung der Küste sprechen? Wie verknüpft die Natur selbst diese Anzeichen mit den Torfmooren? Hierauf antworten wir mit Bryrr’s eigenen Worten: »In den Teilen des Landes, wo Strandlinien und Terrassen am meisten ausgeprägt sind, fehlt es bisher ganz oder wenig- stens fast ganz an Untersuchungen über die Torfmoore, und wo letztere untersucht sind, in diesen Gegenden fehlen lei- der sowohl Strandlinien als ausgeprägte Terrassen.« Die Antwort lässt darüber keinen Zweifel aufkommen, dass die vorgetragene Spekulation nicht gross auf Thatsachen, sondern auf Mut- massungen basiert. Dem südöstlichen Norwegen, so fügen wir zur Be- ruhigung hinzu, fehlen von drei Hebungsmerkmalen, von den Strandlinien, Terrassen und Muschelbänken — zwei. Aber die vorhandenen Muschel- bänke verteilen sich nicht wie im benachbarten Schweden (Bohuslän) auf alle, sondern nur auf wenige Horizonte innerhalb jener 600 Fuss, ein Umstand, der auf lokale Störungen hinweist. Können da, wo Muschel- bänke zerstört wurden, nicht auch Torfmoore vernichtet oder verändert werden ? Als einen ferneren gravierenden Umstand müssen wir hervorheben, dass es der Methode an Durchsichtigkeit gebricht. Nirgends erfahren wir, wie viel Moore und Torflager im südöstlichen Norwegen existieren, wie viel davon Bıyrr stratigraphisch aufgenommen, in welcher Zahl sich letztere auf die unterschiedenen sechs Höhenstufen verteilen; nirgends wird mitgeteilt, wie viel Moordistrikte für und wie viel gegen die auf- gestellte Regel sprechen; nirgends wird angegeben, wie viel tiefe Moore vorhanden sind, in denen alle Waldrestlagen fehlen!. Die Angaben: »An ı Auch die in Christ. Vidensk. Forhandlinger 1882 publizierten Jagttagelser etc. lassen, obgleich 136 Beobachtungen darin vorliegen, die begehrte Durehsichtig- keit vermissen. Bekanntlich figurieren überall die verschiedenen Teile ein und des- Clemens König, Moor und Torf. 373 e manchen Orten«, »In der Regel«, »Häufig«, »Oft«, »Selten« u. s. w. vertauscht jede exakte Methode mit klaren arithmetischen Werten. Das statistische Moment hat Bryrr bei seinen Untersuchungen ganz und gar vernachlässigt. Zum Schluss müssen wir noch auf das Verfahren zurückkommen, welches Bryrr verfolgt hat, um die Bildungsgeschichte der Torflager zu lösen. Von den drei möglichen Pfaden!, so sollte man meinen, würde der Botaniker von Fach denjenigen einschlagen, welcher sich der Bestim- mung der angehäuften pflanzlichen Reste widmet. Man erwartet, dass der Professor der Botanik die aus allen Tiefenhorizonten gesammelten Torf- proben unter dem Mikroskop analysieren werde. Aber von dergleichen Unter- suchungen spricht Bryrr nirgends; im Gegenteil bemerkt er in EnGLer’s botanischem Jahrbuch (1882, S. 12) ausdrücklich, dass »die Untersuch- ung der. Torfmoore teils durch Besuch der Torfstiche, teils durch An- wendung eines Torfbohrers geschah, welcher so konstruiert war, dass man mit demselben Torf aus verschiedenen Tiefen aufnehmen konnte«. Dass die aufgehobenen Proben unter dem Mikroskope untersucht wurden, wird, wie bereits gesagt, nirgends angedeutet, und nirgends wird darauf gefusst. Somit gewinnt es den Anschein, als wollte Bryrr durch seine Untersuchungen nichts weiter finden als die Mächtigkeit der Torfmasse und die Anzahl der angeblichen Schichten. Genügen hierzu die gehand- habten Mittel? Sicheren Aufschluss geben sie wohl über die entsprechen- den stratigraphischen Verhältnisse eines Gebirges. Aber ein Moor, ein Torflager ist eine Gebirgsmasse, wenn wir so sagen dürfen, ganz anderer Art. Hier ist die Oberfläche, auf welche der Bohrer gestellt wird, durch kein Nivellement präzisiert; folglich kann nicht ermittelt und bewiesen werden, dass die bei gleich tiefem Eindringen des Bohrers aufgehobenen Proben aus ein und derselben Torfschicht stammen. Dazu weiss ein jeder, der einmal mit einem Tiefbohrer auf der, wenn auch nicht schwanken- den, so doch stets nachgiebigen Moordecke gearbeitet hat, dass man sein Einsinken, besonders da, wo der Torf amorph und breiig ist, nicht derartig in der Gewalt hat, wie gefordert werden muss, wo es gilt, wie nicht ausser acht zu lassen ist, so geringfügige Grössen, immer nur ein oder zwei Fuss zu ermitteln. Mithin lässt sich durch diese Art der Untersuchung die Streitfrage nicht entscheiden, ob die Holzreste im Torf wirkliche und kontinuierliche Schichten im geologischen Sinne oder nur regellos verteilte Einschlüsse bilden, welche bekanntlich hie und da zu scheinbaren Schichten zusammentreten. Hätte Prof. Buyrr Untersuchungen publiziert, welche sich mit einzelnen Torflagern und zwar in bezug auf alle möglichen Fragen und lokalen Details befassen, dann hätte er die Wissenschaft — auf diesem Gebiete — wirklich gefördert und Dank und Anerkennung von seinen een geerntet. selben Moores, sofern sie verschiedenen Besitzern gehören, lokale Unterschiede auf- weisen oder sofern sie abgestochen, abgebrannt, bebaut u. s. w. werden, resp. bereits wurden, unter den abweichendsten Namen als selbständige Moordistrikte. ı Entweder werden die botanischen Merkmale oder die chemischen Verhält- nisse oder die geographisch-physikalischen Eigenschaften in Betracht gezogen. 374 Clemens König, Moor und Torf. Überschauen wir noch einmal die eingehaltene Me- thode, und wägen wir nach ihr die Sicherheit des Resul- tatesab, welchessie zu geben fähigist, so kann dasselbe unter den denkbar günstigsten Umständen doch nur eine Aufnahme sub conditione beanspruchen. Ein solches Re- sultat hat aber nicht das Recht, nach irgend einer Seite hin ein Ausschlag gebendes positives Zeugnis abzulegen. Somit ist der testis unicus der Hypothese von den wech- selnden Klimaten kein testis omni exceptione major. 2. Der logische Charakter des Plaidoyer. Bryrr bezeichnet die im Walde vorkommenden Kohlen als durch das himmlische Feuer, den zuckenden Blitz, und diejenigen, welche im Torfe eingeschlossen sind, als durch die aus dämonischer Tiefe herauf- züngelnde Flamme der Selbstentzündung entstanden. Dagegen muss geltend gemacht werden, dass der Einfluss des Braatebrenden und die Pro- zesse der Inkohlung und Verkohlung nasser und feuchter Pflanzenmassen nicht einmal durch ein einziges Wörtchen, geschweige denn als mitwirkende Faktoren genannt sind. Und doch überzeugt jeder Blick in die Geschichte und Gegenwart des amerikanischen Urwaldes und in die Genesis der Mineralkohlen, dass beide Vorgänge Grosses in der Umge- staltung und Kohlenbildung leisten!. Dergleichen Schlüsse stellt die Logik in die Kategorie: vitia subreptionis. Wenn wir weiter bedenken, dass der Blitz mehr in grüne als in dürre Bäume einschlägt; denn erstere sind nicht nur zahlreicher, sondern auch in bezug auf die Leitung der Elektrizität leistungsfähiger, ferner dass der vom Blitz getroffene Baum äusserst selten als brennender Busch aufflammt, dass selbst die Furche, welche der herabfahrende Blitz in das Holz reisst, nicht einmal immer und überall Spuren von Verkohlung aufweist”, wenn wir weiter bedenken, dass die Untersuchungen über die Ursachen unserer Waldbrände von 100 Fällen 99 mit Bestimmtheit auf fahrlässigen Umgang mit Feuer zurückführen, dann müssen wir denn doch zugestehen, dass sich Buyrr auf eine Möglichkeit stützt, die sehr wenig Chancen für sich hat. Oder sollte der Blitz nur in Norwegen soviel Kohlen produzieren, dass sie kaum einem Walde fehlen? Man be- denke, gerade in dem Lande, wo der viele Regen den Waldboden gründlichst anfeuchtet, wo die Wintergewitter zahlreicher als die des Sommers sind, und wo die jährliche Menge von Gewittern (in Christiania) die drei nicht übersteigt!? Im tropischen Urwald müsste, wenn Bryrr’s Deutung richtig ‘ Booth, Die Waldfrage in Nordamerika ete. in Dankelmann’s Zeitschr. f. Forst- und Jagdwesen 1880. S. 257. — Meehan, American Forests and Forestry. Pennsylv. State Report. 1880. — Gümbel, Texturverhältnisse der Mineralkohlen. ° Vgl. die Aufsätze von Belling, Colladon, Lampe, Baur und Roth in Monatsschrift für Forst- und Jagdwesen. 1873. 1874. Ferner vgl. Buchenau in den Verhandl. d. Kais. Leop.-Car. deutsch. Akad. d. Naturf. 33. Bd. ® Mohn in Schübeler’s Pflanzenwelt. S.30. Kosmos XII, 1883. 8. 348 ff. — Müller-Pouillet, Lehrbuch d. Physik u. Meteorologie. 1868. II. Bd, S. 595. Clemens König, Moor und Torf. 375 wäre, demnach das Feuer gar nicht erlöschen; denn alltäglich spielen sich hier pompöse Gewitter ab. Letztere werden von den Reisenden ebenso grossartig geschildert, wie der Sturm im Urwald, der Brand auf der Prärie!. Aber über tropische Waldbrände schweigen sie. Scheinbar besser begründet ist die Selbstentzündung »sehr trockener Torflager in warmen Sommern«. Denn weitverbreitet sind allerhand Ge- schichtehen von Irrlichtern und von grossen Bränden, die durch Selbst- entzündung von feuchtem Heu, fettiger Wolle und öligen Lumpen ent- standen. Von Kohlenflötzen, die von selbst in Brand geraten, sprechen unter gewissen Verhältnissen sogar die meisten Forscher mit Über- zeugung. Und dennoch, müssen wir sagen, steht es schlecht um die Möglichkeit, welche Bryrr herangezogen. Je weiter das Licht der Aufklärung in die Massen des Volkes vor- gedrungen und an Intensität gewonnen, desto seltener sind die Irrlichter geworden. Reines Phosphorwasserstoffgas, welches sich auch in Moor- gegenden, aber nicht aus Torf als solchem entwickeln kann, entzündet sich, sobald es mit atmosphärischer Luft in Berührung kommt. Der entstehende Lichtschein blitzt verpuffend auf und verschwindet ebenso schnell wieder. Und doch stimmen alle Beobachtungen über Irrlichter darin überein, dass der angebliche Flammenschein am Ort verbleibe und unruhig auf und ab hüpfe, ein Umstand, welcher mit grosser Wahrschein- lichkeit auf eine blosse Phosphoreszenzerscheinung aufsteigenden phosphor- haltigen -Wasserstoffgases hinweist. Vielfach werden auch gewisse elek- trische Ausströmungs-Erscheinungen, wie z. B. das St. Elmsfeuer eine ist, als Irrlichter beschrieben. Feuchte, auf einander gehäufte Heumassen, ölige Lumpen etc. lassen sehr bedeutende Temperaturen beobachten, wie auch der Kalk, welcher gelöscht wird. Zur Entzündung kommt es aber erst dann, wenn einge- lagerte Eisenstücke unter Luftzutritt glühen?. Ist letzteres ausgeschlossen, dann behält RuperL, wie seine wiederholt und mit allem nur möglichen Raffinement angestellten Versuche mit tierischen Haaren, wollenen Ge- weben und Hadern in Verbindung mit fetten und öligen Stoffen und zwar in Massen zu hundert Zentnern beweisen, recht, indem er den Schluss zieht: »Mit der Selbstentzündung ist es also nichts, wenn man überhaupt nicht selbst entzündet”. « Über die Selbstentzündung der Kohlenflötze sind die Meinungen sehr geteilt. Aber keine spricht für Buyrr. Wären die Voraussetzun- ! Wir nennen nur die vorzüglichen Schilderungen, die Marryat und Kabsch gegeben. ? Und welche Lee sind hierzu nötig? Nach Pouillet gibt es folgende Stufen des Glühens: 525° C. anfangendes Glühen, 700° Dunkelrotelut, 800° anfangende Kirschrotglut, 1000° völlige Kirschrotglut, 1200 helle Glut, 1400° starke Weissglut, 1600° blendende Weisselut. 8 Oentralblatt f. d. deutsche Papierfabrikation. 1883. S. 365 ft. * Die Meinungen hierüber !sind in drei Lager geschieden. 1. Lager: Alle brennenden Flötze sind infolge von Fahrlässigkeit angezündet. Die Gegner er- klären aus dieser Ursache nicht alle Brände. Von den anderen behaupten sie, so- fern sie zum 2. Lager gehören, seien sie durch chemische Prozesse, vornehmlich durch Zersetzung von Schwefelkiesen, sofern sie aber zum 3. Lager gehören, sie 376 Clemens König, Moor und Torf. gen: »sehr trockene Torflager und warme Sommer«, richtig, dann würden die Brandversicherungen nie versäumen, auf mit Torf gefüllte Schuppen besonders zu achten. Aber wie sie hierzu bis jetzt keine Veranlassung gefunden, so werden sie auch in Zukunft hierzu keine finden. Unsere Überzeugung, dass es um die Kohlenbildung im Torfmoor durch Selbstentzündung ebenso misslich steht, als um die Kohlenbildung im Wald durch Blitzschlag, ist, wie die gepflogene Betrachtung beweist, nicht zu erschüttern. Selbst wenn die Wahrscheinlichkeit für beide Vorgänge, Holzkohle zu bilden, eine viel grössere wäre, so müsste trotz- dem die Logik beide Schlüsse unter die Rubrik: A posse ad esse setzen. Als prächtiges Beispiel einer Hyperbel in superlativo erscheint uns der Satz, dass sich das Feuer bis 12 Fuss tief »unter die ursprüngliche Oberfläche des Torfes verpflanzes. Diese klaren Angaben schliessen ein Missverständnis aus? Wir glauben H. Bryrr nicht. Der Fehntjer im nordwestlichen Deutschland dürfte hierüber wohl auch ein Urteil haben. Obgleich er die trockensten Plätze und die günstigste Jahreszeit zum Moor- brennen auswählt und nie ermüdet, die erlöschenden Flammen zu schüren, spricht er doch nur von einer drei Zoll tiefen Brandschicht, und zwar auf »unverletzter Unterlage«; die ein Zoll hohen Rückstände der Brand- schicht bestehen auch nicht aus Holzkohle, sondern aus Asche!. Son- derbar, dass die norwegischen Torfmassen so tief durch das Feuer der Selbstentzündung angefressen werden und dann nur Kohlen, niemals Aschenreste zurücklassen ! . Eine petitio principii enthält der Satz, dass mit zunehmender atmosphärischer Feuchtigkeit auf trockenen Mooren der Wald verschwinde. »Die Wurzellager bedeuten somit Zeiten, in denen die Oberfläche des Moores trockener war«, wird zu einem Belege für einen neuen Trug- schluss. Regelrecht gefolgert, müsste der Schluss ungefähr lauten: Die Wurzellager im Torf stammen von Bäumen und Sträuchern, welche hier wuchsen; sie deuten somit an, dass es ehemals hier Stätten gab, worauf jene Holzarten die nötige Stütze fanden. Derartige Plätze, schlechthin Bulten genannt, so müssen wir anführen, grenzen oft an Blänken und tiefe Moorteiche. Der daraufstehende Busch, indem er Wind und Sturm trotzen will, wird dadurch Ursache, dass die Bulte von den atmosphärischen Gewalten losgerissen und mit dem Wurzelwerk des Baumes in den Teich geworfen wird. Das obere Baumstück verfault, der Wurzelstock-wird kon- serviert. Lange Zeit vergeht, ehe dieser Platz wieder fähig wird, eine Holzpflanze aufzunehmen. Das Verschwinden und Herausbilden solcher bultartigen Stätten und deren. Besetzung mit Holzpflanzen hängt causa- liter also mit ganz anderen Faktoren zusammen, als mit dem »Denkt man sich das Klima feuchter geworden«. seien durch physikalische Vorgänge erzeugt. Die poröse Kohle saugt bekanntlich mit solcher Gier (vgl. Platinschwamm) die Luft an, dass sie zum Glühen und Brennen kommt. Vgl. das pneumatische Fahrzeug und Tyndall’s Versuche mit Schwefel- kohlenstoffdampf. ; ! Guthe, 1. e. S. 61, 70. Die drei Zoll mächtige Torfschicht lässt nach dem Abbrennen die Unterlage unverletzt und erzeugt eine Aschenschicht von eines Zolles Stärke, in welche, kaum dass sie erkaltet ist, Buchweizenkörner eingestreut werden. Clemens König, Moor und Torf. 377 Verweilen wir bei denjenigen Mooren etwas, von denen BLyrtr sagt, dass sie anfänglich Teiche gewesen. Hier soll »über dem Wasserspiegel« ursprünglich eine Sphagnum-Decke sich ausgebreitet haben, welche mit der Zeit immer dicker und endlich so schwer wurde, dass sie oft den ganzen Teich ausfüllte.e Weil von schwimmenden, sogar mit Bäumen bestandenen Sphagnum-Decken in vielen gedruckten Büchern zu lesen ist, müssen wir dagegen einwenden: Ist das Becken tief, dann muss das Schwimmen der Moosinsel erst recht gut gehen, dann muss das Torf- lager mit der Zeit immer mächtiger werden. Wie tief werden die tief- sten sein? — Die tiefsten Torflager Norwegens messen durchschnitt- lich nur 16 Fuss. Ferner ist hier bis jetzt nirgends unter einer schwan- kenden Sphagnum-Decke ein Teich entdeckt worden. Und doch ist Nor- wegen das Land, wo in bezug auf Spaltenbildung nach jeder Richtung nur Grossartiges zu verzeichnen, wo an schmalen, tiefen Wasserbecken durchaus kein Mangel zu verspüren ist. Und doch müsste das Zu- standekommen einer »über dem Wasserspiegele schwimmenden Moos- decke, vorausgesetzt, dass deren Bildung überhaupt möglich ist, nicht von der Tiefe des Wassers, sondern von der Weite, von der Entfernung der Ufer abhängen. Wenn so oft von wechsellagernden Wurzelschichten und Sphaynum- Lagen gesprochen wird, dann dürfen wir auch nach der Mächtigkeit jeder Einzelschicht fragen. Welche Schichtensorte mag die mächtigste sein ? Die Wurzelstöcke werden niemals als Deformationen, sondern immer und überall als Reste von ursprünglicher Gestalt geschildert. Zuweilen sitze sogar Stock auf Stock. ” Dreimal werden die Mächtigkeitsverhältnisse durch Zahlenwerte illustriert; immer misst die Sphagnum-Lage durchschnitt- lich 4 Fuss. Demnach messen in Summa die vier Moostorfschichten der ältesten Moore 16 Fuss, und weil dies zugleich die Gesamttiefe dieser Moore ist, so beträgt der Mächtigkeitsindex aller drei Wurzelstockschichten — Null Fuss, ein Resultat, welches die Worte der ersten und die Striche der letzten Blyttschen Angabe bestätigen. Diese nicht widerspruchsfreie Theorie der Wechsellagerung der Torfstraten verknüpft Bryrr mit der Theorie der Erhebung des Lan- des. Ausführlich habe ich hierüber schon an anderer Stelle berichtet. Die von Bryrr gegebene Höhenskala, abgesehen von den Unklarheiten, welche die Bezeichnungen »Höher als 350 Fuss« und »In noch grösserer Höhe« aussprechen, ist zum Prokrustesbett für die Torfmoore geworden; denn deren Tiefen werden darnach ausgereckt oder zusammengestaut, je nachdem es wünschenswert erscheint. Unverständlich bleibt es auch, warum die Hebungserscheinungen nur die zehnte, neunte, achte, siebente "und sechste Periode umfassen und nicht bis zum Ende der Eiszeit zu- rückreichen sollen. Niemals werden Logik und exakte Forschung es gut heissen, Hypothese auf Hypothese zu häufen und Beweismaterialien ausserhalb der stofflichen Gebietssphäre zu sammeln. Statt die Eigentümlichkeiten der ! Wir beziehen uns hierbei auf das Geol. Profil der Torflager für Dänemark und das südöstliche Norwegen, gez. v. H. Blytt. 373 Clemens König, Moor und Torf. norwegischen Moore aus ihrem eigenen Wesen zu erklären, werden heran- gezogen die Hebung des Landes, resp. der Fall des Meeresspiegels, ferner der Wechsel von nassen und trockenen Perioden, desgleichen die Stellung von Sonne und Mond zur Erde und zwar für Zeiträume, welche so lang sind und so fern liegen, dass die Astronomen nicht einmal daran denken, die behaupteten Werte zu prüfen, und endlich das Trugbild: die Lebensgeschichte aller Moore verlaufe überall in gleichem Takt und Rhythmus. Oder ist der Gedanke nicht erlaubt, dass die Moore innerhalb der Höhenstufe von 600 zu 700 Fuss in bezug auf ihre Genesis verschieden alt sind? Und gleiches gilt für alle Regionen. Und wie es in der 10. Periode, in dieser trockenen Zeit, Moore gibt, die nur Moostorf er- zeugen, und solche, welche Holzreste einschliessen, so mag es auch in früheren Perioden gewesen sein. Die Torfmoore sind keine äqui- pollenten Grössen; aufallen Höhenstufen muss es, wie thatsächlich die Beobachtung lehrt, verschieden tiefe und an Holzeinschlüssen ver- schieden reiche Torflager geben. Den Wachstumsgesetzen der Torfmassen nachzugehen, dieser For- derung entzieht sich Bryrr. Er untersucht und verweist nirgends auf diesen Gesichtspunkt hin, auf die drei Stücke, welche die Moorbildung einleiten und dieselbe schnell oder langsam verlaufen oder still stehen lassen. Die gemeinten Stücke sind: 1) das geeignete Lokal, 2) das ausreichende und niedrig temperierte Wasser und 3) die Pflanzenschutt liefernde Vegetation. Nicht das Kultur-, sondern das Naturland liefert für Moorbildung geeignetes Terrain. Nicht von der mineralogischen und chemischen Be- schaffenheit des Gesteines, nicht ob Gneis, ob Granit, ob Kalk, ob Sand- stein, ob loser Sand, ob Thon oder Lehm, sondern von der orogra- phischen Beschaffenheit des Landes, ob die Mulde flach oder tief, ob der Bergabhang sanft oder steil geneigt, davon ist in bezug auf Punkt 1 die Torfbildung abhängig'. Der zweite Faktor, das Wasser, welches in den seichten Mulden sich sammelt oder auf der gering geneigten Berg- lehne langsam und stationär niederrieselt oder aus brauenden Nebeln niederfällt, ernährt, aber ersäuft nicht die Feuchtigkeit und Nässe liebende Vegetation. Das Wasser muss aber zugleich nicht nur ausreichen, den Einfluss der atmosphärischen Luft auf die abgestorbenen vegetabilischen Massen zu verhindern, sondern durch seine niedere Temperatur auch fähig sein, die Bildung von Humussäure zu begünstigen?. Je unterschiedlicher diese drei Faktoren, je mannigfacher die Art des gegenseitigen Ineinander- greifens derselben, desto mannigfacher die Variationsreihen der Moore. Weil nun diese Faktoren an jeder Örtlichkeit spezifisch eigenartig auf- treten, so kann es eigentlich nicht zwei Moore geben, welche einander völlig gleich sind. ! Die Annahme einer undurchlässigen Schicht wird dadurch hinfällig, dass die Torfmasse an und für sich impermeabel ist. Darwin, Reise etc. 1I. 8. 53. Grisebach, 1. e. 8. 61. — Sphagnum meidet zwar Kalkboden, aber andere Torf- bildner gedeihen gut darauf. ® Darwin, Reise etc. S. 43. Clemens König, Moor und Torf. 379 Sl Uns ist ein jedes Moor ein ebenso lokalgeprägtes Individuum wie der Gletscher. Beide haben ihre Geschichte und ihre Bedürfnisse. Beide passen sich aufs genaueste den lokalen Eigentümlichkeiten an. Beide schreiten vorwärts', erzeugen in sich selbst lokale Verschiedenheiten, welche als neue Bildungsfaktoren in den Kreislauf ihres Lebens ein- greifen, beide zeigen in ihrem Baue eine gewisse Art von Schichtung, beide haben diluviale Ahnen und sind selbst unfähig, ins unbeschränkte hinein zu wachsen. Trotz dieser vielen Übereinstimmungen bleiben sie doch diametral angelegte Naturen. Dort bauen tote Eiskörner, hier jedoch lebende Geschöpfe den Körper. Jedes der letzteren hat seine eigene Geschichte; jedes ist befähigt, eine unbegrenzte Nachkommen- schaft zu erzeugen, welche immer wieder dieselben Forderungen an das Substrat stellt. Gerade in dieser unbegrenzten Fähigkeit liegt die Begrenzung; denn beständige Erfüllung gleicher Forderungen muss end- lich zur Erschöpfung des ernährenden Bodens führen. Dazu kommt noch, dass der Pflanzenschutt nur bis zu einer bescheidenen Grenze das Wasser über den örtlichen Grundwasserstand zu heben vermag. So langsam die Lebensbedingungen für das seit alter Zeit hier sesshafte Pflanzenvolk dahin schwinden, so langsam verkommt und vergeht es selbst. Endlich zieht ein neues Volk mit neuen Bedürfnissen ein, d. h. unter Aus- schluss aller weiteren Veränderungen wird mit der Zeit von selbst das Wiesenmoor zum Hochmoor und dieses zur Wiese, zum Walde. Diese Reihe der aufeinanderfolgenden For- mationsphasen ist keine festnormierte; sie ist variabel, wie es die lokalen Eigentümlichkeiten vorschreiben. Letztere zu studieren, bleibt daher eine der gewichtigsten Hauptaufgaben der Moorstudien, eine Aufgabe, welche Jentzsch in Königsberg nicht unwesentlich durch Aufstellung seiner acht Typen gefördert hat”. Buyrr dagegen geringschätzt und verkennt den Einfluss des Lokalen ganz und gar. Damit ist dem Satze: »Wenn der Wechsel von Torf- und Waldschichten auf lokale Gründe zu- rückzuführen wäre, dann müsste man auch in den nassen Mooren ebenso oft Wurzelschichten finden, als in den trockenen; denn solchenfalls müssten ja doch auch manche Moore gegenwärtig nässer sein, als frühere — aller Wert geraubt. Wie die Kultur, so arbeitet also auch das Moor selbst beständig an seiner Trockenlegung. Als dritter Genosse in diesem Bunde erscheint das Wasser, wie wir sogleich nachweisen wollen. Diese drei Faktoren wirken schon seit langer Zeit, vornehmlich der zweite und dritte. Und daraus folgt, dass ehemals die Zahl der Moore eine grössere gewesen sein muss als jetzt, ein Schluss, welcher schon durch den Rang der Moorflora innerhalb der natürlichen Reihe der typischen Pflanzenformationen seine Bestätigung findet. Weiter gilt ! Vgl. Moorausbrüche in Irland, die Verzweigungen des Bremischen Düvel- moores in der Landschaft Kehdingen. Leunis, Synopsis. III. T. 2. Abt. Geo- gnosie. S.57. Leonhard's Jahrb. 1837. S. 59. — 1839. S. 482. — Walchner's Handb. d. Geogn. S. 293. — De Luc, Lettres physiques et morales sur l’histoire de la terre et l!’homme. La Haye. 1779. Vs.5. 8.140. — Grisebach, I. c. 8. 58. ? Schr. d. phys.-ökon. Ges. zu Königsberg. Jahrg. 19. S. 9. 380 Clemens König, Moor und Torf. es zu erwägen, dass die Moorpflanzen vor allen anderen grosses in der Okkupation herrenlosen Landes, soweit es ihnen zusagt, leisten. Dieser Vorgang musste damals unter ausserordentlicher Beschleunigung ver- laufen, als die glazialen Gletscher weite Flächen vom Eisbanne freigaben. Prächtig stimmt hierzu das Resümee der geographischen Verbreitung der Moore. Der Schwerpunkt ihrer Verteilung ruht innerhalb der Findlings- zone; er liegt in der Moränenlandschaft selbst. Je mehr sich das oro- graphische Gepräge derselben umgestaltete, je mehr das erodierende Wasser sein Bett tiefer schnitt und hemmende Moränenzüge durchbrach, desto geringer an Zahl und desto kleiner an Umfang wurden die mit Stauwasser gefüllten Becken. Wie weit letztere ehemals reichten, dafür habe ich herrliche Beispiele anderwärts beigebracht!. Somit arbeitet das fliessende Wasser, indem es sein Bett unablässig tiefer einschneidet, beständig auf eine Trockenlegung der Moore hin. Für Nordeuropa kommen hierbei ausserdem noch Verschiebungen innerhalb der Tierwelt in Betracht. Der Biber (Castor fiber L.)? führte ehemals hier ebenso sperrende Barrieren quer durch die Thäler und Flussläufe, um die Wasser weit und breit aufzustauen, wie es noch heute die Länder an der Hudsonsbay beobachten lassen. Nach Smersox ist hier sogar die Hälfte alles Wald- bodens unter Wasser gesetzt. Dadurch entstehen neue Moore und alte bekommen Impulse, neue kräftige Wachstumsstösse auszuführen. Den Biber verdrängen, ihn ausrotten, heisst folglich an der Trockenlegung der Moore arbeiten. Und in welchem Umfange ist dies in Norwegen geschehen? Ehemals war der Biber über das ganze norwegische Land verbreitet; seine zerstreuten Wohnungen reichten sogar bis nach Süd- Varanger. Heute dagegen lebt er nur in Thelemarken. Selbst zugestanden, das Klima sei mit der Zeit trockener geworden und habe als fünfter Faktor mit an der allgemeinen Trockenlegung der Moore gearbeitet, so ist es doch durchaus nicht gestattet, die sicheren Leistungen jener vier Faktoren zu gunsten dieses fünften aufzu- geben. Wie viel der fünfte Faktor allein vollbracht, lässt sich aber leider durch kein Separationsverfahren herausklügeln. Die interessante Erscheinung, dass Norwegen an seiner langsam sich hebenden Küste Torflager hat, welche um so jünger sein müssen, je näher sie dem jetzigen Wasserspiegel gelegen, bietet nur scheinbar einen zeitlichen Massstab dar. Die wunde Stelle und wo sie gelegen, beides haben wir auf Seite 377 u. ff. bereits aufgedeckt. Ein Irrtum bleibt es auch, zu sagen, Bryrr habe damit etwas Neues geleistet. Unser GRISEBACH hat gerade diese Frage und gestützt auf viel besseres Material, mit peinlicher Gewissenhaftigkeit nach allen Seiten hin erwogen und ge- funden, dass an der langsam sich senkenden Nordseeküste von der Mün- dung der Schelde bis über Schleswig hinaus Darg (Wiesentorf) und Schlick ! Vgl. Sitzungsbericht der „Isis“. Dresden 1884. — Vgl. Clessin in der Zeitschr. d. deutsch. u. österr. Alpenv. Salzburg 1883. S. 208. ; ? Credner, Elemente d. Geol. 1876. S. 255. — Peterm. Mitt. 1869. S. 139. — Grisebach, 1. e. 8. 394. — Vgl. Collet's Zool.-geogr. Karte von Norwegen. 1875. Clemens König, Moor und Torf. 3831 (See-Alluvium) mit einander wechsellagernd tief unter das Meer hinab- tauchen. Die Schichten sind hier nach Zahl und Mächtigkeit an ver- schiedenen Orten verschieden. Obenauf folgen dann die Hochmoore mit ihren Torfmassen. Aus diesen stratigraphischen Verhältnissen folgt mit absoluter Sicherheit, dass hier der Hochmoortorf jüngeren Ursprungs ist als der Darg, eine relative Altersbestimmung, welche sofort Falsches ergeben muss, wenn sie unbeschränkt verallgemeinert würde. Aber zur Erklärung dieser interessanten Phänomene bedarf es nicht — des Klimas !, sondern folgenden Umstandes. Das langsam niederschwebende Land gewährt an seinem Strande hie und da die Bedingungen zur Entstehung von Wiesen- oder Grünlands- mooren, welche Darg bildeten. Einst waren sie noch so hoch gelegen, dass nur die allergrössten Hochfluten Wogen darüber hin peitschen konnten. Wurde hierauf das Meer ruhig, so konnte das Grünlandsmoor, mit See- Alluvionen überschüttet, eine neue Dargbildung einleiten. Dieselbe hielt so lange an, bis wilde Stürme das Meer wieder hierherführten. Je be- deutungsvoller die unterdes stattgehabte Senkung, desto mächtiger die neuaufgeworfene Schlickschicht und desto dünner das entstandene Darg- flötz. Derartig schwankte zwischen Meer und Moor der Kampf mit wechselndem Glücke solange hin und her, bis zuletzt infolge der Senkung des Landes der Einfluss des Meeres überwog und die obere und stärkste Alluvion bildete. In Norwegen zeigt nun der Strand die entgegengesetzte säkulare Schwankung. Aber Bryrr spricht nirgends von Torflagern und Profilen, welche auf einen derartigen Kampf zurückverweisen. Oder ist die sich hebende Küste Norwegens frei von Sturm und Wogenschwall? Oro- graphie, Terrassenbildung und Strandlinienbau bezeugen laut, selbst wenn die direkten Beobachtungen schwiegen, — das Gegenteil. Eine solche Lücke muss befremden. Gleiches Befremden ruft die Verallgemeinerung der Regel wach: Je näher das Torflager dem jetzigen Meeresspiegel gelegen, desto jünger ist es in seiner Existenz. Ihre Kraftlosigkeit innerhalb der unterschiedenen Höhenstufen haben wir zu zeigen versucht. Jetzt gilt es, ihre Fehler- haftigkeit für höhere Gebiete zu ermitteln. Wir meinen, aus doppeltem Grunde muss die Regel falsch sein. Erstlich unterrichtet ein Blick auf die Karte der klimatischen Bezirke und meteorologischen Tafeln, dass in besagten Höhen die Vege- tationsperiode später beginnt, langsamer verläuft und viel eher sich schliesst als in den niederen Strandregionen!. Daher verlegen schon rein theoretische Erwägungen die grössten Moortiefen in die bevorzugte Strandzone, und die Wirklichkeit lässt sie hier auffinden. ! Prestel, Der Boden der ostfr. Halbins. 1870. S.18. — Arends, Phy- siche Geschichte. 1825. Bd. 1. S. 149. — Grisebach, 1. ce. S. 109. — König,’ Moor und Torf in ihrer Beziehung zur säkularen Hebung der norwegischen Küste und zur säkularen Senkung des deutschen Nordseesaumes. Zeitschr. f. wiss. Geogr. 1884. ! Kosmos XIII, 1885. 8. 349 ff., 501 ff. Das gestaute Moorwasser bewahrt im Frühlinge viel länger das Eis, als Seen und Flüsse. Durch ihre Lage im flachen Thal geniessen die dasigen Moore viel weniger die Sonne als viele Berggehänge. 389 | Clemens König, Moor und Torf. Als zweiten Umstand bezeichnen wir den Abschmelzungsprozess glazialer Gletscher. Selbst der von allem Neuglazialismus freie Forscher muss darin mit uns übereinstimmen, dass vom Meeresgestade her die Gletscher Norwegens Schritt um Schritt, Stufe um Stufe nach dem Hoch- lande sich zurückzogen. Dank KysEruLr’s verdienstlichen kartographischen Aufnahmen können wir innerhalb der norwegischen Moränenlandschaft noch viele von .den Orten auffinden, an denen die zurückziehenden Hel- den der Eiszeit noch einmal feste Stellung zu nehmen versuchten. Und die Höhenverhältnisse dieser Orte lehren, dass die Kurven dieser Äqui- distanten hierdurch zu einem idealen Masse für das Alter und die Tiefe der dasigen Torfmoore werden; denn je höher die Mulde gelegen, desto später wurde sie vom glazialen Eise befreit, desto später konnte das Moor entstehen. Da.die Wissenschaft kein absolutes Zeitmass für die Hebungs- und Senkungsvorgänge und kein Zeitmass für das Hinschmelzen des glazialen Eises hat, so ist und bleibt es eine logische Täuschung, von bestimmten Zahlenwerten zu sprechen und für Perioden zu 10500 Jahren zu plädieren. Irgend welche Zahlen allgemeinen Wertes existierer nicht einmal für den Gang der Aufschüttung von Torfmassen. Denn die ge- läufige Annahme, dass sich in 100 Jahren eine Torfschicht von 1 Fuss Mächtigkeit bilde (Hrer), wird durch gleichgewichtige Beobachtungen beseitigt. UnGEr veranschlagt die 100jährige Torfschicht im Minimum zu zwei, im Maximum zu fünf Fuss, womit L£sQquEreux’ Angaben gut übereinstimmen. Auch PaAuuıarpr’s Werte lassen sich danach einreihen ?. Folgende Thatsachen jedoch widerstreiten. »Bei Warmbrüchen in Hannover hat sich nachweislich in einem Zeitraum von 30 Jahren ein vier bis fünf Fuss mächtiges Torflager gebildet, und bei Radolfzell in Baden war das Torflager in 25 Jahren auf vier Fuss nachgewachsen.«< Hiernach würde der 100 jährige Wachstumseffekt sogar 16 Fuss betragen. Wie jung müssten demnach, auch wenn wir das kleinste Mass zu Grunde legen, die tiefsten Torflager Norwegens (26 Fuss) sein! Oder welche Mächtigkeit müssten die Torflager haben, welche seit 80000 Jahren, seit dem angeblichen Ende der Eiszeit, bestehen. Selbst wenn wir mit Bryrr für die ältesten Moore nur vier Wachs- tumsstösse von je 10500 Jahren annehmen wollten, dann müssten uns Torflager von ca. 400 Fuss Mächtigkeit als Belege zur Seite stehen. Man bedenke: 400 Fuss. Man bedenke aber auch, dass Bryrr von Waldschichten spricht, ohne irgendwo die als selbstverständlich vor- handene Fülle der unterschiedlichsten Pflanzenreste, wenn auch nur im allgemeinen zu schildern. Da, wo auf Moorboden 10500 Jahre ein Wald gestanden, dort müssen Blätter und Nadeln, Deckschuppen und andere Anhangsteile von Blüten und Blütenständen, dort müssen Frucht- gehäuse, Samen, Pollenkörner und reife Früchte neben Rinden-, Stamm- und Wurzelteilen im Torfe eingeschlossen sein. Dort müssen die Moor- 2 Heer, Urwelt. S. 42. — Unger, Versuch einer Gesch. der Pflanzen. S. 130. — Lesquereux’ Untersuchungen über die Torfmoore aus d. Franz. v. Lengerke. 1847. — Palliardi in Erdm. Journ. f. prakt. Chemie. XVII. — Leunis, l. c. S. 217. — Grisebach, l.c. S. %, 9. Clemens König, Moor und Torf. 383 torfstraten so von Wurzelwerk durchschlagen sein, dass Sphagnumtorf als solcher aufhören muss zu bestehen. Zum Schluss müssen wir noch einen Blick auf die Logik der bedeut- samen Pflanzenreste werfen. Zunächst müssen wir wissen, dass die Reihe: Zwergbirke, Espe, Kiefer, Eiche, Hasel, Erle und Buche grösstenteils nicht auf Funde aus jenen angeblichen Waldschichten, sondern wie das von Bıyrr gezeichnete Generalprofil vorzüglich beweist, auf Einschlüsse aus den zwischengelagerten Torfstraten aufgebaut ist. Die Funde können somit nicht für die Existenz grosser und reiner Waldbestände, sondern nur für die Anwesenheit vereinzelter Artgruppen sprechen, womit die Statuierung jener kontinentalen Klimate ein ganz anderes Aussehen ge- winnt. Noch unvorteilhafter gestaltet sich dasselbe, wenn wir erwägen, dass diese Baumreihe zum Teil aus jenen Internationalen zusammengesetzt ist, wie es Kiefer, Espe, Birke, Erle, Traubenkirsche und Eberesche sind, welche bekanntlich vom atlantischen Gestade Europas quer durch den Doppelkontinent hindurch bis zur pacifischen Küste Asiens vordringen. Pflanzen, welche aber hier überall kräftig gedeihen, welche diese vielen klimatischen Gegensätze ungefährdet aushalten und, was besonders be- dacht sein will, trotz der weiten Abstände zwischen den hier verzeich- neten abnormen Jahren mit zu niedriger und zu hoher Wärme und Feuch- tigkeit gut bestehen, Pflanzen, welche Spezialthermometer solcher Art sind, bleiben untauglich, so feine klimatische Schwankungen massgebend anzu- zeigen, als Bryrr’s Theorie voraussetzt. Denn gesetzt, die gemutmassten regelmässigen Wandlungen im Klima seien von statten gegangen, so war die Pflanzenwelt Norwegens doch nicht gezwungen, eine entsprechende Wandlung auszuführen. Überschauen wir das gegebene Material, so halten wir es für ausreichend, sich ein zutreffendes Urteil über die Tragfähigkeit und Beweiskräftigkeit der Torfmoore und über die Sicherheit der klimatischen Wandlungen zu bilden. Forderte unsere erste Untersuchung von allen Freunden exakter Forschung, die Blyttsche Torftheorie nur mit dem Zusatze sub conditione anzunehmen und vorzutragen, so verlangt dieser zweite Abschnitt, auf den grössten Teil ihrer gewichtig- sten Schlüsse und Resultate zu verzichten. Wissenschaftliche Rundschau. ZO0@Fogie. Neue Untersuchungen über Cilioflagellaten. Fr. v. Stein, Der Organismus der Infusionstiere. III, 2: Die Naturgeschichte der arthrodelen Flagellaten; Einleitung und Erklärung der Abbildungen. 4°. Mit 25 Tafeln. 1883. G. PovcHer, Contribution & l’etude des Cilioflagelles. Journ. de Vanat. et de la physiol. 19me annee. Nr. 4. 1883. p. 399 —-455. pl.:18—21. G. Kuaes, Über die Organisation einiger Flagellatengruppen und ihre Beziehungen zu Algen und Infusoriengruppen. Untersuchungen aus dem botan. Inst. zu Tübingen. Bd. I. pag. 2535—362. Taf. 2—3. P. GoURRET, Sur les Peridiniens du Golfe de Marseille. Annales du musee. d’hist. nat. de Marseille. Tom. I. 1885. Avec 4 pl. Seitdem der Referent über die bis dahin sehr vernachlässigte Gruppe der Cilioflagellaten eine ausführliche Arbeit veröffentlichte (Morphol. Jahrb. VII; ref. in Kosmos, Bd. XU, 1883, S. 451—-453), haben sich die genannten Organismen mehrerer Bearbeitungen erfreuen können, welche die Kenntnis verschiedener Punkte in der Naturgeschichte derselben ge- fördert haben. Sowohl in der Morphologie und Systematik als auch in der Fortpflanzungsgeschichte sind die Kenntnisse bedeutend erweitert, obgleich, besonders was letzteres betrifft, doch sehr viel zu thun übrig bleibt und eine Verknüpfung der noch isoliert dastehenden Beobachtungen noch keineswegs möglich ist. Was zuerst die Morphologie und Systematik der Gruppe betrifft, so ist es vor allem die grosse, leider noch unvollendete Arbeit StEın’s, die in vorzüglicher Weise die Kenntnis der zahlreichen Modifikationen der Membran weitergeführt und uns mit einer Anzahl interessanter und zum Teil geradezu abenteuerlicher neuer Formen bekannt gemacht hat, von denen gewiss keiner geträumt hätte. Der berühmte Erforscher der Infusorien hat auch nicht nur frisches Material wie die sonstigen Beobachter untersucht, sondern auch viele schöne Formen aus den Mägen von pelagischen Tieren (besonders Salpen und Comatulen) geschöpft. Die Untersuchungen SrtEın’s haben zu einer ganz neuen Klassifi- kation geführt. Die Flagellaten zerfallen hiernach in zwei grosse Haupt- Wissenschaftliche Rundschau. 3855 gruppen: »monere« und »arthrodele Flagellaten«, welcher letztere Begriff alle Flagellaten von höher differenzierter Organisation umfasst. Er ist somit weiter gefasst als die Cilioflagellaten von CLAPAREDE und LAcHMANnN, indem darin auch die Noktiluken aufgenommen sind. — Die arthrodelen Flagellaten werden dann wiederum in 5 Familien ein- geteilt: 1) Prorocentrinen, 2) Cladopyxiden, 3) Peridiniden, 4) Dino- physiden, 5) Noktiluciden. Die Prorocentrinen (= Adiniden des Ref.) sind durch den Mangel einer Quer- und Längsfurche charakterisiert; ausserdem stellt Stem die von CLAPAREDE und LACHMANN, sowie vom Ref. angegebenen Cilien in Abrede, fand dagegen ein nach hinten umgeschlagenes (zweites) Flagellum, das undulierende Bewegungen ausführte. Ausser der Gattung Prorocentrum beschreibt Stein noch eine neue Gattung: Dinopywis, welcher der Stirn- fortsatz (»Leisten-Stachelapparat« des Ref.) fehlt; »nicht ohne Bedenken« wird hierher auch die Gattung Cenchridium gerechnet, die der Verf. nur in toten Exemplaren untersuchte; dieselbe hat am Vorderrand eine steife Einbiegung der Membran (»Schlund«) und deutliche Naht zwischen den Schalenhälften. — Noch eine Prorocentrinengattung wurde unter dem Namen Parrocelia von GOURRET beschrieben; der Charakter derselben besteht in zwei Stirnfortsätzen. Das Postprorocentrum maximum desselben Verf. scheint der Gattung Dinopyxis Sr. angehörig zu sein. Sehr bereichert wurde durch die Steinschen Untersuchungen die Familie der Dinophysiden. Die Gattung Dinophysis selbst wird durch zahlreiche neue Arten erweitert, von denen besonders D. homunculus ! schön und sehr variabel ist. Im Gegensatz zum Ref. lässt Srrıy alle die Stachel der »Handhabe« von der linken Membranhälfte entspringen; von der rechten soll nur ein »Nebenflügel« (»schwach brechende Leiste« des Ref.) ausgehen. — Bei der Gattung Phalacroma, derjenigen von den neuen Formen, welche Dinophysis am nächsten steht, laufen die Furchen- säume (Querfurchenleisten) horizontal und die Querfurche liegt weiter nach hinten, so dass diese Gattung gewissermassen eine Brücke von den Dinophysiden zu den Peridiniden schlägt. — Die schon längst bekannte Gattung Amphidinium, die vom Ref. auf Grundlage von Spexscen’s Be- obachtungen zu den Gymnodiniden gestellt worden war, soll nach Stein und PoucHzer eine Membran besitzen, die an der Bauchseite klafft und woraus das »Kopfsegment« frei hervorsteht; das Flagellum soll dicht hinter diesem entspringen; Stein führt sie nach seinen Beobachtungen wieder zu den Dinophysiden hin. Alle die sonstigen neuen Dinophysiden sind höchst abweichende, bizarre Formen, die sich in verschiedener Richtung mehr oder weniger weit von den typischen Verhältnissen entfernen. So hat die Gattung Amphisolenia einen ungeheuer langen, röhrenförmigen Hinterkörper und diesen noch dazu in drei Abschnitte gesondert, von denen der mittlere an einem Vorsprung die Flagellumspalte (»den Mund«) trägt, während das Kopfsegment äusserst reduziert ist. — Eine andere Abweichung ! Die Gourretschen Arten D. tripos, inaequalis und Allieri sind wahrschein- lich nur Varietäten von D. homunculus; ebenso scheint D. acuta var. geminata von Pouchet hierher zu gehören. Kosmos 1884, I. Bd. (VIH. Jahrgang, Bd. XIV). 25 386 Wissenschaftliche Rundschau. stellt Citharistes dar, die an der KRückenseite einen tiefen sattel- artigen Ausschnitt hat, über welchen durch zwei von vorn nach hinten laufende Pfeiler der Membran eine Brücke geschlagen wird. — Höchst abnorm und abenteuerlich gestaltet sind aber die beiden Gattungen Histioneis und Ornithocercus !, die eine kleine, durch den Besitz eines so- genannten > Hinterflügels« (eines accessorischen >» Leisten-Stachelapparates«) sowie durch eine sonderbare schräge Stellung der Querfurche charakte- risierte Gruppe bilden; letztere ist bei Hlistioneis in der Rückenlinie unterbrochen, bei Ornithocereus dagegen kontinuierlich. Bei letzterer ist der Hinterflügel ganz enorm entwickelt und reicht bis über die Mitte des Rückenrandes herauf, wo er durch mächtige, reich verästelte Rippen gestützt wird. Auch die Familie der Peridiniden hat einen so starken Zu- wachs durch Stein’s Untersuchungen erfahren, dass es schon schwerer fällt, sich in der bunten Mannigfaltigkeit der Formen zurecht zu finden. Sehr wichtig erscheint der Nachweis der Homologien für die einzelnen Teile der Membran der zahlreichen getäfelten Formen; es werden so- wohl vorn wie hinten zwei fast konstante Gruppen von Platten nach- gewiesen: Basalplatten, der Querfurche angelagert, und Frontal- platten oder Endplatten an den Körperpolen; auch die Kennt- nis der bereits längst bekannten Formen wird erheblich gefördert, be- sonders in dieser Hinsicht, und somit die Gattungsmerkmale noch ge- nauer als früher festgestellt. So wird nachgewiesen, dass die Membran der Ceratien vorn und hinten aus drei Basalplatten sowie vorne aus drei, hinten aus einer Frontalplatte gebildet wird; das vordere Horn wird aus den drei Frontalia zusammengesetzt, während das hintere linke Horn auch einen Fortsatz des hinteren Frontale darstellt; das hintere rechte Horn (»Seitenhorn«) wird dagegen von einer Basalplatte gebildet. Der ventrale Ausschnitt ist grösstenteils durch eine leicht herausfallende »Mundplatte« verdeckt, die eigentliche >Mundplatte« ist sehr schmal ?. — Die allermeisten Peridinidengattungen haben die Membran aus 5 Ba- salia vorne und hinten (ausser einer wechselnden Zahl von Frontalia) gebildet; hierher gehören die Gattungen Oxytoxum, Pyrgidium, Amphi- doma, Goniodoma, Gonyaulax, Diplopsalis; die interessanteste ist aber Ceratocorys, die einen ganz viereckigen Vorderkörper besitzt, der aus 5 Basalien und einem einzigen viereckigen Frontale besteht; letzteres trägt an seinen Ecken vier schwertförmige »Frontalhörner«; ausser- dem finden sich noch ein Rücken- und Bauchhorn, die zwischen den Basalia stehen; alle diese Hörner sind hohl und enthalten einen feder- förmig verästelten Kanal. Der Hinterkörper ist sehr reduziert, hat 5 ! Wahrscheinlich gehört hierher auch die von Pouchet beschriebene Di- nophysis galea (wenigstens teilweise). ? Von Ceratium-Arten hat Gourret 25 beschrieben, von denen die aller- meisten von allen anderen Verfassern nur als Varietäten betrachtet werden könnten. Pouchet dagegen verfährt in ganz derselben Weise wie Ref., stellt Formenkreise („groupe spec.“) auf. Man sieht hieraus, wie schwer es fällt, zu sagen, was Art, was Varietät ist. — Stein beschäftigt sich in der erwähnten Arbeit mit dieser Frage gar nicht. Wissenschaftliche Rundschan. 387 Basalia, aber keine Frontalia, ein Basale ist als Längsfurchenplatte aus- gebildet !. — Bei den Gattungen Blepharocysta und Podolampas sind (ausser den Frontalia) vorne 5, hinten 3 Basalplatten vorhanden. Noch grösser ist endlich bei der Gattung Peridinium? die Zahl der Basalplatten am Vorderkörper, wo sieben solcher und sieben der Frontal- region angehörige Platten vorhanden sind; am Hinterkörper finden sich 5 Basalia, sowie (gewöhnlich) 2 Endplatten. — Die Gattung Heterocapsa hat einen getäfelten Vorderkörper, die Membran des Hinterkörpers ist aber homogen. Mit der Gattung Protoceratium (Ref.) scheint die Steinsche Olathro- capsa identisch zu sein, die keine Täfelung, sondern eine netzförmige Struktur der Membran besitzt. Obgleich ersterer Name jetzt (nach dem Nachweis der Täfelung der Ceratiummembran) keinen Sinn hat, muss er leider doch nach den gewöhnlichen Prinzipien der Nomenklatur bestehen bleiben. — Die anderen Gattungen der Peridiniden, Glenodinium (mit homogener Membran), @ymnodinium (ohne solche) und Hemidinium (mit der Querfurche nur an einer Seite des Körpers) sind nur bildlich dargestellt. Die von EHRENBERG aus den Feuersteinen beschriebenen Xanthidien haben mit Desmidiaceen nichts zu thun (wie eine Zeitlang angenommen), sondern sind nach Stern arthrodele Flagellaten und sollen die Familie der Cladopyxiden bilden. Der Verfasser hat eine Quer- und Längs- furche nachgewiesen, erstere etwa äquatorial gelegen; der Körper ist in hohle, armartige Fortsätze, die sich dichotomisch verästeln, verlängert; der Charakter der Familie ist übrigens nicht bestimmter angegeben. Der Verfasser hat sein Material aus Salpenmägen. Den Übergang von den Peridiniden zu den Noktiluciden bildet nach SrEın die von ihm entdeckte Gattung Pyrophacus, die zwei durch ein schmales Gürtelband (Querfurche) verbundene, getäfelte Membranhälften besitzt; die >»Mundspalte< findet sich an der »Bauchschale< (wohl = hintere Schalenhälfte der Peridiniden), während an der »Rückenschale« (= vordere Hälfte) die für die Noktiluken charakteristische Stabplatte befindlich ist. Die Anzahl der Tafeln wird mit dem Alter vermehrt. Bei der ebenfalls neuen Gattung Ptychodiscus ist die Membran nicht getäfelt; zwischen Rücken- und Bauchpartie ist die Membran eingefaltet (» Gürtel- zone«). Noctiluca selbst endlich weicht von dieser eigentlich nur durch das Nichtgefaltetsein der Membran sowie durch das Vorhandensein von Tentakel und Tentakelgerüst ab. Über die nähere Stellung aller dieser Familien zu einander spricht STEIN sich sehr wenig aus; seine Arbeit ist wesentlich empirisch gehalten und mit Recht. Es ist indessen dem Ref. schwer verständlich, wie der Verf. einerseits die Prorocentrinen als die niedersten arthrodelen Flagel- laten ansieht, die den Übergang zu den moneren darstellen, und ander- seits die Dinophysiden im Vergleich zu den Peridiniden als die syste- ! Von Gourret wurde dasselbe Wesen auch beobachtet und unter dem Namen Dinophysis Jourdani beschrieben, indem der Verf. den Vorderkörper als Hinter- körper und umgekehrt auffasste. ? Worin offenbar auch die Protoperidinien vom Ref. und Pouchet aufgenom- men sind. 388 Wissenschaftliche Rundschau. matisch höhere Gruppe auffasst. Nach wie vor dem Erscheinen von Steın’s Werk scheint doch alles dem Ref. darauf zu deuten, dass die Dinophysiden unter den Diniferen diejenigen sind, die den Prorocentrinen (Adiniden) am nächsten verwandt sind !. Über den Bau des Protoplasma theilt Stein fast nichts mit. Kuees will bei den Süsswasser-Peridiniden nichts von Chlorophyllkörpern und von diffusem Diatomin wissen (Ref.), sondern gibt nur geformte Diatomin- träger an. — Der genannte Autor will ausserdem gesehen haben, dass der vom Ref. beschriebene »kontraktile Saum« nichts weiter ist als eine zweite Geissel, die durch ihre wellenartigen Bewegungen den Anschein einer undulierenden Membran hervorruft, sich aber durch Reagentien fixieren lässt. Ist dies richtig, so fällt natürlich die vom Ref. u. a. behauptete Verwandtschaft zu den Peritrichen weg. Es ist sonderbar, dass man sich über die Ernährungsverhält- nisse dieser Organismen noch so unklar und unbegründet aussprechen kann, wie es in den meisten der citierten Arbeiten der Fall ist. Ref. hatte versucht, eine vorurteilsfreie Darstellung dieser Punkte zu geben, indem er die verschiedenen Eigenschaften des Protoplasma bei verschie- denen Arten speziell hervorhob. Diese Ansichten haben wenig Beachtung gefunden; Stein und GourrEer behaupten die tierische Ernährung aller dieser Organismen, ohne indessen irgend welchen ordentlichen Beweis hierfür zu liefern, und Kress vindiziert wenigstens für alle die Süss- wasserformen die pflanzliche Ernährungsweise. Was endlich die Fortpflanzungsverhältnisse dieser Orga- nismen betrifft, so haben die verschiedenen Beobachter allerlei gesehen, indessen die Kette der Erscheinungen bei weitem nicht verstanden; auch gehen die Ansichten der einzelnen Forscher sehr auseinander. So hält Steım an Querteilung und Konjugation durch Vereinigung zweier Indi- viduen in der Längsachse fest, während nach Krres die Querteilung nicht existieren soll und das, was Stein für Konjugation hält, eine schiefe Längsteilung ist. — Die Kystenbildungen der Peridiniden sind von Stein nur bildlich dargestellt, ohne dass er im Text derselben Erwähnung thut; besonders schön sind die von ihm entdeckten Kysten der Ceratien. GourrkET fasst den Vorgang — soviel ich seine nicht sehr klar geschriebene Darstellung verstehe — so auf: Das Protoplasma zieht sich (bei Perid. divergens) innerhalb der Membran zusammen, diese wird abgeworfen, und es hat sich indessen schon eine Kyste gebildet, ! Einige systematische Versuche von Klebs, wie z. B. denjenigen, die Gattungen Gymnodinium, Glenodinium, Hemidinium und Peridinium wieder in eine Gattung zu verschmelzen, sowie ohne ordentliche Motivierung Gymnodinium spirale und Polykrikos aus der Gruppe der Üilioflagellaten zu entfernen, können wir wohl vorläufig auf sich beruhen lassen. Auch mit seiner Hinführung derselben als isolierte Gruppe unter den Thallophyten ist nicht viel gewonnen. ? Dieselbe Beobachtung hat mir auch Spengel (an Amphidinium) brief- lich mitgeteilt. — Die Weise, in der mich bez. dieses Punktes Gourret ceitiert, ist sehr merkwürdig, nämlich so, als hätte ich die „Cilien“ durch die zwei bei den Ceratien in der Querfurche befindlichen Porenreihen austreten lassen. Erstens spreche ich nicht von „Cilien“, sondern von „kontraktilen Säumen“, und zweitens habe ich schon vor Pouchet angegeben, dass diese aus Spalten am Rande der Querfurchen- leisten austreten. Wissenschaftliche Rundschau. 389 innerhalb welcher die Teilung sich vollzieht. Bei anderen Formen aber ist es sicher, dass das nackte Individuum erst eine Zeitlang frei herum- schwärmt (Ste). Schliesslich seien mit ein paar Worten einige höchst merkwürdige Erscheinungen bei den marinen Cilioflagellaten erwähnt, auf die PoucHhEr zuerst die Aufmerksamkeit gelenkt hat, denen er jedoch nicht vermocht hat näher auf den Leib zu rücken. Der genannte Verf. hat die Ceratien des Meerwassers mehrmals in ganzen Ketten gefunden, bis 8 Indi- viduen hinter einander, die in der Weise angeordnet sind, dass das vordere Horn des einen Individuums mit seiner Spitze immer an der Flagellumspalte des nächstvorhergehenden inseriert ist; nähere Angaben fehlen. Auch hat PoucHer bei Dinophysis beobachtet, dass zwei Indi- viduen bisweilen dos-ä-dos mit einander vereinigt sind; was das aber für einen Sinn hat, liegt auch noch ganz im dunkeln. Es geht aus diesen kurzen Bemerkungen hervor, dass, während die Morphologie und Systematik der Gruppe durch die schönen Unter- suchungen Sızin’s eine in gewissen Beziehungen ziemlich erschöpfende Bearbeitung gefunden hat, an vielen anderen Punkten der Naturgeschichte dieser Organismen noch viel zu thun übrig bleibt, um über die er- wähnten Verhältnisse einigermassen klar zu werden, und vielleicht wird es nur durch sorgfältige experimentelle Untersuchungen möglich sein, ‘ über die komplizierte Fortpflanzungsgeschichte sicheren Aufschluss zu erhalten. Es sei bei dieser Gelegenheit mit ein paar Worten auf eine ganz allgemeine Frage in der Naturgeschichte der Protisten hingewiesen, die von Prof. A. GrusEr' in Opposition zu den Anschauungen des Ref. er- örtert worden ist. In meiner erwähnten Arbeit hatte ich die Flagellaten- Ähnlichkeit der Schwärmsprösslinge der Heliozoen, Monothalamien und Radiolarien besonders hervorgehoben und für eine meiner damaligen phylogenetischen Hypothesen zu verwerten versucht. GRUBER sagt nun, man könne bei den Protozoen wohl von Wachstum, nicht aber von Ent- wickelung reden, und er führt als Beispiel für seine Auffassung die Mi- krogromia socialis Herrw. an. Indem diese Monothalamie sich teilt, bleibt das eine Individuum innerhalb der alten Schale zurück und bewahrt ganz die Rhizopodencharaktere; das andere schwärmt als ein ganz flagel- latenähnliches nacktes Wesen heraus und erst später bildet sich dasselbe in die Rhizopodenform um. GRUBER meint, man könne letzteres nicht Jünger als das erstere nennen, beide wären gleichaltrig, und deshalb könne man nicht von einer »Entwickelung« sprechen. Indessen damit ist der Hauptpunkt ganz ausser acht gelassen. Gewiss sind die beiden Individuen gleichaltrig, und ebenso gewiss macht das eine von denselben — das zurückbleibende — keine wesentlichen Formveränderungen durch; aber das andere geht eine ganz bedeutende morphologische Umbildung ein: von einem nackten geht es in einen membrantragenden Zustand über und statt der provisorischen Geissel hat es später als Bewegungs- "A. Gruber, Dimorpha mutans, eine Mischform von -Flagellaten und Heliozoen. Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. 36, pag. 445 —458, 1882. 390 Wissenschaftliche Rundschau. organe Pseudopodien. Erwägt man noch das Moment, dass das erste die ursprüngliche Schale und die Eigenschaften des Muttertieres unmittelbar behält, dann ist es gewissermassen (biologisch) als eine Mutter zu be- trachten, die den Schwärmsprössling lebendig gebiert; und noch viel schlagender wird dies, wenn innerhalb einer Radiolarie zahlreiche Schwärm- sprösslinge, die sich später zu ebensolchen Wesen umbilden, entstehen. Letzteres ist ganz ebensogut als »Entwickelung«< zu bezeichnen, als wenn ein Keim innerhalb einer Redie zu einer Cerkarie und diese später zu einem Distomum sich entwickelt. Ob dabei Zellteilung stattfindet oder nicht, ist für diese Frage ganz indifferent. Man kann bei Protozoen ebensogut wie bei Metazoen eine Entwickelung wahrnehmen, denn es gibt auch Entwickelung ohne Zellteilung. R. S. Berem (Kopenhagen). Chemie. Zur Entwickelungsgeschichte der modernen Chemie.' Die Zeit zur Abfassung einer objektiven Darstellung der Geschichte der neueren Chemie ist noch nicht gekommen, da die hierzu berufenen Fachmänner durch die eine oder die andere Richtung beeinflusst sind. Um so mehr ist es Pflicht derer, welche die Entstehung und das Wesen chemischer Theorien darlegen, alles auszuschliessen, was die vorauf- gehenden Entwickelungsstadien der theoretischen Chemie in falschem Lichte erscheinen lassen kann. Die historische Behandlung dieses Gegen- standes in manchen Lehrbüchern der organischen Chemie z. B. lässt in dieser Hinsicht sehr viel zu wünschen übrig; ja man kann darin vielfach Entstellungen nachweisen, welche sich zunächst vielleicht unbewusst ein- geschlichen haben, dann aber mehr und mehr in den Köpfen der gläu- bigen Leser sich festsetzen. Das unten citierte Buch von Aupr. Rau liefert für das oben Ge- sagte mannigfache und treffende Beweise. Das Werk ist ein in grossem Massstabe angelegter und durchgeführter historisch-kritischer Versuch einer Entwickelungsgeschichte der sogen. modernen Chemie. Dasselbe enthält eine stattliche Reihe von Protesten gegen die unhistorische Rich- tung der modernen chemischen Forschung; es wendet sich mit ein- schneidender Kritik gegen die Schäden der letzteren, ja es spricht manchen Anschauungen, welche von vielen Chemikern adoptiert sind, den wissenschaftlichen Charakter gänzlich ab. Das Buch Rau’s wird daher sehr vielen höchst unbequem sein; man wird sich bemühen, das- selbe tot zu schweigen, wie es schon mit den beiden ersten (vor 5, resp. 7 Jahren) erschienenen Abteilungen desselben seitens des che- mischen Publikums geschehen ist. Trotz des vornehmen Schweigens, in ! Albrecht Rau: Die Theorien der modernen Chemie, erstes Heft: „Die Grundlage der modernen Chemie“ (1877); zweites und drittes Heft: „Die Entwickelung der modernen Chemie“ (1879 u. 1884), erschienen bei Fr. Vieweg u. Sohn in Braunschweig. Wissenschaftliche Rundschau. 391 welches sich die Angegriffenen hüllen und welches Rau köstlich ge- kennzeichnet hat (vergl. S. 312 des letzten Heftes), bleiben die schweren, von ihm erhobenen Beschuldigungen bestehen. Verf. selbst wünscht dringend, eingehender Kritik unterworfen zu werden; er sagt S. 225/226 seiner letzterschienenen Schrift: »Auf Nachsicht mache ich nun keinen Anspruch. Im Gegenteil: je nachsichtsloser man mich beurteilt, desto mehr hoffe ich dabei zu lernen. Ich will, dass die Wahrheit heraus- kommt, und aus diesem sonderbaren Grund, lieber Leser, schreibe ich meine Bücher; ich greife nur an, um ordentlich widerlegt zu werden, und ich weiss, dass die Wahrheit auch dann mir noch liebenswert er- scheint, wenn ich ihr nicht nahe gekommen wäre, ja wenn das Suchen nach ihr mir nur Unangenehmes eingetragen hätte, und noch ferner ein- tragen würde!« Dem Wunsche des Verf. sollte seitens der modernen Chemiker, welche er mit scharfen Waffen angegriffen hat, Rechnung getragen werden. Arzr. Rau hat im Vorwort zu dem letzten Heft seines Werks eine gedrängte Übersicht von dessen Inhalt gegeben. Obwohl man sich da- durch schnell über letzteren sowie über den Standpunkt des Verfassers orientieren kann, so sei doch hier, für die Leser dieser Zeitschrift, in wenigen Zügen ein Bild von dem reichen Inhalt der dreigliederigen Schrift entworfen. Verf. hat sich die schwierige Aufgabe gestellt, die Entwickelung der modernen Chemie zu schildern. In dem ersten Hefte (1877 er- schienen) untersucht derselbe, wie sich aus dem Titel: »Grundlage der modernen Chemie« ergibt, den Grund und Boden, aus welchem diese sogen. moderne Chemie emporgewachsen ist. Dumas, der bekannte französische Chemiker, wird als Vater dieser ganzen Richtung gekenn- zeichnet. In schärfstem Gegensatz zu letzterer steht die klassische Chemie, deren gewichtigster Vertreter, BErzELıus, von Rau als Muster eines wahren Naturforschers hingestellt und gewürdigt wird. Dem von BERZELIUS ausgesprochenen, aus den Thatsachen naturgemäss abgeleiteten Satz, dass der Charakter der chemischen Verbindungen von der Natur der sie konstituierenden Elemente abhänge, war Dumas mit der gegen- sätzlichen Behauptung, dass nicht die Natur dieser Elemente, sondern ihre Lagerung für das Wesen der Verbindungen massgebend sei, ent- gegengetreten. Dieser Satz, welcher die höchst bedenkliche, weil exakt nicht er- weisbare Idee: der Lagerung von Atomen in sich schliesst, zieht sich wie ein roter Faden durch die Entwickelung der modernen Chemie, er ist — wie Rau meint — »der Grundgedanke der modernen Richtung bis zum heutigen Tage«. Wenn auch der Verf. in der Art und Weise, diese Behauptung zu begründen, häufig zu weit geht, so hat er doch im allgemeinen Recht, denn die Qualität der in einer Verbindung enthaltenen Atome wurde und wird noch jetzt von den Vertretern der modernen Öhemie zu wenig berücksichtigt. Auf die Entwickelung der letzteren haben, nächst ihrem Urheber (Dumas), LAURENT und GerHArRDT den bestimmtesten Einfluss geübt. Den 392 Wissenschaftliche Rundschau. Nachweis dafür sucht Rau in dem zweiten Hefte seiner Schrift zu liefern. Hier entfaltet der Verf. seine kritisch-dialektische Begabung in glänzender Weise. Entgegen der in den meisten historischen Darlegungen über die Entwickelung der Chemie gehegten und gepflegten Meinung, dass dem Dreigestirn: Dumas, LAURENT, GERHARDT eine hohe reformatorische Be- deutung zukomme, vertritt Rau den Satz, dass die genannten den Bau der wissenschaftlichen Chemie untergraben haben, ja er bezeichnet die- selben als Destruktoren. Diesen schweren Vorwurf begründet der Verf. durch die Kritik der phantastischen, von scholastischem Geiste erfüllten Systeme LAURENT’s und GERHARDT’s, insbesondere der Typen- theorie des letzteren. Dieser, mit Unrecht Theorie genannte Versuch, die organischen Verbindungen mit Hilfe eines künstlichen Systems zu klassifizieren, wird als toter Schematismus von Rau gekennzeichnet. Der Einfluss der von der klassischen Schule ausgehenden Strömungen namentlich auf GERHARDT wird gehörig berücksichtigt, so dass es auch in diesem zweiten Hefte der Rau’schen Schrift nicht an grell beleuchteten Gegen- sätzen zwischen der klassischen und der modernen Richtung fehlt. Noch schärfer als in den eben kurz besprochenen Heften treten sich die beiden Richtungen in der neuerdings erschienenen Schluss- abteilung gegenüber. Hier handelt es sich um die letzte Phase der modernen Chemie, um die Ausbildung der sogen. Strukturtheorie. In den beiden ersten Kapiteln entwickelt Rau in scharfsinnigster Weise die Entstehung des Paarungsbegriffs in der organischen Chemie, wie dieser von BERZELIUS geschaffen, von GERHARDT missbraucht wurde, wie an denselben KoLgE und FRANKLAND anknüpften und so zur Erkenntnis der Sättigungskapazität der Grundstoffe gelangten (Kap. III). Das Ver- dienst beider Forscher an der Feststellung dieses wichtigen Prinzips wird eingehend erörtert und gebührend gewürdigt, ganz im Gegensatz zu den Darlegungen über den gleichen Gegenstand in modernen Lehr- büchern!. FrAankLAnD ist es unbestreitbar gewesen, welcher zuerst die Lehre von der Sättigungskapazität der Grundstoffe präzis formulierte. Der Paarungsbegriff, welcher bis dahin zur Erklärung einer Reihe von Erscheinungen gedient hatte, konnte nun fallen gelassen werden, da die Ursache der Paarung in der Sättigungskapazität der Elemente aufge- ! Insbesondere die Einleitung zu Kekul&'s Lehrbuch der organischen Chemie hat vielen als Fundgrube gedient, aus welcher sie ihre Kenntnisse der Entwickelung der Chemie geschöpft haben. Darüber spricht sich einmal Kolbe wie folgt aus: „Von der Mehrzahl derer, welche in der Neuzeit chemische Lehr- und Handbücher schreiben, selbst von einem Verfasser der Entwickelungsgeschichte der Chemie (Ladenburg) ist und wird mit Vorliebe Kekul&’s Lehrbuch der Chemie als Hauptquelle benutzt. Daber kommt es, dass in jenen Schriften die schiefen Urteile und Entstellungen sich w iederfinden , woran Kekul&’s Lehrbuch überreich ist, und was noch schlimmer, bei der jüngeren (reneration von Chemikern der Glaube an die Richtigkeit der von Kekule in die Welt gesetzten Irrtümer mehr und mehr sich befestigt. “ Einen neuen Beweis für das Gesagte liefert der erste Abschnitt, betitelt: Entwickelung der organischen Chemie, in dem „aus- führlichen Lehrbuch der organischen Chemie“ von Schorlemmer und Roscoe (bei Vieweg & Sohn 1882 erschienen. Rau hat dies Verfahren der modern- chemischen Geschichtsschreibung an verschiedenen Stellen seiner Schrift ge- brandmarkt. Wissenschaftliche Rundschau. 393 funden war. Der Verf. betont mit Recht die Kontinuität, in welcher sich Korg und FRANKLAnD mit BerzeLıus befinden, während von moderner Seite diese für die Entwickelung einer Wissenschaft notwendige Kontinuität häufig durchbrochen wird. Obwohl durch jene Idee von der Sättigungskapazität der Grund- stoffe die Typenlehre GERHARDT’s gegenstandslos geworden war, so ver- suchte doch KERUL£, dieselbe durch Aufstellung der sogen. multipeln und der gemischten Typen zu erweitern, ohne sie im geringsten zu vertiefen (Kap. IV und V). Rau zeigt, dass »diese Art der Ableitung organischer Verbindungen aus einfacheren in einer blossen Dialektik bestand, bei welcher alle Realität in Dunst verging«; er weist ferner mit Geschick darauf hin, dass Kekur£ an seinem eigenen System ver- nichtende Kritik geübt hat, insofern er (K.) den »gänzlichen Mangel exakt wissenschaftlicher Prinzipien in der Chemie« betont (vergl. S. 74 ff.). Hieran knüpft Rau treffliche Bemerkungen über die Chemie als wahre Wissenschaft; der von Dumas, GERHARDT, KrKUuL& vertretenen Richtung wird die Wissenschaftlichkeit abgesprochen. Wie der Verf. dies harte Urteil zu begründen versucht, das ist im fünften Kapitel seiner Schrift nachzulesen. Während die von GERHARDT aufgestellte, von KEkULE weitergeführte »Typentheorie« Schiffbruch erleiden musste, lehrt Korse den natürlichen Zusammenhang zwischen unorganischen und organischen Verbindungen kennen: an Stelle der sterilen, mit scholastischen Elementen durchsetzten Typenlehre tritt eine lebendige Auffassung der organischen Chemie. Dies wird, an. der Hand einer besonders wichtigen Abhandlung Kousr’s (aus dem J. 1859) in Kap. VI und VII eingehend geschildert. Korsz steht auf den Schultern von BerzeLivs; die alte Radikaltheorie gewinnt durch ihn neues Leben, nachdem er unhaltbare Grundsätze (wie den von der Unveränderlichkeit der Radikale) abgestreift hatte. Der schon von Berzeuius geahnte Satz, dass die organischen Verbindungen Abkömmlinge der unorganischen seien, wird von KorsE in glänzender Weise durch- geführt und damit die Frage nach der chemischen Konstitution der organischen Körper beantwortet oder ihrer Lösung näher geführt. Namentlich Korpe’s Prognosen neuer Verbindungen, durch deren baldige Entdeckung sich erstere glänzend bestätigten, geben Rau Ver- anlassung, den Unterschied zwischen der klassischen Richtung und der modernen scharf hervorzuheben. In diesen Prognosen erkennt der Verf. den Anfang einer deduktiven Behandlung der Chemie ; seine von tiefem philosophischem Verständnis zeugenden Bemerkungen über Induktion und Deduktion, über deren Wechselbeziehungen bei wissenschaftlichen Unter- suchungen verdienen mit grösster Aufmerksamkeit gelesen zu werden !. ! In welcher Weise der Verf. philosophisches Kapital daraus zu schlagen weiss, geht aus folgenden, dem Vorwort (S. XVI) entnommenen Sätzen hervor: „So wurde es durch Kolbe klar, dass durch die vom Objekt bestimmte Forschung oder durch begriffliche Formulirung von Thatsachen sogenannte synthetische Er- kenntnisse a priori erzeugt werden können. Die durch Kant beeinflussten idea- listischen Philosophen waren bis jetzt der Meinung, dass solche Erkenntnisse nur deshalb erzielt werden könnten, weil in unserem Intellekte die formalen Elemente, 394 Wissenschaftliche Rundschau. Die letzten, am meisten ausgedehnten Abschnitte (VIII, IX und X) der Rau’schen Schrift gelten der Entwickelung der Strukturlehre, deren Zusammenhang mit der GerHAarpr'schen Typentheorie schon in einem früheren Kapitel (S. 66) angedeutet ist. Der Verf. charakterisiert diese Entwickelungsphase (und damit zugleich den Inhalt der letzten Kapitel) folgendermassen: »Das Wesen der Strukturchemie besteht zu- nächst darin, dass man die Sättigungskapazität der Grundstoffe, welche erfahrungsgemäss bei ein und demselben Element eine verschiedene sein kann, ohne dass für diese Verschiedenheit ein Grund angegeben werden kann, gleichwohl als eine konstante auffasste. Eine theoretische Be- gründung dieses Prinzips, welches gewöhnlich als konstante Valenz be- zeichnet wird, versuchte zuerst E. ERLENMEYER, dessen Theorie im Kap. VIII entwickelt und kritisiert wird. Kap. IX beschäftigt sich mit der Darlegung und Kritik der Ansichten von LoTHAR MEYER, ALEXANDER NAUMANN, A. Wurtz, SeuL und Büchner über konstante, beziehentlich wechselnde Valenz.« In welchem Zusammenhang mit den verschieden schattierten, modernen Lehren von der Valenz das sogen. Gesetz der Atomverkettung steht, das zu zeigen, ist Aufgabe des letzten Abschnitts. Hören wir auch hier Rau selbst, welcher am Schluss des Vorworts den Inhalt des Kap. X wie folgt zusammenfasst: »Durch die Lehre von der konstanten Valenz bekam nun auch das, was schon LAurEnT und GERHARDT als Lagerung oder Anordnung der Atome bezeichnet hatten, einen bestimmten Sinn. Da die konstante Valenz als eine endgültige Erkenntnis aufge- fasst wurde, über welche hinaus das Erkennen nicht zu dringen vermöge, so stellte man sich vor, dass durch die Erforschung der Konstitution der Verbindungen nichts weiter ermittelt werden könne oder solle, als wie die den zusammensetzenden Elementen beigelegten Werte unter einander gebunden seien oder wie sie sich gegenseitig absättigten. Diese Anschauung führte weiterhin zu der sogenannten Theorie der Atomver- kettung, welche im Kap. X eine kritische Darstellung findet. « In den drei letzten Abschnitten seines Werkes hält Verf. ein strenges Gericht über die »Theorien der modernen Chemie<: er weist mit logischer Schärfe die Anhäufung von unbewiesenen Hypothesen in der Lehre von der konstanten Valenz sowie von der Atomverkettung u. s. w. nach, polemisiert gegen die vermeintliche Erkenntnis einer räum- lichen Lagerung der Atome (»Struktur< der Verbindungen), unterwirft die Ansichten mancher Führer der modernen Richtung einer durch- dringenden, fast vernichtenden Kritik und deckt die bedenklichen Wider- sprüche, welche dieselben sich zu schulden kommen lassen, schonungslos auf. Mit Recht verurteilt Rau die in der neueren Geschichtsschreibung der Chemie eingerissenen Entstellungen und die historische Unkenntnis mancher Autoren (vergl. S. 171 ff., 188, 225, 332). Dass nach alle- welche alle Erkenntnis und die Erfahrung selbst bewirkten, bereit lägen. Durch jene Entdeckungen Kolbe's wird aber ein ganz anderes Licht auf die Entstehung „synthetischer Erkenntnisse a priori“ verbreitet; so wertvoll sie an und für sich für die Chemie sind, so enthalten sie noch eine Seite, welche den Bereich dieser Wissenschaft überschreitet,“ u. s. f. Wissenschaftliche Rundschau. 395 dem das Resultat für die moderne Chemie und ihre Vertreter höchst ungünstig ausfällt, ist leicht vorauszusehen (vergl. die Charakteristik der modernen Chemiker S. 304 u. a. a. Stellen). Dem oben in kurzen Zügen dargelegten Inhalte des Rau’schen Werkes seien einige allgemeine Bemerkungen über dasselbe angefügt. Aus dem obigen Referate ergibt sich schon zur Genüge der Standpunkt des Verfassers, welcher der modernen Chemie mit kritischem Schwerte zu Leibe geht. In unserer Zeit, welche — was namentlich die Chemie anlangt — durch Kritiklosigkeit ausgezeichnet ist, hat das Werk seinen besondern Wert. Wenn auch der Verf. in seinen Angriffen manchmal vielleicht zu weit geht, so wird doch dadurch manches Gute erreicht, sei es auch nur, dass der Nutzen des Buches darin besteht, dass ein Teil der Chemiker gegen ihre bisherige Anschauungsweise misstrauisch wird und fortan die theoretischen Speisen, welche ihnen dargeboten werden, statt sie gedankenlos zu geniessen, zuvor prüft. Rau sekundiert durch seine Kritik in wirksamer Weise KoLpE, welcher allein gegen die Lehren der modernen Chemie Front macht und sie unermüdlich bekämpft. Die Kritik RAu’s würde übrigens an und für sich nicht befriedigen und das nicht erreichen, was sie bezweckt, wäre sie nicht gestützt durch Qualitäten, welche zugleich die Hauptvorzüge des Werkes aus- machen. Dazu gehören in erster Linie die Einfachheit und Präzision der Sprache, sowie die Klarheit aller Erörterungen. Ein Gedanke folgt mit logischer Schärfe aus dem andern; man stösst nicht auf Gedanken- sprünge; alles steht vielmehr in harmonischem Zusammenhange. Verfasser beansprucht mit Recht dieselbe Klarheit und Präzision von jedem Schrift- steller, welcher vor das wissenschaftliche Publikum tritt; er verlangt scharfe Begriffe, umfassende Definitionen im Gegensatze zu den ver- schwommenen Begriffen und einseitigen Definitionen der modernen Chemiker. Wird dies Verlangen erst allgemeiner ausgesprochen werden, und bestreben sich vor allem die Lehrer der Chemie, demselben zu entsprechen, dann ist damit sicher eine Wendung zum bessern gegeben. Nicht minder wohlthuend, als das Streben des Verf. nach Schärfe des Ausdrucks und Klarheit der Gedanken, berührt uns sein Ringen nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit; von einer durchaus edlen Gesinnung ist sein Werk getragen, und daran wird nichts geändert durch eine gewisse Einseitigkeit, in welche er zuweilen verfällt. Von seiner Liebe zur Wahrheit sind seine energischen Proteste gegen die Ungebühr modern- chemischer Geschichtsschreibung, sowie seine schonungslosen Angriffe gegen Dumas wegen Aneignung fremden Verdienstes (vergl. S. 44 ff.) diktiert. Zu solchem Vorgehen ist gewiss nur ein Mann berechtigt, welcher immer an den Quellen schöpft, um den durch nichts getrübten Thatbestand festzustellen. Rau hat sich tiefe historische Kenntnisse angeeignet und weiss dieselben, dank einer ausserordentlichen Belesenheit, ausgiebig zu ver- werten. Seine Erörterungen über die verschiedenen theoretisch-chemischen Ansichten belebt er dadurch, dass er die betreffenden Autoren in aus- führlichen Citaten redend einführt; auf solche Weise versetzt er den Leser in zurückliegende Zeiten und in die damals vorhandenen Strömungen, lehrt auch die Eigenart der betreffenden Forscher kennen. 396 Wissenschaftliche Rundschau. Dass es neben soviel Licht in dem Rau’schen Werke an Schatten nicht fehlt, liegt auf der Hand. In seinem Eifer für die von ihm ver- fochtene Sache geht der Verf. nicht selten zu weit; sein Urteil wird in- folge dessen einseitig. Mit Vorliebe sucht er die schwachen Seiten der modernen Chemiker auf, wodurch seine Schrift einen stark polemischen Beigeschmack erhält. Trotzdem ist die Kritik Rau’s so gewichtig, dass die durch dieselbe Betroffenen sich nicht in Schweigen hüllen dürfen, sondern sich rechtfertigen müssen. Zu den kleinen Schwächen RAu’s gehört eine wenn schon selten vorkommende dialektische Pedanterie, welche ihren Grund in seinem Streben nach präzisem Ausdruck haben mag. So ereifert sich Verf. über die »konstanten Proportionen«, die »einfachen Multipla« (S. 185 ff.), über »abnorme Dampfdichten« (S. 246): Bezeichnungen, welche, einmal eingebürgert, selbst von Freunden exakter Ausdrucksweise anstandslos gebraucht werden. Endlich fühlt sich Referent gedrungen, der von Rau mit beson- derem Nachdruck verfochtenen Auffassung entgegenzutreten, wonach den Atomen eine reale Existenz nicht zukomme; vielmehr seien dieselben »nur begriffliche, durch unsere dermalige Auffassung bedingte Dinge« oder »Begriffe, die nur in dem Denkvermögen des Menschen wurzeln« (vergl. S. 191, 197, 278). Hier lässt der Verf., wie ich meine, zu sehr seine philosophische Seite hervortreten. — Die meisten spekula- tiven und zugleich exakten Chemiker werden sich zu einer solchen Auf- fassung nicht entschliessen können; für sie haben die Atome eine be- stimmte Grösse, bestimmtes Gewicht etc. (wenn auch bislang nur von ihrem relativen Gewicht die Rede sein kann). BwomstranD z. B., ein tüchtiger Vertreter und Förderer der Ideen Brrzeuıus’, hat sich in seiner »Chemie der Jetztzeit« (S. 395) über die Atome folgendermassen ausgesprochen: »Die Atome müssen nicht nur eine gewisse Schwere haben, sondern auch einen Raum einnehmen.< Bw. versichert an der- selben Stelle, sich in vollem Einklange mit Berzeuıus zu befinden. — Mit der obigen, von Rau als selbstverständlich aufgestellten Ansicht kehrt man wieder zu den von Boscowich im vorigen Jahrhundert an- genommenen Kraftzentren zurück. Die oben gemachten Ausstellungen an dem Rau’schen Werke werden übrigens durch die schon hervorgehobenen Vorzüge desselben in den Schatten gestellt. Wenn auch jetzt eine direkte Wirkung des Buches nicht zu verspüren sein sollte, so wird eine solche doch nicht ausbleiben. Mancher wird sich durch die kritischen Darlegungen des Verf. getroffen fühlen und Selbstkritik zu üben anfangen. Viele werden im stillen dem Autor die Hand drücken und ihm dafür danken, dass er sich nicht ge- scheut hat, mit scharfem Seziermesser Wunden und Schäden, an denen die heutige Chemie leidet, aufzudecken. Wem die fernere Entwickelung der Chemie, sowie der Naturwissen- schaften überhaupt, am Herzen liegt und wer sich für deren Geschichte interessiert, der wird das Werk Rau’s nicht ignorieren, vielmehr gründ- lich studieren und in sich verarbeiten. Möge dasselbe den Weg zu recht Litteratur und Kritik. 397 vielen Lehrenden wie Lernenden finden, möge es auch von den Jüngern der Philosophie gelesen und gewürdigt werden! Leipzig. ERNST vox MEYER. Litteratur und Kritik. Der Hypnotismus. Psychiatrische Beiträge zur Kenntnis der sog. hypnotischen Zustände, von Dr. KonkAap RiıEGER, Privatdoz. d. Psychiatrie a. d. Univ. Würzburg. M. 1 Kurventaf. und 4 Taf. in Lichtdruck. Nebst e. physiognom. Beitrag von Dr. Hans ViırcHow, Privatdoz. d. Anatomie in Würzburg. Jena, G. Fischer, 1884. 151 S. 8°. Der Titel dieses hochinteressanten Buches deckt nicht ganz seinen Inhalt, denn den »psychiatrischen Beiträgen«, welche sich naturgemäss nur auf den Menschen beziehen können, ist ein Abschnitt »über den Hypnotismus der Tiere< vorausgeschickt, der ausschliesslich ins Gebiet der Physiologie und Experimentalpsychologie fällt. In der That wird auch im übrigen Buche nur sehr wenig auf diesen ersten Abschnitt (17 S. mit 1 Taf.) bezug genommen. An sich ist derselbe aber wert- voll genug. Der Verfasser experimentierte fast nur mit Fröschen, einige- male auch mit Vögeln (Ente und Zeisig). Durch einfaches ruhiges Hal- ten der Tiere in einer unnatürlichen Stellung (aufrecht hockend z. B.) führt er dieselben in einen bewegungslosen Zustand über, der, wie über- zeugend bewiesen wird, weder ein gewöhnlicher Schlaf ist (HrusEr), noch auf Schrecklähmung beruht (Preyer), noch mit dem »sich tot stellen« der Frösche irgend etwas zu thun hat; er muss also einstweilen als Hypnotismus bezeichnet werden, wobei man aber nicht an die etymo- logische Bedeutung des Wortes denken darf. Über das eigentliche Wesen dieses Zustandes gibt Verfasser sehr dankenswerte Aufschlüsse: vor allem wird konstatiert, dass auch bei so niedrig stehenden und stumpfsinnigen Tieren, wie die Frösche es sind, die individuelle Prädisposition eine wohl ebensogrosse Rolle spielt wie bekanntlich beim Menschen und dass ebenso durch allmähliche Gewöhnung und Einübung selbst bei anfangs sehr widerspenstigen Individuen ein immer rascherer und sicherer Erfolg erzielt werden kann. In einer ihm natürlichen Stellung aber wird ein Frosch niemals hypnotisch ; es kommt in der That nur auf die ihm auf- genötigte fremde Stellung, auf die Änderung seines Bewusstseins vom eigenen Körper bei passivem Verhalten des letzteren an, alle sonstigen Verhältnisse (Vermehrung oder Verminderung der Tasteindrücke u. s. w.) sind durchaus nebensächlich. Sensibilität und Reflexerregbarkeit er- scheinen in sehr wechselndem Grade beeinflusst: im günstigsten Falle kann man das Tier an der Rückenhaut aufheben bei schlaff herab- hängenden Beinen, häufig aber zieht es ein aus der Ruhelage gebrachtes Bein sofort zurück. Eben dieser Inkonstanz der Erscheinungen wegen kann daher auch noch nicht davon die Rede sein, den Hypnotis- mus auf bestimmte physiologische Vorgänge zurückzuführen und etwa 398 Litteratur und Kritik. durch Zuhilfenahme vivisektorischer Versuche Art und Ort der Bewusst- seins- und Innervationsstörung ermitteln zu wollen. Worauf aber das eigentümliche Verhalten der Gliedmassen, ihre sogenannte »wächserne Biegsamkeit«, in derjenigen Modifikation des hypnotischen Zustandes, die man als »Katalepsie« unterscheidet, eigentlich beruht — dass sie sich wie eine zähe unelastische Masse beliebig strecken und beugen lassen und in jeder ihnen gegebenen Lage starr verbleiben — das hat Verfasser bereits in einer früheren Arbeit! nachgewiesen: der nächste Grund liegt in einer Verkehrung des normalen Muskelantagonismus. Auch im normalen Zustande werden nämlich, was meist ganz vergessen, vom Ver- fasser aber durch höchst einfache Versuche bewiesen wird, bei Ausführung jeder Bewegung, mag es eine Beugung oder Streckung etc. sein, nicht bloss die betreffenden Flexoren resp. Extensoren, sondern auch ihre Antagonisten deutlich innerviert, jedoch so, dass die zu den eigentlich thätigen Muskeln gehenden Innervationsströme weitüberwiegen und diejenigen der Antagonisten in jedem Augenblick entsprechend der veränderten Spannung aufs feinste abgestuft werden. In der Hypnose dagegen scheinen beiderlei Muskel- gruppen ungefähr gleich starke Innervation zu erhalten, so dass eine Art von Gleichgewichtszustand besteht und die Gliedmassen steif erhal- ten werden; und wird dies Gleichgewicht durch aktive oder passive Be- wegung der Gliedmassen gestört, so stellt sich dasselbe langsamer wie- der her, was eben den Bewegungen hypnotischer Menschen den »chorea- tischen< (an Veitstanz erinnernden) Charakter verleiht. Damit sind wir bereits zur zweiten Abteilung des Buches, welche »die hypnotischen Erscheinungen beim Menschen« behandelt, übergeleitet worden. So anziehend und lehrreich die Einzelheiten der vom Verfasser mit grösster Sorgfalt, Sachkenntnis und, was wir hervorzuheben nicht vergessen wollen, mit warmem menschlichem Mitgefühl für seine Patienten angestellten Untersuchungen sind, wir müssen uns doch auf die Erwähn- ung der wesentlichsten Resultate beschränken. Er erzielt die gewünschte Wirkung immer nur durch Fixierenlassen eines beliebigen Gegenstandes, also durch Beeinflussung der Augenmuskeln. Als mehr oder weniger bald eintretende Folge lässt sich nur ganz im allgemeinen ein abnormer Geisteszustand bezeichnen, der aber im einzelnen die grössten Verschie- denheiten zeigen kann; bald besteht er nur in einer gewissen Schläfrig- keit und Aufhebung der Empfindlichkeit, die betreffende Person ist höch- stens zu einigen Nachahmungsbewegungen zu bringen; eine andere bleibt zwar ohne äusseren Anstoss auch ruhig, kann aber, da ihre Gliedmassen vollkommen kataleptisch (wächsern biegsam) sind, in die verschiedensten Stellungen gebracht und dadurch oder durch blosse Worte auf alle mög- lichen Wahnvorstellungen übergeleitet werden; dabei behält sie stets eine richtige Kenntnis ihrer eigenen Persönlichkeit, nur die Aussenwelt ist ihr gänzlich verrückt; eine dritte behält ihr Sprach- und zudem auch ihr sonstiges Bewegungsvermögen, lässt sich zwar keine Wahnvorstell- ungen unterschieben, erzeugt aber aus eigener Einbildung konstant eine ! „Über normale und kataleptische Bewegungen“, im Arch. f. Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Bd. XIH, 1882. Litteratur und Kritik. 399 verkehrte Auffassung wenigstens eines Teiles ihrer Aussenwelt. So scheint es also ganz von individuellen Verhältnissen abzuhängen, wie sich die Geistesstörung ausgestaltet. Diese muss natürlich auf einer Veränder- ung im Gehirn beruhen, welche aber nicht anatomischer, sondern nur funktioneller Natur sein kann. Genaueres lässt sich darüber nicht sagen. »Nur so viel ist sicher,« meint Verfasser, »dass es nicht etwa andere Hirnteile sein können, unter deren Vermittelung im normalen und ab- normen Zustand gehandelt und gesprochen wird. Wem dieser Satz nicht unmittelbar aus den angeführten Thatsachen evident ist, für den wäre auch jede weitere Beweisführung verloren.e Trotzdem möchten wir uns hier eine abweichende Meinung auszusprechen erlauben. Wir sind auf Grund der Entwickelungslehre doch unstreitig zu der Annahme berechtigt, dass die Höherentwickelung des Gehirns in der Wirbeltier- reihe bis hinauf zum Menschen wesentlich darauf hinausläuft, dass in die ursprünglich fast rein reflektorisch sich abspielenden Nervenvorgänge immer kompliziertere Anschlussleitungen sich einschieben, die einerseits als einfache Hemmungsmechanismen wirksam werden, anderseits Zentren eigener höherer Thätigkeit darstellen. Beim zivilisierten Menschen, so dürfen wir voraussetzen, hat die Entwickelung dieses neuen Erwerbes ihre höchste Stufe erreicht; auch bei ihm aber bestehen die ursprüng- lichen und ein grosser Teil der im Laufe seiner langen Vorgeschichte all- mählich denselben superponierten Nervenverbindungen und Zentren noch fort, und wenn sie auch während seines normalen wachen Zustandes nur unter genauer Kontrolle all der höchsten Hirnpartien arbeiten, deren Thätigkeit sein sittliches und gesellschaftliches Verhalten gegenüber dem seiner wilden Vorfahren auszeichnet, so können sie doch häufig genug, unter teilweiser oder gänzlicher Ausschaltung der letzteren, für sich allein funktionieren; solche Zustände müssen sich dann nach aussen als merk- würdige Kombinationen von Wachen und Schlafen, als partielle Rück- fälle in vorelterliche Auffassungen, als scheinbar ganz regelloses Über- wiegen einzelner Thätigkeitsseiten des normalen Menschen u. dgl. kund- geben. Es ist das natürlich nichts weiter als eine ganz provisorische Hypo- these, welche der Herr Verfasser gleich jedem anderen derartigen Versuch schroff zurückweisen wird; wir möchten ihm aber zu bedenken geben, dass seine Annahme von der Identität der im abnormen und normalen Zustand dieselben Äusserungen vermittelnden Hirnteile einstweilen auch nur eine Hypothese ist, und zwar eine, die dem Suchen nach etwaigen an- deren Möglichkeiten gewaltsam die Thüre verschliesst, während die oben vorgetragene von der gelegentlichen Ausschaltung einzelner Zentren und ‚ Leitungsbahnen wenigstens den Vorzug hat, zu weiteren Versuchen an- zuregen und zugleich mit den phylogenetisch begründeten Anschauungen über den Aufbau des Gehirns im Einklang zu stehen. Nur andeutungsweise können wir noch der wertvollen Untersuch- ungen über unmerkliche Bewegungen des ausgestreckten Armes im nor- malen und kataleptischen Zustande (welche durch die Kurventafel treff- lich erläutert werden) und der genauen Unterscheidung zwischen Tast- empfindlichkeit und Schmerzgefühl, zu welcher die Prüfung der Hypnotischen Anlass gibt, gedenken, und den dritten und umfänglichsten Abschnitt des AND Litteratur und Kritik. Buches: >Hypnotismus und Verrücktheit<, müssen wir leider ganz un- besprochen lassen, da er zu weit ins psychiatrische Gebiet hineinführt. Er behandelt hauptsächlich die oft so tief einschneidende Frage der Zu- rechnungsfähigkeit so klar und verständnisvoll, dass auch jeder Laie diese Darstellung mit Genuss lesen wird. Nicht mindere Anerkennung aber wird gewiss endlich der physiognomische Anhang finden, worin Dr. H. VıircHow eine höchst feinsinnige Analyse des Gesichtsausdruckes eines hypnotisierten Mädchens gibt, wie er auf 3 Lichtdrucktafeln festgehalten ist. Die dritte dieser Tafeln ist aber auch ein wahres Kabinettstück. Es genügte, das betreffende sehr religiös gesinnte Mädchen im hypnotischen Zustand durch geeignete Worte und indem man ihre Hände in betender Stellung empor- hob, in fromme Visionen zu versetzen — und regelmässig nahmen ihre Züge, verbunden mit der Haltung des Kopfes und des ganzen Körpers, einen Ausdruck an, welcher die höchste ekstatische Verzückung in wahr- haft wunderbarer Vollendung widerspiegelt. Mit vollem Rechte empfiehlt Verfasser diese Photographie namentlich auch den Künstlern als bestes, weil geradezu einziges wirklich naturwahres Vorbild für die Darstellung jenes so oft schon von der bildenden Kunst reproduzierten Zustandes. So unschön die Züge des Mädchens, so geschmacklos sein Anzug, so ein- fach das ganze Bild, — man vergisst das alles beim Anblick dieser un- beschreiblich rührenden Innigkeit, dieser absoluten Harmonie des Aus- drucks. Unwiderstehlich schwebt die Figur vor unserem Blick empor, ohne Zwang, fast freudig, trotz aller Starrheit und obgleich man die erhobenen Arme nur aus der Lage der Schultern errät. — Doch wir wollen uns nicht verleiten lassen, ein klägliches Pendant zu der meister- haften Interpretation des Verfassers zu liefern, und schliessen mit dem Wunsche, das hier so schön begonnene Werk, das für die Kunst ganz neue Bahnen zu erschliessen verspricht, möge von seiten der beiden Herren Verfasser recht bald weiter ausgeführt werden. Ns Ausgegeben den 31. Mai 1884. Die Entwickelung der Sittlichkeitsidee. Von B. Carneri. Darwın ist der Denker, welchem in betreff der Erkenntnis die Menschheit nach Kant am meisten zu Dank verpflichtet ist. Erst seit Kant wissen wir, daß alles Denken, welches den Boden der Erfahrung verläßt, nur leeren Hirngespinsten nachjagen kann. Allein wie klar auch durch ihn die Thätigkeit des reinen Denkens uns zum Be- wußtsein gekommen war: so oft wir an seiner Leuchte die Erfahrung selbst untersuchten, nach einem in sich abgeschlossenen Natur- erkennen strebten, gelangten wir an einen dunkeln Punkt, auf welchem das Diesseits in ein Jenseits hinüber zu führen schien. Allerdings wußte jeder, der über letzteres mit sich im klaren war, mit einem non liquet sich zu bescheiden. Der empfindlichere Mangel betraf eine andere Seite: mit dem Raum, der Zeit und Kausalität gab es kein Auslangen, sobald es galt, die Welt der Erscheinungen vom Standpunkt ihrer Ent- stehung aus in einen uns ganz verständlichen Zusammenhang zu bringen: die Schöpfung blieb unerklärt. Wir denken da nicht an eine Erklärung, wie sie unsern modernen Hyperkritizisten vorschwebt, für welche es gar keine Erklärung mehr gibt, wenn nicht das Ansichsein der Ursachen und Wirkungen aufgedeckt, sozusagen bei allem bis zum Urgrund vorgedrungen wird. Was uns da vorschwebt, geht über das nicht hinaus, was ganz korrekt Naturbeschreibung genannt wird; aber wir verstehen darunter eine Beschreibung, welche uns die Schöpfung widerspruchslos als eine natürliche erscheinen läßt. Selbst einem genialen Denker wie Kanr war es bei dem damaligen Stande der Naturwissenschaft nicht möglich, die Zweckmäßigkeits- lehre vollständig zu überwinden. Ihm war es klar, dab das Setzen eines Zweckes Denken voraussetzt; dab der ganze Zweckbegriff erst mit dem Bewußtsein und nur für das bewußte Wesen da ist; daß folglich die Annahme einer Zweckmäßigkeit in der Natur den Grundsätzen einer strengen Kritik widerspricht: allein damit stand er vor der Schöpfung ohne Schöpfer als vor einem Rätsel, unauflösbar, solang die Weise ihrer Entwickelung nicht begreiflich zu machen war. Den einzelnen Organismus (Kritik der Urteilskraft, Frankfurt und Leipzig 1794, Kosmos 1884, I. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XIV). 26 4093 B. Carneri, Die Entwiekelung der Sittlichkeitsidee. a $. 65, 8. 295) konnte er, vom Gesichtspunkt des Ganzen aus ihn be- trachtend, als Selbstzweck auffassen. Damit war jedoch für die all- gemeine Zweckmäßigkeit in der Natur nichts gewonnen, insofern für alles Anorganische nur die Untersuchung nach mechanischen Grundsätzen übrig- blieb und der Zusammenhang des Anorganischen mit dem ÖOrganischen durch die Art der Unterscheidung noch dunkler wurde. Kanr sprach daher der Teleologie alle objektive Gültigkeit ab und beschränkte sich auf eine subjektive Gültigkeit, welche die Urteilskraft »der Natur als transcendentale Zweckmäßigkeit (in Beziehung auf das Erkenntnisvermögen des Subjektes) beilegt: weil wir, ohne diese vor- auszusetzen, keine Ordnung der Natur nach empirischen Gesetzen, mithin keinen Leitfaden für eine mit diesen nach aller ihrer Mannigfaltigkeit aufzustellende Erfahrung und Nachforschung derselben haben würden«. (A. a. O. Einleitung S. XXXVI) Die Teleologie spielt daher in der »Kritik der Urteilskraft« die Rolle eines praktischen Postulates und bildet den Übergang zu den Postulaten der praktischen Vernunft; denn, ist die Natur zweckmäßig eingerichtet, so gibt es Einen, der die Zwecke setzt, die Schöpfung hat ihren Schöpfer, und nimmt man diesen an, so wird die Annahme einer freien und unsterblichen Seele zu einer nahebei selbstverständlichen. Allerdings nimmt Kant, was er da mit der einen Hand gibt, mit der andern Hand wieder; jedoch nicht alle lassen sich alles wieder nehmen, und die Versuche, aus ihm und Arısrorkues eine haltbare Zweckmäßigkeitslehre zu konstruieren, sind zahllos. Es verhält sich aber damit wie mit den Zahnmitteln, die auch nicht zahllos wären, wenn eines davon den Schmerz beseitigen würde. Man braucht darum nicht gleich an Charlatanerie zu denken. Die Deszendenzlehre hat zwar einen bis dahin ungeahnten Einblick in die Schöpfungsgeschichte gewährt; aber die Entstehung der Gattungen setzte Schöpfungsakte voraus, welche als ebenso viele Stützen der Teleologie sich darstellten, insofern vom Begriff eines Urhebers der Begriff des beabsichtigten Zweckes gerade so unzertrenn- lich ist, wie von der Vorstellung einer zweckmäßig eingerichteten Welt die Vorstellung eines Urhebers. Die Bestrebungen, durch eine strenge Unterscheidung zwischen Ziel und Zweck und durch eine streng gar nicht durchführbare Ausscheidung der Absicht aus dem Zweck- begriff ein Mittelding zwischen Teleologie und Dysteleologie zu schaffen, haben naturnotwendig immer das Los aller Halbheiten ge- teilt und der dunkle Punkt, dessen wir zu Anfang dieser Erörterung er- wähnt haben, ist aller Vernunftkritik zum Trotz dunkel geblieben bis zum Erscheinen Darwın’s. Ihm verdanken wir die Möglichkeit einer ganz in sich abgeschlossenen kritischen Weltbetrachtung, und es ist charakteristisch, daß gerade von diesem wichtigsten Erfolg seiner Lehre am seltensten gesprochen wird. Mag an diesem oder jenem Detail seiner Arbeiten noch so sehr gemäkelt werden können: die Hauptsache, die Entstehung der Arten, das Entfallen der Gattungen, die das ge- samte Werden beherrschende Evolution steht fest. Alles Werden folgt ausschließlich den gegebenen Bedingungen, so dab, wie wir schon wiederholt hervorgehoben haben, anstatt daß die Mittel zu bestimmten B. Carneri, Die Entwickelung der Sittlichkeitsidee. 403 Zwecken sich fänden, vielmehr dieZwecke nach denMitteln sich richten. Damit entfällt jede Notwendigkeit, an einer wenn auch nur subjektiven Zweckmäßigkeitslehre festzuhalten, und ist an die Stelle der göttlichen die natürliche Schöpfungsgeschichte getreten. Das größte Verdienst an der Verbreitung dieser Auffassung und an der unerschrockenen Bloßlegung ihrer letzten Konsequenzen gebührt Ernst HazcreL. Mag die in Zug befindliche Reaktion die ganze Welt er- greifen: die ganze Welt kann an dieser zweiten Riesenthat des Menschen- geistes nichts ändern. Ehe wir fortfahren, müssen wir der Reaktion unserer Zeit ein paar Worte widmen. Dabei wollen wir aber ganz absehen von der Reaktion, welche den Regierungskreisen entstammt und welche uns in das Gebiet der Politik hinüber drängen würde, mit dem wir uns hier nicht zu be- schäftigen haben. Wir berühren sie nur, weil wir später auf sie zurück- kommen, insofern ihr Streben auf ein Verkümmern freiheitlicher Insti- tutionen gerichtet ist, deren Wert für die Sittlichkeit wir im Verfolg dieser Auseinandersetzung zu kennzeichnen haben werden. Ihre Ab- sichten sind keine bösen; sie hält sie sogar für die allerbesten: sie entspringt einer erstaunlichen Kurzsichtigkeit, die, wie sie ihr nicht ge- stattet, zu sehen, was sie thut, sie auch die Mächte nicht bemerken läßt, die sie gegen sich entfesselt und die im Handumdrehen sie be- seitigen werden. In welchem Sinn dies geschehen und wer dabei zuerst seine Rechnung finden wird, wir unterfangen uns nicht, es jetzt schon vorauszusagen. Was hier zunächst unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist die Reaktion in den regierten Regionen, im Volke selbst, und zwar nicht in des Wortes wegwerfender Bedeutung; denn die Bewegung hat bereits in ausgedehntem Maße Schichten ergriffen, die zu den gebildeten gerechnet werden. Diejenigen, die heute wieder an Hexen glauben — man nennt sie Spiritisten — zählen nach vielen Tausenden, und es ist dies eine Raserei, wie gesagt, nicht etwa des Pöbels; dieser weiß gar nichts von der modernen Geisterseherei. Und diejenigen, die heute in einer halb religiösen, halb Rassenverfolgung sich gefallen, welche den menschenunwürdigsten Phasen des Mittelalters Ehre machen würde — sie nennen sich Antisemiten — zählen nach Hunderttausenden ; da- bei ist auch der Pöbel beteiligt, aber die Führer gehören zu den soge- nannten Gebildeten. Es sind dies zwei Erscheinungen, die noch vor kurzem niemand mehr für möglich gehalten hätte. Berücksichtigt man die Fortschritte, welche der Mensch im letzten halben Jahrhundert auf allen Gebieten des Wissens und Könnens gemacht hat, so ist die Sache ganz besonders erstaunlich, weil man nicht umhin kann anzunehmen, es habe die Bildung zugenommen. Sie hat es auch, und gar viele schreiben gerade ihr, der Überbildung unserer Zeit, diese saubern Er- scheinungen zu und was sonst noch alles unsere Zeit verunzieren mag. Die Freigeisterei, die Glaubenslosigkeit sollen die Hauptschuldigen sein. Ja, die Geister sind frei, sogar die Gespenster sind es. Aber der Glaube? Spielt der nicht dabei eine ganz hervorragende Rolle? Man wird uns einwenden: der Aberglaube! Allein wird von der Kirche, der eigent- lichen Pflanzstätte des Glaubens, der Glaube wirklich in einer Weise ge- 404 B. Carneri, Die Entwiekelung der Sittlichkeitsidee. lehrt, die den Aberglauben ausschließt und das jugendliche Gemüt vor- nehmlich zur Nächstenliebe, der ersten und letzten Wahrheit alles gött- lichen Glaubens, heranzieht? Und der neueste Geisterglaube, wird er nicht wissenschaftlich begründet und in Zusammenhang gebracht mit der Religion? Man lese ihre neuesten Schriftsteller, z. B. Casprowıez. Wir können dies alles hier nur andeuten, hoffen aber, selbst jene, die uns nicht zustimmen, zum Nachdenken anzuregen, wenn wir den Satz auf- stellen: daß die schmählichsten Verirrungen unserer Zeit im Glauben an eine Doppelnatur des Menschen ihre stärkste Nahrung finden und daß sie nicht ins Mittelalter zurückdrängen würden, wenn sie ihre Ouelle hätten im Fortschritt. Für uns ist dies von hoher Bedeutung, weil unserer Überzeugung nach die Feststellung ethischer Grundsätze und mit ihnen der Richtung, welche die sittliche Anschauung dem Gemüt gibt, viel weniger durch das Ideal, das man 'sich davon schafft, denn durch die Auf- fassung der Menschennatar bedingt ist. Das Ideal des sittlichen Menschen ist, sobald die Bedingungen zu seiner Heranbildung gegeben sind, gewisse exzentrische, aber gerade darum nicht mabgebende Aus- nahmen abgerechnet, immer fast genau dasselbe; es ist nur roher oder veredelter je nach der betreffenden Kulturstufe. Betrachtet man gar seine wissenschaftlichen Bearbeitungen, so ist die Übereinstimmung eine derart auffallende, daß einem die Heftiekeit, mit der die Verfechter der verschiedenen Systeme einander befehden, schwer begreiflich wird. Das eigentlich Unterscheidende liegt in der Aufdeckung dessen, was zur Sittlichkeitsidee führt, nämlich, was die Menschheit überhaupt dazu gebracht hat, diese Idee zu erfassen, und den einzelnen fort und fort auf ihre Spur leitet. Die Verschiedenheit der betreffenden Erklärungen beruht auf der Gestaltung der Weltanschauung, weil nach deren wichtigstem Charakterzug die Charakterisierung des Menschen selbst sich richtet. Allerdings ist der Mensch immer derselbe; allein als eine bloße Erscheinung in der Welt der Erscheinungen gilt er jedem Zeitalter, aber auch jedem Forscher als das, was der über ihn gefaßten Vorstellung entspricht. Ist die Weltanschauung eine streng dualistische, so bestimmt den Menschen zum Handeln ein für sich existierender Geist, der in einer andern Welt, gleichviel ob als Strafe und Belohnung oder als bloße Folge, die Wirkungen seines diesseitigen Wandels empfinden wird und vor allem eine Ausgleichung der irdischen Ungerechtigkeiten, welche diese Weltanschauung anerkennt, zu erwarten hat. Ist dagegen die Weltanschauung eine streng monistische, so ist es der ganze Mensch, der denkt und handelt, und vollendet sich seine ganze Existenz in diesem Leben. Dort spiritualistisch, hier pantheistisch, kann die Gottes- vorstellung beide Weltanschauungen beherrschen; während die An- nahme des Determinismus mit der erstern vereinbar, bei der letztern unvermeidlich ist, folglich die Frage der Willensfreiheit nur bei der erstern, insofern ein Riß durch die Kausalität schon vollzogen ist, ernst- lich zur Sprache kommen kann. Bestimmend im vollen Sinn des Wortes ist für die ethische Entwiekelung des Menschen der Glaube an eine andere Welt, B. Carneri, Die Entwickelung der Sittlichkeitsidee. 405 nicht nur weil durch ihn der Tugend ein besonderer Zweck zugeschrie- ben, sondern weil dieser Zweck als ein entscheidender dargestellt wird, so zwar, daß ohne ihn die Tugend sinnlos, folglich unmöglich und das ganze irdische Dasein wertlos wäre. Auf wen machen die Worte des Propheten Jrsara: »Laßt uns essen und trinken, wir sterben doch morgen« (XXI, 13), nicht einen tiefen Eindruck, wenn sie ein Mann wie der h. Paurus in folgende Verbindung bringt? »Habe ich mensch- licher Meinung zu Ephesus mit den wilden Tieren gefochten? Was hilft mir’s, so die Toten nicht auferstehen ? Laßt uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot.«< (I. Korinther 15.) Sollte dieser seltene Mann wirklich gedacht haben, daß diese Erde nichts besseres biete als Essen und Trinken, daß diesem Leben kein hohes Ziel abzuringen sei? Liest man im h. Ausustin die merkwürdigen Worte: »Ich sprach mit meinen Freunden Alypius und Nebridius über das höchste Gut und das größte Übel und erklärte, ich würde in meinem Herzen dem Erıkur den Preis zuerkennen, wenn ich nicht glaubte, dab nach dem Tode noch ein Leben der Seele und ein verdienter Lohn übrig wäre, was ErIkUR nicht zugeben wolltes — (Bekenntnisse, deutsch, Frankfurt a. M. 1866, Buch VI, Kap. 16, S. 138); und vergleicht man damit die Gewissens- bisse, welche in einem so edlen Herzen und hochgebildeten Geiste der bloße Gedanke hervorrief, friedlich mit zwei Freunden darüber gesprochen und sogar gefragt zu haben, warum wir bei einem ewigen Erdenleben auch nicht ganz glücklich wären und was wir noch zu suchen hätten: so ermibt man die ganze Tiefe des Abgrunds, den der Blick in ein Jen- seits vor dem menschlichen Gemüt erschlossen hat. Allerdings haben wir es hier mit Offenbarungen, mit dem einfachen Gottesglauben zu thun. Gehen wir zu einem der edelsten Denker der Neuzeit über, der zum sogenannten philosophischen Gottesglauben sich erhoben hatte. In seinen »Briefen an eine Freundin« kommt WILHELM von HumsoLpr auf jene Worte des Apostels zu sprechen; er faßt sie im erhabensten Sinn auf, indem er eine Beschäftigung mit dem überirdischen Dasein, welche die irdischen Wohlthaten der Vorsehung uns verkennen läbt, ebenso ver- wirft, wie das Versunkensein in rein materielle Genüsse: allein er hält fest an einer Vorsehung und gelangt, auf die Unsterblichkeit übergehend, schließlich zu dem Ausspruch: »Wären wir nicht gleichsam schon ausgestattet mit dieser Gewibheit auf die Erde gesetzt, so wären wir in der That in ein Elend hinabgeschleudert. < (A.a. O. Leipzig 1848, zweite Aufl. B. II, S. 270, Brief 56.) Wir sagen ja nicht: Es kann keinen Gott geben. Die Erkenntnis der Beschränktheit unseres Wis- sens gestattet uns dies nicht, und ein solches Wort macht immer auf uns den Eindruck der Roheit. Wir sagen nur: Wir finden Gott nir- gends, die ewige Vorsehung erscheint uns als ein schöner Wahn, und unser gesamtes Wissen spricht gegen die Unsterblichkeit. Es kann ja sein, daß die Gläubigen höher stehen: wir können auf ihren Standpunkt uns nicht emporschwingen, und wie Einer, der auf eine fremde Insel ver- schlagen, anstatt zu verzweifeln, ringsum nach Nahrung sucht, fragen wir einfach: Gibt es in Wahrheit auf Erden nicht so hohe Ziele, dab daran der Mensch sich erheben könnte über das Elend des Lebens? 406 B. Carneri, Die Entwickelung der Sittlichkeitsidee. Gibt es dazu nur den Weg einer eingebildeten andern Welt? Ist des. Menschen Herz wirklich so kleinlich, ist des Menschen Geist wirklich so schwach, dab es für uns keine Sittlichkeit gibt ohne Aussicht auf einen Lohn, den wir nicht in uns finden ? Humsoupr glaubte eben, und mußte zudem die Sprache seiner Freundin sprechen, damit sie ihn verstehe; hätte er nicht geglaubt, so hätte er sich hienieden gewiß nicht weniger zurecht gefunden. Aus diesen paar Andeutungen ist es klar ersichtlich, wie ver- schieden die Stellung des Menschen zum Weltall aufgefaßt werden kann und welche Wichtigkeit in bezug auf die Ethik dieser Auffassung zu- kommt. Immer handelt sich’s vor allem um den Weg, auf welchem der Mensch zu einem ethisch erhobenen wird, und dieser Weg ist ge- geben mit den Fähigkeiten und Vermögen, welche dem Menschen zuge- schrieben werden. Leider genügt das Zuschreiben nicht jedem. Unsere gütigen Leser wissen, wie wir darüber denken und daß wir nicht in der angenehmen Lage sind, nach dem Beispiel Kaxr's ein oberstes Gebot aufzustellen, das für alle Menschen gleich bindend ist. In neuester Zeit wird es immer mehr Mode, der Ethik die Möglichkeit abzusprechen, zu einer Wissenschaft sich zu erheben. Es ist dies ganz richtig für alle, welche die Ethik zur bloßen Moral erniedrigen und nach einem Gebot suchen, das allgemeingültig ist für Menschen, die es nicht gibt. Das Gebot würden wir rasch fertig bringen und brauchten nur Kanr'’s Worte in Gemäßheit unseres Grundgedankens, wie folgt, zu modifizieren: Handle immer so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer Beglückung der größtmöglichen Anzahl Men- schen gelten könnte. Allein es würde dies nie ein kategorischer Imperativ für den Menschen überhaupt sein. Der Glückseligkeits- trieb ist allen eigen, und weil er allen eigen ist, hat mit der Ver- edelung des Menschen auch er sich veredelt; aber nicht in allen ist er veredelt, und nur mit dem veredelten rechnet unsere Ethik. Eben darum können wir mit keinem der »praktischen materiellen Bestimmungs- sründe« unser Auslangen finden, welche Kanr (Kritik der praktischen Vernunft, 1795, S. 69) in einer eigenen Tafel, auf Grund der hervor- ragendsten Systeme, als subjektiv äußere und innere und als objektiv äußere und innere zusammengestellt hat. Wenn danach im Prinzip der Sittlichkeit Bestimmungsgründe der Erziehung von MontAIGne, der bürger- lichen Verfassung von MAnDEVILLE, des physischen Gefühls von Erıkur, des moralischen Gefühls von HurcnHeson, der Vollkommenheit von den Stoi- kern und Worr aufgestellt worden sind; so nehmen wir für eine Ent- wickelung und tüchtige Verwirklichung der Sittlichkeitsidee diese Bestimmungsgründe allesamt in Anspruch. Der Staat ist uns die erste Bedingung zur Ermöglichung sittlicher Zustände; das zweite ist die Erziehung, als die Anbahnung der Veredelung der physischen wie der moralischen Gefühle; endlich bei fortschreitender Vervollkommnung und Ausprägung ethischer Grundsätze wird die Vollkommenheit selbst, als das Ideal, zum mächtigsten Bestimmungsgrund sich erheben. Über die Bedeutung des Staates haben wir in ethischer Beziehung wiederholt uns ausgesprochen und wollen hier nur das im Beginn dieser B. Carneri, Die Entwickelung der Sittlichkeitsidee. 407 Abhandlung Angedeutete ergänzen. MANDEVILLE spricht auch nicht vom Staat im allgemeinen, sondern von der bürgerlichen Verfassung, und ihm schwebt dabei nicht bloß die Ermöglichung sittlicher Zustände vor: worauf er sein Augenmerk gerichtet hat, ist ein praktischer Be- stimmungsgrund für den einzelnen. Soll aber der Staat diesen Zweck erfüllen, dann genügt es nicht, daß er durch die Handhabung seiner Gesetze das Recht schütze, das Rechtlose hintanhalte, das Unrecht bestrafe und durch eine makellose Gerechtigkeit seinen Bürgern die zu einer friedlichen Rechtspflege unerläßliche Achtung vor dem Gesetz einflöße: seine Bürger haben sich als Bürger, als freie Bürger, zu fühlen, sie haben für ihr Staatswesen sich begeistern zu können. Dazu ist es unerläßlich, daß sie teilnehmen an den Staatsgeschäften, an der Gesetzgebung und Verwaltung wie an der Rechtsprechung. Und es ge- nügt nicht, daß dies nur dem Wortlaut nach geschehe: es sind dies im modernen Staate Forderungen des mündig gewordenen Volkes, dessen Würde tödlich verletzt wird, wenn sie nicht zur vollen Wahrheit werden. Es mag dadurch das Regieren oft recht unbequem werden, ja die soge- nannte Staatsmaschine in einen ungleichen Gang geraten, was viel ernster ist, weil darunter auch die Regierten leiden. Da braucht’s eben Geduld und Ausdauer, und höchstens eine Verbesserung der betreffenden Gesetze und Einrichtungen. Unsere geringen Fortschritte in der ethischen Her- anbildung des Menschen sind großenteils die Folgen des ebenso ent- würdigenden als bequemen Absolutismus, der nicht viel länger zu währen gebraucht hätte, auf dab wir politisch verfaulen, bevor wir zur Reife gelangen. Wie weit wir noch zurück sind, sehen wir am Wiederauf- tauchen mittelalterlicher Erscheinungen, und die uns zurückgehalten ha- ben, wollen die Schuld an allen erdenklichen Ausschreitungen und staat- lichen Mißerfolgen auf die Wissenschaft und die Verbreitung ihrer neuen Lehren wälzen? Als ob die erst verbreitet zu werden brauchten! Nie- mand hat Macht, ihre Entstehung zu hindern, und sind sie einmal da, so schwirren sie rings umher in der Luft und sind jedermanns Eigen- tum. Die alte. Moral kommt allerdings dagegen nicht auf, weil sie einem Menschen auf den Leib geschnitten ist, der nicht existiert. Es hilft auch nichts, eine neue Moral zu schmieden. Die allgemeinen politisch- sozialen Zustände haben dem modernen Menschen angepaßt zu werden, damit die Grundlage da sei zu seiner Heranbildung und er an dieser ein Interesse habe. Der den Schäden unserer Zeit mit einer verkappten Rückkehr zum Absolutismus abhelfen zu können meint, will einen Kopf- leidenden heilen, indem er ihn enthauptet und ihm einen fremden Kopf aufsetzt. Die Erziehung darf auch nicht, soll sie anders ihren Zweck er- reichen, auf die leeren Worte schöner Lehren sich beschränken. Wie in der Familie das lebendige Beispiel allein bis ins Gemüt dringt, so kann eine sittliche Erziehung nur dann tüchtige Bürger heranbilden, wenn ein reichentwickeltes öffentliches Leben politische Charaktere erzeugt, zu welchen der Jüngling bewundernd emporblickt. Wie in der Natur alles zusammenhängt, so hat auch in der Kultur alles zusammenzuwirken, sollen wir in unsern Erwartungen nicht getäuscht werden. Wäre bei 408 B. Carneri, Die Entwickelung der Sittlichkeitsidee. den Stoikern nicht die gesamte Sinnesthätigkeit entsprechend ihren Anschauungen veredelt gewesen, ihre philosophischen Maximen würden den jämmerlichsten Schiffbruch erlitten haben. Die Erziehung hat über die Sinne sich zu erstrecken und schon bei der zartesten Jugend darauf bedacht zu sein, an Schönheit und Mäßigkeit Gefallen zu erwecken. Keiner war so wenig der Gefahr ausgesetzt, in einem sinnlosen Taumel unterzugehen, als der echte Epikuräer, weil er nur insoweit den Sinnengenuß zu schätzen wußte, als er dabei die volle Klarheit des Den- kens sich bewahrte und das Gefühl steigender Veredelung. Was vom Standpunkt der Willensfreiheit aus, als physischer Sinn, dem moralischen Sinn entgegengesetzt wird, ist für den Determinismus nur die andere Seite derselben Thätiekeit. Nicht nur nicht angeboren ist der moralische Sinn: selbst wo er durch Bildung herangezogen und vererbt wird, ist er machtlos, sobald nicht der physische Sinn ein ihm entsprechender ist. Vor dem Erscheinen Darwın’s konnte, ja mußte man nahebei den Menschen als etwas im vollsten Sinn des Wortes wesentlich vom Tier Unterschiedenes festhalten; daß man ihn dadurch nicht zu etwas anderem gemacht hat, beweist die Fruchtlosigkeit aller kategorischen Imperative, die allein an seinem Geiste ihre Hebel an- setzten. Seit durch die »Entstehung der Arten« der Schleier ge- lüftet ist, der selbst einen Kanr über die mögliche Herkunft des Menschen im Dunkeln ließ, ist das Noumen zu einem bedeutungslosen Wort herab- gesunken: im Menschen ist nichts, was nicht schon in seinen Vorfahren war. Die Elemente sind dieselben; nur deren Funktionen sind höhere. Nicht als hätte Kant nicht einmal es geahnt; er hat es ausgesprochen: daß nicht eine Seele im Menschen, als besondere Substanz, daß viel- mehr der Mensch denkt; — allein er konnte diese Anschauungsweise nicht mit Entschiedenheit zu seinem Standpunkt machen, wie es heute unabweisbar geworden ist für den überzeugungstreuen Anhänger Darwın’s. Die Einheitlichkeit der Natur, welche allein zu einer wider- spruchslosen Weltanschauung führt, ist heute eine wissenschaftlich so festgestellte Hypothese, dab man mit der ganzen Sicherheit, welche die Wissenschaft überhaupt zu gewähren vermag, eine Lehre darauf gründen kann. Wir sagen ausdrücklich Hypothese und fügen zur größeren Vorsicht noch bei, daß, obgleich für die Menschen unumstößlich, die wissenschaftliche Gewißheit doch nur für uns Menschen eine volle ist; wir kennen die Unbarmherzigkeit, mit welcher der moderne Hyper- kritizismus immer bereit ist, alles als Dogmatismus zu verketzern, was mehr denn bloße Wahrscheinlichkeit auszusprechen wagt. Darum sind wir doch von der Einheitlichkeit der Natur so fest überzeugt wie von unserem Dasein. Und darin gipfelt unser Darwinismus. Auch in den Erscheinungen, die wir als psychische und geistige bezeichnen, spielen die Gesetze der Vererbung, Auslese und Anpassung eine wichtige Rolle; aber es ist uns nie beigefallen, durch eine rohe Anwendung des auf niederen Entwickelungsstufen vollkräftig sich bewährenden Prinzips des »Kampfes ums Dasein« die auf den höchsten Stufen der Ent- wickelung zum Durchbruch kommenden ethischen Erscheinungen klar legen zu wollen. Es wäre dies die verläßlichste Weise, den Darwi- B. Carneri, Die Entwickelung der Sittlichkeitsidee. 409 nismus ad absurdum zu führen. Was wir in unserer Ethik bis zu den letzten Konsequenzen festhalten und was die unerschütterliche Achse bildet, um welche unsere Sittlichkeitsidee sich dreht, ist die Ein- heitlichkeit des Menschen: für uns fühlt, denkt und handelt immer der ganze Mensch, und zwar nicht aus Zweckmäßigkeits- absichten erschaffen, sondern im »Kampf ums Dasein« entstanden. Diese Auffassung des Menschen stimmt allein überein mit seiner Stellung in der Reihe der Organismen. Konsequenterweise können wir uns das Bewußtsein nur erklären als das Resultat einer bestimmten Organisation, und dem entsprechend die Sittlichkeitsidee als dem Menschen zum Bewußtsein gekommen in der Organisation, die wir Staat nennen. Wir brauchen hier nicht zu wiederholen, was wir bereits an andern Orten darüber und über den Glückseligkeitstrieb gesagt haben, zu welchem im Menschen der Selbsterhaltungstrieb sich erhebt und welcher, auf dem friedlichen Felde der Arbeit den »Kampf ums Dasein« läuternd zu einem »Kampf ums Glück«, den Weg zur Tugend bildet. Daß wir den Menschen nicht als von Haus aus zum Guten ge- neigt annehmen und erst in der staatlichen Verbindung seinen natür- lichen Egoismus sich fortentwickeln lassen zum Altruismus, schließt selbstverständlich den Gedanken aus, im Glückseligkeitstrieb, den wir hier meinen, einen Naturtrieb zu erblicken. Als bloßer Naturtrieb ist er gemeinschädlich; in dieser Form bekämpft ihn Kant, und mit Recht. Wie sehr auch die Kultur diesen Trieb veredelt haben mag, nichts kann ihn hindern, immer wieder zurückzusinken in die ursprüng- liche Roheit. Daß er aber nie in überwiegender Weise diesem Rückfall sich überlassen hat, beweist bis zur Evidenz die Zivilisation, zu welcher alsdann der Mensch nie gelangt wäre, und die Zähigkeit, mit welcher die Menschheit, allen Überschreitungen der Staatenlenker zum Trotz, am Staate festgehalten hat, als an dem Hort ihres Gedeihens. Alle Macht der Staatenlenker würde zerstieben wie Spreu im Sturmwind, wenn eines schönen Tages der Mensch des Staates überdrüssig werden sollte. Wir haben in der Abhandlung »Staat und Sittlichkeit« auf eine Bewegung hingewiesen, die unseres Erachtens gegen den Bestand des Staates gerichtet ist, ohne sich dessen, was sie anstrebt, vollkommen klar zu sein. Darin liest die doppelte Gefahr, und für den Leichtsinn und die Gewissenlosigkeit jener, die zum Absolutismus zurückkehren wollen, gibt es gar keinen Ausdruck. Die Moral führen sie immer im Munde, und während sie von längst abgenützten Mitteln ihre Klärung und Festigung erwarten, arbeiten sie mit an der Unterwühlung der Grundlage aller Sittlichkeit. Die Menschheit wird freilich nie sich verloren geben und immer wieder sich helfen, wie sie immer sich ge- holfen hat. Um sie bangt uns nicht. Allein gesellschaftliche Stürme gibt es, die vermieden werden können; und bezeichnend ist es für die Moral, daß sie gleich zur Hand ist, wenn es gilt, den Menschen ver- loren zu geben. Noch besteht der Staat in voller Kraft, und wir sehen hin und wieder glückliche Anläufe, ihn zu vervollkommnen in echt ethischem Sinn. Für den Unterricht geschieht immer mehr, und kommt einmal 410 B. Carneri, Die Entwickelung der Sittlichkeitsidee. die Erkenntnis zur Geltung, daß nicht allein in der Aneignung von Kenntnissen, Fertigkeiten und Umgangsformen die Bildung liegt und daß jeder, dessen Glückseligkeitstrieb nicht in altruistischer Richt- ung geläutert ist, ein Blindgeborner bleibt im Paradiese der Sittlich- keit; dann wird eine Erziehung Platz greifen, welche die Entwickelung moralisch-physischer Gefühle anstrebt und die Vervoll- kommnung des Menschen wie keine andere ermöglicht. Diese Vor- bedingungen müssen vorhanden sein, damit die Sittlichkeitsidee Wurzel fasse, und die Vorbedingungen müssen sich verbreiten, damit die Sittlichkeitsidee um sich greife und zur Macht werde. Es ge- nügt nicht, daß einzelne zu hochsittlichen Maximen sich bekennen und sie verkünden. Das ist der Standpunkt der positiven Religionen, welche mit Hilfe des Glaubens über Mittel verfügen, die der einfachen Ethik unbekannt sind. Treffend kennzeichnet Kanr den Unterschied zwischen den nahezu sich deckenden moralischen Begriffen des Stoikers - und des Christen, indem er jene auf Weisheit, diese auf Heilig- keit zurückführt. Durch eine pantheistische Auffassung, welche der Stoa fremd war, kann auch eine monistische Ethik den Begriff der Heiligkeit in sich aufnehmen; es ist rein Gemütssache, die Kausalität mit Gott zu identifizieren: aber unter allen Umständen würde da die Heiligkeit in einem weiteren Sinn genommen als beim Christentum. Bei diesem handelt sich’s nicht um ein Aufgehen in Gott; die persönliche Unsterblichkeit, die wir bei PLAaron schon ganz klar ausgesprochen finden, wird maßgebend und lest den Accent auf ein Ideal, das im Weg der Gnade ohne Aufopferung der Person zu erreichen ist und dem, der es auf Erden erreicht, schon hier den Stempel des Überirdischen aufdrückt. Die Heiligkeit liegt daher nicht allein in der anbetenden Demut: das Element der christlichen Heiligkeit ist nicht von dieser Welt. In beiden Fällen aber, bei der Weisheit wie bei der Heilig- keit, ist es der Glückseligkeitstrieb, der den Menschen zur Tugend führt, d. h. auf den Weg leitet, auf welchem der Wille des Guten fort und fort sich stärkt und entwickelt. Warum, wenn schon das Christentum sich nicht scheut, die Glückseligkeit als das anregende Ziel zu bezeichnen, sollte der Weise vor diesem Ausdruck zurück- schrecken? Dort wie hier ist nicht der Reiz des Moments das Ent- scheidende; dort wie hier handelt sich’s nicht um ein Glück auf kosten anderer: in beiden Fällen ist das Anregende der Weg zu einem hohen Ziel; und während das Christentum eine ewige Glückseligkeit in Aussicht stellt, verbürgt uns die Weisheit die einzige dauernde Glück- seligkeit dieses Lebens. Das Christentum und die Stoa stehen unserer Ethik gleich ferne: letztere, weil sie von einem extremen, bis zur Unnatur übergreifenden Tugendbegriff ausging, der das Abirren von der Vollkommenheit nicht einmal als möglich zugab, folglich nur exzentrischen Ausnahmsnaturen zugänglich war; ersteres, weil es alles der Heiligkeit Widersprechende, womöglich noch so Natürliche als sündhaft erklärt, zwar durch die Aussicht auf die Gnade der ewigen Barmherzigkeit überwältigend auf die Massen wirkt — worin seine Wich- tigkeit für die Verbreitung einer moralischen Lebensführung liegt — B. Carneri, Die Entwickelung der Sittlichkeitsidee. 411 aber eben, über die Moral nicht hinausgehend, eine Willensfreiheit voraussetzt, die unvereinbar ist mit dem Kausalgesetz. Und damit befinden wir uns beim wichtigsten Punkte der Ethik, bei der Unterscheidung zwischen Moral und Sittlichkeit, für welche wir eintreten, seit wir mit Philosophie uns beschäftigen, und zwar dem Beispiel Heerv’s, allerdings in modifizierter Weise, folgend. Indem die Moral von jedem Willensfreiheit anspricht, setzt sie sich mit der Natur und dadurch mit sich selbst in einen unlösbaren Widerspruch, den nur die Annahme eines höheren Wesens mildert. Daß der Wille von Natur aus determiniert ist, geht sie nichts an: sie setzt ihn als einen freien, schreibt Pflichten vor, und wer sie nicht erfüllt, ist straffällig. Wir werden es nie bestreiten, daß einer an der Hand der bloßen Moral zu hoher Tugend gelangen könne; wir sagen nur, dab man da, wie für die Bestrafung des einen, so auch für die Belohnung des andern zur An- nahme eines allmächtigen Weltlenkers greifen müsse, vorausgesetzt, daß man mit dessen Freiheit nach dem Beispiel des h. Aucusrtıy die menschliche Freiheit in Einklang bringen könne. Unvermeidlich hat jede Moral irgendwie bezug auf einen Gott, der sich dann zur Mensch- heit verhält wie der Souverän eines Staates zu seinen Bürgern oder Unterthanen. Der Staat hat das Recht, Gesetze zu geben und ihre Niehtachtung zu bestrafen , weil, solang seine Angehörigen seinen Fort- bestand wollen, seine Selbsterhaltung selbstverständlich ist. Mit dem Determinismus kommt der Staat in keinen Konflikt, insofern er sein Auslangen dabei findet, daß die weit überwiegende Mehrzahl seiner An- gehörigen in den Strafsanktionen ein hinreichendes Motiv zur Einhalt- ung seiner Gesetze finde. Mit dem Hinwegdenken des gebietenden Oberhauptes wird jede Moral hinfällig; und da wir als Ethiker der Natur und nur der Natur gegenüberstehen, so müssen wir mit dem Determinismus rechnen und den landläufigen moralischen Standpunkt fallen lassen. Es gibt keine kindischere Auffassung der Ethik, als welche da meint, sie habe in besonderen Fällen dem Menschen zu sagen, zu was er sich entscheiden soll. Der ethisch nicht Gebildete hat für Ethik kein Verständnis; der ethisch Gebildete weiß immer, was er zu thun hätte: die Frage ist, ob er sich dazu entscheiden kann? Darum sind wir gezwungen, die Moral in einem weiteren Sinn zu fassen, welchem wir die Bezeichnung Sittlichkeit vorbehalten. Die Sittlichkeit kommt mit der Natur in keinen Widerspruch, sobald sie die Freiheit nur dort sucht, wo sie sie findet, im Willen nämlich, der durch ethische Läuterung der Triebe zum Willen des Guten sich erhoben hat. Diesem Willen ist die Sittlichkeit zur zweiten Natur geworden: sein Pflichtgefühl ist Freude an der Pflicht, höchste Befrie- digung seines Glückseligkeitstriebes. Man kann, wie wir schon bemerkt, diesen Trieb als Sittlichkeits- prinzip nicht energischer perhorreszieren, denn Kaxr es gethan hat; aber er hat von einer Seite ihn perhorresziert, die auch wir ethisch nicht zu verwerten wüßten. Der rohe Naturtrieb verhält sich zu dem, den wir meinen, wie zu den wirklichen Menschen ihre Vorfahren sich verhalten: diese, wie tierisch sie auch sein mochten, mußten da sein, 412 B. Carneri, Die Entwickelung der Sittlichkeitsidee. damit jene aus ihnen sich entwickeln konnten. Wir kennen keinen ur- sprünglich vollendeten Menschen, zu dem es eine Rückkehr gäbe; wir kennen aber auch keine Neubildung oder gar Umwandlung der Affekte, wie gewisse Moralisten sie zu kennen vorgeben und mittels ihrer Wil- lensfreiheit ermöglichen wollen: wir kennen nur eine allmähliche Milderung, Bildung, Läuterung der Affekte und haben den im staatlich-sozialen Verkehr sich veredelnden Glückseligkeitstrieb im Auge. Kant sagt übrigens selbst: »Aber diese Unterscheidung des Glückseligkeits- prinzips von dem der Sittlichkeit ist darum nicht sofort Entgegen- setzung beider, und die reine praktische Vernunft will nicht, man solle die Ansprüche auf Glückseligkeit aufgeben, sondern nur, sobald von Pflicht die Rede ist, darauf gar nicht Rücksicht nehmen.<« (A.a. 0. S. 166.) Nichts freut uns mehr, als wenn wir bei einem unserer großen Denker eine Unterstützung unserer Anschauungen finden, weil wir nie- mals mit dem Gedanken uns getragen haben, ein welterschütternd neues System zu Tage zu fördern, was, wenn man die SCHOPENHAUER, DÜHRING, HArTmann — selbst FEUERBACH ist nicht ganz davon loszusprechen — zu Rate zieht, eine Vernichtung aller näheren großen Vorgänger zur Vorbedingung zu haben scheint. Auch sind wir der Überzeugung, daß, wenn wir auf richtiger Fährte uns befinden, nur ein relativer Wider- spruch mit den Grundsätzen der großen Denker möglich sei und daß z. B. ein Kant, ein H&gzL, wenn sie DArwın vorgefunden hätten, dem Einfluß seiner Lehre nicht entgangen wären. Daß wir z. B. vor Kant mit unserem Determinismus leichter Gnade finden würden als vor manchem unserer modernsten Philosophen, beweisen uns seine herrlichen Worte über PrisstLey, dem er vorwirft, die Reue für »ungereimt« erklärt zu haben, jedoch beifügt, dab Prissıury »als ein echter, kon- sequent verfahrender Fatalist in Ansehung dieser Offenherzigkeit mehr Beifall verdient, als diejenigen, welche, indem sie den Mechanismus des Willens in der That, die Freiheit desselben aber mit Worten behaupten, noch immer dafür gehalten sein wollen, dab sie jene, ohne doch die Möglichkeit einer solchen Zurechnung begreiflich zu machen, in ihrem synkretistischen System mit einschließen.« (A. a. O. 8. 176.) Um es noch klarer darzulegen, wie wir die Sittlichkeitsidee als die höchste Blüte menschlicher Entwickelung auffassen, müssen wir uns auch darüber aussprechen, was wir unter Idee überhaupt verstehen. Es läßt sich dies mit wenig Worten thun, aus welchen zugleich sich ergeben wird, von welcher hohen Wichtigkeit für die Ethik der Art- begriff ist, zu welchem Darwın — die Gottesthat als Naturthat auf- deckend. — den Gattungsbegriff Praron’s umgestaltet hat. Die Idee ist, als konkreter Begriff, dem abstrakten Begriff entgegengesetzt. Wir nennen sie konkret, weil jede Idee einen ganzen Kreis lebenswarmer Empfindungskomplexe, nämlich thatsächlicher Erscheinungen aus dem geistigen und Gemütsleben unter sich begreift. Sie ist eben ein Art- begriff und sonach für sie die Allgemeinheit das Charakteristische. Was über die Einzelheit nicht hinausreicht oder hinausdrängt, alles sozusagen Egoistische, ist aus dem Bereich der Idee ausgeschlossen. Die den Ideen entsprechenden Affekte werden nie als die Seelenthätig- DB. Carneri, Die Entwickelung der Sittlichkeitsidee. 413 keit einengend, Unlust erzeugend sich erweisen, sondern eine fördernde Erweiterung der Seelenthätigkeit bewirken. Die Ideen sind das Element der schönen Künste, daher, bei gänzlichem Mangel an Kunstsinn, keiner zur Erkenntnis dessen kommt, was die Idee zur Idee macht. Durch ihre künstlerische Darstellbarkeit unterscheiden sich die Ideen am markantesten von den abstrakten Begriffen, und es ist tief in der Natur der Sache begründet, die Ästhetik als einen integrie- renden Teil der Ethik zu behandeln. Mit dem Sinn für Ideen steht und fällt alles Streben nach dem Idealen. Die bloße Moral sieht ab von allem Schönheitssinn; während ohne diesen die Sittlichkeit undenkbar ist, weil deren Ideal nicht allein der moralische, sondern der überhaupt vollendete Mensch ist. Die Vollendung selbst können wir nur als unendlich denken, und der Begriff des Unendlichen liegt in jeder Idee, insofern sie als Artbegriff unzählbare Einzelerscheinungen umfaßt und, deren Vergänglichkeit gegenüber, das Dauernde darstellt. In diesem Sinn bilden die Ideen das Reich des Geistes, aber nicht als etwas Transcendentes, sondern als dem sittlichen Menschen immanent und zu höherem Streben ihn beseelend. Sie sind nicht Prinzipien, auf Grund irgend einer Wahrscheinlichkeitsberechnung ausgeklügelt: sie sind mit uns geworden, an der warmen Brust des Lebens hat ihre Klärung sich vollzogen, und, an ihrer Hand fortschreitend, schreiten wir an der Hand der Wahrheit. Treffend sagt Wınuerm von Humeoupr von der Idee: »Alles, was auf eigennützige Absichten und augenblicklichen Genuß hinausgeht, wider- strebt ihr natürlich und kann niemals in sie übergehen. Aber auch viel höhere und edlere Dinge, wie Wohlthätigkeit, Sorge für die, die einem nahe stehen, mehrere andere gleich sehr zu billigende Hand- lungen sind auch nicht dahin zu rechnen, und beschäftigen denjenigen, dessen Leben auf Ideen beruht, nicht anders, als daß er sie thut; sie berühren ihn nicht weiter. Sie können aber auf einer Idee beruhen, und thun es in idealisch gebildeten Menschen immer. Diese Idee ist dann die des allgemeinen Wohlwollens..... Es können aber auch jene Handlungen aus dem Gefühl der Pflicht entspringen, und die Pflicht, wenn sie blob aus dem Gefühl der Schuldigkeit fließt, ohne alle und jede Rücksicht auf Befriedigung einer Neigung oder irgend eine selbst göttliche Belohnung, gehört gerade zu den erhabensten Ideen.«e — (A. a. O. II. S. 200 u. 201.) Es ist durchaus nicht nötig, wie es im weiteren Verlauf dieses herrlichen Briefes geschieht, eine andere Welt oder eine geistige Welt im spiritualistischen Sinn vorauszusetzen, um der Idee der Liebe, der Freundschaft, der Treue, des Ge- meinsinns, des Rechts, der Pflicht, der Freiheit, des Schönen, der Kultur, der Humanität, des Wohlwollens einen Platz ein- zuräumen, den das höchste materielle Gut nie einnehmen wird. Diese Ideen und die in ihren Kreis gehörigen halten alle zusammen und alle- samt, als an ihrem Ursprung und ihrer eigenen Verwirklichung, an der Idee der Sittlichkeit. Wie leitende Sterne erscheinen sie uns, um eine gemeinsame Sonne kreisend und einen wundervollen Himmel ausspannend, zu dem wir nie emporblicken, ohne Trost und Stärkung 414 B. Carneri, Die Entwickelung der Sittlichkeitsidee. zu schöpfen. Aber dieser leuchtende Himmel ist Licht von unserem Licht. Bei aller ihrer Unendlichkeit führen die sittlichen Ideen auf Affekte zurück, sind also Blut von unserem Blut, und in Wahrheit tragen wir sie in der eigenen Brust. Was mancher als Drang nach Unsterblichkeit fühlen mag, ist nur die Sehnsucht, sie ganz sein eigen zu nennen. Weit entfernt, auf eine andere Welt hinzuweisen, in der ihre Früchte erst reifen, werfen diese Unsterblichen ihre herrlichsten Früchte uns Sterblichen in den Schoß. Hiermit hoffen wir gezeigt zu haben, was wir unter der Sitt- lichkeitsidee verstehen. Im »Kampf ums Dasein« hat sie dem Menschen sich erschlossen, und unveräubßerlich wird sie sein eigen bleiben, wenn auch zeitweise, wie die Wechselfälle aller Entwickelung es mit sich bringen, ihr Licht sich verdunkelt. Sie ist das Eigentum der Menschheit, nicht des Menschen; und wie die Menschheit sie er- werben mußte, so muß der einzelne sie erwerben, der eine schwerer, der andere leichter, wie eben der eine krank ist und schwach, der andere gesund und stark. Die Moralisten mögen immerhin dem Er- wachsenen zurufen: Thu, was du sollst! — Wir können ihm nur zu- rufen: Thu, was du kannst! — Dafür richten wir unser Augenmerk auf die Kinder, die noch bildsam sind wie Wachs, und auf das, was aus ihnen die Väter und Mütter, die Erzieher und Staatenlenker machen könnten. Das seiner selbst sich bewußte Individuum fühlt sich frei, wenn es seiner Natur gemäß leben kann — um mit Hosses zu reden — ähnlich dem Strom, dessen Wellen unbehindert dem Gesetz der Schwere folgen. Das Gesetz des sittlich erhobenen Menschen ist das Gesetz der sittlich erhobenen Gesellschaft. Wird der einzelne diesem Gesetz gemäß herangezogen, daß es ihm zur zweiten Natur wird, so unterliegt es keinem Zweifel, daß er, seiner Natur gemäß lebend, sich frei fühlen wird als sittlicher Mensch. Und hat er einmal vom Becher dieser Freiheit genossen, aus dem ihm seine Vervollkommnung schäumt, dann wird ihm die Vollkommenheit zum unverrückbaren Lebensziel.e. Aus sich allein aber ist keiner etwas, und der etwas ist, ist es nur durch das Zusammengreifen vieler. Darum schreiben wir keinem etwas vor, und sagen nur, was zu geschehen hätte. Davon aber sind wir überzeugt, daß, wenn dies geschähe, eine breite Bahn sich erschlösse — von der Glückseligkeit zur Sittlichkeit und von dieser zur Freiheit. Unvertilgbar lebt in jedem der Trieb nach Glück, und wahres Glück findet sich nur in einer sittlichen Welt. Daher wird dem wahrhaft Glücklichen die Tugend zur Natur, und möglichst viel Glück verbreitend, sorgen wir am besten für die Verbreitung der Tugend. Jene, welchen die Beglückung der Menschheit als ein schöner Wahn erscheint, mögen darauf sich beschränken, in ihrem wenn auch noch so engen Kreise das Elend der Welt nach Möglichkeit zu mindern, und es geruhig dem einzelnen überlassen, das eigene Glück zu fördern. Damit allein wäre viel gewonnen. Wildhaus, 28. August 1883. Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. Von Dr. Fr. Johow. k Die Mangrove-Sümpfe. (Mit Benutzung der neuesten Arbeiten von WARMING und TrEUB.) Unter den für die Tropen typischen Vegetationsformen, d. h. den- jenigen, welche in sämtlichen Ländern zwischen den Wendekreisen ver- treten und gleichzeitig auf dieses Gebiet beinahe ausschließlich beschränkt sind, nimmt die Mangroveform einerseits durch die Sonderbarkeit ihrer habituellen Charaktere (ihrer >» Physiognomie«), anderseits durch ihr zahl- reiches, geselliges Vorkommen unter sehr eigenartigen biologischen Be- dingungen einen hervorstechenden Platz ein. Sie ist nicht nur eine phy- siognomisch besonders scharf charakterisierte Vegetationsform, sondern sie bildet auch für sich allein eine eigene, topographische Formation, den Mangrovewald. Obwohl die Anfänge unserer Kenntnisse über den Mangrovewald in die frühesten Zeiten naturwissenschaftlicher Reisen nach den Tropen- ländern zurückreichen und bereits 1763 von Jacquın ! eine ziemlich ge- treue Beschreibung des gewöhnlichen Mangrovebaumes geliefert wurde, so waren doch bis in die neueste Zeit noch recht unrichtige und un- klare Vorstellungen über die morphologischen Verhältnisse der Rhizo- phoren sowohl in weiteren Kreisen als auch unter den Botanikern gäng und gäbe. Erst durch zwei unlängst erschienene Untersuchungen von Warning”? und Treu”? sind die Ansichten über das sogenannte Lebendig- gebären und andere biologische Eigentümlichkeiten der Mangrovebäume, wie es scheint, endgültig geklärt worden, wobei eine Anzahl sehr inter- essanter Anpassungserscheinungen sich ergeben haben. Die Besprechung derselben zugleich mit der Darstellung einiger eigener, gelegentlich einer tropischen Reise gemachter Wahrnehmungen des Verfassers bildet die Aufgabe der folgenden Zeilen. ! Selectarum stirpium americanarum historia, p. 141 ff. ? Tropische Fragmente, Il. Rhizophora Mangle L., Botan. Jahrbücher für Systematik ete., Bd. IV. p. 519 ff, 1883. ® Annales du jardin botanique de Buitenzorg, vol. III, p. 79 ff., 1882, 416 Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. I. Wir orientieren uns zunächst über die allgemeinsten geographischen Verhältnisse der Mangrovewälder. Ihr Verbreitungsbezirk erstreckt sich, wie bereits angedeutet, über die gesamte tropische Zone beider Hemisphären. Sie umsäumen daselbst alle Meeresküsten, deren ebener Boden aus thon- reichem Schlamm besteht und vor übermäßiger Brandung geschützt ist, er- füllen die brackigen am Strande gelegenen Lagunen und steigen an den Ufern der Flüsse, soweit das Wasser brackige Beschaffenheit besitzt, hinauf. Das hervorstechendste und allgemeinste Merkmal, welches die Man- srovewälder von fast allen anderen topographischen Formationen unter- scheidet und welches alle ihre Eigentümlichkeiten in letzter Instanz bedingt, liegt in der Vereinigung von Wald und Sumpf: DieMangrovebäume sind gesellig wachsende, baumartige Wasserpflanzen. Aus dieser Vegetationsweise erklären sich vom Standpunkte der An- passungstheorie nicht allein alle Eigentümlichkeiten ihres habituellen Auf- baues, sondern auch alle Abweichungen der anatomischen Struktur der Bäume, ferner die Art und Weise ihrer Fortpflanzung und Verbreitung und endlich der Charakter und die Lebensweise der in Abhängigkeit von ihnen lebenden Tierwelt. In der Geselligkeit des Vorkommens stehen die Mangrovebäume unter den tropischen Bäumen ziemlich vereinzelt da. Wenn man absieht von den berühmten Teak-Holzwäldern Indiens, welche ausschließlich von einer Verbenacee, der Tectona grandis, gebildet werden, und den vor- wiegend von der riesigen Bursera gummifera zusammengesetzten Wald- ungen, welche die Berge einiger westindischer Inseln bedecken, so ist der eigentliche tropische Urwald, welchen man in Indien Jungle oder Virgin forest nennt, gerade durch die Mischung der verschiedensten Vegetations- formen, durch die Vereinigung mannigfacher Arten aus zahlreichen Fa- milien des Gewächsreiches ausgezeichnet. Dem gegenüber gehören die Bäume, welche den Mangrovewald zusammensetzen, in der Mehrzahl der Individuen gewöhnlich einer einzigen Spezies an, und zwar in der Regel der Rhizophora Mangle L. In einigen Gegenden ist dieser Baum hin- gegen durch eine andere Art aus derselben und einer verwandten Gattung der Rhizophoraceen vertreten, oder aber es tritt an seine Stelle ein Baum aus einer anderen Familie, am häufigsten eine Avicennia-Spezies (Verbenacee). Der an Individuenzahl vorherrschenden Art sind die Ver- treter anderer Spezies je nach der Gegend in wechselnder Menge bei- gemischt. Von größtem Interesse sind die weitgehenden Übereinstimm- ungen, welchen die Rhizophoren und die anderen Mangrovebäume, obwohl systematisch weit von einander entfernten Familien des Gewächsreiches angehörig, durch gemeinsame Anpassung an dieselben Bedingungen nicht allein in manchen Punkten ihrer vegetativen Gestaltung, sondern auch ihrer Embryoentwickelung angenommen haben. Zwischen den genannten Bäumen, welche den Hauptbestand des Man- srovewaldes ausmachen, findensich auch Myrsineen (Aegiceras!),inSüdamerika ferner Combretaceen (Zaguncularia” und Conocarpus) und Urticeen (Ficus?), "nach Grisebach, Flora of the British West Indian Islands, p. 60. ° u.” nach Grisebach: Die Vegetation der Erde, II, p. 366. Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. 1. 417 endlich auch Malpighiaceen (Drachypteris borealis'!), Farne (Chrysodium vulgare?) und Chenopodeen (Acnida cannabina) zerstreut. Ein wesentliches Moment in der Physiognomie der Mangrovewälder liegt in dem Fehlen größerer, holziger Lianen und in der Seltenheit der epiphytischen Gewächse, welche in anderen tropischen Wäldern die nie fehlenden Bewohner der Baumkronen sind. Der Grund, weshalb die Epiphyten gerade auf den Mangrovebäumen nicht zu gedeihen vermögen, dürfte in der Nähe des Meeres und dem Vorhandensein salzhaltiger Niederschläge liegen, welche der Befriedigung des dringendsten Lebensbedürfnisses der Epiphyten, nämlich der Wasserversorgung, erschwerend entgegentreten. Es sei nun zunächst gestattet, den morphologischen Aufbau von Rhizophora Mangle etwas näher zu betrachten. Wir beginnen dabei mit dem am auffälligsten entwickelten Teil des Baumes, nämlich dem Wurzel- system. Während bei sämtlichen auf dem festen Lande wachsenden Bäumen die Grenze von Stamm und Wurzelsystem bekanntlich annähernd mit dem Niveau des Bodens zusammenfällt, erhebt sich Rhizophora Mangle auf einem hohen, oberirdischen Piedestal von Stützwurzeln, welche, an der Basis des frei in der Luft schwebenden Stammes fast rechtwinkelig ent- springend, in einem nach außen konkaven Bogen abwärts wachsend und sich regelmäßig strahlig verzweigend, in den vom Wasser überfluteten Boden eindringen. Es ist ohne weiteres ersichtlich, daß diese Be- festigungsweise des Baumes in dem labilen, schlammigen Substrat die denkbar günstigste und vorteilhafteste sein muß, und wir können nach der Analogie mit anderen im Pflanzenreiche verbreiteten Einrichtungen voraussetzen, daß auch der konstante Winkel, in welchem die Stützwurzein aus dem Stamme oder aus ihren Mutterwurzeln entspringen, den mecha- nischen Erfordernissen am vollkommensten entsprechen wird. Außer diesem Unterbau von Tragwuızeln, auf welchen der gesamte Stamm wie auf einem Gewölbe ruht, besitzt der Baum ‘noch ein reichliches System von senkrecht gestellten Luftwurzeln, welche, von der Unterseite der Äste entspringend und in ihren tieferen Teilen ebenfalls verzweigt, die Krone des Baumes wie mit Tauen in dem Schlamm verankern. Die erwähnte strahlenförmige Verzweigung sowohl der Stütz- als der Luftwurzeln, welche sich an mehreren Stellen zu wiederholen pflegt, scheint, wie bereits Jacquın® in der Mitte des vorigen Jahrhunderts beobachtete und neuerdings WarummnG* bestätigt, regelmäßig dadurch veranlaßt zu werden, dab die Spitze der Mutterwurzel durch einen von außen kommenden Eingriff zerstört oder beschädigt wird. Welcher be- sonderen Art dieser Eingriff ist, läßt WaArmmG unerörtert. Bedenken wir jedoch, daß der zwischen den Mangrovewurzeln angehäufte Schlamm und das brackige Wasser der Wohnsitz unzähliger niederer Tiere, wie Würmer, Krebse, Mollusken und Insektenlarven, ist und daß auch die zarten Wurzelspitzen der Landpflanzen beliebte Leckerbissen der Erd- ! u. ? nach eigenen Beobachtungen des Verfassers auf Trinidad. ’ Selectarum stirpium americanarum historia, 1763, p. 141, tab. 89. ep: 321. Kosmos 1884, I. Bd. (VIII, Jahrgang, Bd. XIV). 27 418 Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. T. würmer und Engerlinge sind, so hat jene regelmäßige Zerstörung wenig rätselhaftes mehr an sich. Da aber die Verzweigung der Wurzeln ohne Zweifel dem Baume von großem Nutzen ist und einen konstanten, sozu- sagen normalen morphologischen Charakter desselben darstellt, so hätten wir hier im Falle der Richtigkeit jener Annahme einen sehr interessanten und eigenartigen Fall von gegenseitiger Anpassung zwischen Tier- und Pflanzenreich vor uns. Die Funktion von Nähr- und Saugorganen kommt nach Warning! ausschließlich den untergetauchten Wurzelteilen zu. Während nämlich die außerhalb des Wassers befindlichen Teile weder dünne Nebenwurzeln noch Wurzelhaare besitzen, bilden die untergetauchten Teile zahlreiche, von den spezifisch mechanischen Luft- und Stützwurzeln anatomisch ab- weichende kleinere Wurzeln, welche wiederum mit dünneren, haarähnlich abstehenden Zweigen besetzt sind und ausschließlich als Nährwurzeln zu fungieren haben. Eine ganz analoge Arbeitsteilung finden wir übrigens, wie aus den neuesten, von A. F. W. Scnmrer? in Westindien ange- stellten Untersuchungen hervorgeht, auch bei den Wurzeln zahlreicher Epiphyten (Aroideen, Orchideen u. s. w.), welche teils lediglich die Be- deutung von Haftorganen besitzen und als solche oft frühzeitig absterben können, teils hingegen zur Ernährung und Wasseraufnahme dienen und dementsprechend eine zartere, von jenen abweichende Struktur aufweisen. Durch die Bildung der mächtigen oberirdischen Wurzelgerüste schließen sich die Mangrovebäume einer anderen tropischen Vegetations- form an, welche nach ihrem bekanntesten Vertreter (Fieus indica in Hindostan) die Banyanenform genannt wird. Die sonderbaren, hierher gehörigen Feigenbäume sind z. T. in ihrer Jugend epiphytische Gewächse, welche auf anderen Bäumen keimen, dieselben mit ihren Luftwurzeln umklammern und erwürgen und sich selbst durch mächtige, senkrechte Wurzelpfeiler, die sie zur Erde senden, stützen. Später breiten sich die horizontalen Zweige des Baumes seitlich in fast unbeschränktem Wachs- tum aus, wobei sie immer neue, rasch erstarkende Luftwurzeln erzeugen, und es werden auf diese Weise ausgedehnte, säulenhallengleiche Haine gebildet, welche oft einem einzigen oder wenigen Individuen ihren Ur- sprung verdanken. Die Mangroveform ist, wie aus dem Gesagten hervor- geht, von der letztgeschilderten Form hauptsächlich durch das Vorhanden- sein eines Hauptstammes und eines denselben tragenden, strahlig ver- zweigten Wurzelgerüstes, sowie durch die Zusammensetzung des Waldes aus zahlreichen Individuen unterschieden, nicht aber durch eine ganz ab- weichende Entstehungsart der Luftwurzeln, wie sie von zahlreichen, äl- teren und neueren Autoren beschrieben wird. Nach den Angaben der letzteren, denen sich auffallender Weise auch GriseracH” anschließt, sollen nämlich die Luftwurzeln der Rhizophoren nicht aus den Zweigen selbst, sondern aus den noch daran befestigten Früchten durch Aus- wachsen der Radicula des Keimlings entspringen und die neuen Indi- le. Pp2920. ?2 Über Bau und Lebensweise der Epiphyten Westindiens. Botan, Central- blatt 1884. 2 se. Al pr 21. Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. 1. 419 viduen sich später leicht vom Mutterstamm ablösen. Das gänzlich Un- Bauze dieser immer noch weit verbreiteten Auffassungsweise hat WARr- wınG ! mit Entschiedenheit betont, ein Urteil, dem Verf. nach eigener An- schauung der südamerikanischen Mangrovewälder durchaus beistimmen muß. Was nun ferner den in die Luft erhobenen Stamm des Mangrove- baumes und seine Laubkrone anbetrifft, so interessieren uns zunächst die Dimensionen des Baumes. Nach er Angaben von Warning ?, be- ziehungsweise den ihm von Baron Eecers in St. Thomas ac Mitteilungen soll die absolute Höhe der Rhizophora Mangle gewöhnlich 4—5 m bei einem Stammdurchmesser von etwa '/s m betragen, nach Jacquın” hingegen soll der Baum gewöhnlich die Höhe von 50 Fuß erreichen. GrIsEBACH (l. c. II. p. 21) gibt als Höhe der Bäume über dem Wasserspiegel 10—25 Fuß an. Schon aus diesen sehr diffe- rierenden Angaben geht hervor, daß die Dimensionen einer weitgehenden Schwankung unterworfen sind. In der That kann man in Westindien und Südamerika zwei nach der Größe der Bäume verschiedene Formen von Mangrovewäldern beobachten, nämlich einerseits buschigen Nieder- wald, anderseits starkstämmigen Hochwald*. Der erstere, der z. B. auf der Westküste von Trinidad in typischer Entwickelung anzutreffen ist, scheint vorwiegend in Lagunen und an der eigentlichen Meeresküste vor- zukommen, der letztere dagegen, den man beispielweise am Guarapiche und Caüo Colorado in Venezuela zu sehen Gelegenheit hat, den Ufern der Flußmündungen, in deren brackigem und schlammerfülltem Wasser er die vorteilhaftesten Bedingungen des Gedeihens findet, eigentümlich zu sein. Die Krone der Mangrovebäume ist mit glänzendem, immergrünem Laub bedeckt, dessen Physiognomie der in den Tropen so häufigen, nach dem Lorbeer benannten Vegetationsform entspricht. Die gestielten und mit je einem Nebenblättchen versehenen Blätter von Ahizophora stehen in gekreuzten Paaren und haben eiförmige Gestalt. Eine sehr beachtens- werte, aber meines Wissens bisher von keinem Autor erwähnte Eigentüm- lichkeit der Blätter, welche bei dem Zustandekommen des physiognomischen Charakters der Laubkrone eine große Rolle spielt, liegt in der Stellung der Blattspreiten gegen den Horizont. Sämtliche Blätter des Baumes be- finden sich nämlich in einer zum Horizont senkrechten Lage, in welcher sie durch eine alsbald nach dem Austritt aus der Knospenlage stattfindende Aufwärtskrümmung der Blattstiele fixiert werden. Wie ich an anderer Stelle? ausgeführt habe, ist diese Blattlage, welcher wir auch bei anderen tropischen Gewächsen begegnen, wahrscheinlich als eine Anpassung an die hohe Lichtintensität des Standorts oder mit anderen Worten als eine Schutzeinrichtung gegen den für die Regenerierung und die Funktion See, Du 142. * wobei freilich auch die Zusammensetzung aus verschiedenen Baumarten in Betracht kommt. 5 Über die Beziehungen einiger Eigenschaften der Laubblätter zu den Stand- ortsverhältnissen. Pringsheim's Jahrbücher für wissenschaftl. 3otanik, Bd. XV. 1884. p. 282, ff. 420 Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. T. des Chlorophyllfarbstoffes verderblichen Einfluß allzu intensiver Besonnung aufzufassen. Daß die Laubblätter der tropischen Pflanzen eines solchen Schutzes ganz besonders bedürftig sind, folgt aus der relativ großen Menge von Sonnenstrahlen, welche horizontale Flächen zwischen den Wendekreisen treffen. Durch die Profilstellung der Blattspreiten gegen die Richtung der einfallenden Strahlen wird jener schädliche Einfluß am besten wieder ausgeglichen '. Zur Vervollständigung der äußeren Bildes der Mangrovebäume be- darf es noch einer Betrachtung der Reproduktionsorgane, zumal dieselben in mancher Beziehung recht sonderbare Erscheinungen darbieten. Die kleinen weißen Blüten von Rhizophora finden sich zu 2—5 vereinigt in den Achseln der Laubblätter. Sie haben regelmäßige Gestalt, sind nach der Vier- zahl gebaut und enthalten acht sehr abweichend gebaute Staubblätter. Letztere springen nämlich nicht dem gewöhnlichen Verhalten entsprechend mit vier, sondern mit drei Klappen auf, was nach Warnmına? auf eine statt- gehabte Verschmelzung der beiden mittleren Fächer zurückzuführen ist, und sind ferner in eine grobe Anzahl kugeliger, unregelmäßig angeordneter Pol- lenräume geteilt, welche durch steriles Gewebe von einander getrennt sind. Von ganz besonderem biologischem Interesse ist die Entwickelung des Samens sowie die Keimung der Mangrovebäume, und es sei ge- stattet, diesen Punkten hier eine ausführlichere, auf die Beobachtungen von Treug®? und Warumine* sich stützende Darstellung zu widmen. Zur Orientierung diene folgendes: Der Fruchtknoten von Rhizophora Mangle ist anfangs ganz unterständig, die sich entwickelnde Frucht wird hin- gegen durch stärkeres Wachstum des oberen Teiles bald zum größten Teil oberständig. Es sind zwei Fruchtfächer mit je zwei von oben herab- hängenden und mit der Mikropyle nach oben gerichteten Samenanlagen vorhanden, von denen jedoch nur eine zur Entwickelung kommt. Die Samenknospe besitzt ein einziges, starkes Integument und einen kräftig entwickelten Knespenkern, in welchem der Embryosack eingeschlossen liegt. Über die ersten Stadien der Bildung des Eiapparates sowie der Keimentwickelung ist nichts ermittelt. Das Gewebe des Knospenkerns wird frühzeitig aufgelöst und der dadurch entstandene Raum von einem dünnwandigen und klaren Gewebe ausgefüllt, welches, wie aus seiner Struktur mit Sicherheit geschlossen werden kann, ein Albumen oder Sameneiweiß darstellt. Im Innern desselben liegt der Embryo einge- schlossen. Im weiteren Verlauf vollzieht sich nun an der Samenknospe folgende merkwürdige Entwickelung. Das Albumen, welches bisher im Inneren als ein hyalines, der Nährstoffe anscheinend gänzlich entbehrendes Gewebe eingeschlossen gelegen hatte, wächst aus der Mikropylen- ! Senkrechte Stellung der Blätter kommt unter den Gewächsen unserer Flora sehr selten, in ausgeprägter Weise nur bei der sogenannten Kompaßpflanze (Lactuca Scariola) vor. Sie hat daselbst eine ganz ähnliche biologische Bedeutung wie bei vielen tropischen Pflanzen. 21%e.,,P: 926. le. 2p 09. Sl’2e.5p. 1928 1. Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. 1. 421 Dsrnung hervor und breitet sich einem Arillus ähnlich auf der Aussenseite der Samenknospe aus, indem es an den Seiten derselben bis zu etwa ?/3 der Oberfläche gleichsam herabfließt. Später wird dieses Gebilde von dem heranwachsenden und ebenfalls aus der Mikropyle heraustretenden Keim durchbrochen. Die physiologische Bedeutung des extraovularen Albumens von Khizophora ist im Gegensatz zu anderen arillösen Bildungen, welche als Anlockungsmittel für die die Aussaat besorgenden Tiere dienen und welche demgemäß gewöhnlich fleischig und gefärbt sind, offenbar diejenige, dab es dem aus dem Samen hervorgetretenen Embryo als Saugorgan Nahrung von der Mutterpflanze zuführt. Der Keim von .Khizophora besteht in jüngeren Stadien seiner Hauptmasse nach aus dem Keimblatt; das Würzelchen und der Stamm sind nur ganz unbedeutend entwickelt. Das Keimblatt ist scheinbar nur ein einziges; doch ist die Deutung zulässig, daß dasselbe eine Ver- schmelzung zweier oder mehrerer Kotyledonen darstellt. Der obere Teil des Keimblatts, welcher als Kopf bezeichnet wird und an seiner Ober- fläche mit eigentümlichen, secernierenden beziehungsweise aufsaugenden Zellen besetzt ist, bleibt im Innern des Samens eingeschlossen und mub wie der Arillus als ein Saugorgan betrachtet werden, welches die Nahrung von der Mutterpflanze dem Keimling zuführt. Der untere Teil des Keim- blattes ragt aus dem Samen hervor und umschließt in einer Höhlung die junge Knospe. KRhizophora gehört zu den sogenannten lebendiggebärenden Pflanzen, d. h. ihre Samen keimen nicht erst, nachdem sie sich von der Mutter- pflanze abgelöst haben, sondern während sie noch in Verbindung mit derselben sich befinden; die junge Keimpflanze fällt als ein vom zurückbleibenden Samen isoliertes Gebilde vom Baume ab. Im einzelnen geht nun die Keimung von Rhizophora auf folgende Weise vor sich: Das aus der Mikropyle des Samens hervorragende Wurzelende des Keimlings durchbricht bei seinem weiteren Wachstum die Fruchtwand und kommt außen als ein grünes Spitzchen zum Vorschein. Darauf wächst das anfänglich ganz unbedeutende hypokotyle Glied zu einem keulenförmigen, die Länge von 1—2 Fuß erreichenden Körper aus, der an seinem unteren Ende als eine kleine Spitze das Würzelchen trägt. Gleichzeitig entwickelt sich die noch in der Frucht verborgene Plumula zu einer aus zusammengerollten Laubblättern mit ihren Nebenblättern gebildeten Knospe, welche im Augenblicke der Ablösung der Keimpflanze zum Vorschein kommt. Wenn die Keimpflanze zu Boden fällt, wobei das Keimblatt als nunmehr überflüssig zurückbleibt, bohrt sie sich mit dem unteren, wegen seiner keulenförmigen Gestalt schwereren und deshalb stets abwärts gekehrten Ende in den Schlamm ein, befestigt sich bald durch zahlreiche Nebenwurzeln und entfaltet ihre Laubknospe. Aus dem sich entwickelnden Stengel sprossen frühzeitig die Stützwurzeln hervor, denen der spätere Baum seine charakteristische Physiognomie verdankt. Diese so sonderbare Art des Lebendiggebärens von Khizophora steht natürlich in innigster Beziehung zu den biologischen Eigentümlich- 492 Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. I. keiten des Baumes und ist unzweifelhaft als eine Anpassung an die Standortsverhältnisse aufzufassen. Denn es läßt sich in der That kaum ein zweckmäßigerer Aussäungsmodus für einen in überflutetem Schlamm vegetierenden Baum denken als vermittelst solcher sich einbohrender »Stecklingssamen«. Selbstverständlich wird in vielen Fällen wegen besonderer ob- waltender Verhältnisse die Einbohrung der Keimpflanzen mißlingen. Bei bedeutenderer Wasserhöhe (z. B. zur Flutzeit) werden die letzteren trotz der erheblichen Wucht, mit welcher sie nach Jacqum '! vom Baume herabstürzen und zuweilen tief unter Wasser stecken bleiben, nicht immer Fuß zu fassen vermögen. In diesem Falle nun werden die Keim- pflanzen, da sie spezifisch leichter als Wasser sind, von den Strömungen und Wellen leicht herumgeführt und an andere Standorte transportiert werden können, wo sie dann, falls die Bedingungen ihnen günstig sind, sich bewurzeln können. Diesem Wassertransport der Keimpflanzen dürften denn überhaupt die Rhizophoren ihre weite ‚Verbreitung an allen tro- pischen Küsten zu verdanken haben. Es wurde schon oben erwähnt, daß auch die Mangrove-bildende Avicennia nach den Untersuchungen von TrruB eine lebendiggebärende Pflanze ist, wie es überhaupt eine sehr beachtenswerte Erscheinung sein dürfte, daß die verschiedenen systematisch weit von einander entfernten Mangrove-Bäume sich in ganz ähnlicher Weise an die biologischen Be- dingungen angepaßt haben. Auch bei Avicennia tritt das Sameneiweiß aus dem Innern des Samens hervor; es bleibt hier jedoch kein inneres Endosperm zurück und der Embryo wird ebenfalls vollständig mit heraus- geführt. Zuletzt ragt der letztere sogar mit den Kotyledonen aus dem Eiweiß hervor und nur die Radicula bleibt im Endosperm eingeschlossen. Die reife Frucht ist mit zwei groben, grünen Keimblättern ausgefüllt, welche auf einem schon ziemlich entwickelten Stengel sitzen. Die so ausgerüstete Keimpflanze fällt nun samt der Frucht vom Baume ab und wurzelt sich aufs leichteste im Schlamme ein. Auch in der Bildung eines Saugorganes, welches dem Embryo Nahrung von der Mutterpflanze zuzuführen bestimmt ist, weisen die beiden Pflanzen eine interessante Analogie auf. Ist es aber bei Rhizophora das extraovulare Endosperm und später ein besonders differenzierter Teil des Keimblattes, welches mit jener Funktion betraut ist, so sehen wir bei Avicennia eine einzige, frühzeitig sich differenzierende Zelle des Endosperms zu einem höchst merkwürdigen Saugorgan sich umbilden. Diese Zelle wächst nämlich, ohne daß ihr Lumen jemals eine Teilung erfährt, zu einem protoplasmareichen, vielkernigen und mannigfach ver- zweigten, dickwandigen Schlauch aus, dessen Äste teilweise mit dem übrigen Endosperm aus der Mikropyle hervortreten und die Kontinuität mit dem zu ernährenden Embryo herstellen, teils indessen pilzfäden- ähnlich die gesamte Samenknospe durchwuchern und in das Gewebe der Placenta eindringen, daselbst die von der Mutterpflanze zugeleiteten Nahrungsstoffe aufnehmend. I]. cp. 144. Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. 1. 423 Den in der gesamten äußeren Morphologie der Rhizophora so deutlich zu Tage tretenden Anpassungserscheinungen, welche wir im vorstehenden kennen gelernt haben, reihen sich eine Anzahl anatomischer Thatsachen an, welche unser biologisches Interesse nicht minder in An- spruch nehmen. Zunächst haben wir die schon von älteren Autoren bemerkten haarähnlichen Zellen zu erwähnen, welche, in der Pflanzen- anatomie unter der Bezeichnung »Trichoblasten« bekannt, bei Rhizophora fast in allen Teilen des Baumes so massenhaft vorhanden sind, daß z. B. die Bruchflächen einer gebrochenen Wurzel eine samtartige Be- schaffenheit dadurch erhalten und daß man mikroskopisch die Pflanze an irgendwelchem Fragment erkennen kann. Die Trichoblasten sind |—|- förmig verzweigte, oft auch mehrfach verästelte Zellen mit stark ver- holzten Wänden, ihre physiologische Bedeutung ist aller Wahrscheinlich- keit nach eine spezifisch mechanische. Wie alle Sumpf- und Wasser- pflanzen besitzen nämlich auch die Mangrovebäume eine große Menge lufterfüllter Hohlräume im Grundgewebe, über deren Bedeutung im Haus- halt der Pflanzen freilich noch keine für alle Fälle befriedigende Er- klärung vorhanden ist. Soviel dürfte indessen feststehen, daß bei schwimmenden Pflanzen und Pflanzengliedern die Bedeutung der Luft- räume in der durch sie bewirkten Herabsetzung des spezifischen Ge- wichtes zu suchen ist. Für die schwimmenden Keimpflanzen der Rhizo- phora ist diese Erklärung in der That einleuchtend. Von Wichtigkeit muß es nun für die Pflanze sein, ihre Intercellularräume gegen Zusammen- fallen oder Einschrumpfen zu schützen, und da diesem Bedürfnis am besten durch feste, dem Gewebe eingestreute »mechanische« Elemente genügt wird, so hat man den Trichoblasten, welche bei Rhizophora allent- halben in die Lufträume hineinragen, jene Funktion des »Aussteifens« des Gewebes zugeschrieben. Schon oben wurde darauf hingewiesen, dab die Stütz- und Nähr- wurzeln von Rhizophora Mangle einen verschiedenen anatomischen Bau aufweisen. Dieser Unterschied ist in erster Linie dadurch bedingt, dab die Stützwurzeln als Träger des gesamten Baumes eine bedeutende Biegungsfestigkeit besitzen, die im Boden verankerten Nährwurzeln hin- gegen vor allem zugfest gebaut sein müssen. Entsprechend diesen me- chanischen Anforderungen haben die Stützwurzeln eine Struktur ange- nommen, die in auffallendster Weise stammähnlich ist; sie besitzen ein für Wurzeln unerhört großes Mark und eine bedeutende Anzahl von Bast- und Holzsträngen, welche von durchgehenden Parenchymstrahlen zer- klüftet sind. Die Nährwurzeln hingegen sind ganz wie gewöhnliche Wurzeln gebaut, mit denen sie auch in allen ihren Funktionen überein- stimmen. Von anderen anatomischen Merkwürdigkeiten sei nur noch des Baues der Blätter kurz Erwähnung gethan. Entsprechend nämlich der oben geschilderten fixen Lichtlage der Blätter senkrecht zum Horizont, welche eine gleichmäßige Beleuchtung beider Blattflächen zur Folge hat, ist auch die anatomische Differenzierung von Ober- und Unterseite des Blattes, welche bei den Blättern des gewöhnlichen »dorsiventralen« Typus sehr augenfällig hervortritt, bei Rhizophora fast gänzlich unterblieben. 424 Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. I. Ebendasselbe findet sich übrigens auch bei anderen Gewächsen mit senk- recht gestellten Assimilationsorganen. Dies wären die wesentlichsten biologisch interessanten Züge, welche aus der Morphologie der Mangrovebäume bisher bekannt geworden sind. Wir wenden uns nun noch zu einer kurzen Betrachtung der in den Mangrovesümpfen lebenden Tierwelt, welche, wie schon die Eigentüm- lichkeiten der topographischen Verhältnisse und der Vegetation ver- muten lassen, in Charakter und Lebensweise manches Eigenartige dar- bietet. Leider besitzen wir keine von einem Zoologen auf diesen Gegen- stand gerichtete Studie, sondern nur kurze Bemerkungen von Reisenden, die sich über die entsetzliche Menge der Moskitos beklagen oder die wohlschmeckenden Austern und Krebse rühmen, welche die Sümpfe be- herbergen. Jacquın spricht auch von Scharen großer Wasservögel, die er gesehen, von Reihern, Wasserhühnern und dergleichen. Einige flüchtige Wahrnehmungen war Verf. selbst zu machen in der Lage, als er sich, auf einem von Trinidad aus nach Venezuela unter- nommenen Ausflug begriffen, mehrere Tage lang auf dem von dem üppig- sten Mangrovehochwald umsäumten Rio Guarapiche (einige Meilen nörd- lich vom Orinokodelta) an Bord eines kleinen Segelschiffes aufhielt. Da das Fahrzeug beständig zwischen den beiden Ufern des Stromes zu kreuzen hatte und zur Ebbezeit vor Anker lag, bot sich zu wiederholten Malen Zeit und Gelegenheit dar, mit einem Kanoe in das Dunkel des geheimnisvollen Waldes, der von der Mitte des Stromes aus wie eine mächtige dunkle Mauer erschien und erst von der Nähe gesehen sich in seine Bestandteile auflösen ließ, eine Strecke weit einzudringen und in das reiche Tierleben desselben einen Blick zu thun. Vor allem überraschend war die zahllose Menge von Wasservögeln, die sich im Innern des Waldes schwimmend, watend und fliegend umher- tummelten. Scharen herrlich rosenroter oder schneeweißer Ibisse (von den Kreolen fälschlich Flamingos! genannt) belebten den düsteren Wald mit den leuchtendsten Farben; in dichten Trupps auf den Wurzel- gerüsten oder in dem höheren Gezweig der Bäume sitzend, erhoben sie sich bei der Annäherung des Bootes oder bei der Abfeuerung eines Flinten- schusses in hellen Haufen und flohen, einer roten Wolke vergleichbar, auf das entgegengesetzte Stromufer hinüber. Weiße, graue oder farbige Reiher von verschiedenster Größe (darunter die seltenen kleinen »Nacht- reiher«) saßen auf den in den Fluß vorspringenden Ästen — zuweilen erblickte man einen einzelnen von gewaltiger Größe unbeweglich auf dem Gipfel eines Baumes sitzend. Plumpe braune Pelekane (Pelecanus fuscus) fischten schwimmend im Wasser, sonnten sich — immer in größeren Gruppen — auf einem Baumaste, der sich, von ihrer Last gedrückt, tief herniederbog, oder flogen, durch ihren bizarren Schnabelbau an vor- sündflutliche Tierformen erinnernd, langsam von einem Ruheplatz zum andern. Enten, Taucher, Königsfischer und Eisvögel sah man allent- ! Am Orinoco kommen auch eigentliche Flamingos vor. Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. 1. 425 halben in Menge, ebenso kleine schnepfenähnliche Vögel, die zur Ebbe- zeit auf den vom Wasser entblößten Schlammbänken scharenweise umher- liefen, daselbst allerhand niederes Getier verzehrend. ’ Nächst den Wasservögeln waren — besonders in den Morgen- stunden hörbar und sichtbar — die Papageien in größter Anzahl ver- treten. - Wir bemerkten den grünen Papagei (Ohrysotis aestivus), ferner Perikos und Perikitos, von denen, wie ein in Maturin wohnender Engländer, der die Vögel Venezuelas auf das gründlichste zu kennen schien, ver- sicherte, mehr als ein halbes Dutzend Spezies ausschließlich den Man- grovewäldern eigentümlich sein soll. Auch Kolibris mit langen Gabel- schwänzen gab es daselbst von einer Art, die in anderen Gebieten von Venezuela nicht wieder zu finden ist. Von den übrigen Wirbeltierklassen scheinen, wenn wir von den Fischen absehen, deren Existenz sich der oberflächlichen Beobachtung entzieht, die Reptilien nächst den Vögeln am zahlreichsten zu sein. Die Individuenzahl der in den Mangroves lebenden Giftschlangen ist, wenn man den Aussagen der Eingebornen trauen kann, eine so erschreckende, daß das Eindringen in den Wald deshalb sehr gefährlich ist, weil jene Tiere zuweilen von den Bäumen in das Boot sich herabfallen lassen. Alligatoren gibt es hingegen in dem brackigen Wasser der Mangrove- sümpfe nicht. Auch die eigentlichen Amphibien scheinen dasselbe zu verschmähen, wenigstens war in den Nächten nichts von Froschstimmen zu vernehmen. Die Säugetiere sind durch wilde Katzen, unter denen der Jaguar sich besonders durch sein nächtliches Geheul bemerkbar macht, sowie durch Herden roter Brüllaffen vertreten. Über die niedere Tierwelt, welche bei genauerem Studium unstreitig große Mannigfaltigkeit und manche interessante Beziehungen zu den Eigentümlichkeiten des umgebenden Mediums aufweisen würde, bin ich nicht in der Lage, genaueres mitzuteilen. Die ungeheure Menge der Moskitos, welche in Verbindung mit den Miasmen des Sumpffiebers und den Giftschlangen ein längeres Verweilen in den Mangrovedistrikten unmöglich machen, ist allbekannt; weniger das Vorkommen zahlreicher wohlschmeckender Austern und Krustentiere, zu denen sich wohl auch andere niedere Tierformen in großer Arten- und Individuenzahl gesellen dürften. Einen überraschenden und fremdartigen Eindruck gewährten des Nachts und während der kurzen Abend- und Morgendämmerung die mannigfaltigen der Tierwelt entstammenden Geräusche, welche ich auf dem Verdeck des im Flusse verankerten Fahrzeuges liegend aus der un- heimlichen Wildnis des Mangrovewaldes von beiden Stromufern herüber- tönen hörte. Sobald abends die Sonne versank, begann zunächst unter den Wasservögeln ein mit heftigem Geschrei und Gekreisch verbundenes Zanken um die Ruheplätze, welches erst nach dem völligen Einbruch der Dunkelheit einer nur hin und wieder durch ein kurzes Flügelschlagen oder einige krächzende Töne unterbrochenen Ruhe wich. Aber bald darauf begann ein anderes, weit sonderbareres Geräusch sich hörbar zu machen: Ein wie aus kleinen Detonationen zusammengesetztes Knistern und Knattern 426 Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. I. drang erst undeutlich und abgebrochen, bald aber vernehmlicher und in schnellerem Tempo aus dem Walde hervor, die Vorstellung erweckend, als ob Herden von Affen in den Baumkronen herumkletterten und das Gezweig zerbrächen. Der Steuermann unseres Schiffes, ein eingeborner Halbblutindianer, führte indessen auf Befragen die Ursache des Ge- räusches auf die Austern zurück, welche, bei der gegenwärtig ein- tretenden Ebbe vom: Wasser entblößt, plötzlich ihre Schalen zuklappten. Daß dasselbe Geräusch bei Tage nicht hörbar ist, erklärt sich wohl zur Genüge durch die bekanntlich in der Nacht gesteigerte Leitungsfähig- keit der Luft für den Schall. Etwa zur Mitternachtszeit beginnt sodann das Geheul der Raubtiere, besonders des Jaguars, die wohl vor allen den schlafenden Vögeln nachstellen dürften, und einige Stunden vor Sonnenaufgang das langgezogene, melancholische Geheul der Brüllaffen, welches bald aus weiter Ferne undeutlich vernommen wird, bald aus unmittelbarster Nähe das Ohr erschreckt. In den ersten Stunden nach Sonnenaufgang sind es wiederum die Vögel, welche mit ihrem Geschrei die Luft erfüllen, aber nicht, wie bei Einbruch der Nacht, die Wasser- vögel, sondern vielmehr die Papageien, welche um diese Zeit in dichten Schwärmen zu ihren Futterplätzen fliegen. Nur der große blaue Aral zieht schweigend in vereinzelten Paaren durch die Luft; die kleineren geselligen Arten schwatzen und krächzen ohne Unterbrechung und an- scheinend ohne jeden besonderen Grund. Gegen acht Uhr morgens wird es stiller im Walde. Alles scheint von dem Geschäft des Fressens vollständig in Anspruch genommen zu werden. Zur Mittagszeit sonnt man sich auf den Baumästen oder ruht im Schatten des Waldes, und um sechs Uhr abends wird das Konzert durch die Wasservögel von neuem eröffnet. Zu diesem reichen und mannigfaltigen Tierleben, welches tagaus tagein in den Mangrovewäldern sich abspielt, steht das gänzliche Fehlen der Spuren menschlicher Existenz und Thätigkeit in einem sonderbaren Gegensatz. Macht schon die topographische Beschaffenheit dieser Di- strikte das Anlegen von Ansiedelungen daselbst auch für wilde Völker- schaften zur Unmöglichkeit, so werden die Sümpfe auch der tückischen Malaria sowie der Moskitos wegen überall gefürchtet und geflohen und Städte und Dörfer in möglichst weiter Entfernung von denselben ange- legt. Nur einen einzigen Nutzen hat der Mensch bisher von den Man- grovewäldern zu ziehen gewußt. In Westindien benutzt man jetzt die Rinde der Rhizophoren zur Herstellung einer guten Gerberlohe, welche in ihrem Gehalt an Gerbsäure unsere Eichenlohe noch übertreffen soll. Die Schwere oder das Wirksamwerden der potentiellen Energie. Von Baron N. Dellingshausen. (Fortsetzung. Lv; Bedeutung der Masse und der Dichtigkeit der Körper. Im vorigen Abschnitt haben wir das Fallen der Körper ohne Rück- sicht auf ihre. Verschiedenheit erklären können, weil die Gesetze, nach welchen die Geschwindigkeit und die lebendige Kraft der fallenden Körper zunehmen, unabhängig von der Qualität und der Größe der- selben sind. Jetzt tritt an uns die Aufgabe heran, den Einfluß, den die Körper selbst auf ihre Schwere ausüben, zu erkennen und zwar nicht allein bei verschiedenem Volumen, sondern für die qualitativ ver- schiedenartigen Körper auch bei gleichem Volumen, eine Aufgabe, deren Lösung für die kinetische Naturlehre aus dem Grunde besonders wichtig ist, weil sie bei der Unterschiedslosigkeit des allgemeinen Substrates keine Hypothesen bereit hat, welche als Erklärung für die Verschiedenheit der Körper gelten können. — Die Verschiedenheit der Schwere äußert sich zunächst beim Heben der Körper; je größer das Volumen derselben ist, um so größer ist auch die Anstrengung, welche dabei gemacht werden muß, aber auch bei gleichem Volumen besteht in dieser Be- ziehung eine Verschiedenheit; es ist z. B. viel schwerer eine eiserne Kanonenkugel aufzuheben, als eine gleich große Holzkugel. Ebenso üben auch die Körper gegen ihre Unterlage einen verschiedenen Druck aus. Um die Größe dieses Druckes zu bestimmen, bedient man sich der Wage. Indem man mit ihrer Hilfe die Schwere eines Körpers mit der Schwere eines anderen, als Einheit angenommenen Körpers ver- gleicht, erhält man für den ersten eine Verhältniszahl, welche man als das Gewicht desselben bezeichnet. Bei gleichartigen Körpern ist das Gewicht dem Volumen proportional; die qualitativ verschiedenartigen Körper unterscheiden sich durch ihr spezifisches Gewicht, d.h. durch die Verschiedenheit ihrer Gewichte bei gleichem Volumen. Das 428 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden Produkt aus dem Gewichte G und der Höhe h ist die Arbeit, welche beim Heben eines Körpers zu leisten ist. Dieselbe Arbeit wird beim Niedersinken des Körpers wieder gewonnen; bei einem frei fallenden Körper verwandelt sie sich in lebendige Kraft. Um die Äquivalenz zwischen der Arbeit und der lebendigen Kraft herzustellen, wird das halbe Quadrat der Geschwindigkeit v, welche ein Körper bei seinem Herabfallen von der Höhe h erreicht, mit einem konstanten Faktor M multipliziert, den man als die Masse des Körpers bezeichnet. Durch Gleichsetzen der beiden Ausdrücke für die lebendige Kraft und die Arbeit eines Körpers erhält man die Beziehung 2 ren 2 Ersetzt man in dieser Gleichung, den Gesetzen der gleichförmig be- schleunigten Bewegung entsprechend, die Höhe h durch >, wobei g die 30 fo] Beschleunigung der Schwere bedeutet, so folgt Die Masse einesKörpers ist somit gleich dem Quotienten aus dem Gewichte desselben und der Beschleunigung der Schwere. Durch die letzte Gleichung sind wir stets in der Lage, für die Masse eines Körpers einen numerischen Wert anzugeben. Die Bedeutung der Masse bleibt aber dabei unbestimmt; sie ergibt sich erst aus den Vorstellungen, welche man sich über die Ursache der Schwere bildet. Gegenwärtig wird allgemein angenommen, daß die Körper aus Atomen bestehen und daß an den Atomen fernwirkende Anziehungskräfte haften. Diese Kräfte sollen die Ursache der Schwere sein. Das be- obachtete Gewicht der Körper gilt dabei als Maß für die anziehenden Kräfte; weil diese aber der Größe und Anzahl der Atome proportional yesetzt werden, so dient das Gewicht auch dazu, um die Quantität der Materie in den Körpern zu bestimmen. Bei gleicher Beschleunigung g sind aber die Massen der Körper den Gewichten derselben proportional. Auf diese Weise erhalten die Massen der Körper die ihnen gegenwärtig beigelegte Bedeutung einer relativen Quantität der Materie. Diese Be- deutung besteht aber nur unter der Voraussetzung anziehender Kräfte, weil die Gewichte, durch welche die Massen der Körper bestimmt werden, selbst nur unter derselben Bedingung der Quantität der Materie pro- portional gesetzt werden können. Dem entsprechend werden auch die anziehenden Kräfte den Massen der Körper proportional angenommen. Dabei ist jedoch zu beachten, daß die absolute Quantität der Materie uns in keinem Falle gegeben ist, sondern die Masse eines Körpers wird immer nur aus seinem beobachteten Gewichte bestimmt und erst hinter- drein unter Voraussetzung anziehender Kräfte durch die Masse, als Quantität der Materie aufgefaßt, die verschiedene Schwere der Körper erklärt. Das von der Masse der Körper soeben Gesagte gilt auch von der potentiellen Energie. III. 429 ihrer Dichtigkeit, welche als die relative Quantität der Materie in einer Volumeneinheit betrachtet wird. Ihre Verschiedenheit wird gegenwärtig auf ein mehr oder weniger dichtes Zusammendrängen der Atome zurück- geführt. Die absolute Quantität der Materie ist uns aber in einer Volumeneinheit ebenso wenig als in irgend einem anderen Falle gegeben, sondern die Dichtigkeit der Körper wird aus ihrem spezifischen Gewichte bestimmt und erst hinterdrein unter Voraussetzung anziehender Kräfte durch die Dichtigkeit, als Quantität der Materie aufgefaßt, die ver- schiedene Schwere der Körper bei gleichem Volumen erklärt. Wie allgemein anerkannt diese Lehre auch sein mag, so hat sie doch in der letzten Zeit bedeutende Zweifel hervorgerufen. Die Natur- forscher überzeugen sich von Jahr zu Jahr immer mehr, daß die »An- ziehungskraft«e nur ein Ausdruck ist, der dazu dient, die Unkenntnis von der wahren Ursache der Schwere zu verdecken. In den Teilen der Naturlehre, welche bis zur Bewegung, d. h. bis auf den Grund der Erscheinungen hindurchgedrungen sind, z. B. in der Undulationstheorie des Lichtes und in der mechanischen Wärmetheorie, kommt der Ausdruck >Kraft« süberhaupt nicht mehr vor. Der Zusammenhang zwischen der Masse und der Dichtigkeit der Körper einerseits und der Quantität der Materie anderseits besteht aber nur unter der ausdrücklichen Voraus- setzung von anziehenden Kräften; mit ihrem Verschwinden hört diese Verbindung auf; zugleich verlieren die Masse und die Dichtigkeit der Körper die ihnen bisher beigelegte Bedeutung; sie entsprechen nicht mehr einer Quantität der Materie, sondern sind nur noch empirische, durch das. beobachtete Gewicht bestimmte Koeffizienten, welche den Ein- fluß der Körper selbst auf ihre Schwere angeben und dazu dienen, die Äquivalenz zwischen der lebendigen Kraft und der Arbeit herzustellen. Wenn aber die Masse und die Dichtigkeit der Körper unabhängig von der Quantität der Materie sind, so tritt an die Wissenschaft die Forderung heran, ihre Bedeutung auf neuer Grundlage festzustellen. Für die kinetische Naturlehre insbesondere ist bei der Unterschiedslosigkeit und Unveränderlichkeit des allgemeinen Substrats die Vorstellung einer verschiedenen Quantität der Materie in gleichem Volumen völlig unzu- lässig. Die Dichtigkeit ist nach ihr nur eine Qualität, welche durch die inneren Bewegungen der Körper begründet wird. Die der kinetischen Naturlehre gestellte Aufgabe besteht somit darin, nicht allein die Bedeut- ung der Masse zu erkennen, sondern auch zu erklären, auf welche Weise es möglich ist, daß zwei Körper von gleichem Volumen, wie z. B. eine Kanonenkugel und eine gleich große Holzkugel, bei einem unterschieds- losen Substrate, also in substantieller Beziehung vollkommen gleich, dennoch durch ihre Schwere und durch ihr Verhalten bei der Mitteilung einer Bewegung sich als verschieden erweisen können. — Um diese Auf- gabe zu lösen, müssen wir vor allem den inneren Vorgang bei der Ent- stehung einer Bewegung berücksichtigen. Ein Körper kann nicht in Bewegung versetzt werden, ohne daß ihm eine der beabsichtigten Ge- schwindigkeit entsprechende lebendige Kraft mitgeteilt wird. Dazu ist aber bei äußeren Einwirkungen die Übertragung einer bestimmten Energie oder eine äquivalente Arbeitsleistung erforderlich. Die Körper 430 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden werden daher nicht durch Kräfte, sondern nur durch Arbeit in Bewegung versetzt. Tritt dabei eine Verschiedenheit hervor, so kann diese nur darin bestehen, daß die Körper entweder bei gleichen ihnen mitgeteilten Geschwindigkeiten verschiedene Arbeitsleistungen erfordern oder bei gleichen Arbeitsleistungen verschiedene Geschwindig- keiten annehmen. Bei den Erscheinungen der Schwere äußert sich die Verschiedenheit der Körper: durch die Arbeit, welche sie bei ihrem Herabsinken leisten, durch die lebendige Kraft, welche sie bei ihrem Herabfallen entwickeln, durch den Druck, den sie auf ihre Unterlage ausüben, und endlich durch die Arbeit, welche erforderlich ist, um sie wieder in die Höhe zu heben. Gelingt es uns, die Verschiedenheit dieser Äußerungen der Schwere bei den verschiedenen Körpern trotz der Unter- schiedslosigkeit des allgemeinen Substrates auch bei gleichem Volumen zu erklären, so wird sich durch die Bestimmung des Gewichtes der Körper auch zugleich die Bedeutung ihrer Masse und Dichtigkeit ergeben. Zu diesem Zweck wollen wir zunächst ein Beispiel den äußeren Bewegungserscheinungen entnehmen. Es seien Mı und Ma die Massen zweier Körper, die sich bereits mit den Geschwindigkeiten cı und ca im Raume bewegen. Ihre lebendigen Kräfte sind dann: Mı cı? Ma ce? > und En Werden gewisse Arbeitsmengen Uı und Us dazu verbraucht, um die Geschwindigkeiten der beiden Körper auf vı und v2 zu erhöhen, so sind die lebendigen Kräfte derselben nach der Mitteilung der neuen Be- wegung 2 Mı vı“ Ma v>° — und 9 Die bei der Mitteilung einer Bewegung verbrauchte Arbeitsmenge ist aber stets gleich dem Zuwachs der lebendigen Kraft; wir erhalten daher die beiden Gleichungen Pa) % Mı (vı°— cı‘“) ig - 2 und 2 Ma (v2? — c»?) U: = _— oder die Proportion U1:U: = Mı mi -c19):M: (m? ee) Zerlegen wir die Differenzen der Quadrate in ihre Faktoren, so ist für den einen Körper vı?— a?=(vı 4cı) (vrı — cı). Es ist aber vı — cı der Zuwachs an Geschwindigkeit, den der Körper Mı durch die Arbeit Uı erhält; bezeichnen wir diesen Zuwachs mit A‘cı, ko’ist vıtcı=2cı + Jcı » n’—- ct? =(c- Fcı) Lcı. und der potentiellen Energie. II. 431 Verfahren wir in derselben Weise mit dem zweiten Körper, so ist ve? — c®—(2c2a + Ice) A ca. Diese Werte in die obige Proportion eingesetzt, ergeben Uı:U2 =Mı (2cı + 4cı) Jcı:M2 (2ce —+ Sc) 4 ca. Nehmen wir nun an, die Steigerungen der Geschwindigkeiten ./ cı und A c2 seien so gering, daß sie neben 2 cı und 2 ca vernachlässigt wer- den können — eine Voraussetzung, welche bei einer gleichförmig be- schleunigten Bewegung stets gemacht werden darf, weil wir keinen Körper in absoluter Ruhe kennen — so verwandelt sich die Proportion in U1: Uz = Mı cı Zcı:Meca 4 ca. Setzt man /cı = / ca, so erhält man Uı: U2 = Mı cı: Ma ca oder das Verhältnis der Arbeitsmengen, welche zu leisten 'sind, um ver- schiedenen Körpern gleiche Beschleunigungen zu erteilen. In der Mechanik ist man übereingekommen, das Produkt aus Masse und Geschwindigkeit als die Quantität der Bewegung oder als das Bewegungsmoment der Körper zu bezeichnen. Das Gesetz, welches die obige Gleichung ausdrückt, kann daher mit Worten auf folgende Weise ausgesprochen werden: Die Arbeitsmengen, welche erforder- lich sind, um verschiedenen Körpern gleiche Beschleunig- ungen zu erteilen, verhalten sich zu einander, wie die bereits vorhandenen Bewegungsmomente der Körper. Mit Hilfe der Gleichung sind wir zwar in der Lage, für die Masse M einen numerischen Wert anzugeben, weshalb es auch stets möglich ist, die Arbeitsmenge zu be- rechnen, welche erforderlich ist, um einen Körper in Bewegung zu ver- setzen, die wahre Bedeutung der Masse bleibt aber dabei unbestimmt. Dieselbe Ungewißheit besteht für die qualitativ verschiedenen Körper auch dann noch, wenn sie von gleichem Volumen sind; ihre Massen Mı und Ms verhalten sich dann wie ihre Dichtigkeiten Dı und D2 und wir erhalten die Proportion 102202 — Di'cı Degen Mit Hilfe der Gleichung in welcher S das spezifische Gewicht der Körper bedeutet, können wir zwar ebenfalls in die mechanischen Gleichungen für die Dichtigkeit einen numerischen Wert einführen, die Physik läßt es aber auf ihrem gegenwärtigen Standpunkte unentschieden, ob man unter »Dichtigkeit« eine Quantität der Materie oder eine Qualität der Körper zu ver- stehen hat. Um diese Zweifel aus unseren Gleichungen auszuschließen, wollen wir beide Körper von gleicher Qualität und somit auch von gleicher 432 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden Dichtigkeit voraussetzen; ihre Massen verhalten sich dann wie ihre Volumina Vı und Va und wir erhalten die Proportion Un User Vasca, Diese Gleichung enthält keine Ungewißheit mehr in sich, weil das Ver- hältnis der Arbeitsmengen Uı und Us nur noch durch quantitative Größen, durch das Volumen und die Geschwindigkeit der beiden Körper bestimmt wird, welche sich auf die Einheiten des Raumes und der Zeit zurückführen lassen. Setzen wir schließlich noch das Volumen der bei- den Körper gleich, so erhalten wir die Proportion User :/C2. Aus dieser Gleichung ersehen wir, daß zwei an Qualität und Vo- lumen vollkommen gleiche Körper, wenn sie bereits verschiedene Ge- schwindigkeiten besitzen, sich bei der Mitteilung einer Bewegung ver- schieden verhalten. Sie erfordern, um gleiche Beschleunig- ungen zuerleiden, Arbeitsleistungen, welche ihren bereits vorhandenen Geschwindigkeiten proportional sind. Setzen wir dagegen die Beschleunigungen -/ cı und ./ ce als ver- schieden voraus, so müssen wir auf die Gleichung 01:02 = Meer Fcı: M2 ca 1 zurückgehen. Aus dieser Gleichung ergeben sich folgende Gesetze. Sind die Bewegungsmomente Mı cı und Ma ca der beiden Körper einander eleich, ein Fall, der stets dann eintritt, wenn zwei gleiche Körper sich mit gleicher Geschwindigkeit bewegen, so folgt die Proportion Ur als Her: 4 c2, d. h. bei gleichen Bewegungsmomenten der Körper sind die geleisteten Arbeiten und die erteilten Beschleunigungen mit- einander proportional. Sind dagegen die Arbeitsleistungen Uı und Usa gleich, so folgt A cı: Dc2 — Ms:ca2: Mi cı, d. h. die Beschleunigungen, welche durch gleiche Arbeits- leistungen den Körpern mitgeteilt werden, verhalten sieh um- gekehrt, wie die Bewegungsmomente derselben. Für gleiche Körper oder wenn Mı — Ms ist, folgt außerdem A Gew Ane3—.09:.c1, d. h. zwei gleiche Körper erhalten durch gleiche Arbeits- leistungen Beschleunigungen, welche ihren bereitsvorhandenen Geschwindigkeiten umgekehrt proportional sind. Aus dem obigen erkennen wir, daß die Verschiedenheit der Ge- schwindigkeit allein schon genügt, um bei sonst vollkommen gleichen Körpern und somit auch bei einem und demselben Körper ein ver- schiedenes Verhalten bei der Mitteilung einer Bewegung zu begründen. Zu demselben Resultate kann man jedoch auf viel einfachere Weise mit Hilfe des Differentials der lebendigen Kraft gelangen. Ist M die Masse eines Körpers und v seine Geschwindigkeit, so ist seine lebendige Kraft Mv? L= — ) _ der potentiellen Energie. II. 433 Durch Differentiation erhält man dL Se eulig dv Aus dieser Gleichung ersehen wir, dab das Bewegungsmoment Mv eines Körpers der Differentialquotient seiner lebendigen Kraft nach der Geschwindigkeit ist; als solcher gibt es das Gesetz an, nach welchem die lebendige Kraft eines Körpers sich verändert, wenn seine Geschwindig- keit zu- oder abnimmt. Dem Zuwachs der lebendigen Kraft äquivalent ist aber die bei der Mitteilung einer Bewegung auf den Körper über- tragene Energie, sowie die dabei verbrauchte Arbeit. Wir erkennen daher aus der obigen Gleichung, daß die Arbeit dU=dL bei gleicher Beschleunigung dv der Geschwindigkeit v direkt und dab die Beschleunig- ung dv bei gleicher Arbeitsleistung d U derselben Geschwindigkeit v um- gekehrt proportional ist. Die soeben entwickelten Gesetze sind keine von der kinetischen Naturlehre zu einem bestimmten Zweck gemachten Voraussetzungen, son- dern die unbedingten Konsequenzen allgemein anerkannter mechanischer Grundsätze; es ergibt sich aber aus ihnen eine einfache Erklärung für das verschiedene Verhalten der Körper bei der Mitteilung einer Beweg- ung auch sogar in dem Falle, wenn sie von gleichem Volumen sind. Mögen zwei qualitativ verschiedenartige Körper bei gleichem Volumen wegen der Unterschiedslosigkeit des allgemeinen Substrats in substantieller Beziehung einander vollkommen gleich sein, mögen sie sich sogar im Raume mit gleicher Geschwindigkeit bewegen, so unterscheiden sie sich doch von einander durch ihre inneren Bewegungen und dieser Umstand genügt, um ihre Verschiedenheit zu begründen. Die aus den äusseren Bewegungen der Körper entnommene Vor- stellung eines Bewegungsmomentes lässt sich nämlich auch auf ihre inneren Bewegungen übertragen. In dem einen wie in dem anderen Falle sind es Bewegungen, welchen bestimmte Energien entsprechen; bei den äusseren Bewegungen — die lebendige Kraft, bei den inneren Beweg- ungen — die Totalenergie. In derselben Weise aber wie zu der leben- digen Kraft eines Körpers ein äuberes Bewegungsmoment gehört, so ent- spricht auch der Totalenergie als ihr Differentialquotient ein inneres Bewegungsmoment. Für die Totalenergie der Körper haben wir bereits im ersten Ab- schnitte den Ausdruck KVYIu- a *) aufgestellt, in welchem Yu? die Summe der Quadrate der Geschwindig- keiten aller Bewegungen darstellt, an welchen die Punkte eines Körpers teilzunehmen haben, V das Volumen des Körpers bedeutet und K ein konstanter und wegen der Unterschiedslosigkeit des allgemeinen Sub- strates für alle Körper gleicher Koeffizient ist, der dazu dient, die Äqui- valenz zwischen der Totalenergie des Körpers und dem Gesamtwerte seines inneren Arbeitsvorrates herzustellen. Durch Differentiation der Kosmos 1884, I. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XIV). 28 43 N, Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden Totalenergie unter Voraussetzung eines konstanten Volumens erhalten wir einen Ausdruck von der Form OKReRe) du) den wir als das innere Bewegungsmoment der Körper bezeichnen wollen. Durch diesen Ausdruck ist die Bedeutung des inneren Bewegungs- momentes der Körper aufs genaueste festgestellt. Als ein Produkt aus Volumen, Geschwindigkeit und einem konstanten Faktor bedeutet das innere Bewegüngsmoment die thatsächlich in den Körpern enthaltene Quantität der inneren Bewegungen. Als der Differential- quotient der Totalenergie gibt es das Gesetz an, nach welchem die- selbe sich verändert, wenn die Geschwindigkeit der inneren Bewegungen zu- oder abnimmt, und bestimmt dadurch zugleich die auf den Körper zu übertragende Energie oder die Arbeitsleistung, welche erforderlich ist, um gewisse Veränderungen hervorzubringen. Die Verschiedenheit der Körper erklärt sich somit vollständig durch die Verschiedenheit ihrer inneren Bewegungsmomente, und zwar nicht allein bei verschiedenem Volumen, sondern für die qualitativ verschiedenartigen Körper wegen der verschiedenen Geschwindigkeit ihrer inneren Bewegungen auch bei gleichem Volumen. Diese Erklärung läßt sich insofern als eine defini- tive bezeichnen, weil das innere Bewegungsmoment der Körper, als ein Produkt aus Volumen und Geschwindigkeit, durch quantitative Größen allein bestimmt wird, welche sich auf die Einheiten des Raumes und der Zeit zurückführen lassen und daher frei von allen Hypothesen über Atome, Kräfte und Imponderabilien unserer Erkenntnis einen absoluten Anfang gestatten. Dieses gilt für alle Erscheinungen, welche mit einer Veränderung der Totalenergie verbunden sind, nicht allein für die Ver- änderungen der Temperatur, bei welchen die Wärmekapazität der Körper sich als verschieden erweist, sondern auch in bezug auf die Be- wegungserscheinungen, bei welchen die Körper sich durch ihre Träg- heit von einander unterscheiden. Werden verschiedene Körper durch ihre inneren Bewegungen in gleicher Weise im Raume verschoben, so befinden sie sich in bezug auf einander in relativer Ruhe. Es genügt aber, in dem einen oder dem anderen Körper die Form seiner inneren Bewegungen abzuändern, z. B. die Ganghöhe seiner schraubenförmigen Bewegungen zu vergrößern oder zu verkleinern, damit er den anderen Körpern voraneile oder hinter ihnen zurückbleibe und uns dadurch die Erscheinung einer relativen Bewegung zeige. — Um solches zu bewirken, ist bei äußeren Einwirkungen stets die Mitteilung neuer Bewegungen, d. h. die Übertragung einer be- stimmten Menge von Energie oder eine Arbeitsleistung erforderlich, wo- bei zugleich die Totalenergie der Körper einen äquivalenten Zuwachs erhält; dabei erweisen sich die Körper als von einander verschieden; der eine verlangt, um eine bestimmte Geschwindigkeit anzunehmen, eine größere, der andere eine geringere Arbeit; der eine Körper kann durch seine lebendige Kraft bei gleicher Geschwindigkeit eine größere, der der potentiellen Energie. II. 435 andere nur eine geringere Arbeit leisten. Diese Verschiedenheiten trotz der Unterschiedslosigkeit des allgemeinen Substrats auch bei gleichem Volumen der Körper zu erklären, ist die uns zunächst bevorstehende Aufgabe. Wird ein relativ ruhender Körper in Bewegung versetzt oder wird die relative Bewegung eines Körpers abgeändert, so verändert sich auch notwendigerweise seine absolute translatorische Bewegung im Raume und mit ihr zugleich, weil sie eine der vielen Komponenten zu den Be- wegungen seiner Punkte ist, die Geschwindigkeit der inneren Bewegungen überhaupt. Mit der Veränderung der inneren Bewegungen verändert sich auch die Totalenergie und zwar für eine bestimmte Zu- oder Abnahme der inneren Geschwindigkeiten im Verhältnis zu ihrem Differentialquotien- ten oder proportional dem inneren Bewegungsmomente des Körpers. Der Veränderung der Totalenergie muß aber stets die auf den Körper übertragene Energie und bei vollkommen elastischen Körpern, wenn die geleistete Arbeit ausschließlich auf die Mitteilung einer relativen Ge- schwindigkeit verbraucht wird, auch die zum Vorschein kommende lebendige Kraft äquivalent sein. Daraus ergibt sich ohne weiteres eine Erklärung für das verschiedene Verhalten der Körper. Weil die Körper nicht in Bewegung versetzt werden können, ohne dab ihre Totalenergie eine Veränderung erleide, weil die Veränderungen der Totalenergie für eine bestimmte Zu- oder Abnahme der inneren Geschwindigkeiten den inneren Bewegungsmomenten proportional sind und weil die auf die Körper über- tragenen Energien den Veränderungen der Totalenergie äquivalent sein müssen, so folgt daraus, daß die Arbeitsleistungen, durch welche ver- schiedenen Körpern gleiche relative Geschwindigkeiten mitgeteilt werden, den Veränderungen der Totalenergie entsprechend sich zu einander ver- halten wie die inneren Bewegungsmomente der Körper. Um das verschiedene Verhalten der Körper bei den äußeren Be- wegungserscheinungen zu erklären, müssen wir wieder einmal auf die elementaren inneren Bewegungen zurückgehen. Nach der kinetischen Naturlehre wird angenommen, dab zwischen allen Teilen des allgemei- nen Substrates, durch Wellen vermittelt, ein beständiger Austausch von Bewegungen stattfindet, deren Energie durch die vollkommene Gegen- seitigkeit aller Wechselwirkungen unveränderlich aufrecht erhalten wird. Dieser Satz gilt nicht allein für das ganze Weltall, sondern auch inner- halb der einzelnen Körper; auch bei ihnen läßt sich nach dem Huyc- Hens’schen Prinzipe jeder Punkt als der Ausgangspunkt besonderer elementarer Wellen betrachten, die sich nach allen Seiten ausbrei- ten und sich vielfach durchkreuzen. Durch die Reflexion, welche die einen Körper durchströmenden Wellen an seiner Grenzfläche erleiden, schließt er sich gegen alle übrigen Körper ab und wird selbst zu einem Ganzen. Beim Zusammentreffen der gleichartigen Wellen in entgegen- gesetzter Richtung verwandeln sie sich in stehende Wellen und begründen dadurch dauernd den Zustand der Körper. Bei gleicher oder fast gleicher Fortpflanzungsrichtung interferieren die Wellen mit einander und neutrali- sieren sich dabei gegenseitig. Die auf diese Weise aus den äußeren Erscheinungen verschwindende Energie der inneren Bewegungen haben 436 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden wir als potentielle Energie der Körper bezeichnet; sie kann nur durch Störung der Interferenzen wieder zum Vorschein kommen. Die nach allen Interferenzen frei bleibenden Bewegungen sind die wahren resultieren- den Bewegungen der einzelnen Punkte im Raume; ihre Energie ist die kine- tische Energie der Körper. Je nach dem Koordinatensysteme, welches wir unseren Untersuchungen zu Grunde legen, erweisen sich die Bahnen, auf welchen die Punkte eines Körpers sich bewegen, als von verschie- dener Form. In bezug auf ein mit dem Körper selbst fest verbundenes Koordinatensystem sind sie geschlossene Kurven; wir betrachten dann den Körper als äußerlich in Ruhe befindlich. Nehmen wir dagegen ein im Raume feststehendes Koordinatensystem an, so sind die Bahnen der Punkte, weil wir keinen Körper in absoluter Ruhe kennen, offene Kurven oder schraubenförmige Linien. Die Öffnung der Kurven oder die Gang- höhe der Schraubenlinien ist die Verschiebung, welche ein Körper wäh- rend der Dauer eines inneren Umschwunges seiner Punkte im Raume erleidet. Die schraubenförmigen Bewegungen lassen sich stets in Ro- tationen und in eine translatorische Bewegung zerlegen. Durch die Energie der inneren Rotationen werden die Eigenschaften und die Tem- peratur der Körper bestimmt. — Die translatorische Bewegung der Punkte eines Körpers äußert sich dagegen als seine Ortsveränderung im Raume. Sind die Einwirkungen, welche ein Körper von außen erleidet, den Wirk- ungen gleich, die er nach außen ausübt, so befindet er sich in einem stationären Zustande; seine inneren Bewegungen bleiben dabei unver- ändert; ist er in bezug auf ein gewähltes Koordinatensystem in Ruhe, so bleibt er in Ruhe; ist er in Bewegung, so setzt er seine Bewegung in gerader Richtung und mit gleichförmiger Geschwindigkeit weiter fort. wuhe und Bewegung sind daher relative Zustände, die nur durch das Hinzukommen neuer Einwirkungen von außen abgeändert werden können. Die Unveränderlichkeit des inneren und äußeren Bewegungszustandes der Körper haben wir als ihr Beharrungsvermögen bezeichnet. Die Energie der translatorischen Bewegung im Raume bildet mit der Energie der Rotationen oder der Wärme und der potentiellen Energie die Total- energie der Körper; sie kann daher nicht abgeändert werden, ohne dab letztere zugleich eine Veränderung erleide. Dasselbe gilt auch für die lebendige Kraft; sie ist das Äquivalent der Arbeit, welche die Körper vermittelst ihrer äußeren Bewegung leisten können, zugleich ist sie äquivalent den Veränderungen, welche die Total- energie sowohl bei der Mitteilung als bei der Aufhebung einer Bewegung erleidet, und ist daher bei gleichen relativen Geschwindigkeiten ebenfalls den inneren Bewegungsmomenten der Körper proportional. Sind die bei der Mitteilung einer Bewegung auf die verschiedenen Körper übertragenen Energien oder die geleisteten Arbeiten einander gleich, so sind es auch die Veränderungen der Totalenergien und bei vollkommen elastischen Körpern die zum Vorschein kommenden lebendigen Kräfte. Gleiche Veränderungen der Totalenergie erfordern aber Verän- derungen der inneren Geschwindigkeiten oder — immer unter Voraus- setzung vollkommen elastischer Körper — Veränderungen der translato- rischen Geschwindigkeit ihrer Punkte im Raume, welche den inneren der potentiellen Energie. III. 437 Bewegungsmomenten der Körper umgekehrt proportional sind, und bringen daher auch relative Geschwindigkeiten hervor, welche in demselben Ver- hältnisse zu einander stehen. Das Bestimmende bei allen Bewegungserscheinungen für das Ver- halten der Körper sind somit die inneren Bewegungsmomente derselben. Verschiedene Körper erfordern, um gleiche relative Geschwin- digkeiten zu erhalten, Arbeitsleistungen, welche ihren inneren Bewegungsmomenten direkt, und nehmen bei gleichen Arbeits- leistungen relative Geschwindigkeiten an, welche denselben inneren Bewegungsmomenten umgekehrt proportional sind. Wenn es somit schwerer ist, eine eiserne Kanonenkugel als eine gleich große Holzkugel in Bewegung zu versetzen, oder wenn beide Körper sich in der Weise von einander unterscheiden, daß eine Kanonenkugel z. B. eine Mauer durchbricht, welche eine Holzkugel bei gleicher Ge- schwindigkeit aufhält, so beruht die Ursache davon einzig und allein auf der Verschiedenheit der inneren Bewegungsmomente, welche, als die Differentialgquotienten der Totalenergie, die von den Körpern aufgenom- menen und abgegebenen Arbeitsvorräte bestimmen. Das verschiedene Verhalten der Körper bei den Bewegungserschein- ungen wird als ihre Trägheit bezeichnet, wobei jedoch an keinen ak- tiven Widerstand gedacht werden darf, sondern die verschiedene Träg- heit der Körper beruht ebenso wie ihr Beharrungsvermögen einzig und allein auf dem Umstande, daß eine Zustandsänderung überhaupt nicht ohne Arbeit, d. h. nicht ohne Übertragung von Energie hervorgebracht werden kann. Betrachten wir die Arbeitsleistungen, welche verschiedenen Körpern gleiche Geschwindigkeiten mitteilen, oder die reciproken Werte der Geschwindigkeiten bei gleichen Arbeitsleistungen als Maß für die Trägheit, so kann sie ebenfalls den inneren Bewegungsmomenten pro- portional gesetzt werden. Die Trägheit ist jedoch nur eine Rechnungs- größe, die nicht direkt beobachtet werden kann; deshalb gelten auch die soeben entwickelten Gesetze nur für vollkommen elastische Körper, während die uns bekannten Körper stets mehr oder weniger unvollkom- men elastisch sind. Von der übertragenen Energie wird immer ein Teil in Wärme umgewandelt und nur der Rest äußert sich als lebendige Kraft. Deshalb kann auch nicht die ganze geleistete Arbeit, sondern nur der Teil, welcher thatsächlich auf das Hervorbringen der Bewegung verbraucht wird, als Maß für die Trägheit dienen. Die gewöhnlichen Bewegungserscheinungen eignen sich daher auch nicht dazu, um die inneren Bewegungsmomente der Körper zu ermitteln. Durch die Er- klärung der Trägheit erhalten wir aber bereits eine Vorstellung von dem Einflusse, welchen die Körper selbst auf die Geschwindigkeit ihrer Be- wegungen ausüben. Jetzt sind wir vollständig dazu vorbereitet, die Verschiedenheit der Körper in bezug auf ihre Schwere zu erklären. Wir wissen bereits, daß die freibeweglichen Körper unter dem Einflusse der Gravitations- wellen gewisse Veränderungen erleiden und dadurch in eine gleichförmig beschleunigte, nach dem Mittelpunkte der Erde gerichtete Bewegung ver- setzt werden. Ihre lebendige Kraft erhalten zber die fallenden Körper 438 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden nicht von außen, nicht aus der Energie der Gravitationswellen, sondern sie müssen sie aus sich selbst, aus ihrer eigenen potentiellen Energie schöpfen. Die unter dem Einflusse der Gravitationswellen durch Störung der Interferenzen frei werdende potentielle Energie ist daher der Arbeits- vorrat, welcher bei dem Fallen der Körper als lebendige Kraft zum Vor- schein kommt; als solche ist sie der Arbeit äquivalent, welche bei. äußeren Einwirkungen den Körpern eine ihrer Fallgeschwindigkeit gleiche Geschwindigkeit erteilt. Die Arbeitsleistungen, welche verschiedenen Kör- pern gleiche relative Geschwindigkeiten mitteilen, verhalten sich aber zu einander wie die inneren Bewegungsmomente derselben; in demselben Verhältnisse müssen daher bei gleicher Fallgeschwindigkeit auch die unter dem Einflusse der Gravitationswellen in den fallenden Körpern frei- gewordenen potentiellen Energien zu einander stehen. Daraus ergibt sich aber ohne weiteres eine Erklärung für die verschiedenen Äußerungen der Schwere. Da die lebendige Kraft, welche die Körper bei ihrem Herabfallen entwickeln, die Arbeit, welche sie bei ihrem Herabsinken leisten können, und die Arbeit, welche erforderlich ist, um sie wieder in die Höhe zu heben, der unter dem Einflusse der Gravitationswellen in derselben Zeit frei werdenden potentiellen Energie äquivalent sind, so folgt daraus, daß sie ebenso wie diese bei verschiedenen Körpern den inneren Bewegungsmomenten derselben proportional sein müssen, wodurch die Verschiedenheit der Körper in dieser Beziehung vollständig nachgewiesen ist. Wenn somit die Äußerungen der Schwere bei den verschiedenen ponderablen Körpern sich als verschieden erweisen und durch die inneren Bewegungsmomente derselben bestimmt werden, so ergibt sich dagegen aus der Proportionalität der Trägheit oder der Arbeit, welche den Kör- pern eine bestimmte Geschwindigkeit erteilt, und der unter dem Einflusse der Gravitationswellen frei werdenden potentiellen Energie oder der Arbeit, welche die fallenden Körper in Bewegung versetzt, eine gleiche Beschleu- nigung der Schwere für alle Körper, wie solches vielfach beobachtet und durch die genauesten Experimente bestätigt worden ist. Liegen die Körper auf einer festen Unterlage, so kann ihre Ver- schiedenheit sich weder durch die lebendige Kraft noch durch die Arbeits- leistung äußern. — Die unter dem Einflusse der Gravitationswellen frei werdende potentielle Energie bringt dann nur eine Arbeit hervor, die wir als Druck empfinden. Der von verschiedenen Körpern auf ihre Unterlage ausgeübte Druck ist als eine unmittelbare Wirkung der in Freiheit gesetzten potentiellen Energie ebenso wie diese den inneren Bewegungsmomenten proportional. Um die Größe dieses Druckes zu bestimmen, bedient man sich der Wage. Indem man dabei den Druck des einen Körpers mit dem Drucke eines anderen als Einheit angenom- menen Körpers vergleicht, erhält man für den ersten eine Verhältnis- zahl, welche man als das Gewicht des Körpers bezeichnet. Das Ge- wicht verschiedener Körper ist daher stets dem Drucke, den sie auf ihre Unterlage ausüben, und somit auch ihren inneren Bewegungsmomenten proportional. Umgekehrt können wir aus dem beobachteten Gewichte der Körper auf den Wert ihrer inneren Bewegungsmomente schließen. der potentiellen Energie. III. 439 Durch das beobachtete Gewicht ist uns die Möglichkeit geboten, für die Arbeit eines ponderablen Körpers einen numerischen Wert an- zugeben. Die Energie, welche ein langsam sinkender Körper auf das Material der Arbeit überträgt, ist äquivalent der lebendigen Kraft, welche er bei seinem freien Herabfallen von derselben Höhe erreicht hätte, und daher auch seinem inneren Bewegungsmomente und seinem Gewichte pro- portional. Die lebendige Kraft eines fallenden Körpers nimmt aber zu- gleich im direkten Verhältnisse mit der Fallhöhe zu. Die Menge der Energie, welche ein arbeitleistender Körper auf einen anderen Körper überträgt, kann daher dem Produkte aus seinem Gewichte und der Höhe, von welcher er herabsinkt, proportional gesetzt werden. Dieses Produkt ist das, was wir als die Arbeit eines ponderablen Körpers bezeichnen. In Meterkilogrammen oder Fußpfunden ausgedrückt, gibt es uns die Einheit, durch welche alle Äußerungen der Energie gemessen werden können. Wir erkennen zugleich, daß eine Arbeitsleistung nicht die Über- windung eines aktiven Widerstandes oder einer Kraft, sondern nur eine Übertragung von Energie von einem Körper auf einen anderen ist. Aus der Äquivalenz der Arbeit Gh und der lebendigen Kraft 9 Ir eines Körpers erhalten wir, wenn h, den Gesetzen der gleichförmig - 2 - Ü . .. 5 beschleunigten Bewegung entsprechend, durch „_ ersetzt wird, für die Masse M die Gleichung G Me > 09 aus welcher wir ersehen, daß die Massen der Körper bei gleicher Be- schleunigung ihren Gewichten und somit auch ihren inneren Bewegungs- momenten proportional sind. Daraus ergibt sich ohne weiteres die Be- deutung, welche in der kinetischen Naturlehre dem Ausdrucke »Masse« beizulegen ist. Da die inneren Bewegungsmomente, als Produkte aus einem Volumen, einer Geschwindigkeit und einem konstanten Faktor, die thatsächlich in den Körpern vor sich gehenden Bewegungen darstellen, so geben auch die mit ihnen proportionalen Massen einfach die Quan- tität der Bewegung in den verschiedenen Körpern an und bestimmen zugleich, wegen der Bedeutung der inneren Bewegungsmomente als Dif- ferentialquotienten der Totalenergien, das Verhalten der Körper nicht allein bei den Erscheinungen der Schwere, sondern auch bei allen Bewegungs- erscheinungen überhaupt. Die Massen der Körper sind somit vollkommen unabhängig von der Quantität der Materie; sie sind in der That nur empirische, durch das beobachtete Gewicht bestimmte Koeffizienten, welche dazu dienen, die Äquivalenz zwischen der Arbeitsleistung und der leben- digen Kraft der Körper herzustellen. Die soeben entwickelten Sätze gelten nicht allein für die Körper von verschiedenem Volumen, sondern für die qualitativ verschiedenartigen Körper auch dann noch, wenn sie von gleichem Volumen sind. Obgleich solche Körper wegen der Unter- schiedslosigkeit des allgemeinen Substrats in substantieller Beziehung vollkommen gleich sind, so unterscheiden sie sich doch von einander 440 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden sowohl durch die Art wie durch die Geschwindigkeit ihrer inneren Be- wegungen. Durch die Verschiedenheit der inneren Bewegungen werden aber auch in gleichem Volumen verschiedene innere Bewegungsmomente begründet und diese bedingen wieder ihrerseits die Verschiedenheit der unter dem Einflusse der Gravitationswellen frei werdenden potentiellen Energie, des Druckes, den die Körper auf ihre Unterlage ausüben, und ihres Gewichtes, welches letztere, auf die Volumeneinheit bezogen, als spezifisches Gewicht bezeichnet wird. Aus dem spezifischen Gewichte der Körper läßt sich dann ihre Dichtigkeit ermitteln, welche wegen ihrer Proportionalität mit den, inneren Bewegungsmomenten die Quanti- tät der Bewegung in der Volumeneinheit angibt und somit, vollkommen unabhängig von der Quantität der Materie, nur ein empirisch gegebener Xoeffizient ist, welcher das Verhalten der Körper bei gleichem Volumen bestimmt. Um die Verschiedenheit der Körper, z. B. einer Kanonenkugel und einer Holzkugel zu erklären, brauchen wir nur ihre inneren Bewegungs- momente zu ermitteln. Zu diesem Zweck legen wir die Körper auf eine Wage und erkennen dann, dab ungefähr acht Holzkugeln erforderlich sind, um einer gleich großen Kanonenkugel das Gleichgewicht zu halten. Wir schließen daraus, daß das innere Bewegungsmoment oder die Quantität der Bewegung in der Kanonenkugel achtmal größer als in der Holzkugel ist. Daraus folgt aber dann weiter, daß bei der Kanonenkugel die unter dem Einflusse der Gravitationswellen frei werdende potentielle Energie, der Druck, den sie auf ihre Unterlage ausübt, ihr Gewicht, ihre Masse, ihre Trägheit, die lebendige Kraft bei gleicher Geschwindigkeit, die Ar- beit, welche sie bei ihrem Herabsinken leisten kann, die Arbeit, durch welche sie wieder in die Höhe gehoben wird, und wegen des gleichen Volumens das spezifische Gewicht und die Dichtigkeit achtmal größer als bei der Holzkugel sind, wodurch die Verschiedenheit der beiden Körper in bezug auf ihre Schwere vollkommen erklärt - und nachge- wiesen ist. E. Du Boıs-Reymonn hat somit Unrecht, wenn er in seinen »Grenzen des Naturerkennens« S. 16 die Behauptung aufstellt, dab die kinetischen Theorien nicht im stande sind, »die verschiedene Dichte der Körper zu erklären«. In dem vorhergehenden haben wir eine volle Erklärung da- für gegeben, allerdings nicht »durch eine verschiedene Zusammenfügung eines gleichartigen Urstoffes«, wohl aber durch die Verschiedenheit der Bewegungen eines unterschiedslosen Substrates in gleichen Volumen. Nachdem es uns gelungen ist, die Verschiedenheit der spezifischen Gewichte und der Dichtigkeit der Körper auf die Verschiedenheit der inneren Bewegungsmomente zurückzuführen, bleibt uns nur noch übrig, die Veränderungen, welche in dieser Beziehung an den Körpern beobach- tet werden, zu erklären. Die Veränderungen des spezifischen Gewichtes und der Dichtigkeit sind aber stets mit Veränderungen des Volumens der Körper verbunden und muß daher die eine Erscheinung sich auf die andere zurückführen lassen. In der atomistischen Theorie werden die Veränderungen der Dichtigkeit und des spezifischen Gewichtes der Körper durch ein Weiter- und Näherrücken der Atome von und zu einander er- der potentiellen Energie. III. 441 klärt. Derartige Vorstellungen sind aber in der kinetischen Naturlehre völlig unzulässig; nach ihr ist das allgemeine Substrat, welches allen Körpern zu grunde liegt, nicht allein unterschiedslos, sondern auch un- veränderlich; es ist nur der Träger der Bewegungen, durch welche die Eigenschaften der Körper bedingt werden, bleibt bei allen Veränderungen unbeteiligt und kann weder zusammengedrückt noch ausgedehnt werden. Die Volumenzunahme eines Körpers ist daher nur eine Ausbreitung, die Volumenabnahme nur eine Beschränkung der ihn qualifizierenden Beweg- ungen auf einen größeren oder kleineren Raum oder — wenn man will — auf einen größeren oder kleineren Teil des an sich unveränder- lichen allgemeinen Substrats. Wenn aber die inneren Bewegungen eines Körpers sich über einen größeren Raum ausbreiten oder auf einen kleineren Raum beschränkt werden, so nimmt bei einer konstant bleibenden Totalenergie der Wert des inneren Bewegungsmomentes in der Volumeneinheit in einem zu dem ganzen Volumen des Körpers umgekehrten Verhältnisse ab und zu. Mit ihm zugleich verändern sich auch das spezifische Gewicht und die Dich- tigkeit des Körpers. Die inneren Bewegungen erteilen somit bei ver- ändertem Volumen, je nachdem, ob eine Ausdehnung oder Zusammen- drückung eintritt, dem allgemeinen Substrate die Eigenschaften eines spezifisch leichteren oder schwereren Körpers und zwar in der Weise, daß die Produkte aus dem spezifischen Gewichte oder der Dichtigkeit und dem Volumen des Körpers und daher auch sein absolutes Gewicht und seine Masse unveränderlich bleiben. Hier tritt uns jedoch ein leicht erkennbarer Widerspruch entgegen. Wenn die Gewichte der verschie- denen Körper ihren inneren Bewegungsmomenten proportional sein sollen, so liegt die Schlußfolgerung nahe, daß den unveränderlichen Gewich- ten auch unveränderliche innere Bewegungsmomente entsprechen. Diese letzte Annahme ist aber nicht zulässig. Die meisten Erscheinungen, welche wir an den Körpern beobachten, sind stets — sei es durch Zu- fuhr oder durch Ableitung von Wärme — mit Veränderungen der Total- energie verbunden. Die Veränderungen der Totalenergie bedingen aber unvermeidlicherweise in den Körpern Veränderungen der Quantität der Bewegung oder der inneren Bewegungsmomente und diese können daher in keinem Falle wie die Gewichte und die Massen konstant sein. Es frägt sich daher, inwieweit die unveränderlichen Gewichte und Massen den veränderlichen inneren Bewegungsmomenten proportional sein können ? Um diese Frage zu beantworten, lassen sich verschiedene Voraus- setzungen machen. Man könnte z. B. die Behauptung aufstellen, daß das Gewicht eines Körpers nur eine Verhältniszahl ist, welche angibt, wie viel mal das innere Bewegungsmoment desselben größer oder kleiner als das eines anderen als Einheit angenommenen Körpers ist, daß die inneren Bewegungsmomente in verschiedenen Körpern bei gleichen Zu- standsänderungen sich auch in gleicher Weise verändern und daß des- halb ihr Verhältnis oder das relative Gewicht der Körper zu einander unveränderlich bleibt... Man könnte ferner meinen, daß die Veränderung der Totalenergie in einem Körper nicht unbedingt eine Veränderung ihres Differentialquotienten oder des inneren Bewegungsmomentes nach sich 449 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden ziehe; man könnte endlich noch sich darauf berufen, daß die Total- energie in jedem einzelnen Körper einen so unermeßlichen Wert besitze, daß alle Veränderungen, welche wir mit unseren beschränkten Mitteln an den inneren Bewegungsmomenten hervorbringen, im Verhältnis zu dem Gesamtwerte derselben verschwindend klein sind und daher als verändertes Gewicht nicht beobachtet werden können. Diese Erklärungsversuche wären jedoch in den meisten Fällen nicht genügend. Es gibt viele Erscheinungen, bei welchen die Gewichtsein- heiten nicht denselben Einwirkungen ausgesetzt sind wie die zu wiegenden Körper. Man könnte z. B. einen Körper das eine Mal in heißem Zu- stande mit kalten Gewichten, das andere Mal in kaltem Zustande mit heißen Gewichten aufwiegen, wobei die Veränderungen der mit einander verglichenen Körper jedenfalls entgegengesetzte wären. Außerdem kennen wir eine Menge von Erscheinungen, bei welchen die Körper, wie z. B. beim Verdampfen der Flüssigkeiten, bedeutende Mengen von Energie in sich aufnehmen oder wie bei der Kondensation der Dämpfe und den chemischen Prozessen ebenso bedeutende Mengen von Energie als Wärme von sich ausstrahlen, ohne daß die Gewichtseinheiten dabei entsprechen- den Zustandsänderungen ausgesetzt wären. Trotzdem ist in keinem dieser Fälle eine Veränderung des Gewichts beobachtet worden, obgleich die inneren Bewegungsmomente der Körper durch die Zufuhr oder Ab- leitung von Wärme nicht ohne Veränderung geblieben sein können, weil sie nicht allein die Differentialguotienten der Totalenergie sind, sondern auch die Quantität der Bewegung in den Körpern angeben. Was nun die Berufung auf die Unermeßlichkeit der Totalenergie anbetrifft, so wäre sie zwar ein sehr bequemes, aber wenig Vertrauen erweckendes Mittel, sich aus der Verlegenheit zu helfen. — Die Unveränderlichkeit des Gewichtes und der Masse der Körper muß daher auf anderen Ver- hältnissen beruhen. Wir bemerken zunächst, daß der Druck, welchen die ponderablen Körper auf ihre Unterlage ausüben, nicht eine direkte Wirkung der inneren Bewegungsmomente ist, sondern nur durch Ver- mittelung der unter dem Einflusse der Gravitationswellen aus ihren In- terferenzen heraustretenden Bewegungen zu stande kommt. Erst durch die infolge der gestörten Interferenzen zur Wirksamkeit gelangende potentielle Energie wird die Arbeit geleistet, welche wir als Druck em- pfinden und durch das Gewicht der Körper messen. Die Störungen der Interferenzen im Innern der Körper sind aber von den innern Beweg- ungsmomenten unabhängig und werden vielmehr nur durch die Art der äußeren Einwirkungen und durch die Umstände, unter welchen sie ein- treten, bestimmt. Deshalb tragen so manche Erscheinungen, welche mit. Umwandelungen der potentiellen Energie verbunden sind, häufig den Cha- rakter des Plötzlichen, Unerwarteten, man möchte fast sagen, des Ge- setzlosen an sich. Diese Behauptung wird durch viele Erscheinungen bestätigt. Wenn wir einen Dampf allmählich abkühlen, so beobachten wir zwar eine Abnahme seiner Temperatur und seines inneren Druckes, ohne daß anderweitige auffallende Erscheinungen dabei zu erkennen wären; erst dann, wenn der Dampf an seinem Kondensationspunkte angelangt ist, geht er in den flüssigen Zustand über, wobei zugleich ein der potentiellen Energie. III. 443 Teil seiner potentiellen Energie als freiwerdende latente Wärme zum Vorschein kommt. Dieselbe Erscheinung wiederholt sich bei dem Fest- werden der Flüssigkeiten, während bei den entgegengesetzten Zustands- änderungen, d. h. beim Schmelzen der festen Körper und beim Ver- dampfen der Flüssigkeiten, auch entgegengesetzte Vorgänge beobachtet werden, nämlich eine Umwandelung der zugeführten Wärme in potentielle Energie. Auch bei den chemischen Erscheinungen lassen sich ähnliche Verhältnisse erkennen; sind die Umstände einer Vereinigung der Körper günstig, so verbinden sie sich mit einander und sofort tritt auch ein Teil ihrer potentiellen Energie als chemische Wärme hervor. Ein elek- trischer Funke genügt, um die Explosion des Knallgases zu veran- lassen und einen Teil seiner potentiellen Energie in Freiheit zu setzen. Aber sogar den Erscheinungen der Schwere selbst läßt sich ein Beispiel entnehmen, daß das Wirksamwerden der potentiellen Energie bei einem bestimmten Körper vollkommen unabhängig von dem inneren Bewegungs- momente desselben ist. Beim Fallen der Körper bleibt ihre Totalenergie und ebenso ihr inneres Bewegungsmoment unveränderlich und dennoch steigt zugleich mit der Geschwindigkeit auch die Umwandelung ihrer potentiellen Energie in lebendige Kraft in dem Maße, daß letztere stets dem Quadrate der seit Beginn der Bewegung verflossenen Zeit pro- portional ist. Aus diesen Erscheinungen ersehen wir, daß die Menge der poten- tiellen Energie, welche infolge von äußeren Einwirkungen in einem bestimmten Körper zur Wirksamkeit gelangt, in keinem Verhältnisse zu seinem inneren Bewegungsmomente steht. Dasselbe gilt auch für einen ponderablen Körper, der auf einer Unterlage ıuht. Die Menge der potentiellen Energie, vermittelst welcher er eine Arbeit gegen seine Unterlage leistet, wird nicht durch das innere Bewezungsmoment des Körpers, sondern durch die Störungen der Interferenzen bestimmt, welche seine inneren Bewegungen unter dem Einflusse der Gravitationswellen erleiden. Gleiche Gravitationswellen bringen aber stets gleiche Störungen der Interferenzen hervor, setzen gleiche Mengen von potentieller Energie in Freiheit, weshalb auch jeder Körper ohne Rücksicht auf seinen Zustand immer denselben Druck auf seine Unterlage ausübt. Möge also ein ruhender Körper kalt oder warm, möge er im festen, flüssigen oder dampfförmigen Zustande sein, möge er im freien Zustande für sich bestehen oder in einer chemischen Verbindung mit einem anderen Körper vereinigt sein, so übt er doch, wenn nur die äußere Einwirkung der Gravitationswellen sich gleich bleibt, stets einen gleichen Druck auf seine Unterlage aus und besitzt daher auch ein unveränderliches Gewicht. Durch die inneren Bewegungsmomente wird somit das Verhältnis der Gewichte nur bei verschiedenen Körpern — diese unter gleichen Umständen, d. h. bei einer noch zu ermittelnden Temperatur genommen — bestimmt. Bei einem und demselben Körper bleibt das Gewicht trotz aller Zustandsänderungen konstant, weshalb auch die relativen Gewichte der Körper sich in allen Fällen als unveränderlich erweisen. Daß es nicht anders sein kann, ist leicht einzusehen. Wenn das 444 Clemens König, Entgegnung auf Blytt's „Bemerkungen“ u. s. w. Gewicht eines Körpers sich verändern könnte, so wäre uns zugleich die Möglichkeit gegeben, den Körper in seinem leichteren Zustand durch eine geringe Arbeit in die Höhe zu heben, sein Gewicht sodann durch eine Zustandsänderung zu vergrößern, bei seinem Herabsinken eine größere Arbeit zu gewinnen und ihn schließlich wieder in seinen früheren Zu- stand zurückzuführen. Bei jedem Auf- und Absteigen des Körpers würde sich dann ein Überschuß der gewonnenen über die geleistete Arbeit herausstellen oder bei einem umgekehrten Kreisprozesse ein ent- sprechender Teil von Arbeit verloren gehen, was jedenfalls wegen der Unvergänglichkeit der Energie unmöglich ist. Dem unveränderlichen Gewichte entspricht eine unveränderliche Masse, dem veränderlichen spezifischen Gewichte eine veränderliche Dichtigkeit. Beide, die Masse und die Dichtigkeit, bedeuten daher bei verschiedenen Körpern die Quantität der inneren Bewegung, bei einem und demselben Körper bestimmen sie das Verhalten desselben bei den Bewegungserscheinungen und den Einfluß, den er selbst auf seine Schwere ausübt. Durch diese Erkenntnis gelangt die kinetische Naturlehre zu einem vorläufigen Abschlusse. Indem sie die Schwere auf rein mechanische Ursachen zurückführt, leistet sie das, was Corzs in seiner Vorrede zu dem berühmten Werke von Nrwrox, »Philosophiae naturalis principia mathematica« für unausführbar erklärte. (Schluß folgt.) Entgegnung auf Blytt's „Bemerkungen“ u. s. w.' Von Clemens König. Herr Prof. Bryrr hat zur Rechtfertigung seiner Hypothese gegen- über meiner Kritik derselben die Behauptung aufgestellt, daß ich den Grundgedanken seiner Spekulation durchaus mißverstanden habe. Da- gegen protestiere ich ganz entschieden. Als die »beiden schlimmsten Mißverständnisse< bezeichnet Herr Buyrr folgende. l. Ich gäbe an, daß seine Hypothese »auf einen gleichzeitigen Wechsel extremer Klimate für die ganze Halbkugel hinauslaufe«. Daß Herr Bryrr dagegen Einspruch erhebt, freut uns ungemein; denn seine eigene Anschauung, welche wir auf Seite 294 und 295 des vor. Bandes zur klaren Darstellung gebracht, entbehrte noch der bestimmten Be- ! s. Kosmos 1884 I. S. 254. Clemens König, Entgegnung auf Blytt's „Bemerkungen“ u. s. w. 445 grenzung. Ihm war Norwegen der Angelpunkt. Seine Freunde, wie wir nachgewiesen, haben die besagte Erweiterung geschaffen, und unser Ver- dienst bleibt es, die Haltlosigkeit derselben so entschieden vorgeführt zu haben, daß selbst Herr Bryrr nichts davon wissen mag. Wie es ge- kommen, daß Herr Bryrr übersehen, daß der Schwerpunkt unserer ganzen Untersuchung in der Frage liegt: Gibt es Thatsachen, welche für einen regelmäßigen Wechsel klimatischer Perioden für Norwegen sprechen ? — wissen wir nicht. Wenn der geehrte Leser im vorigen Bande nach- schlagen will, so wird er sich überzeugen, daß immer von Norwegen und nur nebensächlich von anderen Ländern die Rede ist. Und was stellen die beigegebenen Karten dar? — Norwegens Klima, Norwegens Höhen, Norwegens Vegetation. Auf S. 337 bis 358 vor. Bandes haben wir die geographische Lage des Landes, wie sie die Gegenwart und die jüngste geologische Vorzeit aufzufassen zwingen, untersucht und gefunden, daß auf Grund dieser Verhältnisse kein regelmäßiger Wechsel zwischen kon- tinentalen und insularen Perioden vorausgesetzt werden kann; als posi- tives Resultat ergab sich, daß die Verschiebung der geographischen Ver- hältnisse die Annahme rechtfertigt, Norwegens Klima sei seit der Eiszeit gleichmäßiger und feuchter geworden. Auf S. 482 bis 502 und 574 bis 609 vor. Bandes war die norwegische Flora und zwar in bezug erstens auf die Lücken in der Verbreitung ihrer Arten, zweitens auf den Mangel an endemischen Arten und drittens in bezug auf den klimatischen Charakter der Spezies Gegenstand der Untersuchung. Keine dieser drei Thatsachen gab Veranlassung, einen Klimawechsel vor- auszusetzen, gleichviel ob derselbe regelmäßig oder unregelmäßig sei. Vielmehr drängten Natur und Geschichte Norwegens und zwar je mehr man sie studiert, um so bestimmter, zu der einfachen, schlichten, vor- aussetzungslosen Erklärung hin, die Lücken in der Verbreitung der Arten teils als Hungerdistrikte für gewisse Pflanzengesellschaften, teils als im Kampf ums Dasein an kräftigere und stärkere Pflanzen verloren ge- gangene Areale aufzufassen u. s. w. Die arktischen Pflanzen neigen aber auch da, wo Mitbewerber um den Boden fehlen und Terrain zur Be- siedelung vorhanden, zu oasenartigen Niederlassungen und blumigen Ko- lonien. Weder auf den Alpen, noch in Sibirien bilden sie zusammen- hängende Matten. Wir erinnern nochmals an die wertvollen Forschungen KJELLMANN’s, der das oasenartige Auftreten der Blumenmark an der sibirischen Eismeerküste so schön geschildert hat. Hier in Sibirien sind die vorhandenen Lücken nicht durch ein feuchtes, regenreiches Klima geschaffen. Warum wird dies für Norwegen behauptet? Die Faröer, wo Dryas mit seinen Begleitern trefflich gedeiht, beweisen, weil sie das insularste Klima auf der ganzen Erde besitzen, daß diese Pflanzen gar nicht in besagter Weise vom Klima abhängig sind. An Eryngium mari- timum, Orambe maritima etc., welche an der Westküste Norwegens zur Zeit fehlen, haben wir gezeigt, daß es falsch ist, zu sagen, sie scheuen das »ausgeprägte Küstenklima« ; denn diese Arten gedeihen an der deut- schen Nordseeküste und am Strande der regenreichen Bretagne vortrefflich. Folglich werden sie nicht durch klimatische Verhältnisse von der West- küste Norwegens ferngehalten. Auf das Wodurch? scheinen Orographie 446 Clemens König, Entgegnung auf Blytt's „Bemerkungen“ u. s. w. und Migration befriedigend zu antworten. Pflanzen, welche weder ther- misch noch hygrometrisch subtil angelegt sind, sollen geeignet sein, kleine klimatische Schwankungen zu beweisen! ? Wer sich den orographischen Aufbau Norwegens und den weit- angelegten Klimacharakter der dasigen Pflanzen vergegenwärtigt und an die Worte denkt, »daß jene Artgruppen einmal unter begünstigenden klimatischen Verhältnissen über Gegenden ausgebreitet waren, aus welchen sie später und zwar durch Veränderungen des Klimas verdrängt worden sind<, der muß den klimatischen Schwankungen einen bemerkbaren Um- fang zuschreiben. Herr Bryrr legt jetzt dagegen Verwahrung ein; er will selbst nicht mehr von kontinentalen und insularen Klimaten ge- sprochen wissen. Diese Erklärung haben meine Untersuchungen errungen, und das ist sehr viel. Denn seiner Hypothese hat er die Worte an die Stirn geschrieben »wechselnde kontinentale und insulare Klimate«. Sätze wie die folgenden: »The more rare species prefer partly the continental, partly the insular regions of our country« ... >The arctice flora has a continental character, the subarctice does not shun the coast climate, the boreal is continental, the atlantie insular, the subboreal continental and the subatlantic relatively insular« (Essay p. 29—67)... »Unter jeder kontinentalen Periode wanderte eine kontinentale und unter jeder Regenzeit eine insulare Flora ein« (Kosmos 1884 I. S. 257) — zumal sie häufig und meist gesperrt gedruckt wiederkehren, werden das Mib- verständnis, das uns mit Unrecht aufgebürdet wird, fortbestehen lassen. Wir bitten deshalb Herrn Bryrr, statt jener extremen Bezeichnungen doch klare, zutreffende Ausdrücke wählen zu wollen. 2. Das zweite angebliche Mißverständnis ist in der laxen Begriffs- bestimmung von schrittweiser Wanderung begründet, ein Umstand, der zu einer Fixierung um so mehr aufforderte, als gerade von dieser Seite her, wie ich in einem Vortrage in der »Isis« bewiesen habe, vieles GRrise- BACH nachgesagt wird, was in seinen Schriften durchaus nicht steht. Was Herr Bryrr schrittweise Wanderung nennt, ist mit Ausnahme eklatanter Ver- breitungsfälle einzelner Arten alles das, was die GriszsacH' sche Schule schlechthin unter Wanderung versteht; dieselbe sagt: Gleichviel, auf welche Weise die Arten wandern, selbst gesetzt, daß Winde, Flüsse, Meeresströmungen, Tiere und Menschen zu ihren Trägern werden, immer gelingt die Ansiedelung in der Regel erst dann, wenn geeignete, mehr oder weniger pflanzenarme Gebiete durch kurze Wegstrecken getrennt werden. Gemäß dieser Auffassung hält es nicht schwer, die heutige Verteilung der Pflanzenwelt Norwegens zu erklären, zumal die Geologie den Beweis erbringt, daß ehemals, am Ende der Glazialzeit, die breite Nordsee auf die schmale norwegische Rinne, ihr Anfangsstadium, einge- schränkt war. Herr Bwyrr dagegen legt sich mit seiner Auffassung Schwierigkeiten vor, die wir hinlänglich gekennzeichnet haben. Noch jetzt läßt er gesperrt drucken (Kosmos 1884 I. 8. 257): »So lange die Landverbindungen zwischen unserer Halbinsel und den andern Gegenden eine Einwanderung in größerem Maßstabe möglich machten ete.«e Land- verbindungen ist ein Plural; und doch, wenn wir von der Landver- bindung Norwegens mit Schweden absehen, welche immer bestand, so - Ölemens König, Entgegnung auf Blytt's „Bemerkungen“ u. s. w. 447 plaidiert die norwegische Rinne sogar für die Verneinung jedes Singulares; nach der Glazialzeit ist höchst wahrscheinlich Norwegen niemals mit Dänemark, mit Deutschland oder Britannien landfest verbunden gewesen. Damit ist auch der zweite Irrtum wohl hinlänglich aufgeklärt. Was die anderen »wunderbaren Irrtümer«, >alten GrISEBACH’schen Ansichten«, »ziemlich sonderbaren Vorstellungen«, die »vielen absonder- lichen Ansichten< u. s. w. anbelangt, so werde ich dieselben in einer besonderen Schrift zurückweisen. Das aber sei hier nochmals aus- drücklich hervorgehoben, daß wir die Schriften des Herrn B. eingehend studiert und stets so aufgefaßt haben, wie sie nach Wortlaut und Inhalt aufzufassen waren. Und überall haben wir nur die Sache (den regel- mäßigen Wechsel, die zehn Perioden, kont. u. insul. Kl.), nie die Person des Herrn Buyrr zum Angriffspunkt genommen; immer lautete unsere Frage: Gibt es in Norwegen Thatsachen, welche auf einen regelmäßigen Wechsel im Klima bestimmt hinweisen ? Daß die astronomischen Verschiebungen in der Erdbahn auf das Klima einen Einfluß ausüben, ist selbstverständlich, nur wissen wir nicht — welchen. Deshalb ist Scnmick gegen ADHEMAR, MurrHY gegen ÜROLL u. s. w. u. s. w. Mit sehr großer Überzeugung hat Prxck dargelegt, daß besagter kosmischer Einfluß sehr gering ist. Das ist das einzige wahre Körnchen, welches in Bryrr’s Hypothese existiert, ein Körnchen, welches mit der Flora und den Mooren seines Landes gar nichts zu thun hat und so klein ist, daß infolge der stattgehabten Verschiebung von Land und Meer es für Norwegen seit der Eiszeit gar nicht zur deutlichen Wirkung heraustreten konnte. Während Herr Bryrr be- hauptet, daß Norwegen einen regelmäßigen Klimawechsel gehabt und . gegenwärtig ein strengeres und trockeneres Klima genieße als in der letztvergangenen Zeit, zwingen die geologischen Verhältnisse, gerade am Gegenteil festzuhalten. Zur Eiszeit, als die Nordsee mit Ausnahme der norwegischen Rinne als trockenes Land existierte und aus dem weißen Meer ein Golf durch Schweden hindurch bis Christiania reichte, hatte Norwegen kältere Winter, der Regen fiel als Schnee und die Gletscher fanden reiche Nahrung. Je weiter nun die Bildung der Nordsee vorwärts schritt, desto mehr trat ihr Einfluß hervor, desto milder ward der Winter, desto mehr zehrte die Feuchtigkeit am Eis, ein Vorgang, welcher noch wesent- lich dadurch gesteigert wurde, daß Asien nach der Tertiärzeit im Norden an Land wuchs. Hierher verlegte sich seit damals der Kältepol, bis hierher dehnte sich die Zone des höchsten winterlichen Luftdruckes aus. Im Winter, wo die thermischen Unterschiede am deutlichsten hervortreten, zeigt die Luft über dem Land, gesteigert durch die hohe Ausstrahlung bei heiterem Himmel, relative Schwere, dagegen über dem wärmeren Meere, über dem die ausgebreitete Wolkendecke schützend lagert, eine bemerkbare Auflockerung. Daher finden die von Süden her wehenden äquatorialen Winde über dem Meere ein offenes, über dem Lande dagegen ein ge- sperrtes Bett. Je weiter aber der Polarstrom nach Osten sich verlegt, desto weiter muß der Äquatorialstrom, ein kräftiger Südwestwind, über Norwegen herübergreifen. In gleichem Sinne erzeugt der kontinentale 448 Clemens König, Entgegnung auf Blytt's „Bemerkungen“ u. s. w. Sommer Asiens — Südwestwinde an Europas Küste. Diese im Sommer und Winter vorherrschenden Südwestwinde bringen den Golfstrom, bringen Sommerregen, die am Eis zehren, und Winterregen, welche weniger als ehemals zum Wachstum der Gletscher beitragen. Die Folge ist und war, dab Norwegens Gletscher langsam dahinschwanden und dadurch viele Orte und Felder feucht stellten, ohne daß eine besondere Regen- zeit stattfand. Je mehr die Gletscher sich erschöpften, desto mehr Ge- biete traten in einen trockenen Zustand ein. Dieser Wechsel zwischen trockenen und feuchten Zuständen z. B. an ein und demselben Moor setzt gar keine meteorologischen Perioden, keinen regelmäßigen Wechsel zwischen Klimaten verschiedener Art voraus; denn die Schwankungen innerhalb des heutigen Klimas sind zur Erklärung desselben vollständig ausreichend. In dieser Gestalt können wir uns erklären, wie all- mählich Norwegen aus dem Klima der Eiszeit heraustrat, wie es nach und nach ein gleichmäßiges und feuchtes Klima erhielt, welches endlich den gegenwärtigen Zustand herausbildete. Einen Wechsel innerhalb dieser Richtung kann man wohl vermuten und behaupten, aber zur Zeit nicht beweisen. Zum Schluß will ich bekennen, daß ich Herrn Bryrr doch zuletzt noch zu der Erklärung bringen zu können hoffe, daß seine Hypothese auf jene Verschiebung der astronomischen Elemente in der Erdbahn basiert ist und nicht auf die Naturgeschichte Norwegens, daß er zugestehe, aufGrund seiner naturgeschichtlichen Studien nicht im stande zu sein, seit der Eiszeit eine be- stimmte Anzahl von gleich langen Perioden (er hat zehn angenommen) mit wissenschaftlicher Berechtigung aufzu- stellen. Wissenschaftliche Rundschau. Anthropologie. Vorschläge zur Verbesserung des Menschengeschlechtes'. Francıs GALTon, der Verfasser des Werkes »Inquiries into Human Faculty and its Developement«, ist ein eifriger Anhänger der Entwickel- ungslehre. Sein Buch besteht aus einer Menge einzelner Untersuch- ungen über die geistigen und körperlichen Eigenschaften des Menschen und deren Entwickelung unter dem starken Einfluß der Vererbung und dem geringen der Erziehung. Unter diesen Essays befinden sich mehrere sorgfältig durchgearbeitete Abhandlungen, die übrigen machen den Ein- druck unfertiger, noch in der Anlage begriffener Arbeiten. Sämtliche Artikel aber stehen, so wenig dies dem Leser auf den ersten Blick ent- gegentritt, in einem logischen Zusammenhang und sind dem unentwegten Bestreben entsprungen, der Welt, insonderheit aber dem englischen Volke, Anweisungen zur Hervorbringung eines besseren Geschlechtes zu geben und somit in bewußter Weise die Zwecke und Ziele der natürlichen Zuchtwahl im Bereiche der Menschheit zu fördern. Die ungeheuren Schwierigkeiten dieses Unternehmens sind dem Verfasser nicht in ihrem ganzen Umfange gegenwärtig. Es geht ihm hierin wie schon so man- chem der Erzieher des Menschengeschlechtes, — zu denen er jedoch nicht gerechnet sein will, da er in erster Linie keine pädagogischen Mittel zur Vervollkommnung unserer Gattung vorschlägt, sondern die Absichten der Natur hauptsächlich, wenn auch nicht ausschließlich auf dem Wege einer zweckentsprechenden Fortpflanzung zu unterstützen denkt: er ist Enthusiast und unterschätzt die Hindernisse, die sich der Durchführung seines Systems entgegensetzen. Er bringt sich dadurch in die Gefahr, daß seine Ideen und Vorschläge von einer nüchternen Kritik mit skeptischem Lächeln bei Seite geschoben werden und so auch das Gute, das in seinem Buche ist, nicht zur Geltung kommt. Wir möchten nicht in den Fehler verfallen, Brauchbares unbeachtet zu lassen, weil es sich uns unter Unbrauchbarem darbietet. Doch wenn wir auf die Gauron’sche Theorie näher eingehen, so sagen wir damit nicht, dab ! Inquiries into Human Faculty and its Developement by Francis Galton, F. R. S. Author of „Hereditary Genius“. London. Macmillan & Co. 1883. Kosmos 1884, I. Bd. (VIH. Jahrgang, Bd. XIV). 29 450 Wissenschaftliche Rundschau. dieselbe uns in der vorliegenden Fassung als durchführbar erscheint. Unser Interesse für das Buch entspringt vielmehr dem Umstande, daß es seine Entstehung dem anregenden Einfluß des Darwinismus verdankt, der neben so vielen bedeutsamen, streng wissenschaftlichen Werken auch Anstoß zu manchem wunderlichen, phantastischen Buche gegeben hat. Übrigens sagt Gauron durchaus nicht, daß die Welt zu einer systematischen, konsequent durchgeführten Nutzanwendung der Evolutions- theorie reif oder das Material zur Ausarbeitung einer rationellen Zücht- ungsmethode genügend angesammelt sei; im Gegenteil. Doch glaubt er zuversichtlich, daß eine solche Zeit über kurz oder lang eintreten wird, und hält es für geraten, einstweilen Vorbereitungsarbeiten zu machen. Da also an eine schrittweis vor sich gehende Verbesserung noch nicht zu denken ist, so hält er mit dem Auge eines Verwalters eine vorläufige Rundschau über das Areal und faßt die Kardinalpunkte ins Auge, die beim Beginn des Werkes zunächst zu berücksichtigen sind. Wir können diesem Gedanken, obgleich uns die Kardinalpunkte nicht an den von dem Verfasser bezeichneten Stellen, sondern ganz anderswo zu liegen scheinen, eine gewisse Genialität nicht absprechen. Und in dieser liegt der Reiz des Buches. Daß GALron, selbst wenn er es vermöchte, das ganze Menschen- geschlecht nicht nach einer Schablone zuschneiden möchte, bedarf kaum der Erwähnung. Die organische Welt besteht nicht aus einer steten Wiederholung gleichartiger Elemente, sondern aus einer endlosen Menge neuer Zusammensetzungen von Stoff und Kraft. Der moralische und intellektuelle Reichtum einer Nation beruht vornehmlich auf der unend- lichen Mannigfaltigkeit der Begabung ihrer Mitglieder, und der Versuch, sie alle zu einem gemeinsamen Typus zu verschmelzen, wäre daher keine Vervollkommnung, sondern das direkte Gegenteil. Doch gibt es in jeder Rasse domestizierter Lebewesen und namentlich in der leicht sich ver- ändernden Menschenrasse Elemente, welche, da sie teils veraltet, teils die Ergebnisse eines Rückschrittes sind, als geringwertig, überflüssig oder geradezu schädlich bezeichnet werden müssen, während andere unter allen Umständen ungemein gut und nützlich sind. Welche menschlichen Triebe und Eigenschaften müßte man zum Wohl der Gattung ausbilden? Wir glaubten, der Verfasser würde uns hier auf die Notwendigkeit der Verfeinerung desjenigen Instinktes oder Empfindungsvermögens verweisen, das den Menschen befähigen soll, unter der unabsehbaren Reihe der Mitlebenden gerade dasjenige Wesen heraus- zufinden, welches seine Kraft und seinen Stoff aufs völligste ergänzt und ihn in den Stand setzt, seinen Nachkommen ein reicheres Kapital an geistigen und körperlichen Vorzügen zu übermitteln, als er selbst von seinen Vorfahren erhalten hat. Denn merkwürdiger Weise ist kaum ein einziger der menschlichen Instinkte selbst unter den kultiviertesten Rassen so unentwickelt und roh geblieben wie gerade dieser. Aber der Ver- fasser sagt nichts von alledem und doch würde gerade die Verschärfung dieses Sinnes für die Zukunft unseres Geschlechtes von hohem Wert sein. Wäre es möglich, den unbewußten Trieb zur ehelichen Vereinigung in allen Menschen solchergestalt zu vervollkommnen, daß jeder von ihnen Wissenschaftliche Rundschau. 451 sich instinktiv zu einem Wesen gesellte, das in Wahrheit die andere Hälfte seiner Individualität genannt zu werden verdiente, die Vervollkomm- nung unseres Geschlechtes würde rapide Fortschritte machen. Aber wie die Sachen jetzt stehen, befinden wir uns noch auf der tiefen Stufe unserer barbarischen Vorfahren, deren Sinne nur für die Bedürfnisse der körperlichen Existenz, nicht aber für die der geistigen organisiert waren. Kein Mensch ist infolge dieses Mangels vor einer unpassenden Wahl sicher. Selbst Goeruz wurde durch seine geistig und körperlich hoch- entwickelte, gesunde Organisation nicht vor einem bösen Mibgriff ge- schützt. Infolgedessen ist zum Schaden unserer ganzen Gattung der Reichtum seines Geisteslebens nicht auf seine Nachkommen übergegangen. Dieser Mangel ist um so merkwürdiger, da mehrere andere unserer Sinne, welche ursprünglich auch nur körperlichen Bedürfnissen dienten, sich im Laufe der Zeit den geistigen gleichfalls anpaßten. Der Ver- fasser zeigt uns, daß unsere körperlichen Wahrnehmungswerkzeuge: Ge- sicht, Gehör, Tastsinn, Geruch und Geschmack von mehr oder minder gut ausgebildeten geistigen Empfindungsorganen ergänzt werden. Diese Kapitel des Buches sind ungemein interessant. Daß die sinnliche Unter- scheidungskraft der Menschen verschiedengradig ist, weiß jeder; aber dennoch herrschen in betreff dieser Abstufungen bedeutsame Irrtümer. Zahlreiche Experimente haben den Verfasser zu der Erkenntnis gebracht, daß Personen mit gesundem Nervensystem feinere Sinne besitzen als die sogenannten sensitiven, nervös erregten Menschen. Männer haben in der Regel eine schärfere Wahrnehmung als Frauen, der Kulturmensch eine bessere als der Wilde. Bei Blinden ist keine Verschärfung des Gehörs oder Tastsinnes zu bemerken; ebensowenig findet man bei See- leuten eine gesteigerte und weiter reichende Sehkraft als bei Land- bewohnern. Als Durchschnittsregel ist anzunehmen, daß mit der steigen- den Zivilisation des Menschen keine Abnahme, sondern vielmehr eine Verschärfung seiner Sinne eintritt. Je höher der Standpunkt einer Rasse, desto besser und zuverlässiger arbeiten ihre Wahrnehmungsorgane. Gauron selbst hat auf seinen weiten Reisen vielfach Vergleichungen zwischen den Sinnen der Wilden und der Kulturmenschen angestellt. Er hat namentlich die Südafrikaner geprüft. Der Reisende Wunrkın Brunr machte in der arabischen Wüste ebenfalls zu seinem Erstaunen die Beobachtung, daß die Eingebornen in der Regel ein schlecht aus- gebildetes Auge haben. Den wandernden wie den sebhaften Beduinen fehlte es außerdem an jeglichem Ortssinne. Sie mußten sich, sobald sie den Bereich eines ihnen bekannten Gebietes verließen, auf die Führ- ung des Engländers verlassen und waren höchlich verwundert, daß sich derselbe in ihrer heimatlichen Wüste leichter und sicherer zurecht fand als sie. Die Reisenden haben sich in vielen Fällen durch die Thatsache täuschen lassen, daß ihre wilden Begleiter bestimmte Formen und Klänge mit erstaunlicher Schnelligkeit erkannten, während sie selbst sich die- selben nicht zu deuten wußten. Doch ist es kein Zeichen von gröberer Sinnesschärfe, wenn ein Kaffer, der zahllos oft aus der Ferne grasende Rinderherden beobachtete, die Eigentümlichkeit eines solchen Bildes schon 459 Wissenschaftliche Rundschau. an den ersten schwachen Umrissen erkennt, während sein diesem Anblick fremder Nebenmann minder schnell einen bestimmten Begriff mit den betreffenden Linien verbindet. Zu einer ähnlichen Beobachtung führ- ten Gauron’s Proben mit den Sinnesorganen blinder Personen. Er fand bei denselben weder ein geschärftes Gehör noch einen erhöhten Tastsinn ; wohl aber hatten manche von ihnen sich durch geduldige Übung eine schnelle Erkenntnis der gemachten Wahrnehmungen angeeignet. Höchst auffällig ist es, daß wir selbst über die Leistungsfähigkeit unserer Sinneswerkzeuge uns kein Urteil zu bilden oder nach einem Gradmesser zu suchen pflegen. Wir bemerken meistens eine im ‚Laufe der Zeit eingetretene Abschwächung erst dann, wenn sie uns unbequem wird. Ja selbst das völlige Fehlen einer Fähigkeit kann uns entgehen. Es gibt bekanntlich eine Reihe von Menschen, die farbenblind sind, ohne es zu ahnen. Gauron’s Essays über »die geistige Sehkraft« des Menschen sind ebenfalls ungemein lesenswert. Dieser Sinn, der sich wahrscheinlich bei allen Naturvölkern in einem Schlummerzustande befindet, tritt bei den Individuen gebildeter Rassen in den verschiedenartigsten Abstufungen und den mannigfaltigsten Formen auf. Die Fähigkeit, sich die Gestalt- ungen der Körperwelt, die dem leiblichen Auge entrückt sind, zu einem Bilde zusammenzustellen, das nur dem Geiste wahrnehmbar ist, äußert sich in jedem Individuum in besonderer charakteristischer Weise. Man kann wohl sagen, daß jeder Mensch seine eigene Art der Reproduzierung dieser Bilder hat, dab sich aber dennoch auch hier Familienähnlichkeiten geltend machen. Daß die vernunftgemäße Ausbildung dieser geistigen Sehkraft von großem Nutzen für die Menschheit ist, werden wir dem Verfasser nicht bestreiten. Auch pflichten wir ihm bei, wenn er sagt: »Diese Eigen- schaft ist nicht nur für Maler, Bildhauer und Dichter von Wichtigkeit, sondern auch für Gelehrte und Denker. Die besten Handwerker sind diejenigen, denen die zu machende Arbeit fertig vor der Seele steht, noch ehe sie eins ihrer Werkzeuge angerührt haben. Der Dorfschmied und der Zimmermann, welche eine außergewöhnliche Arbeit übernehmen, sind auf diese Fähigkeit in eben dem Maße angewiesen wie der Mechaniker, der Ingenieur und der Architekt. Die Jungfer, welche ein neues Kleid drapiert und besetzt, bedarf ihrer aus dem nämlichen Grunde wie der Tapezier, dem die Dekoration fürstlicher Säle aufgetragen ist, oder der Verwalter, welcher große Ländereien anlegt. Dem Strategen ist diese Eigenschaft beim Entwurf seiner Kriegspläne, dem Physiker bei der An- ordnung neuer Experimente notwendige. Wo immer eine Abweichung von herkömmlichen Wegen stattfindet, wird sie in Anwendung gebracht. Un- ermeßlich ist das Vergnügen, das sie uns zu bereiten vermag. Viele meiner Freunde sagen mir, ihre höchste Freude sei, sich im Geiste schöne Landschaften, herrliche Kunstwerke zu vergegenwärtigen. Solche Leute haben stets eine ganze Gemäldesammlung in sich.< Diese mit der wach- senden Kultur ausgebildete Sehkraft unseres geistigen Auges, welche für alle Techniker und Künstler eine hohe praktische Bedeutung hat, wird lange nicht sorgsam genug ausgebildet. Unsere Erziehung pflegt ihr Wissenschaftliche Rundschau. 453 sogar entgegenzuwirken. Das nämliche gilt auch von den geistigen Gegenstücken der anderen Sinne, von deren Vorhandensein und Eigenart uns unser Buch höchst interessante Proben gibt. Sie finden eine be- achtenswerte bedenkliche Steigerung in visionären Erscheinungen. Ein noch höheres Gewicht als auf die Unterstützung einer mög- lichst sicheren Vererbung gut entwickelter geistiger und körperlicher Sinneswerkzeuge legt der Verfasser auf die der Fortpflanzung der Ener- gie. — Energie ist Arbeitskraft; sie steht im Einklang mit allen kraft- vollen Tugenden und weiß dieselben zweckgemäß zu benutzen. Sie ist das Vollgewicht der Lebensfülle. Je größere Energie, desto reicheres Leben. Das Erlöschen jeglicher Energie ist der Tod. Idioten sind schwach und unentschieden. »In jedem Plan zur Heranbildung eines besseren Geschlechtes, « heißt es in unserem Buche, >mub die Energie vor allen anderen Eigen- schaften begünstigt werden. Sie ist die Basis aller Lebensäußerungen und in hohem Grade erblich übertragbar. « Gehen wir nunmehr von den unbedingt nützlichen Eigenschaften zu den der Gattung schädlichen über, so müssen wir gestehen, dal uns die beiden Kapitel, in denen der Verfasser jenes weite Gebiet mehr gestreift als betreten hat, durchaus nicht genügen. Der Gedanke, dab diese verderblichen Triebe teils Ausartungen von gleichsam zu stark in die Saat geschossenen, ursprünglich guten oder harmlosen Eigenschaften sind oder daß sie als Überbleibsel längst vergangener Zeit ihre frühere Daseinsberechtigung nicht mehr besitzen, ist nicht scharf genug durch- geführt... In dem Abschnitt über Verbrecher spricht der Verfasser aus- schließlich von Kriminalfällen, während doch diejenigen Beispiele von weit größerer Bedeutung sind, welche sich in dem Rahmen der feinen Gesellschaft abspielen, ohne jemals einer juristischen Beurteilung unter- zogen zu werden. Das Studium der unter dem Deckmantel gefälliger Lebensformen sich versteckenden gattungsschädlichen Elemente ist für den Psychologen eben deshalb weit interessanter als das der Diebe und Vagabunden der unteren Stände, weil dieselben selten rein hervortreten und sehr oft den Anschein förderlicher Eigenschaften annehmen. Dem Stück Barbarismus unserer Urväter, das nicht nur in den unteren, son- dern auch in den oberen Kreisen sich erhalten hat, nachzuspüren und es schonungslos aufzudecken, ist unter allen Umständen ein Verdienst. Ein gleiches Studium ist dem Irrsinn und der Epilepsie zuzuwenden, wenn wir uns auch nicht zu der Hoffnung versteigen, daß auch nur ein ein- ziges der in diese Kategorie gehörenden Individuen sich zu gunsten einer ausschließlichen Bevölkerung der Welt mit »gesunden, moralischen, in- telligenten und edelgesinnten Bürgerın« zur Ehelosigkeit entschließen wird. Auch ist nicht anzunehmen, daß die Männer einer Nation im Falle einer Übervölkerung ihres Vaterlandes sich dazu verstehen wer- den, nur 29jährige Mädchen zum Altar zu führen. Die meisten von ihnen werden eine 20jährige Gattin vorziehen, obgleich der Verfasser ihnen ausrechnet, daß sie durch diese That die Überfüllung ihres Landes befördern. Es ist ganz interessant, zu erfahren, dab solche Familien, in denen die Töchter jung heiraten, sich bedeutend vermehren, die andern 454 Wissenschaftliche Rundschau. aber stark abnehmen; doch wird diese Theorie keinen Einfluß auf die Praxis haben. Und was für die angeführten Kapitel gilt, das bezieht sich auch auf diejenigen, welche wir nicht namhaft machen können, obwohl sich unter ihnen manch lesenswerter Essay befindet. Der Verfasser möchte seine Abhandlungen nicht als gelehrte Mitteilungen aufgefaßt sehen, sondern als nützliche Ratschläge angewandt wissen. Ob ihm dieser Wunsch erfüllt wird, muß die Zeit lehren. Jena. A. Passow. Zoologie. Jugendgeschichte der Wurzelkrebse'. Die Jugendgeschichte der Wurzelkrebse war bisher nur wenige Tage über das Ausschlüpfen der Jungen hinaus verfolgt worden. Man wußte, daß sie das Ei als mundlose Nauplius verlassen, also mit drei Paar Gliedmaßen, von denen das vorderste einfach, die beiden hinteren zweiästig sind, und daß diese Nauplius durch zwei lange, vor dem Auge entspringende Riechfäden und zwei seitliche Stirnhörner, an deren Spitze eine Drüse mündet, zunächst denen der Rankenfüßer sich anschließen. Man wußte, dab schon nach drei bis vier Tagen die Nauplius durch eine tiefgreifende Verwandlung zu ebenfalls mundlosen muschelkrebsähn- lichen Larven werden, welche im Baue ihrer Gliedmaßen sich kaum von der sogenannten Cyprisform der Rankenfüßer unterscheiden; das erste Gliedmaßenpaar ist zu eigentümlichen Haftfühlern geworden, die beiden hinteren Paare sind spurlos verschwunden, der Hinterleib hat sechs Paare zweiästiger Schwimmbeine erhalten. Damit hört unsere Kenntnis der Jugendgeschichte der Wurzelkrebse auf; zwischen diesen winzigen, flinken Schwimmern und den fertigen Wurzelkrebsen, die als mund- und glied- maßenlose, wurst-, sack- oder scheibenförmige Auswüchse fast regungs- los am Hinterleibe von Krabben, Porzellanen und Einsiedlerkrebsen sitzen und sich durch wurzelartig im Innern des Wirtes verzweigte, geschlossene Röhren ernähren, klaffte eine weite Lücke, welche nun endlich durch die erfolgreichen Bemühungen des Herrn Yves DrLAGE ausgefüllt wor- den ist. Derselbe untersuchte im zoologischen Laboratorium zu Roscoff die an dem kleinen Taschenkrebse (Carcinus Maenas) vorkommende Sac- culina Carcini. Die überaus merkwürdigen, zum Teil höchst überraschen- den Ergebnisse seiner Untersuchungen liegen bis jetzt nur in kurzen Be- richten an die Pariser Akademie vor, die mir durch des Herrn Verfassers Güte zugänglich wurden und denen ich das folgende entnehme. Die muschelförmigen Larven oder die »Cypris«, wie sie Yves DeLAGE kurz bezeichnet, beginnen nach mindestens drei Tagen freien ı Yves Delage, Sur la Saceuline interne, nouveau stade du d&veloppement de la Sacculina Carcini, und: Sur l’embryogenie de la Sacculina Careini, Urustace endoparasite de l’ordre des Kentrogonides. — In den Comptes rendus der Pariser Akademie vom 5. Novbr. und 19. Novbr. 1883. Wissenschaftliche Rundschau. 455 Umherschwimmens sich festzusetzen und zwar geschieht dies stets im Dunkeln; übrigens können sie 14 Tage und mehr frei leben, ohne sich bedeutend zu verändern. Sie heften sich mit einem ihrer Fühler an eine junge, 2 bis 12 mm lange Krabbe, und zwar stets am Grunde eines Haares an irgend einer Stelle des Leibes. Es beginnt dann, aus- genommen an der Anheftungsstelle des Fühlers, die oberflächliche Zellen- schicht des Leibes sich von der Chitinschicht zu lösen und zurückzu- ziehen; die Schwimmbeine werden stark nach vorn gezogen und reißen in einem Stücke los: durch den so entstehenden Riß tritt langsam ein großer Teil des Leibesinhaltes aus. Die Wunde schließt sich wieder, eine neue Chitinhaut bildet sich, die Cyprishaut mit den ausgestobenen Teilen fällt ab und es bleibt, durch einen der Fühler an ein Haar der Krabbe befestigt, ein längliches Säckchen, dessen Wand aus der Haut- schicht der »Cypris«, dessen Inhalt fast ausschließlich aus einem kug- ligen Häufchen kleiner Zellen besteht, welches sich schon im Innern des Nauplius bemerklich macht und von Deracz als Kern (nucleus) be- zeichnet wird. Bald bildet sich am Fühlerende der neuen Larve eine steife Spitze, die rasch wächst und nach drei Tagen als hohler Stachel erscheint, der einerseits mit dem Rande einer weitklaffenden trichterför- migen Öffnung in die Chitinhülle der Larve übergeht, während ander- seits die (der Kanüle einer Pravazspritze ähnliche) Spitze in den fest- gehefteten Fühler ein und bald bis zur Haut der Krabbe vordringt. Endlich durchbohrt der Stachel die weiche, den Ansatz des Haares um- gebende Haut und dringt oft bis über die Hälfte seiner Länge in das Gewebe der Krabbe ein. Durch diesen trichterförmigen Stachel! bewegt sich nun der gesamte zellige Inhalt des ihm anhängenden Sackes ins Innere des Wirtes und durch ein nach einer bestimmten Richtung hin stärkeres Wachstum gelangt die junge Sacculina an die Stelle, wo sie ihre Entwickelung vollendet, nämlich an die vordere (der Bauchseite zu- gewendete) Fläche des Darmes. Von der Haut der hier angelangten jungen »inneren Sacculinen«, wie Y. DeraGE diese bisher unbekannte Entwickelungsstufe nennt, sieht man einen ziemlich dicken Fortsatz aus- gehen, der sich im Leibe der Krabbe verliert und offenbar den Weg verrät, den der Schmarotzer zur Erreichung seines bleibenden Sitzes durchmessen hat. Die jüngsten inneren Sacculinen, die Y. DrraGE antraf, bestanden aus einem flachen häutigen Sacke, der sich zwischen Darm und Bauch- wand des Hinterleibes in der Leibeshöhle der Krabbe ausbreitet. Von seiner ganzen Oberfläche, namentlich aber von dem unregelmäßig ge- buchteten Rande gehen schon jetzt Röhren aus, die weithin die Krabbe durchziehen. Die von dünner Chitinschicht überzogene Wand des Sackes besteht aus großen, großkernigen Zellen, die sich in die Röhren fort- setzen. Das Innere des Sackes enthält eine Art schwammigen Binde- gewebes aus sternförmigen Zellen. Etwa in der Mitte verdickt sich der Sack plötzlich und bildet eine auf der äußeren Seite vorspringende Ge- ! Nach diesem Stachel (z£vroov) der jungen Brut (yovos) gibt Y. Delage den Wurzelkrebsen den Namen „Kentrogoniden*, 456 Wissenschaftliche Rundschau. schwulst, in welcher inmitten des schwammigen Gewebes der Kern, d. h. das schon erwähnte kuglige Häufchen kleiner Zellen liegt; diese Zellen sind so angeordnet, daß ein mittlerer Zellenhaufen durch einen schmalen Zwischenraum von einer umhüllenden Schicht getrennt ist. Die ganze Sacenlina hat jetzt kaum '/s mm, ihr Kern kaum 0,05 mm Durch- messer und doch sind schon alle Teile der erwachsenen Saceulina ver- treten. Der Sack mit seinem schwammigen Gewebe bildet den im Innern der Krabbe verbleibenden Teil (Y. D.’s »membrane basilaire«), der Kern wird zur äußeren Sacculina und zwar die Aubßenschicht zum Sack, der innere Zellenhaufen zur Eingeweidemasse (Kierstock und Hoden). Bevor die Ausbildung dieser Teile vollendet ist, entstehen in dem zwischen Kern und Haut liegenden schwammigen Gewebe zwei aneinanderliegende zellige Wände, die quer zur Längsachse der Krabbe gestellt sind und zwischen sich eine Chitinplatte abscheiden; diese Platte spaltet sich und durch den Spalt tritt der Kern aus der Geschwulst, die ihn umschloß, nach außen und ist nun zwischen der Haut der inneren Sacculina und der Bauchwand der Krabbe gelegen. Letzterer rückt er, wachsend, immer näher, bringt sie durch Druck zum örtlichen Absterben und Schwinden, sprengt sie endlich, wenn er die Größe von 2,5 bis 3 mm erreicht hat und erscheint nun als äußere Sacculina. Aus der Haut der Larve geht also der im Innern der Krabbe verbleibende Teil des Schmarotzers hervor; was man von außen sieht, ist ein die Geschlechtsstoffe erzeugender Kern (»noyau genital«), der sich zur Fortpflanzung der Art, seine eigene Haut und die des Wirtes durchbrechend, einen Weg nach außen gebahnt hat. Zur Zeit, wo die Saceulina außen erscheint, ist die Öffnung ihrer Bruthöhle (»cloaque« Y. D.) durch ein Chitinhäutchen völlig geschlossen. Dasselbe reißt bald und nun kommen junge »Cypris« und heften sich mit ihren Fühlern an den Rand der Öffnung. Alle jungen Saceulinen haben »Cyprise am Rande der Bruthöhlenöffnung sitzen, selten nur eine, gewöhnlich 2 bis 5, ja bisweilen bis 12! Offenbar sind diese »Cypris« Hilfsmännchen der zwittrigen Sacculina, die auch darin ihre Verwandtschaft mit den Rankenfüßern kundgibt, bei welchen solche Hilfsmännchen (»com- plemental males«) mehrfach durch Darwın nachgewiesen worden sind. Soweit die schönen Entdeckungen Yves DrLAGE’s, die zum Teil so nahe liegen, dab es für frühere Beobachter der Wurzelkrebse etwas Be- schämendes hat, sie nicht gemacht zu haben. Wer, wie ich seinerzeit gethan, volle dreitausend Einsiedlerkrebse einer kleinen, viel von Wurzel- krebsen geplagten Art nach Jugendformen dieser Schmarotzer abgesucht und dabei schon die jüngsten ganz den Erwachsenen ähnlich, wohl- bewurzelt und mit den leeren Häuten von Männchen besetzt gefunden hat, der hätte sich doch wohl sagen müssen: da man außen am Wirte nie Wurzelkrebse unter einer bestimmten Größe antrifft (bei dem 5 bis 6 mm langen Peltogaster socialis kaum unter 1,5 mm, bei Saceulina Car- cini nach Y. Deracz nicht unter 3 mm), so können die früheren, noch unbekannten Entwickelungsstufen von der 0,2 mm langen »Cypris« an bis zur Begattungsreife offenbar nur im Innern des Wirtes durchlaufen werden. Diese so einfache Erwägung hätte sofort zur Entdeckung der »inneren Sacculina« geführt. Hoffen wir, daß Herr Yves DerAcz, welcher Wissenschaftliche Rundschau. 457 hier der Columbus gewesen, der das Ei auf die Spitze zu stellen ge- wußt, mit gleichem Geschick und Glück die im Lebensgange der Wurzel- krebse noch bleibenden Rätsel recht bald löse. Unter diesen steht wohl obenan die Frage nach der Bedeutung und dem Verbleibe der Hilfs- männchen. Diese Hilfsmännchen, deren leere Haut schon LitLsEBoRG ge- sehen, aber für die des Tieres, dem sie aufsaß, genommen hatte, wer- den nach Y. DrvAaceE’s und meinen Erfahrungen immer nur an den aller- jüngsten »äußeren Sacculinen« angetroffen. Findet aber jetzt wirklich schon eine Befruchtung durch dieselben statt? Kommt die Kreuzung mit fremdem Blute, in der doch wohl vornehmlich die Bedeutung der Hilfsmännchen besteht, nur den Eiern der ersten Brut zu gute, während bei allen folgenden Eiablagen nur Selbstbefruchtung der zwittrigen Wurzel- krebse stattfindet? Oder ergießen sich die Hilfsmännchen aus ihrer Cyprishaut in ähnlicher Weise in das Zwittertier wie dieses ins Innere des Wirtes? Leben sie hier schmarotzerartig fort wie die Hilfsmännchen der Rankenfüßer, um bei jeder Eiablage einem Teile der Eier die Vor- teile der Kreuzbefruchtung zu teil werden zu lassen ? — Letzteres ist mir — schon seit zwanzig Jahren — wahrscheinlicher und ich möchte jetzt in einem Balken, den ich zwischen der Haut des Männchens und dem Leibe des jungen Peltogaster ausgestreckt sah! und nicht zu deuten wußte, den Stachel vermuten, durch welchen der lebende Inhalt der Cyprisschale in den Peltogaster einwanderte. Fritz MÜLLER. Zur Entwickelungsgeschichte der Echinodermen. Seit dem Ende der Vierziger Jahre, als JoHmannes MÜLLER seine klassischen Untersuchungen »Über die Larven und die Metamorphose der Echinodermen« zu veröffentlichen begonnen hatte, ist der Entwickel- ung dieser eigenartigen Tiere stets die rege Aufmerksamkeit der Zoolo- gen zugewendet geblieben, und es lag nur an der unübersteiglich er- scheinenden Schwierigkeit, ihre einem freien pelagischen Leben angepaßten Larven auch nur für kurze Zeit zum Zwecke der Beobachtung lebendig zu erhalten, wenn die Forschung lange Jahre kaum über den Standpunkt des erstgenannten Meisters hinauskam. Nachdem aber Ar. Acassız 1864 die Entstehung des Wassergefäßsystems und der Leibeshöhle aus Ur- darmdivertikeln entdeckt, WyvıruEe Tuomson 1865 den Crinoiden Comatıdla (Antedon) von der freischwimmenden Larve durch das festsitzende Penta- crinus-Stadium hindurch bis zum fertigen, abermals freibeweglichen Zustand verfolgt und nachdem man überhaupt den Furchungsvorgang bei wirbel- losen Tieren von den ersten Veränderungen des Eies an genau zu unter- suchen angefangen hatte, kam auch in die Entwickelungsgeschichte der Echinodermen wieder mehr Leben. Die siebziger Jahre beschenkten uns mit einer Fülle der wichtigsten Aufschlüsse. Es genügt, daran zu erinnern, ? Archiv für Naturgeschichte, Bd. XXIX (1863), Taf. III, Fig. 6. 458 Wissenschaftliche Rundschau. daß es das Ei eines Seeigels war, an welchem zum erstenmal im Tier- reiche O. Herrwıc 1876 das Geheimnis der Befruchtung zu entschleiern vermochte, indem er das Eindringen des Spermatozoons in das Ei und seine Verschmelzung mit dem weiblichen Vorkern zur Bildung des »Ei- kerns« verfolgte, und im übrigen brauchen wir bloß die Namen SELENKA, GÖöTTE, GREEFF und LupwIig zu nennen, um dem Leser eine Reihe der bedeutsamsten Aufklärungen über Morphologie, Histologie, Organanlage etc. der Echinodermen ins Gedächtnis zurückzurufen. Aus der neuesten Zeit sind Arbeiten von MerscHnikorFr und HArscHeX, ganz besonders aber zwei höchst gründliche und erfolgreiche Untersuchungen von H. Lupwıg! und E. SuuenkA” zu verzeichnen; auf diese wollen wir hier etwas näher eingehen. Erstere war durch ein Preisausschreiben der Göttinger Socie- tät der Wissenschaften veranlaßt, welches eine Untersuchung besonders darüber wünschte, wie »>das Tier aus der Larvenform bis zur völligen Anlage sämtlicher Organsysteme erwächst«; sie behandelt daher vorzugs- weise diese Seite des Gegenstandes, während die letztere anderseits fast ausschließlich auf die Furchung und die Anlage der Keimblätter sich beschränkt. Hinwiederum gewinnt jene ihre Resultate zunächst nur an einer Form, dem Seestern Asterina gibbosa, diese dagegen bezieht sich auf Holothurien, Echiniden und Ophiuriden. So ergänzen sich beide wechselseitig in erfreulichster Weise. Wir werden uns im folgenden naturgemäß zuerst hauptsächlich an die Arbeit von SELEnkA halten, für die Organentwickelung dagegen uns vorzüglich auf Lupwıc stützen. Die größte Regelmäßigkeit der Furchung unter allen Echinoder- men, ja soweit bekannt sogar unter allen Tieren, zeigt das Ei von Synapta digitata. Eine Hauptaxe ist vor Beginn derselben nicht zu unterscheiden, ebensowenig eine Differenz zwischen Bildungs- und Nahrungspol. Das ändert sich jedoch schon beim Auftreten der ersten Furchungsrinne in- sofern, als dieselbe von dem einen Pole her (dem animalen) etwas rascher einschneidet als vom entgegengesetzten und als die beiden Segmente nicht genau ellipsoidisch, sondern etwas eiförmig mit nach oben gerich- teter Spitze sind. Im übrigen verläuft die Furchung vollkommen regulär: 9 mal hintereinander halbieren sich sämtliche Zellen, so daß nach ein- ander 2, 4, 8, 16 u. s. w. und zuletzt 512 Zellen gefunden werden; damit ist die eigentliche Furchung abgeschlossen, denn nach einer längeren Pause beginnt die Zellvermehrung ganz lokal am vegetativen Pole wieder, um den Urdarm zu bilden, ein Vorgang, der bereits zur Gastrulation zu rechnen ist. Die Anordnung der Furchungsebenen brauchen wir nicht im ein- zelnen zu schildern, dagegen ist hervorzuheben, daß die Teilungsprodukte nur in der Nähe des Äquators des Eies zu regelmäßigen Kränzen gruppiert bleiben, gegen die Pole hin aber sich mehr und mehr ver- ! Entwickelungsgeschichte der Asterina gibbosa FORBES, in Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie XXXVII. Band 1882, 98 8. 8°, mit 8 Tafeln und 12 Holzschnitten. ? Die Keimblätter der Echinodermen. Mit 6 Tafeln in Farbendruck. Wies- baden, Kreidel’s Verlag, 1883. 34 Seiten gr. 4°. (Zweites Heft von: Studien über Entwickelungsgeschichte der Tiere von Dr. Emil Selenka.) Wissenschaftliche Rundschau. 459 schieben, neue engere Kränze bilden und so endlich den Verschluß der an den Polen längere Zeit sich erhaltenden Öffnungen bewerkstelligen. Dadurch wird das Ei zu einer runden oder schwach verlängerten Blastula mit weiter Furchungshöhle. — Jede einzelne Zelle nimmt bei Beginn einer neuen Furchungsphase (von außen gesehen) Nierenform an, indem die Furchungsrinne zuerst von der peripherischen Fläche aus einschneidet; dann zerfällt sie in ihre beiden Tochterzellen, die zunächst, gleichsam in tonischem Zustande, genau kugelig oder ellipsoidisch bleiben und sich mit ihren Nachbarinnen nur in Punkten berühren, so daß man durch die weiten Lücken zwischen ihnen in die Furchungshöhle hineinsehen kann. Nach einigen Minuten aber läßt dieser Tonus nach, die erschlaffen- den Zellen legen sich mit breiten Flächen aneinander und werden un- regelmäßig polygonal, und der Gesamtumriß des Eies erscheint, so lange der Kollaps andauert, ziemlich glatt. Von den bei Echiniden (Sfrongylocentrotus lividus, Sphaerechinus granularis und Echinus microtuberculatus) beobachteten Besonderheiten ver- dienen folgende erwähnt zu werden. Bei Sfr. lividus ist die Eiaxe schon am unreifen Ei dadurch ausgeprägt, dass nur die eine, dem späteren vegetativen Pol entsprechende Hälfte schwach pigmentiert ist. Diese Axe fällt mit der Längsaxe der Gastrula zusammen. Die Furchung verläuft, obwohl die ersten zwei und ebenso noch die ersten vier Blastomeren gleich groß sind, von da an doch ziemlich unregelmäßig; auch bleiben die rings um den animalen Pol gelegenen beiden kleinen Zellenkreise nach den ersten 4—5 Furchungsphasen für längere Zeit von der Weiter- furchung . ausgeschlossen. In der etwas größeren hinteren Hälfte des Eies zeigt sich schon, wenn sie erst aus S Zellen besteht, eine entschie- dene Lateralsymmetrie, die wahrscheinlich mit derjenigen der Larve zu- sammenfällt: nur 4 rundliche Zellen umgeben den vegetativen Pol, die 4 andern sind paarweise als schmale Keile nach rechts und links gedrängt; doch wird diese frühzeitige Ausprägung der Hauptebenen des Körpers später durch unregelmäbßige Verschiebung der lebhaft sich vermehrenden Zellen fast völlig wieder verwischt. Gegen Ende der Furchung, welche mit ungefähr 300 Zellen abschließt, gleicht sich sogar der Gröben- unterschied der kleinen Scheitelzellen am animalen Pole aus. Die nicht ganz vollständigen Beobachtungen an Ophiuriden (Ophioglypha lacertosa und Ophiothrix alopecurus) lassen einen Umstand deutlich hervortreten, der wohl bei allen Echinodermen wirksam ist, aber nirgends so auffällig zu werden scheint. Das Ei ist nämlich vor der Be- fruchtung von einem dicken Gallertmantel (Zona pellucida) umgeben; gleich nach der Befruchtung aber tritt zwischen beiden eine vom Ei aus- geschiedene helle Protoplasmaschicht auf, die sich bald oberflächlich mit einer Dotterhaut bekleidet und unter gleichzeitigem Schwund des Gallert- mantels bis zu dessen Umfang heranwächst. Im Laufe der Furchung nun >»bleibt zwar ein Teil dieser Protoplasmaschicht peripherisch liegen, ein anderer Teil aber umfließt bei jeder neuen Furchungsphase die Tochterzellen vollständig, gelangt auf diese Weise schließlich in die Furchungshöhle und bildet hier den ‚Gallertkern‘ Hrxsen’s<, dessen zähflüssige Beschaffenheit später den Mesenchymzellen ermöglicht, mit 460 Wissenschaftliche Rundschau. verästelten Fortsätzen darin herumzukriechen. Aber noch eine andere Bedeutung scheint diese Protoplasmaschicht zu haben. Einmal nämlich bedingt sie, daß die Furghungszellen jeweils nach erfolgtem Kollaps nicht mit gerundeten Flächen unmittelbar zusammenstoßen, sondern in dem sie trennenden Protoplasma gleichsam suspendiert bleiben und mit höckerigen geraden Flächen gegeneinander sehen, als ob sie soeben mit schartigem Messer auseinander geschnitten worden wären; und zweitens mag sie wohl durch ihre Zähigkeit die höchst eigentümliche Abweichung veranlassen, dab die Teilungsprodukte jedes der ersten beiden Segmente nicht neben einander, sondern kreuzweise einander gegenüber zu liegen kommen, so als ob sich das eine Segment vor der Teilung um 90° ge- dreht und seine Hälften dann sich zwischen diejenigen des andern ein- gekeilt hätten, welcher Vorgang jedoch ganz allmählich während der Teil- ung stattfindet und augenscheinlich darauf beruht, daß der zähe Proto- plasmamantel die Furchungskugeln auf möglichst engen Raum zusammen- drängt. Dadurch erhält aber auch die von jetzt an bleibende Längsaxe des Eies eine bedeutende Neigung zur früheren. Eigentümlich ist, dab dann doch gegen Ende der Furchung die noch allseitig von jenem Proto- plasma umhüllten Segmente im stande sind, durch dasselbe hindurch Ausläufer zu treiben, welche als schwingende Cilien oberflächlich her- vortreten. Hier schließen sich Lupwis’s Beobachtungen an Asterina gibbosa an, welche darthun, daß die Furchung der Seesterne im wesentlichen genau so verläuft wie die der Ophiuriden und dab namentlich die eben beschriebene kreuzweise Lagerung der 4 ersten Zellen auch hier wieder- kehrt, und offenbar aus demselben Grunde. Lupwıc freilich erklärt die Substanz, welche zuletzt die Furchungshöhle erfüllt und welche (nach SELENKA) von dem anfangs oberflächlich gelegenen zähen Protoplasma abstammt, für eine Flüssigkeit, der man keinesfalls eine gallertige Kon- sistenz zuschreiben dürfe; doch scheinen uns in diesem Punkte die ein- gehenderen Untersuchungen SELENKA’s mehr Beachtung zu verdienen. Das Mesenchym. Schon längst ist bekannt, daß sich bei Be- ginn der Gastrulation des Echinoderms verästelte Wanderzellen von der Innenseite insbesondere jener Partie der Blastula abschnüren, welche sich zu gleicher Zeit oder bald darauf zur Bildung des Hypoblasts einstülpt — Wanderzellen, die unter lebhafter Vermehrung die Furchungshöhle durch- setzen und das Bindegewebe, die Stützgebilde und einen Teil der Mus- kulatur der Larve liefern. Ob auch von der übrigen Innenfläche der Blastula solche Zellen hervorknospen oder ob dieselben sämtlich von zwei am vegetativen Pol gelegenen lateral-symmetrischen Bildungsherden abstammen, wie SELENKA schon 1879 für die Echiniden behauptet hatte, blieb noch unentschieden. Jetzt vermag er nicht bloß diese Angabe, sondern auch die 1380 von HarscHzK gemachte Entdeckung zu bestätigen, daß die gesamten Wanderzellen auf zwei »Urzellen des Mesenchyms« zurückzuführen sind. Dieselben werden sichtbar, nachdem mit Abschluß der Furchung die Zellvermehrung für einige Zeit stillgestanden und das Blastoderm gegen den animalen Pol hin sich etwas verdünnt, gegen den vegetativen sich etwas verdickt sowie eine gleichförmige Bewimperung Wissenschaftliche Rundschau. 461 erhalten hat: nun entsteht nämlich genau am unteren Pol eine trichter- artige Einsenkung von der Furchungshöhle her in die Dicke der Blasto- dermwand hinein, indem eben einfach zwei rechts und links von der Median- ebene gelegene Zellen sich verkürzen und verdicken. Diese vermehren sich rasch, jedoch nur in einer Richtung, so nämlich, daß zwei wieder beiderseits der Mediane verlaufende, aus drei, vier und endlich fünf Paaren solcher Zellen bestehende Mesenchymstreifen in das Blastoderm eingeschoben erscheinen. Kurze Zeit darauf aber beginnt eine regellose Vermehrung derselben und sie rücken wie es scheint sämtlich ins Innere hinein, während die benachbarten Blastodermzellen von beiden Seiten her nachdrängen und die Lücke sofort verschließen. Diese An- gaben stützen sich zunächst nur auf das Verhalten mehrerer Echiniden, ganz gleich ist aber auch das der Ophiuriden, während die Holothuriden eine bedeutende Verspätung der Mesenchymanlage zeigen: erst wenn der Urdarm vollständig eingestülpt ist, erscheinen auf seinem oberen blinden Ende zwei vorspringende Zellen, welche sich bald davon ablösen und wohl erst mehrere Stunden später sich zu vermehren beginnen. Was die histologische Differenzierung dieser Mesenchymzellen betrifft, so vermag SenenkA seine früheren Mitteilungen über Echiniden jetzt auch an Holothuriden durchaus zu bestätigen: sie bilden zweierlei Gewebe, nämlich 1) das Bindegewebe nebst skeletogenen Zellen und 2) von Muskulatur bloß den Ringmuskelbeleg des Vorderdarms. Letzteres geschieht, indem solche amöboide Zellen durch ihre pseudopodienartigen Ausläufer mit dem Vorderdarm in Kontakt treten, seiner Außenwand sich fest anlegen und rechtwinkelig zu seiner Längsachse zu einer (geschlos- senen?) Ringfaser auswachsen, deren Kern peripherisch liegen bleibt. Vereinzelte Zellen spannen sich zwischen Ektoderm und Larvendarm, Steinkanal ete. aus und fungieren als provisorische Suspensorien und Muskeln dieser Organe. Weitaus die Mehrzahl aber wird zur Bindesub- stanz: teils legen sie sich dem Ektoderm von innen an und liefern die Cutis, teils treten sie rechts und links vom Enddarm zu zwei, dann drei Zellgruppen zusammen, welche als Bildungsherde der Kalkkugeln und -Rädchen dienen, teils endlich wird der Steinkanal ringartig von ihnen umwachsen und sein Kalkskelett abgelagert; später werden auch die Tentakelanlagen des Wassergefäßsystems von einer einschichtigen Lage solcher Zellen überzogen. Der einfacheren Darstellung halber berücksichtigen wir auch im folgenden zunächst nur die SezenkA’sche Arbeit, um später im Zusam- menhang auf diejenige Lupwıg’s zurückzukommen. — In betreff der Ent- stehung des Wassergefäßsystems und der Leibeshöhlensäcke — »Vaso- peritonealblase« oder Vasocoelomsack (noch besser »Hydrocoel« nach Lupwıs) und »Peritonealblasen«e oder GCoelomsäcke — aus Divertikeln des Urdarms dürfen wir die wichtigsten Punkte als bekannt voraussetzen; von besonderem Interesse sind hier die Angaben über das histologische Verhalten jedes einzelnen Abschnitts dieser Organe bei Synapta. Am Wassergefäßsystem erhält sich allgemein ein innerer Be- lag von je nach dem Kontraktionszustand abgeplattet oder cylindrisch erscheinenden Epithelzellen, von denen einzelne auch später noch mit 462 Wissenschaftliche Rundschau. Flimmern bedeckt sind. Dieselben Epithelzellen scheinen aber außerdem in allen dem Hydrocoel entstammenden Gebilden einen äußeren Belag von kontraktilen Längsfasern zu bilden; nur am Ring- kanal selbst ist ein solcher nicht zu erkennen und an der Polischen Blase wird er vielleicht zur Ringmuskulatur. Auf welche Weise die Muskelfibrillen abgeschieden werden, ist leider nicht festgestellt, dazu hätte es mühselig herzustellender Isolierungspräparate bedurft; immerhin aber kann kein Zweifel daran aufkommen, daß die Fibrillen wirklich ein Produkt der Epithelwand des Wassergefäßsystems sind und nicht etwa, wie SELENKA selbst früher glaubte, vom Mesenchym abstammen. Zuerst zeigen sich dieselben auf den Tentakelauswüchsen des Hydrocoels, welche schon zu einer Zeit, wo der spätere Ringkanal erst Halbkreisform besitzt, Be- wegungen auszuführen beginnen; bedeutend später wird ein äußerer Belag von Längsfasern auch auf den 5 Ambulakralkanälen sichtbar, die bereits ihr Lumen verloren haben und daher gewissermaßen nur noch als Brutstätten für die hauptsächlich auf ihrer Außenseite sich ent- wickelnden Längsmuskelbänder dienen. Eine ähnliche Differenzierung erleiden die beiden Coelomsäcke, je- doch erst nachdem sie zu einem Hohlraum zusammengeflossen sind, der sich bedeutend erweitert und überall zwischen die vorhandenen Organe eindringt: das Epithel persistiert als Coelomepithel, das peripherisch einen Belag von Muskelfibrillen abscheidet; diese sind aber hier nicht Längs-, sondern Ringmuskeln und schließen auch nicht so dicht zusammen. So liefert das äußere Blatt des Sackes die Ringmuskulatur der Körper- wand, das innere diejenige des Darms. Noch lange erhält sich übrigens zwischen der Ringmuskelschicht und der Cutis ein spaltförmiger Hohlraum als Rest der Furchungshöhle, durchsetzt von einzelnen sternförmigen Mesenchymzellen und skeletogenen Zellgruppen. Das Nervensystem von Synapta entsteht als reine Ektoderm- bildung auf höchst eigenartige Weise. Schon frühzeitig, beim Übergang der Larve in das sogenannte »Puppenstadium«, verdickt sich das Ekto- derm in der Umgebung des Mundes und stellt den »Mundschild« dar, auf welchem 5 buckelartige Erhöhungen als Vorläufer der Tentakel her- vortreten. Dann wird diese gesamte Anlage nebst angrenzendem Ekto- derm in den Vorderdarm hineingestülpt, welcher sich in Form einer engen Röhre darüber zusammenschließt. Dabei kommen die genannten Erhöhungen über die Spitzen der vom Ringkanal des Wassergefäßsystems hervorgewachsenen Tentakelröhren zu liegen und werden durch diese in Schlauchform vorgedrängt; zwischen den 5 Tentakeln aber wachsen aus dem innersten Bezirk des Mundschildes, der als »Mundwulst« unterschie- den werden kann, 5 solide, bald löffelartig sich verflachende Knospen hervor, welche den Ambulakralkanälen aufgelagert zwischen Cutis und Ringfaserschicht des Coeloms nach hinten eindringen. Das sind die 5 Nervenstämme, welche wir also wohl potentia als blindsackartige Ein- stülpungen des Ektoderms auffassen müssen, die nur schon längst ihr Lumen eingebüßt haben. Der Nervenring um den Mund geht unzweifel- haft aus dem »Mundwulst< unmittelbar hervor. Die Bemerkungen über Mund und After von Synapta, welche trotz Wissenschaftliche Rundschau. 463 mehrfacher Lageveränderungen von der Larve direkt auf das fertige Tier übergehen, sowie die Auseinandersetzung mit MrrscHhnikorr über die Ent- wickelung von Cucumaria Planci lassen wir unerörtert und heben nur aus den Schlußfolgerungen noch folgendes hervor: 1) Die Furchung des Echinodermeneies ist nach dem obigen im allgemeinen als aequal zu bezeichnen, und zwar kann man die der Synapta (und wohl aller Holothurien) als regulär, die der Ophiuriden (und Asteriden) als pseudo- regulär, die der Echiniden als aequalmit polarer Differenzier- ung unterscheiden. Der Satz, daß die Besonderheiten der Furchung keinerlei Anhalt zum Aufsuchen der natürlichen Verwandtschaften ge- währen, bestätigt sich auch hier durchaus, indem ja die weit abweichen- den Holothurien den denkbar regelmäbigsten Verlauf des Prozesses zei- gen, während er bei den entschieden ursprünglicheren Asteriden und Ophiu- riden bedeutend abgeändert ist. 2) Über die morphologische Be- deutung der Mesenchymzellen einer- und der Urdarmdivertikel anderseits, die man gewöhnlich als Mesoblast unter einem gemein- samen Begriff zusammenfaßt, läßt sich noch nichts Bestimmtes sagen. Stellen jene die ursprüngliche, diese eine später erworbene Bildung des »mittleren Keimblattes« dar oder umgekehrt? Oder sind die Mesenchym- zellen gar nur modifizierte, vorzeitig abgelöste Teile der Urdarmdivertikel ? Für jede dieser Annahmen lassen sich gute Gründe beibringen; SELENKA scheint am ehesten zur ersten derselben zu neigen. Jedoch offenbar hauptsächlich nur deshalb, weil er von der Voraussetzung beherrscht ist, die Echinodermen stammten höchst wahrscheinlich von höheren Würmern oder wenigstens von wurmähnlichen Geschöpfen ab und die zwei »Ur- zellen des Mesenchyms« und die daraus hervorgehenden paarigen Mesen- chymstreifen müßten daher auch den gleichnamigen Gebilden, die bei so vielen Würmern nachgewiesen worden sind, homolog sein. Wir kön- nen hier nicht auf eine Diskussion dieser weitschichtigen Frage eingehen und bemerken nur, daß uns die letztere Voraussetzung keineswegs zwing- end erscheint. Läßt man aber einmal die Möglichkeit gelten, daß die Echinodermen auch aus einfacheren, noch coelenteratenartigen Vorfahren hervorgegangen sein könnten, so gesellt sich zu den drei oben genannten Annahmen gleich noch eine vierte: Mesenchym und Urdarmdivertikel der Echinodermen wären vielleicht neben einander aus primitiven Zuständen, wo die beiden typischen Gestaltungsweisen des »mittleren Keimblattes« noch nicht streng differenziert waren, ererbt und entsprechend den neuen Bedürfnissen eigenartig umgebildet worden. Damit würde auch die be- denkliche Zwangslage, in welche SELENKA durch seine Auffassung gedrängt wird, vermieden, dab er nämlich die Urdarmdivertikel, die so frühzeitig eine bedeutungsvolle Rolle spielen und so unverkennbar auf das Ver- halten der Enterocoelier hinweisen, für ganz neue Erwerbungen des Echino- derms erklären muß. Die Besprechung der Lupwiı@'schen Arbeit wird uns Gelegenheit geben, weiter unten nochmals mit einigen Worten auf diesen Punkt zurückzukommen. (Schluß folgt.) 464 Wissenschaftliche Rundschau. Über pelagische Insekten. Wenn wir bedenken, daß das Meer ohne Zweifel die Geburtsstätte des organischen Lebens ist, und wenn wir sehen, daß die großen Ab- teilungen des Tierreichs in reichstem Mabe im Ozean ihre Vertreter auf- zuweisen haben, so kann es uns wohl einigermaßen in Verwunderung setzen, daß eine Tierklasse, welche auf dem Lande eine ganz hervor- ragende, fast kann man sagen dominierende Stellung einnimmt, im Meere nur ganz wenige Vertreter hat. Wir meinen die Klasse der Insekten. Es ist wunderbar, daß gerade diese Tiere, die an Anpassungsfähigkeit doch wohl alle anderen Tiere weit übertreffen, sich nicht auch den Ozean erobert haben. In der That ist die Armut des Ozeans an In- sekten so groß, daß die Kenntnis dieser Tiere kaum über die engen Fachkreise hinausgedrungen sein dürfte und daß wohl jeder Nichtfach- mann, dem auf offenem Meere diese Insekten begegnen, dieselben für Landbewohner halten wird, die durch einen starken Wind weit ver- schlagen wurden. Beobachtet man freilich die Tierchen genauer, so wird man bald diesen Irrtum einsehen und bemerken, daß sie an den Aufenthalt im Meere vortrefflich angepaßt sind. Alle echt pelagischen Insekten gehören den wanzenartigen Tieren an (Hemiptera), und zwar innerhalb dieser Ordnung der Gattung Halo- bates und einer oder zwei nahestehenden. Allerdings gibt es noch mehrere andere meerbewohnende Insekten; allein da sich dieselben dicht an der Küste aufhalten und zum Teil wohl auch ans Land gehen, so können sie nicht eigentlich pelagisch genannt werden. Unter diesen letzteren, die Küstengewässer bewohnenden Insekten finden sich Käfer (Aöpus, Hesperophilus), Wanzen (Aöpophilus), Netzflügler (Philasinus, Molanna), Zweiflügler (Chironomus oceanicus). Es möge genügen, diese Namen auf- geführt zu haben. Zum Unterschied von diesen Insekten bewohnen die Halobates ausschließlich den offenen Ozean, wo man sie oft viele hundert Meilen vom Lande entfernt antrifft. Über die pelagischen Halobates und Verwandte ist im vorigen Jahre eine ausführliche Monographie in den »Reports of the scientific results of the Challenger-Expedition« erschienen'. In Anlehnung an diese vor- treffliche Arbeit wollen wir uns mit den interessanten Halobates etwas näher bekannt machen. Was am Körper von Halobates sofort auffällt, ist die kolossale Entwickelung des Thorax im Vergleich zu dem winzigen Abdomen. Der ganze Körper ist mit feinen, kurzen Härchen bedeckt, meist von grauer Farbe. Nur wenige Spezies zeichnen sich durch einige bunte Zeich- nungen auf der Rückenseite des Körpers aus. Alle Arten aber besitzen zwei rötlich-gelbe Flecken auf der Oberseite des Kopfes. Die Augen sind groß und vorspringend und liegen an den hinteren Ecken des meist dreieckigen Kopfes, so zwar, dab sie den Kopf selbst nach hinten etwas ! Report on the pelagic Hemiptera procured during the Voyage of H.M. S. Challenger, in the years 1873—18%76. By F. Buchanan White M.D.,F.L.S, Wissenschaftliche Rundschau. 465 überragen und dem Thorax anliegen. Die Antennen sind wenigstens halb so lang als der Körper und bestehen aus vier Gliedern; zwischen dem zweiten und dritten und zwischen dem dritten und vierten Glied findet sich je ein kleines Glied eingeschaltet. Die Mandibeln sind durch eine Reihe von Zähnen ausgezeichnet, welche mit ihren Spitzen nach hinten gerichtet sind und in einer Reihe hintereinander stehen. Die Maxillen sollen nach Bucn. Wnrır# folgenden Bau haben: Jede Maxille besteht aus einer nach innen geöffneten Halb- rinne und ist auf der äußern Seite mit feinen, nach hinten gerichteten Härchen versehen. Von den Rändern jeder Halbrinne gehen oben und unten feine gekrümmte Haare zur andern Halbrinne hinüber, welche offenbar den Verschluß der beiden Rinnen zu einem Rohr bewerk- stelligen. Am Thorax kann man nur zwei Abschnitte unterscheiden, da Mittel- und Hinterbrust mit einander verschmolzen sind. Das Abdomen ist klein, nach hinten zusammengedrückt und, soweit äußerlich sichtbar, von dreieckigem Umriß, mit der Spitze nach hinten. Mit Einschluß der Genitalsegmente setzt sich das Abdomen aus neun Segmenten zusammen, von denen die ersten drei vom Metanotum bedeckt sind. Auf die Ver- schiedenheit des Abdomens in bezug auf die Geschlechter sowie auf die Geschlechtsorgane selbst wollen wir nicht näher eingehen. Von den Beinen sind die vorderen am kürzesten und, der Le- bensweise entsprechend, zum Fangen und Greifen eingerichtet. Der Tarsus besteht aus zwei Gliedern. Das vorderste Tarsalglied ist etwa in der Mitte seiner Länge gespalten. Im Grunde der Spalte sind zwei gekrümmte, scharfe Klauen eingesenkt. Zwischen und etwas hinter den Klauen vor kommt ein dünner rippenähnlicher Fortsatz, der etwas länger, aber schmäler als die Klauen ist. Die Mittel- beine sind die längsten und die Ruderorgane der Tiere; wenn man die Tiere lebend beobachtet hat, wie ich das auf meiner Reise von Brasilien nach England sehr oft zu thun Gelegenheit hatte, so mub man diese Beine für eine vortreffliche Anpassung an die pelagische Lebensweise der Halobates halten. Die Tibia und das erste Tarsal- glied sind nämlich auf der inneren Seite mit dicht neben einander stehenden langen Haaren besetzt, die zusammen eine dichte, breite Ruderplatte bilden. Die Hinterbeine entbehren der Ruderhaare und haben nur ein Tarsalglied, welches ähnlich gebaut ist wie das äußerste Glied der Mittelbeine. Die verwandte Gattung Halobatodes unterscheidet sich von Halobates hauptsächlich dadurch, daß auch den Mittelbeinen die Ruderhaare fehlen. Andere Unterscheidungsmerkmale sind gegeben in der verschiedenen Form des Kopfes, in der Tibia der Vorderbeine, in dem zweigliedrigen Tarsus der Hinterbeine u. s. w. Sowohl Halobates wie Halobatodes fehlen die Flügel vollständig. Da nicht einmal mehr Rudimente zu erkennen sind, so dürfte die Flügellosigkeit von hohem Alter sein. Über den inneren Bau sowie über die Entwickelung der Halobatiden ist zur Zeit noch fast nichts bekannt, so daß hier für Zoologen, welche Kosmos 1884, I. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XIV). 30 466 Wissenschaftliche Rundschau. etwa auf einem Segelschiff Gelegenheit haben, öfter diese Tiere zu fangen, ein dankbares Untersuchungsobjekt vorliegt. Auch über die Lebensweise der Wasserwanzen fehlen noch um- fassende Beobachtungen; was bisher bekannt wurde, beschränkt sich auf vereinzelte Mitteilungen von Reisenden. Ich habe auf meiner Reise die Halobates an manchen Tagen in ziemlich großer Anzahl getroffen; mei- stens hielten sie sich vor dem Bug des Schiffes auf, wo sie auf der Oberfläche des ziemlich ruhigen Meeres pfeilschnell hin- und herschossen, so daß sie sehr schwer zu erwischen waren. Mr. MurrAy, einer der Naturforscher des »Challenger«, sagt, die Mehrzahl der mit dem Netz gefangenen Exemplare sei tot gewesen, wenn sie an Bord kamen. Ich kann diese Beobachtung bestätigen. Einmal hat Mr. MurrAy beobachtet, dab ein Halobates tauchte. Mr. J. J. WArkEr hat eine ebensolche Be- obachtung gemacht; indessen bleibt es doch immer noch fraglich, ob alle Arten von Halobates tauchen können. Wovon leben die Halobates? Ich bin mir während meiner Reise über diese Frage nicht klar geworden und auch in der Arbeit von Bucn. Wurre finde ich in bezug auf diesen Punkt nur eine Be- merkung von Mr. Murray vom »Challenger«, die mir aber keines- wegs abschließend vorkommt. Mr. Murray sagt nämlich, daß er be- merkt habe, dab, wenn er sich mit dem Boote einer toten Porpita, Physalia oder einem andern auf der Meeresoberfläche schwimmenden toten Wesen genähert habe, gelegentlich drei oder vier Halobates an diesem toten Körper gewesen seien. Anfangs habe er geglaubt, die Halobates benutzten diese Leichen nur als Landungs- oder Ruheplätze, später aber sei er zu dem Glauben gekommen, dab die Insekten sich von den Leichnamen der Tiere ernährten. Wie man sieht, ist diese Bemerkung nichts weniger als beweisend; der Thatbestand ist einfach der, daß wir nicht wissen, welche Nahrung unsere Meereskerfe zu sich nehmen. Vielleicht ließe sich durch mikroskopische Untersuch- ung des Mageninhaltes die Frage der Entscheidung näher bringen. Reisende Naturforscher möchte ich auf diesen Punkt besonders auf- merksam machen. Buch. Wuıre unterscheidet elf Spezies von Halobates. Von diesen sind fünf im Atlantischen Ozean gefunden worden; indessen ist nur eine derselben diesem Ozean eigentümlich. Sechs Arten wurden im Indischen Ozean beobachtet; zwei von diesen sind demselben ausschließlich ange- hörig. Im westlichen Teile des Stillen Ozeans wurden acht Arten an- getroffen, vier derselben nur dort. BucH. WuırE meint, daß die Gegend zwischen dem östlichen Teile des Indischen und dem westlichen Teile des Stillen Ozeans der »Schöpfungsmittelpunkt< der Gattung sei, von dem aus die verschiedenen Arten sich ausgebreitet hätten. Das Ver- breitungsmittel werden nach Whıe die ozeanischen Strömungen ge- wesen sein. Wie der Leser sieht, sind unsere Kenntnisse von dem Bau, der Entwickelung und Lebensweise der merkwürdigen pelagischen Wanzen zur Zeit noch recht dürftig. Von der verwandten Gattung Halobatodes beschreibt Buch. WnıtE Wissenschaftliche Rundschau. 467 vier Spezies, von denen es aber nicht einmal gewiß ist, ob sie sämtlich Meeresbewohner sind. Ja vermutlich sind drei derselben Süßwasser- wanzen; nur von einer Art sagt FRAUENFELD, dab er sie im Chinesischen Meere gefunden habe. Über die Lebensgewohnheiten und die Ent- wickelung von Halobatodes ist nichts bekannt. Buch. Wurrs glaubt, diese Gattung habe sich aus Hlalobates entwickelt. Dr. WILHELM BREITENBACH. Die Zwiegestalt der Männchen der nordamerikanischen Flusskrebse''. Die erwachsenen Männchen der zahlreichen Flußkrebsarten Nord- amerikas, welche zur Gattung Oambarus gehören, treten in zwei ver- schiedenen Formen auf, welche von Haze mit der ihm eigenen Sorg- falt beschrieben worden sind. Die eine (HaGEn’s »zweite Form«) nähert sich durch die minder scharf ausgeprägte Skulptur des Panzers, die Form der Fußklauen u. s. w. den Weibchen und den jugendlichen Männchen ; von denen dieser letzteren kaum verschieden ist auch das erste Paar der Hinterleibsanhänge,, das bei der Paarung eine wichtige Rolle spielt. Bei der anderen (Hagzn’s »erster Form«) sind diese Anhänge weit stärker entwickelt und ganz abweichend gestaltet, die Skulptur des Panzers schärfer ausgeprägt, die Klauen größer und kräftiger u. s. w. — Zwischen- formen zwischen den zweierlei Männchen fehlen. Einzelne Tiere der ersten Form sind größer als solche der zweiten und umgekehrt, so daß letztere nicht einfach als Jugendform der anderen betrachtet werden kann. Die inneren Geschlechtsteile sind minder entwickelt bei der »zweiten Form«; mikroskopisch konnte HAcen, der keine frischen Tiere hatte, sie nicht untersuchen. HAGEn vermutete, daß diese Männchen der »zwei- ten Form« unfruchtbare Tiere sein möchten. Eine unerwartete Lösung hat nun vor kurzem die Frage nach der Bedeutung der zweierlei Krebsmännchen durch Warrter FAxon gefunden. Derselbe hatte 1875 aus Kentucky lebende Weibchen und Männchen der ersten Form von Cambarus rusticus erhalten; sie paarten sich in der Gefangenschaft und nach der Paarung häuteten sich drei Männchen, die nebst den abgeworfenen Häuten in Weingeist gesetzt wurden. Nun findet sich jetzt, daß diese gehäuteten Männchen der »zweiten Form«, ihre ab- geworfenen Häute der »ersten Form« angehören. Ebenso konnte WALTER FAxon ein in der Häutung gefangenes Männchen von Cambarus propin- quwus aus Wisconsin untersuchen; auch hier war aus einer Haut der »ersten Form« ein Männchen der »zweiten Form« gekrochen. Männchen also, die in der »ersten Form« Geschlechtsreife erlangt hatten, kehren ! Walter Faxon, on the so-called Dimorphism in the genus Cuambarus. American Journ. of Science. Vol. XXVII. January 1884, pag. 42. 468 Litteratur und Kritik. nach der Paarung wieder zurück zu der jugendlicheren, den Weibchen ähnlicheren »zweiten Form«e. Man darf wohl annehmen, daß sie in dieser Form nicht verharren, sondern vor der nächsten Paarung durch eine neue Häutung zur »ersten Form« zurückkehren, also abwechselnd bald in dem einen, bald in dem anderen Gewande auftreten. . Die »erste Form< wäre demnach nichts anderes als das Hochzeitsgewand der Männchen. Waurer Faxon meint, daß die von mir bei Tanais und Or- chestia beobachtete 7Zwiegestalt der Männchen vielleicht in gleicher Weise wie bei Cambarus zu erklären sein möge. Indessen erwiesen sich in diesen Fällen beiderlei Männchen bei mikroskopischer Untersuchung als geschlechtsreif, und außerdem haben bei Tanais diese geschlechtsreifen Männchen, wie auch für andere Arten von anderen bestätigt wird, keine Freßwerkzeuge, können also in diesem Zustande nicht lange leben und mithin nicht Formen sein, die dasselbe Tier abwechselnd annimmt. FRITZ MÜLLER. Litteratur und Kritik. Dr. Ernst Macn, Professor der Physik an der Deutschen Universität zu Prag: Die Mechanikinihrer Entwickelung historisch-kritisch dargestellt. Mit 250 Abbildungen. Leipzig, F. A. Brockhaus, 1883. X u. 485 Seiten. (Zugleich 59. Bd. der internationalen wissenschaft- lichen Bibliothek.) Dieses vortreffliche Buch des hochangesehenen Physikers, der in einer seiner anderen Schriften die große Bedeutung der neuen Ent- wickelungslehre auch für die physikalischen Disziplinen hervorgehoben hat und (wie schon früher der Ref.) Darwın GALıLEI an die Seite stellt, verdient in jeder Beziehung von den Lesern dieser Zeitschrift studiert zu werden, denen es um Aufklärung in bezug auf die wichtigsten Lehr- sätze der Mechanik zu thun ist. Die Methode, deren sich der Verfasser bedient, um auch dem mathematisch Ungeschulten den wesentlichen realen Inhalt der Mechanik völlig assimilierbar zu machen, ist eine ganz andere als die eines Lehrbuches, ist nicht dogmatisch, sondern historisch- kritisch und in einem gewissen Sinne entwickelungsgeschichtlich, sofern von ihm gezeigt wird, wie »der Kern der Gedanken der Mechanik sich fast durchaus an der Untersuchung sehr einfacher besonderer Fälle mechanischer Vorgänge entwickelt«. Das richtige Wort für die Kenn- zeichnung dieser Methode der Darstellung und Unterweisung ist genetisch. Denn für den denkenden Leser, welcher Schritt für Schritt dem Autor folgt, entsteht aus dem einfachen Fall nach und nach vollkommen unge- Litteratur und Kritik. 469 zwungen eine lange Reihe von immer verwickelteren Fällen und zugleich wächst von Fall zu Fall die Überzeugung von der Unzulässigkeit des einen, der Zulässigkeit des anderen Erklärungsprinzips. Dabei wird der von den großen Forschern, deren Reihe mit Arcnımzpes beginnt, bis zur Auffindung des richtigen Prinzips eingeschlagene Weg genau beschrieben und öfters, was die Lektüre besonders anziehend macht, daneben gezeigt, wie man zu ihm hätte kürzer gelangen können. Die zahlreichen meist sehr ein- fachen Holzschnitte im Texte erläutern diese Gedankenbahnen in anschau- licher Weise, während die nicht selten der Vollständigkeit halber einge- schalteten mathematischen Formeln selbst den dieser Symbolik abholden Leser nicht abschrecken können, da er sie nur zu überspringen braucht. Die Hauptsache verliert dadurch nichts von ihrem fesselnden Reize. Erhöht wird dieser noch durch eine Fülle von eingestreuten allgemeinen Bemerkungen über Naturforschung überhaupt, welche den eigentümlichen vom Verfasser eingenommenen und von ihm als antimetaphysisch be- zeichneten Standpunkt charakterisieren. Einige Beispiele: »Die Natur- wissenschaft tritt nicht mit dem Anspruch auf, eine fertige Welt- anschauung zu sein, wohl aber mit dem Bewußtsein, an einer künftigen Weltanschauung zu arbeiten. Die höchste Philosophie des Natur- forschers besteht darin, eine unvollendete Weltanschauung zu ertragen und einer scheinbar abgeschlossenen, aber unzureichenden vorzuziehen. « »Alle Wissenschaft hat Erfahrungen zu ersetzen oder zu ersparen durch Nachbildung und Vorbildung von Thatsachen in Gedanken, welche Nach- bildungen leichter zur Hand sind als die Erfahrung selbst und dieselbe in mancher Beziehung vertreten können. Diese ökonomische Funk- tion der Wissenschaft« spricht sich in der Forschung wie im Unterricht überall deutlich aus. >»Die Erfahrungen werden ... symbolisiert<, und zwar in den Zahlzeichen, den mathematischen Zeichen, den Noten, Schriftzeichen überhaupt. >»Jeder, der den ganzen Verlauf der wissen- schaftlichen Entwickelung kennt, wird natürlich viel freier und richtiger über die Bedeutung einer gegenwärtigen wissenschaftlichen Bewegung denken, als derjenige, welcher, in seinem Urteil auf das von ihm selbst durchlebte Zeitelement beschränkt, nur die augenblickliche Bewegungsricht- ung wahrnimmt.< Und doch gehören historische Studien auf dem Gebiete der ihrer neueren Entdeckungen und Erfindungen in den verschiedensten Spezialfächern sich rühmenden modernen Naturwissenschaft, die unserer Zeit das Gepräge gab, zu den Seltenheiten. Das vorliegende Buch ist wohl geeignet, diesem Mangel abzuhelfen, und wird hoffentlich auch bei der heranwachsenden Generation die Begeisterung für das reine Forscher- tum eines Stevin und GUERICKE, eines HuyGHrns und NEwWToN aufs neue beleben, die unermeßliche Fruchtbarkeit des genetischen Verfahrens beim Lernen und Lehren, beim Untersuchen und Erkennen darthun helfen und der Selbständigkeit des Denkens neue Freunde zuführen. Jena. PREYER. ATO Litteratur und Kritik. Von Leuniss’ Synopsis, I. Teil: Zoologie, 3. gänzl. umgear- beitete Aufl. v. Prof. Dr. H. Lupwısg (Hannover, Hahn’sche Buchhandlung) ist noch am Schlusse des vorigen Jahres die zweite Hälfte des I. Bandes erschienen. Dieselbe umfaßt den Rest der Wirbeltiere, die Tunikaten und die Mollusken. Die großen Vorzüge, welche wir der ersten Hälfte dieses Bandes nachrühmen konnten (s. Kosmos XII, 399), läßt auch der vorliegende Halbband überall erkennen; die gewiß nicht leichte Auf- gabe, unter Beibehaltung der bewährten Lrunis’schen Methode und Form das vielbegehrte Werk, das doch bisher vorzugsweise praktische Ziele verfolgt hatte, soweit umzugestalten, daß auch Morphologie, Physiologie und allgemeinere biologische Gesichtspunkte zu der Geltung kommen, die ihnen gegenwärtig auch in einem solchen Buche gebührt, ist tref- lich durchgeführt und wir können dasselbe somit nur aufs wärmste empfehlen. Freilich stimmen wir ganz dem Verfasser bei, wenn er im Vorwort meint, es wolle ihm jetzt allerdings bedünken, als sei er in der Beschränkung des Stoffes manchmal (namentlich im allgemeinen Teile) zu weit gegangen; allein so lange in höheren wie in niederen Schulen die Lehrpläne noch vorschreiben, daß Zoologie und Botanik durchaus als >beschreibende« Fächer im alten Sinne betrieben werden, mag wohl die Mehrzahl derer, für die das Buch eigentlich bestimmt ist, mit Recht anderer Meinung sein. Die Paläontologie hat wenigstens insofern größere Berücksichtigung gefunden, als die ausgestorbenen Ordnungen der Rep- tilien, Ganoiden und Gephalopoden je in einem besonderen kurzen Ab- schnitt besprochen werden. Daß die Systematik überall auf dem neue- sten Standpunkt steht, braucht kaum hervorgehoben zu werden. Das alphabetische Register ist fast ausschließlich Namenregister; die Stich- wörter für so viele anatomische und entwickelungsgeschichtliche Bezeich- nungen wären aber gewiß den meisten Lesern sehr willkommen gewesen. In Kürze sei hier noch auf eine Anzahl neuerer litterarischer Er- scheinungen hingewiesen, die für unsere Leser von besonderem Interesse sein dürften und die wir zum Teil später noch eingehend zu besprechen gedenken. Von Darwın’s unsterblichem Hauptwerk, der »Entstehung der Arten,« ist soeben eine siebente deutsche Ausgabe von Prof. J. V. Carus erschienen, die als »nach der letzten englischen Auflage wiederholt durchgesehen« bezeichnet wird. Daß dies in der That zum wesentlichen Vorteil des Buches durchweg mit Sorgfalt geschehen ist, können wir auf Grund vielfacher Vergleichung früherer Ausgaben mit Vergnügen be- stätigen. Auch die Ausstattung verdient alles Lob: das Papier ist feiner, der Druck erscheint, obwohl in etwas kleineren Typen ausgeführt, doch erheblich klarer und angenehmer lesbar, und als passende Zierde ist dem Buche ein neues Bild seines Urhebers in Photographiedruck beigegeben, das ihn stehend, in Hut und weitem Mantel zeigt, wie er, an eine mit wildem Wein umsponnene Säule seines Gartens in Down gelehnt, sinnend in die Ferne blickt — unstreitig die ansprechendste Darstellung unseres verehrten Meisters, die uns bisher zu Gesicht ge- kommen ist. Litteratur und Kritik. 471 Dr. L. Rapzxmorsr’s Kryptogamen-Flora von Deutschland, Österreich und der Schweiz, I. Band: Pilze, von Dr. G. Winter. Leipzig, Verlag von Ed. Kummer. Von diesem verdienstvollen Werke, dem wir schon früher eine Besprechung gewidmet (Bd. XII, S. 471), ist die erste Abteilung, enthaltend die Schizomyceten, Saccharomyceten und Basidiomyceten, mit der 13. Lieferung zum Abschluß gekommen. Der Preis dieses 924 S. starken, mit 1240 Abbildungen geschmückten Buches beträgt M. 31,20. Für die zweite Abteilung, die in ca. 17 weiteren Lieferungen bis Ende 1886 beendigt sein soll, sind zur Bearbeitung der Discomyceten Dr. H. Reum, der Oomyceten Prof. Dr. A. pe Barry ge- wonnen worden. Nach Schluß des Werkes kommen wir ausführlicher darauf zurück. Zugleich kündigt die Verlagshandlung an, daß als III. Band der »Kryptogamenflora« die »Farnpflanzen oder Gefäßbündelkryptogamen (Pteridophyta)«, bearbeitet von Dr. Cur. Lurrssen in Leipzig, demnächst erscheinen werden, in ca. 4 Lieferungen zu M. 2,40. Mit Befriedigung ci- tieren wir aus dem Prospekt folgende Stelle: »Verf. wird diese Pflanzen- gruppe im Lichte der neueren Morphologie vorführen, die Diagnosen und Beschreibungen ausführlicher und unter Aufnahme von weiteren Momenten geben, als sonst in floristischen Werken üblich ist. Es leitete ihn dabei einmal die Erfahrung, daß Anfänger — und auch solchen soll ja das Werk in erster Linie ein Führer in das Studium der »Gefäbkryptogamen« sein — beim Gebrauch der kurzen, nur ein oder wenige Merkmale her- vorhebenden Diagnosen der Floren nur zu häufig in den Gedanken sich einleben, ‘als hätten sie nun alle Charaktere der Pflanze erschöpft ; zwei- tens beabsichtigte er, durch so mancherlei auf den ersten Blick vielleicht als überflüssig erscheinende Bemerkungen auch denjenigen, die bereits Artenkenntnis besitzen, Anregung zu weiterem Beobachten der Arten nach jeder Richtung hin zu geben.« Im Hinblick auf die treffliche Aus- führung ähnlicher Bestrebungen, wie sie Verf. früher schon geboten hat (wir machen ganz besonders auf die viel zu wenig verbreiteten AuErS- waup-Luerssen’schen »Botanischen Unterhaltungen« aufmerksam), dürfen wir mit Bestimmtheit eine höchst anregende und verdienstvolle Arbeit erwarten. Prof. G. Jäser’s »Entdeckung der Seele« (Leipzig, E. Günther’s Verlag) ist in der eben erscheinenden dritten Auflage auf zwei Bände er- weitert, indem außer zahlreichen Zusätzen zu den früheren Kapiteln namentlich noch die neueren und neuesten Entdeckungen des Verf. hin- zugekommen sind. Die vom II. Bd. vorliegenden Lieferungen besprechen: Die Neuralanalyse, wobei speziell auch auf die homöopathischen Verdün- nungen eingegangen wird, mit einem Nachtrag über das verbesserte Hipp- sche Chronoskop, dann »Seele und Geist im Sprachgebrauch«, endlich ganz besonders ausführlich »Die Seele der Landwirtschaft« auf Grund zahlreicher Kulturversuche. Man darf auf den Abschluß des Werkes mit Recht gespannt sein. V. 472 Berichtigung. Berichtigung. Um sie mit der neuesten systematischen Anordnung der amerika- nischen Marantaceen! in Einklang zu bringen, bedürfen die nach Enp- LICHER’sS Genera plantarum bestimmten Gattungsnamen der Arten, deren Früchte ich im Kosmos (Bd. XIII S. 277) besprach, meist einer Änderung. 1. (» Phrynium«) ist eine Calathea. 2. (»Thalia«) ist ein Ischnosiphon, dessen abfallende Deckblätter jedoch nicht zu EıcHtLer’s Diagnose passen. 3. (» Maranta«) ist eine Maranta auch in Eıcnver’s Sinne. Dagegen ist die beiläufig erwähnte zweite Maranta-Art eine Stromanthe. 4. (»Marantacee mit weißgestreiften Blättern aus dem Affenwinkel«) ist eine Otenanthe; doch paßt auf sie nicht die »sehr kurze, weite Blu- menröhre« der Eıcnuer’schen Diagnose. Blumenau, 28./3. 1884. Fritz MÜLLER. ı A. W. Eichler, Beiträge zur Morphologie und Systematik der Maran- taceen. Berlin, 1884. Empfangsbestätigung. Infolge des seiner Zeit hier veröffentlichten Aufrufs (s. oben S. 161) sind uns für die »Hermann-Müller-Stiftung« bisher nachstehend verzeichnete Beiträge (sämtlich aus Dresden) zugegangen: M. Pf. MıBf: Dr. Ebert : Ve Bntgold Seele . 2. — H. Engelhardt . 2. —. | Janı ir 1, — Flamant . : ie Erler. er Voss EIERN, er Kletter Bl, A. Kayser-Langerhanss . 3. —.|B. Vetter . 6. — OÖ. Friedrich 1. —. |©. Thüme > Is — Cl. König 2. —. |F. Ding. a, — Deu 2. —. ‚Dr. Raspe 2. — A. Thümer . 2. — San a EE Indem wir den verehrten Gebern hiermit unsern aufrichtigsten Dank aussprechen, bitten wir alle Leser des »Kosmos« nochmals um recht leb- hafte Beteiligung an dem edlen Werke. Die Redaktion. Ausgegeben den 25. Juni 1884. KOSMON. Zeitschrift für die gesamte Entwickelungslehre, unter Mitwirkung zahlreicher namhafter Forscher herausgegeben von Dr: B. Vetter Jahrgang 1884. Zweiter Band. Juli — Dezember. (Der ganzen Reihe VIII. Jahrgang. XV. Band.) Mit Taf. I, II und mehreren Holzschnitten. STUTTGART E. Schweizerbart’sche Verlagshandlung (E. Koch). 1884. Bun. RN”. I 1 5 } } A‘ Dr, So IR. vi Yely® Br; I BA, Funial x: HOFSUCHDRUCKEREI zu Gi BERG, f x ; Ka | NN 1 h m 1 er Y f 1 {} I f j I ' Aue. hi Abhandlungen. $ Seite Breitenbach, Dr. Wilhelm, Einige neue Fälle von Blumen-Polymorphismus 206 — — Die Sambaquys von Cidreirı. Aus dem Portugiesischen des Herrn Karlöyon“Koseritz.frei übersetzt. Sl. era allen 1220808 Carneri, B., Zum Problem des Schönen . . et ee Curti, der, Die Entstehung der Sprache Bel Neclahlung is Schalles 321. 401 Darwin, Charles, Der Instinkt. Eine nachgelassene Abhandlung . . . .1.8i Dellingshausen, Baron N., Die Schwere oder das Wirksamwerden der Bstentellen Energie. V.. (Schluß)... ran la Auen: eh Fuchs, K., Titus Lucretius Carus . . ll „161. 251. 411 Heincke, Dr. Friedrich, Der tem, is Mer es on seine Ursachen. 333. 430 Hoffer, Dr. Ed., Eine merkwürdige Form des Parasitismus unseres Haussperlings 449 Johow, Dr. Fr., Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. II. Eine Exkursion nach dem kochenden See auf Dominica . . . . .. 112. 270 Ludwig, Dr. F., Über einen eigentümlichen Farbenwechsel in dem Blüten- stande von Spiraea opulifolia L.. . . 203 Müller, Fritz, Fühler mit Bee erkrengen bei Mückengenppeh. (M. ’Holzschn) 300 Nehring, Dr. Alfred, Über Rassebildung bei den Inca-Hunden aus den Gräbern von Ancon. (Mit 3 Holzschnitten) . . . AED ORT Schmidt, Dr. Max, Der Ameisenfresser (Myımsccsinee rn) een on — — Über die Fortpflanzung des indischen Elefanten in Ge enschail .. 365 Vetter, B., Zur Kenntnis der Dinosaurier und einiger anderer fossiler Reptilien. I. Noch Arbeiten von Prof. O.C. Marsh, Dr. G. Baur u.a. (Mit Tafel I. II) 350 Wagner, Moritz, Darwinistische Streitfragen. IV. Chorologische Thatsachen 175. 286 Yung, Dr. Emil, Über den Einfluß verschiedener Nahrungsmittel auf die Eintwiekelung‘ von 'Rana eseulenta;». 4 2 Ru... a u nun. 2 18 Wissenschaftliche Rundschau. Die 57. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Magdeburg, IS 23: SeptemBerJit a... 11142" ÜBER 3.0.6 0 Anatomie. Keller, Dr. Rob., Die Entstehung der roten Blutkörperchen im eytrauterinen Leben der: pökiloth@Emen- Wirbeltiere- ., os nn ee 50 Die Unterzunge des Menschen und der Säugetiere . . 2 2 22.2... .808 IV Inhalt. Physiologie. Lokomotorische Richtungsbewegungen durch chemische Reize Nathan, Dr. Julius, Zur Mechanik des Wiederkauens . Vorgeschichte. Mestorf, J., Das erste Auftreten des Eisens in Nordeuropa . Ethnologie. Fligier, Dr., Die Ursitze der Arier Geographie. König, Cl., Vergleichende Insel-Studien . Zoologie. Dalla Torre, = K. W. von, Helligkeits- und Farbensinn der Tiere . Breitenbach, Dr. W., Über die ee der Tiere an senkrechten glatten e — — Die morphologische Desiuue de Fe iinse Wanderungen des Elentiers in Rußland . Über Entwickelung und Lebensweise von Medusen Vetter, B., Eierlegende Säugetiere! Das Tierleben auf der Insel Trinidad Botanik. Keller, Dr. Rob., Die Florenreiche der Erde . : Müller, Fritz, Wird Philodendron durch Schnecken bestäubt? n Magnus, P., Das Öffnen und Schließen der Blütenköpfchen der Briternibr (Aakarasım offieinale WEB.) Ludwig, Dr. F., Amphikarpie von Vieia ne ifolie Georg Bentham’s Beikräse zur Entwickelungslehre . Geologie. Geinitz, Prof. Dr. E., Zur Geologie des Meeresbodens Paläontologie. Fortschrittliche Entwickelung der tertiären Säugetiere Nordamerikas Philosophie. CGarneri, B., Kant’s Idealismus — — Philosophie der Mystik . Litteratur und Kritik. Andree, Richard, Die Metalle bei den Naturvölkern, mit Berücksichtigung prähistorischer Verhältnisse . Corneli, R., Der Fischotter, dessen NRRER eeitichie‘ Jar Ar Mau ; Graessner, F., Die Vögel von Mitteleuropa und ihre Eier. 3. Auflage . Seite 208 353 460 64 69 148 39 154 480 479 Inhalt. Grassmann, P., Die Septaldrüsen, ihre Verbreitung, Entstehung und Ver- richtung Heer, O., Über die niv ale Flora der Bchweis ‘Hellwald, Friedrich von, Kultur ae in ihrer Haktalichen Entwrckelung bis zur Gegenwart. 3. Auflage. 2 Bände er Kösting, Carl, Der Weg nach Eden. Epische Dichtung in fünf Büchern Krause, Ernst, HERMANN MÜLLER von Lippstadt. Ein Gedenkblatt. Nebst einem Porträt MÜLLER’sS in Autotypie 4 5 > Krause, Prof. Dr. W., Die Anatomie des Br in ei: und operativer Buekecht 2. Auflage . Lotze, Hermann, Mikrokosmos. I. Bd. 4. Auflage x Mann, L., Der Atomaufbau in den chemischen een an sein Ein- fluß auf die Erscheinungen . i — — Die Entstehung der Epidemien, De den Pest a ce Be 2 Moewes, Franz, Über Bastarde von Mentha arvensis und Mentha aquatica, sowie die sexuellen Eigenschaften hybrider und gynodiözischer Pflanzen Peschel, Oskar, Physische Erdkunde. Zweite Auflage nach den hinter- lassenen Manuskripten desselben selbständig bearbeitet und heraus- gegeben von Gustav Leipoldt ! N Ploss, Dr. H., Das Weib in der Natur- und Volkerkund Radde, Dr. Örnis caucasica. I. Liefg. . Rig, Jules, Die positive Philosophie von Auguste Comte, im ee Üben von J. H. von Kirchmann. 2 Bände N RR Rubinstein, Dr. Susanna, Psychologisch-ästhetische Zweite Folge . Schweiger-Lerchenfeld, A. v., Von Ozean zu Ozean. Eine Schilderung des Weltmeeres und seines Lebens i 4 Scribner, G. Hilton, Where did Life begin? “ Monderaph | Sterne, Carus, Werden und Vergehen. Eine Entwickelungsgeschichte des Naturganzen. 3. Auflage en 4.00 een Tornier, G., Der Kampf mit der Narung. "Ein Beirae zum Darwinismus Notizen. Breitenbach, Dr. W. Besucher von Hesperis tristis Ein Brief von Charles Darwin } Stentzel, A., Die eigentümliche Enmelsröteh : Die 57. eraniulang deutscher Naturforscher und Ärzte in Merdehar Eu Engelhardt, H., Kometische Strömungen auf der Erdoberfläche : Der nbann e Insekten A UN. Oenothera speciosa, Schmetterlinge Einond, (Mit 1 Holzschnitt) Die Entdeckung der Oviparität von Echidna . Berichtigung ee eshestätigung Ss0 80 159 160 237 238 239 480 400 400 Autoren-Register. A. bedeutet Abhandlungen. R. Autoren der unter „Wissenschaftliche Rundschau“, L. Autoren der unter „Litteratur und Kritik“ besprochenen Werke. Vf. M. Verfasser von Mitteilungen in der „Wissenschaftlichen Rundschau“, Vf. L. Verfasser von Litteraturbesprechungen. Die hier nieht aufg eführten Beiträge zu „Wissenschaftliche Rundschau* und „Litteratur und Kritik* stammen vom Herausgeber. ; Seite Ahlborn, Fr., Uber die Bedeutung der Zirbeldrüse. Io 131 Anderssohn, Theorie des Mas- | sendruckes 2 41| Andree, Richard, Die Metalle Be den Nelken 154 Auscherson,, B., Amphikarpie |Fligier, von Viecia angustifolia. R.. . 217 Baer, K. E. von, Über die Migra- tionstheorie . A 1505 Bene.cke, Fr. open der Butterblume. R. 142 Bentham’s, G., Beiträ äge zur Ent- wickelungslehre. er Soll Bizzozero und Torre, Die Ent- stehung der roten Blutkörperchen im extrauterinen Leben der pöki- lothermen Wirbeltiere. R. . . 50 Born, P., Einfluß der Nahrung auf die Entstehung des Geschlechts. 25 Breitenbach, W., Fortbewegung der Tiere an senkrechten glatten Flächen. Vf. M. BI) — Besucher von Hesperis tristis . 80 — Die morphologische Deutung der Zirbeldrüse. Vf. M.. 131 — Einige neue Fälle von Blumen- Polymorphismus. A. 206 — Die Sambaquys von Cidreira. A. 378 Brückner, E., Wanderungen des Elentiers in Rußland. Vf M. 214 Caldwell, Die Monotremen eier- legend. R. ; 395 Carneri, Br Kant’s Idealismus Vf. M. 148 | — A. Comte, Die positive Philo- sophie, im Auszug von J. Rig übersetzt von H. von Kirchmann. | N. 1. 221 Carneri, B., Dr. Susanna Ru- Seite binstein, Psycholog.-ästhetische ' Essays, TV |— Zum Problem des a. A. — Philosophie der Mystik. Vf, M. Claus, C., Über Entwickelung und Deere von Medusen. R.. Comte-Rig, Die positive Philo- sophie, übersetzt von H. v.Kirch- mann. L. Cope, E. D., Fortschrittliche Ent- w ickelung der tertiären Säuge- tiere Nordamerikas. Ber Curti, Th., Die Entstehung der Sprache durch Nachahmung des Schalles. A. Bl: Dalla Torre, K. W. von, Hellig- keits- und nern der Tiere. Vf. M. Darwin, Charles, Der Instinkt, nach- gelassene Abhandlung. Ar — "Ein Brief von — ıDellingshausen, N. ‚Die Schwere oder das Wirksamwerden der po- tentiellen Energie. IV. Dewitz,H. ‚Fortbewegung d. Tiere an senkrechten glatten:Flächen. R. Drude, O., Die Florenreiche der Erde. R. DuzPrel,.C, Mystik. a Die Philosophie der ‚Engelhardt, H., Ö. Heer, Über die nivale Flora De Schweiz. V£f.L. — Kometische Strömungen auf der Erdoberfläche. Vf. Ir BES Die Ursitze der Arier. IVO MER. Binichish Ko, Aa: 226- 241 394 386 221 BB) 1,8 80 39 65 Titus nein: (ak 161.725 411 Gegenbaur. Autoren-Register. Renard. VII Seite | Seite Gegenbaur, C., Die Unterzunge | Lucretius, Titus— Carus, von des Menschen u. der Säugetiere. R. 308| K. Fuchs. A. 161, 251, 411 Geinitz, E., Zur Geologie des Ludwig, F., Farbenwechsel im Meeresbodens. Vf. M.. . 142) Blütenstande von nr opuli- Graber,. Vitus, Helligkeits- und folia. A. 203 Farbensinn der Tiere. R. 55 | — Amphikarpie v von Vieia angusti Grassmann, P., Die Septaldrüsen, fohas aNLeM, k 217 ihre Verbr eitung, Entstehung und |—- Frz: Moewes, Bastarde von Vernichtung. L. . .,...229| Mentha arvensis und aquatica ete. Hahn, FE. = Insel-Studien. R. . 69| V£L. . 228 Fieer.0:;, Über die nivale Flora — Grassmann, JP%, Die Septal der Schweiz. L.. 231 drüsen ete._Vf. L. 3 229 Heincke, Fr., Der Lebensreich- 'Lunel, @., Über Lebensweise von tum des Meeres und seine Ursa- | Medusen. R. 392 chen. A.. 202.388, 430 | Magnus, D., Das Öffnen und Schlies- Hellwald, Fr. von ‚ Kulturge- ' sender 'Blütenköpfchen der Butter- schichte in ihrer natürlichen Ent- | blume (Taraxacum offieinale wickelung bis zur en WEB), AV: M. 142 SAT... 78 Marsh, O. C., Über nordamerika- Johow, Fr., Vegetationsbilder aus | nische Dinosaurier 350 Westindien und Venezuela, 1. I|Mehlis, C„Rich. Andr ee, Die Eine Exkursion nach dem koch- Metalle bei den Naturvölkern. Vf. enden See auf Dominica. A. 112, 270 L. EEE AN al Keller, C., Über Abstammung und |Moewes, Franz , Über Bastarde Lebensweise der Medusen. R. 388 von Mentha arvensis und aquatica Keller, Robert, Die Entstehung etc. L. 228 der roten Blutkörperchen im ex- |Müller, Fritz, Wird Philoden- trauterinen Leben der pökilother- ' dron durch Schnecken bestäubt? wen Wirbeltiere. 3 M.. . . 50|: VEM. 140 — Die Florenreiche der Erde. Vf.M. 132 | — Fühler mit Beißw erkzeugen bei — Der Stammbaum der Insekten . 238) Mückenpuppen. A. 300 — Tornier, G., Der Kampf mit |— Hermann, von Lippstadt. Ein Ge- der Nahr une. 'YE. ER RR 315 | denkblatt vonE.Krause. L. . 158 Kirchhoft, Ä, ‚Über den Darwinis- |Murray, J. und A., F. Renard, mus in der Völkerentwickelung. Zur ee des Meeresbodens. ee en 303, R. ee aa — Einteilung der Inseln . . U|Nath an, J., Zur Mechanik des Kirchmann, H. von, s. Comte. ' Wiederkauens. Vf.M... . . 383 König, Cl., Vergleichende Insel- |Nehring, A., Über Rassebildung Studien. Vf. M. . 69| beiden Inca-Hunden aus den Grä- — Peschel- Leipoldt, Physische bern von Ancon. A. 94 Erdkunde. Vf. L. 75 Ochsenius, (., Über Blaufärbung Köppen, Fr. Th., Über geogra- des Steinsalzes ; 400 phische Verbreitung der Edelhir- Peschel, 9, Einteilung der In- sche & 182| sen . 0 — Wanderungen. des Elentiers in Peschel-L eip oldt, Physische Rußland. R. : 214! Erdkunde. 2. Aufl. L. {) Koseritz,C. von, Die Sambaquys | Pfeffer, W. ‚Lokomotorische Richt- von Cidreira. A.. 3781 ungsbewegungen durch chemische Kösting, Carl, Der Weg nach Wr: 1 Eden. 934. Pier rabevon. Konlensche Krause, Ernst, Herm. Müller ' Strömungen auf der Erdoberfläche Zanumpıstadt, Bin &edenkblatt. L.; 158! Lam. 2... 0200 Krause, W., Die Anatomie des Ploss, H., Das Weib in der Natur- Kaninchens. L. 5 319| und Völkerkunde. L. . 315 Lasswitz, Atomistik . 45 | Rabl-Rückhard, Deutung der Leipoldt, '@., s. Peschel- Leipoldt. Zirbeldrüse . 132 Luchsinger, B., Zur Mechanik Radde, 6.,:Omis eaucasica. Zr 238 des Weederkanene, R.. 383lRenard, A. F., siehe Murray, J. vı Rig. Autoren-Register. Rig, Jules, siehe Comte. Romanes, G. J., Mental evolution in animals Rosenbach, Mikr oorganismen bei den 'Wundinfektionskrankheiten der Menschen. R. . Rubinstein, Susanna, Psycholo- gisch-ästhetische Essays, 2. Folge. Sc hmid t, Max, Der "Ameisenfresser (Myrmecophaga jubata). A.. — Ueber die Fortpflanzung des in- dischen Elefanten in Gefangen- schaft, Ar Schoch, G., Der Stammbaum der Insekten. m Schrader, Spr achwissenschaft und Urgeschichte. R: Schw eiger-Ler chenfeldg, Al von, Von Ozean zu Ozean. L... Seite Semper, Carl, Existenzbedingun- gen von Limnaeus stagnalis 1 Stentzel, A., Die eigentümliche Himmelsröte . Kornver, G.,”Der Kampf mit der Nahrung. . Torre, siehe Bizzozero. Vaihinger, Hans, Kant’s Wi- derlegung des Idealismus. R. Vetter, B., Zur Kenntnis der Dino- saurier und einiger anderer fossiler Reptilien. I. A. - — Eierlegende Säugetiere. Vf. M. 365. Wagner, Moritz, " Darwinistische | Streitfragen. IV. A. 175, Wolfensber ger, Oenothera spe- | eciosa, Schmetterlinge fangend. L. 64 Yung,Emil, Über den Einfluß ver- | schiedener Nahrungsmittel auf die 400 Entwickelung v. Rana esculenta. A. 306 238 18 Sach-Register. Abstammung der Medusen 389. Aötosauria 357, 364. Affen, geographische Verbreitung 179. Afrika, Metalle bei den Naturvölkern von — 155. Alca impennis, Überreste von 456. Allantonema mirabile 455. Allosaurus fragilis 357, 361, 362. Alluvialzeit 453. Ameisenfresser, Der (Myrmecophaga ju- bata) 191. Amerika, Metalle bei den Urvölkern von, — 157. au en, Bildung ihrer Blutkörperchen E. | . Amphikarpie von Wieia angustifolia 217. Amphisauridae 363. Anatomie, Die, des Kaninchens 319. Ancon, Inca-Hunde aus den Gräbern von — 94, 453. Apfelsäure, spezifisches Reizmittel für Samenfäden von Farnen u. s. w. 209, Arcella 470. Arier, Die Ursitze der 64. Eiche Gruppe der Diluvialsäugetiere 94, Asien, Metalle bei den Urvölkern von — 155. Atembewegungen von Ampullaria 468. Atlantosauridae 351, 355, 357. Atomaufbau, Der, in den chemischen Ver- bindungen 474. Atomistik, kinetische 45. Atomtheorie des LucrEz 162. Aufschüttungsinseln 73. | Auftreten des Eisens in Nordeuropa 460. allge: unpaare, Rudiment einer — 1 Augenlose Tiere, Helligkeits- und Farben- sinn der — 62 Bacillus von Cholera nostras 459. Bastarde von Mentha arvensis und aqua- tica 228. Bäume und Sträucher des Meeresstrandes 118. Beißwerkzeuge an Fühlern von Mücken- | puppen 300. ı Bewegung im Meere 437. ı Bewohnbarkeit des Wassers 344. Bison, vermeintliches Vorkommen des, in Rußland 217. Blaufärbung des Steinsalzes 400. ' Blumen-Polymorphismus, Einige neue Fälle von — 206. ‚ Blütenköpfehen der Butterblume 142. ‚ Blutkörperchen, Die Entstehung der roten — 50. \ Blutlaus 457. Brackwasserfauna auf Trinidad 471. Brief, Ein, von CHARLES DARWIN 80. Brontosausus excelsus 30. Brunsterscheinungen beim indischen Ele- fanten 368. Bryophyllum calycinum, vegetative Ver- mehrung 116. Butterblume (Taraxwacum offic.), Blüten- köpfchen 142. (anis Azarae 9. — Ingae 98. Carabiden 29. Cerambyeciden, geographische Verbreitung 189 Ceratosauridae 363. Ceratosaurus nasicornis 3. Cervus Elaphus, geographische Verbreit- ung 182. Charakter des Menschen 420. Chemie des LucrEZ 162, 168. Chemische Beschaffenheit des Meerwassers 430. Cholera nostras, Bacillus 459. Chorologische Thatsachen 175, 286. Oicindela, geographische Verbreitung 157. Coeluria 363. Collocalia esculenta 10. Compsognatha 363. Cotylorhiza tubereulata, Ephyren 396, Lebensweise 389. Darwinismus in der Völkerentwickelung 303. x Darwinistische Streitfragen. Sach-Register. Hochland, Darwinistische Streitfragen, von MoR. WAGNER IV. 175, 286. Diffusion der Gase 254. Dikotyledonen, Verbreitung der 135. Diluviale Fauna der Provinz Sachsen ete. | 451. | Dinosaurier, Zur Kenntnis der, 350, kar- nivore — 8357. Diplodocidae 357. Diplodocus 351. Dominica, Der kochende See auf — 112, 270. Druck, Einfluß des — auf den Ablauf der Eiteilung 458. Echidna, Eier legend 393, 480. Edelhirsche, geographische Verbreitung 182. Eden, Der Weg nach — 234. Eheliche Auslese 305. Eierlegende Säugetiere 393, 480. Eifurchung, Bedeutung der 458. Eihäute des indischen Elefanten 374. Eisen, Das erste Auftreten des — in Nord- europa 460. | Eiterung verursachende Mikroorganismen 306. Elefant, indischer, Fortpflanzung des — in Gefangenschaft 365, Geschlechtsreife 366, Brunst 368, Geburt 371, Eihäute 574. Elentier, Wanderungen des — in Rußland 214. Endemische Arten 311. | Energie der Gravitationswellen 39, 40. — potentielle, Das Wirksamwerden der — 3. Entstehung der roten Blutkörperchen 50; — des Lebens an den Polen 230; — der Sprache durch Nachahmung des Schalles, 321, 401; — der Epidemien, besonders der Pest und derCholera 476. Entwickelung von Rana esculenta bei verschiedener Ernährung 18. Entwickelungslehre, G. BENTHAM’'s Bei- träge zur — 311. | Epidemien 416; — Entstehung der, 476. | Epiphysis cerebri, morphologische Be- deutung 131. Epiphytische Phanerogamen W estindiens 213 Erdbeben, nach LucrREZ 412. Erdkunde, Physische 75. Erhaltung der lebendigen Kraft 252. Erosionsinseln 72. Erythrina corallodendron, Korallenbaum 120. Eßbare Schwalbennester ; Zusammensetz- ung 11. Extraflorale Schauapparate 271. Farbensinn der Tiere 55. | Farbenwechsel, eigentümlicher, im Blüten- stande von Spiraea opulifolia 203. Farne, Samenfäden von, durch Apfel- säure gereizt 209. Fauna, Die diluviale, der Provinz Sachsen 451. Fernewirkende Kräfte, nach LucrEZ 253. Festsitzende Tiere im Süßwasser spär- lich 439 Fische, Bildung ihrer Blutkörperchen 53, Fischotter, Der, Naturgeschichte, Jagd und Fang 480. Flora von Dominica am Meeresstrand 114, —, Die nivale der Schweiz 231. Florenreiche, Die, der Erde 132. Flusflächen, Größe der, 454. Fortbewegung der Tiere an senkrechten glatten Flächen 69. Fortpflanzung des indischen Elefanten in Gefangenschaft 365; — von Haplo- syllis 456. Fortschrittliche Entwickelung der ter- tiären Säugetiere Nordamerikas 218. Freier Wille, nach. LUCREZ 423. Fühler mit Beißwerkzeugen bei Mücken- puppen 300. Furchung, Bedeutung der ersten — 458. Furcht, instinktive, 6. Gallmückenpuppen 300. ' Gebiß der Incahunde von Ancon 100. Geburtsakt des indischen Elefanten 371. , Gefangenschaft, Einfluß der, 453. Geologie, Zur, des Meeresbodens 143. (Geschlechtsreife des indischen Elefanten 366. Gesetz der allgemeinen Schwere 35. Giftbaum 119. Gifte, verschiedene Wirkung der, 415. Glazialzeit 453. Gravitationswellen 35. Großfußhühner, Nisthaufen 12. Gymnospermen, Verbreitung der, 134. Haftscheiben, -haare 66, 67. Hallopoda 364. Hallstatt-Typus 461. Haplosyllis aurantiaca 456. ı Hasenkaninchen 319. Haushunde im alten Peru 9. Hausschwamm, Lebensbedingungen des, — 460. Haussperling, Parasitismus des — 449. Hautlichtempfindung augenloser Tiere 62. Helligkeits- und Farbensinn der Tiere 55. Hermann Müller - Stiftung, Empfangs- bestätigung 400. Hesperis tristis, Besucher von 80. Heterogonie von Allantonema 455. Himmelsröte. Die eigentümliche 159. ı Hippomane Mancinella, Giftbaum 119. ' Hochland von Quito 298. Idealismus. Sach-Register. Nordeuropa. XI Idealismus, Kanrt’s Widerlegung des, — | 148 Inca-Hunde aus den Gräbern von Ancon 94, 453. Insekten, Der Stammbaum der, — 238. Inselstudien, Vergleichende 69. Instinkt, Der, von CH. Darwın 1, 81; Variationen des — 82, Mängel des — 88. | Instinktive Furcht 6. Interjektionen 330. Jungdiluviale Waldzeit 453. Kalkgehalt des Meerwassers 431. Kampf, Der, mit der Nahrung 315. Kaninchen, Die Anatomie des — 319. Karyokinese 458. Kaukasus, Vögel des — 235. Kaulquappen, verschieden ernährt 25, 27. Kind, Das, als Sprachbildner 322. Kinetische Naturlehre 36, — Atomistik 45. Klebscheiben, -drüsen 66. Knochenmark, Bildungsstätte roter Blut- körperchen 50. Kochender See auf Dominica 112, 270, 284. Kohlensäure im Meerwasser 432. Kometische Strömungen auf der Erdober- fläche 237. Kompositen, nach BEnTHAMm 314. Konkordanz der Organe (LUCREZ) 267, 413. Kontinuität der Lebensbedingungen im Meer 349. Korallenbaum, Schauapparat 120. Kosmologie des LUCREZ 261. Kraft, von LasswiıTz definiert 45. Krankheiten, Theorie der, des LUCREZ 414, 416. Kriechende Gewächse am Meeresstrande 114. Kulturbäume auf Dominica 123. Medusen, Über Entwickelung, Lebensweise und Abstammung von — 386. Meer, Der Lebensreichtum des, und seine Ursachen 333, 430. Meeresboden, Zur Geologie des — 143. Meerwasser, spezifisches Gewicht 347, chemische Beschaffenheit 450, Kalk- und Kohlensäuregehalt 431, Wärme- verhältnisse 444. Megalosauridae 363. Megapodidae 12. Melasomen (Tenebrioniden) 289. | Mentha arvensis und aquatica, Bastarde von — 228. Merulius laerymans 460. Metalle, Die, bei den Naturvölkern 154. Metamorphose von Meerestieren, Ursache 446. Meteorologie des Luckez 411. Mikrokosmos, HERMANN LoTzE’s — 477. Mikroorganismen bei den Wundinfektions- krankheiten des Menschen 306. Milz, die, blutbildend bei Urodelen und Fischen 52, 53. Mimiery, auf gleicher Nahrung beruhend 317. Mimosa pudica, Reizbewegungen 128. ı Mittel-Europa’s Vögel und ihre Eier 479. Monismus, erkenntnistheoretischer 241. ' Monokotyledonen, Verbreitung der 134. Monotremen. eierlegend 393, 480. Morosauridae 355, BT, ı Mückenpuppen mit Beißwerkzeugen an den Fühlern 300. Muschelhaufen in Brasilien 378. ı Muttermedien (LUCREZ) 263. Myrmecophaga jubata 191. ı Mystik, Philosophie der, 394. ‚ Nagetiergattung, eine neue 456. Kulturgeschichte in ihrer natürlichen Ent- | wickelung 78. Labrosauridae 369. Landplanarien auf Trinidad 469. La Tene-Typus 462. Lebensbedingungen im Wasser 341. Lebensreichtum, Der, des Meeres 333, 430. Leporiden 320. Lievres-lapins 319. Limnaeus stagnalis, Existenzbedingungen | 24 Lokomotorische Richtungsbewegungen durch chemische Reize 208. Lupus oceidentalis 453. Magdeburg, in —160, 303. Mageninhalt von Spechten 454. Massendruck, Theorie des — 41. Mechanik des LucrEZ 251; —, Zur — des Wiederkauens 383. Mechanismus, Bedeutung des — 478. Nahrung, Kampf mit der — 315. Nahrungsmittel, Einfluß auf die wickelung 18. Naturforscher-V ersammlung in Magdeburg 160 — —, Bericht über die gehaltenen Vorträge 303, 451. Naturvölker, Die Metalle bei den — 154. Nematode, ein neuer heterogoner 459. Nervenreiz 418. Nervensystem als Divination LUCREZ’ 417. Ent- ' Nestbauinstinkt 10, Variabilität des — 14. Naturforscher-Versammlung Newton’sches Gravitationsgesetz 35, be- richtigte Form 36. Niere der Fische, Bildungsstätte roter Blutkörperchen 54. Nivale Flora, Die, der Schweiz 231. Nordafrika, tiergeographisch 2%. Nordamerika, tertiäre Säugetiere 218; —, Dinosaurier 350. Nordamerikanischer Wolf 453. Nordeuropa, erstes Auftreten d. Eisens 460. Xu Nordische Meere. Sach-Register. Strandpflanzen. Nordische Meere, Lebensreichtum 334. Oenothera speciosa, Schmetterlinge fan- .. gend 239. Öffnen und Schließen der Blütenköpfchen der Butterblume 142. ÖOnomatopöie 321, 405. Orchistoma agariciforme 391. Organische Substänz, als „Wasserstaub“ | 345, im Meerwasser gelöst 431. Ornis caucasica 255. Ozean, Von, zu Ozean 400. Parasitismus des Haussperlings 449. Pelagische Sedimente der Tiefsee 145. Peripatus-Arten von Trinidad 471. Peru, Haushunde 94. Pflanzenleben im Meere 339, 434. Phrlodendron, wird es durch Schnecken bestäubt? 140. Philosophie der Mystik 394. Physikalische Eigenschaften der Körper, nach LucrkEZ 171. Physiologie des Lucrez 413, — Geist (LucrEz) 414, 418. Physische Erdkunde 75. Plica fimbriata (Unterzunge) 308, — sub- lingualis 309. Pökilotherme Wirbeltiere, Entstehung ihrer roten Blutkörperchen 50. Polarländer die Entstehungsorte alles Lebens 230. Polymorphismus von Blumen 206. Positive Philosophie, Die, von A. COMTE 221. Potentielle der — 55. Präglazialzeit 453. Problem, Zum, des Schönen 241. Psychologie des LucrEz 417. Psychologisch-ästhetische Essays 226. Qualle, Eine, im Süßwasser auf Trinidad 471. Rana esculenta, Einfluß verschiedener Nahrungsmittel auf die Entwickelung von — 18. Rassebildung bei den Incahunden von Ancon 94, 104. Realidealismus Kant’s 151. Reize, chemische, als Ursache von loko- motorischen Richtungsbewegungen 208. Reizstoffe, Die, des LUCREZ 256. Reptilien, Bildung ihrer Blutkörperchen 90; — fossile, Zur Kenntnis der 350. Richtungsbewegungen , lokomotorische, durch chemische Reize 208. Riesenalk, Überreste von 456. Rohrzucker als spezifisches Reizmittel 213. Roter Thon (red clay) 146, Rumination 383. Rußland, Wanderungen des Elentiersin — | 214. Energie, Wirksamwerden Sachsen, Provinz, diluviale Fauna 451. Salangane, eßbare Nester 10. Sambaquys, Die, von Cidreira 378. Samenfäden von Kryptogamen 209. Sauerstoffgehalt des Wassers 342. Säugetiere Wohnungen der, 81; —, ter- tiäre, Nordamerikas, fortschrittliche Entwickelung der — 218; Eier- legende 393; — diluviale, der Provinz Sachsen 451; — auf Trinidad 461. Sauropoda 356. Schädelbildung der Incahunde von Ancon 103, 453. Schallnachahmung die Quelle der Sprache 321, 401. | Schallwörter 404. Schauapparate von Bäumen 120, extra- florale — 271. ° Schizoneura lanigera 457. Schtzothoraca 238. Schmetterlinge in den Blüten von Oeno- thera speciosa gefangen 239. Schnecken, wird Philodendron durch — bestäubt? 140. Schöne, Zum Problem des — 241. Schweiz, Die nivale Flora der — 231. Schwere, allgemeine, Das Gesetz der — 35. Seele, Zusammensetzung der (LUCREZ) 419. Segelareal 454. Sehen, nach LuCREZ 426. Selbstvernichtung (LUCREZ) 266, 414. Seminalgebilde (LUCREZ) 263. | Senkrechte glatte Flächen, Fortbewegung der Tiere an — 69. Septaldrüsen, Die, ihre Verbreitung u. s. w. 229. Sexuelle Eigenschaften hybrider und gyno- diözischer Pflanzen 228. Skelett der Incahunde von Ancon 102. Somnambulismus 397. Sonnenpflanzen, Anpassungen der 115,125. Sonnenwärme, Erhaltung der, nach LucrEz 413. Spaltpilze, Reizbarkeit 213. Spechte, Mageninhalt 454. Sperling, bei der Bachstelze schmarotzend 449, Spermophilus 456. Spiraea opulifolia , Blütenstande 203. Sprache, Die Entstehung der — durch Nachahmung des Schalles 321, 401. Farbenwechsel im ı Stabilität des Organismus (LUCREZ) 268, 414. Stammbaum, Der, der Insekten 238. Steingeräte aus brasilianischen Muschel- haufen 380. Steppenzeit 453. Stoffwechsel 262, 414. Strandpflanzen 115. Subarktische Gruppe. Sach-Register. Zygothoraca. X Subarktische Gruppe der Diluv ialsäuge tiere 452. Sukkulenz der Vegetationsorgane Strandpflanzen 115. Süßwasser, Sauerstoffgehalt 342, Kalk- und Kohlensäure 431, Torfbildung 436, geringe Zahl festsitzender Tiere, 439, 'emperatursch w ankungen 445. Süßwasserfauna der Insel Trinidad 468. Syllideen, Fortpflanzungsarten 456. Taraxacum officinale, 142. Taxodium distichum 312. Tektonische Inseln 71. Tellurische Auslese 303. Temperaturverhältnisse des Meeres 444, von Bedeutung für die Metamorphose vieler Meerestiere 446. Terrigene Sedimente der Tiefsee 144. Theropoda 357, 362. Tiefsee, innere Bewegung 441. Tiefsee-Sedimente 144. Tierleben im Meere 334, im Süßwasser 439, in der Tiefsee 446. — auf der Insel Trinidad 466. Totstellen, Sich, der Tiere 9. Traum, Bedeutung des — 39. Trinidad, Tierleben 466. Tropische Meere, Lebensreichtum 335. Unterzunge, Die, des Menschen und der Säugetiere 308. Ursachen des Lebensreichtums im el 333, 430. Ursitze, Die, der Arier 64. Urwörter, Vieldeutigkeit der 403, 409. Variabilität des Nestbauinstinkts 14. Variieren der Arten (Lucrkez) 413. Vegetabilischer Meerschleim 434. Vegetationsbilder aus Venezuela II. 112, 270. Vegetative Vermehrung von Bryophyllum calycinum 116. Venezuela, Vegetationsbilder aus — 112, 270. Blütenköpfehen | Westindien und | Vertorfung im Süßwasser 436. Vieia angustifolia, £ Amphikarpie von — 217. ' Vieldeutigkeit der Urwörter 403, 409. ı Vikarierende Arten 175, 311. Villanova-Typus 461. , Vögel Mitteleuropas und ihre Eier 479. Völkerentwickelung, Der Darwinismus in der — 308. Vorderasien, tiergeographisch 29. Vulkanismus, nach LuCrEZ 412. Wachstum von Kaulquappen bei verschie- dener Nahrung 25, 27. Wald auf Dominica 272, 282. Waldzeit, jungdiluviale 453. ı Wanderungen der Tiere 1; Verlorengehen des Wandertriebes 2; auf erbliche Neig- | une zurückführbar 4. | Wanderungen des Elentiers in Rußland 214. | Wärmeströmungen im Meere 442. Wasserstaub (fein verteilte organische Nahrung) 345. Weber'sches Gesetz 211. Weib, Das in der Natur und Völkerkunde | 318. | Weltäther 36, 42. | Werden und Vergehen, von Ü. STERNE |: 478. | Westindien, Vegetationsbilder aus — 112, 270. ı Wiederkauen, Zur Mechanik des — 383. Wolf, nordamerikanischer 453, —, Ein- fuß der Gefangenschaft auf den 453. Wohnungen der Säugetiere 81. ' Wundintektionskrankheiten , Mikroorga nismen bei den — 306. ı Wurzelwörter, aus Schallnachahmung entstehend 400. Zanclodontidae 363. | Zieselarten 456. Zirbeldrüse, Die morphologische Deutung der — 131. Zoologische Gärten 454. Zygothoraca 238. } an ITInR Way 1 RU a; Ay E® IR a Ak DRAN LESE N a a 6) an Dir ein or 0, DR SUB a " Jul N An Inn} y FW Ir, Far a) " Yı Ma aa al a LER Tr I BUR on | j } RB Mi Ras a KUN WDR Di . Bi y u a Fl BERUN Lim REIN Ra LEER Fr i BEN MN Kr | N ea Fe RN Ban BR. EN a Arr ER? R N f \ Kr EN Ba, 1 I*: L ’ \# a 7 EN Y j Mt ’ P N al I Ne | EAN ER „ \ n r 4 ‚ ih w er I me | ü 7 N m f DENT ' | } j N . "7 3) A Y I - In { IN Tone Ru s Mn = or Bet N 3 y \ | f "I ' f i Bun, j r j 1 fl ' Ar Di A IN 1 ’ ae DR, DR 17 j ARE Kı J { DR Pa 1 Kal | ;n a Yan h (min ‚ ' { \ in XL ! [N u A fi un ' 1 \ [ N, / allar e Ä ar A RN Pr N Ai u 4 DJ Far, N fa f } > f \ hr ß 0) 1’ Du ai l ” un L3 N n Veh m ß { u a ! 1; 4 ! | { \ x Y | \ in AN he a | ö Jf aullr alu Yo A h N } Aa? j A Br Pi | | ni vu am R Der Instinkt. Eine nachgelassene Abhandlung von Charles Darwin.' Wanderungen. Das Wandern junger Vögel über breite Meeresarme hinweg, das Wandern junger Lachse aus dem süben ins Salzwasser und die Rückkehr beider nach den Stätten ihrer Geburt sind oft und mit Recht als merkwür- dige Instinkte hervorgehoben worden. Was nun die beiden wichtigsten hier zu besprechenden Punkte betrifft, so läßt sich erstens in verschiedenen Gruppen der Vögel eine vollständige Reihe vor Übergängen beobachten, von solchen, die innerhalb eines gewissen Gebietes entweder nur ge- legentlich oder regelmäßig ihren Wohnsitz wechseln, bis zu solchen, die periodisch nach weit entlegenen Ländern ziehen, wobei sie oft bei Nacht " Anmerkung der Redaktion. Diese Abhandlung sollte ursprünglich in die „Entstehung der Arten“ aufgenommen werden und einen Teil des Kapitels über „Instinkt“ bilden; sie wurde aber dann gleich mehreren anderen Partien vom Verfasser unterdrückt, um das Buch nicht zu umfänglich werden zu lassen. Später übergab er dies Manuskript nebst zahlreichen anderen Aufzeichnungen über psycho- logische Gegenstände Herrn Prof. G. J. Romanes mit der Ermächtigung, das anze Materıal nach Belieben in seinen Werken über die Entwickelung des Geistes, ie er zu bearbeiten unternommen hatte, zu verwerten. Nach Darwin’ Tode jedoch fühlte sich Romane s verpflichtet, dieses wertvolle Vermächtnis in möglichst vollständiger und einheitlicher Form der Welt zugänglich zu machen, und so ver- öffentlichte er im Einverständnis mit Dar win’s Familie in den Verhandlungen der „Linnean Society“ und später als Anhang zu seinem kürzlich erschienenen Werke „Mental Evolution in Animals“ (London, Nov. 1883) den größten Teil des Manu- skripts, soweit dasselbe ein zusammenhängendes Ganzes darstellt, während das übrige in den Text des eben erwähnten Buches verwoben wurde. — Wir sind hocherfreur, den neuen Band des „Kosmos“ mit dieser Abhandlung eröffnen zu können, und ge- statten uns, sowohl Herrn Prof. Romanes als auch Herrn K. Alberts (E. Gün- ther's Verlag, Leipzig), bei welchem demnächst eine deutsche Übersetzung des Romanes’schen Werkes erscheinen wird, für die bereitwilligst gewährte Erlaubnis zur Veröffentlichung des Darwin’schen Essay im „Kosmos“ auch hierdurch unseren verbindlichsten Dank auszusprechen. Kosmos 1884, II. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XV). ıl 2 Charles Darwin, Der Instinkt. I. das offene Meer auf Strecken von 240 bis 300 (englischen) Meilen zu überschreiten haben, wie z. B. von der Nordostküste Großbritanniens nach dem südlichen Skandinavien hinüber. Zweitens ist bezüglich der Varia- bilität des Wanderinstinkts zu sagen, daß eine und dieselbe Art oft in dem einen Lande wandert, während sie in einem andern stationär ist; ja sogar in demselben Gebiete können die einen Individuen einer Art Zugvögel, die andern Standvögel sein, die sich denn auch manch- mal durch unbedeutende Merkmale von einander unterscheiden lassen!. Dr. Anpeew Smira hat mich mehrfach darauf aufmerksam gemacht, wie fest der Wanderinstinkt bei mehreren Säugetieren von Südafrika ein- gewurzelt ist, ungeachtet der Verfolgungen, denen sie sich dadurch aus- setzen; in Nordamerika jedoch ist der Büffel in neuerer Zeit? durch unausgesetzte Verfolgung genötigt worden, bei seinen Wanderungen das Felsengebirge zu überschreiten, und jene »großen Heerstraßen, die sich Hunderte von Meilen weit hinziehen und mindestens einige Zoll, oft sogar mehrere Fuß tief sind«, wie man sie auf den östlichen Ebenen durch die wandernden Büffel ausgetreten findet, werden westlich von den Rocky Mountains niemals angetroffen. In den Vereinigten Staaten haben Schwalben und andere Vögel ihre Wanderungen ganz neuerdings über ein weit größeres Gebiet ausgedehnt. £ Der Wandertrieb geht bei Vögeln manchmal ganz verloren, wie z.B. bei der Waldschnepfe, welche in geringer Zahl ohne jede bekannte Ursache die Gewohnheit angenommen hat, in Schottland zu brüten, und zum Standvogel geworden ist*. In Madeira kennt man den Zeitpunkt des ersten Auftretens der Waldschnepfe auf der Insel?, und auch dort wandert sie nicht, ebensowenig wie unsere gemeine Mauerschwalbe, ob- gleich diese zu einer Gruppe gehört, die ja sozusagen zum Sinnbild der Zugvögel geworden ist. Eine Ringelgans (Bernicla brenta), die verwundet worden war, lebte 19 Jahre in der Gefangenschaft; in den ersten zwölf Jahren nun wurde sie jeden Frühling während der Zugzeit unruhig und suchte gleich anderen gefangenen Individuen dieser Art so weit als mög- lich nordwärts zu gehen; in den späteren Jahren aber »hörte sie ganz auf, ! Gould hat dies auf Malta sowie auf der südlichen Halbkugel in Tasmanien beobachtet. Bechstein (Stubenvögel, 1840, S. 293) sagt, in Deutschland ließen sich die wandernden von den nichtwandernden Drosseln durch die gelbe Färbung ihrer Fußsohlen unterscheiden. Die Wachtel wandert in Südafrika, bleibt aber auf Robin Island, bloß zwei Seemeilen vom Festland entfernt, stationär (Le Vail- lant’s Reisen, I, S. 105), was von Dr. Andrew Smith bestätigt wird. In Ir- land hat die Wachtel erst neuerdings angefangen in größerer Zahl zu bleiben, um daselbst zu brüten. (W. Thompson, Nat. Hist. of Ireland, „Birds“, II, p. 70.) ® Col. Fr&ömont, Report of Exploring Expedition, 1845, p. 144. >s. Dr. Bachmann’s treffliche Abhandlung hierüber in Silliman’s Philo- soph. Journ., Vol. 30, p. 81. * W. Thompson hat über diese ganze Frage einen vorzüglichen und ausführ- lichen Bericht erstattet (Nat. Hist. of Ireland, „Birds“, II, 247—57), worin er auch die Ursache bespricht. Es scheint ausgemacht (p. 254), daß die wandernden und die nichtwandernden Individuen von einander unterschieden werden können. Über Schottland s. St. John’s Wild Sports of the Highlands, 1846, p. 220. 5 Dr. Heineken in „Zoological Journal“, vol. V, p. 75, ferner E. V.Har- court’s Sketch of Madeira, 1851, p. 120. Charles Darwin, Der Instinkt. 1. 3 um diese Jahreszeit irgend eine besondere Erregung zu verraten«!. Offen- bar hatte sich also der Wandertrieb zuletzt völlig verloren. Beim Wandern der Vögel sollte meiner Ansicht nach der Instinkt, welcher sie in bestimmter Richtung vorwärts treibt, wohl unterschieden werden von dem unbekannten Vermögen, das sie lehrt, die eine Richtung einer anderen vorzuziehen und auf der Wanderung ihren Kurs selbst in der Nacht und über dem offenen Meere festzuhalten, und ebenso auch von dem Vermögen — mag dies nun auf einer instinktiven Verbindung mit dem Wechsel der Temperatur oder mit eintretendem Nahrungsmangel u. s. w. beruhen — das sie veranlaßt, zur rechten Zeit aufzubrechen. In diesen wie in anderen Fällen ist oft Verwirrung dadurch entstanden, daß man eben die verschiedenen Seiten der Frage unter dem Ausdruck Instinkt zusammen warf”. Was die Zeit des Aufbruchs betrifft, so kann es natürlich nicht auf Erinnerung beruhen, wenn der junge Kuckuck zwei Monate nach der Abreise seiner Eltern zum erstenmal aufbricht, immerhin aber verdient es Beachtung, daß Tiere irgendwie eine über- raschend genaue Vorstellung von der Zeit erlangen können. A. p’ORr- BIGynY erzählt, daß ein lahmer Falke in Südamerika die Zeit von drei Wochen genau kannte, indem er jedesmal in solchen Zwischenräumen einige Klöster zu besuchen pflegte, wo den Armen Lebensmittel ausgeteilt wurden. So schwer es auch zu verstehen sein mag, wie manche Tiere durch Verstand oder Instinkt dazu kommen, einen bestimmten Zeit- abschnitt zu kennen, so werden wir doch gleich sehen, daß in manchen Fällen auch unsere Haustiere einen alljährlich wiedererwachenden Wander- trieb erworben haben, welcher dem eigentlichen Wanderinstinkt auber- ordentlich ähnlich, wo nicht mit demselben identisch ist und welcher kaum auf bloßer Erinnerung beruhen kann. Es ist ein eigentümlicher Instinkt, der die Ringelgans antreibt, ein Entkommen nach Norden zu versuchen, allein wie der Vogel Nord und Süd unterscheidet, das wissen wir nicht. Ebensowenig können wir bis jetzt begreifen, wie ein Vogel, der des Nachts seine Wanderung übers Meer antritt, was ja so viele thun, dabei seinen Kurs so trefflich ein- zuhalten weiß, als ob er einen Kompabß mit sich führte. Man sollte sich aber ernstlich davor hüten, wandernden Tieren irgend ein hierauf bezüg- liches besonderes Vermögen zuzuschreiben, das wir selbst gar nicht be- säßen, obschon dasselbe allerdings bei ihnen bis zu wunderbarer Voll- kommenheit entwickelt ist. Um ein analoges Beispiel zu erwähnen: der erfahrene Nordpolfahrer Wransen ? verbreitet sich ausführlich und voller Er- ı W. Thompson, l. c. vol. III, 63. In Dr. Bachmann’s oben erwähnter Arbeit wird auch von kanadischen Gänsen berichtet, die jedes Frühjahr aus der Gefangenschaft nordwärts zu entfliehen suchten. ? Siehe E. P. Thompson, Passions of Animals, 1851, p. 9, und Alison’s Bemerkungen hierüber in der Cyclopaedia of Anatomy and Physiol., Artikel „Instinct“, p. 23. 3 Wrangel's Reisen S. 146 (engl. Ausg.). Siehe auch Sir G. Grey's Ex- pedition to Australia, II, S. 72, wo sich ein interessanter Bericht über die Fähig- keiten der Australneger in dieser Hinsicht findet. Die alten französischen Mis- sionare glaubten allgemein, die nordamerikanischen Indianer ließen sich wirklich beim Auffinden des Weges durch ihren Instinkt leiten. 4 Charles Darwin, Der Instinkt. 1. staunen über den >»unfehlbaren Instinkt« der Eingebornen von Nord- sibirien, vermöge dessen sie ihn unter unaufhörlichen Änderungen der Richtung - durch ein verworrenes Labyrinth von Eisschollen. geleiteten; während WrRANGEL >mit dem Kompaß in der Hand die mannigfaltigen Windungen beobachtete und den richtigen Weg herauszuklügeln suchte, zeigte der Eingeborne stets instinktiv eine vollkommene Kenntnis des- selben<. — Überdies ist das Vermögen der wandernden Tiere, ihren Kurs einzuhalten, keineswegs unfehlbar, wie schon die große Zahl der verirrten Schwalben lehrt, welche von den Schiffen häufig auf dem Atlan- tischen Ozean angetroffen werden; auch der wandernde Lachs verfehlt beim Aufsteigen oft seinen heimischen Fluß und »mancher Lachs aus den Tweed wird im Forth getroffene. Auf welche Weise aber ein kleiner schwacher Vogel, der von Afrika oder Spanien kommt und übers Meer geflogen ist, dieselbe Hecke inmitten von England wiederfindet, in welcher er voriges Jahr genistet hatte, ist wirklich wunderbar!. Wenden wir uns nun zu unseren Haustieren. Es sind viele Fälle bekannt, wo solche Tiere auf ganz unerklärliche Weise ihren Heimweg fanden; es wird versichert, daß Hochlandschafe thatsächlich über den Frith of Forth geschwommen und nach ihrer wohl hundert Meilen ent- fernten Heimat gewandert sind”, und wenn sie auch drei und vier Ge- nerationen hindurch im Tiefland gehalten werden, so behalten sie doch ihre ruhelose Art bei. Ich habe keinen Grund, den genauen Bericht anzuzweifeln, welchen Hoss von einer ganzen Familie von Schafen gibt, die eine erbliche Neigung zeigten, jedesmal zur Brunstzeit nach einem zehn Meilen entfernten Ort zurückzukehren, von wo der Stammvater der Familie gebracht worden war; als aber deren Lämmer alt genug waren, kehrten sie von selbst dahin zurück, wo sie gewöhnlich sich aufgehalten hatten; und diese vererbte, an die Wurfzeit anknüpfende Neigung wurde so lästig, daß der Eigentümer sich genötigt sah, die ganze Sippschaft zu verkaufen®. Noch interessanter ist der von mehreren Autoren ge- gebene Bericht über gewisse Schafe in Spanien, die seit alten Zeiten alljährlich im Mai von einem Teil des Landes vierhundert Meilen weit nach einem andern ziehen: sämtliche Beobachter* bezeugen überein- ı Die Mehrzahl der Vögel, welche gelegentlich die von Europa so weit ent- fernten Azoren besuchen (Konsul C. Hunt, im Journ. Geogr. Soc. XV, 2, p. 282), kommen wahrscheinlich nur deshalb dorthin, weil sie während des Zuges ihre Richtung verloren haben; so hat auch W. Thompson (Nat. Hist. of Ireland, "„Birdss, 106 172) gezeigt, daß nordamerikanische Vögel, die gelegentlich nach Irland her- überkommen, im allgemeinen um dieselbe Zeit. anlangen, wo sie drüben im Ziehen be- griffen sind. Bezüglich des Lachses siehe Scope's "Days of Salmon Fishing, p. #7. ? Gardeners Chronicle 1852, p. 798; andere Fälle bei Youatt, On Sheep, alt. 5 3 Citiert von Youatt in Veterinary Journal V, 282. e Bourgoanne's „Reisen in Spanien“ (engl. Ausg.) 1789, vol. 1, p. 38 bis 54. In Mill’s Treatise on Cattle, 1776, p. 342 findet sich der Auszug eines Briefes von einem Herrn aus Spanien, den ich benutzt habe. Youatt (On "Sheep, p. 153) verweist auf drei andere Berichte ähnlicher Art. Ich bemerke noch, dal auch v. Tschudi (Tierleben der Alpenwelt, 1856) erzählt, wie das Vieh jedes Jahr im Frühling in große Aufregung gerät, wenn sie die "große Schelle hören, die ihnen vorangetragen wird, indem sie wohl wissen, daß dies das Zeichen zum ‚nahen Aufbruch“ in die höheren Alpen ist. Charles Darwin, Der Instinkt. 1. db} stimmend, daß, »sobald der April kommt, die Schafe durch wunderliche unruhige Bewegungen ihr lebhaftes Verlangen kundgeben, nach ihrem Sommeraufenthalt zurückzukehren.< »Die Unruhe, welche sie verraten, « sagt ein anderer Autor, »könnte im Notfall einen Kalender ersetzen.« »Die Schäfer müssen dann ihre ganze Wachsamkeit aufbieten, um sie am Entkommen zu verhindern, denn es ist allbekannt, daß sie sonst genau nach dem Ort hinziehen würden, wo sie geboren sind.« Es ist mehrfach vorgekommen, daß drei oder vier Schafe doch entkamen und ganz allein die weite Reise machten; gewöhnlich allerdings werden solche Wanderer von den Wölfen zerrissen. Es ist sehr die Frage, ob diese Wanderschafe von jeher im Lande einheimisch waren, und jedenfalls sind ihre Wanderungen in verhältnismäßig neuerer Zeit bedeutend weiter ausgedehnt worden; dann läßt sich aber meiner Ansicht nach kaum be- zweifeln, daß dieser »natürliche Instinkt«, wie er von einem Bericht- erstatter genannt wird, regelmäßig um dieselbe Zeit in bestimmter Richt- ung zu wandern, erst im domestizierten Zustande erworben worden ist und sich ohne Frage auf jenes leidenschaftliche Bestreben, zur Stätte der Geburt zurückzukehren, gründet, das, wie wir gesehen haben, man- chen Schafrassen eigen ist. Die ganze Erscheinung entspricht, wie mir scheint, durchaus den Wanderungen wilder Tiere. Überlegen wir uns nun, auf welche Weise die merkwürdigsten Wanderungen wahrscheinlich ihren Ursprung genommen haben mögen. Denken wir uns zunächst einen Vogel, der alljährlich durch Kälte oder Nahrungsmangel veranlaßt werde, langsam nordwärts zu ziehen, wie dies bei so manchen Vögeln der Fall ist, so können wir uns wohl vorstellen, wie dieses notgedrungene Wandern zuletzt zu einem instinktiven Trieb werden kann, gleich dem der spanischen Schafe. Werden nun Thäler im Lauf der Jahrhunderte zu Meeresbuchten und endlich zu immer breiteren und breiteren Meeresarmen, so läßt sich doch ganz wohl denken, daß der Trieb, welcher die flügellahme Gans drängt, sich zu Fuß nach Norden aufzumachen, auch unsern Vogel über die pfadlosen Gewässer geleiten wird, so daß er mit Hilfe jenes unbekannten Vermögens, das viele Tiere (und wilde Menschen) eine bestimmte Richtung einhalten lehrt, unversehrt über das Meer hinwegfliegen wird, das jetzt den ver- sunkenen Pfad seiner früheren Landreise bedeckt!. ı Damit soll nicht gesagt sein, dab die Zugstraßen der Vögel stets die Lage von früher zusamınenhängenden Landstrecken bezeichnen. Es mag wohl vorkom- men, dab ein zufällie nach einer entfernten Gegend oder Insel verschlagener Vogel, nachdem er einige Deit dort geblieben ist und "daselbst gebrütet hat, durch seinen angebornen Instinkt veranlaßt wird, im Herbst fortzuwandern und in der Brüte- zeit wieder dahin zurückzukehren. "Allein ich kenne keine Thatsachen, welche diese Annahme stützten, und anderseits hat, was ozeanische Inseln betrifft, die nicht allzuweit vom Festland entfernt liegen, die aber, wie ich aus später anzu- führenden Gründen vermute, niemals in Zusammenhang mit demselben standen, die Thatsache großen Eindruck auf mich gemacht, daß nur höchst selten einzelne Zugvögel auf solchen vorzukommen scheinen. E. V. Harcourt, welcher die Vögel von Madeira bearbeitet hat, teilte mir mit, dab diese Insel keine besitzt, und dasselbe gilt, wie mir Carew Hunt versichert, von den Azoren, obschon er meint, die Wachtel, die von Insel zu Insel zieht, möchte vielleicht auch die ganze 6 Charles Darwin, Der Instinkt. I. |Ich möchte noch ein Beispiel dieser Art anführen, das mir anfäng- lich ganz besondere Schwierigkeiten darzubieten schien. Es wird be- richtet, daß im äußersten Norden von Amerika Elen und Rentier all- Jährlich, als ob sie auf eine Entfernung von hundert Meilen das grüne Gras wittern könnten, einen absolut wüsten Landstrich kreuzen sollen, um gewisse Plätze aufzusuchen, wo sie reichlichere (obwohl immer noch spärliche) Nahrung finden. Was mag den ersten Anstoß zu dieser Wanderung gegeben haben? Wenn das Klima früher etwas milder war, so kann sich die hundert Meilen breite Wüste wohl hinlänglich mit Vegetation bedeckt haben, um die Tiere eben noch zum Überschreiten derselben zu veranlassen, wobei sie dann die fruchtbareren nördlichen Plätze fanden. Allein das harte Klima der Eiszeit ist unserem gegen- wärtigen vorausgegangen, die Annahme eines früher milderen Klimas erscheint daher ganz unhaltbar. Sollten jedoch jene amerikanischen Geologen im Rechte sein, welche aus der Verbreitung rezenter Muscheln geschlossen haben, dab auf die Eiszeit zunächst eine etwas wärmere Periode als die gegenwärtige folgte, so hätten wir damit vielleicht auch den Schlüssel für die Wanderung von Elen und Rentier durch die Wüste gefunden. | ! Instinktive Furcht. Die erbliche Zahmheit unserer Haustiere wurde schon früher be- sprochen ; aus dem folgenden entnehme ich, daß unzweifelhaft die Furcht vor dem Menschen im Naturzustand immer erst erworben werden muß und daß sie im domestizierten Zustand bloß wieder verloren geht. Auf den wenigen von Menschen bewohnten Inseln und Inselgruppen, über die ich aus der frühesten Zeit stammende Berichte finden konnte, ent- behrten die einheimischen Tiere stets durchaus der Furcht vor dem Menschen: ich habe dies in sechs Fällen aus allen Erdteilen und für Vögel und Säugetiere der verschiedensten Abteilungen festgestellt?. Auf Inselgruppe verlassen. [Mit Bleistift ist hier im M. S. beigefügt: „Die kanarischen Inseln haben keine“.] Auf den Falklandsinseln wandert, soviel ich sehen kann, kein Landvogel. Die von mir eingezogenen Erkundigungen haben ferner ergeben, daß auch auf Mauritius oder Bourbon keine Zugvögel vorkommen. Colenso versichert (Tas- manian Journal, II, p. 227), daß ein Kuckuck auf Neu-Seeland (Cuculus lucidus) wandere, indem er nur drei bis vier Monate auf der Insel bleibe; Neu-Seeland ist aber eine so große Insel, daß derselbe wohl einfach nach dem Süden ziehen und dort bleiben kann, ohne daß die Eingebornen im Norden davon wissen. Die Faröer, ungefähr 180 Meilen von der Nordspitze Schottlands gelegen, besitzen ver- schiedene Zugvögel (Graber, Tagebuch, 1830, S. 205); Island scheint die stärkste Ausnahme von der allgemeinen Regel zu bilden, allein es liegt nur... Meilen von der ... Linie von .... 100 Faden entfernt. [Der letzte Satz ist unvollendet mit Bleistift beigefügt.) ! Der hier in eckige Klammern eingeschlossene Abschnitt ist im M. S. mit dem Bleistift schwach durchgestrichen. ® In meiner „Reise um die Welt“ (Gesamm. Werke I, S. 457) finden sich Einzelheiten über die Falklands- und Galapagos-Inseln. Cada Mosto (Kerr's Collection of voyages, II, p. 246) erzählt, auf den kapverdischen Inseln seien die Tauben so zahm gewesen, daß man sie leicht fangen konnte. Dies sind also die einzigen größeren Inselgruppen, mit Ausnahme der ozeanischen (über die ich keinen Charles Darwin, Der Instinkt. I. j 7 den Galapagos-Inseln stieß ich einen Falken mit dem Flintenlauf von einem Baume herunter und die kleineren Vögel tranken Wasser aus einem Gefäß, das ich in der Hand hielt. Näheres hierüber habe ich bereits in meiner Reisebeschreibung mitgeteilt; hier will ich nur noch bemerken, daß diese Zahmheit ‚nicht allgemein ist, sondern bloß dem Menschen gegenüber gilt, denn auf den Falklandsinseln z. B. bauen die Gänse ihre Nester der Füchse wegen nur auf den vorliegenden Inseln. Diese wolfähnlichen Füchse waren jedoch hier ebenso furchtlos dem Menschen gegenüber wie die Vögel: die Matrosen auf Byrox’s Reise liefen sogar, weil sie ihre Neugierde für Wildheit hielten, ins Wasser, um ihnen zu entgehen. In allen altzivilisierten Ländern dagegen ist die Vorsicht und Furchtsamkeit selbst junger Füchse und Wölfe hinlänglich bekannt!. Auf den Galapagos waren die großen Landeidechsen (Ambly- rhynchus) vollkommen zahm, so daß ich sie am Schwanz anfassen konnte, während sonst große Eidechsen wenigstens furchtsam genug sind. Die zu derselben Gattung gehörige Wassereidechse lebt an der Küste, hat vorzüglich schwimmen und tauchen gelernt und nährt sich von unter- getaucht lebenden Algen; dabei ist sie nun ohne Zweifel den Angriffen von Haifischen ausgesetzt und deshalb konnte ich sie, obschon sie am Lande ganz zahm ist, nicht ins Wasser treiben, und warf ich sie hinein, so schwamm sie stets sofort ans Ufer zurück. Welch ein Gegensatz zu allen amphibisch lebenden Tieren in Europa, die, so oft sie von dem gefährlichsten Tier, dem Menschen aufgescheucht werden, instinktiv augenblicklich im Wasser ihre Zuflucht suchen! Die Zahmheit der Vögel auf den Falklandsinseln ist besonders des- halb interessant, weil ihre meist denselben Arten angehörigen Verwandten auf dem Feuerland, vornehmlich die größeren Vögel, außerordentlich scheu sind, indem sie hier seit vielen Generationen von den Wilden eifrig ver- folgt wurden. Ferner ist für diese Inseln wie für die Galapagos bemerkens- wert, daß, wie ich in meiner »Reise um die Welt< durch Vergleichung der verschiedenen Berichte bis zur Zeit unseres Besuches dieser Inseln nachgewiesen habe, die Vögel nach und nach immer weniger zahm geworden sind, und wenn man bedenkt, in welchem Grade sie gelegentlich während der letzten zweihundert Jahre der Verfolgung ausgesetzt waren, so muh es überraschen, dab sie nicht viel wilder wurden; man ersieht daraus, daß die Furcht vor dem Menschen nur langsam erworben wird. In längst bewohnten Ländern, wo die Tiere einen hohen Grad von instinktiver allgemeiner Vorsicht und Furcht erlangt haben, scheinen sie sehr rasch von einander und vielleicht sogar von anderen Arten zu lernen, sich vor jedem einzelnen Gegenstand scheu zu hüten. Es ist notorisch, Bericht aus der ersten Zeit finden kann), die bei ihrer Entdeckung unbewohnt waren. Thomas Herbert schildert 1626 in seinen „Reisen“ (p. 349) die Zahm- heit der Vögel auf Mauritius und Du Bois bespricht diesen Gegenstand 1669— 72 ganz ausführlich in bezug auf sämtliche Vögel von Bourbon. Cap. Moresby lieh mir einen handschriftlichen Bericht über seine Untersuchung von St. Pierre und den Providence-Inseln nördlich von Madagaskar, worin er die außerordentliche Zahmheit der Tauben schildert. Gleiches erwähnte Cap. Carmichael von den Vögeln auf Tristan d’Acunha. ! Le Roy, Lettres Philosoph., p. 86. 8 Charles Darwin, Der Instinkt. I. daß sich Ratten und Mäuse nicht lange in derselben Art von Fallen fangen lassen, so verlockend auch der Köder sein mag'; da es aber selten vorkommt, daß eine, die wirklich schon gefangen war, wieder ent- wischt, so müssen die anderen die Gefahr aus den Leiden ihrer Genossen kennen gelernt haben. Selbst das schrecklichste Ding, wenn es nie Ge- fahr bringt und nicht instinktiv gefürchtet wird, sehen die Tiere bald mit dem größten Gleichmut an, wie wir bei unseren Eisenbahnzügen beobachten können. Welcher Vogel ist so ‘schwer zu beschleichen wie der Reiher und wie viele Generationen müßten wohl vergehen, bis er die Furcht vor dem Menschen abgelegt hätte? Und doch erzählt Tuonesox ”, daß diese Vögel nach einer Erfahrung von wenigen Tagen einen Zug furchtlos in halber Flintenschußweite vorüber donnern lassen”. Obgleich nicht zu bezweifeln ist, dab die Furcht vor dem Menschen in längst bewohnten Gegenden z. T. immer von neuem erworben wird, so ist sie doch sicherlich zugleich auch instinktiv, denn die noch im Nest sitzenden jungen Vögel erschrecken allgemein beim ersten Anblick des Menschen und fürchten ihn jedenfalls weit mehr, als die meisten alten Vögel auf den Falklands- und Galapagosinseln dies thun, nachdem sie jahrelangen Verfoleungen ausgesetzt wewesen sind. Wir haben übrigens in England selbst vorzügliche Beispiele dafür, daß die Furcht vor dem Menschen ganz entsprechend der durchschnitt- lichen Gefahr erworben und vererbt wird, denn wie schon vor langer Zeit der Hon. Daınes Barrınaron bemerkt hat?, sind alle unsere größeren Vögel, junge wie alte, außerordentlich scheu. Nun kann aber doch keine Beziehung zwischen Größe und Furcht bestehen, wie denn auch auf noch unbewohnten Inseln bei den ersten Besuchen die großen Vögel stets ebenso zahm waren wie die kleinen. Wie vorsichtig ist nicht unsere Elster; vor Pferden oder Rindern zeigt sie aber keine Furcht und setzt sich ihnen sogar manchmal auf den Rücken, ganz wie die Tauben auf den Galapagos sich 1684 auf Cowrsy’s Schultern niederließen. In Nor- wegen, wo die Elster nicht verfolgt wird, pickt sie ihr Futter »dicht vor den Thüren auf und dringt oft sogar in die Häuser eine.” So ist ı E. P. Thompson, Passions of Animals, p. 29. ? Nat. Hist. of Ireland, „Birds“, II, p. 133. 3 [Ich erlaube mir hier auf die Bestätigung hinzuweisen, welche diese An- gaben kürzlich durch einen Briefwechsel zwischen Dr. Rae und Mr. Goodsir ge- funden haben (s. „Nature“, 3., 12. und 19. Juli 1883). Der erstere sagt, die Wild- enten, Kriekenten u. s. w., die gewisse Strecken bewohnen, durch welche die Pacific- Eisenbahn in Kanada geführt wurde, hätten alle Furcht vor den Zügen schon wenige Tage nach Eröffnung des Verkehrs verloren, und der letztere bezeugt ähn- liches von den wilden Vögeln in Australien, indem er hinzufügt: „Das beständige Getöse eines starken Verkehrs sowohl als die unaufhörliche Unruhe und der Höllenlärm einer großen Eisenbahnstation, die sich einen Steinwurf von ihren Wohn- plätzen entfernt abspielen, bleiben jetzt von diesen gewöhnlich so außerordentlich wachsamen und vorsichtigen Vögeln (d. h. den Wildenten) gänzlich unbeachtet. Würde ich nicht befürchten, Ihren Raum ungebührlich in Anspruch zu nehmen, so könnte ich Ihnen noch viele andere Belege für die Richtigkeit von Dr. Rae's Bemerkungen geben.“ — Romanes.]| * Philos. Transact., 1773, p. 264. °C. Hewitson in Magazine of Zool. and Botany, II, p. 311. Charles Darwin, Der Instinkt. I. 9 auch die Nebelkrähe (Corvus cornir) einer unserer scheuesten Vögel, Ägypten dagegen ist sie vollständig zahm!. Unmöglich kann jede ein- zelne junge Elster und Krähe in England vom Menschen erschreckt worden sein, und doch fürchten sie ihn sämtlich aufs äußerste; auf den Falk- lands- und Galapagosinseln anderseits müssen viele alte Vögel und früher schon ihre Vorfahren erschreckt worden und Zeugen des gewalt- samen Todes anderer gewesen sein, und doch haben sie noch nicht die heilsame Furcht vor dem mörderischsten aller Tiere, dem Menschen, sich angeeignet”. Daß Tiere, wie man zu sagen pflegt, sich totstellen sollen — der Tod ist ja ein jedem lebenden Wesen unbekannter Zustand — erschien mir immer als ein höchst merkwürdiger Instinkt. Ich stimme ganz mit denen überein ?, welche glauben, daß in dieser Sache viel Übertreibung herrscht, und bezweifle nicht, daß Ohnmachten (ich habe ein Rotkehlchen in meinen Händen in Ohnmacht fallen sehen) und die lähmende Wirkung übergroßer Furcht oft mit Simulation des Todes verwechselt worden sind *. Am bekanntesten sind in dieser Hinsicht die Insekten. Wir finden bei ihnen vollständige Reihen, selbst innerhalb einer und derselben Gattung (wie ich bei Oureulio und Chrysomela beobachtet habe), von Arten, welche nur eine Sekunde lang und manchmal sehr unvollkommen sich totstellen, elott. St. Hilasire, Ann. des Mus., : Ip. 471. : [Es wurde. bereits angedeutet, bis zu welch genauer Abstufung solche in- stinktive Furcht vor dem Menschen sich entwickelt, wenn dem Tiere die Mösglich- keit gegeben ist, mit Sicherheit zu unterscheiden, wie weit es entfernt sein muß, um außer Schußweite zu sein. Neuerdings hat Dr. Rae in „Nature“ in den schon erwähnten Briefen folgende Beobachtung "mitgeteilt, die von Interesse ist, weil sie zeigt, wie rasch eine ‘solche Feinheit der Unterscheidung erlangt wird: — „Es sei gestattet, noch eines von den vielen mir bekannten Beispielen dafür anzuführen, mit welcher Schnelligkeit Vögel sich die Kenntnis eiver Gefahr erwerben. Wenn die Goldregenpfeifer von ihren Brütplätzen in höheren Breiten nach Süden ziehen, so besuchen sie die nördlich von Schottland gelegenen Inseln in bedeutender An- zahl und halten sich in großen Schwärmen beisammen. Zuerst kann man ihnen dann leicht nahe kommen, allein sobald man nur wenige Schüsse auf sie abgefeuert hat, werden sie nicht bloß viel scheuer, sondern scheinen auch mit großer Genauig- keit die Entfernung abzumessen, bis zu welcher sie vor Schaden sicher sind.“ — Romanes] ® Couch, Illustrations of Instinet, p. 201. * Den merkwürdigsten Fall von anscheinend wirklichem Sichtotstellen be- richtet Wrangel (Travels in Siberia, p. 312) von den Gänsen, welche in die Tundren ziehen, um da zu mausern, und dann ganz unfähig sind, zu fliegen. Er sagt, sie hätten sich so meisterhaft totgestellt, „mit ganz steif auseestreckten Beinen und Hälsen, daß ich ruhig an ihnen vorbei eing und sie für tot hielt“. Die Eingebornen jedoch ließen sich dadurch nicht täuschen. Diese Verstellung würde sie natürlich auch nicht vor Füchsen, Wölfen u. s. w. schützen, die doch wohl in den Tundren vorkommen; sollte sie ihnen vielleicht vor den Angriffen der Falken und Habichte Schutz gewähren? Jedenfalls ist die Sache sehr sonderbar. Eine Eidechse in Patagonien (Reise um die Welt, S. 111), welche auf dem Sande an der Küste lebt und wie dieser gesprenkelt ist, stellte sich, wenn sie erschreckt wurde, tot mit ausgestreckten Beinen, flachgedrücktem Körper und geschlossenen Augen; wurde sie weiter belästigt, so grub sie sich rasch in den Sand ein. Wenn die Häsin ein kleines unauffälliges Tier wäre und wenn sie, in ihr Lager geduckt, die Augen zumachte, würden wir nicht sagen, sie stelle sich tot? Über Insekten siehe Kirby and Spence, Introduction to Entomology, vol. II, p. 234. 10 Charles Darwin, Der Instinkt. 1. indem sie noch ihre Fühler bewegen (wie z. B. manche Stutzkäfer [| Hister|), und welche sich auch nie ein zweitesmal verstellen, wie sehr man sie auch reizen mag — bis zu andern Arten, die sich, nach DE GEER, grau- sam auf schwachem Feuer rösten lassen, ohne das geringste Lebens- zeichen von sich zu geben — und wieder zu anderen, die eine lange Zeit (bis 23 Minuten, wie ich bei Chrysomela spartii gesehen habe) be- wegungslos bleiben. Manche Individuen derselben Pfinus-Art nahmen bei solcher Gelegenheit eine andere Stellung an als die übrigen. Man wird nun wohl kaum in Abrede stellen wollen, daß die Art und die Dauer des Totstellens jeder Spezies von Nutzen sein wird, je nach der Art der Gefahren, denen sie gewöhnlich ausgesetzt ist; es hat also auch durchaus keine größere Schwierigkeit, sich die Erwerbung dieser eigen- tümlichen erblichen Haltung durch natürliche Zuchtwahl vorzustellen, als die irgend einer andern. Nichtsdestoweniger erschien es mir als ein höchst merkwürdiges Zusammentreffen, dab die Insekten hiernach dahin gelangt sein sollten, genau die Haltung nachzuahmen, die sie im Tode annehmen. Ich zeichnete mir daher sorgfältig die Stellungen auf, welche 17 verschiedene Insektenarten (einschließlich eines Julus, einer Spinne und einer Assel), Angehörige der verschiedenartigsten Gattungen, sowohl gute als schlechte Künstler in der Verstellung, dabei anzunehmen pflegen; dann verschaffte ich mir von einigen dieser Arten eines natürlichen Todes ge- storbene Exemplare, andere tötete ich leicht und langsam mit Kampher. Das Ergebnis war, daß die Haltung in keinem einzigen Falle überein- stimmte und daß mehrfach das sich totstellende Tier so viel als nur mög- lich von dem wirklich toten abwich. Nestbau. Wir kommen nun zu verwickelteren Instinkten. Die Nester der Vögel sind wenigstens in Europa und den Vereinigten Staaten genau be- obachtet worden, so daß sie uns eine gute und seltene Gelegenheit dar- bieten, zu untersuchen, ob in einem so wichtigen Instinkt Variationen vorkommen. Wir werden sehen, daß dies allerdings der Fall ist und ferner dab günstige Umstände und Verstandesthätigkeit nicht selten den Bauinstinkt in geringem Grade abändernd beeinflussen. Überdies haben wir in den Nestern der Vögel eine ungewöhnlich vollkommene Reihe vor uns, von solchen, die gar kein Nest bauen, sondern ihre Eier auf die nackte Erde legen, zu andern, die ein höchst einfaches und un- ordentliches Nest herstellen, zu noch anderen mit vollkommneren Bau- ten u. s. w., bis wir bei jenen wunderbaren Gebilden anlangen, welche beinahe der Kunst des Webers spotten. Selbst wenn es sich um ein so eigentümliches Nest handelt wie das der Salangane (COollocalia esculenta), das von den Chinesen gegessen wird, glaube ich doch die verschiedenen Stufen verfolgen zu können, welche die Ausbildung dieses für die betreffenden Tiere so notwendigen Instinkts durchlaufen hat. Das Nest besteht bekanntlich aus einer brüchigen weißen durchscheinenden Substanz, die reinem Gummi arabicum oder selbst Glas sehr ähnlich sieht, und ist mit daran festgeklebten Flaumfedern ausgekleidet. Das Nest einer verwandten Art im British Charles Darwin, Der Instinkt. 1. 11 Museum besteht aus unregelmäßig netzförmigen Fasern, die z. T. so fein sind wie....! von gleichem Stoff; bei einer andern Spezies werden Stücke von Seetang durch eine ähnliche Substanz zusammengeleimt. Dieser trockene schleimige Stoff quillt im Wasser bald auf und wird weich; unter dem Mikroskop zeigt er keinerlei Struktur außer Spuren von Schichtung und überall eingestreuten birnförmigen Luftblasen von verschiedenster Größe; letztere treten sogar in kleinen trockenen Stück- chen sehr deutlich hervor, und manche boten fast das Aussehen von bla- siger Lava dar. Wird ein kleines reines Stück in die Flamme gehalten, so knistert es, schwillt etwas an, verbrennt nur langsam und riecht stark nach tierischer Substanz. Die Gattung Collocalia gehört nach G. R. Gray, dem ich für seine Erlaubnis zur Untersuchung aller im British Museum befindlichen Exemplare sehr verbunden bin, zu derselben Unterfamilie wie unsere Mauerschwalbe (Cypselus apus). Diese nun bemächtigt sich gewöhnlich einfach eines Sperlingsnestes, Herr MacsızLLıvray hat aber ‚zwei Nester sorgfältig beschrieben, in welchen das lose zusammengefügte Nestmaterial durch äuberst dünne Fäden einer Substanz verklebt war, die in der Flamme knisterte, aber nur langsam verbrannte. In Nord- amerika ? klebt eine Art von Mauerschwalben ihr Nest an die senkrechten Wände von Schornsteinen fest und baut es aus kleinen parallel neben einander gelegten Stöckchen, die durch kuchenförmige Massen ver- härteten spröden Schleims zusammengekittet sind, welcher gleich dem- jenigen der eßbaren Schwalbennester im Wasser anschwillt und auf- weicht, in der Flamme knistert, sich aufbläht, nur langsam verbrennt und dabei einen starken tierischen Geruch verbreitet; er unterscheidet sich nur dadurch, daß er gelbbraun ist, nicht so viele große Luftblasen enthält, deutlicher geschichtet ist und sogar ein gestreiftes Aussehen zeigt, das von unzähligen elliptischen, ganz winzig kleinen Erhöhungen herrührt, die wohl nichts anderes als emporgezogene kleine Luftbläschen sind. Die meisten Autoren nehmen an, die eßbaren Schwalbennester be- stünden entweder zus Tang oder aus dem Laich eines Fisches, von an- deren ist wohl auch die Vermutung ausgesprochen worden, es handle sich um eine Aussonderung der Speicheldrüsen des Vogels. Nach den ! [Hier war im Manuskript absichtlich Platz gelassen, um später ein passen- des Wort einzufügen. — Romanes.] ®? Uber Cypselus murarius s. Maegillivray, British Birds, III, 1840, p. 625. Uber ©. pelasgius s. Peabody’s ausgezeichnete Arbeit über die Vögel von Massachusetts, in Boston Journ. of Nat. Hist. III, p. 187. M. E. Robert (Comptes Rendus, citiert in Ann. a. Mag. Nat. Hist. VIII, 1842, p. 476) fand, dab die Nester der Uferschwalbe (Cotyle riparia) in den kiesigen Uferbänken der Wolga an ihrer oberen Seite mit einer gelben tierischen Substanz ausgepflastert waren, die er für Fischlaich hielt. Sollte er vielleicht die Art verwechselt haben? — denn wir können kaum annehmen, daß unsere Uferschwalbe irgend eine solche Gewohnheit hat. Sollte sich die Richtigkeit der Beobachtung doch bestätigen, so läge hier eine höchst merkwürdige Variation eines Instinkts vor, um so merk- würdiger, da dieser Vogel einer andern Unterfamilie angehört als Oypselus und Collocalia. Ich bin übrigens nicht abgeneigt, die Sache für richtig zu halten, denn es wird, offenbar auf Grund genauer Beobachtung, versichert, daß auch die Haus- schwalbe (Chelidon urbica) den Schlamm, aus dem sie ihr Nest aufbaut, mit kleb- rigem Speichel befeuchte. 12 Charles Darwin, Der Instinkt. 1. oben mitgeteilten Beobachtungen kann ich nicht bezweifeln, daß die letztere Ansicht zutreffend ist. Die Gewohnheiten der im Inlande leben- den Mauerschwalbe und das Verhalten der fraglichen Substanz in der Flamme widerlegen schon fast allein die Annahme, daß sie aus Tang bestehe. Ebenso ist es mir, nachdem ich getrockneten Fischlaich unter- sucht, höchst unwahrscheinlich, daß man nicht irgend eine Spur von zelligem Aufbau in den Nestern sollte entdecken können, wenn sie aus solchem Material bestünden. Wie könnten auch unsere Mauerschwalben, deren Lebensweise so gut bekannt ist, Fischlaich holen, ohne dabei ge- sehen zu werden? MacsızLıvray hat ‚gezeigt, daß die Follikel der Speicheldrüsen bei der Mauerschwalbe bedeutend entwickelt sind, weshalb er auch annimmt, der Stoff, mit welchem sie ihr Nestmaterial zusammen- kittet, werde von diesen Drüsen ausgesondert. Ich hege keinen Zweifel, dab auch die ganz ähnliche, nur reichlichere Substanz im Neste der nord- amerikanischen Mauerschwalbe sowie der Cbollocalia esculenta gleichen Ur- sprungs ist. Dies macht ihren blasigen und blättrigen Bau erklärlich wie nicht minder die eigentümliche netzförmige Beschaffenheit derselben bei der Spezies von den Philippinen. Mit dem Instinkt dieser verschie- denen Vögel braucht nur die eine Veränderung vor sich gegangen zu sein, dab sie immer weniger und weniger fremdes Material zum Nestbau verwendeten. Man kann also wohl sagen, daß die Chinesen ihre köst- liche Suppe aus getrocknetem Speichel bereiten !. Sieht man sich nach vollkommenen Reihen bei anderen minder häufigen Formen von Vogelnestern um, so darf man nie vergessen, daß alle heute lebenden Vögel einen fast verschwindend kleinen Bruchteil aller derer darstellen, die auf Erden gelebt haben seit der Zeit, wo jene Fubßbspuren in der Bucht der Buntsandsteinformation von Nordamerika eingedrückt worden sind. Wenn man einmal zugibt, daß das Nest eines jeden Vogels, wo es immer sich befinden und wie es gebaut sein mag, stets für diese Spezies unter den ihr eigentümlichen Lebensverhältnissen passend ist; wenn ferner der Nestbauinstinkt auch nur ganz wenig variiert, sobald ein Vogel unter neue Umstände gerät, und wenn, was sich kaum be- zweifeln läßt, auch solche Variationen vererbt werden können, dann ver- mag die natürliche Zuchtwahl gewiß das Nest eines Vogels, verglichen mit dem seiner frühesten Vorfahren, im Lauf der Zeiten beinahe bis zu jedem beliebigen Grade umzugestalten und zu vervollkommnen. Greifen wir aus den näher bekannten Beispielen eines der auffälligsten heraus und sehen wir’ zu, in welcher Weise etwa die Zuchtwahl dabei thätig gewesen sein mag. Ich meine Gourv’s Mitteilungen? über die austra- lischen Großfußhühner (Megapodidae). Das Buschhuhn (Talegalla Lathami) ! [Es braucht wohl kaum daran erinnert zu werden, daß wir nicht vergessen dürfen, vor wie langer Zeit das obige schon geschrieben worden ist. Dagegen möchte ich darauf aufmerksam machen, daß Home bereits 1817 (Philos. Transact., p-: 332) bemerkt hat, der Vormagen der Salangane sei ein eigentümliches Drüsen- gebilde, das wahrscheinlich den Stoff auszusondern vermöge, aus welchem das Nest bestehe. — Romanes.] ® Birds of Australia und Introduction to the Birds of Australia, 1848, p. 82. Charles Darwin, Der Instinkt. 1. 13 scharrt zwei bis vier Wagenladungen von in Zerfall begriffenen Pflanzen- teilen zu einer großen Pyramide zusammen, in deren Mitte es seine Eier versteckt. Diese werden durch Vermittelung der in Gährung übergehenden Masse, deren Wärme nach der Schätzung bis auf 90° F. (32° C.) an- steigt, ausgebrütet und die jungen Vögel arbeiten sich selbst aus dem Haufen hervor. Der Trieb zum Zusammenscharren ist so lebendig, dab ein in Sydney gefangen gehaltener einzelner Hahn alljährlich eine unge- heure Masse von Pflanzenteilen auftürmte. Leipoa ocellata macht einen Haufen von 45 Fuß Durchmesser und 4 Fuß Höhe aus dick mit Sand bedeckten Blättern und läßt ihre Eier gleichfalls durch die Gährungs- wärme ausbrüten. Megapodius tumulus in Nordaustralien baut sogar einen noch viel höheren Hügel auf, der aber wie es scheint weniger vegetabilische Bestandteile enthält, und andere Arten im Sundaarchipel sollen ihre Eier in Löcher im Boden legen, wo sie der Sonnenwärme allein zum Ausbrüten überlassen bleiben. Es ist weniger überraschend, daß diese Vögel den Brütinstinkt verloren haben, wenn die nötige Wärme durch Gährung oder von der Sonne geliefert wird, als daß sie die Gewohnheit angenommen haben, im voraus einen groben Haufen von Pflanzenstoffen aufzutürmen, damit dieselben in Gährung geraten sollen; denn wie man dies auch erklären mag, jedenfalls steht fest, daß andere Vögel ihre Eier einfach zu verlassen pflegen, wenn die natürliche Wärme zum Ausbrüten genügt, wie dies z. B. der Fliegenschnäpper lehrt, der sein Nest in Knıcur’s Gewächshaus gebaut hatte!. Selbst die Schlange macht sich ein Mistbeet zu nutze und legt ihre Eier hinein, und ebenso benutzte, was uns hier noch näher angeht, eine gewöhnliche Henne nach Prof. Fıscher »die künstliche Wärme eines Treibbeetes, um ihre Eier ausbrüten zu lassen»Die Entwickelung,« sagt Braunss in seinen Elementen der Physiologie, >ist nur eine vervollkommnete Art des Wachstums und der Zellenvermehrung, ein Abweichen von der natürlichen Ordnung, welche verlangte, daß die neugebildeten Elemente den Elementen glichen, aus welchen sie entstanden. Was ist die Ursache dieser Abweichung ? Man kann vermuten, dab sie zum größten Teile auf den Einfluß der äußeren Medien und auf die Modifikationen zurückzuführen ist, welche der Organismus erleidet, um sich diesen Einflüssen anzupassen. Indem sich diese Einflüsse auf zahlreiche aufeinander folgende Generationen wiederholten, führten sie allmählich persistierende erbliche Modifikationen herbei, wie diejenigen, die wir gegenwärtig beobachten. Sind diese Modi- fikationen einmal erworben, dann können sie selbst einen sehr hohen Grad der Beständigkeit haben.« auf die Entwickelung von Rana esculenta. 2 Diese Vermutung soll zur experimentellen Sicherheit werden. Man könnte sogar später zur Vergleichung und um die an den Jungen gewonnenen Daten zu steigern, eine Versuchsreihe anstellen, in welcher man schon die Eltern zur Zeit der Geschlechtsreife unter den Einfluß der modifizierenden Agentien stellte. Derart würde man in den Stand gesetzt, jene Ansicht Darwın’s zu bestätigen oder zu entkräften, die dahin geht, dab die häufigsten Variabilitätsursachen dem Umstande zugeschrieben werden müssen, daß die Reproduktionsorgane der Männ- chen und Weibchen mehr oder weniger vor dem Konzeptionsakt affıziert wurden. Doch selbst wenn wir von den Gesichtspunkten, unter denen wir die Versuche anstellen, ganz absehen, kommt ihnen vom rein physio- logischen Standpunkte aus großes Interesse zu. Lassen sie uns doch den Einfluß dieser physikalischen Agentien auf die Dauer der Entwickelung und die praktischen Konsequenzen erkennen, welche diese Erkenntnis nach sich ziehen kann. Deshalb begann ich in einer frühern Arbeit! den Einfluß des far- bigen Lichtes auf die Entwickelung einiger Typen von Wassertieren zu studieren, deshalb berichte ich heute über den Einfluß der Nahrung auf junge Tiere gleicher Art. Wenn das innere Medium, in welchem sich die histologischen Ele- mente entwickeln, d. h. also allgemein das Blut, das letzte Resultat der Verarbeitung der Nahrungsmittel ist, so folgt daraus natürlich, daß die Veränderung dieser letztern Modifikationen in seiner Zusammensetzung nach sich ziehen wird, welche von großem Einfluß auf den ganzen Orga- nismus sein können. Schon oft und nicht erst in den jüngsten Tagen hat man den be- deutenden Einfluß konstatiert, der durch die Art der Ernährung auf verschiedene Funktionen der Tiere wie Athmung, Vermehrung etc. aus- geübt wird. Doch an exakten Resultaten, die durch vergleichende Ex- perimente aus streng methodisch ausgeführten Versuchen gewonnen wurden, fehlt es der Wissenschaft noch. Die gegenwärtige Abhandlung ist der Anfang einer diesbezüglichen Untersuchungsreihe, welche ich beabsichtige auf wirbellose Tiere und Säugetiere auszudehnen. Eine Schwierigkeit, der anfänglich diese Versuche begegnen, liegt in dem Umstand, daß nicht leicht ein Material zur Hand ist, dessen Elemente absolut vergleichbar wären. Es ist, wie wir bereits sagten, vorteilhaft, zu den Experimenten die Organismen vom frühesten Alter an anzuwenden, und am vorteilhaftesten, mit frisch befruchteten Tieren zu operieren. Aus diesem Grunde wurde die Rana esculenta zum Versuchs- tier gewählt, die eine große Zahl von Eiern legt und deshalb ermöglicht, die Experimente auf der breiten Basis anzulegen, die deren Wert ja wesentlich bestimmt. Rühren die Eier von einem Muttertier her und sind sie von einem männlichen Tier befruchtet, so verhalten sie sich, ein Umstand, der für die Genauigkeit der Experimente wertvoll ist, hin- ! Vergl. Kosmos, Bd. X, 22 Emil Yung, Über den Einfluß verschiedener Nahrungsmittel sichtlich der Vererbung gleich. Sind die Eier vom ersten Tag an den gewünschten Versuchsbedingungen ausgesetzt, so ist die Vergleichung der Resultate erlaubt. Bevor wir auf die Darlegung unserer Versuche eintreten, wollen wir ein kurzes Resümee der Angaben zusammenstellen, welche die Wissen- schaft gegenwärtig über die Ernährung besitzt. F. W. EpwaArps, welcher zuerst auf experimentellem Wege den Einfluß physikalischer Agentien auf die Tiere studierte, äußert sich, ohne auf die Experimente einzutreten, folgendermaßen über den Einfluß der Ernährung auf die Froschlarven: »Der Punkt, der am ehesten aufgeklärt werden sollte, ist der Einfluß physikalischer Agentien auf ihre Metamor- phose. Die Wirkung dieser Agentien auf die Form der Tiere ist eine der interessantesten Fragen der Physiologie. Eine der Bedingungen, welche man noch am besten kennt, ist die Notwendigkeit der Ernährung für die Entwickelung der Formen. Will man die Metamorphose der Kaul- quappen beschleunigen, so mischt man deshalb dem Wasser, in welchem man sie aufbewahrt, kleine Quantitäten ernährender Substanzen bei und erneuert die Flüssigkeit, damit die Zersetzung dieser Stoffe ihnen nicht nachteilig werde. Ebenso kann man ihre Entwickelung verzögern, indem man sie in solches Wasser bringt, das keine hinreichenden Nahrungs- stoffe enthält!.c Zu bedauern ist es, daß ein so trefflicher Beobachter die Experimente nicht zum Zwecke genauer Messungen dieses Einflusses der Nahrung auf die Entwickelung anstellte. Nirgends treffen wir bei ihm diesbezügliche Zahlen. Die oft phantastischen und widersprechenden Angaben, die der Dis- kussion der Vegetarianer und der Partisane der animalischen Nahrung zu Grunde liegen, übergehen wir. Heute nimmt man allgemein an, daß für den Menschen und einige höhere Tiere eine gemischte Nahrung, d. h. eine Nahrung, welche eine gleiche Menge Kohlenwasserstoffsub- stanzen (Kohlehydrate, Fette) oder respiratorische Stoffe und stickstoff- haltige oder plastische Substanzen enthält, am rationellsten ist. Man weib, dab MaAGENnDI zu verschiedenen malen Experimente ausgeführt hat, die geeignet waren, die ernährenden Eigenschaften bestimmter einfacher Nahrungsmittel festzustellen, und obgleich er mit ausgewachsenen Tieren operierte und seine Aufmerksamkeit nicht auf die Schnelligkeit der Ent- wickelung richtete, erinnere ich daran, daß er die Notwendigkeit der Gegenwart stickstoffhaltiger Substanzen für den Lebensunterhalt bei Hunden gezeigt hat. Mehreren dieser Tiere gab er ausschließlich Zucker | und destilliertes Wasser, Gummi, Butter, Öl ete. und immer konstatierte er schwere Erkrankungen, welche nach Verlauf einiger Wochen stets mit dem Tod endeten. Fast dasselbe beobachtete er an einem Hund, der gerade in umgekehrter Weise ausschließlich mit Fibrin ernährt wurde. Nach zwei Monaten starb er an Entkräftung. BıscHorr widerspricht je- doch auf Grund eigener Untersuchung der Richtigkeit dieser Mitteilung MAGENDT's, indem er behauptet, einen Hund am Leben erhalten zu haben, “ F. W. Edwards, De l’influence des agents physiques sur la vie. Paris, 1824, p. 107. | | g auf die Entwickelung von Rana esculenta. 23 dem er nur vom Fette abgelöstes Fleisch zu fressen gegeben habe. Wir werden später sehen, daß es uns in unseren Untersuchungen gelang, Kaulquappen zu jungen Fröschen heranzuziehen, die nur mit koaguliertem Albumin von Hühnereiern ernährt worden waren, einer Substanz, welche nach BoussinsauLt für sich allein nicht fähig ist, das Leben höherer Tiere, wie z. B. von Enten zu unterhalten. MıuLne EpDwARrns sagt auf diese Frage in seinen Lecons sur la physiologie et l’anatomie comparees: »daß es zur normalen Ernährung der Tiere der Vereinigung von dreierlei Substanzen bedürfe, nämlich plastischer organischer Stoffe, wirklich ver- brennbarer Stoffe und mineralischer Stoffe, die in Wirklichkeit fast in allen ernährenden Substanzen, wie die Natur sie uns bietet, sich finden!.« SPALLANZANI, LAVOISIER und SEGUIN, BOUSSINGAULT, BIDDER und ScHaipr etc. haben den Einfluß der Ernährung auf den Atmungsprozeß studiert und sie kamen zu der allgemeinen Schlußfolgerung, daß die Respiration bei gut genährten Tieren beschleunigt werde und sich umgekehrt bei jenen verlangsame, welche inden Zustand des Hungerns versetzt werden. So fanden Bippzr und Scuumpr, daß eine Katze, die sie hungern ließen, während der 18 Tage des Versuchs immer weniger und weniger Kohlensäure ausatmete, bis sie schließlich verendete. Folgende Zahlen ergeben somit einen genauen Einblick in die Relation zwischen mangel- hafter Ernährung und Respiration. Während der fünf ersten Tage des Hungers war die in 24 Stunden produzierte Menge Kohlensäure im Mittel . . 2. ......45,07 gr. Während der fünf folgenden Tage . . . RR LA ER LONNOLEN 2 > > dritten Periode von fünf Tagen EI SAIHT ER an u em en RT un aD nn. er in a 3 el > 22,12 > Die Versuche von Manomann, welche am Brusch en wurden, ergaben analoge Resultate. Ich erinnere an diese Thatsachen, weil sie uns einen Einblick in die Methode gestatten, deren sich die Physiologen bedienen müssen, so- fern sie die Resultate, zu welchen wir gelangten, genauer analysieren wollen. Die Phänomene der Ernährung sind äußerst kompliziert und die Produkte der Athmung sind Merkmale, die mit Vorteil zur Interpretation dieser Erscheinungen verwertet werden können. Es kann von Wichtig- keit sein, sich über den Einfluß der verschiedenen Nahrungsmittel auf den Atmungsprozeß Rechenschaft zu geben. Was den relativen Nährwert der verschiedenen Nahrungsmittel be- trifft, so wurde derselbe namentlich im Hinblick auf den Menschen und die Haustiere mit zusammengesetzten Nahrungsmitteln studiert. Boussın- GAULT vor allem hat ausgedehnte Untersuchungen über diesen Gegenstand angestellt. Seine Versuche, zu denen er vorwiegend starke Tiere, wie Pferd und Kuh benutzte, führten ihn zu dem Satz, daß die ernährende ! Milne Edwards, Lecons sur la Physiologie et l’Anatomie comparees eV El, p. 101. 24 Emil Yung, Über den Einfluß verschiedener Nahrungsmittel Kraft der Vegetabilien, die diesen Tieren zum Unterhalt dienen, der Stickstoffquantität proportional ist, die sich in ihnen in Verbindung befindet. Spätere Versuche desselben hervorragenden Gelehrten sowohl als neuere Untersuchungen anderer Autoren können diesen Fundamental- satz nicht mehr bestätigen. Das hängt zweifellos damit zusammen, daß die äußerst komplizierten Ernährungserscheinungen nur dann aufgeklärt werden können, wenn man nicht mehr mit sehr mannigfaltig zusammen- gesetzten Nahrungsmitteln, sondern möglichst einfachen Nahrungsstoffen experimentiert. CARL SEMPER berührte die Frage, mit der wir uns be- schäftigen, in seinen Untersuchungen über die Existenzbedingungen von Limnaeus stagnalis!. Nach ihm können zwei Ursachen auf das Wachstum einwirken: 1) Diejenigen, welche direkt durch ihre Gegenwart nützlich sind und durch ihr Fehlen schaden. 2) Solche, die durch ihre Gegenwart gewöhnlich nach- teilig sind, welche aber in bestimmten Fällen indirekt nützlich werden können. Zu den erstern zählt er die Nahrung, die atmosphärische Luft, die Wärme, das Licht, die Bewegung. Zu den letztern die schädlichen Gase, wie z. B. die Kohlensäure, die Sekretionsprodukte der Tiere, den Einfluß anderer Tiere u. s. f. Unter den aktiven Substanzen wird also in erster Linie, wie wir sehen, die Nahrung angeführt, doch die Abhandlung Semrer’s enthält keine Zahlenangaben, die sich auf diesen Punkt beziehen. >»In meinen Versuchen,« sagt er, »wurde der Einfluß der Nahrung dadurch vermieden, daß sie überall die gleiche war und immer in mehr als hinreichender Menge den Tieren verabfolgt wurde.« Doch ein sehr wichtiges Moment, welches die Untersuchung SEMPER’S in klares Licht setzte und über welches wir uns Rechenschaft zu geben haben, ist der sehr bedeutende Einfluß, welchen die Wassermenge spielt, die jedem Zimnaeus-Individuum zukam. Dieser Einfluß ist so beträchtlich, daß er der Frage rufen mußte, ob im Wasser nicht eine aktive Sub- stanz vorhanden sein müsse, welche die Entwickelung dieser Tiere be- günstige. Wir werden sogleich eines Experimentes Erwähnung thun, welches zeigen soll, daß bei den Fröschen dieser Einfluß der auf ein Individuum kommenden Wassermenge ganz unbedeutend ist. Welcher Art aber der- selbe sein kann, ergeben folgende Daten: SEMPER fand, daß, je kleiner die Zahl der Zimnaeus-Individuen war, welche auf eine bestimmte Menge Wassers verteilt wurden, die Individuen in derselben Zeit um so größer wurden. Am 9. August 1871 setzte er in 5 Gefäße, die 2000 ccm Wasser enthielten (zur Nahrung für die Tiere diente Flodea canadensis) verschiedene Mengen junger Individuen von Zimnaeus stagnalis, die alle von derselben Mutter abstammten. Den Versuchsbedingungen waren sie während ıC. Semper, Über die Wachstumsbedingungen des Limnaeus stagnalis in Arbeiten aus dem zoologisch-zootomischen Institut in Würzburg, Bd. I, 1874, p. 137. auf die Entwickelung von Rana esculenta. 25 71 Tagen ausgesetzt. Sie entwickelten sich in dieser Zeit sehr ungleich, wie aus nachfolgenden Zahlen hervorgeht. Die Tiere im Gefäß 5, das 2 Individuen enthielt, erreichten im Mittel die Länge von 15 mm. Gefäß 1 enthielt 5 Individuen. Sie erreichten die durchschnitt- liche Länge von 11,4 mm. Die 12 Individuen des Gefäßes Nr. 2 besaßen im Durchschnitt eine Länge von 7,7 mm. Das Gefäß 3 enthielt 30 Individuen, die nur eine durchschnittliche Länge von 5 mm erreichten. Gefäß 4 endlich enthielt 105 Individuen. Dieselben maßen im Mittel 2,7 mm. _ Diese sehr beträchtlichen Differenzen, die in allen Versuchen wieder- kehrten, führten SEmrER zu nachfolgenden Schlüssen: 1) Das Wachstum, d. h. die Assimilation ernährender Substanzen hängt nicht allein von der Quantität und Qualität der Nahrung, der Temperatur, dem Sauerstoff des Wassers und der Luft ab, sondern auch noch von einem bisher unbekannten Stoff im Wasser, ohne dessen Gegenwart die übrigen günstigen Wachstums- bedingungen ihren Einfluß nicht ausüben können. 2) Daß das Maximum des Einflusses des Wasservolumens dann beobachtet wird, wenn die Wassermenge pro Individuum bei der mitt- leren Sommertemperatur 2—4000 cem beträgt. In einer neuern Arbeit, deren Mitteilung ich Herrn Prof. FoL ver- danke, hat Dr. P. Born! in Breslau über eine Versuchsreihe berichtet, die den Einfluß der Nahrung auf die Entstehung des Geschlechtes prüfen will. Wir entnehmen dieser Abhandlung einige auf die Entwickelung sich beziehende Angaben. Born operierte mit künstlich befruchteten Eiern von Rana fusca, deren er 3—500 Exemplare in 21 verschiedene Aquarien versetzte. Die 4 ersten erhielten zur Ernährung der Tiere nur vegetabilische Substanzen, vornehmlich Wasserlinsen (Zemna). In allen andern erhielten die Kaul- quappen außer vegetabilischen Stoffen auch Fleisch, nämlich Frosch- larven, zerhackte Pelobates und zumeist Stücke von schon etwas zer- setzten entwickelten Fröschen. Weder die eine noch die andere Art der Ernährung entsprach den natürlichen Verhältnissen. Denn die erste Nahrung der Batrachier besteht nach Borv aus Koth, d. h. aus einer Anhäufung von Infusorien, Rädertierchen, Diatomeen, Algen jeder Art, Stoffen, die er im Magen von Kaulquappen fand. Born erinnert dies- bezüglich daran, daß LeypıG wohlentwickelte Pelobates in einem Me- dium fand, wo sie keine andere Nahrung hatten als einen Schlamm, der keine mit unbewaffnetem Auge sichtbare Pflanzen enthielt. Diese Art gemischter Nahrung fehlte vollkommen in den Versuchen Borx’s wie in meinen eigenen und er konstatierte, daß ihr Fehlen ver- zögernd auf die Entwickelung seiner Larven wirkte. Während im Freien ! P. Born, Experimentelle Untersuchungen über die Entstehung der Ge- schlechtsunterschiede. Breslauer ärztliche Zeitschrift. 1881. 26 Emil Yung, Über den Einfluß verschiedener Nahrungsmittel sich entwickelnde Kaulquappen im Mittel 15 mm maßen, hatten die seinen nur eine Länge von 12—15 mm. Die Trefflichkeit dieses Ge- menges von organischem Detritus als Nahrung wird noch durch die Thatsache bestätigt, dab eines der Aquarien, welches durch einen Zufall Schlamm enthielt, Kaulquappen enthielt, die 2—5 mm größer waren als die Tiere der übrigen Aquarien, sich also den im Freien sich entwickeln- den Kaulquappen in den Größenverhältnissen näherten. Die Kaulquappen, die nur Pflanzennahrung erhielten, blieben kleiner als die, welche mit Fleisch genährt wurden, eine Beobachtung, die mit meinen Resultaten übereinstimmt. Doch hat Born einige ent- wickelte Frösche in den Aquarien mit Pflanzen erhalten, wenn schon eine kleinere Zahl als in den andern. Diese Angabe stünde im vollständigen Widerspruch mit einem der Schlüsse, zu welchen ich kam, wäre das Experiment Borv’s mit den meinen zu vergleichen. Doch dem ist nicht so. Denn Born ließ seine Kaulquappen, die im gleichen Gefäß abgingen — und die Sterblichkeit war ziemlich groß — von den überlebenden Tieren verzehren; die Nahrung war also eine sehr gemischte. Unzweifel- haft haben die Kaulquappen die Tendenz, Fleisch zu fressen. Aus diesem Grunde wurde bei meinen Versuchen jeder Leichnam entfernt, damit in keiner Weise die Resultate getrübt werden konnten. Das sind meines Wissens die Arbeiten, welche mit meiner eigenen, deren erster Teil, Prüfung des Einflusses verschiedener Nahrungsmittel auf die Schnelligkeit der individuellen Entwickelung, hier wiedergegeben wird, einige Analogien besitzen. Am 24. März 1881 erhielt ich im Laboratorium befruchtete Frosch- eier. Die ersten Entwickelungsstadien verliefen regelmäßig. Am 27. be- gannen die ersten Larven auszukriechen. Am 1. April nahmen die Ex- perimente ihren Anfang. Die jungen Kaulquappen, Abkömmlinge einer Mutter, wurden, nachdem sie ausgekrochen waren, sorgfältig von der Albuminsubstanz isoliert, welche die Eier einhüllt und ihnen in den ersten Lebens- tagen zur Nahrung dient. Darauf wurden sie in eine Reihe gleich- geformter Gefäbe, die eine gleiche Menge Wasser enthielten, in gleicher Zahl verteilt. Diese Gefäße wurden den gleichen physikalisch-chemischen Bedingungen ausgesetzt, den gleichen Beleuchtungs- und Temperatur- verhältnissen etc. In gleichen Zeiträumen wurde das Wasser gewechselt. Nur eine Bedingung ist verschieden, die Nahrung. Das Gefäß A enthält nur Wasserpflanzen (Anacharis canadensis und Spirogyra), die vorher sorgfältig gewaschen worden waren und so von organischen Überresten, die ihnen in den Sümpfen anhingen, befreit wurden. Das Gefäß B enthielt nur Fischfleisch zur Ernährung der Tiere (vor- nehmlich Phoxinus), das in Stückchen geschnitten und oft erneuert wurde. Die Larven des Gefüßes C erhielten Rindfleisch, das in gleiche Stücke wie das Fischfleisch zerschnitten wurde. Die Insassen des Gefäßes D erhielten anfänglich Eiweiß, das die Froscheier umschließt; nach einem Monat, als man sich diese Substanz, die »Froschmilch«, nicht mehr verschaffen konnte, wurde sie durch flüssiges Hühnereiweiß ersetzt. auf die Entwickelung von Rana esculenta. 27 Den Tieren des Gefäßes E wurde koaguliertes gehacktes und oft erneuertes Hühnereiweiß gegeben; denen im Gefäß F nur das zerkleinerte Gelbe des Hühnereis. R Gegenwärtig kann ich 1 Resultate, die ich mit andern Nahrungs- mitteln erhielt, z. B. mit Gummi, Zucker, Fett etc., noch nicht net machen, da sie eines Zufalls wegen zu unsichere Daten ergaben. Die Zahl der Kaulquappen, welche ursprünglich in jedes Gefäb versetzt wurden, betrug 50. Da jedoch die Sterblichkeit ungleich war, traten schon in den ersten Tagen Ungleichheiten in der Zahl auf und man konnte, auf SENPER’ s Versuche sich stützend, diesem Umstande die gewonnenen Resultate abe: A priori ist es sicher, daß in einem beschränkten Raum und im Hinblick auf geringe Quantitäten von Nahr- ung eine kleinere Individuenzahl besser leben wird als eine große und daß für sie der Kampf ums Dasein leichter sein wird; aber diese Be- dingungen geringer Nahrungsmenge und anderer physiologischer Notwen- digkeiten bestanden nicht. Die Kaulguappen hatten Nahrung im Über- fluß zur Verfügung, der Tisch war stets für eine größere Zahl, als wie sie durch die Insassen der Gefäße repräsentiert war, gedeckt. Was die hypothetische Substanz betrifft, die Semrer im Wasser annahm und welche die Entwickelung des Zimnaeus begünstigt haben sollte, so scheint sie, wenn sie überhaupt existiert, keinen großen Einfluß auf die Kaulquappen zu haben. Folgendes Experiment beweist das. In zwei Gefäße G und H, den oben erwähnten Gefäßen in allen Be- ziehungen vergleichbar, brachten wir während der für die Entwickelung der Kaulquappen bis zur Umwandlung in den Frosch notwendigen Zeit genau die gleiche Nahrungsmenge, die auch in gleicher Weise erneut wurden. Das Gefäb G enthielt aber nur 25 5 Kaulquappen, während in das Gefäß H 100 gesetzt wurden. Während der ganzen Zeit des Versuchs wurde dieses Verhältnis 1:4 beibehalten. Trotz dieser numerischen Verschie- denheit vollzog sich die Entwickelung der Tiere in beiden Gefäßen in gleicher Weise und die Umwandlung der Kaulquappen in Frösche vollzog . sich fast zu gleicher Zeit. Dieser Versuch zeigt uns, daß in den gleichen Medien, da wo die Nahrung im Überfluß vorhanden ist, die Entwickel- ung in gleicher Weise verläuft. Die Sterblichkeit in den verschiedenen Gefäßen ließ ich daher außer acht und hielt es für unnötig, für die Gleichheit der Individuen- zahl zu sorgen. Wir haben also sechs Gefäße, die Kaulquappen enthalten, welche den gleichen Bedingungen, die Ernährung ausgenommen, unterworfen sind. Diese einzige Bedingung reicht hin, um große Unterschiede in der Entwickelung hervorzurufen. Schon vom ersten Tag an zeigten sich die Unterschiede in allen Gefäßen. Indessen werden sie erst vom 15. Tag an sehr merklich. Der relative Entwickelungsgrad wurde bestimmt, indem an einer bestimmten Zahl von Kaulquappen in jedem Gefäß mit einem Zirkel die Länge (von der Schnauze bis zum Schwanzende) und die Breite (in der Höhe der Kiemen) gemessen wurde. Es wurden jeweilen, um die mittlere 28 Emil Yung, Über den Einfluß verschiedener Nahrungsmittel Größe möglichst genau zu bestimmen, sehr differente Individuen aus- gewählt. So erhielt ich folgende Resultate: Gefäß A. Während der ersten Tage werfen sich die jungen Kaulquappen mit Begierde auf die Pflanzen, die ihnen zur Nahrung ge- boten wurden. Sie sind lebhaft, munter und konsumieren viel Nahrung. Bis zum 20. April ist der Gesundheitszustand aller Insassen gut, denn bis zu diesem Tage war noch keiner gestorben. Um die Entwickelung der Infusorien zu verhindern, welche bis zu einem gewissen Grad auf die Versuchsbedingungen influieren, wurde das Wasser alle Tage erneut. Am 20. April ergaben die Messungen folgende Größenverhältnisse: Gefäß A (20. April). Gefäß A (12. Mai). Länge Breite Länge Breite 21 mm 5 mm 23,15 'mm 6 mm 14 >» 3 » 15 » B > 16 > 35 >» 16,5 =. Ve Total... 51 mm 11,5 mm Totale. (55 mm 12,5 mm tele: El 2 3,812 Mittel . 18,33 >» 4,16 >» Von diesem Tag an scheint der Appetit der jungen Tiere sich zu verringern; die Kaulquappen entfernen sich von den Pflanzen und steigen an die Oberfläche. Die Entwickelung wird langsamer. Immer sind sie sehr lebhaft. Ein Stoß an den Tisch versetzt alle in lebhafte Bewegung. Bis zum 12. Mai ist noch kein Tier verendet. Die Grössenverhältnisse sind folgende (siehe oben). Die Mehrzahl hat seit dem 20. April wenig Fortschritte gemacht. Nur zwei oder drei Individuen erreichten eine Größe von mehr als 20 mm. Das erst gemessene ist das größte von allen in diesem Gefäß, das zweite das kleinste. Die Kaulquappen fristen zwar ihr Leben noch, aber die Pflanzenkost läßt sie nicht größer werden. Am 13. Mai sind zwei gestorben. Das Wachstum hört völlig auf und die Sterblichkeit wird von Tag zu Tag größer. Am 8. Juni sind nur noch vier Kaulquappen in dem Gefäß. Sie haben die gleiche Größe wie am 12. Mai. Kaum können sie sich noch bewegen. Die hintern Gliedmaßen sind bei keiner vorhanden. Sie fressen nicht mehr und sie zeigen überhaupt den Zustand von Kaul- quappen, die man verhungern läßt. Am 4. Juli starb die letzte, ohne dab eine Metamorphose sich vollzogen hätte. Sie hatte eine Länge von nur 17 mm. Diese negativen Resultate wurden durch ein anderes Experiment, das nur mit 25 Individuen angestellt wurde, durchaus bestätigt. Daß das Aufhören der Entwickelung wirklich von der ausschließlichen Pflanzen- kost abhängt, beweist der Umstand, daß wenn man mit den Algen, die zur Nahrung dienten, etwas Fleisch zusetzt, sobald die Tiere sich nicht mehr weiter entwickeln, sofort ihr Wachstum wieder beginnt. Gefäß B. Am 1. April wurden die Kaulquappen zugleich mit einem Überschuß von Nahrung, welche mit großer Begierde aufgenommen wurde, in dieses Gefäß versetzt. Das Fischfleisch ist ihnen sehr zu- träglich. Alle drei Tage wird es erneut. Nicht daß dasselbe nach auf die Entwickelung von Rana esculenta. 29 dieser Zeit verdorben wäre; aber es entwickeln sich an der Oberfläche Pilze, welche auf die Resultate störenden Einfluß haben könnten. Schon am 20. April sind sie groß und stark. 3 Individuen starben beim Wasserwechsel zufällig. Die 47 übrigbleibenden fressen immer mit Begierde. Folgendes sind die beobachteten Gröbßenverhältnisse: Gefäß B (20. April). Gefäß B (12. Mai). Länge Breite Länge Breite 30 mm 7 mm 41 mm 9,50 mm 26 > 6 » Sn 8 al’y> 6,79..3 38 > BT7D. > ikotal... 87 mm - 19,75 mm Total... 114 mm 26,25 mm Mittel .- .. 29.» 6,58 > Mittel... 38 >» 8,78 Man sieht aus diesen Zahlen, daß die Größenunterschiede im Ver- gleich zu den mit Pflanzen ernährten Tieren ganz beträchtliche sind. Bis zum 12. Mai erfreuen sich alle Kaulquappen bester Gesundheit und wachsen stark. Noch keine besitzt die hintern Gliedmaßen, doch sind sie bei mehreren durch einen Vorsprung angedeutet. Im allgemeinen sind sie gefleckter als die kleinsten der andern Gefäße (siehe oben). Am 20. Mai beobachtete man an einer Kaulquappe die hintern Gliedmaßen, vier Tage später bei fünf weitern. Sieben Individuen sind gestorben. Am 3. Juni zeigt ein Individuum schon die vordern Gliedmaßen, während drei des gleichen Gefäßes noch keine haben. Diese Thatsache gibt eine Vorstellung der individuellen Differenzen. Acht Kaulquappen, die auf dem Punkte standen, diese Metamorphose durchzumachen, starben. Die Umwandlung in junge Frösche vollzog sich während des Mo- nats Juni. In das Gefäß wurde ein Tuffsteinblock gestellt, welcher ihnen ermöglichte, atmosphärische Luft aufzunehmen. Doch zu Ende der vollständigen Metamorphose nehmen die Tiere keine Nahrung mehr zu sich und sterben nach Verlauf einiger Tage. Von den 50 mit Fischfleisch gefütterten Kaulquappen machten 24 die vollständige Umwandlung durch, also nahezu 50°/o. Diese Ernährung ist also günstig. Ich muß hinzufügen, daß man annimmt, daß in der Natur die Sterblichkeit viel größer ist, und obgleich man diese Ansicht nicht mit statistischen Daten belegen kann, ist sie doch in hohem Grade wahrscheinlich. Denn in unsern Gefäßen wurden die jungen Tiere sehr sorgfältig gepflegt. Vor allen mechanischen Gefahren waren sie sicher gestellt; kein anderer Feind bedrohte sie als die Pilze, welche sich auf ihren Kiemen entwickeln und stets die Todesursache einiger Individuen sind. Anderseits muß noch bemerkt werden, daß erst um die Mitte des Monats Juni in den Sümpfen der Umgebung die ersten Frösche erscheinen. Gefäß C. Die 50 Kaulquappen, welche in dieses Gefäß versetzt wurden, erhalten nur Rindfleisch und zwar in annähernd gleicher Menge wie die vorigen das Fischfleisch, also immer im Überfluß. Am 20. April sind noch alle Kaulquappen am Leben und zeigen immer großen Appetit. Zwei Mißgeburten finden sich unter ihnen. Ihr Schwanz bildet einen Winkel mit der Längsachse des Körpers. Sie können 30 Emil Yung, Über den Einfluß verschiedener Nahrungsmittel sich deshalb nicht so leicht bewegen wie die andern. Ihre Mißgestalt macht es ihnen unmöglich, eine gerade Linie zu beschreiben, erschwert ihnen das Suchen der Nahrung. Sie blieben deshalb sehr klein. Die Messungen ergaben folgende Resultate: Gefäß C (20. April). Länge Breite 34 mm 7,25 mm 25 >» (die kleinste) DD 29 » 6 Hotal.e...n.' 88 mm 18,75 mm Mittel... .ı. ı 29,908. 6,25 >» Die zwei Mißgeburten. 14 mm 3 mm ll >» 95 >» Die viel größern und besser genährten Kaulquappen dieses Gefäßes zeigten beträchtlichere Widerstandsfähigkeit gegen das Aushungern als die mit Pflanzenstoffen ernährten. Am 20. April wurden 3 Kaulquappen mittlerer Größe aus den Gefäßen A und © in einer gleichen Menge Wasser, die gleich häufig er- neut und gelüftet wurde, einer Hungerkur unterworfen. Die 3 Kaul- quappen aus dem Gefäße A, die bis dahin mit Pflanzen ernährt worden waren, verendeten am 10., 11. und 13. Tag nach dem Nahrungsentzug, während die mit Rindfleisch ernährten 47, 55 und 68 Tage dem Aus- hungern widerstanden. Sie hatten also bedeutend 'mehr Reservenahrung in sich aufgespeichert als die ersten. Ich erinnere bei dieser Gelegenheit daran, daß CHossar, Boussın- GAULT, LETELLIER einerseits an Turteltauben, Bıipper und Scaumipr ander- seits an einer Katze experimentell nachwiesen, daß diese Tiere auch während des Hungerns von ihren Geweben konsumierten, daß jedoch nicht nur das im Organismus angehäufte Fett und das Blut, mit andern Worten jene Stoffe, welche Mıunz EpwArps Reservenahrung nennt, ver- braucht, sondern daß auch von den Muskeln und allen andern lebenden Teilen des Organismus die verbrauchten Stoffe geliefert werden. Dasselbe gilt auch für die Kaulquappen, die stark abmagerten und kleiner wurden. Vom 20. April bis zum 12. Mai starben 6 Individuen. Am 12. Mai sind die 41 Überlebenden in gutem Gesundheits- zustand; sie sind im allgemeinen größer als die mit Fischfleisch er- nährten; doch ist die Differenz nicht groß. Die zwei Krüppel sind nur 1 oder 2 mm größer geworden; sie liegen am Grund des Gefäßes und bewegen sich nur, wenn man sie berührt. Nähert man ihnen ein Stück Fleisch, so fressen sie davon; selbst aber können sie sich keines verschaffen. Gefäß C (12. Mai). Länge Breite 47 mm 9 mm 41,5 » 9,5 > 42 » S) > Total. ...0.130 mm 27,50 mm Mittel... 43,50 >» ya auf die Entwickelung von Rana esculenta. 31 Am 18. Mai zeigt die erste Kaulquappe die hintern Gliedmaßen ; am 20. und 21. zwei weitere und in den folgenden Tagen noch eine größere Zahl. Am 20. Mai starb einer der Krüppel. Am 27. Mai hatte der dritte Teil der Bevölkerung dieses Gefäßes die hintern Gliedmaßen. 5 sind gestorben. Am 1. Juni erhielten 2 Individuen während der Nacht die vordern Gliedmaßen. Eine einzige Kaulgquappe, den noch überlebenden Krüppel ausge- nommen, der von Zeit zu Zeit mit dem Schwanz etwas rudert, aber nicht größer wird, hat die hintern Glieder noch nicht erhalten. Am 8. Juni hat sich etwa der vierte Teil in Frösche umgewandelt; schnell wird der Schwanz resorbiert, doch sterben mehrere, bevor sie ihn vollständig verloren haben. Die Metamorphosen dauern bis zum 24. Juni. Am 28. sind alle umgewandelten Individuen tot. Nur eines überlebt seine Genossen, jene eine Kaulquappe, die auch jetzt noch keine Glieder besitzt und nur etwa eine Länge von 20 mm besitzt. 35 Larven entwickelten sich in diesem Gefäß zu Fröschen, also 66°/o der Kaulquappen. In keinem andern Gefäß entwickelten sie sich so rasch wie in diesem, ein Umstand, der zweifellos der Nahrung zuzu- schreiben ist. Gefäß D. Wir sagten, daß versucht wurde, diese Kaulquappen mit der Albuminsubstanz zu ernähren, welche die Froscheier umhüllt und normal den jungen Tieren zur Nahrung dient. Dieser Versuch miß- lang, weil nach einem Monat die Substanz nicht mehr beschafft werden konnte. Vom 1. Mai an mußten daher die Versuchsbedingungen geändert werden. Die Kaulquappen erhielten flüssiges Hühnereiweiß, das oft er- neut wurde. Während der ersten Tage konsumierten die Kaulquappen viel Froschalbumin, doch nach und nach blieben sie hinter den mit Fleisch oder koaguliertem Eiweiß ernährten Larven zurück. Am 20. April zeigen die Kaulquappen wenig Lebhaftigkeit, sie sind in ihren Bewegungen sehr langsam, gleichen jenen mit Pflanzenkost, also ungenügend ernährten Tieren. Folgendes sind die beobachteten Größenverhältnisse: Gefäß D (20. April). Gefäß D (12. Mai). Länge Breite Länge Breite 19 mm 4,25 mm 26 mm 6 mm 13.8013 3,50 >» 19,9 > 4,5 » 130122, 45010 > 24 Be Total ... 53 mm 12,25 mm Total... 69,5 mm 16,0 mm Mittel... 17,66: > 4,08 > Mittel... 23,16 » Apane ie. Am 1. Mai gab man ihnen flüssiges Hühnereiweiß, das sie in reich- licher Menge zu sich nahmen. Unglücklicherweise drangen einige in das Hühnereiweiß hinein, verwickelten sich und erstickten. 10 Stück verlor ich derart. Der größere Teil aber war gegen einen solchen Zufall geschützt, da das Albumin mit dem Wasser in Berührung halb koagulierte.e Der Hunger der ersten Tage dauert nicht an. Die Kaul- 32 Emil Yung, Über den Einfluß verschiedener Nahrungsmittel quappen fressen nur noch selten und man überzeugt sich bald, daß das Albumin in dieser Form keine günstige Nahrung ist. Am 12, Mai wurden folgende Dimensionen beobachtet (siehe oben). Die Mehrzahl der überlebenden Kaulquappen, 28 der Zahl nach, hat eine Länge von 22—26 mm. Drei oder vier Individuen nähern sich der Länge des kleinsten im Gefäß, das 19,5 mm lang ist. Fünf Krüppel lasse ich außer acht. Sie wurden es durch den Nahrungswechsel und haben nur sehr wenig an Größe zugenommen. Vom 12. Mai bis zum 29. wurde die Sterblichkeit in dem Gefäß sehr groß. Das flüssige Eiweiß genügt nicht mehr für die Ernährung. Am 29. Mai starb die letzte Kaulquappe. Sie hatte eine Länge von 28 mn. Gefäß E. Die Kaulquappen in diesem Gefäß erhielten gekochtes Hühnereiweiß. Es wurde ihnen in Form dünner Blättchen gegeben, von welchen sie mit ihren Lippen die Stücke unregelmäßig abbissen. Diese Nahrung sagt ihnen zu. Der größte Teil entwickelt sich über die ersten Metamorphosen hinaus. Oft wurden die Eiweißstücke erneut, um die Schimmelbildung an ihrer Oberfläche zu verhüten. Bis zum 20. April starben nur 4 Individuen; die andern sind sehr lebhaft. Ihrer Größe nach halten sie die Mitte zwischen den mit Pflanzen- kost und mit Fleisch ernährten, nähern sich jedoch mehr den letztern. Gefäß E (20. April). Gefäß E (12. Mai). Länge Breite Länge Breite 27,5 mm 6 mm 34 mm 6,50 mm 22 > 4 > 36 ”. 34,0 Dos aues 238 » 5,75 >» 29 >» 6 » Totale 2 77,50 mm’ !N1578°mn Total . . 99 mm 7 ya Mittel. 2 25,83 > DH Mittel. . 33 > 6,58 >» Von diesem Momente an wuchsen sie verhältnismäßig langsamer als die mit Fleisch ernährten. Es zeigen sich während dieser Periode einzelne Monstrositäten, indem die Achse des Schwanzes von ihrer nor- malen Richtung abweicht; sie bildet einen bald größern, bald kleinern Winkel mit der Medianlinie des Körpers. Einzelne sind derart ver- krüppelt, daß es ihnen unmöglich ist, sich zu bewegen. Bewegungslos verharren sie, bis man sie reizt. Dann machen sie einige Anstrengungen, um ihre Lage zu verändern. 11 Individuen zeigen diese Mißgestaltung und bleiben klein. Vergleicht man diese Zahl mit der früher bei den mit flüssigem Eiweiß ernährten Tiere angegebenen, so liegt es nahe zu vermuten, daß diese Monstrositäten mit der Nahrung im Kausal- zusammenhang stehen. Doch ich will nur die Thatsache erwähnen. Bis zum 12. Mai starben 12 weitere Kaulquappen. Die 23 über- lebenden nicht krüppelhaften Tiere erfreuen sich guter Gesundheit. Fol- gendes sind ihre Größenverhältnisse (siehe oben). Am 23. Mai zeigen sich die hintern Gliedmaßen bei einem Indi- viduum. Es ist dieser eine Fall eine Verfrühung; denn erst sechs Tage später kommen neue Metamorphosen zur Beobachtung. Im Vergleich zu den mit Fleisch ernährten Kaulquappen sind diese im Rückstand, denn jene besaßen um diese Zeit fast durchgängig diese Glieder. auf die Entwickelung von Rana esculenta. 33 Am 8. Juni finden wir nur bei einem Tier die 4 Gliedmaßen, 10 haben nur die hintern, und 8, darunter 6 Krüppel, besitzen auch diese noch nicht. Acht Tage später sind zwei kleine Frösche da. Noch 8 Meta- morphosen vollenden sich in den nächstfolgenden Tagen. Am 350. Juni sind nur noch die Krüppel ohne Glieder. Die Gesamtzahl der erhaltenen jungen Frösche beträgt 10, d.h. 20°o der Versuchstiere. Diese Thatsache, daß bei ausschließlicher Albuminnahrung mehrere Kaulquappen sich vollständig entwickelten, scheint mir interessant, denn sie entkräftet für diese Tiere die Bedeut- ung des Gesetzes von der Notwendigkeit der Mischung plastischer und respiratorischer Nahrungsmittel. Gefäß F. Die Kaulquappen dieses Gefäßes wurden mit koagu- liertem Hühnereigelb gefüttert. Diese viel komplexere Masse als das Weiße enthält bekanntlich eine beträchtliche Menge Fett. Es ist daher besonders interessant, sie beide mit einander zu vergleichen. Das Re- sultat ist ein ganz unerwartetes, denn diese Substanz ernährt die Kaul- quappen weniger gut als die weiße und verzögert ihre Entwickelung etwas. Immerhin fressen die jungen Tiere ohne Widerwillen von ihr. Oft überrascht man sie, wie sie Stücke verzehren und sich um ihren Besitz streiten. Nachfolgendes die Größenverhältnisse am 20. April und 12. Mai: Gefäß F (20. April). Gefäß F (12. Mai). Länge Breite Länge Breite 24 mm 5 mm 24 mm 5.5. mm 20 4. » 25 » a) > 22,5 a 29, > 6,5 Rolaler 766,5. mm. 13,5,mm Totale 278 mm 7,5 mm Mittel. . 22,16 >» 45 » Mittel... 26 >» 5,85 > Auch in diesem Gefäße bildeten sich einige Monstrositäten. Bis zum 20. April waren 7 Kaulquappen gestorben und 5 mißgebildete ent- standen. Die andern verzehren die gebotene Nahrung, allerdings ohne dabei sonderlich zu gedeihen, wie wir aus folgenden Zahlen ersehen (siehe oben). Die Krüppel wuchsen auch in diesem Fall nur sehr wenig. Am 8. Juni, zur Zeit also, da schon 10 der mit Eiweiß ernährten Kaulquappen die hintern Gliedmaßen hatten und eine auch die vordern, hatte nur eine der mit Eigelb genährten die hintern Glieder. Bald dar- auf erschienen sie allerdings auch bei andern. Am 24. Juni erhielt ich den ersten jungen Frosch. In den letzten Tagen nahm die Sterblichkeit bedeutend zu. Am 30. Juni haben 7 In- dividuen eine vollständige Metamorphose durchgemacht, der Rest ist gestorben. Fassen wir die gewonnenen Thatsachen nochmals kurz zusammen: Aus unsern Versuchen ergibt sich 1) daß die Kaulquappen, die von einer Mutter stam- men, sich sehr vers@hieden entwickeln je nach der Nahr- ung, die man ihnen bietet; Kosmos 1884, II. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XV). 3 34 Emil Yung, Über den Einfluß verschiedener Nahrungsmittel etc. 2) daß die Nahrungsstoffe, um die es sich hier handelt, der individuellen Entwickelung in folgender Ordnung vor- teilhaft sind: Rindfleisch, Fischfleisch, koaguliertes Hühnereiweiß, Hühnereigelb, Albuminsubstanz von Frosch- eiern und flüssiges Hühnereiweiß, vegetabilische Sub- stanzen. Die vergleichende Zusammenstellung der Mittelwerte der Größe läßt diese Thatsache besonders deutlich erkennen. I. Tabelle. Mittlere Größe der Froschlarven 20 Tage nach Beginn des Ex- perimentes: A B C D E F Länge... 17 29 29,33. 17,66... 25.53 Breiie 2. „18,8 6,58 6,25 4,08 5.25 4,50 II. Tabelle. Größe 42 Tage nach Beginn des Experimentes: A B C D E F Tanker... N 1833 wlra8 A3i5.)), 28:16) Ms 26 Breite... 416 8,78 916 5,33 6,58 5,83 III. Tabelle. Relative Zahl der jungen Frösche, welche am 30. Juni auf je 50 Kaulquappen erhalten wurden. GeasBam 0 70% B 24 48 » sr 66° a) 0 0 >» 3 #6 11020" % » F DA IV. Tabelle. In folgender Ordnung rangieren sich die Gefäße nach der Schnellig- keit der Entwickelung: Gefäß C 1. Juni 2 Frösche 3 Br ee 1 Frosch NE, om 1 Frosch >», ıB 4 DA 1 Frosch; 3) daß Pflanzenkost für sich nicht hinreicht, um die Kaulquappen sich zu Fröschen entwickeln zu lassen; 4) daß dagegen eine relativ einfache plastische Sub- stanz, wie das Weiße des Hühnereies, dazu genügt. Die Schwere oder das Wirksamwerden der potentiellen Energie. Von Baron N. Dellingshausen. (Schluß) N. Das Gesetz der allgemeinen Schwere. Indem wir bisher unsere Untersuchungen auf einen bestimmten Ort auf der Oberfläche der Erde beschränkten, konnten wir die veranlassende Ursache der Schwere oder die Gravitationswellen in allen Fällen als gleich und unveränderlich voraussetzen. Aus der Proportionalität der Trägheit oder der Arbeit, welche den Körpern eine bestimmte Geschwin- digkeit erteilt, und der unter dem Einflusse der Gravitationswellen frei- werdenden potentiellen Energie oder der Arbeit, welche die fallenden Körper in Bewegung versetzt, ergab sich für alle Körper eine gleiche Beschleunigung nach dem Mittelpunkte der Erde. Bekanntlich ist aber die Beschleunigung der Körper durch die Schwere nicht allein auf den verschiedenen Weltkörpern verschieden, sondern sie verändert sich auch mit der Entfernung von den Gravitationsmittelpunkten und ist sogar auf der Oberfläche der Erde nicht überall vollkommen gleich. Es bleibt uns daher noch übrig, diese Verschiedenheiten zu erklären oder das Gesetz der allgemeinen Schwere zu erkennen. Bisher wurden die Bewegungen der Weltkörper durch das Nrwron’sche Gesetz geregelt; dieses Gesetz lautet: Die Körper üben aufeinander eine anziehende Kraft aus, welche ihren Massen direkt und dem Quadrate ihrer Entfernung von einander umgekehrt proportional ist. Durch die Erfolge, welche die gegenwärtig noch herrschende At- traktionslehre mit Hilfe dieses Gesetzes erreicht hat, sind die Natur- forscher in dem Glauben an eine unvermittelt in die Ferne durch den leeren Raum wirkende Anziehungskraft bestärkt worden, wobei jedoch nicht berücksichtigt worden ist, dab die Astronomen nicht mit Kräften, sondern nur mit ihren vermeintlichen Wirkungen, den Beschleunigungen der Weltkörper zu einander rechnen. Diese Beschleunigungen werden 36 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden aber einfach den Beobachtungen entnommen, welche zwar die Bewegun- gen der Weltkörper, nicht aber die dabei wirkende Ursache erkennen lassen. Erst durch die Voraussetzung einer den Massen proportionalen Anziehungskraft ist die Ursache der kosmischen Bewegungen in die Weltkörper hineingelegt worden, nachdem man zuvor noch die Massen der Weltkörper den beobachteten Beschleunigungen entsprechend be- stimmt hatte. Wenn das Nrwron’sche Gesetz sich somit auf eine An- ziehungskraft beruft, so spricht es mehr aus, als den Beobachtungen entnommen werden kann, es schließt eine jener vielfachen Hypothesen in sich ein, die stets dann gemacht werden, wenn man sich noch in Unkenntnis über die wahre Ursache einer Erscheinung befindet. Soll daher das Gravitationsgesetz von seinem hypothetischen Teile befreit werden, so muß man in ihm den Ausdruck »anziehende Kraft« durch die richtige Bezeichnung der beobachteten Thatsache, d. h. durch »Be- schleunigung« ersetzen; als Resultat der astronomischen Beobachtungen würde es dann lauten: Die Beschleunigung der Körper zu einanderist der Masse des Zentralkörpers direkt und dem Quadrate der Entfernung von seinem Mittelpunkte umgekehrt propor- tional. In dieser Form ist das Gravitationsgesetz ein getreuer Ausdruck der beobachteten Thatsachen und kann daher zu keinen Mißverständ- nissen mehr Anlaß geben. Die wahre Ursache der Gravitation verbirgt sich nicht mehr hinter der Voraussetzung einer Anziehungskraft, sondern die Erscheinung erfordert eine weitere Erklärung; die Bedeutung der »Masse« haben wir auch schon bereits als die Quantität der Bewegung in den Körpern erkannt. Das obige Gesetz enthält somit nichts Hypo- thetisches mehr in sich. Die uns gestellte Aufgabe besteht aber nicht allein darin, dieses Gesetz den Beobachtungen zu entnehmen, sondern sie verlangt auch, daß wir seine notwendige und allgemeine Gültigkeit aus den Grundlagen der kinetischen Naturlehre selbst entwickeln. Als Ausgangspunkt für unsere weiteren Untersuchungen sind uns aber nur der Weltäther und die in denselben eingetauchten Weltkörper gegeben. — Soll daher die kinetische Naturlehre sich auch in der vorliegenden Frage bewähren, so müssen sich aus den Vorstellungen, zu welchen wir über den Weltäther und die Weltkörper gelangt sind, sowohl das Gesetz der allgemeinen Schwere wie auch der Bau des Weltalls ergeben. Den Weltäther haben wir aber bereits als ein vollkommenes Gas unter sehr geringem Drucke und von sehr geringer Temperatur erkannt. Wie in den Körpern überhaupt, so läßt sich auch in ihm jeder Punkt als Ausgangspunkt elementarer Ätherwellen betrachten, die sich nach allen Seiten kugelförmig ausbreiten und dabei die Bewegungen aller übrigen Punkte beeinflussen. Umgekehrt befindet sich auch jeder Punkt unter dem Einflusse der ihn erreichenden, von den übrigen Punkten ausgehen- den Wellen, wobei durch die vollkommene Gegenseitigkeit aller Wechsel- wirkungen die Unvergänglichkeit der elementaren Bewegungen im Welt- äther aufrecht erhalten wird. Indem die elementaren Ätherwellen von jedem Punkte ausgehen und sich nach allen Seiten ausbreiten, treffen der potentiellen Energie. IV. 37 sie auch notwendigerweise, in entgegengesetzter Richtung fortschreitend, aufeinander und verwandeln sich dabei in stehende Wellen. Ebenso unvermeidlich ist es aber auch, daß die von den verschiedenen Punkten ausgehenden Ätherwellen, in gleicher oder fast gleicher Richtung fort- schreitend, vielfach in entgegengesetzten Schwingungszuständen zusam- mentreffen und sich dabei gegenseitig neutralisieren. Auf diese Weise stellt sich der Weltäther als ein im unendlichen Raume ausgebreitetes, in stehender Schwingung begriffenes Medium heraus, welches durch seine fast ausschließlich potentielle Energie uns als kalt und widerstandslos und schon wegen seiner allgemeinen Gleichartigkeit als leer und unver- änderlich erscheint. Wäre der Weltäther allein im Raume vorhanden, so könnte er in einem äuberlich bewegungslosen Zustande weiter be- stehen, da bei der Gleichartigkeit des Ganzen auch jede Veranlassung zu einer Veränderung fehlen würde. Ausser dem Weltäther sind aber noch unzählbare Weltkörper vor- handen, die als Sonne, Planeten und Fixsterne an unserem Himmel glänzen. Sie unterscheiden sich von dem Weltäther nicht allein durch ihre abweichenden Eigenschaften, sondern auch durch den Werth ihrer inneren Energie. Während der Weltäther bei einer verhältnismäßig sehr geringen Energie nur mächtig ist durch die Unendlichkeit des Raumes, den er erfüllt, bergen die Weltkörper bei einer zu ihren Entfernungen von einander fast verschwindenden Größe gewaltige Arbeitsvorräte in sich, die sie fähig machen, ihren Einfluß auf den Weltäther bis in weite Fernen auszuüben. Aus der Erkenntnis dieses Einflusses der Weltkörper auf den Weltäther muß sich daher auch das Gesetz der allgemeinen Schwere ergeben. Wir haben bereits erkannt, daß die bloße Anwesenheit eines fremd- artigen Körpers innerhalb eines gleichförmigen, in stehender Schwingung begriffenen Mittels dazu genügt, um in diesem eine allgemeine, konzen- trisch nach dem Mittelpunkte des Körpers gerichtete Bewegung von fortschreitenden Wellen anzuregen. In derselben Lage befinden sich aber die Weltkörper; indem sie, von dem Weltäther umflossen, die auf sie treffenden und sie durchdringenden Ätherwellen ganz oder teilweise ab- sorbieren und in innere Bewegungen umwandeln, berauben sie dadurch bis in weite Fernen andere Ätherwellen ihrer zur Bildung der stehenden Wellen unentbehrlichen Komponenten und zwingen dadurch die entgegen- gesetzten Komponenten, als fortschreitende hellen weiter zu an und sich nach der Richtung hin fortzupflanzen, von wo aus die nunmehr fehlenden Ätherwellen herkamen, d. h. in der Richtung nach dem Mittel- punkte des die allgemeine Gleichartigkeit des Weltäthers störenden Körpers. Durch die beständigen Wiederholungen des soeben geschilderten Vorganges, welcher mit einer der Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Ätherwellen gleichen Geschwindigkeit sich nach allen Richtungen fühlbar macht, wird jeder Weltkörper zu einem Brennpunkte are nach seinem Mittelpunkte sich fortpflanzender und beständig aufeinander fol- gender Ätherwellen, die wir bereits wegen ihrer schwermachenden Wirkung auf die Körper als Gravitationswellen bezeichnet haben. Den Einfluß, den die Gravitationswellen ihrerseits an der Ober- 38 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden fläche der Erde auf die ponderablen Körper ausüben, haben wir auch schon früher untersucht. Wir fanden, daß durch die Veränderungen der inneren Bewegungen, welche die Gravitationswellen in den frei- beweglichen Körpern hervorbringen, diese in eine beschleunigte, nach dem Mittelpunkte der Erde gerichtete Bewegung versetzt werden und daß durch die gleichzeitig eintretenden Störungen der inneren Inter- ferenzen ein Teil der potentiellen Energie zur Wirksamkeit gelangt und sich dann als lebendige Kraft oder als Arbeit oder als Druck der Körper auf ihre Unterlage äußert. Genau denselben Einfluß wie auf die irdischen Körper üben die Gravitationswellen auch auf die einzelnen Weltkörper aus und versetzen sie dadurch in eine gegen einander gerichtete Bewegung. Selbstver- ständlich gehören zum Zustandekommen solcher Bewegungen zum min- desten zwei Körper, nämlich: ein Zentralkörper, welcher die Ätherwellen absorbiert und dadurch die Entstehung der Gravitationswellen veranlaßt, und ein zweiter, welcher der Einwirkung derselben ausgesetzt ist. Wäre nur ein Körper, z. B. die Sonne, im Weltraume vorhanden, so könnte durch den Einfluß der nach seinem Mittelpunkt gerichteten Gravitations- wellen noch keine äußere Bewegung entstehen. Die Gravitationswellen würden wegen ihres gleichmäßigen Zusammenströmens von allen Seiten sich gegenseitig neutralisieren und sich darauf beschränken, ohne den Weltkörper selbst in Bewegung zu versetzen, auf seiner Oberfläche die- selben Erscheinungen der Schwere wie auf unserer Erde hervorzubringen, um sodann nach ihrer Absorption als Licht- und Wärmewellen wieder ausgestrahlt zu werden. Ist aber außer dem einen Weltkörper in einiger Entfernung von ihm noch ein zweiter, neben der Sonne etwa noch die Erde in den Weltäther eingetaucht, so ist auch die Unbeweglichkeit beider nicht mehr möglich. Der zweite Körper befindet sich dann nicht mehr in einem vollkommen gleichmäßigen Mittel, sondern in einem Mittel, welches bereits in der Richtung nach dem ersten Weltkörper hin von fortschreitenden Gravitationswellen durchlaufen wird. Indem diese Gra- vitationswellen, aus den weitesten Entfernungen kommend, konzentrisch nach ihrem Zentralkörper zusammenströmen, treffen sie notwendigerweise auch auf den zweiten in den Weltäther eingetauchten Körper und bringen in ihm die uns bereits bekannten Wirkungen hervor. Unter dem Ein- flusse dieser Gravitationswellen wird der zweite Körper genau in der- selben Weise wie die Körper auf der Oberfläche der Erde in bezug auf den ersten Weltkörper schwer und dadurch in eine nach dem Mittel- punkte desselben gerichtete beschleunigte Bewegung versetzt. Aber auch der zweite Körper übt auf den Weltäther genau denselben Einfluß wie der erste aus; durch seine Absorption der ihn treffenden Ätherwellen wird auch er zu einem Mittelpunkte konzentrisch und beständig zu- sammenströmender Gravitationswellen. Indem diese Gravitationswellen auf den ersten Weltkörper treffen und von ihm absorbiert werden, wird er ebenfalls in bezug auf den zweiten Körper schwer und in der Richtung nach dem Mittelpunkte desselben in eine beschleunigte Bewegung versetzt. Dasselbe gilt nun auch von einem dritten, vierten u. s. w. Körper, so viele ihrer auch, von dem kosmischen Mittel umgeben, in dem unend- der potentiellen Energie. IV. 39 lichen Weltraume vorhanden sein mögen. Jeder Weltkörper veranlaßt somit in dem Weltäther eine allgemeine nach seinem Mittelpunkte ge- richtete Fortpflanzung von konzentrischen Gravitationswellen; jeder Welt- körper wird durch die Wirkung dieser Gravitationswellen in bezug auf alle übrigen Weltkörper schwer und dadurch in Bewegung versetzt; mit einem Worte: es bewegen sich alle Körper gegen alle. Mit diesem Resultate ist eigentlich die Gravitation der Weltkörper, ihr Fallen gegen einander bereits erklärt. Es ist daher nur noch er- forderlich, um zu dem Gesetze der allgemeinen Schwere zu gelangen, die Größe der nach den verschiedenen Weltkörpern gerichteten Beschleu- nigung zu vermitteln. Da die Beschleunigung der Weltkörper zu einander eine unmittel- bare Wirkung der sie durchströmenden Gravitationswellen ist, so handelt es sich zunächst darum, die Energie derselben zu bestimmen. Die Energie der Gravitationswellen wird aber jedenfalls von der Absorptions- fähigkeit ihres Zentralkörpers für fortschreitende Wellen abhängig sein, da für jede Ätherwelle, welche ein Körper absorbiert und in innere Be- wegung umwandelt, andere Ätherwellen als fortschreitende Wellen weiter bestehen und zu der Bildung der Gravitationswellen beitragen müssen. Auf die Absorption der Ätherwellen durch die Körper können wir aber am allerbesten aus dem Verhalten derselben gegen die Gravitations- wellen selbst schliessen. Wir fanden bereits, daß die an einem be- stimmten Orte der Erde stets gleichen Gravitationswellen allen Körpern gleiche Beschleunigungen erteilen, d. h. stets gleiche Formveränderungen der inneren Bewegungen hervorbringen. Gleiche Veränderungen der inneren Bewegungen erfordern aber nach dem vorigen Abschnitte Arbeits- leistungen, welche den inneren Bewegungsmomenten oder den Massen der Körper proportional sind. Diese Arbeitsmengen werden von den ponderablen Körpern den sie durchströmenden Gravitationswellen ent- nommen. Jeder Körper absorbiert demnach aus gleichen Gravitations- wellen stets einen seiner Masse proportionalen Teil von Energie. Das- selbe Verhalten müssen wir bei den Körpern auch in bezug auf die sie erreichenden und sie durchdringenden elementaren Ätherwellen voraus- setzen, da diese überall als gleich und unveränderlich angenommen wer- den können. Der aus den elementaren Ätherwellen absorbierten Energie ist aber notwendigerweise die Energie der nach einem Körper konzentrisch zusammenströmenden Gravitationswellen äquivalent, weil für jede Äther- welle, welche ein Körper absorbiert, andere Ätherwellen — wie schon erwähnt — ihren Beitrag zur Bildung der Gravitationswellen liefern müssen. Die Energie der Gravitationswellen ist daher stets der Masse ihres Zentralkörpers proportional. Von diesen konzentrisch nach einem Mittelpunkte zusammenströ- menden Gravitationswellen kann jedoch nur der Teil seine schwer- machende Wirkung ausüben, der auf einen ponderablen Körper trifft. Indem aber die Gravitationswellen bei ihrer Fortpflanzung nach einem bestimmten Weltkörper hin ihre Bewegungen auf beständig kleiner wer- dende Kugelflächen übertragen, nimmt ihre Energie auf gleich grossen Flächenabschnitten oder innerhalb gleicher Volumen in einem zu dem 40 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden Quadrate der Halbmesser der Kugeln oder dem Quadrate der Entfernung von dem Mittelpunkte des Zentralkörpers umgekehrten Verhältnisse zu. — Die Energie der einen bestimmten ponderablen Kör- per durchströmenden Gravitationswellen ist daher stets nichtalleinder Masse des Zentralkörpers direkt, sondern auch dem Quadrate der Entfernung von seinem Mittel- punkte umgekehrt proportional. Von der Energie der die Körper durchströmenden Gravitations- wellen kommt schließlich bei den Erscheinungen der Schwere nur der- jenige Teil in Betracht, welcher von den ponderablen Körpern that- sächlich absorbiert wird. Verschiedene Körper absorbieren aber aus den Gravitationswellen — wie wir gesehen haben — einen ihrer Masse oder Trägheit proportionalen Teil von Energie, weshalb auch sie unter dem Einflusse gleicher Gravitationswellen gleiche Beschleunigungen er- leiden, während bei gleicher Fallgeschwindigkeit die durch Störung der Interferenzen frei werdenden potentiellen Energien und die lebendigen Kräfte der fallenden Körper wiederum den Massen derselben proportional sind. Ist dagegen ein und derselbe Körper der Einwirkung verschiedener Gravitationswellen, d. h. solcher Gravitationswellen ausgesetzt, die nach verschiedenen Weltkörpern hin gerichtet sind, so absorbiert er zwar auch stets aus jeder Gravitationswelle einen seiner Masse proportionalen Teil von Energie, zugleich ist aber notwendigerweise die Menge der von ihın absorbierten und in innere Bewegungen umgewandelten Energie um so größer oder kleiner, je größer oder kleiner die Energie der ihn durch- strömenden Gravitationswellen selbst ist. — Diese aus den Gravitations- wellen absorbierte Energie ist die Arbeitsmenge, durch welche in den ponderablen Körpern die zu ihrer Beschleunigung erforderlichen Form- veränderungen der inneren Bewegungen hervorgebracht werden. Bei gleichen Körpern oder bei einem und demselben Körper verhalten sich aber — wieder nach dem vorigen Abschnitte — die bewirkten Ver- änderungen und die daraus hervorgehenden Beschleunigungen, wie die geleisteten Arbeiten. Deshalb ist auch die Beschleunigung eines pon- derablen Körpers stets der Energie der von ihm absorbierten oder der ihn durchströmenden Gravitationswellen proportional. Machen wir von diesem Resultate eine Anwendung auf die Weltkörper und berücksich- tigen wir dabei die für die Energie der Gravitationswellen bereits er- mittelten Gesetze, so gelangen wir zu dem Schlusse, daß die Be- schleunigung der Weltkörper zu einander der Masse des Zentralkörpers direkt und dem Quadrate der Entfernung von seinem Mittelpunkte umgekehrt proportional ist. Dieser Satz ist aber das von seinem hypothetischen Teile befreite Newron’sche Gravitationsgesetz. Mit seiner theoretischen Entwickelung ist die uns gestellte Aufgabe erfüllt, zugleich auch die Möglichkeit ge- geben, die Bewegungen der Weltkörper im Raume zu bestimmen. In einem begrenzten Raume und bei ursprünglich ruhenden Kör- pern wäre die notwendige Folge der allgemeinen Schwere eine Bewegung aller Körper nach einem gemeinsamen Schwerpunkte gewesen, in dem sie sich zu einem einzigen zentralen Weltkörper vereinigt hätten. Dem , der potentiellen Energie. IV. 41 ist jedoch nicht allein durch die Unendlichkeit des Weltraums, sondern auch durch die Bewegungen der Weltkörper selbst vorgebeugt. Bei der Unendlichkeit der Welt, die sich unbegrenzt nach allen Seiten ausbreitet, läßt sich in ihr kein bestimmter Punkt als Mittelpunkt oder als gemein- samer Schwerpunkt betrachten, sondern jeder Weltkörper bildet für sich einen Mittelpunkt des Ganzen und beeinflußt durch die von ihm in dem Weltäther angeregten Gravitationswellen die Bewegungen aller übrigen Weltkörper. Umgekehrt befindet sich auch jeder Weltkörper unter dem Einflusse der nach allen übrigen Weltkörpern gerichteten Gravitations- wellen. Indem aber jeder Weltkörper durch die ihn erreichenden Gravi- tationswellen beständig neue Beschleunigungen nach allen übrigen Welt- körpern erhält, wird er schließlich in eine Bewegung versetzt, welche die Resultierende aller im Laufe der Zeit auf ihn ausgeübten Ein- wirkungen ist. Durch diese Bestimmung unterscheidet sich die kine- tische Naturlehre wesentlich von der »Theorie des Massendruckes« von ANDERSSOHN. Während Anperssonn das Beharrungsvermögen der Körper vollständig leugnet und der Ansicht ist, daß die Weltkörper nur durch ihren gegenseitigen Druck aufeinander auf ihrer Bahn fortgeschoben werden in der Weise, daß jeder Körper, wenn die Wirkungen der Schwere momentan aufhören sollten, an dem Orte liegen bleiben würde, an dem er sich gerade befindet, erkennt die kinetische Naturlehre zwar auch die Bewegungen der Weltkörper als das Resultat der durch die Vermittelung der Gravitationswellen ausgeübten Wirkungen an, sie behauptet aber zugleich, daß jeder Weltkörper auch in dem Falle, wenn die Gravitations- wellen in einem bestimmten Momente verschwinden sollten, dennoch seine Bewegung in gerader Richtung und mit gleichförmiger Geschwindig- keit weiter fortsetzen würde. Auf diese Weise ist jedem Weltkörper durch die Gesamtheit aller bisherigen Einwirkungen in jedem Momente eine. bestimmte Bewegung im Raume angewiesen. Die Wechselwirkungen der Weltkörper dauern auch jetzt noch ununterbrochen fort, doch äußern sie sich wie die gegenseitigen Störungen der Planeten nur durch Ver- änderungen in der Richtung und in der Geschwindigkeit der bereits be- stehenden Bewegungen. Diese störenden Einwirkungen treten besonders dann deutlich hervor, wenn der eine Weltkörper, wie z. B. unsere Sonne, durch seine bedeutende Masse einen überwiegenden Einfluß auf die ihm zunächst belegenen Weltkörper wie die Planeten ausübt und sie von der geraden Richtung ihrer Bewegung ablenkt. Die Planeten scheinen daher auch an zwei Bewegungen teilzunehmen: an einer ursprünglichen, durch die Gesamtheit aller bisherigen Einwirkungen bestimmten Bewegung, die wir als gleichförmig und geradlinig voraussetzen, weil wir nicht in der Lage sind, den momentanen Einfluß aller Weltkörper auf den ein- zelnen zu ermessen, und — an einer beschleunigten, nach dem Mittel- punkte der Sonne gerichteten Bewegung. Durch das Zusammenwirken dieser beiden Bewegungen werden die Bahnen der Planeten im Raume bestimmt und erscheinen sie uns je nach dem Standpunkte, von welchem aus wir sie betrachten, von verschiedener Form. Von einem unserem Sonnensystem zunächst belegenen Fixsterne aus betrachtet, würde uns die Planetenwelt dasselbe Bild bieten, wie wir es im kleinen an den 43 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden Systemen des Saturns und des Jupiters mit ihren Monden von der Erde aus erblicken. Wir würden die Sonne im Raume fortschreiten sehen, gefolgt von den Planeten, die sie beständig auf cykloidenförmigen Bahnen umkreisen. Betrachten wir dagegen die Sonne als ruhend, d. h. ver- setzen wir den Anfang unseres Koordinatensystems in ihren Mittelpunkt, so gehen aus den Bewegungen, an welchen die Planeten teilzunehmen haben, elliptische Bahnen hervor, wie solches sich aus den Beobachtungen ergibt und auch durch Rechnung nachgewiesen werden kann. In der- selben Weise, wie die Planeten um die Sonne, bewegen sich auch die Monde um die Planeten, Kometen kommen und gehen und ebenso be- folgen auch die übrigen Weltkörper überall das gleiche Gesetz. Die Weltkörper vollbringen jedoch nicht bloß ihren Umschwung um einander, sondern sie befinden sich auch in einer beständigen Rota- tionsbewegung um ihre Axe. In der kinetischen Naturlehre kann diese Erscheinung auch nur als das Resultat aller im Laufe der Zeit auf die Weltkörper ausgeübten Wirkungen betrachtet werden. Wenn es auch einen Zustand gegeben haben mag, in dem die vorhandenen Körper sich noch nicht zu größeren Massen wie die Weltkörper zusammengeballt hatten, sondern etwa wie die Meteorsteine und Sternschnuppen als kleinere Massen, aber dichter aneinander gedrängt, oder nach der bekannten Kant-Lartace’schen Hypothese in Dunstform im Weltraume verteilt und ausgebreitet waren, so unterlagen sie doch stets der Einwirkung der all- gemeinen Schwere. Unter ihrem Einflusse mußten sie in Bewegung ge- raten und nach einer Vereinigung mit einander streben. Wenn aber auch im unendlichen Raume kein bestimmter Punkt als gemeinsamer Schwerpunkt des ganzen Weltalls angenommen werden darf, so gilt das doch nicht von seinen einzelnen Teilen. Je nach der mehr oder weniger dichten Verteilung der Körper im Raume mußten sich bald hier, bald dort an verschiedenen, ja an unendlich vielen Stellen besondere Schwer- punkte ausbilden, in welchen die bis dahin von einander getrennten Körper sich zu größeren Massen mit einander vereinigten. Die geringste, durch den Einfluß der benachbarten Weltkörper bewirkte Unregelmäßigkeit genügte, um die auf diese Weise aus der Vereinigung bereits bewegter Massen hervorgehenden Weltkörper durch eine Aufeinanderfolge von ex- zentrischen Stößen in eine Rotation um ihre Achse, d. h. in einen Zu- stand zu versetzen, in dem sie sich jetzt noch befinden. Wie die Weltkörper, so unterliegt auch der Weltäther dem Einfluß der Gravitationswellen, da er als permanentes Gas sich in dieser Be- ziehung in keiner Weise von den anderen Körpern unterscheidet. Der Weltäther vollbringt daher seinen Umschwung um die Gravitationsmittel- punkte nach denselben Gesetzen wie die Weltkörper und nimmt an allen ihren Bewegungen teil. Die Widerstandslosigkeit des Weltraums gegen die Bewegungen der Planeten erklärt sich daher nicht allein durch die fast ausschließliche potentielle Energie des Weltäthers, sondern auch durch den Umstand, daß seine Bewegungen mit den Bewegungen der in ihm eingetauchten Körper vollständig übereinstimmen. Jeder Weltkörper ist daher nicht bloß ein Gravitations-, sondern auch zugleich ein Rota- tionsmittelpunkt ; als solcher führt er mit einer nach außen abnehmenden der potentiellen Energie. IV. 43 Geschwindigkeit den gesamten Weltäther und mit ihm zugleich als sicht- bare Feldmarken die übrigen Weltkörper in einem gewaltigen, den ganzen Weltraum umfassenden Wirbel um sich herum. — Der zentrifugalen Wirkung der Wirbel tritt die zentripetale Wirkung der Gravitations- wellen entgegen und überall gilt das eine Gesetz, daß die Beschleunigung der Körper zu einander der Masse ihres Zentralkörpers direkt und dem Quadrate der Entfernung von seinem Mittelpunkte umgekehrt propor- tional ist. Die Welt baut sich somit vor unserem geistigen Auge aus dem Gesetze der allgemeinen Schwere in einer Form auf, in der wir sie jetzt noch erblicken, und wir können daher mit Zuversicht den Satz aussprechen, daß die Welt so ist, wie sie ist, weil sie nicht anders sein kann. — Schluss. Die Naturerscheinungen sind Bewegungserscheinungen. Das ist die Einheit der Naturerkenntnis. Die Vielfältigkeit der Erscheinungen beruht dagegen auf der Verschiedenheit und Veränderlichkeit der Bewegungen, die auch entstehen und vergehen können. Unvergänglich ist nur ihre Energie. Durch diesen Satz tritt die kinetische Naturlehre in eine innige Verbindung mit der allgemein anerkannten und bewährten mechanischen Wärmetheorie. Beide Teile der Wissenschaft entwickeln sich daher auch genau auf derselben Grundlage und erkennen das Prinzip von der Äqui- valenz der Verwandlungen als ihre Richtschnur an, mit dem Unterschiede nur, daß, während die mechanische Wärmetheorie ihre Untersuchungen auf die Umwandlungen der Wärme in Arbeit oder der Arbeit in Wärme beschränkt, die kinetische Naturlehre es als ihre Aufgabe erkennt, die- selben Gesichtspunkte allgemein durchzuführen. Das Endziel der Naturforschung müßte nun allerdings darin be- stehen, nicht allein die Äquivalenz der Verwandlungen nachzuweisen, son- dern auch, wie solches bereits in der Undulationstheorie des Lichtes ge- schehen ist, die Art der Bewegungen in den Körpern zu erkennen. Von diesem Ziele ist jedoch die Wissenschaft schon wegen der unend- lichen Mannigfaltigkeit der Erscheinungen noch weit entfernt; auch läbt sich die hier gestellte Aufgabe nur mit Hilfe der Mathematik er- füllen. Aber auch auf ihrem gegenwärtigen Standpunkte ist die kine- tische Naturlehre bereits in der Lage, durch den Nachweis des Zusammen- hanges zwischen den verschiedensten Naturerscheinungen unserem Er- kenntnisbedürfnisse vorläufig zu genügen. In der That, welche Veränderungen wir auch an den Körpern be- obachten, stets lassen sie sich entweder als Übertragungen der Energie oder als Umwandlungen derselben aus einer Form in eine andere dar- stellen. Beide Arten von Erscheinungen kommen sowohl getrennt als auch gleichzeitig mit einander vor. Als reine Übertragungen bezeichnen wir solche Erscheinungen, bei welchen die Energie von einem Körper auf einen andern übergeht, ohne ihre Form zu wechseln, z. B. die Mitteilung der Bewegung beim Stoße vollkommen elastischer Körper, bei welchem die lebendige Kraft 44 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden des stoßenden Körpers auch als lebendige Kraft auf den gestoßenen Körper übertragen wird, oder die Erwärmung der permanenten Gase, in welchen die zugeführte Wärme sich als freie Wärme wiederfindet. Zu den reinen Umwandlungen gehören dagegen diejenigen Erscheinungen, bei welchen die Energie, ohne den Körper zu verlassen, in eine andere Form übergeführt wird, so z. B. das Fallen der Körper, welches nur eine Umwandlung der potentiellen Energie in äußere leben- dige Kraft ist, oder der Stoß eines unelastischen Körpers gegen eine feste Wand, wobei die lebendige Kraft in Wärme umgewandelt wird. Meistens jedoch treten die Übertragungen und Umwandlungen der Energie gemeinschaftlich bei den Erscheinungen auf, so z. B. bei dem Verdampfen der Flüssigkeiten, wobei die zugeführte Wärme teils in äußere Arbeit, teils in kinetische und in potentielle Energie umge- wandelt wird. Von demselben Standpunkte können die chemischen Erscheinungen als gegenseitige Mitteilungen von Bewegungen oder als Übertragungen von Energie zwischen zwei Körpern betrachtet werden, häufig mit Um- wandlungen der potentiellen Energie in Wärme oder Elektrizität ver- bunden. Die chemischen Äquivalente der Körper sind daher mechanische Äquivalente, die sich in den Verbindungen vertreten können, d. h. solche Gewichtsmengen, die in ihre Verbindungen mit einem dritten Körper gleiche Arbeitsvorräte mit sich bringen, wodurch die Verbindungsgewichte der Körper auch ohne Voraussetzung von Atomen genau bestimmt werden. So verhält es sich bei allen Erscheinungen; stets sehen wir, dab dem Auftreten der Energie an einer Stelle eine Abnahme derselben an einer anderen Stelle entspricht und daß die Äquivalenz der Verwand- lungen in allen Fällen aufs genaueste erfüllt ist. Am wichtigsten für die Entwickelung der kinetischen Naturlehre sind diejenigen Erscheinungen, welche mit Umwandlungen der poten- tiellen Energie verbunden sind, weil sie bisher am meisten jeder Er- klärung entbehrten. Erst durch die Anerkennung der potentiellen Energie als der Energie der in den Körpern interferierenden und sich in ihren Wirkungen nach außen neutralisierenden Bewegungen werden wir in die Lage versetzt, den Ursprung und den Verbleib der kinetischen Energie bei manchen Naturerscheinungen nachzuweisen und den Zusammenhang zwischen ihnen herzustellen. Die potentielle Energie ist daher das. Binde- glied, welches die verschiedenartigsten Erscheinungen mit einander ver- einigt und sie zu einem einheitlichen Ganzen gestaltet. In ihr verliert sich die Wärme, welche beim Verdampfen der Flüssigkeiten latent wird, und ebenso die Wärme, welche die Bestandteile einer Verbindung von einander trennt; in ihr verschwinden die galvanischen Ströme, wenn sie funkensprühend sich gegenseitig neutralisieren; in ihr wird die Arbeit aufbewahrt, welche beim Heben eines Körpers verbraucht worden ist. Die potentielle Energie gibt aber die ihr anvertrauten Arbeitsvorräte in äquivalenter Menge, wenn auch häufig in veränderter Form wieder zurück. Aus ihr geht die Wärme hervor, welche bei der Kondensation der Dämpfe frei wird, und ebenso die chemische Wärme der Körper; ihr entspringen die galvanischen Ströme, welche unsere Städte erleuchten, der potentiellen Energie. IV. 45 unser Wort und unsere Schrift in die Ferne tragen; in ihr liegt schließlich auch die wahre Ursache der Schwere, insofern sie die Quelle ist, aus welcher die Arbeitsfähigkeit und die lebendige Kraft der ponderablen Körper hervorgehen. Die potentielle Energie ist daher gleichsam ein Reservoir, in dem gewaltige Arbeitsvorräte aufgespeichert werden, ein unbegrenzter See, in den Ströme von kinetischer Energie von allen Seiten münden und aus dem sie in äquivalenter Menge wieder hervorgehen. Die hohe Bedeutung der potentiellen Energie für die Erklärung der Naturerscheinungen bedingt, daß sie einen unentbehrlichen Teil jeder eingehenden Naturlehre bildet und daß umgekehrt jede Theorie, welche glaubt, ihrer entbehren zu können, schon aus diesem Grunde allein sich als unhaltbar erweist. Als solche tritt uns zunächst die kinetische Atomistik entgegen, auf deren Grundlage auch die modernen Ätherstoßtheorien aufgebaut sind. In dieser Lehre werden besondere, an der Materie haftende Kräfte geleugnet und der Versuch gemacht, alle Erscheinungen allein durch be- wegte Atome zu erklären. Dieses geht deutlich aus den nachfolgenden Worten von Lasswırz, einem eifrigen Vertreter der kinetischen Atomistik hervor (Atomistik und Kritizismus S. 69): »Jene Andrangsempfindung der Bewegung, der Widerstand, welchen sein Körper seiner Bewegung, d. h. der Erteilung einer bestimmten »Geschwindigkeit entgegensetzt, resp. die Wucht, mit welcher er gegen »unseren Körper andringt, ist also das Ursprüngliche in der Mechanik, »von welchem wir bei der Herleitung der Prinzipien ausgehen müssen. »Wir können diese Empfindungsthatsache »Kraft« nennen, wenn wir uns »nicht verleiten lassen, sogleich mit diesem Worte allerlei fernliegende, »aber gewohnte Vorstellungen zu verbinden, namentlich Kraft als eine »von Bewegung verschiedene Ursache zu substantiieren.« Und ebenso finden wir 8. 72: »Danach ist »Kraft« nur ein Name für den unmittelbaren sinn- »lichen Eindruck, für den Impuls der Bewegung eines andringenden Kör- »pers; insofern dadurch Bewegung unseres eigenen oder eines anderen »Körpers hervorgerufen wird, ist Kraft auch Ursache einer Bewegung; »nur hüte man sich hierbei die Kraft als etwas in oder hinter der Ma- »terie steckendes zu substantiieren, sondern man bedenke immer, daß »Kraft nur ein Ausdruck ist für das empirisch Reale der Bewegung, für »das eigentümliche Wesen eines bewegten Körpers, insofern er selbst »Bewegung zu erteilen vermag.« Wie man aus diesen Worten deutlich ersieht, wird in der kine- tischen Atomistik die Vorstellung, als ob »Kraft« eine Eigenschaft sei, welche auch einem ruhenden Körper oder einem ruhenden Atome zu- komme, nicht mehr anerkannt, sondern die Behauptung aufgestellt, daß die Kraft selbst nur ein Produkt der Bewegung sei. Deshalb heißt es auch weiter S. 94: »Bewegung kann nur mitgeteilt werden durch un- mittelbare Berührung (Stoß).« Wenn es aber keine Kräfte gibt, so kann auch innerhalb der atomistisch zusammengesetzten Körper keine poten- tielle Energie bestehen, weil die Atome als die kleinsten Teile kein 46 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden Inneres besitzen, in dem sich ein latenter Arbeitsvorrat verbergen könnte. Beim Stoße unelastischer Körper verschwindet ein Teil der lebendigen Kraft aus der äußeren Erscheinung; dieser Teil findet sich aber in den Körpern als Wärme oder als Energie der inneren Bewegungen wieder. Dieselbe Voraussetzung darf aber nicht in bezug auf die Atome gemacht werden, weil ihre Bewegungen in bezug auf sie immer nur äussere Be- wegungen sein können und ihre Energie daher nur eine lebendige Kraft ist, die dem Produkte aus der Masse der Atome und dem halben Qua- ‚drate der Geschwindigkeit gleich gesetzt wird. Beim Stoße zweier Atome ‚auf einander in entgegengesetzter Richtung vernichten sich die beider- seitigen Bewegungen entweder gegenseitig oder es werden die Geschwindig- keiten, wenn man die Atome als vollkommen elastisch voraussetzt, ein- fach eingetauscht; in keinem Falle tritt aber in den atomistisch zu- sammengesetzten Körpern eine Umwandlung der Energie aus irgend einer Form in die potentielle Form ein. Dieses wird übrigens von Lasswıtz S. 24 einfach zugegeben: »Obwohl die lebendige Kraft im ganzen System unverändert bleibt, »so kann sie doch in einzelnen Teilen desselben vermehrt oder vermindert »erscheinen, je nachdem Richtung und Gewalt der Stöße zusammenwirken »zu einer anderen Verteilung der Geschwindigkeit. Wenn so die Energie 'in einem Teile des Systems zu verschwinden scheint, so sagt man, sie »sei potentiell geworden, und wenn sie in jenem Teile wieder auftritt, »so spricht man von einer Umsetzung der potentiellen Energie in kine- »tische. Das sind nun freilich bloß Worte, die für die Bequemlichkeit »des Ausdrucks ganz gut sein mögen. Der Unterschied zwischen poten- »tieller und kinetischer Energie verliert seine Bedeutung, wenn man auf »die kinetische Atomistik zurückgeht und von dem unzulässigen Begriffe »der fernwirkenden Kräfte absieht.« Hier haben wir von einem Vertreter der .kinetischen Atomistik das bestimmte Zugeständnis, daß die potentielle Energie, wenn man von den fernwirkenden Kräften absieht, in den atomistisch zusammengesetzten Körpern nicht möglich ist. Lasswırz beruft sich nun allerdings auf ein Verschwinden der kinetischen Energie durch Verteilung, ohne jedoch dabei zu berücksichtigen, daß eine Verteilung noch keine Vernichtung ist und daß die kinetische Energie immer nur als wirkend betrachtet werden kann. In vielen Fällen können wir das »System« der Bewegungen voll- ständig übersehen, z. B. in dem Knallgase, wenn dieses in einem Gefäße eingeschlossen vor uns ist. — Die kinetische Energie des Knallgases läßt sich mit Hilfe der mechanischen Wärmetheorie berechnen und der bei seiner Explosion freiwerdende Arbeitsvorrat aus der Verbrennungs- wärme des Wasserstoffs bestimmen. Dieser Arbeitsvorrat muß bereits wor der Vereinigung des Wasserstoffs mit dem Sauerstoff in dem Knall- gase enthalten sein, da er durch den unbedeutenden elektrischen Funken in den Behälter nicht hineingetragen wird. Wenn aber nach der kine- tischen Atomistik die entsprechende Energie nur als kinetische Energie in dem Knallgase vorhanden ist, so fehlt jede Erklärung dafür, warum sie nicht schon früher vor der Verbrennung des Wasserstoffs ihre Wir- kung äußerte. der potentiellen Energie. :IV. 47 Wie bei der Explosion des Knallgases, so muß die kinetische Atomistik auf die Erklärung aller Erscheinungen verzichten, welche mit Umwandlungen der potentiellen Energie in eine andere Form oder um- gekehrt verbunden sind. Aus Mangel an potentieller Energie kann die kinetische Atomistik -weder das Verschwinden noch das Auftreten der latenten Wärme bei den Veränderungen der Aggregatzustände erklären, noch kann sie den Ursprung der chemischen Wärme oder der Elektrizität nachweisen, noch den Arbeitsvorrat entdecken, aus dem die fallenden Körper ihre lebendige Kraft erhalten. Die kinetische Atomistik trägt daher in keiner Weise zu der Entwickelung unserer Naturerkenntnis bei; dagegen vernichtet sie solche Teile der Wissenschaft, die sich bereits einer allgemeinen Anerkennung erfreuen. Durch die mathematisch entwickelte Undulationstheorie des Lichtes ist der unzweifelhafte Beweis dafür gegeben, daß die Lichterscheinungen durch transversale Schwingungen hervorgebracht werden. Nun ist es aber in keiner Weise möglich einzusehen, wie die Schwingungen der ver- einzelten Atome zustandekommen sollen, wenn sie der Wirkung aller Kräfte enthoben sind; was veranlaßt sie, ihre Bewegung bald zu ver- zögern, bald zu beschleunigen, sich bald in der einen, bald in der ent- gegengesetzten Richtung zu bewegen? — Noch viel unbegreiflicher ist aber die Fortpflanzung der transversalen Wellen innerhalb eines atomi- stisch zusammengesetzten Äthers. Wie ist es nur möglich, daß die Schwingungen sich von Atom zu Atom senkrecht zu der Richtung ihrer Bewegung mitteilen können, wenn zwischen den Atomen keine Verbindung durch Kräfte besteht? — Transversale Schwingungen können daher nur in einem kontinuierlichen Mittel als die Komponenten von Rotationen weiter fortgepflanzt werden. Aber noch mehr; die kinetische Atomistik zerstört sogar solche Teile der Wissenschaft, die mit ihr auf gleicher Grundlage aufgebaut sind, so z. B. die Strukturtheorie der Chemiker. Dabei tritt der eigen- tümliche Umstand ein, daß diese Lehre sowohl durch die Anerkennung wie durch die Widerlegung der kinetischen Atomistik vernichtet wird. Durch die Anerkennung — weil mit dem Wegfall der Kräfte nichts mehr in den Körpern übrig bleibt, was die Atome in den Molekülen zusammen- halten könnte; durch die Widerlegung — wegen des Aufgebens der atomistischen Vorstellungen überhaupt. Die ärgsten Verstöße begeht aber die kinetische Atomistik gegen die Mechanik. Sie widerspricht nicht allein der Unvergänglichkeit der Energie, sondern läßt diese sogar aus dem Nichts entstehen. Von den meisten Anhängern der Molekulartheorie werden die Atome als unelastisch vorausgesetzt, weil es doch ein gar zu großer Widerspruch gegen die eigenen Ansichten wäre, den kleinsten Teilen in den Körpern noch Ela- stizität zuschreiben zu wollen. Sind aber die Atome unelastisch, so muß bei jedem Zusammenstoßen ein Teil ihrer Geschwindigkeit und so- mit auch ihrer Energie verschwinden. Deshalb spricht auch IsENKRAHE in seinem Werke »Das Rätsel von der Schwerkraft« bereits Zweifel an der Erhaltung der Energie aus, ohne zu berücksichtigen, daß, wenn eine Abnahme der Energie überhaupt möglich wäre, die Welt nicht seit ewiger 48 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden Zeit bestehen könnte, sondern schon lange untergegangen sein müßte. Die kinetische Atomistik läßt aber die Energie beim Zusammenstoß un- elastischer Atome nicht allein teilweise verschwinden, sondern ihr fehlt auch jeder Nachweis über den Ursprung der lebendigen Kraft bei den fallenden Körpern. Die Schwere ist nach ihr eine Wirkung der Stöße, welche durch die Atome des Weltäthers ausgeübt werden und die ponde- rablen Körper gegen einander treiben. Nun können aber die Ätheratome wegen ihrer gleichmäßigen Aufeinanderfolge einem fallenden Körper in gleichen Zeitabschnitten nur gleiche Mengen von Energie abgeben, während seine lebendige Kraft dem Quadrate der Zeit proportional wächst. Die von den Ätheratomen übertragene Energie und die lebendige Kraft eines fallenden Körpers sind daher nicht äquivalent. Wenn aber die fallenden Körper ihre lebendige Kraft nicht in genügender Menge von außen er- halten und sie auch nicht aus sich selbst aus ihrer eigenen potentiellen Energie schöpfen können, so muß sie wenigstens zum Teil aus nichts entstehen, ein Resultat, welches wohl genügt, um die kinetische Atomistik und mit ihr sämtliche Ätherstoßtheorien zu widerlegen. Will man noch ferner an der Atomenlehre festhalten, so thut man jedenfalls besser, bei der gewöhnlichen Atomistik zu bleiben, wie sie noch häufig in den Lehrbüchern der Physik vorgetragen wird. Diese gute alte Lehre bleibt doch wenigstens auf die ihr gestellten Fragen keine Antwort schuldig. Allerdings sind die Antworten eigentümlicher Art. Wenn die Atome zu der Erklärung der Erscheinungen nicht mehr hin- reichen, vereinigt man sie zu Molekülen, wenn diese nicht genügen, be- ruft man sich auf die Molekularkräfte, und wenn diese ihren Dienst ver- sagen, greift man nach den Imponderabilien. Das sind nun zwar lauter unbegründete Hypothesen und dennoch besitzt die gewöhnliche Atomistik einen bedeutenden Vorzug vor der kinetischen: indem sie die Kräfte anerkennt, steht ihr auch die potentielle Energie zur Verfügung. Sie kann daher für die meisten Naturerscheinungen wenigstens scheinbare Erklärungen geben. Die beim Verdampfen der Flüssigkeiten zugeführte Wärme wird zur Überwindung der inneren Kräfte verbraucht “und kommt bei der Kondensation der Dämpfe durch die Arbeit dieser Kräfte als frei- werdende latente Wärme wieder zum Vorschein; die chemische Wärme der Körper ist auch nur eine Wirkung derselben Zentralkräfte; die Arbeit, welche einen ponderablen Körper in die Höhe hebt, wird in ihm als die Energie der Lage aufgespeichert und kann durch die Arbeit der Schwer- kraft wieder gewonnen werden u. s. w. So erhebt sich aus viel Dich- tung und wenig Wahrheit ein kunstvoller Bau, der nach allen Seiten wohl abgeschlossen ist und nur an dem Fehler leidet, daß er bereits bedeutende Risse erhalten hat. Die Imponderabilien sind schon so ziem- lich aus der Wissenschaft verschwunden und an die fernwirkenden Kräfte will kein denkender Naturforscher mehr glauben. Wenn man aber aus der gewöhnlichen Atomistik die Kräfte und die Imponderabilien streicht, so bleibt die kinetische Atomistik noch, deren Unbrauchbarkeit bei der Erklärung der Naturerscheinungen wir bereits hinreichend nachgewiesen haben. Die Atomistik und die Attraktionslehre sind eng mit einander der potentiellen Energie. IV. 49 verbunden und es kann die eine ohne die andere nicht bestehen; die Atomistik nicht, weil die Atome zu ihren Wechselwirkungen der Kräfte bedürfen, und die Attraktionslehre nicht, weil die Kräfte die Atome brauchen, um an ihnen zu haften. Verschwindet die Kräftelehre aus der Wissenschaft, so muß die Atomistik ihr bald nachfolgen. Es ist daher so ergötzlich, zu beobachten, wie diejenigen Naturforscher, welche noch an die Atome glauben, aber die Kräfte bestreiten, d. h. die kinetischen Atomistiker und die Begründer der Ätherstoßtheorien, selbst an der Ver- nichtung ihrer atomistischen Vorstellungen arbeiten. Der Untergang der Atomistik ist von nun an mit Sicherheit vorher- zusehen. Man denke sich eine Generation junger Naturforscher ohne den Glauben an die fernwirkenden Kräfte entstanden; auch sie wird das Bedürfnis empfinden, die Naturerscheinungen erklären zu können, zu- gleich aber erkennen, dab eine solche Erklärung nur mit Hilfe der poten- tiellen Energie möglich ist und daß die potentielle Energie ohne fern- wirkende Molekularkräfte in den atomistisch zusammengesetzten Körpern nicht bestehen kann. Die künftigen Naturforscher werden deshalb die Atomistik verlassen und sich derjenigen Lehre zuwenden, welche ohne alle künstlichen Hilfsmittel, ohne Atome, Kräfte und Imponderabilien dennoch das zu leisten vermag, woran die atomistische Theorie seit dreitausend Jahren vergebens gearbeitet hat. Diese Lehre ist aber die reine kinetische Naturlehre, wie sie in dieser Abhandlung vorgetragen worden ist. Indem sie die Bewegung jedes Punktes als die Resultierende aller ihm durch Wellen mitgeteilten Bewegungen betrachtet, erkennt sie in den Körpern neben einer kinetischen auch zugleich eine potentielle Energie an und ist daher in der Lage, sämtliche Naturerscheinungen ent- weder als Übertragungen oder als Umwandlungen der Energie darzustellen. Für die Befriedigung, welche die kinetische Naturlehre durch diese ver- einfachte Erkenntnis den Naturforschern gewährt, verlangt sie nur die Anerkennung einer Thatsache — der Bewegung — und eine hinreichende Bescheidenheit, um einzugestehen, daß wir von der Materie, d. h. von dem Bewegten in den Körpern nichts wissen und nichts wissen können. Die nächste Aufgabe der kinetischen Naturlehre besteht aber darin, das in dieser Abhandlung mit Worten Gesagte in mathematischer Form wiederzugeben. Kosmos 1884, II. Bd. (VII. Jahrgang, Bd. XV). 4 Wissenschaftliche Rundschau. Anatomie. Die Entstehung der roten Blutkörperchen im extrauterinen Leben der pökilothermen Wirbeltiere. Wir referierten früher! über eine Arbeit Bızzozzro’s, welche die Bildung der roten Blutkörperchen zum Gegenstand hatte. Nach der- selben entstehen sie durchindirekte Teilung der jungen kern- haltigenroten Blutkörperchen vornehmlich im Knochenmark. Er stützte sich dabei fast ausschließlich auf Untersuchungen an Säugetieren und Vögeln. Eine neuere Untersuchungsreihe BizzozkEro’s und Torke’s? über den gleichen Gegenstand hat die niedern Wirbeltierklassen zur Grundlage. Im nachfolgenden geben wir den wesentlichsten Inhalt der Abhandlung wieder. Folgende Saurier wurden von den Autoren untersucht: Podareis muralis, Lacerta viridis und Angwis fragilis. Ihr zirkulierendes Blut ent- hält fast nur entwickelte rote Blutkörperchen von ovaler Form. Nur selten werden die Jugendstadien beobachtet, runde oder schwach ovale kleinere Blutkörperchen mit großem sphärischem Kern, der von einer dünnen hyalinen Protoplasmaschicht umgeben ist, die durch Hämoglobin schwach rötlich gefärbt wird. Zwischen diesen Jugendstadien und den entwickelten Blutkörperchen finden sich Zwischenformen. Außerordent- lich selten sind karyokinetische Formen von in Teilung begriffenen Zellen. Die relativ kleine Milz enthält zwar neben zahlreichen weißen und spärlichen roten Blutkörperchen auch rundliche, also junge Blutkörper- chen. Doch sind dieselben in so geringer Zahl vorhanden, daß die Milz als Organ der Neubildung roter Blutkörperchen nicht in betracht kom- men kann. Anders das Knochenmark, das teils aus den Schenkel- knochen, teils aus den Rippen untersucht wurde. Die Struktur desselben ist bei den verschiedenen Sauriern ziemlich übereinstimmend. In einer schleimigen Grundsubstanz sind Fettzellen und sternförmige, nicht selten ! Vergl. Kosmos XIII. pag. 143. ° De l’origine des corpuscules sanguins rouges dans les differentes classes des vertebres, rech. fait. par J. Bizzozero et A. Torre. Arch. ital. de Biologie. Tome IV. Fasc. III. - Wissenschaftliche Rundschau. 51 pigmentierte Bindegewebezellen eingeschlossen. Dazu kommen weiße und zahlreiche rote Blutkörperchen. Unter diesen letzteren sind die Jugend- stadien und die in Teilung begriffenen besonders reichlich vertreten. Schon in Kochsalzlösung und Methylblau zeigen letztere die karyokine- tischen Formen. Deutlicher wird die fadenförmige Struktur des Kerns nach Behandlung mit Essigsäure sichtbar. Alle diese Beobachtungen sind aber nur möglich, wenn die Tiere normal ernährt sind. Tiere, die längere Zeit in Gefangenschaft lebten, wo sie oft die Nahrungsaufnahme verweigern, eigneten sich zu den Unter- suchungen nicht. Auch bei Testudo graeca wurden im Knochenmark junge Blut- körperchen und zwar in nicht unbedeutender Zahl und auch, aber nur spärlich, Zellen mit karyokinetischen Figuren beobachtet. Doch weder in der Milz noch im zirkulierenden Blut sahen Bızz02zrro und TorRE in Teilung begriffene Zellen. Es mußte die geringe Zahl der Teilungsformen im Knochenmark auffallen, und die Vermutung lag nahe, daß ungünstige Existenzbedingungen die Ursache dieser Erscheinung seien. Die Autoren be- wiesen das, indem sie dem Tiere mehrfach zu Ader ließen. Schon früher haben wir darauf hingewiesen', daß Blutverluste auch zur Ursache vermehr- ter Blutbildung werden. In der That beobachteten B1zz0zEro und Torre, daß solche durch Aderlassen in anämischen Zustand versetzte Schild- kröten in ihrem Knochenmark eine große Zahl in Teilung begriffener roter Blutkörperchen enthielten, ebenso zahlreiche Mittelformen zwischen den Jugendstadien und den entwickelten. Ähnliche Formen, allerdings in ungleich geringerer Menge, fanden sich auch im zirkulierenden Blut. In der Milz dagegen fehlten sie. Auch Repräsentanten der Ophidier wurden untersucht, namentlich Vipera aspis und Tropidonotus natrix. Bei beiden Arten ließen sich so- wohl in Teilung begriffene als junge Blutkörperchen, namentlich aber die erstern im zirkulierenden Blut nur selten nachweisen. In der Milz, die besonders reich an Lymphkörperchen ist, wurden zwar rote Blut- körperchen mit karyokinetischen Formen beobachtet. Doch waren die- selben nicht in solcher Menge vorhanden, dab sie zum Ersatz der unter- gehenden roten Blutkörperchen hingereicht hätten. Im Knochenmark dagegen herrschen wieder die jungen und die in Teilung begriffenen Zellen vor. Hauptbildungsherd der roten Blutkörperchen ist also bei den Rep- tilien ebenfalls das Knochenmark. Die Milz ist als eine Lymphdrüse, dagegen nicht als Blutbildner aufzufassen. Die durch Teilung im zirku- lierenden Blute entstehenden roten Blutkörperchen fehlen im normalen Zustand nahezu vollständig. Unter den ungeschwänzten Amphibien wurden Hyla viridis, Bufo vulgaris und Rana temporaria auf die Art des Blutbildungsprozesses und der blutbildenden Organe geprüft. Untersucht man das Blut einer eben getöteten Kröte, so findet man stets einige in Teilung begriffene rote Blutkörperchen. Doch würde ! Vergl. Kosmos XIII. pag. 143. 59 Wissenschaftliche Rundschau. man irre gehen, wollte man daraus schließen, dab bei den Amphibien im entwickelten Zustande ähnlich wie im embryonalen die Vermehrung der roten Blutkörperchen ausschließlich im zirkulierenden Blut vor sich gehe. Auch hier ist die Blutbildung in der Hauptsache an ein blut- bildendes Organ gebunden. Doch ist dies wiederum entgegen früher ver- breiteter Ansicht nicht die Milz, sondern das Knochenmark. Das Knochenmark besteht vorwiegend aus Fettzellen. Außerdem beobachtet man aber stets, wenn auch in veränderlicher Zahl, weiße und rote Blutkörperchen in demselben. Viele unter diesen letztern sind ent- wickelt, die größere Zahl aber wird durch Jugendstadien und in Teilung begriffene Zellen gebildet. Anders sind die Verhältnisse bei Kröten, die längere Zeit hungern mußten. Bei solchen Individuen sind keine in Teilung begriffene Blut- zellen im zirkulierenden Blut nachweisbar. Auch die Zahl der jungen Blutkörperchen ist eine erheblich geringere, ja es können dieselben, wenn das Tier besonders lange hungern mußte, völlig verschwinden. Ähnliche Veränderungen sind im Knochenmark zu konstatieren, mit dem Unter- schied allerdings, daß sich dieselben später vollziehen. So führt also auch bei diesen Tieren der Nahrungsentzug einen Stillstand in der Blut- bildung herbei. Die geschwänzten Amphibien, die untersucht wurden, sind: Triton cristatus, Salamandra maculata, Glossoliga Hagenmülleri und Axolotl. Das zirkulierende Blut enthält fast ausschließlich entwickelte Blut- körperchen; sehr selten sind die Jugendformen, noch seltener Zellen mit Kernteilungsfiguren. Die Milz ist relativ groß und stark rot gefärbt. Sie enthält weiße und außerordentlich zahlreiche rote Blutkörperchen. Unter diesen sind die in Teilung begriffenen die häufigsten. Die jüngsten Formen bestehen aus einem relativ großen Kern, der von einer sehr dünnen gelblich ge- färbten Protoplasmaschicht umgeben ist. Eine Reihe von Zwischenformen verbinden diese an Protoplasma armen Formen mit den entwickelten roten Blutkörperchen von ovaler und abgeplatteter Gestalt, die reich an Protoplasma sind. Dazu kommen nun noch andere durch ihre Farbe und ihr besonderes Aussehen auffallende Elemente. Sie sind bald sphä- risch, bald oval, bald biskuitförmig. Die Einschnürung, durch welche letztere Form erzeugt wird, ist oft so tief, daß sie in zwei Teile geteilt erscheinen, die nur noch durch einen dünnen kurzen Faden aus einer farblosen Substanz mit einander verbunden sind. Es sind das die ka- ryokinetischen Formen der roten Blutkörperchen der Tritonen. Ihrer Dicke wegen wird der Kern erst durch besondere Färbungsmethoden sichtbar. Vergleicht man die Milz verschiedener Individuen mit einander, so beobachtet man oft ganz bedeutende Verschiedenheiten in der Zahl der in Teilung begriffenen Elemente. Alter, Jahreszeit, Ernährungs- bedingungen sind die Ursache dieser Ungleichheiten. Bei einem männ- lichen Triton, der während zweier Monate keine Nahrung erhalten hatte, wurden weder im Blut noch in der Milz in Teilung begriffene Blut- körperchen beobachtet. Wissenschaftliche Rundschau. 53 Den Einfluß der Temperatur soll nachfolgende Beobachtung be- weisen. Ein Triton, der Ende Oktober bei einer Temperatur von 12° untersucht wurde, zeigte im. zirkulierenden Blut keine in Teilung be- griffene rote Blutkörperchen. In der Milz fanden sie sich allerdings in großer Zahl. Tritonen, die im Winter gefangen wurden, hatten eine sehr kleine Milz, die nur spärlich in Teilung begriffene Blutkörperchen enthielt. Uns scheint nun allerdings nicht sowohl die niedere Tempe- ratur als die ungenügende Ernährung die Ursache dieser Erscheinung zu sein. Nachfolgendes Experiment ist jedenfalls nicht beweisend. Die Autoren geben an, daß andere Tritonen, welche mit dem ebengenannten gefangen wurden, dann aber während eines Monates in einem Zimmer mit der konstanten Wärme von 26° (nur einige Stunden täglich, wäh- rend sie mit Regenwürmern ernährt wurden, befanden sie sich unter andern Temperaturverhältnissen), eine große, blutreiche, stark rot gefärbte Milz hatten. Die Zahl der in Teilung begriffenen Blut- körperchen war nicht nur absolut, sondern auch relativ ungleich größer. Warum aber soll nun gerade die Wärme und nicht die Nahrungsaufnahme oder doch jedenfalls beide Momente die Ursache der Blutbildung sein ? Das Knochenmark, das aus einem Fettgewebe besteht, war weder bei Triton noch einem der andern geschwänzten Amphibien blutbildendes Organ. So sind also die geschwänzten Amphibien die ersten Tiere, bei welchen wir im entwickelten, normalen Zustand die Milz als blut- bildendes Organ anzusehen haben. Folgende Fische wurden untersucht: Tinca vulgaris, Anguilla vul- garis, Salmo thymallus, Leueiscus alburnus und namentlich Carassius auratus. Das zirkulierende Blut wie die Milz enthält oft nur entwickelte Blutkörperchen, oder doch sind die jungen und namentlich die in Teilung begriffenen Zellen sehr selten. Wieder in andern Fällen sind zwar die jungen Zellen häufig vorhanden und zwar stets in der Milz in größerer Zahl als im zirkulierenden Blut, die karyokinetischen Formen aber fehlen. Noch in andern Fällen sind diese wenigstens in der Milz, wenn auch immer in geringer Zahl vorhanden. Das Knochenmark als blutbildendes Organ fällt natürlich auber betracht. Dagegen ließ sich fragen, ob diese Funktion nicht einem andern Organ noch zukommen könnte, und diese Frage lag um so näher, als die im zirkulierenden Blut und in der Milz beobachteten Teilungs- formen nicht zur Neubildung zu genügen schienen. Die Autoren wendeten der Niere ihr Augenmerk zu. Bekanntlich enthält bei einigen Fischen die ganze Niere, bei an- dern nur der vordere Teil zwischen den Harnkanälchen ein Gewebe, das sehr reich an weißen Blutkörperchen ist. In dem Falle, wo die Milz an jungen roten Blutkörperchen reich war oder auch einige in Teilung begriffene Formen einschloß, traf man sie auch im Iymphoiden Teil der Niere. Das Blut ist z. B. bei Leueiscus alburnus relativ arm an roten Blutkörperchen, Milz und Nieren aber enthalten deren viele und auch eine Anzahl, doch nie viele in Teilung begriffener roter Blutkörperchen sind darunter. Letztere erscheinen des spärlichen Hämoglobins wegen schwach gelblich gefärbt. 54 Wissenschaftliche Rundschau. Die Seltenheit, in welcher diese karyokinetischen Formen wahr- genommen wurden, ließ vermuten, daß die Untersuchung auf eine un- günstige Jahreszeit falle. Doch mußte man von dieser Ansicht wieder abgehen, weil die Untersuchung in allen Jahreszeiten das gleiche Re- sultat ergab. So blieben zwei andere Vermutungen. Entweder bilden sich die Blutkörperchen bei den Fischen auf andere Weise, derart, daß die Zell- teilung zur Erneuerung des Blutes nur sekundär beiträgt, oder aber das Blut erneuert sich nur sehr langsam, indem nur wenige Teilungen hin- reichen, um dem Blut die jungen Elemente zu geben, welche bestimmt sind, diejenigen Blutkörperchen zu ersetzen, welche mit der Zeit unter- gehen. Auf die weißen Blutkörperchen und auf die kernhaltigen Blut- scheibchen kann die Neubildung des Blutes, wie eingehende Beobacht- ungen darthaten, nicht zurückgeführt werden. Auch hier führte die Aderlaßmethode, die namentlich bei Carassius auratus ausgeführt wurde, zum Ziel. Durch Öffnen eines größern Kiemen- gefäßes in Intervallen von 3—6 Tagen wurden die künstlichen Beding- ungen für vermehrte Blutbildung geschaffen. S—10 Tage nach dem letzten Aderlaß fand die genauere Untersuchung statt. Erst nach dem 3.—4. Blutentzug zeigten sich merkliche Veränder- ungen. Im Blut waren zahlreiche Jugendformen roter Blutkörperchen zu beobachten. Bei einem Fisch, der 13 Tage nach dem letzten Aderlah (es war ihm während eines Monates 4 mal Blut entzogen worden) unter- sucht wurde, zählten die Autoren auf 100 entwickelte rote Blutkörper- chen durchschnittlich 45 junge. Bei einem andern, der schon 10 Tage nach dem letzten Blutverlust untersucht wurde, fanden sich auf 100 ent- wickelte 250 junge Blutkörperchen. Auch karyokmetische Formen, wenn auch in geringerer Zahl, ließen sich im zirkulierenden Blut nachweisen. In der Milz, die in Beschaffenheit und Färbung verändert erschien, waren ebenfalls sehr zahlreiche Jugendstadien von roten Blutkörperchen währnehmbar, zugleich mit vielen in Teilung begriffenen. Nicht dab erst das zirkulierende Blut diese in die Milz geführt hätte. Denn die Ver- hältnisse waren ganz andere. Beim ersten Fall, wo wir im zirkulierenden Blut das Verhältnis 100 :45 trafen, beobachteten Bızzozero und ToRRE in der Milz das Verhältnis 100 :120, bei dem andern im zirkulierenden Blut 100:280, in der Milz 100 ::700. Den Iymphoiden Teil der Niere betreffend ergab sich, daß die jungen roten Blutkörperchen und die in Teilung begriffenen in ihm in grös- serer Zahl vorkamen als im zirkulierenden Blut, doch nicht völlig in gleicher Menge wie in der Milz. Diese Versuche berechtigen also zu dem Schluß, daß die roten Blutkörperchen der Fische ungleich langsamer sich ermeuern als bei den höhern Wirbeltieren. Damit stimmt auch noch eine andere Beobachtung. Lange nach dem Aderlaß findet man im Blute noch junge Blutkörperchen und solche, die in Teilung begriffen sind. Bei den Fischen kann sich die Entwickelung der roten Blut- Wissenschaftliche Rundschau. 55 körperchen im zirkulierenden Blut vollziehen. Der Hauptsitz der Blutbildung ist jedoch die Milzund der cytogene Teil der Niere. B1zz0ZERoO und TorRRE haben also durch diese neuere Untersuchungs- reihe bezüglich der Bildung der roten Blutkörperchen folgende Thatsachen konstatieren können: 1. Bei allen entwickelten Wirbeltieren werden die roten Blut- körperchen durch indirekte Teilung der Jugendformen präexistierender Körperchen erzeugt. 2. Die Neubildung ist stets an bestimmte Organe gebunden. Bei den Säugetieren, Vögeln, Reptilien und ungeschwänzten Amphibien ist das Knochenmark das blutbildende Organ; bei den geschwänzten Am- phibien die Milz; bei den Fischen die Milz und das Iymphoide Parenchym der Nieren. 3. Bei Reptilien, Amphibien und Fischen ist das zirkulierende Blut dadurch dem embryonalen einigermaßen ähnlich, daß es stets (wenn auch meist nur wenige) junge rote Blutkörperchen und in indirekter Teilung begriffene Zellen enthält. R.ı Kl Helligkeits- und Farbensinn der Tiere. Die unten genannte neueste Arbeit des durch seine biologischen Forschungen auf dem Gebiete der Insektenwelt so ausgezeichneten For- schers verdient das allgemeine Interesse sowohl dadurch, daß in der- selben ein so wichtiges und gewissermaßen ganz neues Gebiet behandelt wird, als auch dadurch, daß dasselbe zum erstenmale durch direkte Unter- suchungen angefaßt und erörtert wird, den vielfachen »Spekulationen« gegenüber, die vom Autor denn auch unbarmherzig kritisiert werden. So gilt ihm die Arbeit G. Jäser’s? als ein wissenschaftlicher »Abweg« und jene Grant Auven’s? tadelt er ob des »vielfach geradezu romanhaften Charakters<, wobei zugleich »die positiven Ergebnisse nur Oasen in einer Wüste von in der Wirklichkeit ja gar nie angestellten Fehlversuchen bilden«. — Möge es mir gestattet sein, in Kürze auf die wichtigsten Daten einzugehen, ohne dab ich den Raum für die zahlreichen Anregungen nach allen Gebieten hin ausnutzen will, die in reichster Fülle überall eingestreut werden. — Zunächst unterwirft der Autor die bisherigen Versuche von P. Berr* an Daphniden, von J. Lussock ° an Daphnia pulex ı! Vitus Graber, Prof. a. d. Univ. Czernowitz: Grundlinien zur Er- forschung des Helligkeits- und Farbensinnes der Tiere. Prag und Leipzig, F. Tempsky und G. Freytag. 1884. 8°, VII, 322 Seiten, 4 Abb. M. 7.50. ® Jäger, @., Einiges über Farben und Farbensinn, in: Kosmos I. p. 486—495. ® Grant Allen, The colour sense: its origin and developement. An essay in comparative Psychology. London 1879. Kritisch beleuchtet im Kosmos, V, 1879, S. 308 und 319. * Bert, P., Sur la question de savoir si tous les animaux voient les m@mes rayons lumineux que nous, in: Archives de Physiologie, 1869, II, p. 553—554. ° Lubbock, J., On the sense of Colour among some of the lower animals, in: Journal of the Linnean Society. Zoology. XVI. November 17. 1881. 56 Wissenschaftliche Rundschau. und Ameisen, von Bonsıer ! und J. Lugeock * an den Bienen und von MERESCHKOWSKY ? an niedern Krustaceen — einer eingehenderen kritischen Besprechung. Nun geht er zur Aufgabe und der Methode seiner eigenen Untersuchungen über und findet, daß bei den Tieren eigentlich nur das in reaktiven Bewegungen sich äußernde Helligkeits- und Farbengefühl Gegenstand einer exakten Erforschung des Lichtsinnes sein kann und daß man aus dem Nichteintreten solcher Reaktionen weder auf den Mangel eines Lichtgefühls noch auf das Fehlen eines Lichtunterscheidungsver- mögens schließen darf. Hiebei gelangt der Verfasser zu folgenden Fragen: 1) Inwieweit unterscheiden die Tiere verschiedene Helligkeits- abstufungen eines Lichtes, und welcher Intensitätsgrad ist ihnen der angenehmste ? 2) Inwieweit unterscheiden die Tiere verschiedene Lichtqualitäten oder Farben, und welche ist ihnen die angenehmste ? 3) Hat das optische Spektrum bei gewissen Tieren eine größere Ausdehnung als bei uns, d. h. ist ihnen das Ultraviolett bezw. das Ultrarot sichtbar, und wenn ja, erscheint es ihnen unter einer besonderen Qualität? 4) Ist die relative Helligkeit der einzelnen sichtbaren Spektrum- zonen für gewisse Tiere eine andere als für uns? >) Sind manche Tiere für gewisse, uns sichtbare Spektrumzonen blind ? Bezüglich des Verfahrens unterscheidet der Verfasser die Methode der totalen und der partiellen Belichtung; bei ersterer gestattet er den Tieren zwei verschiedene Räume je nach Auswahl zu benutzen; bei der zweiten legt er zwei und mehrere verschieden belichtete Objekte vor; sie schließt thermische oder chemische Nebenwirkungen vorteilhaft aus, fesselt aber die Aufmerksamkeit der Tiere nachteilig durch andere Reize, weshalb das Resultat meist negativ ausfällt. Überdies erschwert die Flüchtigkeit der Tiere die Vergleichung der Resultate. — Als Beob- achtungseinrichtungen dienten Glasröhren, rinnenartige Tröge und Kästen; die Vergleichslichter wurden auf die Wellenlänge (Farbe) wie auf die Helligkeit mathematisch genau geprüft; überdies wurde noch besondere Aufmerksamkeit auf die beschränkte Fähigkeit der Tiere verwendet, zeit- lich getrennte Empfindungen zu vergleichen, wobei Verfasser eine Viel- und eine Zweifarbenmethode anwandte; ferner fand er, daß öftere Wieder- holung der Versuche vorteilhafter sei, als eine große Anzahl von Ver- suchstieren; er mußte durch Mittelstellung auf Eliminierung des Ein- flusses der Ortsgewöhnung und der ÖOrtserinnerung denken und durch Abänderung der Versuche Expositionsraum und Expositionszeit ändern u.Ss. w. * Bonnier, Les nectaires, etude eritique, anatomique et physiologique, in: Annales des sciences naturelles. Botanique. 6me serie, Tome 8. Paris 1879. Be- sprochen von Herm. Müller im Kosmos VII, 1880, S. 219. ® Lubbock, J., Ants, Bees and Wasps. A record of observations of the Social Hymenoptera. London 1882. 8°, p- XIX und 448 — nebst Litteratur. ® Mereschkowsky, Les Crustacees inferieurs distinguent-ils les cou- leurs? in: Comptes rendus de l’academie des sciences etc. Paris. Tome 93, Nr. 26, p- 1160— 1161. Ref. im Kosmos XI, 67. Wissenschaftliche Rundschau. 57 Schließlich bespricht der Autor noch die Messung der relativen Inten- sität der Lichtreaktionen, bei der ‘er Frequenzzahlen, Reaktionsdifferenz, -quotient, Präferenzzahl, absolute und relative Lieblingsfarbe u. s. w. als neue Begriffe einführt. In dem nun folgenden 3. Abschnitt finden wir die spezielle Dar- stellung der Untersuchungen, indem Spezies für Spezies in bezug aui die einzelnen Fragen, insbesondere Helligkeits- und Farbengefühl abge- handelt werden — gleichzeitig erhalten wir aber damit auch einen wert- vollen Einblick in das reiche Beobachtungsmaterial des Forschers, das für weitere Untersuchungen von größtem Werte ist. Aus diesen empirisch gewonnenen Daten ergeben sich nun eine Reihe von Folgerungen, welche im 4. Abschnitte systematisch zusammen- gestellt werden; die wichtigsten mögen hier Platz finden. Hinsichtlich des Helligkeitsgefühls ergibt sich: 1) die Unlust der phengophilen (helleliebenden) Tiere am Dunkel ist ungefähr ebensogroß als die Unlust der phengophoben am Hell; — 2) bei gewissen Tieren ist das Helliskeitsgefühl für verschiedene Lichtqualitäten unter sonst gleichen Umständen ein sehr ungleiches, so daß gelegentlich selbst fundamentale Differenzen bezüglich des Helligkeitsgeschmackes vorkommen können, in- dem bei der einen Qualität das Hell, bei der andern das Dunkel vor- gezogen wird. Bezüglich des Farbengefühls ergibt sich, daß im Gegensatze zu Grant’s Mitteilung das Reagieren die Regel, das Nichtreagieren die Ausnahme ist, denn unter fünfzig Versuchstieren reagierten 40, und nur 10, worunter meist Haustiere, nicht; das Gefühl ist daher allverbreitet. Im allgemeinen Verhalten in bezug auf Vorliebe für gewisse Farbengattungen entspräche nach Grant in Wirklichkeit den Vier- füßlern, Vögeln, Fischen und Insekten unsere Vorstellung von Farbe; nach Krause zeigt sich als allgemeine Erscheinung, daß das Auge der Vögel, Säuger und des Menschen durch ein feuriges Rot am stärksten erregt wird; GrABER dagegegen findet, daß von einer allgemeinen Über- einstimmung des Farbengeschmackes bei den Tieren absolut keine Rede “sein kann. So lieben die Säuger blau, das Schwein blau und grün; von fünf Vögeln sind drei blau-, zwei rotliebend; von den Amphibien sind Triton und Rana rotliebend, Bufo rotscheu; die Fische sind rot hold u. s. w. Bei einigen Tieren endlich ist überhaupt gar keine absolute Vorliebe für eine bestimmte Farbe vorhanden, sondern der Geschmack je nach der Zu- sammenstellung der Vergleichslichter verschieden. Weiters wurde gefolgert: der reaktive Erfolg der Wirkung von je zwei farbigen Lichtern erscheint im allgemeinen um so größer, je weiter dieselben im Spektrum von ein- ander abstehen — also je größer die Differenz ihrer Wellenlänge ist; überdies ist bemerkenswert, daß ein höherer oder geringerer Grad von Ultraviolett-Empfindlichkeit überhaupt den meisten Tieren zukommt. In bezug auf das Verhältnis zwischen Helligkeits- und Farbengefühl kommt der Autor zum Schlusse, daß der Ausfall der Wahl zwischen zwei oder mehreren Farben, sowie die Stärke der betreffenden Reaktion im allgemeinen thatsächlich auch durch die Intensitätsverhältnisse der ver- glichenen Farben bedingt ist; ferner findet er: die Stärke der Bevor- 58 Wissenschaftliche Rundschau. zugung einer Farbe vor einer anderen ist im allgemeinen um so größer, je mehr die Intensität derselben dem Helligkeitsgeschmacke des Tieres entspricht, und: die Vorliebe für eine Farbe gegenüber einer anderen scheint sich bei ungünstig werdendem Helligkeitsverhältnis um so länger zu erhalten, je weiter die betreffenden Farben im Spektrum auseinander liegen. Als eines der wichtigsten Ergebnisse der betreffenden Studien aber ist die Thatsache aufzufassen, daß die leukophilen (weißholden) Tiere mit geringen Ausnahmen blauliebend, die leukophoben (dunkelholden) hingegen rotliebend sind, indem von den 13 hellscheuen Tieren 12 die stärkste Vorliebe für das Rot, von den 22 helle-holden 20 die stärkste Vorliebe für das Blau zeigen. War nun auf diesem experimentellen Wege eine Reihe von Resul- taten gewonnen, so mub nun das Resultat aller auf das freie Naturleben übertragen werden, und es geht daher Verfasser im 5. Abschnitte zur Beantwortung der Frage über: wie verhalten sich die Tiere, wenn das Gesichtsfeld aus mehreren verschiedenfarbigen Teilen zusammengesetzt ist? Zunächst ergibt sich, daß die Tiere auch unter den gewöhnlichen Umständen gewisse Farben zu unterscheiden im stande sind; weiter ist das Farbengefühl mehr von der relativen Größe abhängig, wenngleich auch Fälle bekannt sind (Stier, Truthahn), daß Tiere auch auf Reize reagieren, die von kleinen Flächen ausgehen. Ob und inwieweit die Tiere unter den angegebenen Umständen irgend eine Farbe einer anderen un- angenehmeren vorziehen, ist schwer zu beantworten, da nicht jede Er- regung von einem Lust- und Unlustgefühl begleitet sein muß. Eine Farbenwahl, d. h. eine Bethätigung des reinen Farbengeschmackes kommt im freien Naturleben relativ seltener vor als bei den Experimenten und gestaltet sich daselbst auch viel weniger energisch; dagegen läßt das monotone und eingeschränktere Tierleben schließen, daß ein wirkliches, auf Lust- und Unlustgefühl beruhendes Farbenwählen bei den Tieren jedenfalls ungleich häufiger ist als bei uns, zumal die Empfindungen durch associierte Vorstellungen weniger beeinflußt werden. Eine zweite Frage ist die, ob der spezifische Farbengeschmack eines Tieres der Hauptsache nach und unter sonst gleichen Umständen immer derselbe ist? Hier kann von Geruch, Geschmack, strahlender Wärme, Geräusch und Tönen abgesehen und die Frage bejaht werden; wichtig erscheinen nur gewisse Differenzen der Größe und der Anordnung der Farbenflächen. Ersterer Einfluß kann sich auf den Geschmack der Tiere bedeutend geltend machen und es ist durchaus nicht gleichgültig, ob ein roter Fleck auf grüner Wand oder ein grüner Fleck auf roter Wand dargeboten wird. Wichtig ist weiter die Verschiedenheit der Farbe und die Helligkeit des Hintergrundes (die »Folie«), auf welchem die Natur die Bilder der einzelnen farbigen Gegenstände präjiziert, und es ergibt sich, daß selbst auffällig gefärbte Gegenstände auf ungünstiger Unterlage uns sowohl wie den Tieren ganz unsichtbar werden können und dab die Vorliebe für eine und dieselbe Farbe je nach der Be- schaffenheit der Nachbarfarben zum Teile eine sehr ungleiche ist; ander- seits aber scheint es für viele Tiere bei zweifarbiger Belichtung eine sog. absolute Lust- oder Unlustfarbe zu geben, und von diesen darf man Wissenschaftliche Rundschau. 59 voraussetzen, daß ihr Farbengeschmack, so lange die Helligkeitsverhältnisse entsprechend sind, von der Farbe der Folie ziemlich unabhängig ist. Nun kommt Verfasser zur kritischen Besprechung einiger wichtiger Anschauungen über den Farbengeschmack der Tiere gegenüber gewissen Naturgegenständen, berührt zunächst eingehend H. Mürver’s' Ansichten über den Farbengeschmack der Bienen gegenüber den Blumen, dann G. Jäger’s Ansichten über den Farbengeschmack der Tiere gegenüber den Früchten und gewissen Färbungen der Tiere und gelangt in ersterer Beziehung MÜLLER gegenüber zum Schlusse, daß uns die bisher bekannt gewordenen Thatsachen in betreff des Blumenbesuches der Bienen und der Insekten überhaupt hinsichtlich einer etwaigen Vorliebe derselben für bestimmte Farben der Blumen ganz und gar im dunkeln lassen und daß wir überhaupt darüber, ob den Insekten gewisse Blumen der Farbe wegen angenehmer sind als andere, vorläufig absolut nichts Bestimmtes aussagen können. Bezüglich der Früchte steht fest, daß der Geschmack derselben, nicht die Farbe den Ausschlag gibt. In bezug auf die Haut- färbungen, wo er JäGer’s Ansichten im einzelnen zu widerlegen trachtet, schreibt der Verfasser: »daß gewisse Farben in der Haut der Tiere viel- fach eine biologische Bedeutung haben, insofern sie ihre Träger teils weniger, teils mehr sichtbar machen, und daß ferner manche der be- treffenden Farbenmuster bei gewissen Tieren mehr Gefallen als andere erregen, daß es also, häufig wenigstens, zumal beim gegenseitigen Verkehr der Geschlechter zu einer Bethätigung des Farbengeschmackes kommt, das wurde bekanntlich auch schon in der Vor-Darwıv'schen Zeit fast allgemein zugestanden und ich glaube, dab sich gegen diese Anschauung auch nichts einwenden läßt, trotzdem eigentliche Experimente in der angedeuteten Richtung noch gar nie oder wenigstens nicht in entsprechen- der Weise angestellt wurden«. Alles übrige gilt dem Verfasser als Speku- lation ohne reellen Gehalt. Über die Ursachen oder die Bedeutung des spezifischen Farben- geschmackes der Tiere folgert der Verfasser: »Ein Hauptergebnis meiner Experimente ist bekanntlich, daß die Tiere nicht, wie u. a. GranT und JÄGER annehmen, alle einen ganz oder fast ganz übereinstimmenden Farbengeschmack besitzen, sondern dab im Gegenteil ihre Farbenlieb- haberei z. T. eine grundverschiedene ist, insofern z. B. die einen rotes oder langwelliges, andere blaues oder kurzwelliges und wieder andere grünes oder mittellangwelliges Licht am liebsten haben.< Weshalb reagieren nun die Tiere so ungleich auf Farben? Angenommen, es liege der Grund in dem spezifischen Charakter der Tierorganisation, so fragen wir weiter: worin hat diese besondere Organisation ihren Grund? Die Ursachen des spezifischen Farbengeschmackes müssen wir unbedingt in den Lebensbeziehungen suchen. Liegen sie nun im Nahrungserwerb ? Manche glauben, daß bei allen oder doch bei gewissen Tieren die all- gemeine Lieblingsfarbe mit der Lieblingsnahrung übereinstimme, bezieh- ungsweise derselben angepaßt sei. Diese Ansicht, die z. B. darin eine ! Müller, H., Alpenblumen, ihre Befruchtung durch Insekten und ihre An- passungen an dieselben. ‘Leipzig, 1881 etc. 60 Wissenschaftliche Rundschau. Bestätigung zu finden scheint, daß rotliebende Fische rote Krebse fressen u. s. w., wird widerlegt, indem die Nahrung jener zumeist nicht rot ist und die meisten cyanophilen Tiere nicht blaue Nahrung genießen. Auch mit der Farbe der betreffenden Tiere kann der Farbengeschmack nicht in Beziehung gebracht werden, obwohl manche Besonderheiten des Ko- lorites, insbesondere bei der sexuellen Auswahl eine Rolle zu spielen scheinen. So ist es »höchst wahrscheinlich, daß manche dieser sog. Schmuckfärbungen, wie z. B. das Rot oder Blau der Hahnenkämme, wirklich beim interessierten Teil so gut wie gewisse andere Reize Ge- fallen erzeugen, wenn auch sicherlich nicht alle diese Lockmittel den Zweck und den Ursprung haben, welchen man ihnen häufig beilegt«. — Allein auch diese Hypothese ist höchst haltlos, wenigstens in bezug auf das allgemeine Verhalten, da z. B. blauliebende Tiere nichts Blaues, rotliebende Tiere vielfach nichts Rotes an sich haben u. s. w. — Da- gegen ist die Beziehung des Farbengeschmackes zu den objektiven Farbenreizen der Natur, zumal zur Farbe des Aufenthaltsortes oder des gewöhnlichen Gesichtsfeldes von Bedeutung, und hier zeigt sich zunächst, daß die meisten blau- resp. weibliebenden Tiere zu den fliegenden, also zu jenen Wesen gehören, welche in der Regel ein blaues oder ein weißes Gesichtsfeld vor sich haben: so sind alle Vögel mit Ausnahme des Raben blauliebend und ziehen das gewöhnliche weiße resp. weißlichblaue Licht dem reinblauen vor; desgleichen geben Libellen, Bienen, Fliegen, Tag- schmetterlinge entschieden dem blau und weiß vor allen anderen Farben den Vorzug. Grünliebend sind Schnarrheuschrecken, Zirpen, die sich am liebsten im hohen Grase aufhalten, das dem Lichte, welches zu ihnen gelangt, einen mehr oder minder grünen Ton verleiht; grünliebend sind aber auch die in Tümpeln mit Wasserlinsenüberzug lebenden Oulex- Larven. Bei den rotliebenden Tieren ist es endlich weniger die Lust am Rot, als vielmehr die Unlust am Blau und Ultraviolett, welche sie an Orte treibt, wo diese Farben vermieden sind und wo das Grün der Tümpel auch das Rot durchläßt. So halten sich Tritonen, Frösche, Küchenschabe, Werre, Ameise überhaupt an dunklen Orten auf, die ebensowenig wie die Standplätze im Wasser eine rote Farbe haben. Fassen wir aber alles dieses zusammen, so ergibt sich wohl zweifellos, daß die bisher noch nie beachtete Relation zwischen dem Farben- geschmacke und der Grundfarbe des Aufenthaltsmediums eine allgemeinere ist als jene, welche sich auf die Farbe der Nahrung oder auf das sexuelle Hautkolorit bezieht. — Bezüglich des Lichtsinnes im allgemeinen, den GrABER im 6. Ab- schnitt behandelt, spricht sicb der Autor zunächst gegen eine Äußerung H. Macnus’! aus, worin dieser sagt: »aus der Teilnahme, welche Tiere gewissen Farbeneffekten schenken, können wir nichts weiter schließen, als was Brück£ und WaAutvaceE geschlossen haben, daß die Tiere zwar wohl eine Farbenempfindung haben mögen, dab aber über die Be- schaffenheit derselben aus den Beobachtungen ihres reaktiven Verhaltens ı Magnus, H., Ein Blick in die Sinnenwelt der Tiere in: Humboldt. 1882. Heft 12. Wissenschaftliche Rundschau. 61 nichts zu folgern ist.< Diesen gegenüber bespricht nun der Verfasser die Verbreitung des Farbensinnes, den er als Vermögen bezeichnet, Farben wahrzunehmen und zu unterscheiden, und findet, daß er viel weiter ver- breitet ist als der ausgeprägte, d. i. der in den reaktiven Bewegungen sich äußernde Geschmack für Farben, wobei bedeutsam erscheint, daß die Verbreitungsgrenzen von Farbensinn und -geschmack keineswegs zu- sammenfallen und daß Farbengleichgültigkeit (Chromoamblyopie) keines- wegs auf Farbenblindheit schließen läßt. So erscheint die Empfindlich- keit gegen die gewöhnlichen Sinnesreize insbesondere bei den Haustieren bedeutend herabgestimmt und es ist die Möglichkeit nicht zu bestreiten, daß Farben- und Helligkeitswahrnehmung gemeinsame Funktionen aller eigentlichen Sehorgane seien. Die Feinheit des Farbensinnes ist im all- gemeinen viel größer, als sie nach den Ergebnissen der Experimente zu sein scheint, ja es ist wahrscheinlich, daß gewisse Tiere noch viel feinen Farbenabstufungen erkennen, als die sind, welche bei den Experimenten in Anwendung kamen. So zeigt besonders bei den Insekten der Umstand darauf hin, daß manchen zur Erkennung ihrer eigenen Art, wie sie doch vor allem behufs der Fortpflanzung angenommen werden muß, keine anderen Merkmale zu Gebote stehen als gewisse Farbenunterschiede, da sich sonst verwandte Arten außer im Kolorit oft gar nicht zu unter- scheiden scheinen; dagegen ist Grant zu weit gegangen. Das Sehen der Insekten ist höchstens ein mehr mikroskopisches als bei uns. — Welchen Charakter haben die Vorstellungen der Farben bei den Tieren ? Das wissen wir nicht; doch können wohl gewisse Abweichungen in der Beschaffenheit der Farbenvorstellungen vorkommen. Wie ist nun aber der Sinn für die Farben überhaupt entstanden? Welches waren die Ursachen, die zur Unterscheidung von verschiedenen qualitativen Licht- unterschieden geführt haben? Der Autor weib hierauf keine Antwort zu geben und glaubt, »hätte sich Grant auf die Behauptung beschränkt, daß zwischen dem Farbensinn und den Farben der die Tiere beein- flussenden Umgebung eine gewisse Wechselwirkung bestehe, daß also einerseits mit dem Auftreten neuer Farben an für die Tiere wichtigen Naturobjekten, z. B. an Blumen, Früchten u. s. w., das Bedürfnis nach einer entsprechenden Erweiterung des Farbensinnes zunehme, und dab anderseits eine stärkere Differenzierung des letzteren auch wieder die Bedeutung der objektiven Farben erhöhen könne, so könnte man sich mit einer solchen Anschauung im allgemeinen allenfalls einverstanden erklären, wenn wir auch hinsichtlich der näheren Modalitäten, wie man sich eine solche gegenseitige Anpassung zu denken hat, noch lange nicht im reinen sind.selh«, und SCHRADER: lat. piscis, altir. iasc, gr. €/%eAvs, lat. anguilla, lit. ungurys, altsl. agoriei etc. Die Beweise für eine nordeuropäische Urheimat der Arier häufen sich somit von Tag zu Tag. Dr. FLi6IEr. Über die Fortbewegung der Tiere an senkrechten glatten Flächen hat Dr. H. Dewırz im XXXII. Bande von »PrLücer’s Archiv f. d. ge- samte Physiologie der Menschen und der Tiere« einige interessante Studien veröffentlicht, die auch den Lesern des »Kosmos« bekannt ge- macht zu werden verdienen. Bekanntlich gibt es eine Menge von Tieren. welche an senkrechten, ziemlich glatten Wänden geschickt umherlaufen: oder kriechen können, ja noch mehr, welche sogar an wagerechten Wän- den sich derart fortbewegen können, dab die Rückenseite ihres Körpers nach unten gerichtet ist (Fliegen, Laubfrösche). Diese Fähigkeit wir: ermöglicht durch zwei verschiedenartige Apparate, von denen der eine durch Luftdruck wirkt, der andere dagegen seine Wirksamkeit auf das Vorhandensein einer wohl in allen Fällen klebrigen Flüssigkeit gründet. Bei dem erstern Apparat haben wir es gewöhnlich mit Saugscheiben zu Kosmos 1884, IJ. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XV), 5) 66 Wissenschaftliche Rundschau. thun, wie sie aus sehr vielen Klassen des Tierreiches allgemein bekannt sind, so z. B. bei Würmern, Echinodermen, Insekten und andern Glieder- tieren, Mollusken und Wirbeltieren. Nicht selten kommt es vor, daß beide Apparate neben einander bestehen. Die Blutegel z. B. können bekannt- lich an glatten Wänden mit Hilfe ihrer Saugscheiben umherkriechen; daß sie aber auch ohne Zuhilfenahme der Saugthätigkeit sich fortzubewegen im stande sind, beweist ein Experiment von Dewrrz, welcher konstatierte, daß die Tiere auch an Drahtnetzen umherkriechen können. Offenbar können sie sich an den Drähten nicht durch den Luftdruck festhalten; hier muß es also das von den Saugscheiben abgesonderte klebrige Sekret sein, welches das Festhalten bewirkt und damit ein Fortbewegen an einem senkrechten Drahtnetz ermöglicht. Den Saugscheiben, die also durch Luftdruck wirken, stehen die Klebscheiben oder Haftlappen gegenüber, deren Wirksamkeit auf einem klebrigen Stoff beruht, der von den Scheiben abgesondert wird. Auch die Klebscheiben sind im Tierreich ziemlich weit verbreitet; man findet sie (ziemlich selten) bei Wirbeltieren, bei Insekten (sehr verbreitet), bei Mollusken (?), bei Cölenteraten und auch (allerdings in modifizierter Form) bei Protisten. Wir wollen zwei verschiedene Formen dieser Klebscheibcehen oder Haftlappen uns etwas näher ansehen, und zwar nehmen wir dazu die Haftscheibe eines Laubfrosches und die eines Insekts. Ein Schnitt durch die Haftscheibe des Laubfrosches in der Längs- achse des Fingers führt uns in die Organisationsverhältnisse ein. Wir bemerken da zu äußerst die ziemlich dicke Epidermis, die auf der oberen und unteren Seite eine etwas verschiedene Zusammensetzung aufweist. Um das vordere, freie Ende der Scheibe läuft eine sog. Ringfurche. Unter der Epidermis liegt die Pigmentschicht, aber nur an der oberen Seite der Haftscheibe, während sie auf der unteren fehlt. Auf diese Pigmentschicht folgen die Schleimdrüsen, welche über den ganzen Körper zerstreut sind und durch feine Kanäle nach außen münden. In der Form, wie sie allgemein in der Körperoberfläche vorkommen, finden sich diese kugeligen Schleimdrüsen nur an der oberen Seite der Haftscheibe, nicht aber auch an der unteren. Hier treffen wir große, schlauchförmige Drüsen, die bis weit in das Innere des Ballens hineinragen, von Binde- gewebe eingeschlossen und von zahlreichen Blutgefäßen durchzogen wer- den. Dies sind die Klebdrüsen, welche das Sekret liefern, vermittelst dessen sich der Laubfrosch an glatten senkrechten Wänden festhalten kann. Natürlich münden diese Klebdrüsen durch einen Kanal auf der untern Seite der Klebscheibe aus, wie Dewırz zeigt, nicht aber öffnen sie sich in die oben erwähnte Ringfurche, wie L£ypıG meinte. Diese Klebdrüsen werden wir selbstverständlich von den allgemeinen Schleim- drüsen des Körpers, wie sie sich ja auch im oberen Teile der Klebscheibe vorfinden, abzuleiten haben. Der vordere Teil der Klebscheibe ist nach Dewırz mit Lymphe gefüllt; dadurch wird dieser Teil elastisch, so daß er beim Anprall des Tieres gegen eine Fläche, z. B. beim Sprung, sich den Unebenheiten dieser Fläche besser anschmiegen kann, als wenn er hart und nicht nachgiebig wäre. Die Haftscheiben oder Haftballen an den Insektenbeinen sind von sehr - Wissenschaftliche Rundschau. 67 verschiedener Gestalt und Beschaffenheit, wie in den Handbüchern der Entomologie des näheren zu erfahren ist. Oft sind die Ballen behaart, oft nackt. Meist hat man die Haftballen der Insekten für Saugscheiben gehalten; in Wirklichkeit aber sind es, wie Dewırz nachweist und wie man auch direkt unter dem Mikroskop beobachten kann, Haftscheiben, welche vermittelst eines klebrigen Sekretes wirken. Wir betrachten die Haftscheibe eines Käfers, die behaart ist. Im Innern eines solchen Hatt- ballens, dessen spezieller Bau bei Dewrrz nachzusehen ist, bemerken wir zunächst Nervenstämme, welche sich in einzelne Zweige auflösen, die nach der Unterfläche des Ballens hingehen. Gegen das Ende ihres Ver- laufes bilden diese Nervenzweige Ganglien-Anschwellungen, welche mit einem langen Tasthaar in Verbindung stehen, wie sie bei den Insekten ja zur Genüge schon seit langem bekannt sind. Außer diesen in geringerer Anzahl vorhandenen Tasthaaren sehen wir nun noch weit zahlreichere, aber kürzere; dies sind die Hafthaare. Sie stehen mit großen Drüsenzellen in Verbindung, in denen man meistens nur einen, selten mehrere Kerne bemerkt. Studiert man diese Haare bei stärkerer Vergrößerung, so erkennt man bald, daß sie von einem Kanal durchzogen werden, der sich ent- weder an der Spitze des Haares oder vor derselben seitlich nach außen öffnet. Die Haare selbst zeigen bei verschiedenen Insekten eine ver- schiedene Gestalt; an der Spitze sind sie nicht selten verbreitert und weich, häutig. Manche von ihnen sind auch zugespitzt. Im vordern Ende der Haare kann man ein Flüssigkeitströpfcehen wahrnehmen, das klar und durchscheinend ist und sich in einen Faden ausziehen läßt, also eine klebrige Beschaffenheit aufzuweisen hat. Wenn dieser Bau allein schon dafür spräche, daß die Haftscheiben der Insekten wirklich Klebscheiben sind, so hat sich Drwırz von der Thatsächlichkeit dieser Ansicht aber auch durch die direkte Beobachtung überzeugt. Er brachte eine Fliege derart in eine Vorrichtung (deren Konstruktion in der Ab- handlung selbst nachzusehen ist), daß sie auf dem Rücken lag und die Haftscheiben der Füße gegen die Unterseite eines Objektträgers stießen. Die Bauchseite der Fliege und die Unterseite der Haftscheiben mit den Haaren waren also dem Objektiv des Mikroskops zugekehrt. Dewrrz konnte nun klar sehen, daß die Haftscheiben nicht wie Saugscheiben wirken, sondern wie Klebscheiben; daß aus den Haaren die klebrige Flüssigkeit austrat, welche sich in Fäden auszog und von welcher Teile beim Zurückziehen des Fußes auf dem Glase zurückblieben, Übrigens werden die Klebscheiben nur beim Klettern an glatten Gegen- ständen gebraucht, nicht dagegen bei der Bewegung auf oder an rauhen. Wenn z. B. eine Fliege an einer rauhen Wand emporklettert, so bedient sie sich dabei nicht der Saugscheiben, sondern nur der Krallen an dem Vorderende des letzten Tarsalgliedes. Früher hat man wohl geglaubt, daß diese Krallen auch beim Klettern oder Laufen an glatten Gegen- ständen benutzt würden, z. B. von vielen Insekten beim Laufen auf glatten Blättern. Allein wie man sich leicht überzeugen kann, sind die Unebenheiten auf diesen Gegenständen nicht so groß, als daß sie den Krallen Anhaltspunkte böten. Anderseits sind auch die Krallen viel zu zart, als daß sie in die harte Oberfläche der meisten hier in betracht 68 Wissenschaftliche Rundschau. kommenden Gegenstände eindringen könnten. Wo es sich um glatte Gegenstände handelt, da werden sich die Insekten wohl stets vermöge ihrer Klebscheiben fortbewegen. Sehr ausgeprägt sind die Klebscheiben bei flügellosen oder springen- den Insekten. Der Vorteil der Einrichtung, ihre eminente Bedeutung für das Leben der Tiere liegt gerade hier auf der Hand. Wenn ein springendes Insekt sofort an derjenigen Stelle hängen bleibt, nach der es gesprungen ist, so hat es damit einen bedeutenden Vorteil vor seinen nicht mit Klebscheiben ausgestatteten Konkurrenten voraus; es kann auch mit Vorteil nach einem solchen Gegenstande springen, an dem es sich mit Krallen nicht halten könnte. Von diesem Gesichtspunkte betrachtet. sind die Klebscheiben biologisch eigentlich wichtiger und wertvoller als die Krallen; denn während letztere nur an rauhen Gegenständen zur Wirk- ung kommen können, können erstere überall mit Vorteil benutzt werden. Nicht nur die ausgebildeten Insekten bewegen sich mit Hilfe eines Klebstoffes, sondern auch sehr viele Insektenlarven, z. B. Fliegenmaden, wovon man sich durch direkte Beobachtung überzeugen kann. Interessant ist die Bewegungsweise der Raupen des Kohlweißlings an glatten senk- rechten Wänden empor. Sie bewegen nämlich den Kopf abwechselnd nach der linken und rechten Seite und spinnen dabei Fäden aus, die sie an der glatten Wand befestigen. An diesen Fäden klettern sie wie an einer selbstgemachten Strickleiter empor. Springende Spinnen besitzen gleichfalls einen Sekretionsapparat, dessen sie sich sehr geschickt bedienen. Bei den Mollusken (z. B. Schnecken) ist die Fortbewegung durch Vermittelung von klebriger Absonderung all- gemein bekannt. Unter den Cölenteraten bietet Hydra ein vorzügliches Beispiel. Die Hydra kann sich vermittelst ihres Fußes, ebenso wie viele Aktinien, von der Stelle bewegen. Die Zellen der Fußplatte von Hydra senden näm- lich Pseudopodien aus und sondern ein Sekret ab. Vermittelst der Pseudopodien bewegen sich die Hydra, vermittelst des Sekretes halten sie sich fest. Meistens bewegt sich Hydra freilich mit Hilfe der Ten- takeln; diese werden vorgestreckt, vermittelst eines an ihrer Spitze ab- gesonderten Sekretes festgeheftet, und nun wird der Fuß nachgezogen. Vielleicht kann man das kriechende Fortbewegen vieler Protisten, z. B. Moneren und Amöben, auch mit einem schleimigen klebrigen Sekret in Verbindung bringen. Wenn eine Amöbe sich auf einem Deckglas be- wegt, so bleibt bekanntlich eine Spur eines Sekretes zurück. Die Be- wegung wird also wohl so vor sich gehen: die Pseudopodien werden nach einer Richtung ausgestreckt; an ihrer Spitze kleben sie sich vermittelst eines Sekretes auf der Unterlage fest und nun wird der übrige Teil des. Körpers nachgezogen, dann folgt Ausstreckung von Pseudopodien an einer anderen Stelle, Festheftung u. s. w. Die Arbeit von Dewrrz enthält noch manche interessante Angaben, so dab wir dieselbe unsern Lesern sehr empfehlen können. Gleichfalls aber möchten wir auf den Gegenstand selbst hinweisen, der gewiß genauere Beachtung und eingehendere Untersuchung verdient, als ihm bisher zu teil geworden. Göttingen. Dr. W. BREITENBACH. Wissenschaftliche Rundschan. 69 Geographie. Vergleichende Insel-Studien. ' >Wenn wir auf einer Weltkarte die Ozeane mit ihren unregelmäßig zerstreuten Inseln und Inselgruppen überschauen, wird sich uns sehr bald die Frage aufdrängen, ob sich denn nicht unter diesen so ver- schiedenartig gestalteten, bald hohen, bald flachen, teils kreisförmigen, teils langgestreckten, teils ganz unregelmäßig geformten Inseln doch gewisse Grundtypen erkennen lassen. Dabei macht sich schon die Hoff- nung geltend, daß es uns durch Auffindung solcher Grundformen ge- lingen möchte, auch über die Ursachen der unregelmäßigen Verteilung der Inseln und über ihre Bildungsgeschichte überhaupt größere Klarheit zu gewinnen. Wir möchten wissen, warum der atlantische Ozean so auffällig arm an Inseln ist, warum Asiens Östrand von jenen merkwür- digen, nur ihm in dieser Weise eigenen Inselketten begleitet wird, warum manche Küsten, wie die norwegischen, schottischen und patagonischen, von einer Schar dichtgedrängter Inseln umsäumt werden, während andere Küsten, wie Amerikas Westrand von Süd-Chile bis Pugetsund, so gut wie völlig frei von Inseln sind. Ist jene Insel, die uns durch ihre selt- same Gestalt gerade auffällt, vom Meeresgrunde aufgestiegen oder ist sie ein losgerissenes Bruchstück eines größeren Ganzen, vielleicht gar der letzte Rest eines völlig versunkenen Festlandes? Dürfen wir das letztere annehmen, auf welche Weise wurde dann die Abtrennung be- wirkt? Waren es Senkungen einzelner Teile der Erdrinde, oder die un- ablässige Thätigkeit der Meereswogen, der fließenden Gewässer oder der Niederschläge, die den Zusammenhang lockerten? War die Insel aber kein Bestandteil eines Festlandes, ist sie dann durch vulkanische Thätig- keit aufgeschüttet worden, wurde sie von Korallen auf einer unterseeischen Bank langsam emporgeführt oder haben die Winde und die Strömungen so lange Sand, pflanzliche und tierische Überreste zusammengetrieben, bis endlich die neue Insel den Meeresspiegel erreichte ?« Diese Fragen, welche jeden packen, der sich für die Entwickelung und gegenwärtige Gestaltung der Erde interessiert, kommen leider in der 208 Seiten umfassenden Arbeit nicht zur direkten Beantwortung. In- direkt wird viel geboten. Daher vermissen wir ein hierauf bezügliches Schlußkapitel, in dem unter stetem Hinweis auf den mitgeteilten Stoff und die gewonnenen Resultate diese großen Aufgaben zu ihrer jetzt mög- lichen Lösung gebracht werden. Wenn der Herr Verfasser dasselbe nach- liefert, wird er viel besser erkennen, als hier gesagt werden kann, dab einige von den angeführten Fragen in den vier Abschnitten seines Buches doch so gut wie keine Beachtung gefunden haben. Das Lob, welches seinen »Untersuchungen über das Aufsteigen und Sinken der Küsten, Leipzig 1879« wurde, gebührt auch den >Insel-Studien« ; beide Abhandlungen strotzen von gediegenem Stoff. ı Dr. F.G. Hahn. Insel-Studien. Versuch einer auf orographische und Eaulögisehe Verhältnisse gegründeten Einteilung der Inseln. Mit einer Karte in Farbendruck. Leipzig. Verlag von Veit & Comp. 1883. 70 Wissenschaftliche Rundschau. Letztere genießt aber den hohen Vorzug, ein Register zu besitzen und brauchbar zu werden auf mancherlei Weise, selbst dem, welcher mit dem System der Inseln, welches Hann aufgebaut, nicht einverstan- den ist. Auf doppeltem Wege, meint Hann, sei es möglich, zur Einsicht in die Anordnung und Gestaltung der Inseln zu gelangen; der eine sei die biologische, der andere die morphologische Methode. Die Anhänger der letzteren ziehen Form und Küstengestaltung, Relief und geologischen Bau, ferner die Tiefen und Gehänge der um- gebenden Meere und endlich alle diese Merkmale, sofern sie an den nach- barlichen Inseln und Festlandsgestaden auftreten, in Betrachtung; wäh- rend die Anhänger der biologischen Methode diese Merkmale nicht außer acht lassen, legen sie das Hauptgewicht auf die Flora und Fauna der Inseln, resp. auf das Verhältnis derselben zu dem biologischen Charakter der Nachbarländer. In welcher Weise und mit welchem Erfolge beide Methoden ange- wandt worden sind, wird im ersten Abschnitte: »Zur Geschichte der Inselsysteme« auf 35 Seiten klargelegt. Schon 1777 schloß ZIMMERMANN seine umfangreiche Darstellung der gesamten Tiergeographie mit einem ziemlich langen Kapitel über die verschiedenen Klassen der Inseln und ihre Abgrenzung auf Grund tier- geographischer Thatsachen, ein Kapitel, welches erst durch CHARLES Darwın’s Reise um die Erde (27. Dez. 1831 bis 2. Okt. 1836) wieder gelesen und bearbeitet wurde. Lyeut und WaArLAcE haben hierbei sehr Schätzenswertes geleistet. In >»Island Life« sagt letzterer, dab die Inseln zwei Entstehungsursachen haben könnten: entweder sind sie früher oder später abgetrennte Bruchstücke von Kontinenten oder sie sind im Ozean entstanden, ohne Kontinenten angehört zu haben. Nicht weniger übersichtlich, aber entschieden reichhaltiger ist das System, welches 15 Jahre früher (am 19. Febr. 1867) unser PrscHEL gegeben. Er gliedert I. Inseln, die niemals Festland waren: 1. Junge Inseln, von Korallen erbaut, niedrig, arm an Pflanzen- und Tierarten, vorzüglich an Säugetieren und Reptilien, nicht ausgezeichnet durch den ausschließlichen Besitz eigentümlicher Ge- wächse oder Tiere. Beispiele: Atolle der Südsee und des Indischen Ozeans. 2. Junge Inseln vulkanischen Ursprungs, als hohe Inseln reicher an Arten als die niedrigen Atolle, aber ohne eigentüm- liche Arten. Beispiele: Nördl. Gruppe der Marianen, St. Paul und Neu- Amsterdam. 3. Alte Inselvulkane, vergleichsweise reicher als die vorigen, mit eigenen Pflanzen und Tiertrachten, Zufluchtsstätten ausgestorbener Kontinentalarten. Beispiele: Madeira, Ascension, St. Helena, Bourbon, Mauritius, Galapagos-Gruppe. | I. Bruchstücke früherer Hestlande. 4. Frisch abgetrennte Inseln mit derselben Pflanzen- und Tierwelt, wie das benachbarte Festland, nicht ausgezeichnet durch den ausschließlichen Besitz von eigentümlichen organischen Formen, in Ver- Wissenschaftliche Rundschau. 71 armung begriffen oder ihr entgegensehend. Beispiele: Britische Inseln, Japan. 5. Inseln, die sich in der geologischen Vorzeit ab- trennten, alte Kontinentalinseln. Ihre Tier- und Pflanzenwelt zeigt bereits Verschiedenheit mit dem Mutterfestlande. Trat die Trennung schon vor größeren Zeitabschnitten ein, so kann sich sogar typische Verschiedenheit entwickeln. Beispiele: Antillen, Neu-Guinea. 6. Zusammengeschrumpfte Weltinseln. Reichtum an eigengehörigen Arten mit altertümlichem Anstrich. Beispiele: Australien in bezug auf Südasien, Madagaskar, Neuseeland. WALLACE und PEscHEeL gegenüber bezeichnet jedenfalls, wie Hau schreibt, KırcHHorr'’s Inselsystem »einen höchst beachtenswerten Fort- schritt«; es lautet, wenn wir Pescner’s Arbeit damit vergleichen: I. Festländische Inseln (bei Prscher: II). 1. Abgliederungsinseln (b. P.: 4 und 5). 2. Restinseln (b. P.: 6). II. Ursprüngliche Inseln (b. P.: ]). 1. Submarin entstandene Inseln (b. P.: zum Teil 2). 2. Aufschüttungsinseln (von denen die Koralleninseln nur eine be- sondere Form sind) (b. P.: zum Teil 1). 3. Nichtvulkanische Hebungsinseln (b. P.: zum Teil 3). Über den »höchst beachtenswerten Fortschritt< urteilen wir etwas nüchterner, ohne Prof. Kırcnnorr’s Einleitung unterschätzen zu wollen. Zweifelslos ist die biologische Methode nicht frei von großen Schwächen, welche Hau aber nur zum Teil verzeichnet. Der Haupt- fehler liegt in der Einseitigkeit und in dem Unvermögen der organischen Welt, nicht immer ein votum decisivum über die Entstehung der Inseln abgeben zu können. Zuverlässiger zeigt sie den Zeitpunkt an, wann die Insel in den regen Kultur- und Weltverkehr eingetreten. Den Einwand: >Die Behauptungen des Biologen können, wie wir sahen, nach Jahrhunderten nicht mehr genau genug geprüft werden, da die Thatsachen, auf welche er seine Ännahmen stützte, inzwischen andere geworden sind,« weist der Zoolog und Botaniker damit zurück , dab im Museum X. Y. die unter- suchten Objekte zur Nachprüfung aufbewahrt werden. Nicht besser er- geht es einigen anderen Einwürfen. Der Übelstand liegt vielmehr darin, daß wir gar keine Garantie dafür besitzen, daß der erforschte Zustand von Flora und Fauna einer Insel mit ihrem eigenen Anfange zusammen- falle. Als Beispiel führen wir die Inseln der norwegischen Fjordeküste an. Ihrer Lebewelt gemäß gehören sie nach PxscHeL zu Gruppe 4, und doch sind sie so alt, als Norwegen selbst. Beide, sie und das Mutterland verloren durch die Eiszeit ihre ursprüngliche Flora und Fauna. Dasselbe gilt von nicht wenigen andern, vornehmlich arktischen Inseln. Als Anhänger der morphologischen Methode werden STRABO, BERN- HARD VALERIUS, BUFFON, RıTTER, FORSTER, CHAmisso, Leor. v. Buch, RArzsn und FRrIEDR. Horrmann genannt und eingehend nach ihren Leistungen gewogen. Keine befriedigt Harn, und deshalb schafft er ein neues System. Dasselbe lautet: I. Tektonische Inseln. Ihnen ist der 2. Abschnitt, der größte 73) Wissenschaftliche Rundschau. Teil der Arbeit, 82 Seiten, gewidmet. Diese Inseln stehen in unmittel- barem Zusammenhang mit der Gebirgsbildung und dem Aufbau des Fest- landes; entweder sind es Trümmer versunkener Festlandsstücke oder Schöpfungen vulkanischer Thätigkeit. Der Einfluß, welchen die Beweg- ungen und Faltenbildungen der Erdrinde ausübten, überwiegt weitaus die Einwirkung der Erosion. Besondere Kennzeichen sind: »Rasche Abwechsel- ung zwischen tiefen Meeresbecken und hohen Inseln, Reichtum an hohen Inseln und fingerförmigen, auch meist hohen Halbinseln,, reihenförmige Anordnung der Inselketten, Reichtum an Vulkanen und Erdbeben. Sie werden also unterschieden: A. Durchweg vulkanische Bildungen. 1. Inseln, welche nur als Trümmer alter Valkas gerüste zu betrachten sind, deutliche Reste eines Kra- ters aber nicht aufzuweisen haben. Beispiele: St. Paul im Atl. Ozean, Fernando Noronha, Salas y Gomez. 2. Inseln, welche nur aus einem einzigen Vulkan be- stehen, in dessen Krater nach Einsturz oder Wegwaschung einer Wand das Meer eindrang. Beispiele: St. Paul im Ind. Ozean, Deception Is- land im Antarkt. Meer, Monte Colibre im Mittelmeer. 3. Die Insel besteht aus einem wohlerhaltenen Vul- kan, erscheint deshalb kegelförmig und häufig kreisrund, nichtvulkanische Bildungen fehlen auch bei dieser Gruppe noch gänzlich. Beispiele: As- cension, Tristan d’Acunha, Rangitoto in der Nähe der Stadt Auckland, die zur Tongagruppe gehörenden Inseln Tofua und Kao, die Doppel- inseln Maui, Tahiti. 4. Die Insel besitzt-mehr als einen Hauptbersser scheint deshalb nicht mehr rund, sondern häufig langgestreckt. Bei- spiele: Savaii, Upolu. } B. Nicht ausschließlich oder gar nicht vulkanısche Bildungen. 5. Vulkanische Bildungen nehmen mehr als die Hälfte der Insel ein. Beispiele: Canarische Inseln, Santorin. 6. Vulkanische Bildungen nehmen weniger valszdıe Hälfte der Insel ein. Beispiele: Sicilien, Sardinien, die großen Sunda-Inseln, Neu-Seeland. 7. Die ganze Insel ist unvulkanisch, aber tektonisch. Beispiele: Naxos, Paros, Siphnos, Seriphos, Delos, Mykonos, Tenos, Corsika, die Balearen, die nicht vulkanischen Inseln Westindiens und der Sundawelt. IH. Erosionsinseln. Sie werden im dritten Abschnitt auf 50 Seiten abgehandelt. Von ihnen heißt es: Nur durch die Erosion von Temperaturschwankungen, besonders von gefrierendem Wasser in Spalten, ferner durch die Erosion von Wind, von Niederschlägen aller Art, von Quellen und fließendem Gewässer, von Meereswellen und Gletschereis wurden die Inseln vom Lande getrennt und zur Selbständigkeit erhoben. Sie umfassen 5 Klassen. 8. Inseln mit norwegischem Typus: Trümmer eines hohen Gebirgs- oder Plateaulandes, deshalb häufig ansehnliche Bergmassen ent- Wissenschaftliche Rundschau. 7 haltend. Gesellig auftretend, Größe meist gering, doch kommen einzelne größere Bruchstücke in jedem Schwarme vor. Gehören meist den älteren geologischen Perioden an, einzelne Ausnahmen finden aber statt. Haupt- gebiete: Norwegen, Schottland, Irland, Dalmatien, Persergolf, Ostasien (?), Küstenstrecken Australiens, beide Polarzonen. 9. Inseln mit schwedischem Typus: Bruchstücke eines weniger hohen Tafellandes, meist fach und ohne bedeutende Erhebungen, gesellig auftretend, Größe gering, größere Bruchstücke sehr selten. Gleichfalls meist älteren Formationen angehörend. Hauptgebiete: Schwe- den, besonders die Ostküste, Finland, Ostrand der Hudsonsbai, einzelne Striche der Polarmeere. 10. Inseln mit gotländischem Typus: Bruchstücke eines massig hohen Hügellandes, ohne bedeutende Erhebungen. Nur vereinzelt auftretend, Größe ziemlich bedeutend, meist der silurischen Formation angehörend. Hauptgebiete: Öland, Gotland, Ösel, Dagö, vielleicht Born- holm und Anticosti. 11. Inseln mit dänischem Typus: Bruchstücke eines hügeligen, leichtwelligen oder ganz ebenen Landes von geringer Meereshöhe. Mehrere größere Inseln von mittelgroßen und kleinen umgeben, die Inselschwärme aber nie so dicht wie bei 8 und 9, meist aus jüngeren Gesteinen von der Kreide an bestehend. Hauptgebiet: Dänische Inseln außer Bornholm 12, Inseln mit großbritannischem”- Typus. Beispiele: Grossbritannien, Üeylon. III. Aufschüttungsinseln. Sie werden im letzten, kaum 30 Seiten spannenden Abschnitt besprochen. Von ihnen fordert Hans, daß sie weder den Faltungen der Erdrinde unmittelbar oder mittelbar ihre Entstehung verdanken, noch daß sie durch Erosion irgendwelcher Art von einem Festlande abgerissen worden sind. Sie sind auf Untiefen durch Anhäufung von allerhand Schutt entstanden, welcher entweder dem Mineral-, oder Pflanzen- oder Tierreiche angehören kann. Deshalb unterscheidet Hanx: A. Minerogene Aufschüttungsinseln. 13. Die Strömungen des Meeres, sowie die großen Flüsse führen Sedimente herbei, die sich an ohnehin seichten Stellen des Meeres- grundes sammeln und zu Inseln werden. Sie sind nur sehr selten auf hoher See anzutreffen. Beispiele: Gotska Sandö (im Norden von Gotland), Ruden (an der Küste Vorpommerns), Greifswalder Oie, Schlamminseln des Jenisei, Tas, Ob. 14. Durch vulkanische Ausbrüche aufgeschüttete Inseln. Beispiele: Mikra Kaymeni, Nea Kaymeni, Paläa Kaymeni (bei Santorin). B. Phytogene Aufschüttungsinseln. 15. Schwimmende Inseln. Mangrove Inseln. C. Zoogene Aufschüttungsinseln. 16. Koralleninseln etc. »Ausserdem beteiligen sich Echinoder- men, besonders Seeigel und Schlangensterne, endlich auch Polythalamien an der allmählichen Erhöhung des Meeresgrundes.« Die Stärke des mitgeteilten Systems beruht in der zur Zeit mög- lichen Fülle von Angaben über Meerestiefen. Wir würden dem Herrn 74 Wissenschaftliche Rundschau. Verfasser gratulieren, wenn er dieses Merkmal, d. i. die Architektur der Meeresräume, zum Ausschlag gebenden Prinzip erhoben hätte. Wie von selbst wäre er dann dazu geführt worden, über die Entwickelung dieser tiefen Räume das Wichtigste mitzuteilen. Wir hätten dann in scharfen Grenzen ein bestimmtes Bild von der Allgemeinvorstellung erhalten, daß am Anfang die Ozeane umfangreicher, aber weniger tief und die Konti- nente mehr oder minder aufgelöste Inselschwärme waren, daß dann später, als der Erdball sein Antlitz tiefer runzelte und mit höheren Falten bedeckte, die Meere tiefer, die Kontinente größer und aus diesem dop- pelten Grunde die Inselgruppen immer geringer an Zahl und Umfang wurden. Endlich traten die gegenwärtigen Verhältnisse ein. Wo heute die größten Meerestiefen liegen, dahin verlegen wir meist mit Recht die ältesten Becken, dort suchen wir die primären Bruchzonen. Auf die Lage der kolossalen Meerestiefen stützen wir unsere Ansicht, daß unsere fünf Weltmeere von altersher an den Plätzen existieren, wo wir sie gegen- wärtig finden. Wie eine Platte, die eine auf- und abwärtsgehende Bieg- ung zeigt, bei seitlichem Drucke den Charakter ihrer Biegungen beibehält und dieselben nur der wirkenden Kraft entsprechend verschärft, so ver- änderten sich die Meere und Kontinente. Erstere verloren an Ausdehn- ung und gewannen an Tiefe. Nur hier und da haben sich Stücke ihrer uranfänglichen Küste erkalten. Im Atlantischen Ozean finden wir der- artige alte Bruchränder im Ostsaume von Grönland und in der West- linie von Skandinavien. Je tiefer der Faltenwurf, so dürfen wir weiter ausführen, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, Falten zweiten, dritten, vierten... Grades zu entwickeln. Von diesem Gesichtspunkte aus wird es klar, warum alle ozeanische Inseln tektonisch und warum die Ozeane überhaupt inselarm sind. Wir ahnen, warum die Südsee relativ reich und der atlantische Ozean relativ arm an Inselbildungen sind. Wir lernen begreifen, warum in der verlängerten Achse des Atlanischen Meeres im Arktischen, wie im Antarktischen Ozean die Inseln fehlen und warum den Ostrand Asiens Inselguirlanden schmücken. Hieraus folgt, daß die meisten Inseln in ihrer Entstehung mit den Bewegungen und Falten- würfen der Erdrinde in Zusammenhang stehen, mit anderen Worten, die 7 Klassen der tektonischen Inseln verschlingen die 9 Klassen der Erosions- und Aufschüttungsinseln. Hiernach sind viele der Hanv’schen Inselgruppen gar nicht existenzberechtigt. Die Inseln der 14. Klasse beispielsweise sind vulkanischen Ursprungs und deshalb tektonisch. Damit bleibt aber die Möglichkeit bestehen, zwischen Inseln, die selbst einen Vulkan ent- halten und diesem ihre Entstehung verdanken und Inseln zu unterschei- den, die gleichsam beiläufig nur durch die eruptiven Auswurfsmassen eines Vulkans entstanden sind. Ferner bleiben die norwegischen Inseln tektonisch; denn ihre Existenz ist an die Aufrichtung der norwegischen Fjelde, aber nicht an die Wirkung der Erosion gebunden. Daß sie durch glaziale Gletscher entstanden, diesem Irrtume tritt Hau mit dem Worte entgegen: Sie gehören älteren geologischen Bildungen an. Die dalmatinischen Inseln sind nicht durch Erosion, sondern durch Senkung entstanden zu denken. Endlich erscheinen uns die Südsee-Inseln, selbst sofern Korallen darauf bauen, als tektonisch; denn wenngleich keine Litteratur und Kritik. ; 75 Senkung im Darwinischen Sinne gegenwärtig zu beobachten ist, so hängen diese Inseln doch mit der Faltenformung der Erdrinde zusammen. Die 15. Klasse, die schwimmenden Inseln u. s. w. sind den übrigen Klassen durchaus nicht gleichwertig; sie gehören ebensowenig in diese Disposition, als die Awa-Inseln, entstanden durch Trümmer eines auf einer Sandbank festsitzenden Schiffes, das in seinem Wellenschatten Sand und Schlamm derartig aufhäufen ließ, dass endlich eine Insel entstand. Hätte Hany die drei Hauptgruppen: Tektonische, Erosions- und Aufschüttungs-Inseln weggelassen, dann könnten in Rücksicht auf den Vulkanismus in die ersten 7 Klassen alle Inseln der Erde eingereiht werden. Die Hanx’sche Systematik hat aber noch eine Schwäche, sie entschlägt sich beinahe jeglicher Historie und relativen Altersbestimmung. Die Bezeichnung >vulkanische Bildung« bezieht sich auf die ganze Alters- reihe der Formationen. Und ebenso zeitlich unbestimmt ist der Ausdruck: Senkungsfeld. Dagegen läßt sich gar nichts sagen, daß das geologische Prinzip als primärer Einteilungsgrund verwertet ist; im Gegenteil ver- dient dies unsere Anerkennung und zwar um so mehr, als eine Geologie des Meeresgrundes zur Zeit noch gar nicht geschrieben ist. Dresden. CLEMENS Könıc. Litteratur und Kritik. Physische Erdkunde. Nach den hinterlassenen Manuskripten OsKAR PescHer’s selbständig bearbeitet und herausgegeben von Gustav LeirorLpr. Zweite verbesserte Auflage. Leipzig, Verlag von Duncker und Humblot. 1883/84. Von diesem vorzüglichen Werke, welches sich dadurch schon selbst empfiehlt, daß noch innerhalb seiner ersten fünf Jahre die zweite Auf- lage notwendig ward, liegen die vier ersten Lieferungen vor uns. Ehe wir auf einzelne Abschnitte zu sprechen kommen, will es uns geboten erscheinen, über das Ganze unser Urteil auszusprechen, zumal dis erste Auflage im »Kosmos« nicht zur Besprechung gelangte. Das Äußere des Werkes läßt, obgleich die Ausstattung sich von allem Pompösen und Gesuchten frei hält, nichts zu wünschen übrig. Die zahlreichen Holzschnitte und lithographischen Karten sind nicht nur klar und sauber, sondern entsprechen auch in ihrem Inhalte durchaus dem neuesten Stande wissenschaftlicher Forschung. Sehr gefreut haben wir uns beispielsweise über die Marskarte nach Dawes und Procror, welche die zweite Auflage bringt. Auch die Welt- karte >Gebiete säkulärer Hebung und Senkung« hat in der neuen Auf- lage eine kleine Bereicherung erfahren. (Durchaus neu ist die Karte der Meeresströmungen, die uns im Probedruck vorliegt.) Die Sprache ist elegant, plastisch und geistreich, der Stil dem großartigen PrscHeu’s oft zum Verkennen gleich und die Darstellung 76 Litteratur und Kritik. klar, echt wissenschaftlich. Überall ist dem Prinzip gehuldigt: >Die Zeiten sind vergangen, wo man unklar zu sein sich bemühte, um geist- reich zu erscheinen, wo die Gelehrten vornehm auf den Laien herab- sahen und zur Wahrung ihrer eigenen priesterlichen Würde sich in das Dunkel einer technischen Sprache, einer Art Diebessprache, zu hüllen liebten.< Der Inhalt, um es kurz zu sagen, ist die Entwickelungs- geschichte unseres Planeten, und gliedert sich in vier Teile, worüber die Einleitung folgendes sagt: >Der erste Teil behandelt vorzugsweise die Beziehungen der Erde zum Kosmos. Wir werden uns hier zunächst die Fragen vor- . legen: Ist die Körperwelt räumlich und zeitlich begrenzt, d. h. ist der ganze unendliche Raum mit Himmelskörpern erfüllt und wird die Welt ewig bestehen? Oder sind in beiden Beziehungen Grenzen gesetzt ? Dann haben wir uns mit den Ergebnissen der neueren Astrophysik zu beschäftigen, welche — insbesondere mit Hilfe der Spektralanalyse — zu ungeahnten Enthüllungen geführt hat. Wir verlassen hier scheinbar unsere eigentliche Aufgabe, und man könnte den Einwand erheben: Warum werden Stoffe, die der Astronomie angehören, in den Kreis dieser Abhandlungen über physische Erdkunde gezogen? Unsere Antwort hierauf lautet: Weil erst durch einen Vergleich der Erde mit anderen Himmelskörpern gefunden werden kann, was dieselbe ist und was sie nicht ist. Von besonderem Interesse ist es zu wissen, ob die Stellung der Erde im Sonnensystem für die Entwickelung organischen Lebens eine -vergleichsweise günstige ist oder nicht. (In der ersten Auflage um- faßt dieser Teil 135, in der zweiten 145 Seiten.) Auf den kosmologischen Teil folgt als zweiter ein geologischer. Wir betrachten in demselben die Gestalt und Größe der Erde, ihre Eigenwärme, die vulkanischen Kräfte, die Erdbeben, die Zustände des Erdinnern und werden so vorbereitet auf eine Besprechung der Kant- Lartace’schen Hypothese. (Dieses Stück des zweiten Teiles ist in der zweiten Auflage von 152 auf 164 Seiten gewachsen.) Hierauf durchschreiten wir die geologischen Zeitalter und ver- suchen den Bau, sowie die Entstehung der Gebirge zu erklären. Von der Plastik der Festlande wenden wir uns zur Morphologie ihrer hori- zontalen Umrisse. Dieser Teil der Erdkunde ist von besonderer Wich- tigkeit. Die Landkarten gewähren das trügerische Bild der Ruhe und des Erstarrten, des Beharrlichen und Unabänderlichen, während doch in Wahrheit die vertikale und horizontale Gliederung der Erdteile unaus- gesetzt dem Wechsel unterworfen ist. Die Landkarten, die vorher nichts als trockene Abbilder für uns waren, bekommen nun den Reiz histo- rischer Gemälde. Wir werden dann bei einem Blick auf die Nordküste von Frankreich nicht nur Buchten und Inseln wahrnehmen, sondern zu- gleich die außerordentlichen Verheerungen der Küste durch Meeres- tluten. Die Zusammenscharung größerer Inseln in der Nähe des Fest- landes wird uns über Senkungserscheinungen belehren. Andere Inseln werden wir aus Lage und Gestalt sofort als vulkanische oder madreporische erkennen u.s.w. (Hiervon sind: Der Schichtenbau der abgekühlten Erdrinde und ein Teil: Über das Aufsteigen und Sinken der Küsten erschienen.) Litteratur und Kritik. 77 Der (dritte) meteorologische Teil beginnt mit der Betracht- ung der Weltmeere, welche durch Ebbe und Flut rhythmisch gehoben, verschieden erwärmt und durch Meeresströmungen in beständiger Be- wegung erhalten werden. Von den ÖOzeanen wenden wir uns zu dem Luftmeer und besprechen seine etagenweise abnehmende Dichtigkeit, seinen Druck und die Möglichkeit, aus demselben mit Hilfe des Baro- meters die Höhe zu messen, seine Erwärmung durch die Sonnenstrahlen, die durch Temperaturdifferenzen erzeugten Strömungen oder Winde, den Wasserdampfgehalt der Luft und die Regenverteilung, die Entstehung und verschiedenartige Beschaffenheit der Quellen, die Bildung der Seen, die Gletscher, die Entwickelung der Flüsse und Ströme, deren physische Aufgaben und Leistungen und den Bau der Thäler. Einen Anhang zu dem meteorologischen Teil bildet der Abschnitt über die magnetischen Kräfte unseres Planeten. Wir verkennen die Wichtigkeit derselben keineswegs, doch wurden sie früher, insbesondere zu A. v. Humsoupr’s Zeiten, bedeutend überschätzt. Sie mußten Er- scheinungen erklären, die durchaus nicht in irgend einer Beziehung zum Erdmagnetismus stehen. Sprach doch der englische Geologe Sir RODERICK MurcHıson die Vermutung aus, daß der auffallende Reichtum der Meri- diangebirge an Gold in Beziehung stehe zu den magnetischen Strömen, welche die Erde umkreisen ! Der vierte Teil ist der Betrachtung des organischen Lebens auf Erden gewidmet. Es ist hier zuerst zu erörtern, inwiefern das Auf- treten und die Verbreitung der Gewächse an gewisse klimatische Vor- aussetzungen gebunden ist. Da die Bekleidung des Bodens mit orga- nischen Formen jedem größeren Erdraum einen besonderen landschaft- lichen Charakter verleiht, so schließen wir hieran eine Untersuchung ästhetischer Art über die Physiognomik der Pflanzen. Ist die Ver- breitung der Gewächse an klimatische Bedingungen geknüpft, so gilt dies mehr oder weniger auch von den Tieren; zugleich sind aber diese auch von dem Pflanzenleben mittelbar oder unmittelbar abhängig. Auch dieses ist nachzuweisen, und endlich ist zu zeigen, "welche charak- teristischen Tiere den einzelnen Erdräumen zukommen. Die Verbreitung der Pflanzen und Tiere aber läßt uns vieles ahnen über die Schicksale, welche gewisse Festländer, gewisse Inselgruppen und Inseln getroffen haben. Der Mensch bleibt hier ausgeschlossen, obwohl er einer ähnlichen Betrachtungsweise unterliegt, einfach deswegen, weil dieser Stoff in die Völkerkunde gehört. Kein Kapitel, keinen Abschnitt wird der Leser des Kosmos, sofern er sich für die Entwickelung der Erde als solcher interessiert, in dem PescHer-Leiroupr’schen Werke finden, welches er vermissen möchte. Das ist gewiß viel gesagt, aber noch nicht genug; denn wir dürfen unangefochten hinzufügen, daß jeder, welcher irgend einen in diesen Rahmen gehörigen Stoff selbständig bearbeiten will, mit Befriedigung und Erfolg auf den betreffenden Abschnitt zurückgreifen wird. In ihm findet er nicht nur gesichtetes Material in reichster Fülle, nicht nur das mabgebende Resultat gegenwärtiger wissenschaftlicher Forschung, sondern 78 Litteratur und Kritik. auch alle einschlagenden Quellen ersten Ranges verzeichnet und immer und überall eine Methode musterhaft innegehalten, welche die . ver- gleichende Erdkkunde im Sinne PzscHeu’s (nicht Rrrrer’s) ebenbürtig der vergleichenden Zoologie, vergleichenden Botanik an die Seite stellt. Die physische Erdkunde P&scHeEL-LrıpoLpr's schließt sich eng an HunmsoLpr’s Kosmos an. Mit Recht hörten wir erstere als eine zeitgemäße Auflage des letzteren Werkes bezeichnen. Äußerlich ist aber zwischen beiden ein großer Unterschied. Der Kosmos erschien unter HumBoupr's Augen und ist heute veraltet. Die Physische Erdkunde dagegen war, als Perschen 1875 die Augen für immer schloß, ein unfertiges Manu- skript, und ist heute das beste Buch auf seinem Gebiete. Dies danken wir Dr. LeıpoLpr; sein Verdienst ist es, die oft sehr lücken- haft überkommenen Manuskripte PescHeu’s in dessen Geist und Weise zu einem einheitlichen, vollendeten, lebenskräftigen Ganzen gestaltet zu haben. Dresden. CLEMENS Könıc. FRIEDRICH von HrLLwALD's »Kulturgeschichte in ihrer na- türlichen Entwickelung bis zur Gegenwart«< liegt in der neu bearbeiteten 3. Auflage, deren erste sechs Lieferungen wir schon früher besprochen haben (s. Bd. XIII, S. 238), bereits einige Zeit fertig vor. (2 Bände, 564, 760 S. 8°. Augsburg, Lampart & Co. 1884.) Einer anpreisenden Empfehlung bedarf dieses Werk nicht. Es wird ihm auch in seiner verjüngten und erweiterten Gestalt an lautem Beifall wie an lebhaftestem Widerspruch nicht fehlen, jedenfalls aber wird es eifrig gelesen werden. Es wirkt — wenigstens auf den, der so starke Medi- zin überhaupt verträgt — wie ein heilsames Gegengift gegen all die siech machenden Einflüsse der verkehrten, absichtlich und unabsichtlich gefälschten und verzerrten Anschauungen, welche der Jugend auch heute noch in der Schule eingetrichtert, dem gebildeten und ungebildeten Pu- blikum in zahllosen »klassischen<, »gesinnungstüchtigen« Litteratur- erzeugnissen als unumstößliche Wahrheiten vorgeführt werden. Auch der freieste Geist wird das Buch nicht aus der Hand legen, ohne von einigen noch unbewußt ihm anklebenden Vorurteilen geheilt worden zu sein. Darin liegt aber auch seine Schwäche. Nicht nur daß eine solch gründliche Reinigungskur notwendig ein katzenjämmerliches nüchternes Gefühl erzeugen muß — wer irgend noch seine geistige Reaktionsfähigkeit bewahrt hat, der empfindet sofort, dab diese pure Negation aller so- genannten »höheren Gesichtspunkte« in der Beurteilung der Menschheits- geschichte, diese rein passive, teilnahmlose Betrachtung des unendlichen Ringens vergangener und gegenwärtiger Geschlechter, deren Ergebnis auf das »Alles ist eitel!< hinausläuft, unmöglich »der Weisheit letzter Schluß« sein kann. Wenn wir dem Verfasser mit Vergnügen folgen, wo er die bestimmenden Faktoren großer geschichtlicher Erscheinungen klar auseinanderlegt und alles natürlich, menschlich findet, so darf uns dies ‚doch nicht blind machen gegen seinen Fehler, auch das »allzu Mensch- Litteratur und Kritik. 79 liche«, das, was auch dem sittlichen Standpunkt der jeweiligen Zeit- genossen schlecht, verwerflich erschien, nicht bloß zu begreifen, sondern sogar zu rechtfertigen, sobald es sich als notwendige Vorbedingung irgend einer historischen Thatsache herausstellt. Wir anerkennen selbst die Berechtigung des schroffen Wortes (II, 269): »Aufgabe der Wissenschaft ist es, alle Ideale zu zerstören, ihre Haltlosigkeit, Nichtigkeit zu er- weisen« u. s. w.; wir geben zu, dab die Menschheit nach wie vor unter der Herrschaft hohler Schlagwörter steht, mögen dieselben auch Freiheit, Gleichheit, Menschenwürde etc. heißen; aber dennoch erblicken wir in der Kulturgeschichte etwas mehr als eine bloße Wiederholung ewig des- selben erfolglosen Kampfes — das Gesetz der fortschreitenden Ent- wickelung, das Verfasser selber für die organische Welt als wichtiges Erklärungsprinzip in Anspruch nimmt, sehen wir auch im Leben der Menschheit verwirklicht. Wir können daher im Grunde dem Verfasser nicht einmal zugestehen, daß er uns die Kulturgeschichte »in ihrer natürlichen Entwickelung« vorgeführt habe: nach ihm hat sich eigentlich nichts entwickelt, alles ist stationär geblieben. Wohl zeigt er vor- trefflich, wie beständig unter neuen Formen immer wieder die alten Instinkte und Neigungen, die alten Irrtümer und Verkehrtheiten hervor- treten und die Geschicke der Völker ganz wesentlich mitbestimmen, die sich darum auch in so bedeutsamen Zügen stets mehr oder weniger gleichen; aber ist damit seine ganze Aufgabe gelöst? Haben wir etwa ein richtiges Bild vom Wesen und der »natürlichen Entwickelung« eines Mannes gewonnen, wenn wir seine Leidenschaften, seine Art zu denken, zu arbeiten, seine Handschrift, seine Gesichtszüge auf die Erscheinungen, die er im Kindes- und Jünglingsalter darbot, oder gar auf die Eigen- schaften seiner Eltern und Voreltern zurückgeführt? Die starke Hervor- hebung des ethnischen Moments bei der Beurteilung der Völker, die stetige Wiederholung des Satzes, daß das Recht des Stärkern überall und zu jeder Zeit suprema lex gewesen sei und sein werde, und noch vieles Ähnliches: es ist ja so sehr berechtigt und höchst verdienstlich, aber es ist doch nur die Kehrseite der Medaille. Das stille Fortwirken der von einzelnen großen Geistern geschaffenen Ideen, der unverkennbare Fortschritt in den sittlichen Anschauungen der Kulturvölker, die Ansätze zu einer gerechteren, das Glück immer weiterer Kreise fördernden Ver- teilung der Lebensgüter — all das existiert für den Verfasser so gut wie gar nicht. Vielleicht würde er solchen Momenten mehr Rechnung getragen haben, wenn er die Neubearbeitung des zweiten Bandes bis zur Gegenwart fortgeführt hätte; er ist aber offenbar, auch mit seinen sozialpolitischen Ansichten, nicht über den Standpunkt der siebziger Jahre hinausgekommen, wie schon die Citate lehren, die sich mit wenigen Aus- nahmen nur auf Bücher und Zeitschriften aus der Zeit vor 1878 beziehen. Es würde uns freuen, in einigen Jahren eine vierte Auflage des Werkes begrüßen und darin eine Fortbildung der allgemeinen Auffassung im an- gedeuteten Sinne konstatieren zu können. m: 80 Notizen. Notizen. Besucher von Hesperis tristis. Im 4. Hefte des „Kosmos“ 1884, I, p. 299 sagt W. O0. FockE: „Spezielle Beobachtungen über die Insekten, welche Daphne laureola und Hesperis tristis befruchten, sind mir nicht bekannt.“ Demgegenüber möchte ich daran erinnern, daß HERM. MÜLLER im XII. Bande der „Nature“ p. 190 eine von Abbildungen begleitete Darstellung des Baues und der Befruchtung von Hesperis tristis geliefert hat, in der auch Besucher dieser Blumen angegeben werden. Die betreffende Stelle lautet in der Übersetzung: „Meiner Tochter AGnEs ist es dadurch, daß sie andauernd Hesperis tristis mehrere milde Abende im Monat Mai überwacht hat, gelungen, folgende Befruchter zu beobachten und zu fangen: 1) Plusia gamma, häufig (Rüssellänge 16—18 mm); 2) Hadena sp. (ll mm); 3) Dianthoecia con- spersa W. V. zweimal (13 mm); 4) Jodis lactearia L.; 5) Botys forficalis L. dreimal.“ Göttingen, 20. Mai 1884. Dr. W. BREITENBACH. Ein Brief von Charles Darwin. Herr A. PancHin in Kiew hatte die Güte, uns den nachstehend in UÜber- setzung mitgeteilten Brief von CHARLES DARWIN zur Veröffentlichung im „Kosmos“ zu übersenden. Wir schicken voraus, daß derselbe offenbar die Antwort auf eine kleine Broschüre des Herrn Einsenders bildet, welche unter dem Titel „Quelques mots sur l’eternit€ du corps humain“ 1880 in Nizza erschienen war und die Be- hauptung zu verfechten suchte, der Mensch könne, ja müsse durch immer weiter- gehende Anpassung seiner Organisation an die Lebensbedingungen eine immer längere Lebensdauer und zuletzt Unsterblichkeit erreichen. Das Argument gipfelt in dem Satze, dab niemand eine materielle Ursache oder ein Gesetz angeben könne, welches eine so kurze Dauer des menschlichen Lebens bedinge, weil eben kein solches existiere; die Lebensdauer hänge unmittelbar mit der Vervollkommnung der Organisation zusammen, habe mit dieser stetig zugenommen und der Mensch könne nun auf diesem Wege nicht stehen bleiben, sondern müsse mit der Zeit den Tod, dieses „höchst unangenehme Ereignis“ vollständig beseitigen. — Der ver- hältnismäßig recht ausführliche Brief Darwın’s gewährt nicht bloß sachliches Interesse — er zeigt auch aufs neue, mit welch bewundernswerter Geduld und Ge- wissenhaftigkeit der vielbeschäftigte Forscher jedem entgegenkam, der sich bei ihm Aufschluß oder Rat, Mitteilung seiner Ansichten u. s. w. erbat. — D. Red. Feb. 24, 1880. Down, Beckenham, Kent. Geehrter Herr, Niemand kann wohl, glaube ich, wirklich beweisen, daß der Tod unver- meidlich ist, allein die Zeugnisse zu gunsten dieser Annahme sind von ganz über- wältigender Kraft, denn sämtliche übrigen lebenden Geschöpfe sprechen dafür. — Ich halte es auch keineswegs für ausnahmslos richtig, daß die höheren Organismen jeden- falls länger leben sollen als die niederen. Elefanten, Papageien, Raben, Schildkröten und manche Fische leben länger als der Mensch. — Jede Weiterentwickelung hängt davon ab, daß eine lange Reihe von Generationen aufeinander folgen, was die Existenz des Todes voraussetzt; es kommt mir daher im höchsten Grade un- wahrscheinlich vor, daß der Mensch jemals aufhören sollte, dem allgemeinen Gesetz der Entwickelung zu folgen, was entschieden der Fall wäre, wenn er unsterblich werden würde. Dies ist alles, was ich hierüber sagen kann. Ich bleibe, geehrter Herr, aufrichtig der Ihrige CH. DARWIN. Ausgegeben 21. Juli 1884. Der Instinkt. Eine nachgelassene Abhandlung von Charles Darwin.' (Schluß.) Wohnungen der Säugetiere. Diesen Gegenstand werde ich nur mit wenigen Worten berühren, nachdem die Nester der Vögel so ausführlich behandelt worden sind. Die vom Biber errichteten Bauten sind von altersher berühmt; wir finden aber wenigstens einen Schritt auf dem Wege, auf welchem sein wunder- barer Bauinstinkt sich entwickelt und vervollkommnet haben mag, bei einem nahe verwandten Tiere, der Bisamratte (Fiber zibethicus) in ihrem einfacheren Bau verkörpert, der immerhin, wie Hrarne bemerkt, dem- jenigen des Bibers einigermaßen gleicht. Die vereinzelt lebenden Biber in Europa üben bekanntlich ihren Bauinstinkt nicht aus, oder sie haben ihn vielleicht sogar zum größten Teil verloren. Gewisse Rattenarten bewohnen jetzt ganz allgemein die Dächer der Häuser”, andere Arten aber halten sich in hohlen Bäumen auf — eine Abweichung, welche der bei den Schwalben beobachteten entspricht. Dr. Anprew SmivH teilt mir mit, daß die Hyänen in den noch nicht bewohnten Teilen Süd- afrikas nicht in Höhlen leben, wie dies in bewohnten und häufiger von Menschen gestörten Gegenden der Fall ist‘. Manche Säugetiere und Vögel bewohnen für gewöhnlich von anderen Tieren gegrabene Höhlen; wo solche aber nicht zu haben sind, da graben sie sich ihre eigenen Wohnungen aus’. ! s. d. Anm. d. Red. S. 1 dieses Bandes. ® Hearne's Reisen p. 380. Er hat weitaus die beste Schilderung von der Lebensweise des Bibers geliefert. ® Rev. L. Jenyns in Linn. Trans. XVI, 166. * Der öfter ceitierte Fall, daß Hasen an allzu offenen Stellen Höhlen gegraben hätten, scheint mir noch der Bestätigung zu bedürfen (Ann. of Nat. Hist. V, 362); sollten sie nicht einfach einen alten Kaninchenbau benutzt haben? ® Zoology of the Voyage of the Beagle, Mammalia, p. 90. Kosmos 1884, II. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XV). 6 82 Charles Darwin, Der Instinkt. II, In der zur Familie der Honigbienen gehörigen Gattung Osmia (Erz- biene) zeigen nicht nur die verschiedenen Arten ganz auffallende Unter- schiede in ihren Instinkten, wie dies F. Surrt# geschildert hat!, sondern selbst die Individuen einer und derselben Art variieren in dieser Hinsicht außergewöhnlich stark. Dies bestätigt augenscheinlich das für körper- liche Eigenschaften unzweifelhaft gültige Gesetz, daß Teile, welche bei nahe verwandten Arten erheblich von einander abweichen, in der Regel auch innerhalb derselben Art gern variieren. Eine andere Biene, Mega- chile maritima, gräbt sich, wie mir Mr. Smir# schreibt, in der Nähe der Küste Gänge in sandigen Abhängen, während sie in bewaldeten Gegenden Löcher in hölzerne Pfosten bohrt ?. Im vorhergehenden habe ich einige der bedeutsamsten Gruppen von Instinkten besprochen; es bleiben aber noch eine Anzahl Bemerkungen über verschiedene Punkte übrig, welche hier wohl am Platze sein dürften. Zunächst seien einige Fälle von Variationen angeführt, die mir beson- ders auffällig erschienen. Eine Spinne, die zum Krüppel geworden war und ihr Gewebe nicht mehr verfertigen konnte, ging aus Not von ihrer bisherigen Lebensweise zur Jagd über — eine Art des Nahrungserwerbs, die bekanntlich für eine andere große Abteilung der Spinnen die Regel bildet®. Manche Insekten zeigen unter verschiedenen Umständen oder in verschiedenen Perioden ihres Lebens zwei sehr verschiedene Instinkte ; nun kann aber der eine davon durch natürliche Zuchtwahl zurückgedrängt werden, was natürlich einen scheinbar ganz unvermittelten Gegensatz im Instinkt verglichen mit demjenigen der nächsten Verwandten des be- treffenden Insekts bedingen muß. So pflegt die Larve eines Käfers (Cionus scrophulariae), wenn sie auf Scrophularia lebt, eine klebrige Masse auszusondern, welche zu einer durchsichtigen Blase wird, “in deren Innerem sie ihre Verwandlung durchmacht; ist die Larve aber von selbst oder von Menschen versetzt auf Verbascum geraten, so beginnt sie zu bohren und durchläuft ihre Verwandlung in einem Blatte*. Die Raupen gewisser Nachtschmetterlinge scheiden sich in zwei große Klassen, solche, die im Parenchym der Blätter Gänge bohren, und solche, die mit wunderbarer Ge- schicklichkeit Blätter zusammenrollen; nun sind aber einige Raupen in ihrem ersten Stadium Minierer und werden erst nachher Blattwickler, und dieser Wechsel der Lebensweise wurde mit Recht für so bedeutend gehalten, daß man erst in unserer Zeit entdeckte, daß die Raupen zu einer und derselben Art gehören®. Die »Angoumois<-Motte tritt gewöhnlich in zwei Generationen auf: die erste erscheint im Frühling aus Eiern, die im Herbst auf in Kornkammern aufgehäuften Körnern abgelegt worden waren; die Imagines fliegen nach dem Ausschlüpfen sofort in die Felder ! Catalogue of British Hymenoptera 1855, p. 158. ?® [Der hier anschließende Abschnitt über die Instinkte des Parasitismus, des Sklavenmachens und des Zellenbauens (der Korbbienen) ist weggelassen worden, da er schon in der „Entstehung der Arten“ veröffentlicht worden ist. — Romanes.] 3 eitiert nach den Angaben von Sir J. Banks in Journ. Linn, Soc. * P. Huber in Mem. Soc. Phys. de Geneve. X, 33. ° Westwood, in Gardeners Chronicle 1852, p. 261. Charles Darwin, Der Instinkt. II. 83 hinaus und legen ihre Eier auf dem jungen lebenden Getreide ab, statt auf den rings um sie aufgespeicherten nackten Körnern; die Imagines der zweiten Generation (aus den auf das stehende Getreide abgelegten Eiern stammend) schlüpfen erst nach der Ernte auf den Kornböden aus und sie verlassen diese nicht, sondern legen ihre Eier auf die herum- liegenden nackten Körner, woraus dann wieder die Frühlingsgeneration mit dem Instinkt, die Eier auf das grüne Getreide zu legen, hervorgeht !. Manche Jagdspinnen geben das Jagen auf, wenn sie Eier und Junge haben, und spinnen ein Gewebe, in dem sie ihre Beute fangen; dies gilt z. B. für eine Salticus-Art, welche ihre Eier in Schneckenhäuser legt und zu dieser Zeit ein großes senkrechtes Netz herstellt”. Die Puppen einer Art von Formica sind gelegentlich” unbedeckt, d. h. nicht in Kokons eingehüllt, was gewiß eine höchst merkwürdige Abweichung ist, und gleiches soll beim gemeinen Floh vorkommen. Lord Broucnam* führt den merkwürdigen Instinkt an, daß das Küchlein in der Schale ein Loch pickt und dann >»mit dem Zahn seines Oberschnabels weiter meibelt, bis es ein ganzes Stück der Schale herausgebrochen hat. Es geht stets von rechts nach links vor und macht das Loch stets am stumpfen Ende der Schale«. Allein dieser Instinkt ist keineswegs so unabänderlich: im Ekkaleobion (Brütanstalt) wurde mir versichert (Mai 1840), daß Fälle vorkämen, wo das Küchlein so nahe am stumpfen Ende beginnt, daß es durch das von da aus gemachte Loch nicht aus der Schale heraus kann und infolgedessen nochmals zu meißeln anfangen muß, um ein zweites größeres Stück Schale loszubrechen; außerdem kommt es gelegentlich vor, dab es am spitzen Schalenende anfängt. — Daß das Kängeruh manch- mal sein Futter wiederkäut, ist vielleicht eher auf eine Zwischenstufe oder Abweichung in der Ausbildung eines Organs zurückzuführen als auf Instinkt; jedenfalls ist es aber erwähnenswert. — Bekannt ist, daß Vögel derselben Art in verschiedenen Gegenden geringe Unterschiede in ihren Lautäußerungen zeigen; so bemerkt ein vorzüglicher Beobachter: »Eine Kette irischer Rebhühner fliegt auf, ohne einen Laut von sich zu geben, während drüben in Schottland die Kette mit aller Macht schreit, wenn sie aufgejagt wird’.< Bscusrtein erklärt, aus vieljähriger Erfahrung sich überzeugt zu haben, daß bei der Nachtigall die Neigung, mitten in der Nacht oder am Tage zu singen, in einzelnen Familien vorherrsche und sich streng vererbe ®. Es ist höchst merkwürdig, daß manche Vögel die Fähigkeit haben, lange und schwere Melodien pfeifen zu lernen, und andere, wie die Elster, alle möglichen Töne und Geräusche nachzumachen, ohne daß sie im Naturzustande jemals solche Fähigkeiten an den Tag legten’. Bonnet, eitiert v. Kirby and Spence, Entomology II, 480. Duges in Ann. d. Sc. Nat. 2. ser., t. VI, 196. F. Smith in Trans. Ent. Soc. III, n. ser., pt. 3, p. 97 und De Geer, eit. v. Kirby and Spence, Entomol. III, 227. * Dissertation on Natural Theology, I, 117. ° W. Thompson sagt (Nat. Hist. of Ireland I, 65), er habe dies selbst beobachtet und es sei allen Jägern wohl bekannt, 6 Bechstein, Stubenvögel, 1840, 323. Uber den verschiedenen Gesang in verschiedenen Gegenden s. 8. 205 u. 265. " Blackwall’s Researches in Zoology, 1834, 158. Cuvier hat schon om 84 Charles Darwin, Der Instinkt. II, Da es oft schwer hält, sich vorzustellen, wie ein Instinkt zu aller- erst entstanden sein mag, so ist es wohl nicht überflüssig, einige wenige Beispiele aus der großen Zahl der bekannten Fälle von zufällig auftre- tenden sonderbaren Gewohnheiten herauszuheben, welche zwar nicht als richtige Instinkte betrachtet werden können, welche aber wohl unserer Ansicht nach zur Ausbildung solcher den Anlaß geben möchten. So wird mehrfach von Insekten, die von Natur ganz verschiedene Lebens- weise haben, berichtet!, daß sie im Innern des menschlichen Körpers zur Entwickelung gekommen sind, was uns wohl die Entstehung des Instinkts der Dasselfliegen (Oestrus) erklären mag. Wir können auch verstehen, wie sich bei den Schwalben eine sehr innige Vergesellschaftung entwickeln könnte, denn Lamaxck ? beobachtete, wie etwa ein Dutzend dieser Vögel einem Paar derselben, das seines Nestes beraubt worden, behilflich war, und zwar so wirksam, das das neue Nest am zweiten Tage fertig war, und nach den von MaccızLivray? berichteten Thatsachen läßt sich gar nicht mehr an der Richtigkeit der alten Geschichten von Hausschwalben zweifeln, die sich zusammengethan und Sperlinge, welche eines ihrer Nester in Besitz genommen, bei lebendigem Leibe eingemauert haben sollen. Es ist allgemein bekannt, daß Korbbienen, deren Pflege vernach- lässigt worden ist, »die Gewohnheit annehmen, ihre fleißigeren Nachbarn auszuplündern«, und dann Piraten genannt werden, und HusEr erzählt den noch viel merkwürdigeren Fall von einigen Korbbienen, die fast völlig vom Neste einer Hummel Besitz nahmen, welche letztere dann drei Wochen lang fleißig Honig sammelte, um ihn regelmäßig zu Hause auf Veranlassung der Bienen, ohne daß diese irgendwie Gewalt ange- wendet hätten, wieder von sich zu geben*. Dies erinnert an die Raub- möven (ZLestris), welche ausschließlich davon leben, daß sie andere Möven verfolgen und sie zwingen, ihre bereits verschluckte Beute wieder aus- zuspeien °. Bei der Korbbiene kommen manchmal Handlungen vor, die zu den sonderbarsten Instinkten zu zählen sind, und dennoch müssen diese In- stinkte oft viele Generationen hindurch latent bleiben: ich habe z. B. den Fall im Auge, wo die Königin umgekommen ist; dann müssen mehrere Arbeiterlarven aus ihrem bisherigen Entwickelungsgang gerissen, vor langer Zeit darauf hingewiesen, daß alle Passeres offenbar einen wesentlich über- einstimmenden Bau ihrer Stimmorgane besitzen und daß doch nur wenige und bei diesen nur die Männchen wirklich singen, was beweist, daß das Vorhandensein eines geeigneten Organs keineswegs immer die entsprechende Lebensweise oder Gewohn- heit bedingt. [Was die Schallnachahmung bei Vögeln in der Gefangenschaft be- trifft, welche im Naturzustande diese Fähigkeit nicht zeigen sollen, so gibt Ro- manes S. 222 seines Buches mehrere Mitteilungen über wilde Vögel, die gleich- falls die Töne von andern Vögeln nachahmen.] ! Rev. L. Jenyns, Observ. in Nat. Hist., 1846, 280. ® Citiert v. Geoffr. St. Hilaire in Ann. des Mus., IX, 471. ® British Birds III, 591. * Kirby and Spence, Entomol. I, 207. Den von Huber erzählten Fall 8.08.2119. 5 Es ist sogar mit gutem Grunde zu vermuten (Macgillivray, Brit. Birds V, 500), daß einige dieser Arten nur solche Nahrung zu verdauen vermögen, welche bereits von anderen Vögeln bis zu einem gewissen Grade verdaut worden ist. Charles Darwin, Der Instinkt. II. 85 in große Zellen versetzt und mit königlichem Futter ernährt werden, wodurch sie sich zu fruchtbaren Weibchen entwickeln; ferner: wenn ein Stock seine Königin besitzt, so werden alle Männchen im Herbst unfehlbar durch die Arbeiter getötet; ist aber keine Königin da, so wird auch nicht eine Drohne je abgeschlachtet!. Vielleicht wirft unsere Theorie doch ein schwaches Licht auf diese geheimnisvollen, aber wohl verbürgten Thatsachen, indem sie unter Beiziehung der Analogie von andern Formen der Bienenfamilie zu der Ansicht führt, daß die Korbbiene von andern Bienen abstamme, bei denen regelmäßig zahlreiche Weibchen den ganzen Sommer über dasselbe Nest bewohnten und die Männchen niemals von jenen getötet wurden, so dab also, wenn die Drohnen nicht vernichtet und wenn zahlreiche neue Larven mit normaler Speise, d. h. mit könig- lichem Futter ernährt werden, darin nur eine Rückkehr zu dem Instinkt der Vorfahren zu erblicken ist — eine Erscheinung, die gleich dem sog. Rückschlag bei körperlichen Bildungen die Neigung zeigt, nach vielen Generationen plötzlich wieder aufzutreten ?. Ich wende mich nun zu einigen Fällen, welche unserer Theorie be- sondere Schwierigkeiten bereiten — Fälle, die zum größten Teile denen entsprechen, die im VII. Kapitel [der »Entstehung der Arten«] bei Er- örterung der körperlichen Bildungen angeführt wurden. — Nicht selten begegnen wir demselben eigentümlichen Instinkt bei Tieren, welche in der Stufenleiter der organischen Wesen weit von einander entfernt stehen und daher diese Eigentümlichkeit unmöglich von gemeinsamen Vorfahren geerbt haben können. Der Molothrus (Kuhvogel) in Nord- und Süd- amerika (ein dem Staar ähnlicher Vogel) zeigt genau dasselbe Verhalten wie unser Kuckuck; jedoch ist der Parasitismus in der ganzen Natur so allgemein verbreitet, daß diese Übereinstimmung nicht sehr überraschen kann. Viel merkwürdiger ist der Parallelismus hinsichtlich des Instinkts zwischen den zu den Neuropteren gehörigen weißen Ameisen oder Ter- miten und den echten Ameisen, welche Hymenopteren sind; allein es er- weist sich bei genauerer Prüfung, daß derselbe keineswegs so bedeutend ist. Vielleicht einen der eigentümlichsten Fälle der Erwerbung desselben Instinkts durch zwei Tiere, die keinerlei nähere Verwandtschaft besitzen, weisen die Larven eines Neuropters und eines Dipters auf, welche beide im lockeren Sande eine trichterförmige Fallgrube machen, in deren Grunde sie unbeweglich auf ihre Beute lauern und mit Sand nach ihr schießen, wenn sie wieder zu entkommen sucht’. Es ist behauptet worden, manche Tiere seien mit Instinkten aus- gerüstet, die weder zu ihrem eigenen individuellen noch zum Nutzen der sozialen Gruppe, welcher sie angehören, sondern nur zum Nutzen anderer ! Kirby and Spence, Entomology II, 510—13. ® [Was die Frage betrifft, warum so viele Drohnen vorhanden sind, daß ihre Abschlachtung notwendig wird, so verweise ich auf S. 166 meines Buches „On Animal Intelligence“, wo die Vermutung ausgesprochen ist, daß die Männchen bei den Vorfahren der Korbbiene als Arbeiter von Nutzen gewesen sein möchten. Vielleicht übrigens sind die Drohnen auch jetzt noch als Wärter der Larven nütz- lich, wenigstens versichert mir ein erfahrener Bienenzüchter, daß er dies entschieden für richtig halte. — Romanes.] ® Kirby and Spence, Entomology I, 429—435. s6 Charles Darwin, Der Instinkt. II. Lebewesen dienten, während sie selbst dadurch zu Grunde gingen: so hat man behauptet, gewisse Fische wanderten, damit Vögel und andere Tiere sich von ihnen nähren könnten!. Eine solche Auffassung ist nach unserer Theorie der natürlichen Auslese von zum eigenen Vorteil dienen- den Abänderungen des Instinkts unmöglich. Ich habe aber auch keine einzige der Erwähnung werte Thatsache gefunden, welche diese Ansicht stützen könnte. Irrtümer des Instinkts mögen gelegentlich, wie wir gleich sehen werden, der einen Art schädlich und einer andern nützlich werden; eine Art mag gezwungen oder sogar scheinbar durch Überredung gleichsam verleitet werden, ihre Nahrung oder das Produkt ihrer Aussonderung zu gunsten einer andern Art aufzugeben; daß aber irgend ein Tier je- mals geradezu mit einem Instinkt begabt worden sei, der zu seiner eigenen Vernichtung oder Schädigung führe, kann ich nimmermehr zu- geben, so lange nicht viel bessere Beweise als bisher dafür vorgebracht werden. Ein Instinkt, den ein Tier während seines ganzen Lebens nur ein einziges mal zu bethätigen hat, scheint unserer Theorie auf den ersten Blick große Schwierigkeiten zu bereiten; wenn er aber für die Existenz des Tieres unentbehrlich ist, so sehe ich keinen zureichenden Grund, warum er nicht ebensogut durch natürliche Zuchtwahl erworben worden sein sollte wie manche körperliche Bildungen, die nur einmal verwendet werden, so z. B. die harte Spitze am Schnabel des Küchleins oder die provisorischen Kiefer bei der Puppe der Köcherfliege (Phryganea), die zu nichts anderem dienen, als um die seidene Pforte ihres merkwürdigen Gehäuses zu öffnen, und dann für immer abgeworfen werden”. Dennoch kann man wohl kaum anders als grenzenloses Staunen empfinden, wenn man z. B. von einer Raupe liest, die sich zuerst mit ihrem Hinterende an einem kleinen Hügelchen von Seide aufhängt, welches sie an irgend einem Gegenstand befestigt hatte, und nun ihre Verwandlung durch- macht: nach einiger Zeit reißt ihre Haut an einer Seite auf, so daß die Puppe sichtbar wird, welche ohne Gliedmaßen und Sinnesorgane lose im unteren Teil der alten sackförmigen aufgesprungenen Haut der Raupe liegt, gleichwohl aber bald an dieser Haut, die ihr als Leiter dient, emporzusteigen beginnt, indem sie sich an gewissen Stellen zwischen den Falten ihrer Abdominalsegmente festhält, dann mit ihrem Hinterende, das mit kleinen Häkchen versehen ist, herumtastet und so einen neuen Halt gewinnt, bis sie endlich die alte Larvenhaut, die ihr noch zum Emporklimmen gedient, gänzlich abstreift und wegwirft?. Ich kann nicht umhin, noch einen andern Fall ähnlicher Art anzuführen: die Raupe eines Schmetterlings (Thekla), die im Granatapfel lebt, bahnt sich nach Er- reichung ihrer vollen Größe einen Weg nach außen (wodurch sie dem Schmetterling den Ausgang ermöglicht, bevor seine Flügel völlig entfaltet sind) und befestigt dann mit Seidenfäden diese Stelle des Granatapfels an dem nächsten Zweig, damit jener nicht abfallen kann, bevor die Ver- ! Linne in Amoenitates Academicae II, und Prof. Alison, Art „Instinet“ in Todd’'s Cyclop. of Anat. and Physiol. p. 15. ®? Kirby and Spence, Entomology III, 287. > Kirby and Spence, Entomology II, 208—11. Charles Darwin, Der Instinkt. II, 37 wandlung vollzogen ist. Hier also wie in so vielen andern Fällen ist die Larve gleichzeitig zum Wohl der Puppe und des ausgebildeten In- sekts thätig. Und unser Erstaunen über diese Maßregeln kann nur wenig gemindert werden, wenn wir hören, daß manche Raupen zu ihrem eigenen Schutze Blätter in mehr oder weniger vollkommener Weise mit Gespinst- fäden an die Zweige heften, auf denen sie leben, und daß eine andere Raupe, bevor sie zur Puppe wird, die Ränder eines Blattes zusammen- krümmt, die Innenfläche desselben mit dichtem Seidengewebe auskleidet und dieses am Blattstiel und dem zugehörigen Zweig befestigt: wenn das Blatt später dürr wird und abbröckelt, so bleibt doch der Kokon fest am Stiel und Zweig angeheftet. In diesem Falle unterscheidet sich also das Verhalten nur wenig von der gewöhnlichen Herstellung eines Kokons und seiner Befestigung an irgend einem Gegenstande !. Eine in Wirklichkeit viel größere Schwierigkeit bieten jene Fälle dar, wo der Instinkt einer Art bedeutend von dem ihrer nächsten Ver- wandten abweicht. Dies gilt z. B. für die oben erwähnte T'hekla des Granatapfels, und ohne Zweifel würden sich leicht noch viele ähnliche Fälle zusammenstellen lassen. Wir dürfen aber nie vergessen, einen wie geringen Bruchteil die heute lebenden Formen gegenüber den ausge- storbenen bei den Insekten ausmachen, deren verschiedene Ordnungen schon so lange auf der Erde leben. Überdies habe ich es gerade wie bei körperlichen Bildungen zu meiner eigenen Überraschung oft genug erlebt, daß sich, wenn ich einmal ein Beispiel eines vollkommen ver- einzelt dastehenden Instinkts gefunden zu haben glaubte, bei weiterer Untersuchung doch immer wenigstens einige Spuren einer zu demselben hinführenden Stufenreihe aufdecken ließen. Nicht selten drängte sich mir die Überzeugung auf, daß wenig auf- fällige und mehr nebensächliche Instinkte nach unserer Theorie eigentlich viel schwerer zu erklären sind als jene, die mit Recht das Erstaunen der Menschen erweckt haben; denn sofern ein Instinkt wirklich keine eigene erhebliche Bedeutung im Kampfe ums Dasein besitzt, kann er auch nicht durch natürliche Zuchtwahl abgeändert oder ausgebildet worden sein. Eines der schlagendsten Beispiele hierfür ist wohl die Art, wie die Arbeiter- bienen eines Stockes sich manchmal in langen Reihen aufstellen und durch eigentümliche Bewegungen ihrer Flügel den rings geschlossenen Korb ventilieren. Man hat diese Ventilation auch künstlich nachzuahmen vermocht?, und da sie selbst im Winter vorgenommen wird, so läßt sich nicht bezweifeln, daß sie die Hereinschaffung von frischer Luft und die Entfernung der ausgeatmeten Kohlensäure bezweckt. Damit erweist sie sich aber entschieden als eine ganz unentbehrliche Einrichtung, und wir können uns denn auch leicht die Abstufungen denken — wie anfangs nur einzelne Bienen zum Flugloch gingen, um sich zu fächeln u. s. w. — durch welche der Instinkt seine jetzige Vollkommenheit erreicht haben mag. Wir bewundern die instinktive Vorsicht der Fasanhenne, welche sie, wie WATERTON bemerkt, veranlaßt, von ihrem Nest aufzufliegen, um ıJ. O0. Westwood in Trans. Entomol. Soc. II, 1. ® Kirby and Spence, Entomology II, 19. 88 Charles Darwin, Der Instinkt. II. so keine Fährte zu hinterlassen, die von einem Raubtier aufgespürt werden könnte; aber auch dies Verfahren mag wohl für die Existenz der Art von großer Bedeutung sein. Es ist fast noch mehr zu verwundern, daß kleine Nestvögel, vom Instinkt geleitet, die Schalen ihrer Eier und die ersten Exkremente der Jungen vom Neste wegtragen, während bei den Rebhühnern, deren Junge sofort ihren Eltern nachlaufen, die Eier- schalen rings um das Nest liegen bleiben; wenn wir aber hören, daß die Nester solcher Vögel (z. B. Halcyonidae), bei denen die Exkremente nicht mit einem dünnen Häutchen überzogen sind und daher kaum von den Eltern entfernt werden könnten, dadurch »sehr augenfällig werden« !, und wenn wir bedenken, wie viele Nester bei uns alljährlich nur durch Katzen zerstört werden, so können wir jenen Instinkten wohl nicht mehr so ganz untergeordnete Bedeutung beimessen. Immerhin aber gibt es Instinkte, die man kaum anders denn als bloße Einfälle oder manchmal auch als Spiel auffassen kann: eine Taube in Abessinien läßt sich, wenn auf sie geschossen wird, soweit nieder, daß sie beinahe .den Jäger berührt, und schwingt sich dann zu schwindelnder Höhe hinauf?; die Viscacha (.Lagostomus) sammelt fast immer allerhand Abfall, Knochen, Steine, trockenen Dünger u. s. w. in der Nähe ihrer Höhle an; die Guanacos haben (gleich den Fliegen) die Gewohnheit, stets an dieselbe Stelle zurückzukehren, um ihre Exkremente abzulegen, und ich habe einen so entstandenen Haufen von acht Fuß Durchmesser gesehen; da diese Gewohnheit bei allen Arten dieser Gattung wiederkehrt, so muß sie wohl instinktiv sein, es läßt sich aber kaum denken, daß sie den Tieren irgendwie von Nutzen sein könnte, obwohl sie dies jedenfalls für die Peruaner ist, welche den trockenen Dünger als Brennmaterial verwenden®. Wahrscheinlich werden sich noch viele ähnliche Thatsachen zusammenstellen lassen. So merkwürdig und wunderbar die meisten Instinkte sind, so dürfen sie doch nicht für absolut vollkommen gehalten werden: durch die ganze Natur geht ja der beständige Kampf zwischen dem Instinkt des einen Wesens, seinem Feinde zu entgehen, und dem des andern, seine Beute irgendwie zu erlangen. Wenn der Instinkt der Spinne bewundernswert erscheint, so steht derjenige der Fliege, welche in ihr Netz hineinfährt, um so niedriger. Seltene und nur zufällig sich eröffnende Quellen der Gefahr werden nicht instinktiv vermieden — wo der Tod unvermeidlich erfolgt und die Tiere nicht durch Beobachtung des Leidens anderer die Gefahr kennen gelernt haben können, da wird offenbar kein schützender Instinkt entwickelt. So findet man den Boden einer Solfatara in Java bedeckt mit den Leichen von Tigern, Vögeln und ganzen Massen von Insekten, alle getötet durch die hier ausströmenden giftigen Gase, welche merkwürdigerweise ihr Fleisch, ihre Haare und Federn konservieren, ihre ı Blyth in Mae. of Nat. Hist., N. S., vol. DH. ® Bruce's Travels V, 187. ° s, meine „Reise um die Welt“, S. 192, in betreff des Guanacos; über die Viscacha s. S. 142. Mancherlei sonderbare Instinkte hängen mit den Exkrementen der Tiere zusammen, so beim Wildpferd von Südamerika (s. Azara’s Reisen I, 373), bei der gemeinen Stubenfliege und beim Hunde; über die Harnablagerungen von Hyrax s. Livingstone’s Missionsreisen S. 22. Charles Darwin, Der Instinkt. 11. 89 Knochen aber vollständig verzehren!. Der Wanderinstinkt ist nicht selten mangelhaft ausgebildet und die Tiere gehen, wie wir gesehen haben, dabei zu Grunde. Was sollen wir von dem heftigen Triebe denken, der Lemminge, Eichhörnchen, Hermeline? und viele andere Tiere, die gewöhnlich nicht zu wandern pflegen, veranlaßt, sich gelegentlich in großen Scharen zu vereinigen und einen schnurgeraden Weg einzuschlagen, quer über große Ströme und Seen hinüber und selbst ins Meer hinaus, wo eine Unzahl derselben umkommt, wenn sich vollends herausstellt, daß sie schließlich alle zu Grunde gehen? Eine Übervölkerung ihres Heimat- landes scheint den ersten Anstoß zur Wanderung zu geben, es ist aber noch zweifelhaft, ob wirklich in allen Fällen Nahrungsmangel herrschte. Die ganze Erscheinung ist noch völlig unaufgeklärt. Wirkt etwa das- selbe Gefühl auf diese Tiere ein, das auch die Menschen in Not und Furcht antreibt, sich zu vereinigen, und sind dies wirklich nur gelegentliche Wanderungen oder vielmehr Auswanderungen, gleichsam verlorene Posten, vorgeschoben zur Aufsuchung einer neuen besseren Heimat? Noch merk- würdiger sind eigentlich die zeitweilig auftretenden Wanderzüge von In- sekten, die aus zahlreichen verschiedenen Arten gemischt sind und die, wie ich selbst beobachtet habe, in ungezählten Millionen im Meere um- kommen müssen; denn diese Tiere gehören sämtlich zu Familien, welche im gewöhnlichen Zustande nicht gesellig zu leben noch auch nur zu wandern pflegen ®. Der Instinkt der Geselligkeit ist für viele Tiere ganz unentbehrlich, für eine noch weit größere Anzahl sehr nützlich wegen der raschen Mitteilung etwa drohender Gefahren, und für einige wenige Tiere ist er augenscheinlich nur eine angenehme Zugabe. In manchen Fällen aber läßt sich der Gedanke nicht abweisen, daß dieser Instinkt sogar bis zu einem schädlichen Grade entwickelt ist. Die Wanderzüge der Antilopen in Südafrika und die- jenigen der Wandertauben in Nordamerika werden von ganzen Scharen fleischfressender Tiere und Vögel begleitet, die kaum in solchen Mengen ihren Unterhalt finden könnten, wenn ihre Beutetiere vereinzelt lebten. Der nordamerikanische Bison wandert in so großen Herden, dab oft genug, wenn sie in die Engpässe der längs der Flüsse sich hinziehenden ! L. von Buch, Deseript. phys. des lles Canaries, 1836, p. 423, auf Grund des trefflichen Gewährsmannes M. Reinwardts. > L. Lloyd, Scandinavian Adventure, 1854, II. p. 77 gibt eine vorzügliche Schilderung vom Wandern der Lemminge. Wenn sie über einen See schwimmen und dabei ein Boot antreffen, so klettern sie auf der einen Seite in dasselbe hinein und auf der andern wieder hinunter. Große Wanderungen fanden in den Jahren 1789, 1807, 1808, 1813, 1823 statt. Zuletzt scheinen die Tierchen sämtlich um- zukommen. Vgl. Högström's Bericht in Swedish Acts IV, 1763 über wandernde Hermeline, die sich ins Meer stürzten, ferner Bachmann, in Mag. of Nat. Hist. N. S., III, 1839, p. 229 über die Wanderungen der Eichhörnchen; sie sind schlechte Schwimmer und setzen doch über große Flüsse. ® Herr Spenee gab in seiner Rede zur Jahresversammlung der Entomological Society 1848 einige trefflliche Bemerkungen über die gelegentlichen Wanderungen der Insekten und zeigte deutlich, wie unerklärlich die Sache ist. Vgl. auch Kirby and Spence, Entomology-Il, p. 12, und Weißenborn in Mag. of Nat. Hist., N.S., 1834, III, p. 516, wo sich interessante Einzelheiten über einen großen Wander- zug von Libellen finden, der im allgemeinen dem Lauf der Flüsse folgte. 90 Charles Darwin, Der Instinkt. II. Felswände geraten, nach Lewıs und CLARKE die vordersten über den Rand hinausgedrängt und im Abgrund zerschmettert werden. Wenn ein verwundetes herbivores Tier zu seiner eigenen Herde zurückkehrt und nun von seinen bisherigen Genossen angegriffen und zu Tode gemartert wird — ist da wirklich anzunehmen, daß dieser grausame, aber ganz allgemein verbreitete Instinkt der Art von irgend welchem Nutzen sei? Es ist bemerkt worden ', daß unter den Hirschen nur diejenigen, welche häufig mit Hunden gehetzt wurden, durch den Selbsterhaltungstrieb dazu gebracht worden seien, ihre verfolgten und verwundeten Gefährten, welche der Herde Gefahr bringen könnten, aus derselben auszustoßen. Allein auch der furchtlose wilde Elefant pflegt »sehr wenig großmütig den Genossen anzugreifen, der noch mit den Fesseln um die Beine in die Dschungeln entkommen ist»Das Totenfeld von Ancon in Peru, ein Beitrag zur Kenntnis der Kultur und Industrie des Inca-Reichs, von W. Reıss und A. StÜBEL« einen Platz finden. Da das Erscheinen der betr. Lieferungen noch einige Zeit sich ver- zögern und der zusammenhängende Text erst nach Vollendung des ganzen Werkes publiziert werden wird, so teile ich hier im Einverständnisse mit Herrn Dr. Reıss schon im voraus einige Untersuchungsresultate über die in vieler Hinsicht merkwürdigen Hunde mit; ich hoffe, daß dieselben bei allen, welche sich für die Geschichte der Haustiere interessieren, einige Aufmerksamkeit erregen werden, zumal da meines Wissens exakte, auf Schädelform und Gebiß bezügliche Untersuchungen über die Inca-Hunde bisher nicht publiziert worden sind. Die Existenz von Haushunden in Peru vor der Ankunft der Spanier. Daß die Bewohner Perus schon vor der Eroberung durch die spanischen Konquistadoren Haushunde besessen haben, steht voll- ständig fest. Wir besitzen über diesen Punkt zahlreiche und zuverlässige Alfred Nehring, Über Rassebildung bei den Inca-Hunden ete. 95 Angaben von Schriftstellern, welche bald nachher das merkwürdige Inca- Reich eingehend beschrieben haben. Besonders wichtig erscheinen die Mitteilungen von GARcCILASsO DE LA VEGA. Dieselben sind aus J. J. von Tschupr’s großem Werke über die Fauna Peruana! zu ersehen, wo über die Haushunde der alten Peruaner p. 247 f. folgende Angaben gemacht werden: »Die Frage, ob vor der Eroberung von Peru durch die Spanier der Hund in diesem Lande einheimisch gewesen sei, können wir mit der größten Bestimmtheit bejahend beantworten. Schon die frühesten Schrift- steller über Süd-Amerika erwähnen desselben. Von besonderem Interesse für Peru sind die Mitteilungen von GARCILASO DE LA VEGA, die wir im Auszuge hier wiedergeben wollen, da sie von einer Epoche handeln, die um mehrere hundert Jahre der spanischen Invasion vorhergeht. « »Unter der Regierung von PAcHAcurzc IncA eroberte dessen Bruder Isca Carac Yuranquı die Provinz Sausa (das gegenwärtige Jauja), welche von der Nation Huanca bewohnt war. Von ihrem Gottesdienste sagt GarcILAso Comment. real. part. I, lib. VI. cap. X. fol. 138: »>»In der ältesten Heidenzeit beteten die Huancas, ehe sie von den Incas be- siegt wurden, die Figur eines Hundes an und hielten sie in den Tempeln als ihre Gottheit; ebenso aßen sie Hundefleisch leiden- schaftlich gerne; man vermutet, daß sie die Hunde anbeteten, weil ihnen dieses Fleisch so wohl schmeckte; das größte Fest, welches sie feierten, war ein Mahl von Hundefleisch; als größte Darlegung ihrer Ver- ehrung für Hunde machten sie aus deren Schädel eine Art Trompete und bedienten sich derselben bei ihren Festen und Tänzen als einer sehr angenehmen Musik, im Kriege aber bliesen sie zur Furcht und zum Schrecken ihrer Feinde darauf... .«« »»Alle diese Mißbräuche und Grausamkeiten hoben die Incas auf; sie erlaubten jedoch den Huancas zur Erinnerung an die Vergangenheit den Gebrauch von Trompeten aus Schädeln, aber nicht von Hunden, sondern von Hirschen oder Rehen.«« >Im lib. VIII. cap. XVI, fol. 215 sagt GARCILASO DE LA VEGA: »>»In Beziehung auf die Hunde, welche die Indianer hatten, haben wir schon bemerkt, daß sie nicht die verschiedenartigen Rassen besaßen, welche es in Europa gibt, sondern daß sie nur diejenigen hatten, welche man hier (in Europa) Gozques (kleine Hunde, Kläffer) nennt.«« Tscaupı fügt dann hinzu: »Alle Indianersprachen der West- küste von Südamerika hatten eine eigene Bezeichnung für den Hund; die der Quichuasprache war Alco, die der Kaugqui Allju, die der Moxa Tamucu oder Pacu.« »Dadurch wird auch die Ansicht einiger Naturforscher widerlegt, welche annahmen, daß die Ureinwohner von Südamerika die Füchse (Canis Azarae Wıen) gezähmt haben, und daß diese später durch die ein- geführten Hunde aus der Reihe der Haustiere verdrängt seien. Wie oben angeführt, heißt der Fuchs in der Quichuasprache Atoj (sprich Atoch).« & 'J. J. v. Tschudi, Untersuchungen über die Fauna Peruana. St. Gallen 184146. 96 Alfred Nehring, Über Rassebildung bei den Inca-Hunden »Als ferneren Beweis von der Urexistenz des Hundes in Peru muß auch das Vorkommen von Mumien und Skeletten dieser Tiere gelten, welche wir in den Gräbern der Indianer gefunden haben. In dem Teile von Peru, der von der alten Nation Huanca bewohnt wurde, haben wir bei Eröffnung der Huacas (Gräber), deren Alter weit über die geschichtliche Epoche hinausreicht, jedesmal entweder gleich am Eingange oder dann quer vor den Füssen der sitzenden Leichname die sehr gut erhaltenen Kadaver von Hunden getroffen, oder wenn diese fehlten, eine Anzahl von Hundeschädeln, zu den sonderbarsten Figuren zusammengestellt. « Es ist nun von vornherein schon die Thatsache von Bedeutung, daß auch in Ancon, welches bekanntlich nördlich von Lima an der Meeresküste in einer jetzt völlig wüstenähnlichen, vegetationslosen Gegend gelegen ist, sich mehrfach Hundemumien, resp. Hundeköpfe als Beigabe der Toten gefunden haben!. Wir können daraus schließen, daß nicht nur die alten Huancas, welche nach TscHupı auf die Hoch- ebenen und Thäler zwischen dem Gebirgsknoten von Asangara und dem von Pasco beschränkt waren, sondern auch die alten Bewohner der Gegend von Ancon den Hund hoch ehrten und ihn den Verstorbenen als Begleiter in das Jenseits mitgaben. Noch interessanter aber ist die Thatsache, daß die Hunde aus den Gräbern von Ancon trotz ihres im großen und ganzen gleich- artigen Typus sehr deutliche Zeichen von Rassebildung zeigen, und zwar von einer Rassebildung, welche für die richtige Beurteilung der europäischen Hunderassen sehr bedeutsam werden und ein wichtiges Licht auf die Geschichte der Haustiere im allgemeinen werfen kann. Das vorliegende Material. Ehe ich auf diese Rassebildung näher eingehe, werde ich zunächst die mir vorliegenden Reste kurz be- schreiben. Dieselben bestehen in einer vollständigen Mumie, zwei Vorderteilen solcher Mumien, welche etwa bis zur Mitte des Leibes erhalten sind, und sieben isolierten Köpfen, resp. Schädeln”. Die vollständige Mumie zeigt nur noch wenige Reste der Bandagen, mit welchen sie ursprünglich umhüllt war; dagegen ist das eine Vor- derteil noch zum Teil mit einer aus grobem Zeug bestehenden Umhüllung versehen. Zur Konservierung scheint mehrfach Honig angewendet zu sein; im übrigen hat das außerordentlich trockene Klima von Ancon das beste zu der ausgezeichneten Erhaltung gethan. Die Farbe der Be- haarung erscheint meist unverändert oder so wenig verändert, daß man die ursprüngliche Färbung sicher konstatieren kann. Die vollständige Mumie zeigt den betreffenden : Hund in einer ! Die Herren Reiss und Stübel scheinen hierin besonders glücklich ge- wesen zu sein. Ch. Wiener hat bei seinen Ausgrabungen in Ancon keine Hunde- mumien gefunden; wenigstens erwähnt er dieselben nicht in seinem Reisewerke: „Perou et Bolivie.“ Paris 1880, p. 41 ft. ? Dazu kommen noch zwei zusammengehörige Unterkieferhälften eines sehr jungen, mit Milchgebiß versehenen Haushundes, sowie der Gesichtsschädel eines Fuchses, welcher mit Canıs Azarae die größte Ahnlichkeit hat. aus den Gräbern von Ancon. 97 Situation, welche den Eindruck macht, als ob derselbe schliefe, und zwar schräg auf der rechten Seite liegend, die Hinterbeine vorwärts ge- streckt, die Vorderbeine gekrümmt ; ‘der Kopf ist den letzteren zugeneigt, der Schwanz über das Kreuz aufwärts gebogen und dicht am Körper liegend. Haut und Haare sind noch fast vollständig erhalten; nur an der Nase sowie an den Rippen der linken Seite und am linken Knie- gelenk tritt der nackte Knochen zum Vorschein. Auch die übrigen Reste, mit Ausnahme zweier Schädel, waren mit Haut und Haar bekleidet, als ich sie zur Untersuchung erhielt; doch habe ich die Mehrzahl der Schädel sowie auch die Knochen je eines Vorderbeines der beiden Mumienhälften mit Erlaubnis der Herren Pro- fessor Basrıan und Dr. Reıss der genaueren Untersuchung wegen aus der Haut, unter möglichster Konservierung der letzteren, herausgeschält. Behaarung und Farbe der Inca-Hunde. Was zunächst die Behaarung anbetrifft, so zeigen alle die vorliegenden Reste ein sehr dichtes, starkes Haarkleid, welches am Kopfe und an den Füßen kurz und straff erscheint, während es im Nacken und an der Brust eine größere Länge und damit auch eine größere Weichheit besitzt. Letzteres ist besonders bei dem einen Individuum der Fall, dessen Vorderteil wohl- erhalten und zum Teil noch mit Bandagen umwickelt ist; dieses zeigt eine förmliche Mähne in der Nacken- und Brustgegend, auch die Hinter- seite der Beine ist verhältnismäßig lang behaart. Die Grundfarbe sämtlicher Exemplare ist gelb, und zwar teils hellgelb, teils schmutzig gelb (lehmgelb). Auf dieser Grundfarbe finden sich vielfach braune Flecken von größerem Um- fange und unregelmäßiger Gestalt. Sie zeigen sich hauptsächlich an den Seiten des Kopfes, am Halse, an der Brust und auf dem Rücken, wäh- rend die Bauchgegend und die Beine die reine gelbliche Grundfarbe auf- weisen. Besonders ausgeprägt, scharf abgegrenzt und dunkelfarbig sind die Flecken an dem vorhin erwähnten langhaarigen Vorderteile. Schwanz und Ohren. Der Schwanz des einen vollständigen Exemplars ist mit dichten, buschigen, steifen, gelben Haaren rundum besetzt, so daß er wolfsähnlich erscheint. Er ist von mäßiger Länge; ein künstliches Abstutzen desselben scheint nicht stattgefunden zu haben. Dagegen scheinen mir die Ohren fast aller Exemplare künstlich abgestutzt zu sein, etwa in der Weise, wie es bei unseren Pintschern, Möpsen und Doggen Sitte ist. Nur das mehrfach erwähnte langhaarige Vor- derteil zeigt ein unbeschnittenes, ziemlich großes, weichbehaartes Ohr! von dreieckiger Form, welches etwa mit dem Ohre unserer Schäferhunde verglichen werden könnte und welches uns vermutlich die ursprüngliche Form des Ohres auch der übrigen Individuen zur Anschauung bringt. Die Dimensionen der Inca-Hunde. Die Größe der vor- liegenden Hunde ist durchweg eine mäßige; einige Exemplare ! Das andere Ohr ist noch mit Bandagen umwickelt, so daß man es nicht untersuchen kann; doch ist es unzweifelhaft von derselben Form wie das sichtbare. Kosmos 1884, II. Bd. (VII. Jahrgang, Bd. XV). 7 98 Alfred Nehring, Über Rassebildung bei den Inca-Hunden darf man geradezu als klein bezeichnen. Das größte Exemplar, welches durch das mehrfach erwähnte, Janghaarige Vorderteil repräsentiert wird, hat etwa die Größe eines deutschen Jagdhundes kleinerer Statur oder eines kleinen Schäferhundes. Der Kopf hat eine Länge von circa 172, das Schulterblatt von 115, der Oberarm von 147, die Ulna von 172, der Radius von 140 mm!. Die Dimensionen der vollständig erhaltenen Mumie lassen auf ein etwas kleineres Individuum schließen. Der Schädel hat eine größte Länge von 165 mm (185 mm Bandmaß), der Rumpf vom Kopfe bis zum After mißt etwa 660 mm, der Schwanz 240 mm inkl. der äußersten Spitzen der Haare. Das Becken mißt etwa 130, der Ober- schenkel etwa 140, der Unterschenkel 150, der Fuß vom hintern Fort- satze des Fersenbeins bis zu den Zehenspitzen (ohne Krallen) 140, der Oberarm etwa 130, der Unterarm (inkl. Olecranon) etwa 160, der Vor- derfuß (ohne Krallen) etwa 100 mm. Die übrigen Reste rühren von noch kleineren Hunden her; das kleinste Exemplar, welches durch einen ausgezeichnet erhaltenen, von mir präparierten Kopf, resp. Schädel vertreten ist, dürfte die Größe eines Bulldog kleinster Gestalt, resp. die eines großen Mopses gehabt haben. Sein Schädel hat eine größte Länge von 131 mm, d. h. 3 mm mehr als der kleinste Bulldog-Schädel unserer Sammlung. Zugehörigkeit zu Canis Ingae Tschupı. Fragen wir nun, mit welcher Form (oder Spezies) von Hunden wir es hier zu thun haben, so kann von den beiden Spezies, welche TscHupı als ursprünglich in Peru vorhanden angibt: »Canis caraibicus« und »C. Ingae«, nur die letztere hier in Betracht kommen. Der Canis caraibicus ist völlig aus- geschlossen, da er fast ganz nackt (haarlos) und von schwächlichem Körperbau war. Dagegen passen die Hauptcharaktere des €. Ingae sehr gut auf die Hunde von Ancon. Tschupı beschreibt den (©. Ingae a.a.0. p. 249 f. mit folgenden Worten: »Der Kopf ist klein, die Schnauze ziemlich scharf zugespitzt, die Oberlippe nicht gespalten; die Ohren aufstehend, dreieckig, spitzig und klein; der Körper untersetzt, die Extremitäten ziemlich niedrig, der Schwanz ungefähr ?/s der Körperlänge, nach vorn gerollt und ganz be- haart. Der Pelz ist rauh, lang und dicht; die Färbung ist dunkel ockergelb, mit schwarzen wellenförmigen Schattierungen; der Bauch und die innere Seite der Extremitäten sind etwas heller als die Grundfarbe des Rückens. Obere Augenflecken sind nicht vorhanden. Die einzelnen Haare sind an der Basis dunkelgrau, dann ockergelb, an der Spitze schwarz. Die Farbenvarietäten sind nach unserer Ansicht erst durch Kreuzung mit europäischen Hunden entstanden.« »>Alle Mumien und Schädel von Hunden, die wirin den Gräbern der Sierra gefunden haben, gehörten dieser ı Die Länge des Schädels ist nicht mit völliger Sicherheit zu messen, weil er noch mit Haut und Haar bedeckt ist. Die Maße der Extremitätenknochen sind exakt; sie stimmen fast genau mit denen eines „deutschen Jagdhundes“ (9) aus der v. Nathusius’schen Sammlung überein, aus den Gräbern von Ancon. 99 Spezies an; sie vertrat im Gebirge den Canis caraibicus der Küste; er machte mit diesem, den Llamas und Pacos die gesamten Haustiere der Indianer aus und wurde damals, wie auch jetzt noch, zum Hüten der Viehherden gebraucht, wozu er sich ziemlich gut eignet. Gegen- wärtig findet man fast in jeder Indianerhütte, besonders aber bei den Hirten der Puna, mehrere dieser Tiere. Ein Hauptzug ihres Charakters ist Falschheit und Tücke; dabei sind sie aber tapfer und fallen mit Ingrimm weit überlegenere Feinde an und schleppen sich tödlich ver- wundet noch zum Angriff. Sie haben eine merkwürdige Abneigung gegen die Weißen. Für einen europäischen Reisenden ist es jedesmal ein ziemlich gewagtes Unternehmen, sich einer Indianerhütte zu nähern, die von diesen Gebirgshunden bewacht wird; denn sie springen oft hoch an den Pferden hinauf, um die Reiter in die Waden zu beißen. Selbst gegen ihre Herren sind sie nicht loyal und beißen sie bei der geringsten Veranlassung. Die Indianer richten diese Hunde ab, um Rebhühner (Crypturen) zu fangen, welche sie aufspüren und erwürgen.« >Alle europäischen Hundearten sind nach Peru gebracht worden, wo sie sich über das ganze Land verbreitet haben; statt jede einzelne Art aufzuzählen, haben wir vorgezogen, dieselben in der systematischen Zusammenstellung der peruanischen Säugetiere unter der allgemeinen Bezeichnung Canis familiaris L. aufzuführen. « Die obige Beschreibung des C©. Ingae paßt in den wichtigsten Punkten durchaus auf die Hunde von Ancon. Auch bei ihnen ist der Kopf verhältnismäßig klein, die Schnauze ziemlich scharf zu- gespitzt (wenigstens im Verhältnis zu dem Gehirnteil des Schädels), die Oberlippe nicht gespalten, obere Augenflecken nicht vorhanden, die Ohren aufrecht stehend, dreieckig und spitzig, der Körper untersetzt, der Schwanz nach vorn gerollt und ganz behaart. Der Pelz ist rauh und dicht, die Hauptfärbung dunkel ockergelb. Die etwaigen Abweichungen erklären sich wohl daraus, daß Tscaunı den Ü. Ingae nur im Gebirge kennen gelernt hat, wo dieser Hund offenbar ein primitiveres, natur- gemäßeres Dasein führte als in dem heißen Küstenstriche von Ancon. Hier blieb der Pelz nicht so lang und dicht als im Gebirge; auch mochten sich die Grundfarben des Pelzes etwas anders mischen, indem statt »der schwarzen wellenförmigen Schattierungen« mehr oder weniger scharf begrenzte, schwarze oder braune Flecken sich herausbildeten, wie dieses vielfach eine Folge zunehmender Domestikation zu sein scheint. Mit der von Tscuupı hervorgehobenen Bissigkeit des (C. Ingae steht die enorme Stärke und Ausbildung aller mit dem Gebiß im Zusammenhange stehenden Schädelteile bei den Hunden von Ancon im schönsten Einklang. In unserer an Hundeschädeln so reichen Sammlung! finde ich wenige europäische Haushundschädel, welche auch nur annähernd den Eindruck der Beißfähigkeit machen wie die vor- liegenden Schädel von C. Ingae. Leider hat Tscaupı das Gebiß und die Schädelform von Ü. Ingae nicht genauer beschrieben, so daß wir den Vergleich in dieser Richtung ! Zoolog. Sammlung d. königl. landwirtsch. Hochschule in Berlin, 100 Alfred Nehring, Über Rassebildung bei den Inca-Hunden nicht weiter fortsetzen können. Ich halte mich aber schon nach den sonstigen Übereinstimmungen für berechtigt, die Hunde von Ancon zu O. Ingae zu rechnen, obgleich manche Differenzen gegenüber der TscHupr'- schen Beschreibung nicht zu verkennen sind. Besonders wichtig und interessant ist, daß sich im Schädel und Gebiß der Ancon-Hunde die deutlichen Zeichen einer vorgeschrittenen Domestikation und einer damit Hand in Hand gehenden Rassebildung wahrnehmen lassen. Das Gebiß der Inca-Hunde. Was zunächst das Gebiß anbetrifft, so finde ich an allen Schädeln einen gemeinsamen Typus, welcher sich zu- nächst in der Form der Zähne ausdrückt; die letzteren zeigen nicht nur sehr ausgeprägte, energische Umrisse, sondern sie sind auch verhältnismäßig groß und dick, was besonders bei dem Fleischzahn (Sectorius), dem ersten Höckerzahne und dem hintersten Lückzahne in die Augen fällt. Sehr bemerkenswert ist ferner das starke Variieren in der Zahl der Backenzähne. Die normale Zahl derselben bei der Mehr- zahl der Caniden und speziell bei Canis familiaris ist bekanntlich oben jederseits sechs, unten jederseits sieben, und zwar finden sich oben vor dem Reißzahne je drei, unten je vier Lückzähne, hinter dem Reißzahne sowohl oben als auch unten je zwei Höckerzähne. Von den vorliegenden 10 Inca-Hunden hat kein einziger die nor- male Zahnformel der Caniden aufzuweisen. Es fehlt entweder der vor- derste Lückzahn oder der letzte Höckerzahn, entweder in allen vier Kieferhälften oder doch in einer oder der andern Kieferhälfte. Bei fünf Exemplaren ist das Gebiß des Oberschädels vollzählig, indem nur der Unterkiefer eine Abweichung zeigt. Letzterer besitzt bei keinem Exemplar die volle Zahl von Zähnen!. Meistens fehlt der vorderste Lückzahn; ist dieser aber vorhanden, dann fehlt regelmäßig der zweite Höckerzahn. Da diese Sache ein besonderes Interesse verdient, so gebe ich die Backenzahnformeln der einzelnen Individuen hier noch spezieller an, wobei ich die Lückzähne mit p, den Reißzahn mit s, die Höckerzähne mit m bezeichne und die von der normalen Zahnformel abweichenden Zahlen durch fetten Druck hervorhebe. Backenzahnformeln der Inca-Hunde von Ancon. Links Rechts rigen ee pr en ; p4 s.mil p3.s.m2 3.5.m2 3.s.m2 Nr. 1445. DeprEI N ps.s.m P.3.8s.m2 ps.s. mi a p3.s.m2 .P3 s.m2 und 1439 | p3.s.m2 p3.s.m2 ! Das eine Individuum, welches nur durch einen Oberschädel repräsentiert wird, läßt sich hinsichtlich des Unterkiefers nicht kontrollieren; doch ist mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß die Zahnformel des zugehörigen Unterkiefers des vordersten Lückzahns entbehrt hat. ? Die Nummern beziehen sich auf das Inventar der Reiss’schen Kollektion. aus den Gräbern von Ancon. 101 Links Rechts 3, 2° Sa N ee P3.s.m1 Bors,mi 3 .,80..0. : 2 a a ah Bin, p4.s.mi PAR si md Nr. 1443 | p2.s.m2 p2.s.m2 und 1446. | p3.s.m2 ms. 3.m.2 Wenn man eine größere Zahl von Schädeln europäischer Haus- hunde untersucht, so wird man immerhin manche darunter finden, welche dieselben Abweichungen von der normalen Zahnformel zeigen wie die vorliegenden Hundeschädel von Ancon!. In der meiner Verwaltung unter- stellten zoologischen Sammlung der königl. landwirtschaft- lichen Hochschule hierselbst, in deren Besitz die berühmte Schädel- sammlung des verstorbenen H. v. NAarHusıus-HunDisBuRG übergegangen ist, befinden sich mehr als 700 Schädel von Haushunden, welche meist der Rasse und Herkunft nach bekannt sind. Unter diesen kann man leicht eine ziemliche Anzahl von Gegenstücken zu den oben angeführten Zahnformeln herausfinden, zumal wenn man die Schädel der kurzschnauzigen, ein verweichlichtes Leben führenden Stubenhunde (Mops, Bologneser, King Charles u. ähnl.) ins Auge faßt. Aber man wird selbst bei diesen nicht einen so hohen Prozentsatz von Abnormitäten resp. Abweichungen von der normalen Zahnformel bemerken wie bei den Inca-Hunden von Ancon, wobei noch besonders der Umstand bemerkenswert ist, daß die letzteren trotz der zahlreichen Defekte in der Zahl der Zähne durchaus keine Defekte oder Abnormitäten in der Form derselben zeigen, sondern, wie oben schon bemerkt wurde, sehr gesunde, kräftige Zähne besitzen, während bei den verglichenen europäischen Stubenhunden die Defekte in der Zahl mit mancherlei Defekten in der Form der Zähne verbunden zu sein pflegen. Bei den europäischen Haushunden findet man neben den zahlreichen Individuen, welche eine verringerte Zahl der Backenzähne aufweisen, nicht selten auch solche, welche eine über die normale Zahnformel hinaus- gehende Zahl von Backenzähnen besitzen?. Die Vermehrung zeigt sich an denselben Stellen wie die Verminderung, nämlich entweder am Vorder- ende oder am Hinterende der Backenzahnreihe, d. h. es ist entweder ein Lückzahn oder ein Höckerzahn mehr vorhanden, als es die normale Zahnformel mit sich bringt. Ein derartiger Fall liegt bei unseren Hunden von Ancon nicht vor; vielmehr zeigen alle vorhandenen Abweichungen die Ten- denzzur Verminderung der Anzahl derBackenzähne. Wenn man in dem Auftreten dreier Höckerzähne oder in einer Vermehrung der Lückzähne eine Reminiszenz an tertiäre Vorfahren unserer Haus- hunde erblicken darf (wofür vieles spricht), so würde man sagen müssen, ! Vergl. meine Mitteilungen in dem Sitzungsbericht d. Ges. naturf. Freunde in Berlin, vom 16. Mai 1882. ® Vergl. meine Mitteilungen in dem eitierten Sitzungsberichte. 102 Alfred Nehring, Über Rassebildung bei den Inca-Hunden daß die Hunde von Ancon eine solche Reminiszenz vermissen lassen und sich verhältnismäßig weit von ihren wilden Vorfahren im Gebiß ent- fernt haben, soweit man nach dem vorliegenden, immerhin knappen Ma- teriale urteilen darf. Es wäre sehr zu wünschen, daß recht bald weiteres Material aus peruanischen Gräbern beschafft und genau untersucht würde. Jedenfalls dürfen wir schon nach den vorliegenden 10 Exem- plaren die Behauptung aufstellen, daß die Zahnformeln der Inca-Hunde auf eine langjährige Domestikation derselben hinweisen. Auch die Stellung der Zähne deutet uns dasselbe an. Die Backenzähne der wilden Caniden sowie der primitiven Haushundsrassen der alten Welt liegen, im Profil betrachtet, annähernd horizontal, d.h. die äußeren Alveolenränder bilden vom hintersten Höckerzahn bis zum vor- dersten Lückzahne eine von der Horizontale nicht sehr abweichende, wenig gebogene Linie. Anders ist es bei den kurzschnauzigen, verzärtelten Hunderassen, wie z. B. bei den Möpsen, Bolognesern und ähnlichen. Hier zeigen die Zahnreihen eine starke Biegung oder Krümmung, welche von der Horizontalen bedeutend abweicht; der hinterste Höckerzahn liegt verhältnis- mäßig hoch, der erste Höckerzahn und der Reißzahn liegen wesentlich tiefer, die Lückzähne zeigen dann wieder eine deutlich aufsteigende Linie. Es hängt dieses offenbar mit der Verkürzung des Schnauzenteils eng zusammen. Ein langschnauziger Hund hat in seinen Kiefern Platz genug für eine horizontale Stellung der ganzen Backenzahnreihe; es bleiben meistens sogar noch ansehnliche Lücken zwischen den sog. Lück- zähnen übrig. Man braucht nur die Schädel der wilden Caniden, welche sämtlich einen mehr oder weniger gestreckten Schnauzenteil haben, oder die Schädel der ihnen nahestehenden, ein naturgemäßes Dasein führenden Haushunde zu vergleichen, um sich von dieser Thatsache zu überzeugen. Bei denjenigen Hunderassen dagegen, welche eine wesentliche Ver- kürzung des Schnauzenteils erlitten haben, was hauptsächlich bei den verzärtelten, resp. den durch Liebhaberei überbildeten Rassen geschehen ist, treten in den Backenzahnreihen mannigfache Veränderungen ein; die- selben müssen sich bedeutend krümmen, um für die Zähne, deren Zahl und Größe möglichst festgehalten wird, Platz zu schaffen. Infolgedessen weichen die Zahnreihen, im Profil gesehen, stark von der Horizontalen ab. Dazu kommt meistens auch eine starke seitliche Biegung, welche zumal in der Schrägstellung oder selbst Querstellung des letzten Lück- zahns sich ausprägt!. Endlich kann auch eine Verminderung in der Zahl der Zähne eintreten. Alle diese Momente finden sich bei den mir vorliegenden Incahunden, und zwar teilweise in einer fast extrem zu nennenden Ausbildung, wie ich sie selbst bei unseren Bulldoggen und Möpsen kaum in derselben Weise vereinigt sehe. Bei diesen europäischen Rassen, zumal bei den Möpsen, finde ich meist eine stärkere Querstellung der Lückzähne, zumal im Oberkiefer, während an der Zahl der Zähne mit größerer Zähigkeit festgehalten wird. ! Man vergl. H, v. Nathusius, Vorträge über Viehzucht und Rassen- kenntnis, I, p. 37, Fig. 7. aus den Gräbern von Ancon. 103 Gemeinsame Charaktere in der Schädelbildung der Inca-Hunde. Bei einer genaueren Vergleichung der vorliegenden Schädel mit entsprechenden Schädeln europäischer Haushunde findet man manche Eigentümlichkeiten heraus, welche sich als gemeinsame Charaktere der Inca-Hunde von Ancon darzustellen scheinen. Ich hebe hier die hauptsächlichsten hervor, welche sich auch ohne zahlreiche Abbildungen einigermaßen klarstellen lassen. 1) Sämtliche Schädel zeigen trotz der im Gebiß bemerkbaren Zeichen einer weit zurückreichenden Domestikation sehr kräftige, aus- geprägte Formen und eine ansehnliche Dicke und Schwere der Knochen. Krankhafte Bildungen fehlen gänzlich. 2) Die Stirnbeine besitzen oberhalb der Augenhöhlen und des vorderen Teiles der Schläfengrube eine sehr bedeutende Wölbung, wäh- rend ihr in der Stirnnaht zusammenstoßender Teil eine auffallende Ver- tiefung zeigt, also starke Konkavität der Stirnmitte bei starker Konvexität der Stirnseiten, wieich dieses in demselben Maßstabe kaum bei irgend einem europäischen Haushunde gleicher Größe beobachte. 3) Die Augenhöhlen, welche eine fast kreisrunde Form und eine ‚auffallend scharfe Umrandung zeigen, sind verhältnismäßig klein. An dem größten mir vorliegenden Schädel von C. Ingae beträgt der ver- tikale Durchmesser der Augenhöhle 27,5 mm, an dem Schädel eines gleich großen Hundes von Malaga in Spanien 3l mm, an dem eines deutschen Schäferhundes gleicher Größe sogar 34 mm !. 4) Die Gehirnkapsel ist verhältnismäßig schmal; wenigstens fand ich, daß dieselbe im Querdurchmesser bei den fünf der Haut völlig entkleideten Schädeln, welche ich nach allen Richtungen genau messen konnte?, um einige (3—8) Millimeter schmaler war als bei gleich großen, sonst möglichst ähnliche Formen zeigenden Schädeln europäischer Haus- hunde. — Diesem Verhältnisse entspricht auch die geringere Kapa- zität der Schädelhöhle bei Canis Ingae. Bei denjenigen vier Exem- plaren, deren Schädelhöhle völlig gesäubert und somit einer vergleichenden Ausmessung zugänglich ist, fand ich dieselbe um ein wesentliches (meist ein volles Drittel) geringer als bei Schädeln europäischer Haushunde, welche äußerlich gleich groß sind und eine ähnliche Form haben. 5) Die Choanen sind durchweg höher, resp. tiefer und die Flügelbeine stärker entwickelt als bei europäischen Haushunden gleicher Größe und Form. Ich habe die Höhe der Choanen in der Weise festgestellt, daß ich die senkrechte Entfernung der Mitte des hinteren Gaumenbeinrandes vom Vomer, also die senkrechte Höhe der hinteren Nasenöffnung, gemessen habe; ich fand sie bei allen Exemplaren ganz bedeutend größer als bei entsprechenden Schädeln europäischer Haushunde. Auch die Breite ist meistens ansehnlicher. Man erkennt diesen Unterschied in der Öffnung der Choanen sofort beim ersten Blick. ı Es gibt diese Differenz in der Bildung der Augenhöhlen den Schädeln der Inca-Hunde ein ganz eigentümliches Gepräge. ® Die übrigen Schädel, welche mehr oder weniger noch mit Haut und Haaren bekleidet sind, konnte ich in dieser Richtung nicht völlig exakt ausmessen; doch lassen auch sie die Schmalheit der Gehirnkapsel erkennen. 104 Alfred Nehring, Über Rassebildung bei den Inca-Hunden 6) Die hintere Gaumenpartie, welche von den Reiß- und Höcker- zähnen umschlossen wird, ist verhältnismäßig breit. Wahrscheinlich hängt damit eine andere Eigentümlichkeit zusammen; die vordere Naht der Gaumenbeine (Palatina) zeigt nämlich eine sanftere Rundung, als dieses bei europäischen Haushunden der Fall zu sein pflegt. Ein ähnlicher Unterschied findet sich auch an der hinteren Grenze der Gaumen- beine; hier bilden die letzteren über der Mitte der Choanen bei euro- päischen Haushunden regelmäßig eine Schneppe, während bei den acht Schädeln von Ü. Ingae, welche ich in dieser Beziehung vergleichen konnte, von einer solchen Schneppe nichts zu sehen ist. In allen diesen Ver- hältnissen der Palatina weicht C. Ingae mehr von den wilden Caniden ab, als es die europäischen Haushunde durchweg thun. 7) Die Gehörblasen (Bullae osseae) sind größer und stärker gewölbt als bei europäischen Haushunden. 8) Legt man die Schädel der Inca-Hunde auf eine horizontale Tisch- platte, so bemerkt man, daß der Schnauzenteil nach vorn auf- fallend stark emporsteigt; die Alveolen der oberen Schneidezähne liegen durchweg wesentlich höher über der Tischplatte als bei entsprechen- den Schädeln europäischer Haushunde. Es hängt dieser Umstand eng zusammen mit der oben schon erwähnten auffallenden Biegung der Zahn- reihen, welche bei der Profilansicht sich bemerkbar macht. 9) Die Nasenbeine sind verhältnismäßig kurz, ein Umstand, welcher mit jener Emporziehung oder Aufrichtung des Schnauzenteils in Beziehung stehen dürfte. 10) Die Unterkiefer zeigen eine auffallende Stärke sowohl deszahntragenden, alsauch besonders des aufsteigenden Teils. Die Massetergrube ist von einer enormen Tiefe. Außerdem ist bemerkens- wert, daß der ganze Unterkiefer sowohl in horizontaler, als auch in sagittaler Richtung eine auffallende Krümmung zeigt. Dieses sind ungefähr die gemeinsamen Charaktere, welche sich bei einer Vergleichung der Inca-Hunde von Ancon mit entsprechend großen Schädeln europäischer Haushunde der Beobachtung aufdrängen. Man könnte sie leicht noch durch Details vermehren; doch genügen sie meines Erachtens schon, um uns zu überzeugen, daß wir es in den Inca-Hunden mit einem eigentümlichen, von den europäischen Haushunden in vielen kraniologischen Momenten abweichenden Typus zu thun haben. Rassebildung beidenInca-Hunden. Ganz besonders wich- tig ist es, daß sich innerhalb dieses gemeinsamen Typus die deutlichsten Beweise von Rassebildung zeigen, und zwar von einer Rassebildung, welche derjenigen bei gewissen Hunderassen der alten Welt vollständig parallel läuft, ohne aber sich mit ihr zu decken. Ich kann nach der Schädelbildung mit völliger Bestimmtheit drei Rassen unter den Inca-Hunden von Ancon unterscheiden, nämlich: 1) Eine Schäferhund-ähnliche Rasse, welche ich als Canis Ingae pecuarius'!, ı Diese Rasse hat übrigens auch manche Ähnlichkeit mit unseren Jagdhunden, so daß man sie fast mit demselben Rechte eine Jagdhund-ähnliche nennen könnte. aus den Gräbern von Ancon. 105 2) eine Dachshund-ähnliche Rasse, welche ich als Canis Ingae vertagus, und j ; 3) eine Bulldog-, resp. Mops-ähnliche Rasse, welche ich als Canis Ingae molossoides zu bezeichnen mir erlaube. 1) Die Schäferhund-ähnliche Rasse (CO. Ingae pecuarius). Die Mehrzahl der vorliegenden Individuen gehört einer Rasse an, welche nach ihrer Schädelform sowie auch nach manchen äußeren Charakteren einem kleinen Schäferhunde am meisten ähnelt. Ich rechne hierher die voll- ständige Mumie, das mehrfach oben erwähnte, stark gefleckte Vorderteil und fünf isolierte Köpfe, resp. Schädel. Die Behaarung des Schwan- zes und die Haltung desselben bei der vollständigen Mumie, die Be- schaffenheit der unbeschnittenen Ohren bei dem Vorderteile und vor allem die Schädelform zeigen viele Ähnlichkeit mit den kleineren Formen der altweltlichen Schäfer-, resp. Hirtenhunde. Der Schädel, dessen Basilarlänge bei den fünf isolierten Köpfen zwischen 145 und 159 mm variiert, ist im Ver- gleich zu den beiden anderen Ras- sen (Dachshund und Bulldog) ge- streckt, ohne aber eine wind- hundartige Schlankheit zu er- reichen; er gleicht vielmehr in seinem ganzen Habitus, abgesehen von den oben hervorgehobenen Eigentümlichkeiten, dem eines kleineren Schäferhundes. Doch könnte man den Schädel in vielen Punkten auch mit dem unserer kleineren Jagdhunde vergleichen, ee erenheng der Fig. 1. Schädel eines Schäferhund -ähn- Ohren und des Schwanzes vom lichen Inea-Hundes von Ancon. Jagdhunde wenig an sich hat. !/» nat. Gr. Man vergleiche den Holz- schnitt Nr. 1, welcher den größten der isolierten Schädel zur Anschau- ung bringt. Auch die Form und Größe der schlank gebauten Extremitäten- knochen, soweit ich dieselben genau studieren konnte, entspricht in der Hauptsache dem, was aus der Schädelform sich ergibt. Auf eine genauere Beschreibung derselben kann ich hier nicht eingehen; ich will nur kurz konstatieren, daß die Knochen, welche ich aus dem Vorderbeine des einen Mumien-Vorderteils herausgelöst habe, im ganzen mit denen einer deutschen Jagdhündin unserer Sammlung übereinstimmen. 106 Alfred Nehring, Über Rassebildung bei den Inca-Hunden 2) DieDachshund-ähnliche Rasse (C. Ingae vertagus). Diese Rasse wird durch eine halbe Mumie (Vorderteil) und einen isolierten Kopf vertreten. Die Ähnlichkeit mit unserem Dachshunde zeigt sich teils in der Schädelform, teils in der Bildung der Beinknochen. Was zunächst die letzteren anbetrifft, so konnte ich die Form derselben genau studieren, da ich die Knochen des einen Vorderbeins vereinzelt präpariert habe. Dieselben entsprechen durchaus der Form unserer krummbeinigsten Dachshunde. Das Schulterblatt ist auffallend kurz und breit (79 mm lang, 5l mm breit'), der Oberarm (96 mm lang) ist ganz außerordentlich gekrümmt, seine Olecranongrube nicht durch- bohrt, die Ulna (106 mm lang) stark gekrümmt, auch der Radius (92 mm lang) nimmt etwas an der Verkrümmung teil. Besonders interessant war es mir, die Olecranongrube, welche sonst bei den Caniden regelmäßig perforiert ist, geschlossen zu finden, wie dieses für unsere Dachshunde charakteristisch ist?. Offenbar hängt diese Beschaffenheit der Olecranongrube mit der krummen Stellung der Vorder- beine eng zusammen; bei den steil stehenden Hunden greift das Ole- eranon der Ulna mit der Spitze des großen halbmondförmigen Gelenk- ausschnitts viel tiefer in die Olecranongrube des Oberarms hinein und führt dadurch gewöhnlich die Perforation derselben herbei. Mit dieser Beschaffenheit der Beinknochen harmoniert die Schädel- form in der Weise, daß sie in den meisten Verhältnissen derjenigen unserer Dachshunde gleicht?. Der Gehirnteil des Schädels ist verhältnis- mäßig stark ausgebildet, der Schnauzenteil dagegen kurz und schmal, wenigstens im Vergleich zu der Schäferhund-ähnlichen Form. Auch in der Größe ist ein ziemlicher Unterschied gegenüber dieser letzteren Rasse. Der isolierte Dachshund-Schädel hat eine Basilarlänge von 127 mm, der zu den oben beschriebenen Beinknochen gehörige Schädel nur von 114 mm, Dimensionen, wie ich sie bei unseren kleineren Dachshunden finde. Übrigens ist noch hervorzuheben, daß in einigen Verhältnissen die beiden vorliegenden Schädel eine gewisse Annäherung an den Bulldogtypus zeigen. Bei dem kleineren tritt dieses in der äußeren Form ziemlich deutlich hervor, besonders in der stärkeren Verkürzung des Schnauzenteils, in einem gelinden Übergreifen des Unterkiefers über den Oberkiefer und in der größeren Breite an den Jochbogen. Bei dem größeren, sonst sehr Dachshund-ähnlichen Schädel erkenne ich eine An- näherung an unsere Bulldogs in dem Umstande, daß der mediale Teil der Intermaxillaria sich nicht direkt an den Gaumenteil der Maxillaria anschließt, sondern wesentlich emporgerückt liegt, so daß also der In- cisivteil des knöchernen Gaumens eine tiefe Furche zeigt, wie ich dieses bei denjenigen Bulldogs finde, bei welchen die Zwischenkiefer nicht ! Diese Breite erstreckt sich auffallend weit nach vorn, wie ich es bei unseren Dachshunden nicht in demselben Maßstabe finde. ; ° Eine geschlossene Olecranongrube findet sich zuweilen auch bei Bullterriers. ® Die Länge des zu den Beinknochen gehörigen Schädels ist verhältnismäßig kleiner als bei unseren Dachshunden, wie denn überhaupt die Inca-Hunde klein- köpfig sind. aus den Gräbern von Ancon. 107 völlig getrennt sind, sondern nur der Anfang dazu gemacht ist. — Auch die schräge Stellung des letzten _Lückzahns oben und unten erinnert an den Bulldog. In manchen Punkten kann man aber auch eine Ähnlichkeit der beiden vorliegenden Schädel mit Terriers, resp. Bullterriers er- kennen; sie gleichen überhaupt keiner europäischen Hunderasse völlig, sondern lassen für den sorgfältigen Beobachter in allen Verhältnissen einen eigentümlichen Charakter wahrnehmen. 3) Die Bulldog-ähnliche Rasse (C. Ingae molossoides). Fig. 2 und 3. Die dritte Rasse‘; wird leider nur durch einen isolierten Kopf vertreten. Dieser ist aber im höchsten Grade interessant; denn Fig. 2. Schädel eines Bulldog-ähnlichen Fig. 3. Derselbe Schädel, von unten Inca-Hundes von Ancon. Ansicht von gesehen. !/s nat. Gr. oben. !/a nat. Gr. er repräsentiert uns eine Rasse der Inca-Hunde, welche in den meisten Punkten einem kleinen Bulldog gleicht. Diese Ähnlichkeit zeigt sich zunächst in der außerordentlichen Verkürzung der Schnauze, in der bedeutenden Verbreiterung der mittleren Schädelpartie, in der steil aufsteigenden Stirn, in dem starken Übergreifen des Unterkiefers über den Oberkiefer. Der ganze Schädel, welcher nur 112 mm Basilar- länge hat, ist kurz und breit, die Jochbogen stehen weit ab, die hin- ‘ tere Gaumenpartie ist sehr geräumig, der letzte obere Lückzahn stark schräg (fast quer) gestellt. Der Incisivteil des harten Gaumens zeigt ! In Fig. 2 erscheint die Schnauze, speziell die Nase, etwas zu lang; sie ist in natura verhältnismäßig noch kürzer. Außerdem ist die Lage der Foramina infraorbitalia nicht ganz korrekt wiedergegeben. 108 Alfred Nehring, Über Rassebildung bei den Inca-Hunden zwar keine Spaltung der beiden Zwischenkiefer, wie dieses bei unseren extremsten Bulldogs (mit gespaltener Nase) der Fall ist; aber er läßt doch eine bedeutende Höhlung oder Einsenkung der um die Foramina incisiva gelegenen Partie erkennen; diese Foramina selbst sind auffallend kurz und rundlich gestaltet. Auf der rechten Seite des Oberkiefers fehlt der vorderste Lückzahn, d. h. er hat sich überhaupt nicht entwickelt; auf derselben Seite ist der (ausgefallene) mittlere Schneidezahn (J 2) aus der Reihe nach oben gedrängt, wie die Alveole deutlich erkennen läßt. Es hängen diese Unregelmäßigkeiten des Gebisses wahrscheinlich mit einer asymmetrischen seitlichen Verkrümmung der Schnauze zusammen, welche die rechte Seite kürzer erscheinen läßt als die linke. Jeder, der einen Bulldog-Schädel vergleicht, wird die auffallende Ähnlichkeit nicht verkennen können. Dabei ist der Inca-Bulldog auffallend klein gewesen, nicht größer als ein großer Mops; aber er unterscheidet sich von unseren verweichlichten Möpsen und kleinen Bulldogs durch die außerordentlich kräftigen, markierten For- men des Schädels sowie durch die gesunde Beschaffenheit der ein- zelnen Schädelknochen und der Zähne, trotz der oben angedeuteten Un- regelmäßigkeiten im Bau der Schnauze und des Gebisses. Wir besitzen in unserer an Mops- und Bulldog-Schädeln außerordentlich reichen Sammlung kein einziges Exemplar, welches so energische Formen auf- zuweisen hätte wie dieser kleine Inca-Bulldog. Besonders interessant ist auch das starke Übergreifen des Unterkiefersüber den Öberkiefer. Bei denjenigen Tieren, welche eine starke Verkürzung des Schnauzenteils erleiden (Kulturformen des Schweines, Niata-Rind etc.), d. h. also der sogenannten »Mopsbildung« unterworfen sind, vermag der Unterkiefer sich nicht in demselben Maß- stabe zu verkürzen wie der Oberkiefer; er krümmt sich zwar bedeutend, aber er bleibt meist doch länger als jener, und so greifen die unteren Schneidezähne über die oberen hinüber', wie es bei Bulldogs und Möpsen besonders deutlich zu sehen ist. Die auffällige Biegung des Unterkiefers, welche besonders in der Gegend der hinteren Backenzähne sich geltend macht, ist wohl die Ur- sache gewesen, daß bei unserem Inca-Bulldog der 2. untere Höckerzahn jederseits fehlt; es war eben kein Platz mehr für ihn da, weil der Pro- cessus coronoideus direkt hinter dem 1. Höckerzahn aufsteigt. Dagegen findet sich der erste untere Lückzahn jederseits (wenn auch sehr zierlich) entwickelt, da die Unterkiefer hier Platz genug für ihn hatten. Schlußbetrachtungen. Ohne hier auf weitere Details ein- zugehen, darf ich wohl schon nach den obigen Angaben es als nach- gewiesen ansehen, daß unter den vorliegenden Hunderesten von Ancon drei in der Schädelbildung und zum Teil auch in dem Bau der Extre- mitäten sich unterscheidende Rassen vertreten sind, nämlich eine Schäfer- hund-ähnliche, eine Dachshund-ähnliche und eine Bulldog-ähnliche Rasse. ! Bei unserem Inca-Bulldog greift sogar der untere Eckzahn über die oberen Schneidezähne hinaus. aus den Gräbern von Ancon. 109 Besonders wichtig aber ist es, daß trotz dieser Rassebild- ung sämtliche 10 Exemplare in vielen zoologisch wichtigen Punkten einen gemeinsamen Typus erkennen lassen. Es ist im höchsten Grade wahrscheinlich, daß die Dachshund-ähnliche und die Bulldog-ähnliche Rasse der Inca-Hunde ausder größeren, mit gestreckterem Schädel versehenen Schäferhund-ähn- lichen Rasse hervorgegangen sind. Die letztere repräsentiert offenbar am meisten den ursprünglichen Typus, obgleich auch sie schon die Merkmale langjähriger Domestikation an sich trägt. Ein Skeptiker könnte allerdings behaupten, daß die Dachshund- ähnliche und die Bulldog-ähnliche Rasse der Inca-Hunde erst in der Zeit nach dem Eindringen der Spanier in Peru entstanden seien, und zwar aus der Kreuzung von importierten Dachshunden und Bulldogs mit Inca-Hunden. Es sollen ja angeblich einige Funde in den Gräbern von Ancon gemacht worden sein, welche darauf hindeuten, daß das dortige Totenfeld noch einige Zeit nach dem Eindringen der Spanier zu Bestattungen benutzt sei. So sagt Basrıan in seinem berühmten Werke: »Die Kulturländer des alten Amerika«, Berlin 1878, I, p. 5l: »In diesem abgelegenen Winkel, der »Ancon« mit Recht heißt, scheint die alte indianische Begräbnisweise noch längere Zeit nach Ankunft der Spanier fortgesetzt zu sein. ....... So finden sich manchmal unter den Grabbeigaben der Mumien....... von den Europäern eingeführte Gegenstände, « Hiermit stehen aber die Angaben Wiırxer’s im Widerspruche, welcher in seinem bekannten Werke: »Perou et Bolivies, Paris 1880, p- 41—55 das Totenfeld von Ancon einer interessanten und eingehenden Besprechung unterzogen hat. Nach WIENER ist das Totenfeld von Ancon entschieden vorspanisch; es gehört der Blütezeit des Inca-Reiches an und bildet die Begräbnisstätte der im Laufe langer Zeit in dortiger Gegend gefallenen Krieger der Incas. (Vergl. a. a. O. p. 54.) Ob letztere Ansicht WıEner’s richtig ist, lasse ich dahingestellt sein; ich darf jedoch konstatieren, daß die von den Herren Rekıss und StÜüBEL untersuchten Gräber keine europäischen Arte- fakte geliefert haben und daß die zoologischen Beigaben der Mumien in keiner Hinsicht den Verdacht aufkommen lassen, als rührten dieselben aus der Zeit nach dem Eindringen der Spanier her. Ich selbst hatte anfangs die eine Ratten-Mumie, welche sich dabei befindet, in dem Verdachte, sie könne von Mus rattus herrühren. Aber dieser Ver- dacht hat sich durchaus nicht bestätigt; bei genauerer Untersuchung des Schädels und des Gebisses konnte ich mit voller Sicherheit fest- stellen, daß es sich nicht um Mus rattus, sondern um eine Hesperomys-Art handelt. Lassen wir zunächst die Inca-Hunde bei Seite, so können wir be- haupten, daß alle zoologischen Objekte, welche Reıss und SrüsEL von Ancon mitgebracht haben, von südamerikanischen Spezies herrühren !. ‘ Sehr merkwürdig ist das eine (mumifizierte) Meerschweinchen, welches an jedem Hinterfuße 4 (statt 3) Zehen und an jedem Vorderfuße 5 (statt 4) Zehen besitzt, und zwar in wohlentwickeltem Zustande. 110 Alfred Nehring, Über Rassebildung bei den Inea-Hunden Keine Spur eines spezifisch europäischen Tieres! Es liegt daher gar kein Grund vor, für die Hunde eine europäische Beimischung anzunehmen. Ich halte mich vielmehr für berechtigt, die sämtlichen vorliegenden Inca-Hunde als vorspanisch anzusehen und die oben be- sprochene Rassebildung als eine auf amerikanischem Boden selbständig entwickelte zu betrachten. Der Inca-Dachshund und der Inca-Bulldog sind Kultur- formen des Inca-Schäferhundes, resp. des Inca-Jagd- hundes; sie werden mit- letzteren durch zahlreiche wichtige Charaktere zu einem gemeinsamen Typus verbunden und unterscheiden sich von den parallel stehenden europäischen Kulturrassen durch viele wesentliche Punkte. Gleiche Ursachen haben in Amerika gleiche Wirkungen gehabt wie in Europa. Wir wissen, daß der Hund bei den Huancas hoch verehrt und den Toten als Begleiter in das Schattenreich mitgegeben wurde. Eine ähn- liche Rolle spielte der Hund bei den alten Mexikanern. H. H. Banc- ROFT sagt darüber in seinem interessanten Werke: »The native Races of the pacific states of North-America«, Vol. II, London 1875, p. 605: >A little red dog was thereupon slain by thrusting an arrow down its throat, and the body placed by the side of the deceased, with a cotton string about its neck. The dog was to perform the part of Charon, and carry the king on his back across the deep stream called Chicu- nahuapan, »nine waters«, a name which points to the nine heavens of the Mexicans. « Es ist im höchsten Grade unwahrscheinlich, daß die Huancas oder die Azteken den von den Spaniern mitgebrachten Hunden dieselbe Ver- ehrung und dieselbe sorgfältige Bestattung erwiesen haben sollten wie ihren selbstgezogenen, einheimischen Hunden. Wir dürfen schon aus diesem Grunde den oben gemachten Einwurf zurückweisen. Daß bei den alten Azteken mehrere verschiedene Haus- hunds-Rassen gezüchtet wurden, steht historisch fest. STEFFEN sagt darüber in seinem sehr brauchbaren Buche über »die Landwirtschaft bei den altamerikanischen Kulturvölkern«, Leipzig 1883, folgendes: »Von Säugetieren wurde nur ein kleiner einheimischer Hund aufgezogen. Man scheint vier »Arten< gehabt zu haben; wenigstens führt SAHAGUN vier verschiedene Namen für sie auf: »chichi, itzcuintli, xochiocoiotl und tet- lamin oder tevizotl«. Der chichi oder techichi wurde verschnitten, ge- mästet und sein Fleisch auf dem Markte verkauft. Besonders schmack- haft soll das Fleisch der tlalchichi genannten Art gewesen sein. Die Spanier machten der Rasse den Garaus.« Wir dürfen wohl annehmen, daß es sich bei den Haushunden der alten Azteken nicht um vier »Arten« im zoologischen Sinne, sondern um vier Rassen derselben Art handelte. Doch wäre es sehr zu wünschen, daß Schädel und sonstige Reste altmexikanischer Haushunde gefunden und genauer untersucht würden. Wo der Hund eine solche Rolle spielt, wie dieses bei den alten Azteken offenbar der Fall war, da kann es gar nicht ausbleiben, daß sich verschiedene Kulturrassen entwickeln. Dasselbe wird auch in Peru aus den Gräbern von Ancon. an! der Fall gewesen sein. Freilich sagt GARcILAsO DE LA VEGA, daß die Indianer (von Peru) »nicht die verschiedenartigen Rassen besaßen, welche es in Europa gibt, sondern daß sie nur diejenigen hatten, welche man in Spanien Gozques (kleine Hunde, Kläffer) nennt«. Dieses ist völlig richtig in dem Sinne, daß die alten Peruaner keine Windhunde, Pudel, Bernhardiner, große Doggen etc. besaßen; es ist aber unrichtig, wenn man die Worte GarcILAso’s so verstehen wollte, als ob bei den Inca- Hunden gar keine Spur von Rassebildung vorhanden gewesen wäre. Jeden- falls läßt sich aus den vorliegenden Hunderesten von Ancon das Gegen- teil beweisen. In der Größe, in der Färbung und in der Behaarung sind die Differenzen zwischen den vorliegenden Inca-Hunden allerdings wenig auf- fällig. Sie treten erst deutlich hervor, wenn man die Schädel und die Beinknochen präpariert. Es konnte leicht geschehen, daß GArcILAso die Inca-Hunde dem Äußeren nach sämtlich als »Kläffere zusammenfaßte. Auch Tscaupvı hat keine Rasse-Differenzen an ihnen beobachtet, vielleicht deshalb, weil er die Inca-Hunde nur in den Gebirgsgegenden kennen lernte, wo sie, unter primitiven Verhältnissen lebend, keine wesentlichen Rassenunterschiede entwickelt hatten. Daß die Inca-Hunde von Ancon sehr deutliche und charakteristische Kennzeichen von Rassebildung in der Form des Schädels sowie auch in der Gestalt der Beinknochen an sich tragen, glaube ich hinreichend nach- gewiesen zu haben, soweit dieses ohne zahlreiche Abbildungen und detail- lierte Maßangaben geschehen kann. Wir dürfen annehmen, daß die bei Ancon bestatteten Haushunde zum Teil unter verfeinerten Verhältnissen gelebt haben, wenngleich die gesunde und kräftige Entwickelung ihrer Knochen nicht geradezu an das verzärtelte Leben von Schoßhündchen denken läßt. Sehr interessant und wichtig ist die Frage nach der Abstammung der Inca-Hunde. (Vergl. Darwin, Das Variiren d. Thiere u. Pflanzen etc. Deutsche Ausg. I, p. 28.) Ich gedenke, dieselbe in einer besonderen Ab- handlung zu erörtern, indem ich hoffe, daß schon die obigen Mitteilungen über die Rassen der Inca-Hunde bei den Lesern dieser Zeitschrift einiges Interesse finden und für die Geschichte der Haustiere einige Bedeutung haben werden. Doch will ich schon hier kurz andeuten, daß nach meinen bisherigen Untersuchungen wesentlich der nordamerikanische Wolf (Lupus occidentalis) und neben ihm vielleicht auch der Coyote (Canis latrans) als wilde Stammarten der Inca-Hunde von Ancon anzusehen sind. Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. Von Dr. Er. Johow. II. Eine Exkursion nach dem kochenden See auf Dominica. In der Inselreihe der kleinen Antillen, welche von Trinidad aus in einem Bogen nach Norden sich erstreckend die östliche Grenze zwischen den stillen Gewässern des caribischen Meerbusens und den offenen Fluten des atlantischen Ozeans bildet, liegt unter 15° nördl. Breite zwischen den französischen Besitzungen Martinique und Guadeloupe die kleine britische Insel Dominica, ein kaum 14 @Quadratmeilen umfassendes Ländchen, welches in seiner Bedeutung als Kolonie vielleicht die letzte, was hingegen seine landschaftlichen Reize betrifft, eine der ersten Stellen unter den westindischen Inseln einnimmt. Aus hohen vulkanischen Gebirgsmassen aufgebaut, deren petrographische Beschaffenheit dem Ein- dringen der Kultur ins Innere eine unübersteigliche Schranke gesetzt hat, birgt die Insel in ihren Bergen und Schluchten noch heutzutage ein wildes, ungefesseltes Tier- und Pflanzenleben, welches bei dem feuchten tropischen Klima sich in größter Üppigkeit entfaltet. Für den Natur- forscher bieten Fauna und Flora insofern noch ein besonderes Interesse dar, als beide einen auffallenden Reichtum an endemischen Arten auf- weisen und manche eigentümliche Beziehungen zu anderen geographi- schen Bezirken West-Indiens und Süd-Amerikas verraten. Wenn man mit möglichst geringem Zeitaufwand sich einen Überblick über die Vegetationsverhältnisse des Landes verschaffen und dabei zu- gleich mit der Lebensweise der interessantesten einheimischen Gewächse sich bekannt machen will, so kann man kein belehrenderes und genußreicheres Verfahren einschlagen, als indem man eine Exkursion nach dem »Boiling Lake« unternimmt, jenem wunderbaren, mit heißem Wasser erfüllten Krater im Innern der Insel, welcher zu den eigentümlichsten geologischen Phä- nomenen der Erde zählt. Der ungefähr 15 engl. Meilen lange, aber wegen mancher Beschwerlichkeiten und Hindernisse mehrere Tage in Anspruch nehmende Weg nach dem genannten Orte führt von der Westküste aus zunächst durch Kulturen und halb bebautes Land in einem romantischen Flußthal aufwärts, sodann durch die großartigsten Urwälder über mehrere Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. I. 113 Bergrücken und reißende Flüsse in ein etwa 5000 Fuß über den Meeres- spiegel sich erhebendes Hochthal, in dessen Sohle der kochende See, umgeben von einer schaurigen vulkanischen Wildnis gelegen ist. Die Mannigfaltigkeit der unterwegs sich darbietenden topographischen Verhältnisse bringt es mit sich, daß man auf dieser Exkursion fast sämt- liche auf der Insel vertretenen Vegetationsformationen zu beobachten Ge- legenheit hat, nämlich sowohl die Küstenflora mit den Kulturgewächsen und eingewanderten Unkräutern als auch die Vegetation der Thäler und Bergwälder. In den Rahmen einer solchen Exkursion sind deshalb auch die folgenden Vegetationsbilder aus Dominica zusammengedrängt worden, ob- wohl sie auf Beobachtungen beruhen, welche der Verfasser während eines längeren Aufenthaltes auf der Insel gesammelt hat. Wenn hier und da etwas ausführlicher auf ein pflanzengeographisches oder biologisches Phänomen, welches vorwiegend ein fachwissenschaftliches Interesse darbietet, einge- gangen wird, so wolle dies der Nichtbotaniker, der die folgenden Zeilen liest, freundlichst verzeihen. Den Ausgangspunkt unserer Exkursion nach dem kochenden See bildet die an der Westküste gelegene Hauptstadt der Insel, der einzige Ort, an welchem dem Europäer durch ein kleines Boarding-House die Möglichkeit eines längeren Aufenthalts geboten wird. Das Städtchen Roseau — über welches hier einige Bemerkungen gestattet seien — hat eine landschaftlich sehr schöne Lage und eine echt tropische Physiognomie. Auf der Westseite ist es von dem blauen Antillenmeer mit seinem kristallenen Wasser und seinen Scharen fliegender Fische begrenzt, auf der Ostseite von anmutigen Hügeln und hohen, mit den prächtigsten Urwäldern be- deckten Bergen überragt. Es liegt an der Mündung eines romantischen Gebirgsthales, ist landeinwärts von grünen Zuckerrohrfeldern und duftenden Zitronenhainen umgeben und erscheint, von den benachbarten Hügeln ge- sehen, in Kokospalmen und Bananengebüschen förmlich versteckt. Die Straßen der Stadt sind ganz nach amerikanischer Manier regelmäßig und in rechtwinkeliger Schneidung angelegt, aber in der primi- tivsten Weise gepflastert und mit Gras und allerhand exotischen Un- kräutern überwuchert. Die zumeist einstöckigen, aus Holz gezimmerten und statt der Glasfenster nur mit hölzernen Läden versehenen Häuser ruhen auf einem lockeren Unterbau von zusammengehäuften Steinen, der sie vor der Einwirkung des Regenwassers in der nassen Jahreszeit zu schützen hat; sie sind meist transportabel, eine Eigenschaft, welche einen sehr eigentümlichen Modus des Umziehens von einer Straße auf die an- dere ermöglicht; die besser ausgestatteten und von Europäern bewohnten werden zuweilen wegen Mangels arbeitslustiger und hinreichend geschickter Zimmerleute im Lande aus Nordamerika in fast fertigem Zustande per Schiff bezogen. Die ungefähr 5000 Seelen zählende Bevölkerung besteht mit Abzug eines kleinen Bruchteils von handeltreibenden Europäern sowie des Gouverneurs, Arztes, Pfarrers und Polizeiinspektors lediglich aus Schwarzen und Mulattos, welche mit wenigen Ausnahmen dem Ackerbau und überhaupt jeder körperlichen Anstrengung abgeneigt sind und ihren ärm- lichen Lebensunterhalt sich ohne Mühe durch Anpflanzung von ein paar Kokos- palmen, Pisangstauden und Yamswurzeln verschaffen. Ihre Sprache ist, Kosmos 1884, II. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XV). 8 114 Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. II. wie in allen andern nicht spanischen Inseln West-Indiens, das sog. Kreo- lisch, ein stark entstelltes und mit Vokabeln aus der Sprache der cari- bischen Ureinwohner vermischtes Plattfranzösisch, welches selbst dem ge- bornen Franzosen schwer verständlich ist. Ehe wir von diesem Ort aus unsere Exkursion nach dem Innern antreten, widmen wir einen Nachmittag dem Besuch des unmittelbar benachbarten Meeresstrandes, um die daselbst vorkommenden Ge- wächse, welche manches biologisch Interessante und Beachtenswerte dar- bieten, an ihrem Standort zu studieren. Die tropischen Küsten sind im allgemeinen entweder sumpfig und dann gewöhnlich mit jener Vegetations- form, die wir in dem vorhergehenden Aufsatz ausführlicher kennen gelernt haben, bekleidet, oder sie sind trocken, von sandiger oder felsigsteiniger Beschaffenheit und weisen dann eine von jener sehr verschiedene, aber kaum minder eigenartige Flora auf. Der Strand in der unmittelbaren Umgebung von Roseau gehört der letzteren Kategorie an. Er ist flach und mit Sand oder losem Steingeröll bedeckt, außerordentlich heiß und schattenlos und deshalb dürr und unfruchtbar. Was uns bei der Betrachtung der Flora eines solchen Strandes sofort in die Augen fällt, ist das Vorherrschen kriechender Ge- wächse, welche den verschiedensten Familien des Pflanzenreichs ange- hören. Die biologischen Vorteile, welche den Strandpflanzen durch die kriechende Lebensweise erwachsen und welchen diese Anpassung ihre Ent- stehung verdankt, liegen deutlich genug zu Tage: die Bildung zahlreicher Wurzelsysteme, welche den kriechenden Pflanzen in hervorragendem Grade ermöglicht ist, gewährt einerseits den Nutzen einer möglichst vollkommenen Befestigung am Boden — ein Moment, welches bei der labilen Beschaffen- heit des Küstensandes und der Heftigkeit der am Strande wehenden Winde von großer Bedeutung ist — und liefert anderseits die besten Chancen einer hinreichenden Ernährung und Wasserzufuhr aus dem un- fruchtbaren und trockenen Substrate. Auch die geringe Höhe der krie- chenden Pflanzen über dem Erdboden ist als eine für die mechanischen Erfordernisse günstige Eigenschaft anzusehen. Demgegenüber fallen die Nachteile, welche einem Gewächs aus der kriechenden Lebensweise er- wachsen können und welche in der mangelhaften Befriedigung des Licht- bedürfnisses liegen würden, bei den am Strande lebenden Pflanzen inso- fern fort, als die Arten und Individuenzahl dieser an die ungünstigsten Lebensbedingungen angepaßten Gewächse eine so geringe ist, daß die Konkurrenz im Kampfe ums Licht unter ihnen wenig oder gar nicht in Betracht kommt. Eine große Zahl der in Rede stehenden Gewächse gehört der Familie der Leguminosen ! an, nächst dieser herrschen die Convolvulaceen ®, Ampelideen ® und Commelyneen* vor. Aus der Familie der Cucurbita- ı Vorwiegend ist Canavalia obtusifolia und Vigna luteola. 2 Ipomoea pes caprae. 3 (issus sicyoides und trifolata. 4 Commelyna-Arten. Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. II. 115 ceen bemerken wir eine kleine Gurkenart!. Auch die Compositen sind durch eine kriechende Spezies”? vertreten, und die Portulacaceen, welche auch an unseren nördlichen Küsten nirgends vermißt werden, weisen mehrere, zwar nicht eigentlich kriechende, aber mit Stolonen begabte Vertreter? auf. Die charakteristische Kriechpflanze der tropischen Küsten (welche freilich bei Roseau ausnahmsweise .nicht zu finden, hingegen an anderen Strandpartieen von Dominica allgemein verbreitet ist) ist die von so vielen Reisenden erwähnte Geißfußwinde (Ipomoea pes ca- prae). Ihren Namen verdankt diese schöne Pflanze den eigentümlich ge- stalteten (an der Spitze »geißfußähnlich« eingeschnittenen und muschel- förmig gekrümmten) Blättern, welche eine fleischige Beschaffenheit be- sitzen, paarweise an den riesig langen, oft über 100 Fuß messenden Kriechstengeln aufgereiht sind und hier und da in ihren Achseln große, violett gefärbte Blumenkronen tragen. Da, wo diese Pflanze, wie es z. B. an mehreren Stellen der Nordküste von Trinidad der Fall ist, in der Gesellschaft von gelb- und weißblühenden Schmetterlingsblütlern vor- kommt, ist man oft überrascht, auf dem sonst so öden Strande die schönsten Blumenbeete vorzufinden. Die meisten der genannten Gewächse mit kriechenden Sprossen haben ihre nächsten Verwandten unter den Schlingpflanzen und zeigen ihre Hinneigung zu diesen in der ihnen gebliebenen Gewohnheit, an Bäumen und Sträuchern, mit denen sie zufällig in Berührung kommen, hinaufzusteigen. Echte, dem Strande eigentümliche Schlinggewächse sind hingegen einige Mimosa-Arten und die Convolvulacce Argyreia tilüfolia. Eine weitere, bei den Strandpflanzen weit verbreitete Erscheinung, welche auch bei den Bewohnern nördlicher Küsten angetroffen wird, ist die Sukkulenz der Vegetationsorgane. Weitaus die meisten, sowohl kriechenden als aufrechten Gewächse finden wir entweder mit fleischigen Blättern begabt oder aus unförmlichen dicken Stammteilen ohne ausgebildete Laubblätter bestehend. Diese Eigenschaft, welche als eine Einrichtung zur Herabsetzung der Transpiration aufgefaßt wer- den muß, finden wir, wie wohl dem Leser bekannt sein dürfte, vorwie- gend bei den Bewohnern dürrer Standorte ausgebildet. In den Tropen sind neben den Strandpflanzen besonders viele Bewohner der Steppen und Wüsten sowie die Epiphyten, welche auf trockenen Baumrinden leben, durch fleischige Blatt- oder Stengelorgane ausgezeichnet. Von unseren europäischen Strandsukkulenten treffen wir einzelne Vertreter, wie die Portulaca-Arten, auch am Strande von Roseau an; die Mehrzahl der uns begegnenden Gewächse sind hingegen ausschließlich Exoten. Wir bemerken ausgedehnte Gebüsche rot- und gelbblütiger ÖOpuntien, denen sich einige Meilen nördlich von Roseau auch eine Melocactus-Art zugesellt, ferner die als kriechende Pflanzen schon ge- nannten Ampelideen, Portulacaceen*, Convolvulaceen, Commelyneen, auch Phytolaccaceen und Amaranthaceen, vor allem aber in Menge eine ı Cucumis Anguria. 2 Wedelia carnosa. ® Portulaca oleracea, pilosa, u. a. * Außer Portulaca auch die aufrechten, zierlichen Talinum-Arten. 116 Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. II. höchst interessante Crassulacee, das den Botanikern wohlbekannte Bryo- phyllum calycinum. Betreffs der sehr interessanten biologischen Eigen- tümlichkeiten dieser letzteren Pflanze mögen hier einige ausführlichere, auf neue Beobachtungen des Verfassers sich stützende Bemerkungen Platz finden. Wie Gärtnern und Botanikern schon seit längerer Zeit bekannt ist, haben die Laubblätter von Bryophyllum calycinum die auch anderwärts vorkommende, aber hier besonders ausgeprägte Fähigkeit, wenn sie vom Stamme abgelöst und auf feuchte Erde gelegt werden, aus den Kerben des Blattrandes durch Adventivknospenbildung junge Pflänzchen zu ent- wickeln und dadurch die Art auf vegetative Weise fortzupflanzen. Der Vorgang der Entwickelung der jungen Pflänzchen ist bereits des öfteren auf das eingehendste vom morphologisch-anatomischen Standpunkt aus studiert worden !, aber anscheinend ohne daß jemals die biologische Be- deutung der ganzen Erscheinung mit Rücksicht auf die in der Natur vorkommende Pflanze richtig gewürdigt worden wäre. Es scheint nämlich allen bisherigen Untersuchungen über den Gegenstand die Anschauung zu Grunde zu liegen, als handle es sich bei dieser vegetativen Ver- mehrung nur um eine künstlich durch Abtrennung der Blätter hervor- zurufende und in der Natur lediglich accidentell vorkommende Er- scheinung. Diese Anschauung beruht indessen auf einem Irrtum. Es findet normaler Weise eine ausgiebige vegetative Ver- mehrung von Bryophyllum in der Natur statt und die Pflanze ist durch eine besondere biologische Einrichtung zu dieser Vermehrungs- weise befähigt. Bryophyllum calyeinum bildet nämlich im Laufe der Entwickelung zweierlei Laubblätter, in der Jugend solche mit ungeteilter Spreite, die in Form denjenigen unserer gemeinen Fetthenne gleichen, und später gefiederte Blätter, welche entweder unvermittelt oder mit Übergangs- formen von gelappten oder eingeschnittenen, auf die ungeteilten Blätter folgen. Von diesen beiden Blattarten sind nun zwar sowohl die einen wie die andern dazu befähigt, wenn sie abgelöst werden, aus den Kerben des Blattrandes neue Pflanzen zu entwickeln, aber nur die Fiedern der geteilten Blätter üben unter normalen und gewöhnlichen Verhältnissen diese Funktion thatsächlich aus, indem sie sich von der Mutterpflanze unter der Einwirkung äußerer Anstöße (wie Regen und Wind) an der Ansatzstelle der Spreite am Blattstiel ablösen und in der Umgebung ver- breitet werden. Einen wunderbaren und überraschenden Anblick gewährt es, wenn man den Stamm einer größeren, reich belaubten Pflanze mit der Hand gelinde schüttelt. Es prasseln dann sämtliche entwickelten Blattfiedern der Pflanze wie reife Früchte zu Boden, während die ungeteilten Blätter am Stamm sitzen bleiben und sich auch durch heftige Erschütterungen nicht zum Abfallen bewegen lassen. Untersucht man nach einigen Tagen die umhergestreuten Blätter, so findet man jedes derselben auf seiner ! Eine besonders ausführliche Darstellung lieferte H. Berge, Beiträge zur Entwickelungsgeschichte von Bryophyllum calycinum. Zürich 1877. Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. II. 117 oberen Fläche mit einem Kranz aus den Kerben des Randes hervor- gesproßter Pflänzchen, auf der Unterseite hingegen mit den Büscheln der zugehörigen jungen Wurzeln besetzt. Die Pflänzchen leben zunächst von den im Mutterblatt vorhandenen Nahrungsstoffen, sind aber bald, nach- dem ihre Wurzeln sich in den Boden gesenkt und ihre ersten Blätter sich entwickelt haben, zu selbständiger Ernährung befähigt. Die Ab- trennung der Blattfiedern erfolgt, wie gesagt, schon durch leise Anstöße; nach jedem einigermaßen beträchtlichen Wind oder Regen begegnet man daher in der ganzen Umgebung nur Pflanzen, welche die Mehrzahl ihrer gefiederten Blätter eingebüßbt haben. Binnen kurzem entfaltet jedoch der entblätterte Gipfel neues Laub, welches ebenfalls gefiedert bei der nächsten Gelegenheit wiederum der Vermehrung zu dienen hat. Daß die Pflanze am Grunde des Stengels auch noch ungeteilte, nicht ab- fallende Laubblätter besitzt, ist natürlich für sie von der größten Wichtig- keit, da sie hierdurch vor dem gänzlichen Verlust ihres Assimilations- apparates bewahrt ist!. Dieser Fall einer Verbreitung und Vermehrung durch abfallende, hierzu besonders differenzierte Laubblätter steht im Pflanzenreiche viel- leicht einzig da. Zwar hat man auch bei einem einheimischen Gewächs, ! An Örtlichkeiten, welche vor der Einwirkung von Wind und Regen ge- schützt sind, wie unter dichten Gebüschen oder am Fuße günstig gelegener Fels- wände, findet man hin und wieder auch Exemplare von Bryophyllum mit zahlreichen sefiederten Blättern, welche unversehrt geblieben sind. Solche Pflanzen zeigen ann zuweilen die auch an Gewächshausexemplaren zu beobachtende Eigentümlich- keit, daß auf den noch an der Mutterpflanze befestigten Blattfiedern sich junge Pflanzen entwickelt haben. Sobald diese Pflänzchen aber mit einer gewissen &röße ein gewisses Gewicht erlangt haben, fällt das Blatt, auf dem sie sitzen, ab, und die Pflänzchen, welche in diesem Falle vorher keine Wurzeln gebildet hatten, bringen solche nunmehr binnen kurzem zur Entwickelung. Eine Bildung von jungen Pflanzen an den noch mit dem Stamm verbundenen Blättern erfolgt übrigens auch dann, wenn eines der unteren, ungeteilten Blätter zufällig mit dem Erdboden in Berührung kommt, was durch Verschiebungen des labilen Sandes am Strande sich zuweilen ereignet. Dreh die geschilderte Art der vegetativen Vermehrung hat die Pflanze einen so bedeutenden Vorteil im Kampf ums Dasein erlangt, daß sich schon hier- aus hinlänglich ihre weite Verbreitung und große Individuenzahl erklärt. Auf den westindischen Inseln, wohin sie aus ihrer Heimat ÖOst-Indien eingeführt sein soll, gehört sie zu den gemeinsten Unkräutern; in Dominica wächst sie nicht allein am Strande, sondern auch an allen Wegen in der Ebene, auf Steinhaufen, alten Mauern und Dächern u. s. w. Sie ist daselbst wegen ihrer Zählebigkeit und Genüg- samkeit allgemein bekannt; man nennt sie Lebenspflanze (life-plant) oder Lebensblatt (leaf of the life) und macht den Fremden auf ihre sonderbaren Fähigkeiten aufmerksam, indem man ihm zeigt, wie sie abgeschnitten und an einem Faden aufgehängt lange Zeit, ohne zu welken, weiter vegetiert, oder wie eine handvoll Blätter, die man in eine Rocktasche steckt, daselbst innerhalb weniger Tage eine ganze Brut junger Pflanzen entwickelt. Aus einer Anzahl von Blättern, welche der Verfasser, um sie nach Europa zu bringen, fünf Wochen lang in einem dunklen Korb ohne Wasser und Boden aufbewahrte, entwickelte sich während dieser Zeit eine große Anzahl junger Pflanzen, welche die Reise ohne Schaden überstanden und, nachdem sie hier in Bonn in ein Gewächshaus verpflanzt wurden, heute zu kräftigen Pflanzen erwachsen sind. Bemerkt sei noch, dab auch das kleinste Fragment des Stammes, wenn es nur eine noch unentwickelte Blattachselknospe aufweist, die Pflanze zu regenerieren im stande ist, indem die Achselknospe ausgetrieben wird und dicht unterhalb derselben ein paar Adventivwurzeln zum Vorschein kommen. 118 Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. II. der Cardamine pratensis, mit Brutknospen besetzte Blätter, welche von der Pflanze durch Zufall (?) abgelöst waren, aufgefunden, nicht aber eine besondere Differenzierung von »Propagationsblättern< und eine normaler Weise sich vollziehende Ablösung solcher Blätter konstatieren können. Hingegen sind andere der vegetativen Verbreitung dienende Ein- richtungen bei den höheren Pflanzen verbreiteter, als man vielleicht an- zunehmen geneigt sein dürfte. Ja dieselbe Strandflora, in deren Betrach- tung wir gegenwärtig begriffen sind, bietet noch mehrere weitere Bei- spiele einer natürlichen Vermehrung mittels sich ablösender Pflanzen- glieder dar. Jedermann kennt die eigentümlichen Sproßformen, welche die Opuntien, Melocacten und andere Gattungen derselben Familie kenn- zeichnen. Die dicken, kugeligen oder flach gedrückten Glieder dieser Gewächse sind bekanntlich rosenkranzförmig mit einander verbunden, so zwar, daß enge Einschnürungen an den Übergangsstellen je zweier der- selben sich befinden. Diese Stellen nun benutzt nicht allein der Gärtner zur Abtrennung einzelner Glieder und somit zur Vervielfältigung der Pflanze, sondern es werden auch in der Natur solche Glieder oder ganze Sproßsysteme durch die Gewalt des Windes oft genug abgebrochen und verbreitet. Die abgelösten Stücke bewurzeln sich aber auch in der Natur außerordentlich leicht und geben binnen kurzem neuen Pflanzen den Ur- sprung. Eine größere Opuntia-Pllanze findet man deshalb fast regelmäßig von kleineren, auf jene Art entstandenen Individuen umgeben, welche nicht selten eine dichte natürliche Hecke oder ein undurchdringliches Gebüsch gebildet haben. Eine Abtrennung einzelner Sprosse von der Pflanze kann man auch bei den kriechenden Commelyneen (Tradescantia- und Commelma-Arten) beobachten. Vielleicht ist dem Leser von der im Zimmer so häufig kultivierten Tradescantia albiflora oder zebrina bekannt, daß die aus den Blumentöpfen herabhängenden Zweige oft bei leiser Berührung abbrechen und daß man solche Sprosse dann durch Einsetzen in Erde sehr leicht zum Weiterwachsen bewegen kann. In gleicher Weise findet man auch am Strande von Roseau oft durch den Wind abgerissene Stücke von Commelyma elegans, welche teils noch locker zwischen den Steinen umherliegen, teils an den Knoten sich bereits bewurzelt haben. Nicht unerwähnt mag ferner bleiben, daß auch eine ostindische, jetzt in West- Indien vielfach kultivierte und verwilderte Labiate, Coleus amboimicus, einen sehr zerbrechlichen Stamm besitzt, dessen Fragmente die Pflanze zu regenerieren vermögen. Zur Vervollständigung unseres Bildes von der Vegetation des Strandes bedarf es endlich noch einer Erwähnung der daselbst vor- kommenden Bäume und Sträucher. Neben der kultivierten Kokos- Palme, welche man an einer bewohnten tropischen Küste niemals ver- missen wird, bemerken wir vor allem einen Baum von eigentümlich knor- rigem und zugleich buschigem Wuchs, mit großen, außerordentlich dicken und harten Blättern, den wir an andern Standorten nirgends finden würden; es ist der auf den Antillen allbekannte und wegen seiner eß- baren Beerenfrüchte geschätzte Weintraubenbaum (Üoccoloba uvifera ; Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. II. 119 engl. shore-grape, franz. resinier du bord de la mer). Ein besonderes Interesse hat dieser Baum für uns einmal wegen seiner systematischen Zugehörigkeit zu unseren Knöterich-Arten (Familie der Polygoneen), von denen er habituell so außerordentlich verschieden ist, anderseits wegen einer biologischen Eigentümlichkeit. Er führt nämlich in gewissem Grade eine kriechende Lebensweise und zeigt hierin eine interessante Analogie zu den krautigen Bewohnern des Strandes. Freilich betrifft das Kriechen nur die unteren Äste des Baumes, während die oberen sich frei über der Erde ausbreiten. Jene aber beugen sich — vorausgesetzt, dab der Baum isoliert steht — schlangenähnlich zur Erde nieder und laufen, ohne zu wurzeln, eine Strecke weit über den steinigen Strand hinweg; sie verhelfen sich auf diese Weise zu einem ausgiebigeren Genuß von Luft und Licht, als ihnen in dem dichten Schatten des oberen Geästs zu teil werden könnte. Von den oberen Zweigen des Baumes sehen wir unscheinbare weißliche Blütenähren herabhängen, aus denen sich später die dunkelblauen »Weintrauben des Meeresstrandes« entwickeln werden. Einige Meilen nördlich von Roseau finden wir ferner am Strande kleine Bestände des jetzt immer seltener werdenden Giftbaumes (Hippomane Mancinella, Familie der Euphorbiaceen), von dem die Sage geht, daß ein Schlaf unter seinen Zweigen den Tod bringen könne. Be- glaubigt ist indessen nur die Thatsache, daß der Milchsaft des Baumes ein scharfes, kaustisches Gift enthält, welches auch nur äußerlich auf die Haut gebracht schmerzhafte Wunden hervorrufen kann. Interessante Angaben über die Eigenschaften des »Manschinellenbaumes« verdanken wir dem Botaniker Jacauın, der in der Mitte des vorigen Jahrhunderts die Antillen bereiste und noch ausgedehnte Mancinellawälder gesehen hat. Von den Früchten berichtet dieser Forscher, daß sie von keinem Tier angerührt wurden, obwohl sie in solcher Menge von dem Baume herab- fielen, daß sie den Boden des Strandes dicht bedeckten, und obwohl eine unglaubliche Menge von Krebsen im Schatten der Mancinellawälder lebte. Ein kleiner Tropfen des in allen Teilen des Baumes sehr reich- lich vorhandenen Milchsaftes erzeuge auf die Haut gebracht in kurzer Zeit eine mit Flüssigkeit erfüllte Blase und rufe auf den Schleimhäuten gefährliche Zerstörungen der Gewebe hervor. Daß indessen ein bloßes Verweilen im Schatten des Baumes Schaden bringe, bestreitet JAcquın, da er mit seinen Gefährten zur Probe drei Stunden lang ohne schlimme Nachwirkung unter einem Baume zugebracht habe; auch der Regen, welcher aus den Zweigen des Baumes herabträufelte, habe keine schäd- liche Wirkung auf die Haut ausgeübt. Der Stamm der Mancinella wurde zu Jacquıv’s Zeiten noch zur Herstellung feiner Holzarbeiten be- nutzt. Um das Holz ohne Gefahr gewinnen zu können, zerstörte man den Baum teilweise durch Feuer, wobei der größte Teil des Milchsaftes hervorquoll, und fällte dann den Stamm mit großer Vorsicht und indem man das Gesicht durch einen dichten Schleier schützte. Ein anderes, dem Strande eigentümliches Holzgewächs, dem wir eine kurze Betrachtung schuldig sind, ist Capparis cynophallophora, ein kleiner Baum oder Strauch, der alsbald durch seine fremdartig aussehen- den Blüten unsere Aufmerksamkeit gefesselt hat. Der augenfälligste Teil 120 Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. II. dieser Blüten sind die zahlreichen und erstaunlich langen, creme-farbenen Staubfäden, welche, wenn sie aus der Knospe treten, zuerst schweif- ähnlich nach unten hängen, sich aber bald aufrichten ‘und dann einen steifen, schirmähnlichen Komplex elastischer Fäden darstellen. Einen interessanten Anblick gewährt die Beobachtung der Insekten, welche jene Blüten besuchen und dabei ihre Bestäubung vermitteln. Durch den Wohlgeruch der Blüten und den weithin sichtbaren, aus den Staubgefäßen. gebildeten Schauapparat angelockt, versucht die herbeifliegende Wespe von oben her zwischen den Staubfäden nach dem Grunde der Blüte, woselbst die Nektarien sich befinden, zu gelangen, stößt aber dabei mit den Flügeln an die langen elastischen Stamina und versetzt dieselben in Schwingungen, welche sich bei jedem neuen Anstoß verstärken und immer wiederholte Berührungen des Insektenkörpers mit den Fäden zur Folge haben. Hierdurch nun gerät das Insekt in immer steigende Auf- regung, in welcher es mit wildem Gesumm und Flügelschlagen zwischen den vibrierenden Fäden herumfliegt, bis es schließlich ermattet in den Grund der Blüte hinabsinkt oder an einem Staubgefäß, an dem es sich festgeklammert hat, hinabkriecht Beim Herausfliegen aus der Blüte wiederholt sich dann dasselbe Manöver wilden Summens und Flügelschlagens und der Effekt dieses Gebahrens ist, wie man gleich sehen wird, die Befruchtung der Blüte mit fremdem Pollen. Die Blüten der Capparideen sind nämlich, wie wir durch Deurıno! wissen, proterandrisch. Unser In- sekt hat nun entweder — falls nämlich die besuchte Blüte sich im Stadium der Anthese befand — zwar sowohl seinen Körper, als auch die Narbe mit Pollen reichlich überstreut, die letztere hingegen ohne befruchtenden Erfolg, da dieselbe noch nicht empfängnisfähig war, oder aber — falls nämlich die Antheren ihren Pollen bereits verstäubt hatten — es hatte die nunmehr empfängnisfähige Narbe mit dem aus einer anderen, früher besuchten Blüte mitgebrachten Pollen bestäubt. Wir können von der Flora des Meeresstrandes nicht Abschied nehmen, ohne noch kurz desjenigen Baumes gedacht zu haben, dessen leuchtende, scharlachrote Blütentrauben wir zuerst von allen Gegen- ständen am Strande erblickten, als wir mit dem Schiffe von Süden kommend der Küste dieses Landes uns näherten. Es ist der »Korallen- baum« (Erythrina Corallodendron), ein Schmetterlingsblütler, welcher wie die meisten seiner baumartigen oder strauchigen Familienverwandten in dieser Jahreszeit ohne Belaubung dasteht, dafür aber mit zahlreichen prächtigen Blüten bedeckt ist. Die Erscheinung eines totalen Verlustes der Belaubung bei tropischen Bäumen gibt uns Veranlassung zu der Frage nach den biologischen Ursachen dieses Phänomens. Wir werden kaum fehlgehen, wenn wir zwei verschiedene Gesichtspunkte geltend machen, indem wir einerseits die vegetativen und anderseits die fruktifikativen Bedürfnisse in Betracht. ziehen. Zunächst konstatieren wir durch den Vergleich verschiedener Vegetationsgebiete und ihrer Floren, daß in den Tropen ausschließlich ! Siehe Hildebrandt: „F. Delpino’s Beobachtungen über die Bestäub- ungsvorrichtungen u. s. w.“ Botanische Zeitung 1867, p. 283. Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. 11. 491 Bewohner solcher Standorte, welche dem schroffen Wechsel einer trockenen und nassen Jahreszeit ausgesetzt sind, einen typisch entwickelten Laub- fall aufweisen, und dab die meisten dieser Gewächse, wie besonders die Leguminosen, durch besonders zarte und dünne Laubblätter sich auszeichnen. Wir können hieraus mit großer Wahrscheinlichkeit schließen, daß das Abwerfen der Laubblätter als der Transpirationsorgane ein Schutzmittel gegen die schädlichen Wirkungen einer zu starken. Ver- dunstung während der wasserarmen Periode darstellt. Was übrigens bei vielen Leguminosen, denen sich auch die berühmten Teakbäume der ost- indischen Wälder anschließen, durch den Abfall der gesamten Belaubung erzielt wird, wird bei manchen anderen Gewächsen auch durch teilweisen Laubfall, also durch bloße Verminderung der transpirierenden Flächen angestrebt. Unter den Leguminosen selbst können wir als Beispiele hierfür die strandbewohnenden Acacia-Arten sowie zahlreiche Cäsalpiniaceen, aus anderen Familien manche Kulturbäume, wie den Brotbaum (Artocarpus inceisa) und Kalebassenbaum (Crescentia Cujete), vor allem aber den oben betrachteten Manschinellenbaum, von dem schon Jacauıx " beobachtete, daß er, »quando floret, interdum foliis fere caret,« namhaft machen. Eine zweite nicht zu unterschätzende Bedeutung, welche die Auf- gabe der Belaubung während der trockenen Jahreszeit für die Biologie des Baumes nach sich zieht, liegt nun ferner in der dadurch ermöglichten Herstellung eines weithin sichtbaren Schau-Apparates. Die zahlreichen Blüten, welche der Baum während der laublosen oder laubarmen Periode entwickelt, liegen ohne Verhüllung frei zu Tage ; der ganze Baum stellt dann, biologisch genommen, eine einzige große Infloreszenz, einen mäch- tigen Blumenstrauß dar, der von weitester Entfernung Bestäubung ver- mittelnde Insekten und Kolibris herbeilockt. Übrigens treffen wir eine analoge Erscheinung auch bei mehreren Vertretern unserer nördlichen Floren an; unsere Obstbäume sowie die Salix- und einige (Cornus-Arten blühen bekanntlich zu einer Zeit, wo ihre Belaubung noch wenig ent- wickelt ist, und bilden dadurch sehr wirksame und weithin sichtbare Schau-Apparate. Da der Tag zur Neige geht und wir nunmehr die interessantesten Formen der Strandflora zur Genüge kennen gelernt haben, so begeben wir uns auf den Heimweg, um für die am nächsten Tage zu unter- nehmende Exkursion nach dem Innern der Insel auszuruhen. Wir kehren von Norden her in die Stadt zurück, passieren dabei eine schöne Tama- rinden-Allee, eine am Strande sich hinziehende Reihe primitiver Holz- häuser, welche in Kokospalmen und Kokkoloben versteckt und mit Ge- büschen der prachtvollen, orangerot blühenden Caesalpinia pulcherrima geschmückt sind, wandern sodann durch ein Zuckerrohrfeld, überschreiten eine Brücke über den Roseaufluß und treten endlich in die grasbewachsenen Straßen der Stadt ein. Haben wir unseren Spaziergang bis gegen Sonnenuntergang aus- gedehnt, so überrascht uns auf dem kurzen Heimwege nach der Stadt 1] c. p. 282. 122 Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. 11. die Nacht, welche in diesen Breiten nach einer kaum halbstündigen Dämmerung dem Tage folgt. Kaum ist die Sonne im Westen unter den Horizont versunken und hat einige Minuten lang, den ruhigen Spiegel der See und die Kronen der Kokospalmen vergoldet, so tritt auch schon der Mond in seine Rechte und streut sein silbernes Licht durch das zart- gefiederte Laub der Tamarinden, unter denen wir wandern. Mit jeder Minute werden die Kronen dieser Bäume durchsichtiger und durchbrochener; denn die Blätter führen ihre Schlafbewegungen aus und lassen ihre Fiedern am Blattstiel herabsinken. Die Bäume und Sträucher, welche die Hütten unten am Strande umgeben, erscheinen uns in dieser Beleuchtung noch exotischer und pittoresker als vorher; überhaupt ist die Physiognomie der gesamten Landschaft jetzt ungleich malerischer als bei Tage, wo ein grelles, von allen Flächen zurückprallendes Licht uns blendete und eine heiße, zitternde Atmosphäre alle Gegenstände in unbestimmten Umrissen erscheinen ließ. Ist das Zwielicht verschwunden und die Luft durch den Passat- wind abgekühlt, so beginnt die Tierwelt alsbald durch ein vielstimmiges Konzert sich bemerkbar zu machen. Es sind aber hier ganz andere Stimmen als diejenigen, welche wir aus den Mangrove - Sümpfen am Guarapiche hervortönen hörten !- wir vernehmen hier weder das krächzende Geschrei der Wasservögel, noch das Knistern und Knallen der Austern, weder die langgezogenen Töne der Brüllaffen, noch das Geheul des Jaguars, sondern die pfeifenden, klingelnden und quakenden Stimmen unzähliger Laubfrösche und das einförmige Gezirp der Cikaden und Grillen. In den bei Tage so einsamen Straßen der Stadt begegnen wir jetzt zahlreichen Eingebornen, welche die Kühle der Nacht aus ihren Häusern hervorgelockt hat und welche nun mit ihren gesprächigen und keineswegs spröden »Schönen« plaudernd und lachelnd lustwandeln. Aus einigen Häusern ertönen die Klänge eines Tamburins in einer einförmigen Melodie, welche das einzige Erzeugnis der westindischen und venezola- nischen Musik zu sein scheint. Hier und da vor einer Thür sehen wir einen Kreis junger Leute um ein Paar versammelt, welches eine Art Menuett zum besten gibt; die beiden jungen Leute reichen sich die Hände und tanzen barfuß und ohne ihren Platz zu verändern mit schnellen hüpfenden Bewegungen, begleitet von der stereotypen Tamburinmusik und selbst ein kreolisches Lied singend, auf und nieder. Wir stören sie nicht durch Eindrängung unseres weiben Gesichtes in ihre schwarze Gesellschaft, sondern begeben uns in das Boarding-House der Mme. Ogilvy und suchen daselbst unter einem Moskitonetz die ersehnte Ruhe, welche wir auch nach einigen Stunden mannigfachen tropischen Ungemaches wirklich finden. Unseren Aufbruch am nächsten Tage bewerkstelligen wir, falls unsere alte schwarze Haushälterin uns den eingebornen Kaffee rechtzeitig bereitet hat, schon kurz nach Sonnenaufgang, um in der relativ kühlen ! Siehe den Aufsatz I, Die Mangrove-Sümpfe, in Heft 6 des vorigen Bandes dieser Zeitschrift. Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. Il. 193 Morgenluft den schattenlosen Weg durch die Stadt und durch die tiefer gelegenen Teile des Roseau-Thales absolvieren zu können. Unser nächstes Ziel ist das Negerdörfchen Laudat (7 englische Meilen von Roseau ent- fernt in den Bergen gelegen), woselbst wir die erste Nacht zu bleiben gedenken. Wir könnten uns dahin zu Pferde begeben — dies ist die einzige im Lande übliche Art zu reisen — ziehen aber, um unterwegs mit Muße unsere biologischen Beobachtungen fortsetzen zu können, das Wandern zu Fuße vor. Ein kräftiger Neger, welcher unser Gepäck, be- stehend in Lebensmitteln für mehrere Tage, Hängematten oder wollenen Decken, Äxten für das Passieren von Urwalddickichten, Spiritusflaschen, Botanisierbüchsen — die GrisezacH’sche Flora nicht zu vergessen — in einem Bambuskorbe auf dem Kopfe trägt, begleitet uns; wir selbst sind mit Sonnenschirm, einer Flinte und, wenn möglich, mit einem guten Opernglase versehen, mit welch’ letzterem wir die für unsere Hände unerreichbaren Specimina in den Baumkronen »botanisierens wollen. Während wir die Straßen der Stadt durchschreiten, fesseln vor allem die Kulturbäume in der nächsten Umgebung der Häuser unsere Aufmerksamkeit. Kokospalmen, Bananen, Brotbäume und Mangos, die typischen Gestalten unserer Vorstellungen über tropische Vegetation, erblicken wir hier in größter Formvollendung und Üppigkeit. Der Kokos- palme macht die hier und da in einem Garten oder auf einem öffent- lichen Platze angepflanzte Areka- oder Kohlpalme (Oreodoxa oleracea) an Höhe und Schönheit des Wuchses den Rang steitig. Während jene aber durch die heitere Anmut und Gefälligkeit ihrer einem riesigen Federfächel vergleichbaren Laubkrone unsere Bewunderung erregt, imponiert uns diese durch die Majestät und architektonische Ebenmäßigkeit ihres Wuchses und die gewaltige Höhe ihres säulengleichen Stammes. Wäre das alte Hellas das Vaterland dieser beiden Bäume gewesen, man würde heute versucht sein, in der Anmut der ionischen Säule den Wuchs der Kokospalme, in der Würde der dorischen denjenigen der Arekapalme wiederzuerkennen. Eine weit geringere Bewunderung als diese Fürstinnen unter den Palmen nötigen uns die Bananenbäume (Musa paradisiaca und sapien- tum) ab, von deren Schönheit der Europäer gewöhnlich überspannte Vor- stellungen zu hegen pflegt. Zu wahrhaft schöner Entwickelung gelangen die Bananen nur selten und vielleicht in unseren Gewächshäusern häufiger als im Vaterlande. Hier werden die riesigen, ungeteilten Blattspreiten fast regelmäßig durch äußere Gewalten, wie Wind und Regen, frühzeitig zerrissen und entstellt und gewähren dann einen recht unschönen Anblick, welcher weder zu dem poetischen Namen, mit dem der Botaniker die Pflanze belegt, noch zu dem Platze im Paradiese, den ihr die Sage an- weist, passen will. Unser gerechtes Erstaunen erregt hingegen der riesige, hängende Blütenkolben der Pflanze und der ungeheure traubenförmige Komplex von Früchten, der sich daraus entwickelt. Der Brotbaum (Artocarpus incisa) hat eine sehr exotische Physio- gnomie, aber durch Schönheit überrascht auch er uns nicht, zumal er in dieser Jahreszeit nur spärliche, an den Enden seiner locker verzweigten Äste zerstreute Blätter aufweist. Interessant ist uns die große, morpho- logisch einer Ananas vergleichbare Sammelfrucht des Baumes, aber interessant 124 Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. II. nur vom botanischen und kulturgeschichtlichen Standpunkt aus — unser europäischer Gaumen verzichtet nach einmaliger Probe gern auf den Genuß dieser tropischen »Delikatesse«. Dasselbe gilt übrigens auch von der vielgerühmten Milch der Kokosnuß, während wir einer guten Bananen- feige! unsere Achtung keineswegs versagen wollen. Eine sehr eigenartige und für die tropische Kulturlandschaft charakte- ristische Gestalt ist auch der Mango-Baum (Mangifera indica), dessen dunkles und auffallend dicht gereihtes Laub mit dem lichten Grün der Bananengebüsche und den luftigen Kronen der Kokospalmen wundervoll kontrastier. Wie der Brotbaum und vielleicht auch die Banane hat der Mango-Baum seine ursprüngliche Heimat in den Tropen der östlichen Hemisphäre, von wo er erst durch den Menschen nach der neuen Welt verpflanzt worden ist. Jetzt gehört er allenthalben im tropischen Amerika zu den gewöhnlichsten Kulturgewächsen und wird daselbst wegen seiner nahrhaften und wohlschmeckenden Früchte von Eingebornen und Fremden sehr geschätzt. Noch mannigfache andere Kulturbäume haben wir auf dem Wege durch die Straben zu beobachten Gelegenheit. Hier steht vor einem Hause, mitten zwischen den Pflastersteinen hervorgewachsen, eines jener sonderbaren Clavija-Gewächse (Carica Papaya), von denen man nicht weiß, ob man sie als Kräuter oder Bäume bezeichnen soll. Auf einem 10 Fuß und darüber hohen Stamm sitzt eine stattliche Rosette mächtiger, in ihrer Gestalt an die der Röicinus-Staude erinnernder Blätter, zwischen denen eine große ellipsoidische Frucht herabhängt. Die letztere enthält, wie die meisten Teile der Pflanze, einen sehr reichlichen Milch- saft, welcher stark pepsinhaltig ist und die schätzenswerte Eigenschaft. besitzt, mit Fleisch zusammen gekocht, dasselbe zart und mürbe zu machen. Einen viel ausgedehnteren Nutzen als die Papaya gewährt den Eingebornen der merkwürdige Kalebassenbaum (Crescentia Qujete), den wir in einzelnen angepflanzten oder verwilderten Exemplaren in der Umgebung der Hütten gewahren. Im Habitus erinnert dieser Baum mit seinen wagerecht abstehenden, ihrer ganzen Länge nach mit Blattbüscheln besetzten Ästen einigermaßen an die Araucarien, mit denen er freilich nicht die entferntesten Verwandtschaftsbeziehungen aufweist. Besonders. merkwürdig sind auch an ihm seine über kopfgroßen Früchte, welche zum kleineren Teil an den dünnen, elastischen Zweigen, zum größeren Teil hingegen an den älteren Ästen und selbst dem dicken Hauptstamm herabhängen und in diesem Falle von Blüten abstammen, welche aus »schlafenden<, im alten Holz verborgenen Augen hervorgesproßt sind. Diese Erscheinung einer scheinbar adventiven Entstehung von Blüten und Früchten ist übrigens bei tropischen Bäumen ziemlich weit verbreitet; in typischer Weise finden wir sie auch bei dem Kakaobaum ( Theobroma Cacao), dessen älteres Gezweig nebst dem Hauptstamm von zahlreichen violetten Blütenbüscheln und großen, gurkenähnlichen Früchten bekränzt ! Von der obstliefernden Banane (Musa sapientum) gibt es fast ebenso viel Varitäten wie von unsern Äpfeln und Birnen. Das gleiche gilt auch von den Früchten des Mango-Baumes. Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. II. 125 ist. Die biologische Bedeutung dieser auffallenden Einrichtung dürfte wohl in erster Linie auf die mechanische Aufgabe des Tragens der schweren Früchte zurückzuführen Sein; anderseits ist nicht zu ver- kennen, daß auch die Blüten von jener Anordnung Nutzen ziehen, indem sie den verhüllenden Blattbüscheln entrückt freier zu Tage liegen und so den bestäubungsvermittelnden Insekten leichter in die Augen fallen !. Was nun die Nutzbarkeit der Kalebassenfrüchte anbetrifft, so ist die- selbe eine so mannigfaltige wie bei kaum einer andern tropischen Frucht, vielleicht mit Ausnahme der Kokosnuß. Aus der weichen, breiartigen Pulpa des Fruchtinneren wird von den Eingebornen eine Art Gemüse bereitet, aus der holzigen Schale aber eine Fülle von Gerätschaften und Gefäßen hergestellt, wie Waschschüsseln, Koch-, Trink- und Schöpf- gefäße, Flaschen, Teller u. dergl. Eine andere Anwendung verdankt der Kalebassenbaum den Eigenschaften seiner Borke. Dieselbe zeichnet sich nämlich durch außergewöhnlich weiche und rissige Beschaffenheit aus und ist deshalb in hervorragendem Grade geeignet, als Substrat für Kulturen epiphytischer Gewächse zu dienen. Die westindischen Orchideen- züchter kultivieren in ihren Gärten die atmosphärischen Orchideen und Bromeliaceen mit Vorliebe an aufgehängten Kalebassenzweigen. Auch die in der Natur vorkommenden Kalebassenbäume sind übrigens in der Regel mit einer Fülle der verschiedenartigsten Epiphyten bewachsen ?. Nach einer Viertelstunde mühseligen Wanderns auf dem primitiven Pflaster treten wir aus den Straßen ins Freie. Wir kreuzen dabei eine um die Stadt sich hinziehende Allee westindischer Mandelbäume ( Termi- nalia Catappa) und verfolgen sodann einen sonnigen Weg, welcher zwischen Zuckerrohrpflanzungen bis zu einer Brücke über den Roseau-Fluß hin- führt. Trotz der frühen Morgenstunde fangen die Sonnenstrahlen bereits an, uns lästig zu werden, und wir würden unstreitig danach trachten, diesen gänzlich schattenlosen Teil unseres Weges so schnell wie möglich zurückzulegen, hätten wir nicht eine besondere Veranlassung, den Un- kräutern rechts und links am Wege unsere Aufmerksamkeit zu widmen. Sämtliche Pflanzen, denen wir hier begegnen, sind nämlich an sonnige Standorte angepaßt und demgemäß mit biologischen Einrichtungen versehen, welche geeignet sind, den schädlichen Wirkungen einer allzu intensiven Besonnung vorzubeugen. Es wird nicht unange- bracht sein, über diese erst in neuerer Zeit hinreichend beachteten An- passungserscheinungen hier einige Bemerkungen einzuflechten, welche unseren obigen Betrachtungen über die ebenfalls zu den Sonnenpflanzen zählenden Strandgewächse zur Ergänzung dienen können. Daß eine Sonnenpflanze, wenn sie gedeihen soll, mit besonderen ! Auch bei Schlaegelia-Arten (wie der Kalebassenbaum zur Familie der Big- noniaceen gehörig), ferner bei Averrhoa Bilimbi (einer baumartigen Oxalidee), Brownea rosea und speciosa (Caesalpiniaceen), Clidemia latifolia und guadelupensis (Melastomateen) beobachtete ich die gleiche Entstehungsweise der Blüten wie bei der Kalebasse und dem Kakao. ’ ® Siehe hierüber auch A. F. W. Schimper, Über Bau und Lebensweise der Epiphyten Westindiens. Sep.-Abdr. aus dem Botan. Centralblatt 1884, p. 41. 126 Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. II. Schutzeinrichtungen gegen die Wirkungen des intensiven Sonnenlichtes ausgerüstet sein muß, wird dem Leser am ehesten verständlich sein, wenn er zunächst die Bedürfnisse der Transpiration ins Auge faßt. Da ein extrem sonniger Standort sich im allgemeinen zugleich durch Trocken- heit des Bodens auszeichnet, werden die daselbst vorkommenden Pflanzen vor allem mit Schwierigkeiten in der Befriedigung ihres Wasserbedürf- nisses zu kämpfen haben. Sie werden diese Schwierigkeiten nun auf zweierlei Weise zu überwinden im stande sein, einmal durch Verminder- ung ihrer Transpirationsgröße, das andere Mal durch Vervollkommnung ihres Wasserversorgungsapparates. Eine weit verbreitete Einrichtung der ersten Art, welche die Bewohner sonniger Standorte besitzen, besteht beispielsweise in der Verkleinerung der transpirierenden Oberfläche. Zur Erreichung dieses Zweckes werden entweder die Blattspreiten unter gleich- zeitiger Ausbildung der Stengelteile zu Assimilationsorganen unterdrückt — es entstehen dann die sukkulenten Kaulome, wie wir sie in auffälligster Weise bei den Kakteen antreffen — oder aber es wird die Belaubung nur zeitweise, nämlich für die Dauer der trockenen Vegetationsperiode aufgegeben — wir erinnern an den schon oben besprochenen Laubfall mancher Bäume, insonderheit der Leguminosen — oder aber es erleidet die Gestalt und gleichzeitig die Struktur der Blätter zum Zwecke der Verminderung der Verdunstungsgröße bestimmte Modifikationen. Für alle diese Erscheinungen lassen sich nun unter den Gewächsen an unserem Wege Beispiele finden. Die Sukkulenz der Stengelorgane wird uns durch einige Opuntia-Arten, der periodische Laubfall durch mehrere Leguminosen- Sträucher (Acacia- und (aesalpinia-Arten), die Veränderung der Blatt- gestalt und Blattstruktur fast durch sämtliche übrigen Gewächse vor Augen geführt. Die letzteren Erscheinungen, welche einerseits auf Verkleinerung der Flächenausdehnung der Blätter bei gleichzeitiger Zunahme des Dicken- durchmessers, anderseits auf Verminderung der luftführenden Intercel- lularräume im Blattgewebe beruhen, bieten dadurch noch ein besonderes Interesse dar, daß sie nicht allein als spezifische, durch Vererbung fixierte Eigentümlichkeiten der Pflanzenart, sondern auch als individuelle Anpassungen einzelner Pflanzen oder einzelner Organe auftreten. Die Größenentwickelung der Spreite und die Gestalt der assimilierenden Zellen stehen in deutlicher Proportion zu der Beleuchtungsintensität und wechseln in auffälligster Weise nach den individuellen Standortsbedingungen. Ver- gleichen wir z. B. zwei Exemplare des hier allenthalben vegetierenden Bryophyllum calycinum, von denen das eine im direkten Sonnenlichte, das andere im Schatten eines Akazienstrauches erwachsen ist, so finden wir an dem ersteren verhältnismäßig kleine, aber sehr dicke Laubblätter, deren Gewebe sich bei mikroskopischer Betrachtung als sehr dicht gefügt und aus palissadenförmigen Zellen bestehend erweist, an dem anderen Exemplar hingegen ungleich dünnere und lockerer gebaute Blätter, deren Flächenausdehnung diejenige der Sonnenblätter um das Mehrfache übertrifft. Eine andere Einrichtung zur Herabsetzung der Verdunstungsgröße finden wir bei vielen Sonnenpflanzen dadurch getroffen, daß die Blätter nicht wie gewöhnlich senkrecht, sondern schief gegen die Richtung der ein- Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela I. 197 fallenden Sonnenstrahlen gestellt sind, wodurch natürlich die Menge der wirksamen Wärmestrahlen vermindert wird. Diese Profilstellungen be- stehen entweder in einer habituellen, der Pflanzenart eigentümlichen »fixen« Blattlage gegen den Horizont und können dann durch sehr verschiedene morphologische Mittel zu stande kommen, oder sie werden durch Beug- ungen und Faltungen der Spreiten erzielt, oder endlich sie beruhen auf periodischen von der Beleuchtungsintensität abhängigen Bewegungen der Blätter, die dazu mit besonderen Bewegungsorganen ausgerüstet sind. Fixe Profilstellungen der Blätter zeigen besonders manche Bäume, wie der oben geschilderte Weintraubenbaum, den wir am Strande beobachteten, und die Sapoteen, von denen uns an unserem Wege hin und wieder eine als Obstbaum kultivierte Art! begegnet. Was die Faltungen der Spreite an sonnigen Standorten anbetrifft, so ist diese Erscheinung wiederum plastischer und variabler als die erb- liche Profilstellung der Blätter; sie gehört mit andern Worten zu den individuellen Anpassungen. Als prägnantes Beispiel kann uns wiederum Bryophyllum calycinum dienen, dessen Sonnenblätter um den Mittelnerven nach oben gefaltet sind, so daß si eine keil- oder muldenförmige Gestalt erhalten, dessen Schattenblätter hingegen in horizontaler Richtung flach ausgebreitet sind. In etwas modifizierter Weise tritt uns diese selbe Er- scheinung bei einem kleinen Strauch aus der Familie der Myrtaceen (Psidium Guava) entgegen, den wir in zahlreichen Exemplaren auf beiden Seiten des Weges bemerken. Hier sind nicht die beiden Hälften der Lamina schräg gegen einander und gegen die Sonnenstrahlen gestellt, sondern die von je zwei Seitennerven eingeschlossenen Streifen der Blatt- substanz sind nach oben konvex hervorgewölbt, so daß das ganze Blatt in Falten gelegt erscheint. In noch kleinerem Maßstabe aber finden wir die Fältelung der Blattsubstanz bei zwei ungemein häufigen Unkräutern (Heliotropium indieum und Stachytarpha cayennensis) durchgeführt, deren Blätter eine vollkommen gekräuselte, runzelige Beschaffenheit besitzen. Eine größere Vollkommenheit und Zweckdienlichkeit als den ge- schilderten »fixen« Profilstellungen kommt nur denjenigen Anpassungen zu, welche nicht allein den örtlichen, sondern auch den zeitlichen Ver- schiedenheiten der Beleuchtung Rechnung tragen. Es sind dies die bereits erwähnten Variationsbewegungen der Blattfiedern bei den Leguminosen. Diese Organe stellen sich, wie bekannt, bei mäßiger Beleuchtung senk- recht, bei starker Insolation hingegen schief oder parallel zum einfallen- den Lichte und verschaffen sich so beständig eine dem Optimum möglichst nahe kommende Lichtmenge. Die Acacia-, Mimosa-, Caesalpinia-, Indigofera- Arten am Wege illustrieren uns diese Einrichtung in schönster Form. Weitere Möglichkeiten, sich vor übergroßem Wasserverlust durch Transpiration zu schützen, sind den Bewohnern dürrer Standorte durch Festigungen ihres Hautgewebes gegeben. Vor allem spielen stark ent- wickelte Cuticulae und Cuticularschichten hierbei eine große Rolle, und in der That finden wir besonders bei manchen Bäumen und Sträuchern, ı 2. B. Chrysophyllum: Cainito, der die köstlichen „Star-apples“ liefert, und Sapota Achras, von der die „Sapodillas“ kommen. 128 Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. II. denen wir begegnen (Capparis cynophallophora, Terminalia Catappa, Mangi- fera indica u. a.), jene Teile in auffälliger Weise entwickelt. Hieran schließen sich dann die Einrichtungen zur Verstärkung des Wasserversorgungsapparates an, welche wesentlich auf Vertiefungen der Oberhautzellen und auf Verstärkung derselben durch wasserführende Hypoderma-Schichten hinauslaufen. Letztere Gewebe haben wir nämlich nach neueren Untersuchungen mit großer Wahrscheinlichkeit als Wasser- reservoire für das assimilierende Gewebe anzusprechen. Die besonders mächtige und sukkulente Ausbildung des Hautgewebes ist eine der auf- fallendsten Struktureigentümlichkeiten der Laubblätter tropischer Bäume, welche bei der Untersuchung sofort in die Augen springt. Um einige der uns bereits geläufigen Beispiele anzuführen, weisen wir auf den Kale- bassenbaum, den Weintraubenbaum und von Kräutern auf die kriechen- den Commelyneen hin, die wir schon am Strande kennen lernten und die wir hier als gemeine Unkräuter am Rande der Zuckerrohrfelder wiederfinden. Wir haben die Schutzeinrichtungen der Laubblätter gegen den Einfluß intensiver Beleuchtung bisher nur unter dem Gesichtspunkt der Transpiration betrachtet. Es muß aber hinzugefügt werden, daß auch mit Rücksicht auf die chemischen Vorgänge in den Chlorophylikörpern (die Assimilation und Regenerierung des Chlorophyllfarbstoffs) solche Schutzmittel gegen das intensive Sonnenlicht erforderlich sind. Die Mehr- zahl der oben angeführten Anpassungen kann man nun auch leicht mutatis mutandis auf die letztgenannten physiologischen Prozesse beziehen, doch kann auf diese zu weit in das Gebiet der Experimentalphysiologie hinein- spielenden Verhältnisse hier nicht des weiteren eingegangen werden !. Eine Anzahl von Pflänzchen, die wir am Wege sammeln, erregt weniger durch biologische Eigentümlichkeiten, als durch Zierlichkeit der Form und Schönheit der Blüten unsere Aufmerksamkeit. Hier leuchtet ein kleiner Schmetterlingsblütler ?, welcher trotz seiner zarten Konstitution große, prächtig blau oder weiß gefärbte Blüten trägt, aus dem Grase hervor, dort aus einem Gebüsche eine himmelblaue oder zitronengelbe Windenart?. Auch die prächtigen, gefüllten Blüten einer chinesischen Verbenacee*, welche seit langer Zeit im Lande verwildert, aber seltsamer Weise nicht wieder in die Form ihrer wilden Stammpflanze zurückgeschlagen ist, und die großen, ockergelben Klatschblüten eines Mohngewächses ° mit stacheligen, weißgestreiften Blättern fallen uns durch ihr stattliches Aussehen in die Augen. Nun aber riehten wir unsere Aufmerksamkeit auf ein kleines, wenig ansehnliches Gewächs, welches uns das größte Interesse abgewinnt. Es ist dies die niedliche Mimosa pudica, die allbekannte Sinnpflanze unserer ! Der Leser, welcher sich für diese Fragen interessiert, findet ausführlicheres darüber in dem Aufsatz des Verfassers „Uber die Beziehungen einiger Eigenschaften der Laubblätter zu den Standortsverhältnissen“, in Pringsheim’s Jahrbuch für wissensch. Botanik, Band XV, p. 282 ff. ? Olitoria Ternatea. ? Ipomoea-Arten. * Clerodendron fragrans. ° Arge- mone mexicana. Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. II. 129 Gewächshäuser, welche wir hier herdenweise als gemeines Unkraut am Rande des Zuckerrohrfeldes und auf allen Grasplätzen erblicken. Wir lassen die günstige Gelegenheit nicht-vorübergehen, die von physiologischer Seite schon so oft erörterten Eigentümlichkeiten der Pflanze einmal von biologischen Gesichtspunkten aus zu betrachten, indem wir uns die Frage vorlegen, welche Bedeutung im Haushalt der Pflanze wohl jenen sonder- baren Reizerscheinungen zukommen mag. Wir haben nicht nötig, die Antwort zu erraten oder durch Versuche zu ermitteln; dort auf der grasigen Böschung an der Brücke, welche wir eben betreten, wird uns die Lösung des Rätsels in anschaulichster Form vordemonstriert. Eine Ziege ist damit beschäftigt, die Kräuter an der Böschung abzuweiden, und hat schon einen guten Teil des Rasens kurz gefressen. Jetzt streckt sie ihre Zunge auch nach dem zarten Laub einer Mimose aus, aber kaum hat sie das erste Blatt berührt, so zieht sie stutzend vor der unheimlichen Erscheinung, die sich vor ihr abspielt, den Kopf zurück und sieht sich einer Schar von kräftigen Stacheln gegenüber, welche ihrer Nase den Zugang zu dem nunmehr an den Stengel angedrückten Laub gründlich ver- wehren. Die Mimose schützt sich also durch die Reizreaktionen ihrer Blätter vor dem Schicksal des Gefressenwerdens; sie wehrt sich in ähnlicher Weise gegen äußere Feinde wie der Igel, wenn er sich in eine unantast- bare, stachelige Kugel zusammenrollt!. Jetzt hat nun auch unsere im Lande schon öfters gemachte Beobachtung, daß die Sinnpflanzen auf abgeweideten Rasenplätzen immer unversehrt geblieben waren und wie Inseln zwischen den kurzgefressenen übrigen Kräutern sich erhoben, für uns nichts Rätselhaftes mehr an sich. Aber wie die meisten biologischen Einrichtungen im Pflanzenreich nicht einseitig als Anpassungen an eine einzige äußere Bedingung auf- gefaßt werden können, so haben auch die Reizerscheinungen der Mimosa neben der angeführten noch eine andere, freilich mit jener verwandte Bedeutung; sie stellen nämlich auch eine Schutzeinrichtung gegen die zerstörenden Wirkungen der elementaren Gewalten dar. Im gereizten Zustande bietet, wie ohne weiteres erhellt, das Laub der Pflanze dem Anprall des Regens und des Windes nicht allein eine viel kleinere An- griffsfläche dar als im ungereizten Zustande, sondern es ist auch wegen der Schlaffheit der Gelenke weit nachgiebiger und zäher. Bedenken wir nun, mit welcher Heftigkeit in den Tropen während der nassen Jahres- zeit die Regengüsse herabstürzen und die Stürme sich entwickeln, und ! Wir wollen nicht verfehlen, darauf hinzuweisen, daß J. Sachs in seinen „Vorlesungen über Pflanzenphysiologie“ (p. &00 u. 801) die letzterwähnte Bedeut- ung auf Grund von Beobachtungen an kultivierten Mimosen bereits vertreten hat, wobei er freilich auf den Schutz gegen Hagelkörner das Hauptgewicht legt. Hagel- schläge dürften indessen im Vaterlande der Pflanze nicht zu den häufigeren Vor- kommnissen gehören. Auch auf die Bedeutung der Reizerscheinungen als Schutz- mittel gegen tierische Feinde hat Sachs bereits richtig geschlossen. — Übrigens wurde Verf. zuerst durch einen im Lande ansäs igen Herm (Dr. H. A. Nicholls), welcher grosse Verdienste um die Kenntnis der Flora und Fauna Dominicas hat, auf jene biologische Bedeutung der Reizerscheinungen von Mimosa aufmerksam gemacht. Kosmos 1881, II. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XV). g9 130 Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. II. ziehen wir anderseits die große Zartheit des Mimosenlaubes in Betracht, so erscheint uns der Nutzen, den die Pflanze von der Einrichtung zieht, in der That sehr erheblich. Doch wir verweilen jetzt nicht länger bei den Pflanzen am Wege, sondern setzen unsere Wanderung etwas eiliger fort, überschreiten die Brücke über den Fluß und verfolgen am andern Ufer einen Pfad, der durch eine duftende Zitronenpflanzung! hinführt. Die Flora bietet uns hier wenig Beachtenswertes dar. Hier und da fesselt ein kleiner gelber Vogel, welcher täuschend unserem gewöhnlichen Kanarienvogel ähnelt, und eine winzige Kolibriart, die mit einem smaragdgrünen, herrlich funkeln- den Schopf geziert ist, unser Auge. Bald treten wir aus der Pflanzung ins Freie. Noch ein paar Minuten Wanderns auf sonnigem Terrain und wir haben den Eingang in das Roseau-Thal erreicht, in welchem unser Weg nach Laudat aufwärts führt. Halten wir aber, ehe wir das Thal betreten, zuvor eine kurze Rast unter jenem Bambusgebüsch, welches an der Böschung zu unserer Linken den Weg beschattet. ı Man kultiviert jetzt auf der Insel in großen Mengen eine kleine Zitronen- art (Citrus Limetta), deren Fruchtsaft an Ort und Stelle durch Sieden eingedickt und behufs Gewinnung von Zitronensäure nach den Vereinigten Staaten exportiert wird. (Schlub folst.) Wissenschaftliche Rundschau. Zeologıe Die morphologische Deutung der Zirbeldrüse hat jüngst Dr. Fr. Antsorn in einer kleinen Arbeit!, wie mir scheint, mit glücklichem Erfolg unternommen. Da die Anusorx’sche Anschauung von einem hohen phylogenetischen Interesse ist, so will ich sie den Lesern des »Kosmos« im folgenden vorführen. Antsorn hält die Zirbel- drüse oder Epiphysis für das Rudiment einer unpaaren Augenanlage. Wichtige Stützen für seine Ansicht findet er in fol- genden Verhältnissen: Die ersten Entwickelungsvorgänge sind bei beiden Organen sehr ähnlich. Bekanntlich besteht die primitive Augenblase aus einer Ausstülpung der Hirnwand; ganz ähnlich verhält sich die erste Anlage der Zirbel. Der Unterschied zwischen Augenblasen und Zirbel ist nur der, daß erstere viel mächtiger sind und seitlich liegen, letztere dagegen von Anfang an kleiner ist und ihre Lage in der dorsalen Median- ebene hat. Die Zirbel besitzt eine terminale, ursprünglich hohle Blase, die durch einen anfänglich hohlen Stiel mit dem Gehirn in Verbindung steht. In diesem anfangs hohlen Stiel erkennen wir unschwer den Augen- blasenstiel wieder, der auch anfänglich hohl ist und später zum Seh- nerven sich umbildet. Primitive Augenblasen und Zirbel entstehen aus dem Vorderhirn, und zwar die Zirbel stets dicht vor der Commissura posterior, also an der Stelle zwischen dem Thalamus opticus und dem Lobus opticus. Eine weitere Ähnlichkeit zwischen Epiphyse und Augenblase ergibt sich noch aus der Lage der ersteren. Bei den Selachiern, Ganoiden, Petromyzonten und Amphibien erscheint der Stiel der Epiphyse als ein langer, nervenartiger Faden, so daß das terminale Bläschen weit nach vorn rückt. Bei Haien und Ganoiden liegt das Bläschen vorn in dem knorpeligen Schädeldache. , Bei Petromyzon findet es sich an der vor- dersten und höchsten Stelle des Schädels dicht unter dem Dache des- selben, so daß es von außen als kleiner weißer Fleck zu bemerken ist. Bei den Amphibien endlich liegt das Bläschen der Zirbel vollkommen ı Über die Bedeutung der Zirbeldrüse. Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie, Band 40, pag. 331—337. 132 Wissenschaftliche Rundschau. peripherisch, also außerhalb des Schädels und ist nur vom Integument bedeckt. Man sieht es von außen als kleinen weißen Fleck zwischen den Augen und mit diesen auf gleicher Höhe durchschimmern. Schließlich hat vav Wise sehr nahe Beziehungen der embryonalen Nervenleiste zu der Anlage der Epiphyse nachgewiesen, woraus sich ergibt, daß die Epiphyse vielleicht einem Hirnnerven vergleichbar ist. Was den feineren Bau des Zirbelbläschens anbelangt, so hat Akt- BORN bei den Petromyzonten eine radiäre Struktur und eine deutlich wahrnehmbare Schichtenbildung nachgewiesen, die auffallend an den Bau der Retina erinnert. Indessen ist bei der Epiphysis von Nervenelementen keine Spur vorhanden; auch treten vom Gehirn aus keine Nervenfasern in den Stiel hinein, so daß sich die Zirbel jedenfalls als ein vollkommen funktionsloses rudimentäres Organ von sehr hohem Alter erweist. Das sind im wesentlichen die Thatsachen, welche AHLBORN zur Stütze seiner Ansicht, dab die Zirbel das Rudiment einer unpaaren Augenanlage ist, anführt. »Wenn dieser Schluß richtig ist, so besitzt die Epiphysis als rudimentäres Stirnauge, wie mir scheint, noch jetzt ein funktionierendes Analogon in dem unpaaren Auge der Tunikaten und viel- leicht auch des Amphio.rns!.« Dr. W. BREITENBACH. Botanik. Die Florenreiche der Erde. Die Ziele, welche die phytogeographischen Arbeiten verfolgen, sind im wesentlichen zweierlei Art. »Mit dem Zwecke, die Erzeugnisse der einzelnen Länder zusammenzustellen, verbindet sich die Aufgabe, zu untersuchen, worin die physischen Einflüsse bestehen, welche jeder Pflanze einen bestimmten Wohnort angewiesen haben und nur einzelnen, den ubiquitären Organismen, die Ausbreitung über die ganze Erde oder einen großen Teil derselben freigeben.«< (GRISEBACH, Veget. d. Erde B. I, p. 1.) In andern Arbeiten tritt dieses Forschen nach den physikalischen Verhältnissen mehr oder weniger in den Hintergrund. Die Kenntnis der geographischen Verbreitung der Pflanzen wird Mittel zum Zweck der Erkenntnis der Entwickelungsgeschichte der Flora oder aber die Geschichte der Pflanzenwelt soll das Rätsel ihrer gegenwärtigen Verbreitung lösen. Auf diesem Boden steht z. B. EnGLEr’s klassischer >Versuch einer Entwickelungsgeschichte der Pflanzenwelt«. Einen dritten Standpunkt nimmt DrupE”? in seiner Arbeit »die Floren- reiche der Erde«, mit deren wesentlichstem Inhalt wir im nach- folgenden die geneigten Leser bekannt machen wollen, ein. An Hand ! Übrigens ist Dr. Rabl-Rückhard unabhängig von Dr. Ahlborn und sogar noch früher als dieser zu derselben Deutung der Zirbeldrüse gekommen. *: Petermann's Mitteilungen, Ergänzungsheft 74. Dr. Oskar Drude, die Florenreiche der Erde. Wissenschaftliche Rundschau. 133 der Verteilung der Pflanzenwelt auf der Erde will ev zeigen, wie un- natürlich jene Abgrenzung der Erdteile ist, wie sie von alters her nach der Gruppierung von Land und Wasser gemacht wird. So sucht also Drupe durch das Studium der geographischen Verbreitung der Pflanzen eine physikalisch-geographische Frage zu lösen. In erster Linie teilt Verf. die Erde in Florenreichsgruppen. Als wesentlichstes Unterscheidungsmerkmal zweier Florenreichsgruppen dienen gewisse große und wichtige Ordnungen des Systems, »welche in je einer Gruppe entweder ganz ausschließlich vorhanden oder doch so hauptsächlich dort entwickelt sind, daß ihre Repräsentanten in den übrigen Florenreichsgruppen nur als schwache Ausläufer erscheinen«. Auch Unterordnungen oder Tribus, Gattungen und Arten sind zur gegen- seitigen Charakterisierung zu benutzen. »Von den vielen in einer Floren- reichsgruppe nicht ausschließlich vorkommenden Ordnungen werden in der Regel wichtige Unterordnungen oder Tribus auf je eine Florenreichs- gruppe beschränkt sein, mindestens aber viele Gattungen. Was endlich die Arten betrifft, so müssen im Mittelpunkt der Florenreichsgruppen solche, welche auch in andern Florenreichsgruppen vorkommen, zu ziem- lich seltenen Ausnahmen zu zählen sein.« Drupe unterscheidet vier Florenreichsgruppen, 1) die ozeanische, 2) dietropische, 3) die boreale, 4) die australe. Daß die Flora der ozeanischen Florenreichsgruppe, der Meere, im schärfsten Gegensatz zur Flora der Kontinente und Inseln steht, ist die natürliche Folge der extremsten Verschiedenheit der Lebens- bedingungen beider Floren. So fehlen denn der ozeanischen Florenreichs- gruppe die meisten Ordnungen der höher organisierten Pflanzen, der Gymnospermen und Angiospermen. Die Ozeane sind vor allem das »Algenreich«. Was nun aber im speziellen, im Gegensatz zu den zahl- reichen Algengattungen des süßen Wassers, die Meeresflora kennzeichnet, sind die Melanophyceen und Florideen, die Braun- und Rottange. Die tropische Florenreichsgruppe fällt inkl. die tropischen Übergangsländer ungefähr zwischen die beiden Wendekreise. Was nörd- lich davon liegt, gehört im allgemeinen der borealen Florenreichs- gruppe (inkl. boreal-tropische Übergangsländer), was südlich liegt, der australen (inkl. australisch-tropische Übergangsländer) an. Wie die drei Florengruppen durch die Verbreitung der Gymno- spermenordnungen charakterisiert sind, zeigt Drupr in nachfolgen- der Tabelle (vergl. p. 25 ]. c.). (Erklärung der Zeichen: f bedeutet das Fehlen der bezüglichen Ordnung, j Vorkommen in eignen Formen, TT eine sehr starke Ausprägung jener Ordnung mit eignen Formen und 77 dasselbe zugleich mit hervorragend physiognomischer Bedeutung durch die Gesamtzahl der Individuen und Arten, — Auslaufen der Ord- nungen von den mit f bezeichneten Orten in die benachbarten Länder; Am. = amerikanisch, Afr. — afrikanisch, As. —= asiatisch. Zu Afrika rechnet Drupe auch Europa, Arabien und Kleinasien; zu Asien außerdem auch Australien und Polynesien. Diese letzteren Zeichen werden jedoch nur angewandt, um das alleinige Vorkommen einer Ordnung in jenem Erdstrich anzudeuten.) Wissenschaftliche Rundschau. Fl "eich ; Gymnospermen ae SEHEN, Vorkommen in der Ordnungen, Unterordnungen Born Tribus ktiech” Borenl: tropischen austral. boreal | subtropisch Ordnung Cycadeae . f — Am, As. Hr Sr “ Coniferae . rt 11717 |fod.—, selten } | Tr Unterordng. Cupressaceae I Met fast ganz fehlend, 02 Trib. Junipereae . T GE] f f „ Actinostrobeae f | Ai | = Anenar „ Thujopsideae . E |t Am., As f f „ Cupresseae . — Art | f f »„ Taxodineae A E= + Am., As. | f R Unterordng. Araucariaceae a Kin. Afr., fehleng in Afr.fehlend Trib. Abietineae . Her | Tr j Afr. od. Be | f „ Araucarieae f f | 11 Am, As. |77 Am, As, Unterordnung Taxaceae 4 5 | - RER Trib. Podocarpeae . f I RETEWÄISE u 7 Sr nlaxeae .. 7 | Am. As. f + Afr. As. Die Verteilung wichtigern derselben stellung Drupe's: Florenreichsgruppen. Vorkommen in der der Ordnungen der Monokotyledonen, wobei nur die berücksichtigt werden, ergibt folgende Zusammen- Ordnungen en arktisch- | boreal- tropischen austral. boreal | subtropisch | | 1. Hydrocharideae, Jun- | | cagineae, Alismaceae. in | in + 7 2. Araceae | + Fr + 3. Palmae. ö £ — bis f En rar fod.—,selt. + 4 [Cyelanthaceae fi f + Am. "\Pandanaceae . f f 1 Tr Ama f 5. Gramineae minan | Tara Tr 6. Cyperaceae RIRIE Ar art SFar 7. Centrolepideae . f | f — As. (1 Artin] r As. Am Cambodja) 8. Restiaceae f — As. f Sep Jaliteh, AUS 9. Commelynaceae . f — As., Am. 17 — As., Afr. 10. Juncaceae . | 4 | Er To es Ade: 11. Liliaceae . TO | | Ar Tr 12. Amaryllideae — bis f | n) | + | TR 13. Irideae. N ga En en TI Aa 14. Dioscoreaceae _. f — bis $ | ser 7 bis — Afr. Am. | 15. Haemodoraceae . f — bis + 17 17 As. 16. Bromeliaceae f | f — Am. +7 Am. f od. — Marantaceae . f f — Am. tr f 17. \Zingiberaceae f £f — As. | Fr As., r Am. Hi Musaceae . f f | Spar 1 Afr. 18. Burmanniaceae . je — Am, As. r — Am. 19. Orchideae. rn 7 TTT T Wissenschaftliche Rundschau. 135 Unter den 160 wichtigsten Ordnungen der Dikotyledonen sind 67 »unbestimmt verbreitet«, eignen sich deshalb nicht zur Charakterisierung einer Florenreichsgruppe, weil sie ‘durch alle drei ziemlich gleichartig verteilt sind. Es gehören hierher gerade eine Reihe der uns geläufigsten Dikotyledonenordnungen, wie z. B. die Labiaten, Verbenaceen, Serophu- lariaceen, Kompositen, Papilionaceen u.s.f. Daß übrigens zur spezielleren Charakterisierung der Florenreiche oder Florengebiete auch diese >»un- bestimmt verbreiteten< Ordnungen eine hervorragende Rolle spielen können, zeigt ein Blick auf die Verbreitungsverhältnisse der Labiaten. >Die Tribus Prostanthereen ist in Australien endemisch, die Prasieen sind tropisch-asiatisch und bilden den gesamten Bestand der Sandwich- inseln. Die Ocimeen sind fast ausschließlich tropisch-gerontogäisch (trop. Asien, Arabien, trop. Afrika, Maskarenen und Kap, dann bis China, Japan und Amurland auslaufend); nur wenige im australen Südamerika. Die Nepeteen sind boreal mit Ausschluß der arktischen Länder etc. Nach Bunge, Labiatae persicae, verteilen sich die 139 Labiatengattungen in folgender Weise: rein amerikanisch 59 Genera, fast rein tropisch-afrikanisch und asiatisch 50 Genera, rein australisch 10 Genera, rein austral-afrikanisch 2 Genera, rein mediterran-orientalisch mit Einschluß der Kanaren 26 Genera, vorwiegend mediterran-orientalisch 11 Genera, boreal-asiatisch S Genera, ubiquitär 13 Genera. Zu analogen Ergebnissen führt eine Betrachtung der artenreichsten Ordnung, der Kompositen, der Papilionaceen etc. Die übrigen zur Charakterisierung der Florenreichsgruppen zu ver- wendenden Ordnungen zerfallen in 3 Kategorien: 1) Ordnungen, die zwar nicht auf eine Florenreichsgruppe beschränkt sind, jedoch in einer ihre Hauptentwickelung erreichten, 2) solche, die auf eine Florengruppe be- schränkt sind, und 3) solche, die auf ein kleineres Areal einer Gruppe angewiesen sind. Der Übersichtlichkeit und Kürze wegen ziehen wir einige Tabellen DrupeE’s in eine zusammen: 1. Kategorie: In der borealen Florenreichsgruppe am stärksten ent- wickelt 10 Ordnungen. 1. Polemoniaceae (Am.). 7. Cruciferae. 2. Caprifoliaceae. 8. Caryophylleae (7 Polycarpeae trop. 3. Valerianaceae. u. austr.; Colobanthus austr. Am., 4. Ulmaceae. As.). 5. Cupuliferae (7 trop. As.). 9. Umbelliferae (+ austr.). 6. Berberideae (}austr. Am., Trib. Lardi- 10. Pomaceae. zabaleae). In der tropischen Florenreichsgruppe am stärksten entwickelt 24 Ordnungen. 1. Podostemaceae. 4. Bignoniaceae. 2. Acanthaceae. 5. Pedalineae (Am., Afr.). 3. Gesneraceae (Am.). 6. Apocynaceae. 136 Wissenschaftliche Rundschau. 7. Loganiaceae. 17. Monimiaceae (Am., As.). 8. Rubiaceae (+ Trib. Stellatae bor., 7 18. Menispermaceae (+ bor.). austr.). 19. Passifloraceae (Am., + Acharieae, 9, Cueurbitaceae. austr. Afr.). 10. Sapotaceae. 20. Bixaceae (f austr.). 11. Ebenaceae. 21. Ternströmiaceae (+ bor.). 12. Styraceae (As., Am.). 22. Sturculiaceae ( Tribus Lasiopetaleae 13. Moraceae. austr.). 14. Simarubaceae. 23. Mimosaceae (F boreal, austr.). 15. Connaraceae (Am., As., f austr. Afr.). 24. Caesalpiniaceae (+ bor. austr.). 16. Lauraceae (7 bor. austr.). In der australen Florenreichsgruppe am stärksten entwickelt 5 Ord- nungen. 1. Proteaceae. 4. Myoporeae. 2. Pittosporeae. 5. Ein Teil der Umbelliferae. 3. Rutaceae (inkl. Diosmeae). 2. Kategorie: Auf die boreale Florenreichsgruppe beschränkt 17 Ordnungen. 1. Primulaceae (+ austr. Am.). 11. Saxifragaceae (+ austr., 4 Gattungen 2. Plumbagineae (} austr. Am.). weit von den borealen abweichend). 3. Betulaceae (+ austr. Am.). 12. Ribesiacae. 4, Juglandaceae. 13. Rosaceae. 5. Ranunculaceae (7 austr.). 14. Dryadeae. 6. Papaveraceae (inkl. Tionariaceae). 15. Spiraeaceae. 7. Cistaceae (Afr., selt. Am.). 16. Platanaceae. 8. Salicineae. 17. Amygdalaceae (} Pygaeum in trop. 9. Tamariscineae. As. u. Afr.). 10. Elaeognaceae (} trop. As.). Auf die tropische Florenreichsgruppe beschränkt sind 20 Ordnungen 1. Myrsinaceae (As., Am.). 12. Humiriaceae (Afr. Am.), 2. Piperaceae. 13. Malpighiaceae. 3. Artocarpaceae. 14. Olacineae (} austr. Afr., As.). 4. Burseraceae (+ bor. Afr.). 15. Bombaceae. 5. Ochnaceae (} austr. Afr.). 16. Begoniaceae. 6. Meliaceae. 17. Rhizophoraceae. 7. Myristicaceae. 18. Combretaceae. 8. Anonaceae. 19. Melastomaceae (bes. Am. u. dort auch 9. Turneraceae (Afr., Am.). 7 bor. u. + austr.). 10. Samydaceae. 20. Chrysobalanaceae (7 Stylobasium austr. 11. Clusiaceae. As.). Auf die australe Florenreichsgruppe ist keine Ordnung beschränkt. 3. Kategorie: Auf ein kleineres Areal einer der drei Florenreichs- gruppen sind 19 Ordnungen beschränkt, 5 auf die boreale, 6 auf die tropische und 8 auf die australe. Seine Florenreichsgruppen teilt DrupE zunächst in sieben Unter- gruppen, das arktisch-boreale Gebiet, das borealsubtropische Gebiet der alten Welt, das borealsubtropische Gebiet Ostasiens und Amerikas, die paläotropische Florengruppe, die neo- tropische Florengruppe, afrikanisch-asiatische Abteilung der australen Florengruppe und deren amerikanische Abteilung. Müssen wir auch bezüglich der speziellen floristischen Charakterisierung auf die ausführlichen und sorgfältigen Tabellen in der Arbeit Drupe’s ver- weisen, so können wir uns doch nicht versagen, diese Unterabteilungen Wissenschaftliche Rundschau. 137 wenigstens an Hand der Ordnungen zu charakterisieren, die DrupE selbst als »die in erster Linie ann und ohne allen Zweifel wichtigsten « bezeichnet. 1. Charakterordnungen des nördlichen Europa, Asien und Amerika. (Boreale Florenreichsgruppe, arktisch-boreale Abteilung.) Polypodiaceae. Betulaceae. * Coniferae: Abietineae. * Cupuliferae * Gramineae! Ranunculaceae. Cyperaceae! Cruciferae. Juncaceae! Salicineae * und ! Serophulariaceae! Caryophylleae. Gentianaceae! Umbelliferae. Compositae. Saxifragaceae. Primulaceae. Dryadeae. Ericaceae! Papilionaceae. 2. Charakterordnungen des südlichen Europa und nördlichen Afrika, des mittleren und südwestlichen Asien. (Boreal-subtropische Länder, I. Abteilung.) Coniferae: Abietineae. * Cruciferae. Gramineae! Polygonaceae. Cyperaceae! Chenopodiaceae! Liliaceae! Caryophylleae. Labiatae ! Umbelliferae! Scrophulariaceae. Pomaceae, Rosaceae. * Compositae. Dryadeae. Plumbagineae! Amygdalaceae. Cupuliferae. * Papilionaceae * und ! Euphorbiaceae: Euphorbia. 3. Charakterordnungen Japans und des östlichen China, Nordamerikas von Kalifornien und Virginien bis Texas und Florida. (Boreal-subtropische Länder, II. Abteilung.) Polypodiaceae. Cupuliferae. * Coniferae: Abietineae. * Euphorbiaceae. Cyperaceae. Ranunculaceae. Gramineae! Polygonaceae! Liliaceae. Önagrarieae. Compositae! Papilionaceae * und ! 4. Charakterordnungen der paläotropischen Florengruppe von Afrika und Asien. (Tropische Florenreichsgruppe, paläotropische Abteilung.) Polypodiaceae ! Moraceae u. Artocarpeae. Araceae. Euphorbiaceae. Palmae. * Lauraceae. Gramineae * und ! Anonaceae, ® Cyperaceae ! Melastomaceae. * Örchideae. Myrtaceae. * Rubiaceae. * Papilionaceae (* oft). Compositae. Caesalpiniaceae, Mimosaceae. * 5. Charakterordnungen des intratropischen Amerika. (Tropische Florenreichsgruppe, neotropische Abteilung.) Polypodiaceae ! Urtieaceae (inkl. Moraceae). Araceae, Cyclanthaceae. Artocarpeae, Palmae. * Euphorbiaceae, * 138 Wissenschaftliche Rundschau. Gramineae! Melastomaceae. * Cyperaceae! Myrtaceae. * Bromeliaceae. Papilionaceae (oft *). Orchideae. Swartzieae, Mimosaceae. * Rubiaceae. * Caesalpiniaceae. Compositae. 6. Charakterordnungen des südlichen Afrika, extratropischen Australien und Neuseeland. (Australe Florenreichsgruppe, afrikanisch-asiatische Abteilung.) Polypodiaceae! Rutaceae. Actinostrobeae, * Euphorbiaceae (oft *), Gramineae! Polygalaceae (bes. Afr.). Uyperaceae! (feraniaceae ! Liliaceae. Oxalideae (bes. Afr.). Irideae (! Afr.) Malvaceae, Sterculiaceae. * Orchideae. Ficoideae ! (bes. Afr.). Labiatae. Proteaceae. * Asclepiadeae. Umbelliferae. Rubiaceae. * ı Crassulaceae (Afr.) ! Compositae ! teilweise *. Myrtaceae (As., As. bes. Afr.). (Groodeniaceae (bes. As.). Papilionaceae (oft ! u. *), Ericaceae (Afr.). Mimosaceae (bes. As.). Epacrideae (As., NS.)! 7. Charakterordnungen des hochandinen und extratropischen Südamerika mit den antarktischen Ländern. (Australe Florengruppe, amerikanische Abteilung.) Polypodiaceae ! Tropaeoleae. Actinostrobeae. * Oxalideae. (sramineae ! Caryophylleae. Cyperaceae! Portulaceae. Solanaceae. Umbelliferae ! * Serophulariaceae (zuweilen !u. *). Escaloniaceae, Ribesiaceae. * Compositae !! Papilionaceae. Cruciferae. Die Florenreichsgruppen teilt Drupz in Florenreiche, diese in Floren- gebiete. In den Florenreichen herrschen je bestimmte Ordnungen vor, ohne auf sie durchaus beschränkt zu sein. Bestimmte Unterordnungen und Tribus müssen dagegen nur in diesem Reiche je sich finden. Es werden 15 solche Florenreiche unterschieden und dieselben zerfallen wieder in 55 Gebiete. Wir wollen uns auf die Wiedergabe der erstern beschränken, verweisen im übrigen auf die citierte Arbeit. 1. Das ozeanische Florenreich. 9. Indisches Florenreich. 2. Das nordische Florenreich. 10. Tropisches Amerika. 3. Innerasien. 11. Kapland. 4. Mittelmeerländer und Orient. 12. Australisches Florenreich. 5. Ostasien. 13. Neuseeländisches Florenreich. 6. Mittleres Nordamerika. 14. Andines Florenreich. 7. Tropisches Afrika. 15. Antarktisches Florenreich. 8. Ostafrikanische Inseln. Wir würden den Rahmen eines Referates überschreiten, wollten wir des näheren auf die detaillierte Begründung Drunpe’s, die ihn zur Aufstellung dieser Florenreiche führte, eintreten. Dagegen dürfte eine Vergleichung dieser Florenreiche mit analogen phytogeographischen Be- griffen anderer Autoren zur Orientierung des Lesers am Platze sein. Wissenschaftliche Rundschau. 139 DE CAnpoLLE nimmt in seiner »geographie botanique raisonnde« (pag. 1254 und 55) 13 allerdings nicht genau gleichwertige »Regions« an, nämlich: 1. Regions arctiques. . Amerique septentrionale temperee. Regions temperees de l’ancien monde. Amerique intertropicale Afrique intertropicale. Asie intertropicale. Polyn&sie intertropicale. . Nouvelle-Hollande et Van-Diemen. . Nouvelle-Zelande, Norfolk, Broughton. . Afrique australe extratropicale (Cap de Bonne-Esperance). . lles de Kerguelen, Amsterdam et Saint Paul, Prince Edouard, Tristan d’Acunha. . Chili, Buenos-Ayres, Bresil extratropical. . Patagonie, iles Malouines. Hu HOommanupwm ren SCH) Wie schon die geographische Benennung, welche beide Autoren an- wenden, ergibt, decken sich verschiedene der Florenreiche Drupe’s mit den Regions De Canvorre’'s. Es ist wesentlich die »temperierte Zone der alten Welt«, die Drupr allerdings auf Grund der heutigen phytogeographischen Kenntnisse nicht mehr als ein Reich auffassen konnte. Eine hervorragende Stellung im Gebiete der Pflanzengeographie nimmt auch GriıseBAcH ein. In seiner Vegetation der Erde stellt er 24 Gebiete auf. Deckt sich auch dieser Begriff mit dem »Florenreich« Drupe’s nicht vollkommen, so liegt er ihm doch ungleich näher als dem viel engern »Gebiet« im Sinne Dxrupe’s. Folgende sind GRrISEBACH’s Gebiete: 1. Arktische Flora. 14. Kalifornisches Küstengebiet. 2. Waldgebiet des östl. Kontinentes. 15. Mexikanisches Gebiet. 3. Mittelmeergebiet. 16. Westindien. " 4. Steppengebiet. 17. Südamerika. Gebiet diesseits des Aqua- 5. Chinesisch-japanisches Gebiet. tors. 6. Indisches Monsungebiet. 18. Hylaea, Gebiet des äquatorialen Bra- 7. Sahara. siliens. 8. Sudan. 19. Brasilien. 9. Kalahari. 20. Flora der trop. Anden. 10. Kapflora. 21. Pampasgebiet,, 11. Australien. 22. Chilenisches Übergangsgebiet. 12. Waldgebiet Nordamerikas. 23. Antarktisches Waldgebiet. 13. Präriengebiet. 24. Ozeanische Inseln. Drupe’s Einteilung hat unserem Dafürhalten nach vor dieser den nicht zu unterschätzenden Vorteil, daß seinen Florenreichen wirklich der Grad von Gleichwertigkeit zukommt, den man bei solchen Einteilungen verlangen kann. Exsrer’s Florenreiche hinwieder, »das nördliche extratropische, das paläotropische, das südamerikanische und das altozeanische Florenreich « sind ungefähr Drupe’s Florenreichsgruppen! koordiniert. Hinwieder sind seine Gebiete enger als Drupe’s »Reiche«, aber weiter als seine Gebiete, decken sich aber auch gelegentlich (z. B. Mittelmeergebiet ExGLEer und »Mittelmeerländer und Orient DrupE) mit einander. 140 Wissenschaftliche Rundschau. Das Werden der wissenschaftlichen Pflanzengeographie könnte kaum deutlicher illustriert werden als durch die große Verschiedenheit der Begriffe, die durch die gleichen Wörter ausgedrückt werden. Welche der vielen Nomenklaturen verdient unsere Anerkennung? Wir halten dafür, daß derjenigen unser Vorzug zukommen soll, welche den Umfang des Begriffs, den sie im Worte ausdrückt, möglichst genau und faßbar umschreibt. In dieser Hinsicht aber herrscht zweifellos im allgemeinen bei Drupr größere Klarheit, größere Präzision als bei seinen Vorgängern. Winterthur. Dr. ROBERT KELLER. Wird Philodendron durch Schnecken bestäubt?! Aus der Gattung Philodendron sind drei Arten in unserem Urwalde häufig; zwei derselben (»Imbe preto« und Imb& jaguarundi« der Bra- silianer) haben ganzrandige, die dritte hat doppeltfiederspaltige Blätter; letztere könnte also wohl das in diesen Blättern wiederholt besprochene Philodendron bipinnatifidum sein oder dürfte doch zu dessen näheren Verwandten gehören. Für diese hiesigen Arten nun scheint mir die von Lupwıs vermutete Anpassung an Bestäubung durch Schnecken schon durch ihre für alle drei Arten gleiche Lebensweise ausgeschlossen zu sein. Ihr eigentlicher Wohnsitz ist der Wipfel hoher Urwaldsbäume, den sie nicht durch allmähliches Erklimmen erreichen, auf den vielmehr ihre Samen durch Vögel ausgesät. werden. Ihre den Ästen des Baumes oft nur sehr lose anliegenden Stämme werden durch zahlreiche lange vielverzweigte Wurzeln festgehalten und senden außerdem Luftwurzeln zur Erde nieder, die unverästelt bleiben, bis sie den Boden erreicht haben. Diese oft in reicher Zahl aus der Krone der höchsten Bäume zur Erde niederhangenden Stricke gehören zu den auffallendsten Er- scheinungen unseres Urwaldes. Mit dem Niederstürzen eines Astes oder dem Umbrechen eines Baumes, auf dem sie sich angesiedelt hatten, fallen gelegentlich Philodendron-Pflanzen mit auf den Boden und können da lange weiter wachsen. Im tiefen Schatten des Urwaldes erinnere ich mich nicht, junge Sämlinge von Philodendron gefunden zu haben, weder am Boden, noch unten an den Bäumen; außerhalb des Waldes dagegen siedeln sie sich bisweilen auch auf alten Baumstümpfen oder auf niedrigem Gebüsche an. So erschienen vor Jahren in meinem Garten Imbe-Säm- linge in den Blattwinkeln eines damals etwa mannshohen Pandanus. — In einigen feuchten, jetzt mit Gras bewachsenen und als Weideland dienenden Niederungen in der Nähe der Küste unserer Provinz sieht man zahlreiche stattliche Pflanzen des Philodendron mit doppeltfiederspal- tigem Blatte, deren Stämme unmittelbar dem Boden entsprossen zu sein scheinen; doch auch hier hatte in den allerdings nur wenigen Fällen, die ich mir näher ansah, die Ansiedelung der jungen Pflanzen auf Baum- stümpfen stattgefunden. Die Luftwurzeln, die von den Stämmen dieser Pflanzen zur Erde nieder oder an benachbartem Gesträuch emporsteigen, Kosmos Bir Sn Ren er Wissenschaftliche Rundschau. 141 kennzeichnen dieselben sofort als Baumbewohner und würden verraten, daß sie hier nicht an ihrem eigentlichen Wohnsitze sich befinden, auch wenn man nicht wüßte, daß vor nicht allzulanger Zeit dichter Urwald all dieses sumpfige Weideland deckte. Bei solchen nahe beisammen auf feuchtem Boden wachsenden Pflanzen, aber auch nur bei solchen, könnte nun wohl gelegentlich Über- tragung des Blütenstaubes durch Schnecken vorkommen, aber sicher keinerlei Anpassung an diese etwaigen zufälligen Kreuzungsvermittler, da eine solche erst nach langem Fortleben der Art unter gleichen Lebens- bedingungen bei späten Enkelkindern sich ausprägen könnte, die Eltern oder doch die Großeltern fast aller hier im Boden wurzelnden Philoden- dron aber gewiß noch auf Bäumen gesessen haben. — Doch kehren wir in den Urwald, die eigentliche Heimat unserer Philodendron-Arten zurück. Selten nur trifft man mehrere Stöcke der- selben Art auf demselben Baume, meist muß man einige hundert Schritte — oft viel weiter — gehen, ehe man sie auf einem zweiten Baume wieder- findet. Schnecken sind, obwohl eine ganze Zahl von Arten vorkommt, in unserem Walde sehr selten. Ein einziges Mal sah ich eine Schnecke im Urwalde in Menge auftreten; während eines Regentages, den ich auf der Höhe der Serra am Wege von Joinville nach S. Bento zubrachte, sah ich auf einer kleinen Strecke längs des Weges alle Sträucher mit einer großen Nacktschnecke, einem Vaginulus, bedeckt. Hier kann man bei trockenem wie bei feuchtem Wetter wochenlang im Walde umher- streifen, ohne auf Schnecken zu stoßen. Ich habe manchen Morgen Ur- waldes gefällt und die Kronen der gefällten Bäume zusammengehauen, aber entsinne mich nicht, je in einer Baumkrone Schnecken getroffen zu haben. Aber wären auch Schnecken hier so häufig, wie sie selten sind, kröchen sie tausendweise Baum auf und ab und rastlos von Baum zu Baum, wie unendlich gering wäre doch die Wahrscheinlichkeit, daß sie dabei je zu passender Zeit von einem Philodendron tragenden Baume zu einem zweiten gelangten. Und könnten sie selbst von der Blüte eines Philodendron aus die auf einem hunderte von Schritten entfernten Baume duf- tenden Blüten eines zweiten riechen und der Nase nach auf kürzestem Wege erreichen, welche Wahrscheinlichkeit wäre wohl, daß nach solchem Wege auch nur ein Blütenstaubkörnchen ihnen noch anhaftete? — Ist aber Kreuzung verschiedener Stöcke durch Schnecken so gut wie unmöglich, so ist es auch die Anpassung der Blumen an Befruchtung durch Schnecken; denn nur der durch die Kreuzung verschiedener Stöcke gebotene Vorteil ist es Ja, durch welchen Anpassung an bestimmte Kreuzungsvermittler der Pflanze nützlich und also auf dem Wege der Naturauslese möglich wird. Selbstverständlich beziehen sich vorstehende Bemerkungen nur auf die von mir beobachteten Arten; es ist ja möglich, daß unsere Art mit doppeltfiederspaltigem Blatt nicht das Philodendron bipinnatifidum ist und dab letzteres in seiner Lebensweise ganz von unseren Arten abweicht. Auch in diesem Falle dürfte jedoch die Schneckenbefruchtung des Phi- lodendron bipinnatifidum durch Warmıng’s, wie mir scheint, völlig zu- treffende Einwendungen mehr als unwahrscheinlich gemacht sein. Blumenau, Februar 1884. Frırz MÜLLER. 142 Wissenschaftliche Rundschau. Das Öffnen und Schliessen der Blütenköpfchen der Butterblume (Taraxacum officinale Web.). Über diesen Vorgang theilt Herr Fr. Brxzcke interessante Beob- achtungen in den Berichten der deutschen botanischen Gesellschaft Bd. II pag. 192—195 mit, aus denen hervorgeht, wie vortrefflich die Einrich- tungen zum Öffnen und Schließen des Köpfchens seine Blüten einerseits vor schlechter Witterung schützen, anderseits bei Sonnenschein rasch zur Entfaltung gelangen lassen. Das Köpfchen von Taraxacum officinale wird im Knospenzustande von einer doppelten Hülle umgeben. Bei seiner weiteren Entwickelung schlagen sich die Blättchen der äußeren -Hülle bald zurück, was auf dem geförderten aktiven Wachstum ihrer Oberseite beruht. Wenn sich beim Aufblühen des Köpfchens die zungenförmigen Blüten nach außen legen, schlagen sich auch die Blätter der Innenhülle zurück, aber ihre Bewegung ist keine aktive, sondern eine passive, indem sie durch die zungenförmigen Blüten eben nach außen zurückgeschlagen werden. Die zungenförmigen Blüten hingegen legen sich wiederum in- folge des geförderten Wachstums ihrer Oberseite nach außen. Abgesehen von den durch Änderung der Wärme, der Feuchtigkeit u. s. w. in analoger Weise vor sich gehenden Bewegungen der Blüten öffnet sich im allgemeinen das Köpfchen von Taraxacum des Morgens und schließt sich des Abends. Beim Schließen des Köpfchens legt sich die Innenhülle wieder über die zurückgegangenen Blüten. Ihre Blättchen waren nur passiv gespannt und begeben sich mit Aufhören der Span- nungsursache in ihre ursprüngliche Lage zurück. Diese Auffassung fand der Verfasser durch anderweitige Beobachtungen bestätigt. So richteten sich stets sofort die Blätter der Innenhülle auf, wenn er mit einer Pinzette die Blüten wegnahm. So sind an halbseitig ge- öffneten Köpfen nur die Blätter der inneren Hülle zurückgebogen, die auf der geöffneten Seite des Köpfchens liegen. Band er des Abends bei geschlossenen Köpfchen die Blüten oben zusammen, so schlug sich die innere Hülle am folgenden Morgen nicht auseinander. Dies zeigt alles, daß beim Öffnen des Köpfchens die innere Hülle, wie gesagt, passiv nach auben gedrängt wird. Dieses verschiedene Verhalten der äußeren und inneren Hülle er- weist sich als eine sehr zweckmäßige Anpassung. Das junge zarte Köpfchen wird von der doppelten Hülle beschützt. Später, wenn das Köpfchen mehr erstarkt ist, schlägt sich die äußere Hülle für immer zurück, wo- durch die sich entfaltenden Blüten einen geringeren Widerstand zu über- winden haben und sich namentlich das Köpfchen nach vorausgegangener ungünstiger Witterung wieder schnell öffnen kann, um seine Blüten rasch trocknen und den Insekten zur Befruchtung darbieten zu können. Die passive Spannung der inneren Hülle bewirkt im Verein mit dem bei un- günstiger Witterung oder in der Dunkelheit geförderten Wachstum der Unterseite der zungenförmigen Blüten das schnelle Schließen des Köpfchens. und den Schutz der von der inneren Hülle umgebenen Blüten, während das bei günstiger Witterung geförderte Wachstum der Oberseite der Blüten, wie eben angeführt, das schnelle Öffnen des Köpfchens bewirkt. Wissenschaftliche Rundschau. 143 Nach eingetretener Befruchtung welken die Blumenkronen, weshalb sich die Blättchen der inneren Hülle denselben anlegen, ohne Widerstand zu finden, und so die jungen heranreifenden Früchtchen schützen. Erst bei der Reife der letzteren werden hauptsächlich durch ein Emporwölben des Blütenbodens die Schuppen der inneren Hülle zurückgeschlagen, so daß die Samen sich frei verbreiten können. Berlin. P. Massts. Geologie. Zur Geologie des Meeresbodens. '! In einem vorläufigen Bericht über seine Untersuchungen der Tief- seebodenproben, welche durch die verschiedenen Expeditionen zur Er- forschung der Tiefsee erhalten worden sind, gibt uns Rexarp in den beiden, zusammen 62 Seiten umfassenden Abhandlungen eine Fülle von wichtigen Thatsachen, die wohl wert sind, auch in weiteren Kreisen be- kannt zu werden. Ausführlicher und mit geologischen Karten der Meeres- gründe versehen, werden diese Untersuchungen in dem Schlußband der Memoiren der Challenger-Expedition erscheinen. Die Bildung der marinen Ablagerungen aller geologischen Perioden fand nahe den Küsten und unter wenig tiefem Wasser statt, demgemäß hat man sich auch fast lediglich mit den Sedimenten beschäftigt, die in der unmittelbaren Nähe der Kontinente sich bilden. Dieselben sind in ihrer Zusammensetzung von der Natur des angrenzenden Festlandes ab- hängig. Das Material, welches die Ablagerungen der Tiefsee zusammen- setzt, ist teils mineralischer, teils organischer Natur. Die mine- ralischen Bestandteile werden im allgemeinen mit der Entfernung von den Küsten immer kleiner. Man findet unter ihnen Fragmente, die sich von Massengesteinen, krystallinischen Schiefern und klastischen Gesteinen aller möglichen Formationen ableiten lassen; man erkennt die Mineralien Quarz, Feldspäte, Hornblende, Augit, Enstatit, Olivin, Glimmer, Magnet- und Titaneisen, Turmalin, Granat, Epidot, und sekundär gebildete Mine- ralien, besonders Zeolithe. Aus ihrer Zersetzung gehen weiter mehr oder weniger amorphe Teilchen hervor. Diese genannten Reste von kontinen- talen Gesteinen werden immer seltener, je mehr man sich von der Küste entfernt, dafür treten Produkte der heutigen Vulkane ein, nämlich Ba- salte, Trachyte, Andesite und deren Gläser, die Obsidiane und lockeren Auswürflinge. Ihre Massen sind durchgängig sehr porös und winzig, dadurch auch leicht durch das Meerwasser angreifbar; infolge davon ıJ. Murray und A. F. Renard: 1. Les caracteres microscopiques des cendres volcaniques et des poussieres cosmiques et leur röle dans les s@diments de mer profonde. 2. Notice sur la classification, le mode de formation et la dis- tribution geographique des sediments de mer profonde. — Bull. Musee roy. d’Hist.. nat. de Belgique. T. III. 1884. 144 Wissenschaftliche Rundschau. sind ganze Stellen bedeckt mit diesen Zersetzungsprodukten, einem Thon mit Mangan- und Eisen-Konkretionen. Weiter finden sich Zeolithe, Glaukonit, Phosphatknollen und Kieselsäure. Endlich kommen dazu noch die Reste von kosmischem Staub, die in der ersten Abhandlung aus- führlicher besprochen sind (s. u.). Die organischen Bestandteile werden von den an der Oberfläche des Ozeans, an den Küsten und am Boden lebenden Tieren und Pflanzen geliefert; ihre aus Kalk oder Kieselsäure gebildeten Schalen, Skelette oder Fragmente fallen schließlich zu Boden. So ist der Kalkschlamm aus den Resten der Coccosphären, Rhabdosphären, Foraminiferen, pela- gischen und Tiefsee-Mollusken, Korallen, Polyzoarien, Echinodermen, Anneliden, Alcyonarien u. s. w., der Kieselschlamm wesentlich aus den Überresten von Diatomeen, Radiolarien und Spongien gebildet. Dagegen finden sich äußerst spärlich Reste von Wirbeltieren, nämlich nur Haifisch- zähne sowie Gehörknöchelchen u. a. von ÜCetaceen, diese ‘allerdings in gewissen Meeresteilen ziemlich häufig. Otolithen von Fischen werden auch öfters getroffen. Die Agentien, welche die pelagischen Sedimente in den tiefen litoralen Zonen wie in den ozeanischen Gebieten zum Absatz bringen, sind die atmosphärischen Strömungen, die fließenden Gewässer und das ozeanische Wasser (z. T. auch schwimmende Eisberge). Die eigentlichen Tiefsee-Sedimente (picht die um die Küsten in geringer Tiefe abgelagerten) können in zwei Gruppen gebracht werden, je nachdem sie sich 1) in dem Tiefwasser der Küstenzone von Konti- nenten oder Inseln und in abgeschlossenen Meeresräumen oder 2) in den eigentlichen abyssalen Regionen der grossen Ozeane ausbreiten. RENARD bezeichnet sie als terrigene und pelagische Sedimente. 1) Von den terrigenen Sedimenten werden folgende beschrieben: Blauer Tiefseeschlamm, »boue bleuätre«. Durch zersetzte orga- nische Substanzen schieferblaugrau gefärbt (oben häufig rötlich), ge- trocknet von grauer Farbe. Er ist nicht plastisch wie Thon, sondern feinkörnig und kann bis 2 cm große Mineralfragmente enthalten, doch sind letztere gewöhnlich nur bis 0,5 mm im Durchmesser. Unter den Mineralien sind abgerollte Quarze am häufigsten, dann kommen Glimmer, Feldspat, Augit, Hornblende u. s. w. Diese Mineralteile bilden den Hauptbestand des blauen Schlammes, zuweilen SO °/o der Gesamtmasse ausmachend. Dazu kommen stets Körner von Glaukonit und zuweilen in ziemlicher Menge organische Kalkteile, doch treten letztere nur in mittleren Tiefen und entfernt von Küsten auf. Daher verschwinden die Kalkteile der pelagischen Organismen immer mehr, je näher den Küsten, während gleichzeitig die Mineralkörner größer werden. Der blaue Schlamm breitet sich in weitem Bogen um die Kontinente und größeren Inseln aus, auch am Grund der mehr oder weniger abgeschlossenen Meere ist er vorhanden. : Grünlicher Schlamm und Sand: Längs den Kontinental- küsten vorkommend, haben sie viel Ähnlichkeit mit dem vorigen; sie bestehen ebenfalls aus Thon und kleinen Mineralkörnern und sind durch ‚die Menge von Glaukonitkörnchen ausgezeichnet, welche auch häufig die Wissenschaftliche Rundschau. 145 Schalen von Foraminiferen u. a. erfüllen. Getrocknet ist der Schlamm licht graugrün und erdig, häufig entwickelt er wie der vorige Schwefel- wasserstoff. j Rötlicher Schlamm (boue rougeätre): An manchen Stellen (z. B. Küste von Brasilien) unterscheiden sich die litoralen Tiefsee- sedimente von dem blauen Schlamm durch einen Gehalt an Eisenocker, der von den Flüssen hergeführt ist; dabei scheint der Glaukonit zu fehlen. Vulkanischer Schlamm und Sand: Rings um Vulkaninseln sind die Sedimente hauptsächlich aus Mineralpartikeln zusammengesetzt, die der Zerstörung von eruptiven Gesteinen entstammen. Sie sind schwarz oder graulichschwarz; meist aus Lapilli (glasig oder krystallin) von ba- sischen oder sauren modernen Vulkangesteinen bestehend und vielfach stark zersetzt. Ihre Mineralien sind entweder isoliert oder meist in Glas eingebettet; es sind Plagioklase, Sanidin, Hornblende, Pyroxen, Glimmer, Peridot, Magnetit. Der gewöhnliche Durchmesser ist etwa 0,5 mm. Glaukonit fehlt, Quarz ebenso oder ist höchst selten. Muschel- fragmente und Steinstücke sind häufig von Mangan überzogen. Durch häufigere Kalkschalen erhält das Material zuweilen eine lichtere Färbung. Korallenschlamm und Sand: häufig fast 95 °/o kohlensauren Kalk enthaltend, der den Resten von Korallen, Kalkalgen, Foraminiferen, Serpula, Mollusken u. s. w. entstammt, findet sich um Koralleninseln und längs der Küsten, die von Korallenriffen begrenzt sind. Immer ist eine ziemliche Menge an amorpher Kreide vorhanden, welche der Ab- lagerung eine gewisse Plastizität erteilt; kieselige Organismen bilden nie mehr als 2 oder 3°/o der Masse. Der Rückstand nach Auflösen in Salzsäure ist eine thonige Masse, in der zuweilen (nahe an Felsküsten) auch reichliche Mineralien außer dem Feldspat vorkommen. In der Zone um die Inseln, die unter 1000 Faden Tiefe erreicht, vermindern sich die Fragmente des Riffes und die Reste der pelagischen Organismen treten an ihre Stelle, schließlich geht das Sediment in roten Thon oder in Globigerinenschlamm über. — 2) Die genannten Sedimente bilden sich in dem tiefen Wasser der Küstenzonen; hier spielen die Gesteine des Festlandes die Hauptrolle. In einer Entfernung von 200 Meilen vom Lande werden die Sedimente charakterisiert durch lockere vulkanische, zum Teil stark zersetzte Massen, denen sich Skelette und Schalen mikroskopischer pelagischer Organismen beigesellen. Je nach dem Vorwiegen der organischen oder unorganischen Substanz lassen sich zwei Gruppen der pelagischen Sedimente unterscheiden. Organischer Schlamm (vases organiques): Als Globige- rinenschlamm wird ein je nach dem Eisen- und Mangangehalt weiß- licher, gelblicher, bräunlicher oder rötlicher, feinkörniger Schlamm be- zeichnet, der 40—95°/o kohlensauren Kalk enthält, bedingt durch die Schalen der Foraminiferengattungen (lobigerina, Orbulina, Pulvinulina, Pullenia ete.. Neben kohlensaurem Kalk enthält er phosphorsauren und schwefelsauren Kalk, kohlensaure Magnesia und Eisen, Oxyde von Eisen und Mangan sowie thonige Masse. Der Rückstand ist bräunlich und besteht fast immer aus braunen Lapillis, Bimssteinstückchen u. a. m. Kosmos 1884, II. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XV). 10 146 Wissenschaftliche Rundschau. Diese mineralischen Teile werden selten größer als 0,08 mm. Fast nie fehlen kieselige Organismen. Pteropodenschlamm: Nur durch die Menge von Pteropoden und Heteropoden (Diacria, Atlanta, Styliola, Carinaria etc.) vom vorigen unterschieden. Dazu eine Menge junger Foraminiferenschalen. Diatomeenschlamm: Von strohgelber Farbe, hauptsächlich (zu 50°/o) aus Diatomeenpanzern zusammengesetzt; getrocknet wie ein gelb- lichweißer Quarzsand, weich anzufühlen. Gewöhnlich mit 25 °/o kohlen- saurem Kalk (Globigerinen u. a. m.). Der weißliche Rückstand ist plastisch, oft mit reichlichen Mineralstückchen, zuweilen von vulkanischem Gestein, meist aber als Zersetzungsrückstand von kontinentalen Gesteinen aufzu- fassen, die mit schwimmendem Eis transportiert wurden. Die amorphe Masse nur aus winzigen Diatomeenresten und thoniger Substanz gebildet. Radiolarienschlamm: In gewissen Regionen nehmen die Ra- diolarien einen bedeutenden Anteil an der Zusammensetzung des Globi- gerinenschlammes, ebenso im Diatomeenschlamm und auch in den terri- genen Sedimenten. Im mittleren pazifischen Ozean bilden sie die Haupt- masse der Tiefseeablagerung, welche durch Eisen- und Manganoxyde rot oder dunkelbraun gefärbt ist. Darinliegende Mineralpartikel sind nur Bimsstein und Lapilli, selten bis 0,07 mm im Durchmesser. In einigen Proben fehlte Kalk, andere hielten bis 20°/o. Thon- und Mineral- bestandteile sind dieselben wie im sog. roten Thon. Der unorganische Tiefseeschlamm wird als roter Thon (argile rouge) bezeichnet. Er hat unter allen marinen Sedimenten der heutigen Ozeane die größte Verbreitung, er ist über alle abyssalen Regionen der ozeanischen Becken ausgebreitet, denn auch der Rückstand der vor- hin bezeichneten Globigerinen-, Pteropoden- u. s. w. Schlamme ist nichts als roter Thon; nur da, wo die terrigenen Mineralien und die Kiesel- und Kalkorganismen vorwiegen, hat er nicht seine eigentliche Ausbildung, er geht seitlich in die anderen Ablagerungen über. Gewöhnlich lassen sich mit bloßem Auge keine Mineralgemengteile erkennen, da die Körn- chen sehr gleichmäßig und klein sind (selten über 0,05 mm, meist nur bis 0,01 mm Durchmesser). Der Thon ist plastisch, schmierig anzufühlen, er trocknet zu einer harten Masse ein, in Wasser blättert er auf. Seine verschieden dunkelbraune Farbe verdankt er den Oxyden von Eisen und Mangan. Es ist kein eigentlicher Thon, da er ziemlich leicht vor dem Lötrohr zu einer schwarzen magnetischen Kugel schmilzt. Zuweilen ist der rote Thon aus winzigen Bimssteinstücken und anderem vulkanischem Material gebildet. Unter dem Mikroskop erkennt man, daß der rote Thon besteht aus thoniger Substanz, sehr kleinen Mineralteilen und Fragmenten von Kieselorganismen — kurz dieselbe Zusammensetzung hat wie der Rückstand des organischen Schlammes. Die Mineralmassen gehören rezentem Vulkangestein und zum Teil auch kosmischem Staub an. Organismen mit Kalkschalen fehlen fast völlig, dagegen sind zahl- reich die Diatomeenpanzer, Reste von Radiolarien und Spongien; auch Gehörknochen von Cetaceen und Haifischzähne finden sich häufig, und zwar oft von Mangan- oder Eisenoxyden überzogen. Die sogen. amor- phen Bestandteile des roten Thones bestehen aus einer farblosen iso- Wissenschaftliche Rundschau. 147 tropen gelatinösen Masse, in welcher die übrigen kleinen Partikel des Sedimentes eingelagert sind. Etwa 50°/o des Thones wird aus den vul- kanischen Mineralmassen und den Kieselorganismen gebildet. Auch Eisen- und Mangankonkretionen finden sich häufig. — Bezüglich ihrer geographischen und bathymetrischen Verbreitung läßt sich sagen, daß die pelagischen Sedimente, die als Sande und Schlammmassen (sables und boues) bezeichnet sind, verschie- dene Tiefen sehr nahe an den Küsten, der organische Schlamm (vase) und rote Thon dagegen die tiefen Regionen der Ozeane einnehmen. In den tro- pischen und subtropischen Zonen findet sich der Pteropodenschlamm nur in Tiefen bis zu 1500 Faden, der Globigerinenschlamm in denselben Zonen in einer Tiefe von 500—2800 Faden; der Radiolarienschlamm nimmt den mittleren Teil der Südsee ein in Tiefen, die über 2500 Faden hinabreichen. In den Südmeeren ist Diatomeenschlamm südlich vom 45. Parallel. Die Regionen des roten Thones liegen zwischen dem 45. Grad N. und S., in Tiefen über 2200 Faden. — So unvollständig auch die bisherigen Resultate sind, so können sie doch wichtige Fragen der Geologie beleuchten. Die dem Festland entstammenden Schuttmassen lagern sich im Meere stets nahe der Küste ab, höchst selten und dann nur in den kleinsten Partikeln werden sie einige Hundert Meilen von der Küste ab fortgezogen. Statt der von Kieseln, größerem und kleinerem klastischem Material zusammengesetzten Schichten, die in dem Aufbau der Länder eine so wichtige Rolle spielen, finden wir in den eigentlichen Tiefen der Meere nur mikroskopische Reste pelagischer Organismen und Zersetzungsmassen vulkanischer Gesteine. Kurz ein auffälliger Unterschied zwischen den Sedimentgesteinen, die ge- wöhnlich die Reihe der geologischen Formationen bilden, und den Ab- sätzen in den Tiefenregionen der Ozeane! Man könnte versucht sein, daraus zu schließen, daß die großen Begrenzungslinien der ozeanischen Becken und der Kontinente schon seit Anfang unserer geologischen Se- dimentformationen gezogen worden sind: eine Bestätigung des Gedankens an die »Permanenz der Kontinente und ÖOzeane«! Auch die Absätze der Ozeantiefen mit ihren Haifischzähnen, Cetaceenknochen (zum Teil schon ausgestorbenen Formen angehörig), Mangankonkretionen und kos- mischem Staub zeugen für ihre langsame Bildung und ihr sehr hohes Alter. Am schnellsten werden die »terrigenen« Sedimente abgelagert, dann der Pteropoden- und Globigerinenschlamm und die übrigen orga- nischen Absätze, während am langsamsten die Bildung des roten Thones vor sich geht. Die Mehrzahl der Sedimente unserer geologischen Formationen (Kreide, Grünsande, Schiefer, Mergel, Sande, Sandsteine, Konglomerate u.a. m.) entspricht einer Bildung analog den Verhältnissen der heutigen »terrigenen« Ablagerungen der randlichen Begrenzungszone der Konti- nente, der flachen Binnenmeere u. s. w., des sogen. »Übergangsgebietes«, dessen Oberfläche etwa ?/s der Erdoberfläche einnimmt. Die Bewohner dieser Übergangszone mußten wegen der hier herrschenden großen Ver- änderlichkeit der äußeren. Verhältnisse auch häufigen gewaltigen Um- formungen unterliegen; die heutigen Bewohner der größten Tiefen, mit 148 Wissenschaftliche Rundschau. ihrem zum Teil antiquierten Habitus, sind als geflüchtete Reste aus oberen Regionen zu betrachten. — In der zuerst genannten Arbeit geht Rexarp speziell auf die pe- lagischen Sedimente ein, welche von vulkanischen Aschen und kosmischem Staub gebildet werden, die eine sehr weite und mächtige Verbreitung besitzen. DBerücksichtigt man die Menge der schwimmenden Bimssteinstücke und ihre leichte Zersetzung, so kann man die Allgemeinheit des Vorkommens von vulkanischen Aschen in den pe- lagischen Niederschlägen leicht verstehen. Allein der letzte Ausbruch des Krakatau hatte z. B. eine schwimmende Barre von Bimsstein geliefert, die 50 km lang, 1 km breit und 3—4 m dick war, entsprechend einer Masse von 150000 000 cbm vulkanischer Auswürflinge ; die gegenseitige Abreibung der Stücke muß eine Masse feinsten Staubes liefern, der all- mählich sich weithin am Meeresgrund ablagert. Hauptsächlich die mikro- skopische Struktur der winzigen glasigen Partikel erlaubt in dem marinen Niederschlag die eruptive Natur der Staubteilchen zu erkennen, während die einzelnen Mineralien meist zu stark zerträmmert und zer- setzt sind. Diese Struktureigentümlichkeit besteht nämlich in einer Un- masse von winzigen, länglichen Luftblasen, welche das Gesteinsglas, den Bimsstein, durchschwärmen; auch im kleinsten Bruchstück läßt sich dies wiedererkennen. In allen untersuchten Tiefseeproben vulkanischer Natur wiegen die von Lufträumen durchzogenen Glaspartikel vor, die anderen Mineralien wechseln je nach den verschiedenen Eruptionsherden. — Eine große Anzahl metallischer, magnetischer Kügelchen, mit ober- flächlicher Oxydationsrinde, häufig charakteristischen rundlichen Ein- drücken, ferner Kügelchen von Chondren, von radialblättrigem Bronzit, 0,2 mm resp. 0,5 mm im Durchmesser, werden endlich mit Sicherheit als kosmische, meteorische Massen erkannt. Rostock. E. GEINITZ. Philosophie. Kant’s Idealismus. Hans VAIHINGER’S neueste Schrift über Kayr! zeichnet sich, abgesehen von dem großartigen Material, das sie in dem verhältnismäßig engen Raum von 78 Seiten zu bewältigen weiß, in zweifacher Beziehung aus: sie ist den traditionellen Auffassungen gegenüber sehr radikal, ohne auch nur, für einen Augenblick die Achtung zu vergessen, die jeder gründliche Denker dem größten Denker aller Zeiten zu zollen hat. VAIHINGER’s Standpunkt ist mit dem einen Satz: >daß die Kritik der reinen Vernunft zugleich das genialste und das widerspruchvollste Werk der gesamten philosophischen Litteratur ist,« (S. 135) vollständig gekenn- ! Unter dem Titel: Kant’s Widerlegung des Idealismus, — hat Hans Vaihinger in den „Straßburger Abhandlungen zur Philosophie, Festschrift zum 70. Geburtstage Zeller's, Freiburg i. B., Siebeck 1884,“ das Verhalten Kant's zum Idealismus einer neuen Beleuchtung unterzogen. Wissenschaftliche Rundschau. 149 zeichnet. Uns bietet die Besprechung dieser Schrift eine sehr erwünschte Gelegenheit, unsere Stellung zu Kanr noch einmal darzulegen: unsere Auffassung wird durch Vaınıneer’s Seistvolle Ausführungen geklärt, aber in einer Weise, welche ihr zur Bekräftigung wird. VAIHINGER beginnt mit einer geschichtlichen Zergliederung des Idealismus und zeigt in knappster Kürze, wodurch der tran- scendentale Idealismus Kanr’s einerseits vom problematischen oder skeptischen Idealismus eines CARTESIUS, MALEBRANCHE und Locke, anderseits vom dogmatischen Idealismus CorLiEr’s und BERKELEY’s sich unterscheidet. Alle Idealisten, welche die Wirklichkeit der Außenwelt bestreiten oder wenigstens bezweifeln, hat Kant selbst als die echten bezeichnet, gegen jede Verwechselung seiner Lehre mit der ihrigen auf das Entschiedenste sich verwahrend. Schon der Umstand, daß die unerbittliche Logik Humr’s, welche nicht nur die Wirklichkeit des Vorgestellten, sondern auch die Wirklichkeit des Vorstellenden in Zweifel zog, ihn, wie er selbst sich ausgedrückt, aus dem dogmatischen Schlummer erweckt hat, verbürgt zur Genüge, daß er schon in der ersten Auflage der Kritik den echten Idealismus nicht mehr vertrat. Daß er aber einmal gläubig und von ganzem Herzen gläubig gewesen war, hatte eine tiefe Spur in seinem Geiste zurückgelassen und ein zeit- weiliges Trüben seiner Entschiedenheit zur Folge, die Hauptursache, daß seine Widerlegung des Idealismus in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft mißverstanden werden konnte. Darüber entrüstet, nahm er in der zweiten Auflage die vielbesprochenen Abänderungen vor, welche aber zu neuen Mißverständnissen Anlal gaben. Charakteristisch für die Weise, in welcher seine Fehler ausgebeutet wurden, ist es, dab selbst sein ausdrücklicher Protest gegen gewisse Mißdeutungen erfolglos blieb. Der damals entbrannte Kampf lodert heute noch fort, und die vorliegende Schrift deckt mit echt wissenschaftlicher Unnachsichtigkeit die Blößen auf, die ihn begründen. Es hat schon A. Rıeuu (Der philosophische Kritizismus, Leipzig 1876, Band I, S. 392—401) bis zur vollsten Evidenz nachgewiesen, daß der Realismus, den in erster Linie SCHOPENHAUER der zweiten Auflage zum Vorwurf macht, bereits in der ersten Auflage enthalten ist; und mit einer Entschiedenheit, die nichts zu wünschen übrig läßt, wird hier der »Nim- bus«, den SCHOPENHAUER um die erste Auflage verbreitet hat, als ein- gebildet dargethan. Mit VAınınger’s Worten: »Der Unterschied besteht nur darin, dab Kant in der zweiten Auflage die, wie wir sie jetzt nennen wollen, realistische Seite seiner Lehre — Realismus hier genau im Sinne der Anerkennung einer von der Anschauung unabhängigen Aubenwelt im Raume — ausdrücklich und stärker hervorkehrte aus Rücksicht auf die geschehenen Angriffe. Aber ein absolut neues Element führte er damit in seinen Kritizismus nicht ein; er ließ nur ein schon vorhandenes sehr viel mehr hervortreten (S. 136).« — Der Ausdruck »von der Anschauung unabhängige Außenwelt im Raum« geht unserer Ansicht nach über die Lehre Kasr’s hinaus; doch davon später. — Auf der folgenden Seite ‚wird sogar hervorgehoben, daß gerade jener Abschnitt der ersten Auflage, welchen ScHorENHAUFR seiner besondern Klarheit wegen rühmt, 150 Wissenschaftliche Rundschau. denselben schreienden Widerspruch, der eben das ganze Werk durch- zieht, nicht weniger in sich enthält. Daß ScHoOPENHAUER, der auf »intuitivem Wege« den Willen als das »Ding an sich« entdeckt hatte und allein den Willen als die Wirk- lichkeit der vorgestellten Welt gelten lassen konnte, Kanr als echten Idealisten haben mußte, wenn er überhaupt auf ihn sich stützen wollte, ist sonnenklar. Nicht so klar ist das Verhalten jener, die durch den schwierigen Denkprozeß, welchem Kant, »den Gedanken frei walten lassend,« sich unterzogen hat, zu einem Einblick in diesen tiefsten Schacht des menschlichen Erkennens gelangt sind und nun vom Meister nur mehr mit Geringschätzung reden können, als von einem, der den Wider- spruch absichtlich nicht behoben habe, sei es dann, um die Menschheit einfach im Dunkeln zu lassen, oder gar um in die alte Metaphysik sie zurückzudrängen. Um so erhebender ist die Entschiedenheit, mit der VAIHINGER für den alten Königsberger eintritt: »Es wäre ebenso eine sachliche Unrichtigkeit als eine Impietät gegen den großen Mann, dem wir alle huldigen, weil wir ihm alle unser Bestes schuldig sind, diesen Widerspruch Kanr’s wie die vielen andern klaffenden Widersprüche seines Systems überhaupt dazu zu benutzen, um den Mann herabzusetzen. Im Gegenteil, diese Widersprüche gereichen Kayr meiner Meinung nach sogar zur Ehre. Denn sie sind der Ausdruck der widersprechenden historischen Richtungen, welche er vorfand und deren Einseitigkeiten er zu überwinden strebte; sie sind also der Ausdruck des Ernstes, mit dem Kant die vor- handenen Gegensätze erfaßte und mit dem er den Fehler vermeiden wollte, der in der einseitigen Vertretung einer Richtung gelegen wäre; sie sind, da jene von ihm vereinigten historischen Richtungen Ausprägungen der in der Natur des Gegebenen selbst liegenden Veranlassungen sind, in letzter Linie der Ausdruck der Widersprüche, in welche das menschliche Denken überhaupt, wie es scheint, notwendig gerät« (S. 138). Es darf nicht übersehen werden, daß zur Zeit Kayr’s die Schöpfung ohne Gott etwas war, das man kaum ernst denken, weil durchaus nicht sich vorstellen konnte. Man konnte zwar mit Hums den Gottesbegriff als widersinnig erfassen, aber nur um vor einem womöglich noch größeren Widersinn zu stehen bei der Beantwortung der Frage nach einer aus sich selbst entstandenen Welt. Hätte damals die Naturwissenschaft den heutigen Standpunkt eingenommen, wäre mit der Evolutionslehre der Weg erschlossen gewesen, der zur dysteleologischen Weltanschauung führt: Kant würde sicherlich sein Noumen haben fallen lassen und mit ihm alle Zweideutigkeiten, welche in der Natur der zu seiner Zeit allein möglichen Erklärung lagen. Kanr’s Begriff des immanenten Transcen- dentalen ist ganz unverfänglich, solang es sich um Raum, Zeit, Kausalität, die Kategorien handelt. Sobald man aber von einem transcendentalen Subjekt, Ich, Bewußtsein spricht, läuft man Gefahr, das Subjekt, das Ich, das Bewußtsein als etwas für sich Seiendes auszugeben, das Wirk- lichkeit hat auch außerhalb der Sinnenwelt, und verfällt in den Idealismus, von welchem Kanr selbst sagt: »er hat jederzeit eine schwärmerische Ab- sicht, und kann keine andere haben.« Unserer Überzeugung nach darf Kant, dessen ganzes Streben nach Wissenschaftliche Rundschau. 151 vorwärts rang, nur nach dieser Richtung interpretiert werden. Daß er Anhaltspunkte genug bietet für eine schwärmerische Interpretation, die zum Idealismus, zur alten Metaphysik, ja selbst zur Mystik zurückführt, ist unbestreitbar, ist, wir geben es zu, eine mehr als dunkle Seite am Wirken dieses Riesengeistes. Allein der darauf sich stützt, stützt sich auf Kanr’s totes Wort, nicht auf dessen lebendigen Sinn; und wird er auch damit zufällig einer mächtigen Strömung der Zeit gerecht, für die Zukunft des Wissens arbeitet er nicht. Es ist als ob die Ähnlichkeit des Lautes manche verführen würde, dem Transcendentalen einen tran- scendenten Beigeschmack zu geben. Würde stets anstatt von einem transcendentalen Ich, transcendentalen Subjekt, transcendentalen Be- wußtsein, von einem kritischen, kritisch aufgefaßten Ich, Subjekt, Bewußtsein gesprochen: die fatalsten Mißverständnisse wären leicht hint- anzuhalten. Kant selbst nennt den transcendentalen Idealismus den kritischen Idealismus; und daß VaıninGer (S. 149) zugibt, Kant habe den Unterschied zwischen einem empirischen und einem tran- scendentalen Ich nicht genug hervorgehoben, beweist uns nur, daß er vom transcendentalen Ich nichts auszusagen wußte. Wenn VAIHINGER sagt, daß das menschliche Denken überhaupt notwendig in Widersprüche zu geraten scheint, so gehen wir weiter und sagen, daß es nicht bloß so scheint, daß es so ist, sobald wir nach einer absoluten Wahrheit streben. Allein nach dieser haben wir nicht zu streben, sondern mit den positiven Wahrheiten uns zu be- scheiden, die für den Menschen unumstößlich sind und, solang es Menschen gibt, unumstößlich für sie bleiben. Für die heutige Wissen- schaft ist das »Intelligible« Kanr’s nicht mehr intelligibel — um ganz verständlich zu reden, es ist unverständlich geworden. Das Ansich der Dinge fällt ganz mit dem Begriff der Stofflichkeit zusammen; und ist auch unser Ich in erster Linie etwas Reflektiertes, eine in der Zentralisierung eines bestimmten Organismus vor sich gehende Spiegelung ; so ist in letzter Linie sein Ansich doch identisch mit dem An- sich aller Dinge. Es findet dabei nur eine kompliziertere Ver- mittelung statt wie bei der sogenannten inneren Wahrnehmung, die darum doch nicht wesentlich von der äußern Wahrnehmung sich unter- scheidet. Auch bei einzelnen Sinnen ist die Vermittelung eine kompliziertere denn bei anderen; aber darum beruht doch bei allen die Wahrnehmung auf Empfindung und ist sonach auch die innere Wahrnehmung — alle Sinne sind nur Entwickelungen einer Empfindungsfähigkeit — schließlich nichts als Empfindung. Der Idealismus BErKELEY’s leugnet die Stoff- lichkeit dieser Empfindung, um die gesamte Empfindung einem geistigen Vermögen Gottes zuzuschreiben; und ein noch echterer Idealismus macht auch durch die Geisterwelt BERKELEY's einen Strich. Wohin dieser letztere, jedes Haltes beraubt, gelangt, haben wir in dem Kapitel: Ideo- logismus und Idealismus, nachzuweisen versucht. Das entgegengesetzte Extrem ist der naive oder echte Materialismus, welcher — wie BERKELEY dem Geiste — willkürlich der Materie bestimmte Vermögen zuschreibt und zu erklären meint, indem er die Erklärung umgeht. Die richtige Mitte zwischen den zwei Extremen hält der Realidealismus 152 Wissenschaftliche Rundschau. ein, der weder die uns umgebende Welt als unsere bloße Vorstellung betrachtet, noch von ihr meint, sie sei in Wirklichkeit das, als was sie uns erscheint, sondern vielmehr sie erkennt als das Produkt ihres Ansichseins und unserer Auffassung oder Organisierung. Hiermit befinden wir uns aber bei einem Punkte der vorliegenden Schrift, der, wenn wir nicht sehr irren, gar wenig geeignet ist, den kritischen Idealismus ins rechte Licht zu setzen. Es handelt sich nur um ein ganz kleines Wort, um das Wort >sie<; allein dieses ganz kleine Wort legt in der ihm gegebenen Verbindung den Accent auf das Schlußergebnis der ganzen Abhandlung. Auf den letzten Seiten werden die Hauptergebnisse in drei Thesen zusammengefaßt, und da heißt es in der zweiten These — die dritte ist dann deren notwendige Konsequenz — von den, beide Auflagen der Kritik durchziehenden und einander widersprechenden Auffassungen des Verhältnisses zwischen der materiellen Außenwelt und unsern Vorstellungen: »nach der einen ist dieKörperwelt bloße Vorstellung, nach der andern ist sie etwas von.der empirischen Vorstellung Unabhängiges« (S. 164). Dieses »sie« steht für »die Körperwelt« und versetzt uns mitten in den unlösbaren Widerspruch, in welchem der echte Idealismus und der echte Materialismus zu einander sich befinden. Wie groß auch die Verwirrung sein mag, die Kaxr’s Anwendung der Ausdrücke transcendental und empirisch veranlaßt: mehr als eine der Er- scheinungswelt zum Grunde liegende Stofflichkeit hat Kant nie an- genommen, nie hat er der Körperwelt Wirklichkeit zugesprochen. Gewiß hat Kant Jacopı sehr nahe gestanden; aber wenn VAIHINGER sagt: »Da bei Jacosı Körper und Dinge an sich verwechselt werden, so kann auch bei Kant diese Verwechselung vorliegen« (S. 152), so können wir darauf nur antworten: man kann, aber man muß nicht diese Konsequenz ziehen. Fassen wir den ganzen Kanr zusammen, so hätte unserer Ansicht nach der zweite Teil jenes Satzes zu lauten: nach der andern liegt der Körperwelt etwas von der empirischen Vorstellung Unabhängiges zum Grunde. Am liebsten würden wir das »empirisch« weglassen, weil durch das Fehlen eines Epithetons vor dem Worte Vor- stellung im ersten Teil des Satzes die These unklar wird; aber die Hauptsache ist, daß die Körperwelt, welche nach KAnr nur als Erscheinung gedacht werden darf, durch diese Auffassung ihrer Unabhängigkeit von unserer Vorstellung zu etwas Wirklichem würde, sonach thatsächlich das wäre, als was sie uns erscheint. Damit wären wir aber beim naiven Materialismus angelangt, den Kawr mit keinem Worte je vertreten hat; und jedem, der zu diesem nicht sich bekennen könnte, bliebe nach einem sorgfältigen Studium KAnr’s nichts übrig, als mit dem bodenlosen Idealismus, d. i. mit dem Solipsimus oder Egoismus es zu versuchen, dessen Be- kenner übrigens VATHINGER selbst (S. 93) in das Gebiet des Mythus ver- weist, und, da es mit diesem Idealismus schon gar nicht geht, den ganzen Kritizismus aufzugeben. Was wäre auch ein Kritizismus wert, für den die Körperwelt nicht als das Produkt ihres Ansichseins und unserer Organisation, sondern als etwas an und für sich Existierendes sich heraus- stellte, das unsere Sinne affıziert? Das wäre allerdings »ein Selbstwider- Wissenschaftliche Rundschau. 153 spruch in dem Kanr’schen Systeme, der dasselbe von innen heraus zerstört« (S. 164). { Soweit vermögen wir aber dem geehrten Verfasser nicht zu folgen. Läge dieser Widerspruch in Kanr’s Kritizismus, dann wäre er schon längst zerstört. Der Körperwelt hat Kant nie Wirklichkeit zugesprochen und nur die Annahme von etwas ihrem Erscheinen zum Grunde Liegen- dem als unabweislich anerkannt. Damit steht es aber in keinem unlös- baren Widerspruch, wenn er sagt, daß mit der Wegnahme des denkenden Subjekts »die ganze Körperwelt« fallen müßte; denn die ganze Er- scheinungswelt, insoweit sie Körperwelt ist, d. h. insoweit sie als eine räumliche, zeitliche u. s. w. die Schöpfung unseres Empfindens, das Objekt eines bestimmten Subjekts ist, müßte fallen mit dem Fallen des Subjekts. Gewiß ist unsere Empfindung subjektiv; aber damit unser Empfinden sich entwickle, mußte etwas da sein, woraus es sich entwickelte, wie zum Anregen unseres Empfindens etwas da sein muß, das es anregt. Über dieses Ansichseiende kann kein wie immer organisiertes Wesen etwas Näheres wissen, weil jedes davon nur das wahrnimmt, was es selbst sich daraus schafft. Wahrnehmen könnte es höchstens ein nichtorganisiertes Wesen, und es ist Geschmackssache, einem solchen Wesen die Fähigkeit des Wahrnehmens anzumuten. Dagegen folgen wir einer unerbittlichen Denknotwendigkeit, wenn wir sagen: was da war, als es z. B. noch kein Auge gab, um es zu sehen, wird noch da sein, wann längst kein Auge mehr das empfindet, was wir Licht nennen. Und um auf Kar zurück- zukommen: Eines ist es, daß Kar den Widerspruch, der aus der Zu- sammenstellung mancher seiner Sätze sich ergibt, nicht vollständig behoben hat, ein anderes, daß dieser Widerspruch auf Grund der fundamentalen Positionen Kaxr’s überhaupt nicht zu lösen sei. Letzteres könnte nur der Fall sein, wenn der Realidealismus, welcher, von der einen Seite betrachtet, kritischer Idealismus, von der anderen, kritischer Realismus ist, mit den fundamentalen Positionen Kanr’s unvereinbar wäre; und das ist er nicht. Kanr’s kritischer Idealismus ist Realidealismus. Wir können von der vorliegenden Schrift nicht scheiden, ohne auf die neue Seite hinzuweisen, die VaısıngGer dem Verhältnis Kanr's zu Leisenız abgewinnt und die auf beide ein ganz interessantes Licht wirft; dann auf die Unterscheidung, nach welcher Kaxr’s Widerlegung des Idealismus direkt CArrtesıvs und nur indirekt BERKELEY traf; endlich auf die scharfe Charakterisierung der Anschauungen Kuno Fıscuer’s und Jacor’s sowie des Streites zwischen dem erstern und E. Arnorpr. Das Hervorgehen der Ficurr’schen Philosophie aus der Kanr'schen Lehre wird am Schluß in wenigen Worten klargelegt und bietet uns das prägnanteste Beispiel der Richtung, in die man notwendig gerät, wenn man das Tran- scendentale als etwas für sich Existierendes und nicht als rein im- manent, daher — wie Fıcute — als »überindividuell< betrachtet. Diese Richtung führt zur Metaphysik in der Bedeutung des Übersinn- lichen, d.h. nicht von Kar nach vorwärts, sondern von Kar ab und nach rückwärts. Fıcahtz hat eben Kanr’s Auffassung auf die Spitze ge- trieben. Daß wir bei Kant nicht stehen bleiben können — die Folgen seiner Widersprüche treten am ernstesten in seiner Ethik hervor — ist 154 Litteratur und Kritik. uns längst klar; aber nicht weniger klar ist es uns, daß alle Erkenntnis- theorie von seiner Lehre auszugehen hat und daß diese in fruchtbarer Weisenur fortschrittlich weiterentwickelt werden kann. In dieser Über- zeugung hat die vorliegende Schrift uns nur bestärkt. Weil wir ihren Schlußfolgerungen nicht zustimmen können, legen wir sie nicht weniger dankbar aus der Hand, und empfehlen sie vielmehr aufs wärmste allen, die mit dem Studium Kanr’s sich beschäftigen. Nur aus dem Kampfe widerstreitender Ansichten, welche der Sache auf den Grund gehen, kann fördernde Klärung sich ergeben. Graz, 5. Juni 1884. B. CARNERI. Litteratur und Kritik. Die Metalle bei den Naturvölkern, mit Berücksichtigung prä- historischer Verhältnisse, von RıcHArp ANDREE. Leipzig, Veit & Co. 1884. 166 S. 8° u. 57 Abbild. im Text. Bei Beurteilung der ethnologischen Verhältnisse der Gegenwart und Vergangenheit ist seit einem Jahrzehnt die Frage nach dem Material der Werkzeuge in den Vordergrund getreten. Und ohne Zweifel ist die Beantwortung der Frage, ob der Mensch Waffen und Instrumente nur von Holz oder Stein oder von Metall für seinen Gebrauch zubereitet, „von großer Wichtigkeit für die Bestimmung des Kulturgrades desselben. Nun hat man selbst von berufener Seite einerseits der Entscheidung der- selben ein allzu hohes Gewicht als Kulturmesser beigelegt, ander- seits verschiedene Stadien des Übergangs vom Stein- zum Metallgebrauch außer acht gelassen. Als ein solches hat man erst neuerdings die Ver- wendung des Kupfers in kaltem Zustande zu Artefakten erkannt, und zu den bisherigen Perioden der Stein-, Bronze-, Eisenzeit ist auf Grund der Kupfergeräte eine Kupferzeit gekommen. Die Erkenntnis aber, wie diese künstlich geschaffenen Perioden in einander übergehen, wie die metalllose Zeit in die Metallzeit hinüberspielt, kann der Kulturhistoriker und der Archäologe nur gewinnen aus der Betrachtung der einschlägigen Zustände bei den jetzt noch nach Art der Urvölker lebenden Naturvölkern. Und so kommt die Zusammenstellung des bekannten Ethnologen R. Anprer in obiger Schrift einem wirklichen Bedürfnisse der kulturellen Forschung entgegen und wirft von der Gegen- wart aus Licht auf das Werden in der Vergangenheit. Nur auf Grund des Vergleiches von Thatsachen der Gegenwart kann die Zwangsjacke der Stein-, Bronze-, Eisenzeit abgeworfen werden, nur auf Grund der Prüfung der einzelnen »Metallreiche« können die beliebten Entlehnungstheorien der Metallkenntnis nach ihrem Werte geschätzt und einer unabhängigeren Ansicht von der Entstehung und Verbreitung metallurgischer Kenntnisse Litteratur und Kritik. 155 der Weg gebahnt werden. Nur auf diesem Wege endlich wird eine richtigere Wertschätzung technischer Kenntnisse für die Beurteilung einer Gesamtkultur die bisherige einseitige Materialtheorie ver- drängen beziehungsweise korrigieren können. ANDREE geht aus von der Darstellung des Eisens in Afrika, be- sonders in Ägypten, dessen Bewohner bereits unter Rauses III. mit dem Eisen = men bekannt waren. Die Funde von Steinwerkzeugen in ganz Afrika beweisen jedoch, daß auch die Urbewohner dieses Erdteiles ihre metalllose Zeit durchgemacht haben. Die Kenntnis der Eisengewinn- ung rückte in Afrika von Nordosten nach Süden und Westen vor und folgte ohne Zwischenperiode der Steinzeit. Im Barilande, bei den Djmr, den Bongos, den Monbuttus, im ganzen Kongobecken, in West- und Ostafrika findet sich eine ausgedehnte Eisenindustrie und Ausübung der Schmiedekunst. Das Rohmaterial, Brauneisensteine, liegt überall zur Hand und das scheint uns bei der Würdigung dieser überraschenden Thatsache der Kardinalpunkt zu sein. Die leichtflüssigen Erze werden einfach durch Kohlen oder gar durch Holz in zuckerhutförmigen Öfen oder Erdgruben reduziert. Das gewonnene Eisen wird sofort von den Schmieden, welche vielfach eine eigene Klasse bilden, durch Hämmern verarbeitet. An europäischen Parallelen bietet sich die alte Luppenfrischerei und Stückofen- arbeit, wie Reste derselben in Steiermark von Graf WURMBRAND, in der Pfalz bei Eisenberg von dem Verfasser, in Böhmen bei Brünn von Dr. Wanken aufgedeckt wurden. Überall war in Europa in prähistorischer Zeit die. Eisendarstellung ein Handwerk, keine Fabrikation, gerade so wie jetzt noch bei den Negern. — Kupfer kommt in Afrika seltener vor, besonders im Süden von Darfur, in Katanga, am Binue und im Klein-Namaqualand. Kupfer- und Messingringe dienen in ganz Afrika als Zierrat und die Kupfer- barren werden durch Handelsleute weit vertrieben. Die Bronze kommt von Ägypten und ist in Afrika erst bis zum 10° n. Br. vorgedrungen. AnDREE schließt aus dem Handwerksbetriebe, dem Schmieden, Gießen und Drahtziehen von Eisen und Kupfer auf eine gleichalterige Entstehung der Eisen- und Kupfergewinnung; urwüchsiger jedoch erscheint noch das Eisen, weil es in geringerem Maße Handels- gegenstand als Kupfer ist. In Vorderindien dagegen tritt uns eher Kupfer als Bronze bei Gebrauchsgegenständen entgegen und zahlreich sind die primitiven Kupferbergwerke und Kupferschmelzöfen, welche von Ein- gebornen betrieben werden. Auch die einheimische Eisenfabrikation Indiens ist stark und selbst halbwilde Bergstämme des Dekan gewinnen in roher Form ihren Bedarf an Schmiedeeisen. Allein die Prioritätsfrage des Eisens oder Kupfers ist für Vorderindien schwer zu lösen bei dem starken Wechsel der Volksstämme und dem Mangel an gesichertem archäologischem Material. Max MÜLLER ist aus sprachlichen Gründen (ayar ursprünglich —= Kupfer?) für die Priorität des Kupfers, auch C. SCHRADER bekennt sich zu dieser Ansicht (vergl. Sprachvergleichung und Urgeschichte S. 266—284). Das Eisen läßt sich für Vorder- 156 Litteratur und Kritik. indien jedoch schon gegen den Ausgang der vedischen Periode nach- weisen und die Priorität des Kupfers stützt sich bis jetzt auf magere Besitztitel. — Auch die Malaien sind, wie AnprEeE des weiteren nachweist, schon seit sehr alter Zeit mit der Eisenschmelzung vertraut und vortreffliche Metallarbeiter. Im malaiischen Archipel war Eisen früher bekannt und gebraucht als Bronze. Schon auf den alten Ruinen von Suku auf Java wurden die Gebläse der Malaien so dargestellt, wie sie jetzt noch im Gebrauche dort sind. Auf Malakka und Sumatra deuten die Traditionen dieser Stämme, und letzteres Land ist reich an Eisen- erzen und alten Schmelzstätten. Für Kupfer haben die Malaien ein aus dem Sanskrit stammendes Wort tambaga (daher »Tombak«) — »dunkles Metall«, und die Kunst, Kupfer zu schmelzen und zu gießen, scheint dorthin aus Vorderindien gelangt zu sein. Auf Zinn — Limah findet in Hinterindien ein alter und intensiver Betrieb statt. Da Zinn wegen seiner Leichtschmelzbarkeit am leichtesten von allen Metallen zu reduzieren ist, so mag der Zufall dort als Lehrmeister gedient haben, wie so manchmal in der Metallurgie. Auch auf der Insel Bangka haben schon vor den Chinesen die Eingebornen Zinngruben betrieben. — Nach Anprer’s Darstellung war man in Indo-China bereits im Besitze des Kupfers und der Bronze, als man in Kambodscha sich noch mit Steinwerkzeugen behalf. Doch gewinnen Jetzt die wilden Völker Kambodschas aus einem reichen Eisenoxydul in primitiven Schmelzöfen Eisen. In China war seit alters die Bronze- industrie hoch entwickelt. PrrrzmAyEr spricht sich hier für die Priorität von Kupfer und Bronze vor dem Eisen aus. — Japan’s prähistorische Verhältnisse ähneln sehr denen Europas; es finden sich dort Tumuli und Steingräber, Kjökkenmöddinger und polierte Stein- geräte neben bloß behauenen, Knochen- und Horngeräte. Für Steinwaffen gebrauchen sie selbst das gleiche Wort: rai fu seki —= Donnerkeile. Bergbau und Hüttenwesen sind heute in Japan hoch entwickelt, jedoch noch vor zwei Jahrhunderten war Kupfer das gewöhnlichste aller Metalle und Eisen mit Kupfer im gleichen Preise. Eine Kupfer- zeit mag man für Japan annehmen, eine Bronzezeit hat es hier nie gegeben. China und Japan bilden in der Metalltechnik ein eigenes Reich für sich, dessen Ausstrahlungen nach Nordwesten und Norden weit zu barbarischen Stämmen gereicht haben, bis die Europäer ihren Metall- produkten Abgang verschafft haben. — An der Lena trieben vor An- kunft der Russen die Jakuten, türkischen Stammes, eine primitive Eisenverhüttung und Eisenindustrie, während die übrigen Stämme Sibi- riens noch in der Steinzeit standen. Ein wichtiger Abschnitt (S. 118 bis 127) handelt vom Bergbau der alten Tschuden, deren Bergbau und Gräber vom Ural bis zum Altai reichen. Sie schürften auf Kupfer und verwandten Kupfergeräte, das Eisen scheint ihnen unbekannt gewesen zu sein. Auch die älteste Schmiedekunst der Finnen am Ural bezog sich nur auf Kupfer; die Bezeichnung für Eisen erhielten sie erst von indogermanischen Völkern. Jene alten Metallurgen waren höchst- wahrscheinlich finnischen Stammes. Die reichen Bronzefunde in den Litteratur und Kritik. 157 Gräbern (Kurganen) am oberen Jenisei weisen nach dem Süden, nach der Mongolei und nach China als .ihrer Quelle hin; die älteren Grab- stätten daselbst enthalten nur Kupfergeräte autochthonen Ursprungs. Am Jenisei wohnte demnach gleichfalls niemals ein metallkundiges Volk; nach Raptor wahrscheinlich türkischen Stammes. Auch bei den Turko- tataren können wir weder sprachlich noch archäologisch ein Stein-, Bronze- und Eisenalter nachweisen; auch hier ist das im Boden lagernde Metall, Kupfer, entscheidend für die Priorität des Metallbetriebes ge- wesen. — Der nächste Abschnitt ist Amerika und seinen vorhistorischen Metallverhältnissen gewidmet. Bekanntlich war Eisen im vorcolum- bischen Amerika unbekannt. Die Eskimos verwandten Meteoreisen in kaltem Zustande genau so wie Stein zur Schärfung von Harpunen und Messern. Nordwestamerika erhielt das Eisen zuerst von ja- panischen Schiffbrüchigen, später, seit dem vorigen Jahrhundert, von den Russen; Südkalifornien dagegen bekam das erste Eisen im 16. Jahrhundert aus dem spanischen Kulturkreise. Die Ausbreitung der Kenntnis des Eisens geht Hand in Hand mit der Entdeckungs- geschichte von Amerika. Dagegen gab es vor der Ausbreitung der Weißen in Nordamerika mehrere ausgiebige Zentren für die Verbreitung des Kupfers und von Kupfergeräten. Noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts gebrauchten die Indianer am Churchillflusse kein an- deres Metall als Kupfer. Am bekanntesten sind die ausgedehnten Kupferbergwerke vom Oberen See, welche Ingenieur Knarr 1847 neu entdeckt hat. Den rohen Bergbau betrieben hier die Vorfahren der heutigen Indianer mit Tagbau und Steinschlägeln. Auch die nur kalt- gehämmerten Kupfergeräte der Mounds stammen vom Oberen See. Bis zu den Golfstaaten und bis zum Mississippi reicht das Verbreitungs- gebiet dieser vom Norden kommenden Kupferwaren. Im Innern des Landes sind es meist Werkzeuge und Waffen, an der Peripherie Schmuckgegenstände, ein ähnliches Verhältnis wie bei der Ver- breitung der Bronzen in Mitteleuropa. Im alten Mexiko verwandte man, wie in Peru, Kupfer und Bronze zu Ackergeräten, Waffen und Schmuckzeug. Die Metallkunst stand in diesen amerikanischen Kulturreichen in hoher Blüte und Aus- bildung. Mit gehärteten Kupferbeilen fällten die Mexikaner selbst Bäume. Nach der Ankunft der Spanier und der Einführung des Eisens wurde leider die heimische Metallindustrie in Mittelamerika schnell vernichtet; auch über den alten Bergbau sind wir wenig unterrichtet. Mit Bronzewerkzeugen errichteten die Inkas ihre kunstvollen Tempel- bauten; doch sind die Bronzereiche von Mexiko und Peru von einander unabhängig, wie die Analyse der Bronzen beweist. In der Mitte zwi- schen beiden auf der Hochebene von Bogota und Tunja bestand ein drittes Kulturreich, das der Chibchas, welche besonders die Ausbeute des Goldes zu Schmucksachen betrieben. Den Schluß der überall mit den Quellen belegten Darstellung bildet die Verbreitung des Eisens über die Südseeinseln. Das »hierro« der Spanier wurde auf den Tahiti- inseln zu »yurie. Cook führte 1773 das Eisen auf Neuseeland ein. Muschelschalen und Steine bildeten vorher ihr Material für Waffen und 158 Litteratur und Kritik. Werkzeug. Neuguinea ist das letzte Land der Erde, welches in unserer Zeit mit dem Eisen bekannt wurde. Jetzt hat dieser Lehrmeister der Völker seinen Weg um den Globus vollendet. Wie die Indianer Nord- amerikas behandelten die Südseeinsulaner das Eisen nach Art ihrer alten Steingeräte und gaben ihm die nämliche Form und die nämliche Ver- bindung mit dem Stiel. Bekanntlich sehen wir solche Imitationsmethode auch bei den Hallstatter Eisenwaffen, den Bronzebeilen der alpinen Pfahlbauten — ja. in der Gegenwart! — in der Form der nach römischem Muster stilisierten Eisengeräte im Taunus angewandt. Der Stoff wechselt, die Form und der Stil wird oft noch lange beibehalten. Auch das sind Übergangs- erscheinungen, Überbleibsel eines formalen Trägheitsgesetzes! — Be- sonders befruchtend wirkt die Lektüre der an Einzelthatsachen und passenden Perspektiven reichen Schrift auf die Würdigung archaisti- scher und prähistorischer Verhältnisse. Der Grundgedanke geht wie ein roter Faden hindurch, daß das Material der Werkzeuge in pri- mitiven Verhältnissen abhängig erscheint von den Bodenerzeugnissen und dem Handelsverkehr, daß die Kenntnis der Nutzmetalle, Kupfer, Bronze, Eisen, nicht von einem Punkte ausgehen kann, sondern ab- hängig von gewissen Bodengesetzen und geographischen Verhältnissen blieb, bis die Neuzeit mit Dampf und Eisen die ganze Erde bekannt gemacht hat. Einer korrekteren Beurteilung vorgeschichtlicher Verhältnisse mit. bezug auf die Metallverwendung leistet ohne Zweifel Anprer’s Arbeit kräftigen Vorschub. Sei dies Opus deshalb allen Forschern auf dem Gebiete der Urgeschichte, der Ethnologie und der Technik warm em- pfohlen und möge es dazu beitragen, eingerostete Vorurteile und vor- gefaßte Meinungen in Schrift und Wort aufzuheben und zu ver- bessern. Gerade in der prähistorischen Archäologie hat die zu bald popularisierte praktische Anwendung einseitiger Hypothesen zu einer solchen Eingenommenheit des Urteils geführt, daß eine Remedur solcher landläufiger Schlagwörter nur durch die Kenntnisnahme von dem Inhalt einer solchen quellenmäßigen Darstellung angebahnt werden kann, wie sie dem unabhängigen Forschersinn R. Anprer’s libellus aureus darbietet. Dürkheim, im Juni. Dr. C. Menuıs. Hermann Müller von Lippstadt. Ein Gedenkblatt von Ernst KRAUSE. Nebst einem Porträt MüLtrr’s in Autotypie. Lippstadt 1884. 62 S. 8°, (Der Ertrag ist für die »Müller-Stiftung« bestimmt.) Der wesentliche Inhalt dieser kleinen Schrift, soweit es sich um ein Lebensbild Hrrm. Müuter’s handelt, ist unsern Lesern bereits aus dem Nekrolog bekannt, welchen der geschätzte Verfasser im Kosmos 1883, Bd. XIII, S. 393 gegeben hatte. Den dort gezeichneten Umrissen ist aber hier so manche schöne Einzelheit eingefügt, die uns MÜLLER in Notizen. 159 seinem ersten geistigen Werden als Lehrer und als Mensch noch viel näher bringt, es ist namentlich auf die Entstehung seiner Hauptwerke und deren innere Verknüpfung so lebendig eingegangen, daß wir nun erst das Wesen und das ganze unermüdliche Streben dieses ausgezeichneten Mannes richtig zu verstehen glauben. Insbesondere sind es dann die zahlreichen Mitteilungen aus dem Briefwechsel Darwın's mit H. MÜLLER über seine Untersuchungen, welche dem Schriftchen außerdem einen eigen- artigen Wert verleihen; und das Ganze ist von so warmer Verehrung und gerechter Würdigung des Verstorbenen getragen, daß wir ihm keine besondere Empfehlung mit auf den Weg zu geben brauchen: wer einmal von dem reichen Inhalt des hier geschilderten Lebens berührt worden und in das durchgeistigte Antlitz geblickt, das uns vom Titelblatt ent- gegenschaut, den wird auch nach genauerer Kenntnis verlangen und er wird mit uns nur lebhaft bedauern, daß nicht ein noch viel vollständi- geres Gemälde von dem Unvergeßlichen gegeben werden konnte. V. Notizen. Die eigentümliche Himmelsröte. Sehr oft zeigen sich in unserer Atmosphäre strahlen-, banden- oder säulen- förmige Lichterscheinungen, welche von irgend einem Punkte aus radienförmig sich auszubreiten scheinen. Es ist diese Erscheinung in den allermeisten Fällen rein optisch. Bekannt sind die radienartigen Lichtbanden, welche entstehen, wenn die Sonne bei dunstiger, dämmeriger Luft durch Lücken scharf begrenzter Wolken scheint. Ein ebensolches Phänomen konnte ich am 3. April d. Js. beobachten. Es tauchte an diesem Tage die vielbesprochene Röte wieder auf, die im vergangenen Winter so oft sich gezeigt hatte, jedoch nicht diffus, sondern in Form von diver- gierenden Streifen, welche frappante Ahnlichkeit mit den erwähnten Lichtbanden zeigten. Man darf also wohl ohne Bedenken beide Phänomene identifizieren. Die Strahlen müssen demzufolge. wie dort unter sich parallel gewesen sein. — Nun verharrten aber die fünf Lichtsäulen in der Zeit ihrer Sichtbarkeit von 7h bis 7h 25‘ konstant in ihrer Lage trotz des Vorrückens der Sonne, sie konnten daher nicht bloße Lichtstreifen sein, abgesehen davon, daß am Horizont auf der Erdoberfläche in jener Gegend, Sagan in Schlesien, keine regelmäßig hervorragenden Objekte (Berge) existieren, wenn solche überhaupt derartige Erscheinungen möglich machen könnten. Es bleibt demnach nur übrig, anzunehmen, daß die roten Banden ent- weder durch Reflexion roten (und gelben) Sonnenlichtes an materiellen Teilchen in der oberen Atmosphäre oder durch Selbstleuchten materieller Teilchen in jenen Regionen entstanden sind. Das letztere ist jedenfalls zu verwerfen, weil das Selbstleuchten nicht hätte regelmäßig mit dem progressiven Sinken der Sonne ab- nehmen können. Wir sind also gezwungen zu der Ansicht, jene Erscheinung rührte von dem an materiellen, gas- oder staubförmigen Streifen in der Atmosphäre gebrochenen Sonnenlicht her. Die Höhe des Phänomens betrug, wie aus der Zeit seines Bestehens folgert, ca. 7 Meilen. R Das Gesagte ergibt mit positiver Gewißheit die Aquivalenz der Dämmerungs- erscheinung vom 3. April er. mit den unter ganz gleichen Gesetzen, wenn auch stets in anderer, gewöhnlich erst ovaler, dann halbkreisartiger schlecht begrenzter Form aufgetretenen Röten in den vorigen Wintermonaten. Farbe, Intensität, Zeit- dauer, Höhe, Ort der Strahlenerscheinung koinzidierten genau. Die wirkliche Form der Strahlen am 3. April muß auf der Erdoberfläche diejenige von West nach Ost 160 Notizen. gehender paralleler Streifen gewesen sein, welche selbstverständlich nur deshalb in einen Punkt zusammenzulaufen schienen, weil ihre Länge sehr bedeutend war, laut Rechnung über 50 Meilen (vom Horizont, 0° scheinbare Höhe — 113 Meilen Entfernung bis 20° scheinbare Höhe — 56 Meilen Entfernung vom Beobachter, bei 7,4 Meilen eigentlicher Höhe der Röte). Es ist nun die Frage, ob sich, wie vielfach angenommen wird, von der Krakatoaeruption herrührende Staubmassen so regelmäßig in der Atmosphäre, vor allem aber in solcher Ausdehnung gruppieren können; ich glaube kaum. In den unteren Regionen herrschte an jenem Tage, überhaupt in jener Zeit ein scharfer stoßweiser Nordwestwind. — Auch sprechen gar arge Bedenken gegen die Theorie der Stauberfüllung der oberen Atmosphäre rings um die Erde. Einmal die Höhe und Verbreitung, ferner die Verbreitungs- zeiten, die Intensität, die Form (3. April), die nun schon über 8 Monate lange Existenz u.a.m. dieser abnormen Naturerscheinung. — Daß die KLINKERFUES’'sche Idee von der Auflösung eines Kometen in der Nähe der Sonne nicht weiter be- achtet werden darf, ist wohl selbstredend. — Inwieweit FALB mit seiner Eisnadel- theorie Recht hat, bleibt auch zweifelhaft. Doch muß ich zu seinen Gunsten ge- stehen, dab ich wie gesagt jene Lichtsäulen beobachtet habe, welche gewöhnlich nur Nebensonnen folgen, diesmal jedoch ohne solche auftraten, und auf welche FAupB gleichsam schon instinktiv hingewiesen hat, daß ich ferner auch oft den bräunlichen Ring um die Sonne und inmitten desselben die helle blaue Färbung wahrgenommen habe, an welcher Erscheinung FArB die spektrale Farbenanordnung erkannte; doch kann ich im übrigen nicht ohne weiteres seiner Ansicht beipflichten, denn zu einer bestimmten Behauptung über die physische Beschaffenheit des betr. die Sonnenlichtbrechung veranlassenden Mediums sind noch viel zu wenig exakte Beobachtungen angestellt worden. Die Röte zeigte sich mit großen Unterbrechungen, Februar und März, ferner 4. April bis 16. Mai!, in der Regel sehr intensiv zur Zeit des Neumondes, im ganzen aber in einer Epoche, wo die meisten Planeten nahezu von derselben Himmelsgegend her auf die Erde wirken, ein Umstand, der vielleicht zur Erklärung dieser merkwürdigen Erscheinung herangezogen werden dürfte. A. STENTZEL Die 57. Versammlung deutscher Naturforscher und Arzte wird in Magdeburg vom 18. bis 23. September d. J. stattfinden. Das schon im Juni versandte Einladungsschreiben enthält einen Plan der Stadt Magdeburg mit Angabe der Sitzungs- und Festlokale, die nötigen geschäftlichen Mitteilungen und ein bereits sehr reichhaltiges Verzeichnis der für die allgemeinen sowie für die Sektions- sitzungen angemeldeten Vorträge. In den allgemeinen Sitzungen am 18. und 23. September werden sprechen: Prof. BrAauns-Halle („Die Insel Yeso und ihr- Bewohner*), Geh. Oberbergrat Huvssen-Halle („Die Tiefbohrungen im nord- deutschen Flachlande“), Prof. KIRCHHOFF-Halle („Der Darwinismus in der Völker- entwickelung“), Geh. Hofrat GERH. RoHLrs-Weimar („Die Bedeutung Afrikas in Beziehung zu Deutschland“), Geh. Medizinalrat SCHWARrTZ-Köln („Die Stellung der Hygieine zur allgemeinen praktischen Heilkunde“) und, falls nicht durch Amts- geschäfte verhindert, Geh. Regierungsrat R. KocH-Berlin (Thema vorbehalten). Freitag, Sonnabend und Montag sind den Sektionssitzungen vorbehalten, für Sonntag den 21. September ist eine Fahrt nach dem Harz in Aussicht genommen. — Wer dieses Einladungsschreiben noch nicht empfangen hat, wird dasselbe auf seinen durch Postkarte unter der Adresse: „Naturforscher-Versammlung“, Magde- burg ausgesprochenen Wunsch hin sofort zugesendet erhalten. ! Ich habe sie seither in Westfalen am 17. Mai und folgenden Tagen, be- sonders schön aber am 22. Mai von 7h 50‘ bis Sb 50' sowie am 12. Juni abends 9h beobachtet, und gleiches ist auch anderwärts geschehen. Ausgegeben den 15. August 1884. Tıtus Lucretius Garus, Von K. Fuchs (Ödenburg). Eine Weltanschauung vom Standpunkte der Naturwissenschaft haben in unserer gegenwärtigen Kulturperiode erst die letzten Dezennien ge- schaffen. Von den Weltanschauungen der antiken Kulturperiode sind nur diejenigen, die vom Standpunkte der Philosophen geschaffen wurden, in weiteren Kreisen bekannt. Wenig bekannt ist aber die Thatsache, daß die naturwissenschaftliche Weltanschauung der Griechen ungleich vollkommener ausgebildet war als die philosophische und daß dieselbe auf einer entschieden höheren Stufe stand als unsere eigene vor etwa 40 Jahren. Diese Höhe bewies sie teils dadurch, daß sie Probleme auf- griff, die wir damals noch nicht behandelten, teils dadurch, dab sie Probleme als unfruchtbar refüsierte, an denen wir uns damals noch ab- mühten, vor allem aber dadurch, dab ihre Resultate mit unseren heutigen in weitaus den meisten Fällen in qualitativer Hinsicht gänzlich zusammen- fallen, so daß wir gar oft im wesentlichen fast nur die bestimmten Zahlenwerte voraus haben. Zur Illustration will ich nur drei Beispiele anführen. Die Griechen sagten: 1. Ein Gas besteht aus freien Molekülen, die unter fortwährenden Zusammenstößen im leeren Raum in gebrochenen Bahnen umbherfliegen. Die Stöße, die die Moleküle gegen die Wände ausführen, stellen den Gasdruck dar. Die Schnelligkeit, mit der Gase durcheinander diffun- dieren, hängt von ihrer mittleren Weglänge (von Zusammenstoß zu Zusammenstoß) ab, und diese ist von dem Volumen der Moleküle ab- hängig. 2. Mit dem chemischen Bau eines Pflanzen- oder Tierembryo ist zu- gleich vollkommen bestimmt, was sich aus ihm entwickeln oder nicht entwickeln kann. Die Anzahl der möglichen konstanten Tier- und Pflanzen- arten ist eine endliche und ist durch die Gesetze der Chemie bestimmt. Wie man (theoretisch) aus den Gesetzen der Chemie a priori die Gesetze der Lebewesen ableiten könnte, so kann man umgekehrt aus den Er- scheinungen der Lebewelt rückwärts die Gesetze der Chemie erschließen. Kosmos 1884, II. Bd. (VIIT. Jahrgang, Bd. XV). al 162 K. Fuchs, Titus Lueretius Carus. 1. 3. Epidemien entstehen durch Keime, die bei größerem Wechsel von Feuchtigkeit und Hitze im Erdboden an bestimmten Orten (Herden, z. B. Ägypten für Elefantiasis etc.) entstehen, durch die Luft verschleppt werden und mit der eingeatmeten Luft, dem Wasser oder der Nahrung in den menschlichen Körper gelangen, wo sie anomale physiologische Prozesse hervorrufen, die das Wesen der Krankheit ausmachen. Alle drei Theorien werden mit der größten Ausführlichkeit und mit steter Bezugnahme auf konkrete Beispiele erörtert und dadurch der Ver- dacht widerlegt, als hätte hier die blinde Henne ein Korn gefunden. Alle drei dominieren heute in der Wissenschaft, und alle drei befanden sich vor 40 Jahren noch nicht auf der Bildfläche. Leider ist uns über diese Weltanschauung nur ein einziges aus- führlicheres Werk erhalten. Es sind dies die »Sechs Bücher über die Natur der Dinge« von dem römischen Edelmann LucrETIUS CArus. Glücklicherweise sind dieselben ein Auszug aus den Spezialwerken der größten Autorität auf diesem Felde: Erıkur. Die Hauptursache, warum dieses Werk wenig bekannt ist, liegt wohl darin, daß die Wissenschaft sich heute auf ganz andere Einteilungen und auf ganz andere Kunstausdrücke stützt als bei den Griechen und es daher oft schwer ist, selbst unsere geläufigsten Ideen in den fremd- artigen, überdies durch die lateinische Sprache verdunkelten Einkleidungen zu erkennen. Ich glaube vielen einen Dienst zu erweisen, wenn ich die alten Ideen in modernerer Form wiederzugeben trachte. Ich will da- bei nach Thunlichkeit mich der Citate in möglichst sinngetreuer Über- setzung bedienen. Den geneigten Leser bitte ich, während des Lesens stets voraus- zusetzen, daß nicht ich, der Schreiber dieser Zeilen, sondern Luckkz selber spricht. Meine eigenen Bemerkungen aber stehen in den Klam- mern, die also nie die Worte des Lucrzrz enthalten. Wo ich aber einen ganzen Absatz im eigenen Namen zu sprechen habe, sagt dies jederzeit seine erste und seine letzte Zeile in unzweideutiger Weise. Gesperrt gedruckt sind in erster Linie diejenigen Stellen, wo die Auffassung des Luckez mit der heutigen in auffallender Übereinstimmung ist. Wenn der Leser sich die Mühe nehmen will, in Luckez selbst nachzuschlagen, bitte ich ihn, sich durch oft sehr große Abschweifungen vom Texte nicht beirren zu lassen; sie sind durch Einbeziehung entlegener Stellen ent- standen. Der Leser wird aber im Urtext wohl dreimal so viel Belege für jeden Satz finden, als ich mitgeteilt habe. (Noch muß ich bemerken, daß die Zeilenangaben fast ausschließlich der Berways’schen Ausgabe von 1852 entnommen sind.) Nicht in allen Fällen spricht sich Luckkz . unzweideutig aus, und an solchen Stellen läuft der gewissenhafteste Leser Gefahr, statt des Autors Gedanken herauszulesen, seine eigenen Gedanken hineinzulesen. Wo ich mich diesbezüglich unsicher fühlte, habe ich es jederzeit notiert. 1. Atome. Chemie. Newron spricht in seinen Prinzipien der Physik den Grundsatz aus, daß man keine neue Hypothese aufstellen soll, so lange es nicht erwiesen ist, K. Fuchs, Titus Lucretius Carus. I. 163 daß die alten Hypothesen zur Erklärung der in Rede stehenden Erschein- ungen unzulänglich sind, und daraus folgt, dab man in der Physik die Wirkung eines Geistes auf die Natur so lange nicht voraussetzen soll, als Kraft und Stoff sich nicht als unzulänglich erwiesen haben, die Naturerscheinungen zu erklären. Diesen Fundamentalsatz einer physika- lischen Weltanschauung sendet auch Luckrz schon seinen Entwickelungen voraus. >»(1. 157.) Wir wollen untersuchen, aus welcher Quelle die Dinge stammen und wie sie sich bilden können, wenn man von der Voraussetzung ausgeht, daß Eingriffe eines göttlichen Wesens nicht stattgefunden haben.« Lucrzz fährt fort: Wir sind in der Zwangslage, die Existenz von Materie voraussetzen zu müssen. »(l. 422.) Daß es Ma- terie gibt, sagt uns der gesunde Menschenverstand. Wenn wir diese allen andern Hypothesen zu Grunde liegende (prima) Voraussetzung nicht als wohlbegründet (fundata) gelten lassen wollen, dann haben wir gar nichts mehr in der Hand, auf was unsere Vernunft das Wesen der Dinge (occultas res) beziehen könnte, oder was uns berechtigte, über das Innere der Dinge (occultas res) irgend etwas auszusagen.« Die Materieistewig,d.h. siekannnicht ausnichtsent- stehen. >»(I. 159.) Denn wenn die Dinge aus nichts entstünden, müßte alles in jedem beliebigen Medium entstehen können (ex omnibus rebus omne genus nasci posset) und nichts wäre auf Samen, d.h. auf Stoffkomplexe, aus denen und durch die die Dinge entstehen, angewiesen. .... Die Bäume wären etwa nicht an stets gleiche Früchte gebunden, sondern wür- den dieselben wechseln und alles könnte alles erzeugen. ..... Entstünden die Dinge aus nichts, würden sie wohl unvermutet, an ungeeigneten Orten, zu unpassender Zeit entstehen. Es müßte dies geschehen, wenn es keine Bildungsstoffe gäbe, die durch ungeeignete äußere Verhältnisse verhindert werden können, sich derart zu gruppieren, daß gewisse Dinge dadurch erzeugt werden!.« Die Materie ist ewig, d. h. auch, sie kann nicht ver- nichtet werden. >(l. 219.) Würde bei der scheinbaren Zerstörung eines Körpers seine Materie wirklich vernichtet, dann müßte nicht erst die lebendige Kraft eines anderen Körpers auf ihn wirken, um ihn zum Zerfall zu bringen?.« »(I. 241.) Die einfache Affektion durch die imma- terielle vernichtende Potenz würde genügen, alle Dinge in nichts aufzu- lösen (tactus enim leti satis esset causa). ‚In Wirklichkeit aber, nach- dem unter den Atomen vielfache Verbindungen bestehen, bleiben die Körper so lange unverändert, bis eine von einem anderen materiellen Körper ausgehende Kraft angreift, die groß genug ist, um jene Verbände zu lösen. Die Dinge werden daher nicht auf nichts reduziert, sondern sie lösen sich durch. Zerfällung in die einfacheren Stoffe auf.« »(I. 222.) ! Diese Stelle bitte ich als einen wichtigen Beleg der später zu entwickelnden Theorie der Muttermedien, auf der Lucrez seine Theorie der Ontogenese aufbaut, im Auge zu behalten. ®2 Fernwirkende Kräfte und Molekularkräfte erkennt Lucrez nicht an, da er keinen zwingenden Grund sieht, sie vorauszusetzen; er operiert nur mit der in der Bewegung liegenden lebendigen Kraft in unserem heutigen Sinn. 164 K. Fuchs, Titus Lueretius Carus. 1. Es sei denn, daß ein mit lebendiger Kraft begabter (bewegter) Körper angreift, der durch seinen Stoß die einfachsten Teile der Dinge aus- einanderschlägt oder in die Poren zwischen ihnen eindringt und sie so auflöst — sehen wir in der Natur nichts zu grunde gehen!.« Die Materie ist ewig und unveränderlich, d. h. sie ändert auch ihre Qualität nicht. Metaphysisch läßt sich die Konstanz der Qualität folgendermaßen entwickeln: »(Il. 670.) Wenn sich irgend etwas ändert und aus den Schranken seiner Charakteristik tritt, liegt eine fortwährende Vernichtung des Vorhergehenden und Neuschaffung des Nachfolgenden vor.< Verwandt ist folgende Stelle: »(l. 795.) Not- wendigerweise bestehen die verschiedenen Stoffe aus spezifisch verschie- denen Atomen, von denen wir voraussetzen müssen, daß sie nie in ein- ander übergehen können, wenn wir nicht wollen, daß uns alle Dinge unter der Hand zu wesenlosem Scheine werden, d. h. die sonst so frucht- bare Atomtheorie über den Haufen geworfen wird (ne tibi res redeant ad nilum funditus omnes).« Richtig in diesen Entwickelungen des Luckez ist wohl in erster Linie die Erklärung, daß wir an der quantitativen und qualitativen Un- veränderlichkeit der Materie schlechterdings festhalten müssen, da sie uns die Atomlehre liefert, ohne die wir den Naturerscheinungen gegenüber rat- und hilflos dastehen (funditus redeunt res ad nilum) und allen Hirngespinsten Thür und Thor geöffnet ist. Seine übrigen Entwickelungen müssen aber wohl nur als empfehlende Bilder, nicht als Beweise angesehen werden. DieMaterieistweitüber dieGrenzensinnlicherWahr- nehmung hinaus teilbar. »(l. 305.) Wäsche, die in der Nähe der Brandung am Ufer aufgehängt wird, wird naß; im Sonnenschein auf- gehängt, wird sie wieder trocken. Wir können aber weder wahrnehmen, wie die Wasserteilchen sich allmählich niederschlagen, noch in welcher Weise sie in der Dürre wieder austreten. Das Wasser wird folglich in so kleine Teile zerteilt, daß das Auge sie in keiner Weise einzeln sehen kann. Auch die Ringe an den Fingern werden im Laufe der Jahre immer dünner; die fallenden Tropfen höhlen den Stein aus; die eiserne Pflug- schar wird durch das Pflügen immer kleiner; das Steinpflaster wird in den Straßen durch die Tritte der Menge ausgetreten. Wir sehen, daß diese Dinge durch Abnutzung vermindert werden; aber welche Stoff- teilchen in jedem Augenblicke abgetrennt werden, vermögen wir nicht wahrzunehmen. Endlich ist selbst die schärfste Beobachtung unvermögend, bei wachsenden Tieren oder Pflanzen die jeweilige Zunahme zu konsta- tieren oder, wenn sie welken, ihre jeweilige Abnahme. All diese Stoff- übertragungen werden daher mit Teilchen effektuiert, die tief unter der ! Für diejenigen Leser, die zum Vergleiche den Urtext nachschlagen, muß ich schon hier zur Rechtfertigung meiner Übersetzung bemerken, daß Lucrez unter vis fast ausnahmslos die lebendige Kraft eines bewegten Körpers versteht, daß er fernwirkende Kräfte durchaus nicht anerkennt und selbst die magnetische Attraktion abhängig macht von den Stoffen, die den Raum zwischen und um Eisen und Magnet erfüllen. Zugleich muß ich den Leser bitten, lieber den ganzen Auf- satz zuerst durchzulesen und dann erst den Originaltext aufzuschlagen. Er wird dann manche scheinbar unverantwortliche Übersetzungsfreiheit wohlberechtigt finden. Dr’ K. Fuchs, Titus Lueretius Carus. I. 165 Grenze sinnlicher Wahrnehmung liegen (corporibus caecis igitur natura gerit res).« Die UnzulänglichkeitunseresVorstellungsvermögens versetzt uns indie Zwangslage, eine Grenze der Teilbar- keit anzunehmen; widrigenfalls verlieren wir wieder jedes Substrat für eine vernünftige Naturerklärung aus den Händen. >(l. 620.) Das Uni- versum ist durchaus unendlich; und so müßte das, was unseren Augen unendlich klein erscheint, dennoch unendlich groß sein im Vergleiche zu den Teilchen, in die es weiter zerlegt gedacht werden kann u.s. f. Diese unendliche grenzenlose Teilbarkeit fordert einerseits die Vernunft, ander- seits aber weist sie dieselbe zurück, nachdem der Verstand sie nicht fassen, nicht vorstellen kann. Es bleibt uns daher nichts übrig, als auf eine klare Einsicht zu verzichten und schlechthin anzunehmen, daß es Atome gibt, die nicht mehr aus Teilen zusammengesetzt sind und die an sich das Kleinste sind.« Die Erscheinungen der Natur scheinen sich mit der vom Verstand geforderten Hypothese der endlichen Teil- barkeitnichtnurganzgutzuvertragen, sondernscheinen dieselbe sogar ebenfalls zu fordern. »(l. 551.) Wenn die Natur der Auflösung des Stoffes keine Grenzen gesteckt hätte, dann würde sie das, was sie schon zertrümmert hat, noch weiter verwirren und auflösen, und augenscheinlich wäre alle Zukunft nicht im stande, wieder aufzubauen, was die Vergangenheit zerstört hat, denn wir sehen, daß alles weit leichter zerstört als wieder aufgebaut wird. Im Gegensatz hierzu zeigt aber die Erfahrung, daß die Naturkörper, wenn sie beschä- digt worden sind, sich wieder ergänzen, ja es bilden sich immer neue Exemplare von Naturkörpern jeder Art und erreichen nach bestimmter Zeit sogar ihre vollkommene Entfaltung, gleich ihren Vorfahren.« >(l. 577.) Vorausgesetzt, die Zertrümmerung der Atome gehe ins Unendliche, so müßte man angesichts der wohlgebauten Welt, in der wir denn doch leben, auch das voraussetzen, dab wenigstens ein Teil der Atome sich bis auf den heutigen Tag unzerstört erhalten hat, nämlich diejenigen, aus denen unsere heutige Welt besteht. Diese müßten aber angesichts der absoluten Unendlichkeit der Zeit sich seit nahezu unendlichen Zeiten erhalten haben; dies würde aber wieder angesichts der unzähligen Stöße, die sie im Laufe der Zeit von Nachbaratomen erlitten haben müssen, aller Wahrscheinlichkeit ins Gesicht schlagen.«e I. 584—598 enthält einen bedeutenden Sprung. Wenn man die Lücke ausfüllt, resultiert folgender Sinn: Setzen wir voraus, daß das Holz sich in mehrere ein- fachere Stoffe zerlegen ließe, von diesen jeder wieder in mehrere noch einfachere und diese wären nun die einfachsten Elemente, aus denen wir bereits die ganze Natur erklären könnten und die wir daher als weiter nicht zerlegbar ansehen können: dann sind wir mit zwei aufeinander- folgenden Analysen bereits bei den Elementen angekommen und das Holz wäre eine Verbindung zweiter Ordnung. Werfen wir nun die Frage auf, ob die Natur dieselben Erscheinungen zeigen würde, wenn diese Elemente dennoch unter gewissen Umständen in noch einfachere Stoffe, diese in noch einfachere etc. zerfallen würden, so daß nicht bereits die zweite, 166 K. Fuchs, Titus Lueretius Carus. 1. sondern erst die hunderttausendste Analyse uns die wirklichen Urelemente liefern würde und also das Holz eine Verbindung hunderttausendster Ordnung wäre. Wenn man nun voraussetzt, daß die Atome desselben Elementes untereinander sämtlich vollkommen gleich sind, dann kann man wohl ruhig behaupten, daß, wo und wann immer zwei gewisse Ur- elemente eine gewisse Verbindung erster Ordnung eingehen, diese Ver- bindungen immer und überall einander vollkommen gleichen werden. Wäre z.B. das Wasser eine solche Verbindung erster Ordnung, dann würden wohl alle Wässer, wo und wann immer sie sich bilden, unter einander vollkommen gleich sein. Vielleicht ließe sich dies auch von den Verbindungen zweiter und dritter Ordnung sagen. Es ist indes höchst wahrscheinlich, daß sich hier und da unvollkommen oder inkorrekt gebildete Moleküle ein- schleichen und eine Verbindung gleichsam unrein wird, wodurch ihre chemischen Reaktionen auf andere Verbindungen schon etwas verändert, nüanciert werden. Gehen nun solche unreine Verbindungen eine Ver- bindung höherer Ordnung ein, so werden die Inkorrektheiten der Bestand- teile noch weit größere Trübungen der Eigenschaften des Ganzen zur Folge haben, und außerdem schleichen sich vielleicht noch andere fehlerhafte Formen ein. Wenn aus derartigen Verbindungen sich noch höhere Verbindungen bilden, wird der ideelle Charakter derselben durch die Häufung der Trübungen vielleicht schon so verwischt sein, dab er kaum mehr zu erkennen ist; etwa so wie der Koch aus schein- bar vollkommen gleichen Bestandteilen scheinbar nach vollkommen gleicher Methode hundertmal dieselbe Speise bereiten kann, und sie wird jedesmal anders ausfallen, weil die Materialien vielleicht nicht jedesmal nach Quantität und Qualität absolut gleich waren. Wie die Qualität, die chemische Zusammensetzung der Nahrungsmittel schon voraus be- stimmt, wie die Speise, die aus ihnen bereitet wird, ausfallen kann oder nicht ausfallen kann, und über gewisse Grenzen hinaus alle Kunst des Koches ohnmächtig wird (wie er beispielsweise aus schlechtem Mehl ab- solut kein gutes Brot backen kann), so ist auch durch den chemischen Aufbau des Tiereies oder des Pflanzensamens schon voraus bestimmt, welchen Entwickelungsgang der Tier- oder Pflanzenkörper nehmen kann, und über gewisse Grenzen hinaus sind alle späteren äußeren Einflüsse durchaus machtlos. Ich nehme nun wieder die Worte des Luckkz auf: >»(I. 584.) Nun sehen wir aber, daß jedes Individuum derselben Spezies immer und überall bis an seinen Tod an dieselben Entwickelungs- phasen und an dieselben Lebensäußerungen gebunden erscheint; daß die Natur bereits in den Keim gleichsam die Prophezeiung gelegt hat, was sich aus ihm entwickeln, was sich nicht entwickeln kann; daß selbst die Details der Entwickelung sich so unabänderlich wiederholen, daß beispielsweise bei den einzelnen Vogelspezies selbst die kleinsten Einzel- heiten in der Zeichnung der Federn an jedem einzelnen Individuum sich wiederfinden: so daß wir daraus den Schluß ziehen müssen, daß die Stoffe, aus denen der Keim und in weiterer Folge der Körper sich auf- baut, in allen Fällen kongruenten, von aller Trübung freien chemischen Bau haben müssen. Denn wenn die Moleküle der Bildungsstoffe auch zur den geringsten Nüancierungen unterworfen wären, würde es sofort K. Fuchs, Titus Lucretius Carus. 1. 167 problematisch werden, was sich aus ihnen entwickeln kann, was nicht (nam si primordia rerum Commutari aliqua possent ratione revicta, Incertum quoque jam constet quid possit oriri, Quid nequeat); kaum die allgemeinsten Grundzüge des Körperbaus würden sich wiederholen und die Enkel und Urenkel jeder Spezies könnten nicht die Natur, selbst die Gewohnheiten, die Lebensweise und die eigentümlichen Bewegungs- formen der Ahnen reproduzieren.< Aus alle diesem folgt aber, daß wir annehmen müssen, daß bereits sehr wenig aufeinanderfolgende Zerfällungen der Körper uns diejenigen Atome liefern müssen, die, seit unsere Welt besteht, sich in ihrem Baue nicht mehr ändern und daher schlechtweg als unveränderlich und, worauf es uns an dieser Stelle eigentlich an- kommt, unteilbar angesehen werden müssen. — Diese Stelle des Luckez ist unstreitig eine der genialsten im ganzen Werke und um- faßt eine Fülle von Theoremen, deren kein einziges man in jener Zeit gesucht hätte. Wenn man dabei bedenkt, daß das Werk von einem Advokaten (Cıczro) aus Bruchstücken, die sich im Nachlasse des Dich- ters fanden, zusammengestellt worden ist, so staunt man, wie weit ver- breitet im Kreise der Gebildeten damals tiefe naturwissenschaftliche Kennt- nisse verbreitet waren. — Die obige schroffe Entwickelung über die Konstanz der Arten korrigiert Lucrez durch eine Bemerkung, die heute zu den geläufigsten gehört. >Man findet, daß die einzelnen Tiere derselben Gattung dennoch Unterschiede in der Gestalt zeigen. Anders als durch den Unterschied der Gestalt könnte das Junge gar nicht seine Mutter, noch die Mutter ihr Junges erkennen. Ebenso sehen wir bei jeder beliebigen Art des Getreides, daß die einzelnen Exemplare der- selben Gattung einander nicht vollkommen gleichen, sondern vielmehr Formenunterschiede mit unterlaufen. Man ist gezwungen, daraus den Schluß zu ziehen, daß, nachdem doch diese Unterschiede auf Grund natürlicher Entwickelung sich gebildet haben und die Atome nicht durch die Hand eines Schöpfers nach einem bestimmten Vorbilde gehäuft worden sind — mindestens einige wenige Moleküle des Körpers von abweichendem Baue waren, die, in irgend einer Phase sich einschleichend, der Fort- entwickelung eine andere Richtung gegeben haben.« Die Atome sind sinnlich nicht wahrnehmbar und haben auch nicht die Eigenschaften sinnlicher Körper. »(l. 775.) Wenn die Stoffe aus den vier sinnlichen Elementen Erde, Wasser, Luft und Feuer bestünden, dann würde in dem Gemenge, welche Proportionen man auch anwenden mag, dennoch jedes einzelne Element seine charakteristischen Eigenschaften behalten und wir würden eben ein Gemenge von Luft, Erde, Feuer und Wasser sehen. Wenn die- selben Elemente zum Aufbau sinnlich gänzlich verschiedener Stoffe dienen sollen, dann dürfen deren Atome selber gar keine sinnlichen Eigenschaften haben, so daß in dem gebildeten Körper kein Element eigene sinnliche Eigenschaften verraten kann und somit jeder zusammen- gesetzte Körper nur die ihm selber zukommenden Eigenschaften, nicht auch die seiner Atome zeigt.« »Wenn wir Gold sehen und urteilen, daß es gelb ist, dann ist thatsächlich nur unser Auge durch das vom Gold ausströmende Licht 168 K. Fuchs, Titus Lucretius Carus. I. besonderer Art in besonderer Weise gereizt worden und hat eine Em- pfindung besonderer Art hervorgerufen. Es ist-aber eine psycho- logische Eigentümlichkeit, daß wir die Empfindung auf das Objektübertragen, das die Ursache derselben zu sein scheint, wie ja auch bei der Berührung des Goldes wir doch nur von seiner Oberfläche einen Reiz (Druck) em- pfangen und dennoch die Härte seines Innern zu empfin- den meinen!.« Der Unterschied zwischen den Atomen der verschiedenen Elemente kann in ihrer Quantität (Größe), Qualität oder Form liegen. Nun zieht sich aber durch die ganze Physik die Tendenz, die sogenannten Eigenschaften (Qualitäten) der Körper für Fiktionen des Geistes zu erklären, die durch gewisse mechanische Reaktionen veranlaßt werden. Daß Gold z. B. gelb ist, ist nur eine Fiktion, die dadurch veranlaßt wird, daß das Gold gerade die- jenigen Lichtmoleküle (nach L.) in unser Auge reflektiert, die im Auge den Reiz verursachen, den wir gelb nennen. Wenn wir somit überall bestrebt sind, die Vorstellung von Qualität zu eliminieren, so wäre es inkon- sequent, den Atomen Qualitäten zuzuschreiben, besonders nachdem »Qualität«e etwas so Unfaßbares ist, daß man daraus keine für den Physiker brauchbaren Konsequenzen ziehen kann. Es empfiehlt sich daher, nur Eine Art von Materialität vorauszusetzen, dafür aber den Unterschied der Elemente in die Größe und Form der Atome zu legen. Größe und Form sind Dinge, die der Maßbestimmung unterliegen und gestatten, die präzisesten Konsequenzen zu ziehen. Ein Beispiel: »(II. 456.) Alle Körper, von denen wir sehen, daß sie sich momentan, so- bald ihnen Raum geboten ist, ausdehnen, wie Rauch, Nebel, Flamme, müssen wir uns aus runden und glatten Atomen zusammengesetzt denken, die durch keine Verschlingungen einander im freien Fluge hindern, so dab sie die Wände des Gefäßes, in dem sie sich befinden, mit ihren Stößen frei treffen können, wodurch der Expansionsdruck entsteht, und daß sie in den Fällen, wo ein Gas durch einen festen Körper offenbar absorbiert wird, auch in denselben eindringen können, ohne an einander zu haften?.« »(II. 444.) Die festen Körper sind entschieden aus mehr rauhen und gleichsam ästigen Atomen sozusagen gefilzt, im Gegensatze zu den Gasen, deren Atome rund sind und sich somit nicht verhaken und also kohärieren können.«< Ich muß hier bemerken, daß der katego- rische Ton dieser Erklärung nur uneigentlich zu nehmen ist. Wie voll- kommen klar sich L. über die hypothetische Natur all solcher Erklär- ungen ist, zeigt folgendes schöne Bild (VI. 700): »Den Natur- erscheinungen gegenüber befinden wir uns in derselben Lage wie einerLeiche gegenüber, die wir am Wege finden. Hundert Todesursachen sind möglich, und auf den bloßen Anblick hin können wir keiner einzigen den Vorzug geben. Wenn wir aber die Leiche auf alle mögliche Weisen zunters ı IV. 260, praeterea lapidem ... . ? Diese Stelle bitte ich als wichtig für die später zu entwickelnde Gas- theorie im Auge zu behalten. K. Fuchs, Titus Lucretius Carus. 1. 169 suchen, können wir wohl erkennen, daß die eine oder die andere Todesursache mit den vorliegenden Umständen unvereinbar ist, aber eine absolute Gewißheit über die Details der Todesursache können wir durch Rückschlüsse und Erklärungsversuche nie und nimmer erlangen.« Wie viel chemische Elemente es gibt, läßt sich nicht angeben. Ihre Anzahl mag sehr groß sein, sie ist aber gewiß eine endliche. Wir denken uns nämlich, wie gesagt, die Atome äußerlich mit verschiedenen Formelementen, als Höckern, Ecken, Knorren, Ästen, Haken, Gruben etc. bedeckt. Wir müssen voraussetzen, daß diese Formelemente unter eine bestimmte endliche Größe nicht sinken können. Denn wenn wir in die Atomlehre einmal das Unendlich- kleine einführen, wäre es besser, die ganze so fruchtbare Atomlehre lieber gleich ganz fallen zu lassen, denn mit dem Unendlichkleinen kann unser Verstand nicht kalkulieren. (I. 479.) Wenn wir dies voraus- setzen, wird irgend ein recht kleines Atom beispielsweise nur Raum für sechs Formelemente haben. Wenn wir diese sechs Formelemente auf alle möglichen Weisen variieren und ihren Platz tauschen lassen, werden wir dennoch, wie die Mathematik lehrt, nur eine ganz bestimmte end- liche Anzahl von Typen erhalten. Wenn wir aber die Anzahl der Typen darüber hinaus noch vermehren wollen, müssen wir das Atom so weit vergrößern, daß noch ein siebentes Formelement darauf Platz findet, wodurch wir wieder eine bestimmte endliche Anzahl neuer Typen er- halten. Aus diesem Gedankengange erhellt, dab eine unendliche Mannig- faltigkeit von Typen mit der Atomtheorie sich nur dann vertragen würde, wenn es auch unendlich große Atome gäbe. Da aber die Atome that- sächlich nie so groß werden, dab sie auch nur überhaupt die Grenze der sinnlichen Wahrnehmbarkeit erreichen, so müssen wir als eine Kon- sequenz der vorherigen Hypothesen auch die annehmen, daß die Anzahl der chemischen Elemente eine endliche ist. — Wenn wir in diesen Ent- wickelungen des Luckzz eine kleine Variation in den Worten vornehmen, und statt zu sagen: die Atome, die wir bei der physikalischen Erklärung unserer Welt als unveränderlich ansehen können oder müssen, sind aus bestimmten Formelementen zusammengesetzt, lieber so sprechen: die Atome, die wir bei der physikalischen Erklärung unserer Welt als un- veränderlich ansehen, sind aus bestimmten Atomen einer niederen Ordnung zusammengesetzt, so haben wir in obiger Entwickelung des Lucrez eine überraschende Skizze der Atomlehre, in der Form, die sie in unseren Tagen durch MENDELIEFF erhalten hat. Lucrzz fährt fort: »(Il. 507.) Die Hypothese von der end- lichen Anzahl der Elemente ist nicht nur in vollkomme- nem Einklange mit den Naturerscheinungen, sondern wird wohl geradezu von denselben gefordert. Denn wenn wir an dem Satze festhalten, daß die Form der Naturkörper von ihrem chemischen Baue abhängt, dann müßte aus der unendlichen Anzahl der Elemente auch eine unendliche Mannigfaltigkeit ihrer physikalischen Konstitutions- formen folgen. Wenn wir aber die Körper nach irgend einer Eigenschaft, sei es nach der Größe, sei es nach der Härte, sei es nach dem spezi- fischen Gewichte oder nach den Arten und Gattungen etc. ordnen, so 170 K. Fuchs, Titus Lucretius Carus. 1. erhalten wir durchwegs endliche Reihen. Die Härte z. B. schwankt bei allen Körpern zwischen endlichen Extremen; ebenso das spezifische Ge- wicht; jede Gattung enthält nur eine endliche Anzahl von Arten etc. Die Endlichkeit dieser Konstitutionsreihen fordert aber die Endlichkeit der Anzahl der Elemente.« Von jedem Element gibt es unendlich viele Atome, doch stehen ihre Mengen in bestimmtem numerischem Verhältnisse, das für alle Regionen des Weltalls gleich ist. Wenn z. B. Gold, Eisen, Wasser Elemente wären und ihre Mengen auf der Erde, der Sonne, dem Monde und den anderen in unserer Nähe befindlichen Sternen im Durchschnitte im Verhältnisse 1: 10 000 : 100 stünden, so würden sie in anderen Regionen des Weltalls, die durch unendliche Entfernungen von uns getrennt sind, ungefähr in denselben Verhältnissen zu einander stehen. Das ergibt sich aus folgender Be- trachtung: Wenn z. B. Gold, das wir als Element ansehen wollen, zu irgend einer Zeit ausschließlich auf unserer Erde, also in endlicher Menge vorhanden gewesen wäre, so müßte es infolge der Diffusion, die im Weltall keine Schranken findet, längst in unendlicher Verdünnung sich verteilt haben, so daß selbst in den ungeheuersten Weltkomplexen kaum ein Goldatom sich fände. Genauer spricht Lucrez: (I. 541) setzen wir für den Augenblick den Fall, daß von einer Tierart nur ein einziges Exemplar vorhanden wäre. Wenn nun der Urstoff, der seiner Bildung schon im Mutterleibe zu Grunde liegt, >»nur in endlicher Menge im Weltall vorhanden wäre, hätte das Tier weder gezeugt werden, noch wachsen und sich nähren können. Woher, wo, durch welche Kraft und nach welchem Gesetz hätten die wenigen existierenden Atome des für das Tier unentbehrlichen Urstoffes in dem unendlichen Meere fremdartiger Atome zusammentreffen können? Ich glaube, es läßt sich gar kein zwingender Grund für ihren Zusammentritt anführen. — Setzen wir aber doch den Fall, daß die Atome irgend eines nur in endlicher Menge vor- handenen Elementes in irgend einem Momente in einer geschlossenen Masse beisammen waren, dann müßte dasselbe geschehen wie bei einem großen Schiffbruche. Wie das Meer die Planken, das Steuer, die Taue, den Schnabel, die Masten auseinanderreißt und in allen Richtungen der Windrose ans Ufer spült, so werden die Atome jenes Elementes im Laufe der Zeit durch die ununterbrochene Bewegung des Stoffes zerstreut und auseinandergeworfen, so dab sie nie zusammentreiben und sich häufen können. Sollte je ein Teil derselben sich wieder zusammenfinden, so könnten sie doch auch in diesem neuen Verbande nicht bleiben und noch weniger durch Aufnahme der noch übrigen Atome sich mehren, da dies der Wahrscheinlichkeit im höchsten Maße widerspricht. Nach- dem aber die Thatsachen offen beweisen, daß thatsächlich Dinge jeglicher Art immer wieder erzeugt werden und wachsen, so ist klar, daß Atome jeglicher Art in unendlicher Menge vorhanden sein und durch den ganzen Weltraum in durchschnittlich konstanter Häufigkeit verteilt sein müssen. « Es ist schwer zu begreifen, wie angesichts dieser Stelle die Mein- ung sich so allgemein verbreiten konnte, Luckzz habe gelehrt, daß die K. Fuchs, Titus Lucretius Carus. 1. 77 Welt durch blinden Zufall im gemeinen Sinne sich gebildet habe, da hier doch gerade im Gegenteil ausgesprochen ist, daß der Zufall alles Gestaltete zu zerstören, die Welt zu nivellieren und ein homogenes Chaos herzustellen trachte, und das ist ja einer der Fundamentalsätze der heutigen Wissenschaft. Nach Luckez ist die Wahrscheinlich- keitsrechnung, nicht der Zufall die Basis der Molekular- theorie, gerade so wie heute bei uns. »(I. 483.) Die Naturstoffe sind teils Elemente, deren Moleküle einzelne Atome sind, teils Verbindungen, deren Moleküle aus Gruppen vereinigter Atome bestehen. (Corpora sunt porro partim primordia rerum, Partim concilio quae con- stant prineipiorum. Die Übersetzung sagt zu viel, denn der Text sagt nichts von einer Zerfällung des Stoffes in untereinander gleich gebaute Gruppen (Moleküle), sondern spricht nur von Mischung der Atome.) Die physikalischen Eigenschaften, die ein Körper hat (Farbe, Härte, Aggregatzustand, Temperatur etc.), hängen von folgenden Umständen ab: l. welche Elemente den Körper bilden und in welchen Mischungsverhältnissen sie stehen; 2. nach welchem Schema die Atome gruppiert sind. (Dieser Satz involviert die von L. nicht erwähnte Krystallisation und die von Luckzz mehrmals ausdrücklich erwähnte Isomerie.) 3. von dem mechanischen Verbanü der benachbarten Atome. Dieser ist besonders für den Aggregatzustand, für die chemische Beständigkeit der Verbindungen und für die Erscheinungen der Wahlver- wandtschaft maßgebend. 4. vondenBewegungsformen der Atome. Hierbei kommen namentlich folgende Umstände in betracht: a) wie schnell sich die Atome bewegen; b) die mittlere Weglänge, d.h. der Weg, den im Mittel ein Atom von einem Zusammenstoß mit einem andern Atome bis zum folgenden Zusammenstoß durchläuft (in der heutigen Gastheorie eine der wichtigsten Größen). Dieser Umstand ist namentlich für die Schnelligkeit maßgebend, mit der Gase durch einander diffundieren, also beispielsweise für die Schnelligkeit, mit der ein Geruch sich in der Atmosphäre verbreitet !; c) die relative Richtung der Bewegungsbahnen, d.h. ob die Atome sich vorzugsweise in parallelen oder divergierenden oder in den verschiedensten Richtungen bewegen. Dies ist namentlich für die Erscheinungen des Lichtes, des Schalles, der strahlenden Wärme und der in festen Gefäßen eingeschlossenen Gase maßgebend; d) die Form der Bahnen, in denen die Atome schwingen ; e) die Gesetze des Stoßes, wenn die Atome gegen ein- ander prallen. Zwischen den Elementen besteht Wahlverwandtschaft, d. h. es gibt Elemente, deren Atome, wenn sie einmal zufällig an ein- ! Wie die ganze vorliegende Erörterung, so ist auch dieses letztere Beispiel direkt dem Text entnommen. 172 K. Fuchs, Titus Luceretius Carus. 1. ander geraten sind, einander so fest halten, daß sie sich nur unter ganz auberordentlichen Umständen wieder trennen. Anderseits gibt es wieder Elemente, deren Atome, wenn sie an einander geraten, einer sofortigen Trennung nicht das geringste Hindernis bieten. Zwischen diesen beiden Extremen gibt es nun die verschiedensten Abstufungen im Verhalten je zweier Elemente zu einander; und was von den Elementen gilt, gilt auch von ganzen Atomgruppen, indem einzelne Atomgruppen fester, andere lockerer an einander haften. Wenn man die Verknüpfung der Atome durch Attraktionskräfte erklären wollte, hätte man für die Erklärung der verschiedenen Attrak- tionserscheinungen (nämlich soweit Luckkz sie kennt) gar keine Basis gewonnen, sondern man hätte lediglich für die konstatierte Thatsache einen neuen Namen erfunden. Eine greifbare Basis gewinnt man aber durch die Hypothese, daß die Atome mittels Häkchen sich in einander verketten, denn dann ist es wenig- stens möglich, durch die Anzahl, Form und Größe der Häkchen zu er- klären, daß einzelne Atome so schwer, andere so leicht sich trennen lassen, falls sie einmal an einander gekommen sind, und warum einzelne sich durchaus nicht an einander heften. Wenn wir dies festhalten, können wir chemische Prozesse nur durch die weitere Hypothese erklären, daß die Atome in ununterbrochener Bewegung sind und dabei einander stoßen, sich hemmen, ablenken ete. Denn dadurch werden schwach verbundene Atome um so schneller aus- einander geschlagen, je schwächer sie aneinander haften, und da im Laufe der Zeit jedes Atom mit jedem in Zusammenstoß gerät, geraten auch diejenigen Atome gelegentlich aneinander, die sich inniger ver- flechten und dann nicht so leicht und somit auch nicht so bald aus- einander gerissen werden können. Die Folge davon ist die, daß in einem Chaos der heterogensten Atome im Laufe der Zeit diejenigen unter den vorhandenen Atomen, welche die größte Verwandtschaft haben, einander binden werden, da sie aus jeder lockeren Verbindung verhältnis- mäßig rasch wieder ausgelöst werden, während die festesten Verbindungen fast nie, d.h. nur hier und da ein Molekül zufällig gelöst wird. Wenn dergestalt sich endlich die festesten Verbindungen fixiert haben, sind die entsprechenden Elemente sozusagen außer Kurs gesetzt, und derselbe Prozeß wiederholt sich bei den restierenden Elementen, d. h. es kon- stituieren sich die nächstfestesten Verbindungen u. s. f., bis schließlich die allerlockersten Verbindungen definitiv entstehen und hiermit ein gewisser Zustand des chemischen Gleichgewichtes hergestellt ist. Diese Ideen des Luckez sind in ungewöhnlichem Grade zu einer mathematischen Behandlung geeignet, auf die ich aber hier natürlich nicht eingehen kann. Ich weise nur darauf hin, daß die Rechnung zu Detailproblemen führt, ähnlich der Berechnung der Dampfdichte in einem mit Wasser teilweise gefüllten Gefäße und bei konstanter Temperatur. Zurück zu Luckez: Wie man von der Geburt, Entwickelung und dem Tode eines Hundes in einer Zeitspanne von wenigen Jahren reden kann, ohne daß dadurch geleugnet würde, daß das Hundegeschlecht seit ewigen Zeiten bestehen konnte, so können wir ganz gut von der Ent- Per A K. Fuchs, Titus Lueretius Carus. 1. 173 stehung, Entwickelung und künftigen Zerstörung unserer Erde und ihrer Umgebung reden, ohne deswegen zu fordern, daß das Universum einen Anfang und ein Ende haben müßte. Uber die chemischen Prozesse bei der Entstehung unseres Planetensystems können wir uns auf Grund obiger Erwägungen folgende Vorstellung machen!. »(V. 422.) Die Atome, die heute unsere Welt bilden, bewegten sich in irgend einer Urzeit un- verbunden, chaotisch, als ungeheure Gasmasse, durch keine andere Kraft als durch ihre Trägheit geführt, unter fortwährenden Zusammenstößen in den wechselndsten Richtungen und ohne Unterlaß erprobten sie gleichsam alle Kombinationen, die unter ihnen überhaupt möglich sind. So kam es, daß im Laufe der Zeit die gleichsam versuchsweise vor- kommenden Gruppierungen mit ihren entsprechenden Molekularbewegungen (nach Maßgabe der Festigkeit ihrer Verbindung) sich häuften, bis sie im Laufe unbestimmbarer Zeiträume sich derart konsolidierten, daß sie unsere heutige Erde mit ihrem Himmel bildeten. (V. 449.) Zuerst traten nämlich die Bildungsstoffe unserer Erde zusammen und hefteten sich aneinander, weil sie schwerer und kohärenter waren als die anderen, und ballten sich zu einer Kugel. (V. 436.) Als dergestalt aus dem Atomnebel sich auch noch die anderen Himmelskörper unseres Himmels gebildet hatten, bestand unter den restierenden Stoffen ein neu- artiges Stürmen und Zusammengerinnen von kohärenten Massen aller Art, und aus den spezifischen Unterschieden (discordia, ungenau über- setzt) der Atome resultierten jeweilig immer neue Bewegungsformen, Verknüpfungen etc. und lösten sich wieder auf (falls sie zu locker waren). Die neu sich bildenden Moleküle hatten die verschiedensten Konstitutionen, weshalb nicht alle Verbindungen sich auf die Dauer ge- schlossen erhalten noch auch solche Molekularbewegungen ausführen konnten, die ihre Erhaltung ermöglichten (motus convenientes). Dieser Kampf der Stoffe dauert heute noch fort und aus ihm resultierte der fortwährende Wechsel der Naturerscheinungen.»(I. 684.) Meiner Ansicht nach verhalten sich die Dinge folgendermaßen: Das Feuer wird durch das Zusammentreffen, die Anordnung, die Bewegungs- formen, die Qualität der Atome gewisser Elemente dargestellt. Wenn jJeneAtome ihre Anordnung ändern, ändern sich auch die physikalischen Eigenschaften des Ganzen. Die Atome selbst aber gleichen weder dem Feuer noch irgend einem anderen Dinge, das sich unseren Sinnen bietet.< »(I. 901.) Das Holz enthält nicht Eeuer, sondern Atome, die zur Bildung des Fouerswor wendig sind, und wenn diese infolge von Reibung zusammentreten, schaffen sie Feuer (es ist von Feuergewinnung durch Reibung die Rede).« >(I. 908.) Das Maßgebende für das Brennen liegt darin, welche Atome mit welchen und in welcher Anordnung verbunden sind und welche Be- wegungen sie austauschen. Je nach der Art der Anordnung und der Bewegungsformen der Atome hat man entweder Holz oder Feuer vor sich. Es verhält sich hierbei etwa wie mit den Wörtern ligna und ignes, die fast dieselben Buchstaben, aber ganz verschiedene Bedeutung haben.< »(II. 675.) Alles was brennbar ist, enthält, wenn nichts an- deres, so doch diejenigen Elemente, durch die es Feuer und Asche liefern kann.« »(Il. 196.) Wie das Wasser untergetauchte Balken auswirft, so wird die Flamme (nach dem archimedischen Gesetze) durch den Auftrieb, den die Atmosphäre auf das brennende Gas ausübt, nach oben gepreßt, obwohl sein Eigengewicht es nach unten zu führen strebt. « ı Offenbar eine ganze Theorie der Ernährung. (Fortsetzung folgt.) Darwinistische Streitfragen. Von Moritz Wagner. IV. Chorologische Thatsachen. Die räumliche Trennung der vikarierenden Arten, wie sich uns dieselbe auf den entgegengesetzten Gehängen aller geschlossenen Hoch- gebirge, in den inselförmigen Oasen der Wüsten, auf den ozeanischen Archipelen und in vielen einzelnen Fällen selbst auf den isolierten Kegel- bergen der Reihenvulkane in deutlichster Weise offenbart, darf als einer der stärksten induktiven Wahrscheinlichkeitsbeweise für die Richtigkeit der Theorie der Artbildung durch Migration und Absonderung gelten, indem keine andere Theorie diese hoch- bedeutsame chorologische Thatsache genügend zu erklären vermag. Diese sogenannten vikarierenden d.h. stellvertretenden kon- stanten Arten und Varietäten, welche durch Reliefhindernisse oder Zwischenräume von einander abgesondert sind, dürfen indessen nicht mit verwandten Formen, welche im gleichen Wohngebiet vorkommen, verwechselt werden. Immer erscheint an solchen nächst angrenzenden, durch Schranken der horizontalen oder vertikalen Gliederung mehr oder minder von ein- ander getrennten Arealen ein plötzlicher teilweiser Formenwechsel, eine somatische Umbildung vieler verwandter Arten. Zugleich er- kennt man aber auch ebenso bestimmt sowohl die Scheidung der Aus- gangspunkte verschiedener Stammformen durch beträchtliche Zwischen - räume als auch die nähere morphologische Verwandtschaft der Nachbararten als eine vorherrschende Erscheinung. In zahl- reichen Fällen läßt sich selbst mit großer Wahrscheinlichkeit der Weg nachweisen, welchen die Migration genommen. Ebenso deutlich lassen sich oft die verschiedenen Stationen erkennen, an denen die Wanderung und Ausbreitung der Emigranten eine längere Stauung, einen Still- stand gefunden und in welchen wir auch meist die Werkstätten der somatischen Transformation und die Ausstrahlungszentren neuer Formen mit Sicherheit zu erkennen vermögen. 176 Moritz Wagner, Darwinistische Streitfragen. IV. Am deutlichsten und schärfsten können wir diese räumliche Ab- sonderung nächstverwandter vikarierender Spezies und die starke Wahr- scheinlichkeit ihrer Entstehung durch den impulsgebenden Akt der iso- lierten Kolonienbildung auf denjenigen ozeanischen Inselgruppen nach- weisen, welche in größeren Entfernungen von Festländern liegen und weder mit diesen noch unter sich selbst jemals zusammenhingen. ‚Kleinere vulkanische Inseln gewähren dem Forscher zu solchen eingehenden choro- logischen Studien den besonderen Vorteil, daß er den Umfang der Stand- orte verschiedener Arten der gleichen Gattung sehr genau untersuchen und die peripherischen Grenzen der Verbreitungsgebiete mit aller Schärfe feststellen kann. Wenn zuverlässige Beobachter wie GuLick im Hawai- Archipel, BörrGer auf den vulkanischen Inseln des ägeischen Meeres, AnDERSONn und Hookrr auf den Galapagosinseln den ausgesprochenen engen Endemismus aller Speziesformen von geringer Mobilität sowohl bei Tieren wie bei Pflanzen auf jedem einzelnen Eiland als besonders charakteristisch hervorheben, so dürfte diese Thatsache allein schon als ein bedeutsames Zeugnis für die mechanische Ursache der Differenzierung durch räumliche Sonderung betrachtet werden. Der Beweis wird aber wesentlich verstärkt, wenn wir sehr analoge Fakta in den Ländern aller Weltteile, welche durch ihre chorologische Be- schaffenheit sich zu derartigen Untersuchungen vorzüglich eignen, nach- weisen können. Aus der thatsächlichen scharfen Trennung der Wohnbezirke oder Standorte fast aller insularen vikarierenden Spezies ergibt sich auch der Beweis für die Verschiedenheit ihrer Ausgangspunkte oder Ur- sprungszentren, die man früher »Schöpfungszentren«s nannte und die jetzt in den Schriften der modernen Anthropologie unter der Bezeichnung »Ausstrahlungszentren« figurieren, ganz einfach von selber. Wenn dazu für diejenigen ozeanischen Archipele, welche sich wie die Galapagos, nach GrısksAcH’s schwerwiegender Meinung, besser als andere zu einer Untersuchung des chorologischen Vorkommens der organischen Formen in ihrer ursprünglichen Ungestörtheit eignen, die wichtige Thatsache konstatiert wird: daß auf allen kleineren Inseln die einheimischen Gattungen gewöhnlich monotypisch sind und daß auch auf den größeren Inseln zwei oder mehrere Arten der gleichen Gattung nur ausnahmsweise vorkommen und dann fast immer nur an getrennten Standorten, meist in den abgesonderten Kesseln erloschener Krater, wie bereits L. von Buch auf den kanarischen Inseln so richtig beobachtet hat — so liegt in dieser wichtigen Thatsache zu- gleich ein starker Gegenbeweis gegen die Artbildung durch natürliche Auslese im Kampfe ums Dasein. Wäre die Auslese begünstigter Formen im Konkurrenzkampf die wahre Ursache der Entstehung geschlossener Formenkreise, so müßten sich auf den ozeanischen Archipelen die entgegengesetzten Erscheinungen zeigen. Man müßte dort in der Regel zwei Speziesformen derselben Gättung im gleichen Wohnbezirk auf der gleichen Insel gesellig mit- einander vorkommend finden, von denen eine die jüngere vorteilhafter ausgestattete und im Konkurrenzkampf siegreiche Form mit zunehmendem Moritz Wagner, Darwinistische Streitfragen. IV. 177 Individuenbestand, die andere die ältere im »struggle for life« allmählich unterliegende Form mit abnehmender Individuenzahl darstellen würde. Doch wir sehen auf den ozeanischen Archipelen das gerade Gegenteil: nämlich auf jeder Insel in der Regel nur Eine Art einer einheimischen Gattung im gleichen Wohnbezirk und auf der nächsten Insel eine andere, aber nächst verwandte Art derselben Gattung. Jede Wanderung einzelner Individuen oder Stamm- paare von einer Insel zur andern hat hier offenbar den zwingenden Im- puls zur Bildung einer neuen Form gegeben, während letztere auf der gleichen Insel neben ihrer Stammform, selbst wenn sie mit günstigeren Merkmalen ausgestattet war, gegen die nivellierende und absorbierende Wirkung der Kreuzung nicht aufzukommen vermochte. Bei einer ein- gehenden Betrachtung der Tierwelt des Galapagosarchipels werden wir in einer folgenden Abhandlung auf die chorologischen Thatsachen dieser Inselgruppe zurückkommen, welche für die Phylogenesis so überaus wichtig sind. Auch auf den Kontinenten liefert das vergleichende Stu- dium der geographischen Verbreitung wie des engeren choro- logischen Vorkommens aller formenreichen Gattungen und Untergattungen mit ihren zahlreichen Arten und lokalen Varie- täten eine volle Bestätigung der Migrationstheorie. Schlagende Beweise finden sich namentlich bei den Insekten als der artenreichsten aller Tierklassen und unter ihren verschiedenen Ordnungen sind es be- sonders die Coleopteren, welche sich zu solchen instruktiven zoo-geo- graphischen Studien eignen. Vor den höheren Tierklassen haben die Insekten nicht nur den Vorteil des größeren Artenreichtums, sondern auch den wichtigen Vorzug voraus, daß sie durch die zerstörenden Ein- flüsse der menschlichen Kultur nicht so leicht verdrängt und vernichtet werden können wie Säugetiere, Vögel und Reptilien. Die ungeheure Zahl ihrer Arten und lokalen Varietäten und das kosmopolitische Vor- kommen mancher Gattungen ist gerade bei den Insekten für das phylo- genetische Problem ein überaus günstiger Umstand. In den Resultaten bezüglich der wirksamen äußeren Faktoren, welche die Transformation der Spezies nach größter Wahrscheinlichkeit vollziehen, stimmt jedoch die Chorologie der Insekten mit den zoo-geographischen Thatsachen der höheren Tierklassen im wesentlichen zusammen. In beiden organischen Reichen ist, wie es schon jetzt die Ergeb- nisse vieler chorologischer Detailforschungen der Faunen und der Floren höchst wahrscheinlich machen, jede Art und jede Gattung ursprüng- lich von einem einzigen besonderen Punkt ausgegangen, welcher gewöhnlich, doch keineswegs immer, nahe der Mitte ihres jetzigen Ver- breitungsgebietes liegt. Die Areale der nächstverwandten Arten sind auf den Kontinenten meist aneinander gereiht, bald wie die Ringe einer ausgespannten, oft auch verschlungenen Kette, bald wie die Maschen eines Netzes nach allen Richtungen auseinandergehend. Solche Arealringe — wie wir die auf einander folgenden Stationen verwandter Spezies nennen wollen — sind besonders bei den guten vikarierenden Arten sehr oft ganz geschlossen, in vielen Fällen aber auch Kosmos 1884, II. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XV). 12 178 Moritz Wagner, Darwinistische Streitfragen. IV. an irgend einer Seite geöffnet und man sieht dann diese nächstverwandten Speziesformen an solchen Stellen oft durcheinander gemischt. Untersucht man aber die Ausdehnung der Grenzen dieser Areale sehr genau, so findet man sie fast immer bei den verschiedenen Arten in der einen oder anderen Richtung sehr abweichend. Nicht selten sieht man auch die Arealkette durch sehr beträchtliche Zwischenräume unterbrochen. Dieser jetzt leere, nämlich von Arten der gleichen Gattung nicht besetzte Zwischenraum war während der Tertiärperiode noch von vikarierenden Arten besetzt, wie bereits zahlreiche paläontologische Funde beweisen. Fast jede neue Entdeckung von reichen paläontologischen Fund- plätzen bringt aber neue Beweise und vermehrt unsere Kenntnis der einst vorhandenen, jetzt erloschenen formverwandten Arten, welche früher die Lücken der nun zerrissenen Verbreitungsketten ausfüllten. Eine der merkwürdigsten Unterbrechungen in der Verbreitungskette zeigt uns z. B. unter den Säugetieren die Gattung der Tapire, deren noch lebende Re- präsentanten gegenwärtig auf Süd-Asien und Süd-Amerika beschränkt sind, während einst nächstverwandte Formen als Bindeglieder noch bis zur jüngeren Tertiärzeit in Europa, Nord-Asien und Nord-Amerika zahl- reich existierten. Die Tapirform ist also keineswegs, wie HumsoLpr sich irrig vorstellte, von der Natur in den weit getrennten Ländern ihres jetzigen Vorkommens »reproduziert« worden. Die Gattung hat sich vielmehr in der Tertiärzeit durch Expansion und Migration von Nord- Asien über die während der Pliocänperiode noch bestehende Landbrücke der Aleuten nach Nord-Amerika und von dort nach Süd-Amerika oder vielleicht auch in umgekehrter Richtung verbreitet. Jedenfalls’ aber er- kennt man deutlich, daß es lediglich nur die räumliche Absonderung war, welche die Differenzierung der einst zahlreich vorhandenen Arten vermittelte. Je größer der Artenreichtum einer Gattung noch jetzt ist und je weiter die Verbreitung der verschiedenen Familien und Gattungen reicht, desto bestimmter läßt sich aus dem chorologischen Vorkommen der ver- schiedenen Speziesformen die zwingende Ursache ihrer typischen Differen- zierung erkennen. Daß diese Differenzierung mit der Trennung durch Reliefschranken in den meisten Fällen zusammentrifft, hatte man zwar schon vor Darwın längst gewußt, aber nie in dem Sinne gedeutet, daß das mechanische Hindernis, welches die massenhafte Wanderung der Individuen aufhielt und die isolierte Kolonienbildung einzelner Emigranten begünstigte, selbst die anstoßgebende äußere Ursache der Art- bildung sei, indem sie mit der Fortbildung persönlicher Merk- male stets auch eine Änderung in dem Gebrauch und der Ent- wickelung gewisser Organe, d.h. eine funktionelle Anpassung notwendig im Gefolge hatte. Ein sehr berühmter Naturforscher hatte sich schon, lange vor Darwın die Frage gestellt: warum sind so viele übereinstimmende Merk- male von Gattungen und Arten weitverbreiteter Tierfamilien durchaus nur von dem geographischen Zusammenhang eines großen Verbreitungs- gebietes und nicht von klimatischen oder anderen äußeren Einflüssen ab- Moritz Wagner, Darwinistische Streitfragen. IV. 179 hängig? Warum trägt in der Regel jede Gattung den somatischen Stempel ihres Welttels? Warum sind z. B. sämtliche Schweine der zusammenhängenden Weltteile Europa und Asien vierzehig ohne Drüse auf dem Rücken, während sämtliche Schweine des abgetrennten Welt- teils Amerika durch dreizehige Hinterfüße und eine eigentümliche Drüse auf dem Rücken gekennzeichnet sind? Und warum haben sämtliche Schweine von Zentral- und Süd-Afrika zwar vierzehige Füße, aber auch die charakteristischen vier Fleischlappen im Gesicht, welche ihren Ver- wandten in Asien und Europa fehlen und jenen dagegen das somatische Gepräge ihres Kontinents geben ?. — Diese morphologische Trennung der Suinen erweitert sich bedeutend mit den jetzt unüberschreitbaren mechanisehen Schranken ihrer Verbreitung in südöstlicher Richtung. Der auf Celebes und den nächsten einst zu- sammenhängenden Inseln vorkommende Hirscheber (Porcus Babyrussa) zeigt uns einen solchen stärkeren morphologischen Sprung als Folge der weiteren räumlichen Absonderung im Vergleich mit den zusammenhängen- den Verwandten des asiatischen Festlandes. Derselbe ist durch hohe Beine und sehr lange, nach hinten gekrümmte und mit der Spitze nach vorne gebogene Eckzähne ausgezeichnet, während seine Vorderzähne sich um zwei vermindern. Deutlicher noch erkennen wir die Abhängigkeit der näheren morpho- logischen Verwandtschaft von dem geographischen Zusammenhang und um- gekehrt diejenige der stärkeren morphologischen Abweichung von einer schärferen geographischen Absonderung an den beiden großen Abteilungen der Primaten in der Alten wie in der Neuen Welt. Jede der beiden räum- lich gesonderten Affenfamilien: die Simiae platyrrhinae Amerikas wie die Simiae catarrhinae der Alten Welt tragen ihre besonderen typischen Merkmale, an welchen jeder Zoologe auf den ersten Blick ihre verschie- dene kontinentale Herkunft erkennt und unterscheidet. Sämtliche Affenarten Amerikas haben bekanntlich eine breite Nasenscheidewand, sechs Backzähne in jeder Reihe und einen der ganzen Familie eigentümlichen sehr kurzen mit einem kreisförmigen Rande um- gebenen Gehörgang. Dagegen haben sämtliche Affenarten der alten Welt als gemeinschaftlichen Familiencharakter eine schmale Nasenscheide- wand und nur fünf Backzähne in jeder Reihe, dazu einen röhrenförmigen zusammengedrückten am Rande gezähnten Gehörgang. Die Affengattungen Asiens und Afrikas besitzen niemals einen Greifschwanz, der den meisten Affengattungen Amerikas eigen ist, und diesen fehlen ausnahmslos die . Gesäßschwielen und Backentaschen, welche ein charakteristisches Merkmal der Affengattungen der Alten Welt sind. Eine so strenge morphologische Scheidung der typischen Merkmale in beiden großen Affenfamilien der beiden Hemisphären drängt von selber zu der berechtigten Hypothese: daß jede der beiden Familien von Primaten ihre Herkunft von einem andern räumlich getrennten Emigrantenpaar ableitet und daß die geographische Sonderung der Weltteile, welche sich während der Pliocänperiode voll- z0g, die nächste Ursache der somatischen Umgestaltung war. Verfolgt man die geographische Verbreitung der verschiedenen Gat- 180 Moritz Wagner, Darwinistische Streitfragen. IV. tungen und Arten beider Affenfamilien, so zeigt sich der bestimmende Einfluß, welchen die räumliche Sonderung auf die Veränderung der Form ganz unabhängig von der Nahrung und dem Klima übte, noch viel augen- fälliger. In Afrika wie in Asien richtet sich die morphologische Ähn- lichkeit der Varietäten, Arten und Gattungen, die jedem Weltteil eigen sind, durchaus nach den trennenden mechanischen Schranken oder nach den größeren Entfernungen der Areale. Nachbarschaft bedingt in der Regel auch die nähere somatische Verwandtschaft!. Je größer und bestimmter die geographische Abgeschlossenheit eines Erd- teils, desto größer ist auch die relative Zahl seiner endemischen Gattungen und Arten. Je beschränkter die Lokomotionsfähigkeit einer Gattung, desto häufiger trägt sie das besondere somatische Gepräge ihres Kontinents, aber auch um so reicher an Arten und Varietäten ist sie verhältnismäßig überall, wo die chorologischen Verhältnisse eine Zu- wanderung in beschränkter Individuenzahl gestatteten und zugleich die zeitweilige Isolierung weniger Ansiedler begünstigten. Sehr lehrreich in letzterer Beziehung ist z. B. das chorologische Vorkommen sämtlicher Arten der afrikanischen Affengattung Oercopithecus oder Meerkatzen, welche sich durch zierliche Formen, kürzere Schnauze, schlankere Gliedmaßen und kürzere Hände vor allen übrigen Affengat- tungen der Alten Welt auszeichnen. Dieselben sind ganz auf Afrika beschränkt und scheinen sich erst gegen das Ende der Tertiärzeit aus älteren Affenformen gebildet zu haben, indem man in den Schichten der früheren geologischen Perioden von ihnen noch keine Spur entdeckt hat. Man kennt über 30 Spezies der Gattung Cercopithecus. Die wirkliche Zahl der Arten dürfte aber noch viel größer sein, da dieselben bis zu einer Meereshöhe von 3000 Fuß vorkommen und fast jede zoologische Expedition in das afrikanische Binnenland die systematische Kenntnis derselben vermehrt. Die verschiedenen Spezies der Meerkatzen gehen indessen nirgends weit über die eigentliche Tropenzone hinaus, kommen im nördlichen Afrika nicht vor und konnten deshalb auch die Landenge von Suez nicht überschreiten. Auch bei dieser Gattung erkennen wir deutlich und bestimmt, daß die chorologische Nachbarschaft in der Regel die größere morphologische Ähnlichkeit bedingt, während die größere spezifische Verschiedenheit ge- wöhnlich von der weiteren räumlichen Sonderung abhängt. Die charak- teristische Untergattung der Meerkatzen Üercocebus mit langer Schnauze, erhöhten Augenhöhlenrändern und mit unpaarem Höcker am fünften untern Backenzahn ist in ihrem Vorkommen auf die westlichen Küsten- länder Afrikas beschränkt und fehlt der Ostseite. Die Arten sind von Guinea bis Senegambien verbreitet. Die andere Untergattung mit kurzer Schnauze, nicht erhöhten Augenhöhlenrändern und mit vierhöckerigen Mahlzähnen hat ihre Repräsentanten sowohl im westlichen als im öst- ' Der Verfasser bittet den geehrten Leser um Entschuldigung, wenn er zur Vermeidung eines mangelhaften Verständnisses der Sonderungstheorie gewisse be- deutsame Thatsachen zuweilen wiederholt. Die Erfahrung lehrt, daß man manchen Lesern und besonders wissenschaftlichen Gegnern gegenüber, um nicht teilweise mißverstanden zu werden, niemals zu deutlich schreiben kann. un Moritz Wagner, Darwinistische Streitfragen. IV. 181 lichen Afrika. Doch stehen die in Guinea und am Senegal aufeinander- folgenden Nachbararten (©. nictitans; C. petaurista, O. cephus, (©. mona so- matisch einander etwas näher als die von Nubien bis zur Südgrenze von Mozambique einander folgenden Arten (. pyrrhonotus, C. labiatus, ©. ochro- cens, ©. erythrachus, O©. flavidus, welche als Nachbarspezies wieder unter sich näher verwandt sind als mit ihren entfernteren Stammesgenossen. Die Gattung der Schlankaffen, Semmopithecus, offenbart in ihrer geographischen Verteilung dieselben wesentlichen, unserer Theorie gün- stigen Thatsachen, nämlich die räumliche Sonderung vikarierender Arten, die kettenförmige Aufeinanderfolge der Areale und die vorherrschende nähere somatische Verwandtschaft der benachbarten Spezies. Diese Gat- tung repräsentiert eine ältere Form als die Gattung der Meerkatzen. Viele Arten von Schlankaffen, die noch in der jüngsten Tertiärzeit exi- stierten, sind ausgestorben und andere wie z. B. der seltene Nasenaffe auf Borneo (Semnopithecus nasicus) scheinen dem Erlöschen nahe zu sein. Schon in der mittleren Tertiärzeit existierte diese Gattung und war da- mals bis zum südlichen Abhange des Himalayagebirges verbreitet, wo in den nördlichen Ablagerungnn der Siwalikberge bereits 1836 die fossilen Reste eines Affen gefunden wurden, welcher dem jetzt noch im südlichen Indien lebenden Semnopithecus entellus sehr nahe steht. Verschiedene dort gefundene fossile Affenzähne stimmen mit dem Gebiß des Orang fast ganz überein. Andere fossile Reste, welche am gleichen Fundplatz von BAKER und Durann entdeckt wurden, gehörten einer größeren Affen- gattung an, deren Formen zwischen unseren jetzigen Gattungen der Schlankaffen und der Paviane in der Mitte standen und an Größe unseren lebenden anthropomorphen Affen gleichkamen. Auch die im südöst- lichen Europa damals zahlreich vertretene Affengattung Mesopithecus zeigt die nächste Verwandtschaft zum Genus Semnopithecus und ebenso die von OÖ. Fraas in den Miocänschichten von Steinheim entdeckte fossile Affen- gattung, die nach der Beschaffenheit der Zähne mit der afrikanischen Gruppe der Schlankaffen ganz zusammenstimmt. In der geographischen Verteilung der jetzt lebenden Arten der Gattung Semnopithecus wird jeder unbefangene Forscher nur ein günstiges Zeugnis für die Richtigkeit der Migrationstheorie erkennen. Jede der beiden geographisch abgesonderten Gruppen hat ihre eigenen Merkmale. Die Systematik hat daher zwei Untergattungen aus demselben Genus unterschieden. Bei der afrikanischen Abtheilung Colobus ist der vordere Daumen völlig verkümmert. Die asiatischen Arten der Gattung Semno- pithecus besitzen dagegen übereinstimmend sämtlich einen kurzen vorderen Daumen. Auch bei der Paviangattung zeigt die große räumliche Trenn- ung zwischen ihren Vertretern in Afrika und Asien einen ähnlichen morphologischen Sprung und das besondere somatische Gepräge. Die afrikanischen Arten der Gattung Oynocephalus, in kettenförmiger Reihen- folge verbreitet, haben sämtlich einen langen Schwanz und eine sehr lange Schnauze. Der von ihnen durch eine weite geographische Lücke getrennte Cynocephalus niger, der schwarze Pavian auf den Inseln des süd- östlichen Asiens, hat dagegen nur einen kurzen Stummel statt des Schwanzes und eine sehr viel kürzere Schnauze. 182 Moritz Wagner, Darwinistische Streitfragen. 1V. Auch bei den platyrrhinen Affen Amerikas lassen sich analoge Erscheinungen, welche für die Migrationstheorie günstig zeugen, in dem chorologischen Vorkommen der Arten mit aller Bestimmtheit nachweisen. Überall, wo im tropischen Amerika die hohe Gebirgsmauer der Cordillere als undurchbrochene Schranke auftritt, zeigen die entgegengesetzten Ge- hänge getrennte vikarierende gute Arten oder doch mindestens konstante Varietäten, während in Darien, Panama und Nicaragua, wo das Gebirge teils zur Höhe eines Mittelgebirges herabsinkt und teils ganz durch tiefe Einsenkungen unterbrochen wird, zwischen den Affenarten, welche das Küstenland des atlantischen Ozeans bewohnen, und denen an der pazi- fischen Seite nicht der geringste Variationsunterschied bemerkbar ist. Bei der artenreichen Gattung Hapale soll zuweilen schon ein breiter Strom die scheidende Grenze der vikarierenden Spezies bilden. In dem Genus COhrysothrix haben D’ORBIGNY, GEOFFROY SAINT HILAIRE und ANDREAS WAGNER verschiedene Arten aufgestellt, die wenigstens als geographische Varietäten ihre Berechtigung haben. Man glaubte früher das Vorkommen dieser schönsten Affengattung auf Südamerika beschränkt. Dieselbe ist in den Provinzen Darien und Panama wirklich nicht vertreten. Dagegen kommt sie nach einer größeren Lücke in der an Costarica grenzenden Provinz Chiriqui vor, von wo ein Exemplar in den Besitz des zoologi- schen Museums von München gelangte und ganz der Theorie der geo- graphischen Absonderung entsprechend von SIEBOLD als eine ausgezeich- nete neue Art erkannt wurde. Wenn man neben den beiden auf die warme Zone beschränkten typischen Affenfamilien der alten und der neuen Welt andere wirklich kosmopolitische oder doch sehr weitverbreitete Säugetiergattungen, wie z. B. die Gattungen Canis und Cervus in der geographischen Verteilung ihrer sehr zahlreichen Arten und besonders in dem chorologischen Vor- kommen ihrer nächstverwandten Spezies und lokalen Varietäten vergleicht, so kommt man auf Resultate, welche der Migrationstheorie noch viel günstiger sind, wie in jüngster Zeit ein kenntnisreicher russischer Zoo- loge, Dr. F. Tu. Körren in einer der St. Petersburger Akademie vor- gelegten ausgezeichneten Abhandlung! zugestanden und durch zahlreiche Beispiele nachgewiesen hat. Besonders überzeugend ist ihm dieses bei der in alle Details eingehenden Darlegung der geographischen Verbreitung der verschiedenen Arten von Edelhirschen (ZElaphus) gelungen, welche sich nicht nur von den beiden arktischen Hirscharten, sondern von allen übrigen zahlreichen Artgenossen der Gattung Cervus durch ein großes Geweih mit runden Ästen, durch nackte Nase und durch deutliche Thrä- nengruben unterscheiden. Die von erfahrenen Zoologen aufgestellten und sorgfältig revidierten Arten der engern Gruppe eigentlicher Edelhirsche sind: 1) Cervus eustephanus BLANFORD, die wahrscheinliche Stammart sämtlicher Edelhirsche, welche im nördlichen Zentral-Asien, besonders im Altai und Thian-Schan und in einem großen Teil Sibiriens verbreitet ist, ı Viel. unser ausführliches Referat dieser Schrift in Kosmos XIII, nn S. 73. Die Red. Moritz Wagner, Darwinistische Streitfragen. IV. 183 wo indessen bereits eine abgesonderte geographische Varietät in. Trans- baikalien, von Borau unter dem Namen Cervus Lühdorfii beschrieben, erscheint. 2) Cervus Maral Ocıuey in Nordpersien, Armenien, im Kaukasus und in der Krim. 3) Oervus elaphus Lısnt& im westlichen Europa und früher auch in Rußland bis zum Ural. 4) Cervus Cashmeerianus FALcoNER in Kaschmir. 5) Cervus affinis Hopsson am südlichen Abhang des Himalaya. 6) Cervus zanthopygus A. Mıun&-EpwArps im nördlichen China. 7) Cervus barbarus Bosner im Atlasgebirge. 8) Cervus canadensis Brıss. in Nordamerika. An diese Gruppe der eigentlichen Edelhirsche reihen sich im süd- lichen und südöstlichen Asien und auf den nächst gelegenen Inseln, in den Südstaaten Nordamerikas, in Mittel- und Südamerika andere zwar verwandte, aber doch somatisch etwas ferner als die obengenannten Spezies stehende Hirscharten an, deren Vorkommen und räumliche An- ordnung gleichfalls den Postulaten der Migrationstheorie genau entspricht. Wir verzichten jedoch des Raumes wegen auf die chorologischen Einzel- heiten bezüglich dieser Arten und beschränken uns auf das chorologische Vorkommen der Edelhirsche im engern Sinn, über welche Körpern uns so genaue Mitteilungen bringt. Als Urstammart nimmt Körren den Cervus eustephanus an und als Verbreitungszentrum oder Ausgangspunkt betrachtet er, auf umfassende Forschungen gestützt, das Gebiet zwischen dem Altai und dem Thian- Schan, wo diese Form des Edelhirsches noch heute in großer Individuen- zahl zusammenhängend vorkommt. Von dort wanderten einzelne Emigran- ten oder kleine Trupps nach allen Richtungen hin, soweit die zusammen- hängenden Wälder, auf weiche der Hirsch zu seiner Existenz stets angewiesen ist, diese Emigrationen gestatteten. Das Klima hat als ein die Wanderungen begünstigendes oder beschränkendes Moment nur ge- ringen Einfluß auf die somatische Transformation, da die gleiche Art- form, wie auch in Europa deutlich erkennbar, Regionen von sehr ver- schiedenen Klimaten bewohnen kann, ohne sich im geringsten zu differen- zieren, so lange sie in einem räumlichen Zusammenhang mit ihren Art- genossen in anderen Regionen bleibt. Körpen schildert den Gang und die Richtung, welche die Migration und Expansion des zentral-asiatischen Edelhirsches mit größter Wahr- scheinlichkeit genommen hat, auf Grund der chorologischen Verhältnisse sehr scharfsinnig und überzeugend. Ein Bruchteil von Emigranten des Cervus eustephanus wanderte nach Osten über das Ssajanische Gebirge, den Jablonnoj- und Stanowoj-Bergrücken bis zum Ochotskischen Meere aus und ging von dort aus »über Nordjapan und die einstigen Kurilische und Aleutische Landengen nach Nordamerika hinüber, wo er, in wenig veränderter Form, als Wapiti-Hirsch (Cervus canadensis) ver- breitet ist. Vom Jablonnoj-Chrebet zweigte sich eine Gruppe ab, setzte südwärts über den Amur hinüber und ging, in südlicher Richtung seinen Weg fortsetzend, längs dem Chingan-Gebirge bis in die Gegend von 184 Moritz Wagner, Darwinistische Streitfragen. IV. Peking, wo der Edelhirsch gegenwärtig in der Form Cervus zanthopygus existiert. Ein anderer Trupp wandte sich nach Westen und ging, im Norden des einstigen Aralo-Kaspischen Meeres, den jetzigen Irtisch hinunter, setzte über den Ischim und Tobol und erreichte das Uralgebirge. Diese Wanderung kann in relativ sehr später Zeit stattgefunden haben, nach- dem der das Kaspische und das Eismeer verbindende Meeresarm bereits trocken gelegt war. Diese Gruppe bildete die Form des Ural-Hirsches, über die wir leider nichts Genaueres wissen; möglich, daß sie eine Zwischenform zwischen Cervus eustephanus und Cervus elaphus bildet oder aber gebildet hat, wenn nämlich der Ural-Hirsch ausgestorben sein sollte. Die Wanderung nach Süden muß in uralten Zeiten begonnen haben. Sie folgte den obengenannten Bergrücken und begann erst im Karakorum oder im Hindukusch sich zu verzweigen. Ein Teil der Edelhirsche wandte sich von hier aus nach Südosten, drang in Kaschmir ein, wo sie gegen- wärtig als Cervus Cashmeerianus fortexistieren; von diesen zweigte sich ein Rudel ab und forcierte den Himalaya, um am südlichen Abhange des- selben wieder eine neue Form, den Cervus affinis ( Walichii), auszubilden. Ein anderer Teil endlich wandte sich vom Hindukusch nach Westen und ging längs der obenbezeichneten Bergrücken nach Persien und dem Kaukasus hinüber. Da das früher waldbedeckte Gebirge in Nordafghanistan und Nordpersien später, infolge des Austrocknens eines großen Teiles des einstigen Aralo-Kaspischen Meeres, vom Walde entblößt wurde, fand eine Unterbrechung in der Kontinuität der Verbreitung des Edelhirsches statt und dieser Unterbrechung ist es wohl zuzuschreiben, daß sich mit der Zeit eine auf Persien, Armenien, den Kaukasus und die Krim be- schränkte Form, Cervus Maral, ausbildete.. Von Persien oder dem Kau- kasus ging ein Zweig wieder über Klein-Asien nach Europa, mit welchem ersteres bekanntlich früher, d. h. vor dem Durchbruche des Thracischen Bosporus, direkt zusammenhing. Und dieser Stamm, der später vom Verbreitungsgebiete des Cervus Maral nach erfolgtem Durchbruche des Pontus abgetrennt wurde, entwickelte sich zu der europäischen Form Cervus elaphus, welche sich über ganz Süd- und Mittel-Europa, nördlich bis zum südlichen Schweden und Norwegen sowie Schottland, östlich bis in den westlichen Teil des europäischen Rußlands und westlich bis Irland und Spanien hin ausbreitete. Die Wanderung nach Korsika und Sardinien hat jedenfalls zu einer Zeit stattgefunden, als diese Inseln noch mit dem Festlande (und namentlich mit Ligurien) vereinigt waren; nach später erfolgter Abtrennung hat sich daselbst eine besondere Varietät des Edel- hirsches ausgebildet, die sich u. a. durch ihre Kleinheit auszeichnet. Endlich ging von Spanien aus, das nachweislich einst mit Nord-Afrika zusammenhing, ein Trupp nach dem letzteren hinüber, wo der Edelhirsch im Atlasgebirge in der Form Cervus barbarus noch gegenwärtig existiert. « Am Schlusse seiner scharfsinnigen Untersuchungen bezüglich der Wanderungen und der geographischen Verbreitung sowohl der Edelhirsch- arten als anderer Waldsäugetiere, wie des Eichhörnchens, des Rehes u. s. w. stellt Körren die wichtigsten Resultate seiner zoo-geographischen Studien zusammen und kommt zu dem Ergebnis, daß nach dem Kaukasus, welcher Moritz Wagner, Darwinistische Streitfragen. IV. 185 durch seine Lage und Naturverhältnisse überhaupt eine bedeutsame Stellung in der Chorologie der Organismen einnimmt, die meisten Wald- säugetiere durch Zuwanderung aus Inner-Asien gelangt sind und daß das bewaldete Jajla-Gebirge der Krim seine Säugetiere nicht aus der wald- losen russischen Steppe, sondern durch massenhafte Einwanderung aus dem Kaukasus über die Meerenge von Kertsch, welche in sehr kalten Wintern mit einer dicken Eiskruste sich überzieht und dann auf Monate der Tier-Migration eine passierbare Brücke darbietet, erhalten hat. Körren’s Schlußthese lautet wörtlich: >»Eine unerläßliche Bedingung für die Abzweigung einer neuen Art bildet — wie schon Morırz WAGNER gelehrt — eine Emigration der Stammart und eine darauf erfolgte lange dauernde Unterbrechung in der Kontinuität der Verbreitung. Die geo- graphische Verbreitung der Hirscharten aus der Gruppe des Cervus elaphus bietet dazu ausgezeichnete Belege.« Dieses für die Migrationstheorie so günstig lautende Schlußergebnis konnte dem Verfasser dieser Abhandlung nur erfreulich sein. Wenn aber der kenntnisreiche russische Akademiker auf Grund seiner zoo-geographi- schen Forschungen auch zu ganz entgegengesetzten Resultaten gelangt wäre und unsere Theorie der Artbildung durch räumliche Absonderung auf Grund der Thatsachen als unhaltbar verworfen hätte, so würde ihm der Verfasser für diesen offenen Widerspruch dennoch dankbar gewesen sein und seine Einwände einer unbefangenen Prüfung unterzogen haben. Der Wahlspruch unseres Landsmannes MAx MÜLLER: »Was wir suchen, ist die Wahrheit und nicht der momentane Sieg eigener Mein- ungen«,.bleibt auch der unserige. Es möge uns hier noch gestattet sein, ein anderes Urteil von seiten eines verstorbenen berühmten Landsmannes des Dr. Körren anführen zu dürfen, indem dessen Äußerungen bezüglich einer so wichtigen Streit- frage wohl manchen unserer wissenschaftlichen Gegner interessieren dürf- ten. Karı Ernst von BAER, der gefeierte russische Akademiker, welcher bekanntlich in seinen späteren Lebensjahren sich nach Dorpat zurückzog und dort mit voller geistiger Klarheit alle bedeutsamen naturwissenschaft- lichen Arbeiten, besonders in bezug auf die Entwickelungslehre und den Darwinismus bis an sein Ende verfolgte, sprach damals seine Anerkennung der 1875 im Ausland veröffentlichten »Chorologischen Beweise für die Richtigkeit des Migrationsgesetzes« in bestimmten Worten aus, wie uns auch sein Vorleser bestätigt, der über die letzten Lebensjahre des großen Naturforschers eine interessante Schrift publizierte. Baer, der schon vor dem Erscheinen der Werke Darwın's dem Problem der Artbildung ein vieljähriges ernstes Nachdenken gewidmet und auf seinen verschiedenen Reisen im russischen Asien hochinteressante zoo-geographische Beob- achtungen angestellt hatte, legte besonders Gewicht auf den Nachweis: daß nächstverwandte Arten gewöhnlich Nachbararten sind, und meinte, daß in dieser Thatsache wie in der vorherrschenden Trennung der vikarierenden Formen allerdings ein sehr starker Beweis für die Transformation der Spezies durch die Wirkung der Isolierung enthalten sei. Wenn der geniale Forscher früher eine wesentliche That- sache bezüglich der zeitweiligen Isolierung und Kolonienbildung von Emi- 186 Moritz Wagner, Darwinistische Streitfragen. IV. granten irrig auffaßte und an dieses Mißverständnis einige Bedenken knüpfte, so hat er doch später seinen Irrtum, an welchem die erste mangelhafte Darlegung der Migrationstheorie von unserer Seite schuld sein mochte, eingesehen und der Richtigkeit dieser Theorie nachträglich aus voller Überzeugung zugestimmt !. ı K. E. v. Baer besaß neben anderen ausgezeichneten Qualitäten als For- scher und Gelehrter auch die seltene Eigenschaft der Aufrichtigkeit. Auf das kri- tische Urteil eines so geistvollen Beobachters durfte man daher einen wirklichen Wert legen. Sein anerkennendes Lob war nie eine leere Phrase. Mit seiner be- dingten Zustimmung zur Migrationstheorie äußerte Baer anfangs auch ein Be- denken, das er aber später, als er die ergänzenden und berichtigenden Aufsätze des Verfassers über dasselbe Thema im „Ausland“ bis 1875 gelesen hatte, ausdrücklich zurücknahm, Sein Schreiben vom 10. Juni 1868 lautete: „Ich habe Ihre fakten- reiche und deshalb lehrreiche Schrift: „die Darwin’sche Theorie und das Migra- tionsgesetz der Organismen“ mit dem größten Interesse gelesen. Als Beweis mei- ner Anerkennung kann es dienen, daß ich dem Dr. S. von Dresden, der gerade hier war, um zu promovieren, dieselbe als Muster mitgeteilt habe. S. schien mir näm- lich ein Ultra-Darwinist, da er eine systematische Gruppierung von Insekten, nament- lich der Rüsselkäfer, einen Abstammungsnachweis oder einen Stammbaum nannte. Mir schien es ein "ore00v rooreoov, wenn man nach der größern eine geringere Verwandtschaft gruppiert und nun spricht: so müssen sie abstammen. Längere Zeit noch muß umgekehrt verfahren werden, so wie Sie nachweisen: daß verwandte Arten meist auöh benachbarte Arten sind, durch kleine Hindernisse getrennt. Ge- rade in dieser Beziehung ist Ihre Arbeit sehr reichhaltig und ich stehe keinen Augenblick an, sie für die beste zu halten, die ich über die Darwin’sche Hypo- these oder Theorie gelesen habe. Sie fügen zu diesen Hypothesen noch die Not- wendigkeit der Migration hinzu. Sie fügen noch die Notwendigkeit, daß die Emi- granten getrennt worden sein müssen, um neue Formen zu erzeugen. Darin liegt die Schwierigkeit. Sollen wir annehmen, dab ehemals eine Menge Inselgebiete bestanden, so wird ein solches Verhältnis für sehr frühe Erdperioden leicht durch- zuführen sein, aber für die Zeit, in welcher die höheren Wirbeltiere auftraten, doch kaum. Indessen ich will ja nicht voraussagen, was noch zu erweisen möglich ist.“ Nachdem Baer in demselben Schreiben seine eigene Stellung zum Darwinismus und dessen unbedingten Anhängern eingehend dargelegt, bemerkt er: „Eine sehr hübsche Ergänzung Ihrer eigenen Beobachtungen, namentlich den Nachweis, dab ganz unbedeutende Varietäten durch Inzucht auch von der Natur räumlich gesondert werden, können Sie in dem Werke von Emmerson Tennent finden, das den Titel „Ceylon“ führt. Er sagt, dab Helix haemastoma, welche bekanntlich in der Färbung des Mundsaums sehr variiert: schwarz, schwarzbraun, blutrot, weiß, in den einzelnen an einander stoßenden Varietäten gewöhnlich nur von Einer Farbe ist. So ist auch in Großbritannien nur Eine Bucht, in welcher Buceinum undatum einen geteilten Deckel hat. — Die Lehre von den geographischen Grenzen wird bedeu- tende Wichtigkeit für die Zoologie und Botanik gewinnen und wahrscheinlich die bloße Annahme der Unveränderlichkeit der Spezies gar sehr erschüttern oder be- seitigen. Sie sehen, daß Ihre Abhandlung mir ungemein zusagen mußte.“ — Das damals geäußerte Bedenken Baer’s, welches auf seinem mangelhaften Verständnis der Migrationstheorie beruhte, nahm er später zurück, als ihm klar wurde, welch’ bedeutsame Rolle bei der Bildung neuer Arten nicht nur die in größere Entfernungen über die Grenzen des Verbreitungsgebietes vorrückenden Pioniere der Emigration, sondern auch die isolierten Ansiedler an dessen sporadischen Lücken oft dadurch spielen, daß sie neue Formengruppen in massenhafter Individuenzahl innerhalb eines verhältnismäßig kurzen Zeitraums hervorbringen und die später folgenden einzelnen Nachzügler der Stammform absorbieren. Baer’s Vorleser in Dorpat teilte nach dem Tod des großen Forschers unter andern interessanten Notizen auch dessen Gewohnheit mit, seine Zustimmung zu einer neuen Ansicht mit dem kurzen Ausruf „c'est ga“ zu formulieren, und bemerkt: daß er diesen zustimmenden Ausruf ge- braucht habe, als er M. Wagner’s Nachträge zur Migrationstheorie gelesen. nn Moritz Wagner, Darwinistische Streitfragen. IV. 187 An die oben dargelegten zoo-geographischen Thatsachen bezüglich des Vorkommens und der Verteilung von drei wichtigen Familien der höchsten Tierklasse reihen wir die vergleichende Betrachtung der choro- logischen Verhältnisse einiger artenreichen Familien und Gattungen der wirbellosen Tiere, welche für die Frage der Artbildung und ihre wirk- samen Ursachen nicht minder bedeutsam sind. Die allen Entomologen und Käfersammlern so bekannte Gattung der Sandläufer (Cicindela), welche auch unter den Coleopteren Europas durch eine auffallend große Zahl von Arten und Varietäten vertreten ist, gehört zu den wenigen wirklich kosmopolitischen Gattungen. Ihre Arten gehen von der arktischen Zone bis zum Äquator und von der Meeresküste bis zu beträchtlicher Gebirgshöhe. Wir kennen kein kon- tinentales Land und keine größere Insel, wo die Cicindelen gänzlich fehlen. Die Cieindelen sind schlanke, lebhaft gefärbte, auf den Flügeldecken in der Regel mit hellen Binden oder Fleckenzeichnungen geschmückte Laufkäfer, welche mit der großen Familie der Carabiden zwar nahe ver- wandt sind, aber doch eine somatisch getrennte Gruppe bilden. Besonders merkwürdig erscheint jedem Beobachter ihre außerordentliche Mobilität. Die meisten Arten sind nicht nur auf kurze Entfernungen gute Flieger, sondern auch rastlose Schnellläufer von einer wahrhaft staunenswerten Leistung, wie sie namentlich die am Seegestade tropischer Länder vor- kommenden sehr langbeinigen Spezies zeigen. Wenn diese von heftigen Stürmen in das Meer geworfen werden, gehen sie doch nur selten zu Grunde, denn sie besitzen die Fähigkeit, sich sehr leicht schwimmend auf der Oberfläche des Wassers zu erhalten und mit einer eigentümlichen Schnellkraft sich zu erheben, kräftig weiter zu fliegen und dann abermals auf der Oberfläche des Wassers auszuruhen. Die Mehrzahl der Ciecindelen bewohnt den schmalen Sandstreifen der Seeküsten, wo sie Jagd auf andere Insekten machen, aber auch von toten Seetieren, welche die Brandung an das Ufer wirft, sich nähren. Die Larven mit sechs ausgebildeten Beinen leben im Dünensand in senk- rechten Löchern, aus denen nur ihr Kopf mit starken Zangen hervorragt, um vorüberkriechende kleine Insekten zu fangen und auszusaugen. Der Aufenthalt dieser Käfer dicht am Seegestade oft in nächster Nähe der Häfen muß, ebenso wie ihre außerordentliche Lokomotionsfähigkeit, Ver- anlassung zu aktiver und passiver Migration in weitem Umfang, besonders aber auch zu einer häufigen Verschleppung durch Schiffe geben. Es ist daher gar nicht zu verwundern, daß die Cicindelen auf sämtlichen Archipelen beider Ozeane vorkommen; aber jede Insel hat ihre besonderen Spezies. Nicht nur die verschiedenen Arten und Gattungen, sondern auch die vikarierenden Varietäten dieser großen Käferfamilie liefern für die Migrationstheorie ausgezeichnete Belege. So z. B. sind die 22 kon- stanten Varietäten unserer europäischen Cicindela hybrida von den Pyre- näen bis Kamtschatka in aufeinanderfolgenden Arealen verteilt. Daß nicht klimatische Ursachen, sondern die räumliche Absonderung durch mechanische Hindernisse oder große Zwischenräume der Entstehungs- zentren mit Hilfe der dabei stets thätigen funktionellen Anpassung diese 188 Moritz Wagner, Darwinistische Streitfragen. IV. Varietäten hervorbrachten, beweist am schlagendsten die für das euro- päische Russland so charakteristische Varietät, welche von Fischer den Namen Cicindela Pallasi erhielt. Dieselbe ist vom nördlichen Rußland bis zum schwarzen Meer und vom Gestade der Ostsee bis zum westlichen Fuß des Ural verbreitet, kommt also in weitester Ausdehnung trotz der Verschiedenheit des Klimas überall in gleicher Form vor, wo nicht durch eine Reliefschranke ihre massenhafte Expansion ein Hemmnis fand. Am westlichen Ural, wo die Massenwanderung der Individuen auf ein mecha- nisches Hindernis stieß, ist die Grenze ihres Vorkommens und die so weit verbreitete russische Spielart wird östlich von diesem Gebirge plötz- lich durch Cieindela lateralis ersetzt. Der Ural ist für die beiden nächst- verwandten Käfervarietäten die gleiche trennende Schranke wie für so viele andere Tierarten. Von unserer sehr gemeinen Cicindela campestris kennen wir 20 aus- gezeichnete Varietäten. Dieselben sind von Spanien bis zum Kaukasus und vom mittelländischen Meer bis Sibirien und der Tatarei verteilt ähnlich wie die Ringe einer Kette in gesonderten Wohnbezirken, die aber an den Grenzen oft ineinander fließen. Mit den trennenden Schranken steigert sich auch die Variation. So kommt an den Küsten der Berberei die Spielart Cicindela maroccana, in Griechenland (€. olivieri, in der Türkei C. rubens, auf der Insel Candia C. suffriani ete. vor. Wie die geographischen Varietäten der Cicindelen Europas und Nord-Asiens, so sind auch die 400 verschiedenen Arten der Gattung nach dem gleichen Gesetz auf den verschiedenen Inseln und Kontinenten verteilt. Es lassen sich auch bei ihnen wie bei den speziesärmeren Gattungen der Wirbeltiere analoge Thatsachen konstatieren, die für die phylogenetische Frage wichtig genug sind, nämlich: räumliche Trenn- ung der Ausgangspunkte, kettenförmige Anordnung der Wohnareale, vorherrschende räumliche Sonderung der vikarierenden Formen und nähere somatische Verwandt- schaft der Nachbararten. Besonders interessant ist bei den Ci- cindeliden auch eine vergleichende Betrachtung der vikarierenden Genera, deren chorologisches Vorkommen den Postulaten des Migrationsgesetzes genau entspricht. So z. B. ist die Gattung Collyris mit 81 Arten ganz auf Süd- und Ost-Asien beschränkt; die Gattung Tricondyla mit 31 Spezies auf die südöstlichen Inseln Asiens von Java bis zu den Philippinen kettenförmig verteilt. Die Gattungen Dromica mit 24 und Mantichera mit 8 Spezies kommen nur in Afrika vor und verteilen ihre Areale vom Kapland bis Mozambique. Dagegen gehören die Gattungen Ütenostoma mit 26 und Oxychila mit 11 Arten ausschließlich Süd-Amerika an, wo die Wohnbezirke ihrer endemischen Spezies gleichfalls kettenförmig an- einander gereiht sind. Im stillen Ozean sind beispielsweise sämtliche Arten der Gattung Caledonica auf Neu-Caledonien und die nächste Insel- gruppe der Neu-Hebriden beschränkt. Vergleichen wir zu unserm Zweck: die Richtigkeit der Migrations- theorie zu prüfen, andere sehr wenig mobile, aber gleichfalls sehr arten- reiche Gattungen von Coleopteren, so drängen sich die Wahrscheinlich- keitsbeweise für die zwingende Ursache der Artbildung und ihre beiden u TEE re Moritz Wagner, Darwinistische Streitfragen. IV. 189 Hauptfaktoren noch überzeugender auf. Für Süd-Europa und die an- grenzenden Teile Vorder-Asiens zeigt ‚keine Gattung diesen chorologischen Beweis augenfälliger als das zur Familie der Cerambyciden gehörige Genus Dorcadion mit 154 Arten und einer Anzahl lokaler Varietäten. Das Verbreitungsgebiet dieser Gattung umfaßt im südlichen und mittleren Europa eine nicht sehr breite Zone zwischen dem 37.° und 48.’ n. B. Dieselbe beginnt im äußersten Westen der pyrenäischen Halbinsel, welche nicht weniger als 16 gute Arten besitzt, deren Areale sich meist nur an den äußersten Grenzen berühren. In einem zusammenhängenden Länder- gürtel folgen sich dann die übrigen mehr als 100 Arten von West nach Ost. Die Areale sind überall wie die Ringe einer Kette geordnet. Die vikarierenden Varietäten sind in ähnlicher Weise geographisch und topo- graphisch gesondert, aber aufeinanderfolgend, was man an dem be- kannten Dorcadion femoratum und dessen verschiedenen Varietäten in Nord- und Mittelitalien, Sicilien, Griechenland, der Türkei und Kleinasien sehr deutlich erkennen kann. Wie die Gattung Dorcadion durch einen schmalen, aber langgestreck- ten chorologischen Verbreitungsgürtel in der gemäßigten Zone Europas und Vorder-Asiens, so sehen wir die derselben Familie der Bockkäfer angehörige Gattung Sphenura in einer ähnlichen langgezogenen Ver- breitungszone durch den Tropengürtel der alten Welt, besonders Asiens und seiner Inseln verteilt. Dieses Genus ist sogar noch artenreicher als das vorhergeschilderte.e Wir kennen von demselben bereits 185 be- schriebene Spezies, welche in ihrer großen Mehrzahl das Prädikat »gut« verdienen. ‚Während die schwerfällige Gattung Dorcadion, mit ihren ge- schlossenen Flügeldecken zum Fluge unfähig und an die Erdscholle ge- bunden, nur einen äußerst geringen Grad von Mobilität besitzt, also ganz unfähig, Bäume oder Gebüsche zu besteigen, auf die Nahrung von nie- deren Kräutern, besonders Gräsern, angewiesen ist, gehört die Gattung Sphenura zu den beweglichsten und migrationsfähigsten Formen der Cerambyciden. Die Arten leben auf den Bäumen und sind kräf- tige Flieger, welche, wenn mit den Passatwinden segelnd, auch ziemlich breite Meeresarme überfliegen können. Ihre Holzlarven und Puppen lassen sich auf dem Treibholz mit den Meeresströmungen auf weite Strecken verschleppen. Es ist für die Frage der Artbildung überaus lehrreich, zwei Gatt- ungen einer gleichen Insektenfamilie, beide formenreich, aber von ganz verschiedener Lokomotionsfähigkeit und Lebensweise, in ihrem chorolo- gischen Vorkommen zu vergleichen. Dem Grad ihrer außerordentlichen Migrationsfähigkeit entsprechend, sehen wir die Gattung Sphenura eine weit ausgedehntere Verbreitungszone einnehmen als das früher geschil- derte europäische Genus. Diese Zone reicht von Sierra Leone im west- lichen Afrika, wo sie mit der dort vorkommenden Sphenura Giraffa ihre äußerste Westgrenze erreicht, bis zur Insel Neu-Caledonien im stillen Ozean, wo S. Montronzieri wahrscheinlich den äußersten östlichen Re- präsentanten der Gattung nach unserer gegenwärtigen Kenntnis der Ver- breitung darstellt. Den Mittelpunkt der Expansionszone bilden die Sunda- Inseln mit der Halbinsel Malakka und hier erscheint das Genus Sphenura 190 Moritz Wagner, Darwinistische Streitfragen. IV. besonders artenreich. Wir sehen dasselbe von dort ostwärts nach Borneo, Neu-Guinea, den Molukken und Philippinen, westwärts nach Madagaskar und dem afrikanischen Kontinent verbreitet, aber jede Insel, jedes Land hat seine eigene Art, diedem Nachbarlande fehlt. Während also die Verbreitung der schwerfälligen Gattung Dorcadion eine fast aus- schließlich kontinentale ist und ihre Areale von verhältnismäßig be- schränktem Umfang, aber doch eng aneinander schließend sind, zeigt die mobile Gattung Sphenura eine vorwiegend insulare Verbreitung, deren meist sehr weite Art-Areale oft die Peripherie einer ganzen Insel umfassen, nicht aber auf zwei Inseln sich erstrecken, wenn dieselben durch breite Meeresarme getrennt sind. Infolge ihres abweichenden choro- logischen Vorkommens sehen wir bei dieser Gattung auch wesentlich andere morphologische Thatsachen als bei dem Genus Dorcadion, deren näher gerückte Entstehungszentren und minder schroffg« Trennung der Areale häufiger Übergangsformen, verbindende Zwischenglieder und lokale Varietäten hervorbringen mußten als die genannte insulare Gattung Süd- Asiens. Indem der Verfasser sich auf diese wenigen vergleichenden Blicke bezüglich des chorologischen Vorkommens und der allgemeinen Verbreit- ung einiger besonders formenreicher Familien und Gattungen der höhern und niedern Tierwelt beschränkt, bemerkt derselbe, daß in ähnlicher Weise wie diese eigentlich alle artenreichen und weitverbreiteten For- mengruppen beider organischen Reiche auf der Erdoberfläche verteilt sind. Die relative Verschiedenheit des chorologischen Vorkommens der Arten überhaupt richtet sich einesteils nach dem größeren oder geringeren Grad ihrer Expansionsfähigkeit, andernteils nach den orographischen . Verhältnissen ihrer verschiedenen Wohnbezirke und deren angrenzenden Territorien. Um von den Anhängern der Darwın' schen Selektionstheorie nicht wieder mißverstanden zu werden, muß ich hier nachdrucksvoll wieder- holen, daß die zahllosen Fälle, wo gute oder schlechte Arten entweder an unbesetzten sporadischen Lücken der Verbreitungsgebiete ihrer Stamm- formen oder in mäßiger Entfernung von der äußersten Grenze dieser Wohnbezirke sich bildeten und dann im Laufe der Zeit bei zunehmender Expansion wieder mit den Stammarten zusammentrafen, also gegenwärtig an vielen Standorten gesellig mit ihnen vorkommen, nicht mit den dauernd getrennten vikarierenden Formen verwechselt werden dürfen, deren spezifische Merkmale, wenn sie auch noch so gering sind, stets den Charakter einer gewissen Konstanz besitzen, während jene im ganzen mehr variable und schwankende Merkmale zeigen. Den von uns dargelegten wesentlichen Erscheinungen in der all- gemeinen geographischen Verbreitung der vikarierenden Gattungen, Arten und Varietäten werden wir im nächsten Schlußartikel eine eingehende ver- gleichende Betrachtung des chorologischen Vorkommens im engern Sinn, d. h. der topographischen Verteilung von vikarierenden Nachbararten folgen lassen. Zu diesem demonstrativen Zweck werden wir einige dafür besonders geeignete sehr artenreiche Familien und Gattungen der wirbellosen Tiere und zugleich Länder betrachten, Max Schmidt, Der Ameisenfresser (Myrmecophaga jubata). 191 deren orographische Verhältnisse zwar einen ganz entgegengesetzten Charakter tragen, welche aber gleichwohl in ausgezeichneter Weise ge- eignet sind, durch augenfällige Thatsachen ein helles Licht auf die wirk- lichen Vorgänge des Prozesses der Artbildung zu werfen. Es sind Länder, welche zwar außerhalb Europas, aber an dessen nächsten Grenzen liegen und daher einer eingehenden Untersuchung leicht zugänglich sind, während dieselben bezüglich der genetischen Frage vor Europa den Vorteil voraus- haben, daß die dortigen chorologischen Erscheinungen der Organismen in geringerem Grad als hier durch intensive Bodenkultur berührt wurden. (Schluß folgt.) Der Ameisenfresser (Myrmecophaga jubata). Von Dr. Max Schmidt in Frankfurt a. M. Wie ein Überrest aus einer früheren Schöpfungsepoche mutet das in der Überschrift bezeichnete Tier den Beschauer an und man darf nur einige Minuten auf die Urteile der Besucher achten, welche im zoologi- schen Garten vor dem Behälter desselben ' verweilen, wenn es gerade sichtbar ist, um wahrzunehmen, wie fremdartig es jeden berührt. Der eine findet, daß es an eine fehlerhafte Zeichnung erinnere, der andere meint, es mache den Eindruck, als sei es aus den einzelnen Teilen meh- rerer ganz verschiedenartiger Tiere zusammengesetzt, und Kinder bitten wohl die Mutter, welche weiter zu gehen wünscht, den »Ameisenvogel mit dem langen Schnabel und großen Schwanz« noch ein wenig betrach- ten zu dürfen. Das Äußere dieses merkwürdigen Geschöpfes ist allerdings ein recht ungewöhnliches, sowohl was die Form der einzelnen Körperteile als ihr Verhältnis zu einander betrifft, und es bietet daher ein besonderes Interesse, wahrzunehmen, wie vortrefflich sein Bau seinem Leben an- gepaßt ist. Der Rumpf hat die Größe des Körpers eines Hundes größerer Rasse. Ein mäßig starker Hals mit scharfem Kammrande trägt einen überaus schlanken Kopf, dessen Schädelpartie siehtlich nur für ein Gehirn von sehr bescheidenen Dimensionen Raum bietet, während der Gesichtsteil eine unverhältnismäßig verlängerte Schnauze darstellt. Dieselbe ist mehr als fußlang, etwas abwärts gekrümmt und hat am unteren Ende etwa die Dicke eines starken Mannesdaumens. Das Maul ist außerordentlich ! Das hier in Rede stehende Exemplar ist inzwischen mit Tod abgegangen. 192 Max Schmidt, Der Ameisenfresser (Myrmecophaga jubata). klein, die Lippen dünn und wenig beweglich, so daß dadurch die un- gewöhnliche Länge der Kiefer zwecklos geworden zu sein scheint, da dieselben nur ganz wenig geöffnet werden können. Zähne besitzt der Ameisenfresser überhaupt nicht. Ein besonders merkwürdiges Organ ist bei diesem Tier die Zunge. Meist wird sie nur zum geringeren Teile sichtbar und tritt dann etwa in der Länge und Stärke einer Bleifeder aus dem Munde hervor, doch kann sie auch bis zur Ausdehnung von etwa fünfzig Zentimeter herausgestreckt werden. Im Übermut fuchtelt wohl das Tier mit derselben in der Luft umher wie mit einer Peitsche und zieht sie dann langsam und schwerfällig unter schlürfendem Geräusch wieder zurück. Die Augen sind klein, die Lider dick, so daß leicht ein verschlafe- ner, lichtscheuer Ausdruck entsteht. Die Ohren sind kurz und ab- gerundet. Die Vorderbeine haben fast die Form und den Umfang eines stark muskulösen Mannesarmes. In der Schulter und dem Handgelenk besitzen sie wenig Beweglichkeit, so dab sie beim Gehen auffällig steif erscheinen. Die äußerste Zehe tritt nicht über den Sohlenballen hervor und es findet sich an ihrer Stelle nur eine hornige Platte, die zweite bildet einen kurzen dicken Stummel. Die beiden folgenden Zehen sind mit langen starken, einwärts gekrümmten Krallen versehen und die dem Daumen entsprechende Innenzehe ist schlank, gerade und trägt einen dünnen spitzen Nagel, der nicht bis zum Boden herabreicht. Beim Gehen tritt das Tier mit den beiden Außenzehen auf, hält die Krallen der Innen- zehen gegen die Sohlenfläche eingeschlagen und diese werden infolge “ dessen nicht abgenutzt. Die einzelnen Knochen der Gliedmaßen stehen auffallend steil, fast senkrecht aufeinander, so dab an den Gelenken von Winkelbildung kaum die Rede sein kann und die Bewegungen sowenig elastisch als möglich ausfallen. Dem entgegen berühren die Hinterfüße den Boden beim Auftreten mit der ganzen Sohle und haben hierdurch sowie vermöge der stark gebogenen Stellung des Kniegelenkes einige Ähnlichkeit mit den Hinter- beinen eines Bären, woher wohl die Bezeichnung »Ameisenbär« rühren mag, welche dem Tiere mitunter beigelegt wird. Der Schwanz hat die Länge des Körpers und ist mit sehr langen Haaren besetzt, welche nach oben und unten gerichtet sind, so daß er von der Seite her zusammengedrückt erscheint. Die Haut der Schwanz- rübe ist hier mit einer schuppenartigen Epidermis bedeckt, welche offenbar sich zum Teil auf nicht in gewöhnlicher Weise zur Entwickelung gelangte Haare zurückführen läßt. Die Behaarung ist am Kopfe ganz kurz, am übrigen Körper länger und nimmt gegen das Hinterteil im allgemeinen an Länge zu. Dicht vor der Schulter findet sich beiderseits ein Wirbel und von hier aus sind die Haare des Halses und Kopfes vorwärts gerichtet und nicht wie bei den meisten anderen Säugetieren von vorn nach hinten. Auf der Mittellinie der Stirn bilden die von beiden Seiten gegen einander laufenden Haare eine leichte Erhöhung. Der Kammrand des Halses und die Mittel- linie des Rückens tragen eine Art aufrechtstehende Mähne, welche vorn Max Schmidt, Der Ameisenfresser (Myrmecophaga jubata). 193 am niedersten ist, nach hinten aber höher wird. In der Kreuzgegend erreicht sie ihre größte Entwickelung und legt sich hier seitlich um. Die Haare sind im allgemeinen dick, borstenartig, rauh, trocken und spröde. Die Färbung des Tieres ist vorn grau mit einem Stich ins bläu- liche und wird nach hinten allmählich bräunlichgrau, fast braun. Über die untere Seite des Halses und der Brust geht ein breiter Streifen von fast schwarzer Farbe, welcher mit einem weißlichen Rande eingefaßt ist und an beiden Seiten des Körpers, schmäler werdend, sich gegen den Rücken hinzieht, wo er mit einer schlanken Spitze endet. Die Vorder- beine sind gelbgrau mit zwei schwarzen Querbinden am Fußgelenk und an den Zehen sowie der Andeutung einer dritten an der Außenseite des Ellbogengelenkes. Die Färbung und Zeichnung des Tieres erinnert einigermaßen an den Dachs, zu welchem es indes in keinerlei Beziehung steht, weder durch Gattungsverwandtschaft noch der Lebensweise nach. Die Maße des hier lebenden Exemplars sind folgende: Länge des Kopfes vom Hinterhaupt bis zur Schnauzenspitze 37 cm Körperlänge vom Nacken zur Schwanzwurzel 3305, Schweiflänge ohne die Behaarung . 320% Eines der längsten Schweifhaare : IDEE Höhe der Vorderbeine vom Boden bis zur ne des EN- bogenhöckers . s AR Höhe der Hinterbeine vom Boden I zur ee neike tree Länge der Sohle der Hinterfüße von der Spitze der längsten cha nisszuesBersp | nei + nel EN Va ve Boss der; Schulter „rc. ur .-4.:.=: 2.7. 000 en Aa all Alan: Bean der, Hüfte... 24, uns... er 62 E. Lass (Climats, Geologie, Faune etc. du Bresil, is 1872, S. 358) gibt die Länge des Tieres von der Schnauze bis zur Schwanz- wurzel mit 1,20 m und mehr, bis zu 1,40 m an. Mit Einschluß des Schwanzes beträgt die Gesamtlänge nach seiner Messung 2,50 m, eine Ziffer, welche unser Tier nach obigen Angaben nur annähernd erreicht, indem es mit Hinzurechnung der Länge der Schwanzhaare nur 2,27 m mißt. Ein weiblicher Ameisenfresser, der im zoologischen Garten in London lebte, hatte eine Gesamtlänge von 1 m 97 cm. Ein zweites Exemplar maß, obwohl es weit älter war als das erste, nur 1 m 57 cm. Das Tier, welches im zoologischen Garten zu Hamburg eine Reihe von Jahren lebte, war nahezu 2 m lang. Die Heimat dieses merkwürdigen Geschöpfes ist der ganze Osten von Südamerika vom La Plata bis zum karaibischen Meer, denn sie reicht vom nördlichen Teil von Paraguay, Buenos Ayres und ganz Bra- silien bis nach Cayenne, Guiana und Surinam. Auch in Peru kommt es vor. In Surinam und Paraguay war es früher sehr häufig, doch ist es jetzt im allgemeinen ziemlich selten geworden und namentlich in der Nähe bewohnter Gegenden fast ganz ausgerottet. In Brasilien trifft man es noch am häufigsten. Sein spezifischer -Name in der Guarani-Sprache ist Gnurumi oder Urumi, auch Yurumi geschrieben, was gewöhnlich als »kleiner Mund« Kosmos 1884, II. Bad. (VIII. Jahrgang, Bd. XV). 1a! 194 Max Schmidt, Der Ameisenfresser (Myrmecophaga jubata). gedeutet wird, aber nach Liass »Fahne« heißen soll. Die portugiesische Benennung in seiner Heimat ist Tamandua bandeira. Das Wort Ta- mandua oder Tamandoa ist eine indianische Bezeichnung für diese Tier- gattung, welche sie zur Zeit der Entdeckung Amerikas bei den Eingebor- nen führte, während bandeira im portugiesischen »Standarte«s bedeutet, ein Name, der dem Tier zweifelsohne im Hinblick auf seinen langen buschigen Schwanz beigelegt worden ist. Die wissenschaftliche Benennung der Gattung „Myrmecophaga“ gründet sich auf die Ernährungsweise des Tieres. In ähnlicher Weise ist der deutsche Name des Tieres »Ameisenfresser« entstanden, sowie ferner die Bezeichnungen desselben in den meisten europäischen Sprachen, z. B. französisch Fourmilier, englisch Anteater, holländisch Miereneter. Der Speziesname „jubata“ (bemähnt) ist dem Tiere beigelegt worden wegen der bereits erwähnten längeren Haare auf Hals und Rücken. Was nun die Ernährungsweise des Ameisenfressers im freien Zu- stande anlangt, so ist dieselbe in hohem Grade merkwürdig und man darf sich nicht wundern, wenn es vielen schwer wird, sich mit dem Ge- danken vertraut zu machen, daß ein so großes Geschöpf lediglich von Ameisen oder Termiten leben soll. Wie sich nun aber aus Berichten ergibt, welche sich zweifelsohne auf genaue Beobachtung des Tieres in der Freiheit gründen, so dürfte die Nahrung desselben allerdings vor- zugsweise aus den genannten Kerbtieren bestehen, womit natürlich nicht ausgeschlossen ist, daß es auch andere kleine Tiere verzehrt, etwa Regen- würmer, wie man dies ja schon an gefangenen Exemplaren in Europa wahrgenommen hat. Das hiesige Exemplar hat weder Regen- noch Mehl- würmer, die ihm wiederholt angeboten worden sind, angenommen. Bei der Ermittelung der Ameisenkolonien kommt dem Yurumi sein offenbar sehr entwickelter Geruchssinn zu statten, wenigstens ist man berechtigt, aus seinem Benehmen in Gefangenschaft hierauf zu schließen. Hat er nun eine solche erreicht, so deckt er so viel davon auf, daß die Be- wohner in Massen zum Vorschein kommen, und leckt dann mit raschen Bewegungen seiner Zunge so viele derselben auf, als er erreichen kann. Die starken Vorderbeine mit den langen Krallen, deren Stellung im spitzen Winkel zu der Sohle sie zu einem ungemein kräftigen Werkzeuge macht, eignen sich zum Aufgraben der Erde und zum Zerbrechen der Termiten- bauten ganz vortrefflich. Nicht wenig kommt ihm hierbei auch die Gestaltung der Hinterbeine zu statten, welche durch ihre Stellung und namentlich auch die Fußbildung sehr geeignet sind, das Gewicht des Körpers für längere Zeit allein zu übernehmen und dadurch den Vorder- extremitäten freiere Bewegung zu ermöglichen. Nach einer anderen, allerdings nicht auf eigene Anschauung, son- dern auf Untersuchung der Termitenwohnungen begründeten Ansicht soll der Ameisenfresser nur von Ameisen, nicht aber von Termiten leben. Beim Öffnen ihrer Bauten ziehen sich nach Hrxsen’s Wahrnehmungen (Zool. Garten Jahrg. XIH. 1872, S. 176—179) die Termiten in die Tiefe zurück und man sieht nur wenige Exemplare, aber kein Gewimmel wie in einem Ameisenhaufen, so daß einfach hierbei der Yurumi seine Rechnung nicht finden würde. Max Schmidt, Der Ameisenfresser (Myrmecophaga jubata). 195 Derselbe Beobachter erklärt die langen Krallen nicht für Grab- werkzeuge, sondern glaubt, dab dieselben mehr zum Zerbrechen der Bauten mancher Ameisenarten oder zum Abreißen harter Rinden an Bäumen geeignet seien. An den in Gefangenschaft gehaltenen Tieren beobachtet man da- gegen häufiges Aufscharren des Bodens, indem sie mit wenigen Hieben ihrer Krallen ein ziemlich großes Loch oder eine lange flache Rinne herstellen. Derartige Gruben sind aber stets oberflächlich angelegt und gehen nie besonders in die Tiefe. Die lang gestreckte Schnauze, welche den Eindruck macht, als ob sie ganz besonders zur Untersuchung von Spalten und Höhlen im Boden oder in Bäumen geschaffen sei, kommt dabei in dieser Weise nicht in Thätigkeit und eine genauere Beobachtung des Tieres läßt dies auch ganz natürlich erscheinen. Der Ameisenfresser hütet dieselbe nämlich sehr ängstlich vor jeder rauhen Berührung, da sie in hohem Grade em- pfindlich ist. Die Haut, welche sie überzieht, ist weich und zart und sicherlich würde dieselbe leicht verletzt werden, wollte das Tier die Nase in Erdhöhlen u. dgl. einsenken. Wenn ihm bei der Nahrungs- aufnahme die Ameisen auf die Schnauze kriechen, soll er sorgsam be- müht sein, dieselben durch Streichen mit den Vorderfüßen sofort wieder zu entfernen. In jedem Fall ist die Richtung der Haare von der Stirn gegen die Schnauze den Angriffen der Ameisen nicht günstig, während die Stellung derselben von unten nach oben, wie sie bei anderen Tieren gewöhnlich ist, den Insekten das Hinaufkriechen sehr erleichtern würde. Auf die Frage nach dem Zweck der langen Schnauze müssen wir vor- erst die Antwort schuldig bleiben, doch ist es sehr wahrscheinlich, dab ihre Länge zum Teil in der Organisation der Zunge begründet ist, der sie als Hülle dient. Vielleicht begünstigt die gleichzeitige Länge der Nasenhöhle die Thätigkeit des Geruchsnerven in besonderer Weise. Die Zunge ist überaus beweglich und vermag nach Beobachtungen an gefangenen Exemplaren 120 bis 160 Mal in der Minute vorgeschnellt und wieder zurückgezogen zu werden. Mit gleicher Geschwindigkeit arbeitet sie nach Rensger’s Wahrnehmung auch beim Aufnehmen von Ameisen. Diese Beweglichkeit wird aber nur dann beobachtet, wenn die Zunge bis zu einer Länge von etwa 25—30 cm ausgestreckt wird. So- bald sie länger hervortritt, scheint das Zurückziehen dem Tiere einige Schwierigkeit zu bereiten. Die Termiten bleiben an der schleimigen Oberfläche der Zunge haften und werden auf diese Weise dem Tiere zur Beute, während die Ameisen im Ärger über die Störung ihres Baues sich mit ihren Freßzangen an dieselbe festkneifen und nicht so bald wieder loslassen, so daß sie beim raschen Zurückziehen der Zunge in die Mund- höhle des Feindes gelangen. Das Aufnehmen von Sand und Erde ver- meidet er dabei nach Möglichkeit und fährt ganz leicht mit der Zunge über die wimmelnden Insekten hin. Bei manchen Arten seiner Nährtiere geht es ohne gleichzeitiges Verschlucken kleiner und feinzerteilter Pflanzen- fasern von dem zernagten und gekauten Holze, aus dem die Bauten der- selben bestehen, nicht ab und es scheint dies dem Ameisenfresser nicht nur nicht nachteilig zu sein, sondern trägt vielleicht sogar zu seinem 196 Max Schmidt, Der Ameisenfresser (Myrmecophaga jubata). Wohlbefinden bei. In Gefangenschaft wenigstens hält er sich bei teil- weise vegetabilischer Nahrung recht gut. An den Ameisenhaufen und Termitenbauten richtet er in der Regel keine größere Zerstörung an, als eben nötig ist, um ihm die zu seiner Sättigung erforderlichen Tiere zu verschaffen. Sein Aufenthalt sind unbebaute Gegenden, namentlich Waldränder mit niederem Gehölz. Er hat keinen festen Wohnsitz, weder eine Höhle noch sonst irgend ein Lager, welches ihm einigen Schutz gewährt, das er regelmäßig benutzt und in dessen Nähe er sich vorzugsweise aufzu- halten pflegt, sondern wie ein richtiger Vagabund streift er umher, ohne festes Ziel, und bettet sich zur Ruhe, wo Müdigkeit und Schlaf ihn überfallen. Beim Niederlegen schiebt er zunächst die Schnauze unter den Leib zwischen die Beine, welche er möglichst nahe zusammenstellt, dann läßt er sich seitwärts umfallen, zieht die Gliedmaßen dicht an den Rumpf heran und deckt sich mit dem Schwanze zu. Es scheint fast, als ob das Tier sich stets auf dieselbe Seite legte, wenigstens ist dies bei unserem Exemplar der Fall, welches sich jedesmal nach links umlegt, so daß die rechte Seite sich oben befindet. In vereinzelten Fällen ist es wohl umgekehrt verfahren und hat sich rechts gelagert, doch hat es dann immer nach kurzer Rast sich wieder erhoben, um seine Lage zu ändern. Die Länge und Breite des Schwanzes sind gerade ausreichend, um das ganze Tier zu bedecken und völlig zu verbergen, und die rauhe Be- haarung vermag demselben einen sehr geeigneten Schutz zu bieten, so- wohl gegen Kühle und Feuchtigkeit als auch gegen die Einwirkung der Sonnenstrahlen. Seiner Funktion gemäß, welche ihn zur Decke für das Tier in der Seitenlage bestimmt, bewegt sich der Schwanz fast aus- schließlich in seitlicher und nicht in senkrechter Richtung. Im allge- meinen wird er horizontal getragen und hängt beim ruhigen Gehen etwas abwärts geneigt, so daß die Haarspitzen eben den Boden berühren, und bei rascherer Bewegung wird er ein wenig über die wagrechte Linie er- hoben. Dagegen wird er niemals gegen den Rücken heraufgeschlagen, wie z. B. beim Eichhorn, den Makis u. a. m. Nicht selten wird der Schwanz, während das Tier steht oder geht, seitwärts gebogen, so daß er eine Art von Schutzwand bildet und seinen Träger fast verbirgt; man sieht dies besonders dann, wenn der Ameisenfresser seine Mahl- zeit hält. Der Yurumi ist zwar ein Tagtier, schläft indes nicht nur während der Nacht, sondern auch einen großen Teil des Tages. Das Exemplar des hiesigen zoologischen Gartens ist im allgemeinen nur von Mittag bis fünf oder sechs Uhr abends wach und bringt die ganze übrige Zeit schlafend zu, mit Ausnahme einer kurzen Unterbrechung gegen acht Uhr morgens, wo ihm sein Frühstück gereicht wird. Im Winter, wo es wegen des früheren Eintritts der Nacht sich zeitiger zur Ruhe begibt, erwacht es schon gegen elf Uhr Vormittags, wodurch der Beweis geliefert wird, daß etwa sechs Stunden wach zu sein ihm Bedürfnis ist. Der Gang des Ameisenfressers ist nicht besonders rasch; er geht in mäßig schnellem Schritt, der außerdem nicht sehr fördert, da die Max Schmidt, Der Ameisenfresser (Myrmecophaga jubata). 197 Bewegung der Schultern knapp und gebunden ist. Wenn er recht wohl gelaunt ist, verfällt er wohl in eine Art von Trab oder selbst Galopp. Immerhin kann die Schnelligkeit seines Laufes nicht hinreichen, um ihn gegen Angriffe anderer Tiere oder des Menschen sicher zu stellen, es kann ihn vielmehr ein Fußgänger unschwer einholen. Seine einzigen Verteidigungswaffen sind die Krallen seiner Vorderfüße, die indes auch nur gegen schwächere Angreifer sich wirksam erweisen. Hunden vermag er beispielsweise durch Hiebe mittels derselben schwere Verletzungen beizubringen. Oft erhebt er sich in derartigen Fällen auf die Hinter- beine und drückt seinen Gegner mit den Vorderfüßen fest an sich, wo- bei er ihn mit den Krallen verletzt oder ihn auch wohl ersticken kann. Man hat früher behauptet, daß er dadurch auch größeren Raubtieren, z. B. dem Jaguar gefährlich werde, doch ist dies längst ins Bereich der Fabel verwiesen worden. Ein Mensch hat wohl kaum eine ernstliche Beschädigung von ihm zu fürchten, höchstens könnte er ihn etwas mit den Krallen kneifen oder ihm die Kleider zerreißen. Klettern kann das Tier nicht. Es kommt wohl vor, daß es in Gefangenschaft an einem Gitter in die Höhe steigt, aber eine der- artige Leistung hat stets alsbald ihre Grenze gefunden. Gewöhnlich bleibt es hilflos hängen und weiß nicht mehr herunterzukommen, so daß man ihm wohl beispringen muß, damit es nicht Schaden nimmt. Dagegen soll es gut schwimmen und selbst Flüsse auf diese Weise zu überschreiten vermögen. Es ist sonach der Ameisenfresser im großen und ganzen ziemlich wehr- los und fällt leicht den Angriffen seiner Feinde zum Opfer. Selbst die Zählebigkeit, die er bei schweren Verletzungen bekunden soll, kann ihm nur wenig nützen, besonders da sie zum größten Teil wieder aufgehoben wird durch die überaus große Empfindlichkeit der Nase, denn ein Schlag mit einem Stock auf diese reicht hin, um ihn zu töten. Auch der Schutz, welchen ihm seine Farbe und Zeichnung gewährt, ist nicht sehr bedeutend. Unter solchen Umständen geht natürlich die Ausrottung dieses merkwürdigen Geschöpfes unaufhaltsam von statten, was um so bedauer- licher ist, als Ameisen und Termiten in den von dem Yurumi bewohnten Gegenden oft eine entsetzliche Plage darstellen und ihrer Zerstörungswut fast nichts widersteht. Die Fortpflanzung vermag der durch den Menschen veranlaßten Verminderung dieser Tiere nur wenig Einhalt zu thun, da das Weibchen jedesmal nur ein Junges wirft. Dasselbe hängt sich der Mutter oft auf dem Nacken fest und wird von derselben auf diese Weise bei ihren Streifereien mitgeschleppt. Der Tod des Tieres bringt dem Menschen wenig Vorteil, denn wenn auch sein Fleisch gegessen wird und seine Haut, die sehr derb und fest ist, sich zu Leder verarbeiten läßt, aus dem man Sättel und selbst Schuhe fertigt, so würden doch nach beiden Richtungen hin andere Tiere dasselbe und vielleicht Besseres leisten, welche im Leben weit weniger Nutzen bringen als gerade der Ameisenfresser. Wie sich aus dem Vorstehenden ergibt, kann der Yurumi unschwer lebend eingefangen werden und es würde uns daher nicht überraschen dürfen, wenn wir ihn regelmäßig als Bewohner unserer Tiergärten an- träfen. Es ist dies jedoch keineswegs der Fall, sondern er gehört im 198 Max Schmidt, Der Ameisenfresser (Myrmecophaga jubata). Gegenteil zu den seltensten Erscheinungen auf dem europäischen Tier- markte. Der Grund davon ist unzweifelhaft in der Schwierigkeit zu suchen, welche mit der Beschaffung einer geeigneten Nahrung für das Tier verbunden ist. Ameisen in genügender Menge für die Dauer der Seefahrt mitzunehmen, erscheint in der Regel unthunlich und es muß sonach an ein Ersatzfutter gewöhnt werden, wobei zweifelsohne die meisten Exemplare zu Grunde gehen. Im günstigsten Falle treffen die Über- lebenden mit mehr oder minder gestörter Verdauung in Europa ein und können nur bei sehr sorgfältiger Pflege am Leben erhalten werden, wenn sie überhaupt nicht allzusehr unter den Beschwerden des langen Trans- portes gelitten haben. Dabei machen sich nicht selten ganz eigentüm- liche Geschmacksrichtungen bezüglich der Nahrung geltend, welche bei den meisten Exemplaren sich zunächst in einer Abneigung gegen die hiesigen Ameisenarten und ihre Puppen, die sogenannten Ameiseneier, kund geben. In hohem Grade werden die neuen Ankömmlinge auch durch die Unreinlichkeiten belästigt, welche sich während der Reise auf ihrer Haut angesammelt haben. Es ist dies um so mehr der Fall, als es dem Tiere offenbar nicht ganz leicht wird, seine Haut und Behaarung gründlich zu reinigen. Während es nämlich ganz ausgezeichnet versteht, die Krallen seiner Vorderfüße als Kamm zu benutzen, ist es ihm dagegen nicht eigen, auch die Zunge und die Lippen in ähnlicher Weise, wie dies bei den meisten anderen Tieren der Fall ist, hierzu zu verwenden. Die geringe Beweglichkeit der Schultern und die Kürze des Halses bereiten ihm überdies bei seiner Toilette manche Schwierigkeit, denn er muß Kopf und Hals stark nach hinten biegen, wenn er mit den Krallen an den Hinterschenkeln oder dem Schwanz die Behaarung ordnen will. Im Sommer mögen ihm wohl Bäder, die er ja gerne nimmt, hierbei von erheblichem Nutzen sein, im Winter dagegen empfiehlt es sich, ihm mit Kamm und Bürste zu Hilfe zu kommen, was .er sich mit sichtlichem Behagen gefallen zu lassen pflegt. Im allgemeinen ist es dem Tier überhaupt angenehm, wenn man ihm das Fell kraut, was es indes in der Regel nur Personen seiner näheren Bekanntschaft gestattet. Es ist dabei nicht ganz frei von Mißtrauen und hält meist einen Vorderfuß zur Abwehr bereit empor. In seinem Wesen findet sich indes nichts Menschenfeindliches, sondern es gewöhnt sich im Gegenteil sehr rasch an seinen Wärter und andere Personen, welche öfter mit ihm verkehren. Rexseer hat beobachtet, daß jüngere, im Hause ge- haltene Exemplare sich ihren Bekannten gern auf den Schoß legten. Was im übrigen die geistigen Fähigkeiten dieses merkwürdigen Tieres anlangt, so deutet — wie bereits bemerkt — schon der überaus schmale und verhältnismäßig kleine Schädel darauf hin, daß Was Gehirn nur einen sehr geringen Umfang besitzt. Dem entsprechend beschränken sich denn auch die Äußerungen der Intelligenz auf den verhältnismäßig engen Kreis dessen, was zum Leben besonders nötig ist, also zunächst die Erlangung der Nahrung und was damit im Zusammenhang steht. Hierin bekundet der Ameisenfresser eine weit bedeutendere Klugheit, als man anzunehmen geneigt sein möchte. Anfänglich mußte unser Exemplar zur Zeit der Fütterung jedesmal aufgeweckt werden; alsbald war ihm Max Schmidt, Der Ameisenfresser (Myrmecophaga jubata). 199 aber die Stunde, wo ihm Nahrung gebracht wurde, so geläufig geworden, daß man ihn nur zu rufen oder .mit der Futterschüssel zu klappern brauchte, um es zum sofortigen Aufstehen von seinem Lager zu ver- anlassen, und schließlich gewöhnte es sich, längst vor der bestimmten Zeit aufzustehen und seine Mahlzeit zu erwarten. Am Nachmittage wird ihm ein an seinen Schlafraum stoßender größerer Platz zum Spazieren- gehen zur Verfügung gestellt, aber sein Abendfutter erhält es nicht hier, sondern in seiner Stallabteilung, nach deren Thür es sich hinbewegt, sobald dasselbe gebracht wird. Gibt sich nun der Wärter den Anschein, als wolle er den Futternapf an eine andere Stelle setzen, so läßt sich das Tier dadurch nicht irre machen, weil es anfänglich sich in ähnlichem Falle mehrmals getäuscht gesehen hat. Sehr deutlich spricht sich die Ungeduld aus, mit der unser Exem- plar seine Mahlzeiten erwartet. Sobald es sein Lager verlassen hat, beginnt es sich gründlich zu putzen und sein Haar zu ordnen. Erscheint dann das Futter nach einiger Zeit noch immer nicht, so macht sich eine gewisse Erregung bemerklich, indem die Bewegungen heftiger und ungestümer werden. Besonders häufig fährt es dann mit einer Vorder- tatze über Stirn und Nasenrücken herab. Zeitweise stellt es sich auf die Hinterbeine, wobei die Vorderextremitäten gestreckt werden und ge- wöhnlich auch die Zunge in ihrer ganzen Länge zum Vorschein kommt. Das Tier bietet in dieser Stellung eine höchst possierliche Erscheinung dar. Es horcht auf jede Bewegung in der Nähe und schnuppert häufig, wobei es die Luft mit Geräusch einzieht. Daß der Ameisenfresser schon in den ersten Tagen seines Hierseins die Stallthüre zu öffnen versuchte, als er sich zur Ruhe begeben wollte, bekundet eine Orientierungsgabe, welche bei einem derartigen Tiere geradezu überraschend ist. Die Nahrungsaufnahme geschah anfänglich nur mit Hilfe der Zunge und das Futter mußte in Form eines dünnflüssigen Breies verabfolgt werden, wenn es nicht verschmäht werden sollte. Da sich aber fand, daß festere Nahrung zweckmäßiger wäre, so wurde das Tier an solche gewöhnt und es hat nach Überwindung verschiedener Schwierigkeiten sich endlich herbeigelassen, solche anzunehmen, wobei es sich fast aus- schließlich der Lippen bedient. Bei der geringen Beweglichkeit dieser und der Enge des Maules kommt es vor, daß ihm Brocken seines Futters am Munde hängen bleiben, welche es dann weder mit der Zunge noch mit Hilfe der Lippen aufzunehmen versucht, sondern einfach mit den Vorderfüßen wegstreicht. Fallen dieselben neben den Futternapf, so läßt sie das Tier unbeachtet liegen, bringt sie der Wärter dagegen in die Schüssel zurück, so werden sie mit Appetit verzehrt. Sehr merkwürdig ist, daß nach den in den zoologischen Gärten gemachten Erfahrungen eine sehr geeignete Nahrung für Ameisenfresser ein Brei aus Maismehl (Maizena) und Milch ist. Außerdem gibt man den Tieren noch ganz fein gehacktes oder gequetschtes Ochsenfleisch, in welchem sich keinerlei sehnige Fasern befinden dürfen. Das hiesige Exemplar ist wenigstens dagegen sehr empfindlich und hörte anfänglich sofort zu fressen auf, wenn es etwas Derartiges fand. 200 Max Schmidt, Der Ameisenfresser (Myrmecophaga jubata). Das Wasser liebt das Tier sehr und nimmt besonders bei heißer Witterung gern Bäder. Gegen Waschungen wehrt es sich dagegen ener- gisch, so sehr es dieser auch mitunter zur Beseitigung von ‚Unreinig- keiten auf seiner Haut bedürfte. Haben wir nun in vorstehendem das wesentlichste dessen dargelegt, was über den Ameisenfresser bekannt und am lebenden Tiere wahr- nehmbar ist, so wird es nicht uninteressant sein, jetzt noch in Kürze auf das einzugehen, was von älteren Beobachtern und Naturforschern über dasselbe mitgeteilt worden ist. HERRERA, eigentlich Antonıo HERRERA DE TORDESILLAS, geboren 1559, der als Historiograph von Westindien mehrere Expeditionen der Spanier nach dorten begleitete und 1625 als Staatssekretär starb, nennt die Ameisenfresser Bären. Er sagt von ihnen, daß sie eine röhren- förmige Zunge hätten, mittels welcher sie Honig rauben und ausschlürfen, wo sie nicht dazu gelangen könnten, sich durch ihre List mit Ameisen zu sättigen, indem sie diesen kleinen Geschöpfen die Zunge hinstreckten, in deren Höhlung dieselben dann hineinkröchen. FrAncıscus HERNAnDUS, der Leibarzt des Königs PaıLıpp II. von Spanien, geboren 1563, der zu Ende des 16. Jahrhunderts als Natur- forscher nach Westindien geschickt wurde, wo er bis zum Jahr 1600 verweilte, berichtet über den Ameisenfresser wie folgt: »Man findet in Yucatan vierfübige Tiere, welche einen sehr harten Rücken haben und fahl von Farbe sind; sie haben die Größe von Lämmern, berühren aber mit dem Bauche fast den Boden. Zähne besitzen sie gar nicht und leben nur von der Jagd auf Ameisen, deren Hügel sie mit den beiden großen Krallen, mit denen sie nur an den Vorderbeinen bewaffnet sind, aufgraben und in Verwirrung bringen. Dann strecken sie die Zunge heraus, welche über eine Spanne lang, rauh und rund ist und die Dicke einer Gänsefeder hat, und wenn nun die Ameisen auf diese kriechen und sich dicht zusammendrängen, so ziehen sie dieselbe mit ihr in das Maul zurück, welches ganz außerordentlich klein und eng ist, und er- langen auf diese Weise die ihnen angenehme Nahrung und die un- schuldigen Tierchen werden ihnen zur Beute. Das Tier ist wehrlos, besitzt indes auch seine Bosheit, infolge deren andere Geschöpfe seine Nähe meiden. Diejenigen, welche sich ihm nähern, packt es, entweder auf den Hinterbeinen aufrecht stehend, oder auf dem Rücken liegend, dermaßen mit beiden vorerwähnten Krallen an, dab sie sich nicht mehr loszumachen vermögen, und man hat so nicht selten die gefährlichsten Tiger, denen von ihm ein gleiches Los zu teil geworden ist, verendet gefunden. Was den Aberglauben anlangt, wonach die einmal von ihm ergriffenen Tiere mit ihm dahinsterben müßten, so läßt es eben von ihnen nicht eher los (so groß ist die Dummheit dieses Geschöpfes), als bis es mit ihnen niedeıfällt und stirbt.« MAPHEUS sagt, daß auch er in Brasilien diese merkwürdige Art von Tieren gefunden habe, welche ZTamandua genannt werden. »®Sie haben die Größe eines Schafes, sind von dunkler Farbe, haben eine lange, dünne Schnauze, an welcher das Maul sich nicht weit an den Backen herauf ausdehnt, sondern sich ganz an der untersten Spitze Max Schmidt, Der Ameisenfresser (Myrmecophaga jubata). 201 befindet und sehr klein ist. Das Tier ist mit außerordentlich langen und starken Krallen versehen, unzweifelhaft, um sich mittels derselben seine Nahrung leichter beschaffen zu können. Es lebt nämlich von Ameisen, deren Schlupfwinkel es durch wiederholtes Einschlagen mit den Krallen und Nachgraben öffnet und dann die dünne, fast drei Spannen lange Zunge in diese hineinstreckt und dieselbe, wenn sie mit Ameisen bedeckt ist, rasch zurückzieht und die Gefangenen verschlingt. Es hat einen langen und stark behaarten Schwanz, ähnlich wie das Eichhorn, welcher ihm als Decke dient und unter welchem es sich derart zu- sammenlegt, daß von dem ganzen übrigen Körper nichts mehr sichtbar ist. « JOHANNES EuSEBIUS NIERENBERG, geboren 1590 zu Madrid, wirkte längere Zeit bis zu seinem im Jahr 1655 erfolgten Tode als Professor der Naturgeschichte dortselbst und gab eine Historia naturae heraus, welche 1655 zu Antwerpen erschien. Er sagt darin Fol. 190 über den Ameisenfresser, den er Myrmecophagus oder Tamandoa nennt, folgendes: »Ebendaselbst (in Yucatan) ernährt sich ein Vierfüßler auf eine sehr seltsame Weise. Er stellt den Ameisen nach und hat an Stelle des Maules einen Schnabel, welcher eine Spanne lang ist. An der Spitze dieses Schnabels befindet sich eine Öffnung, aus welcher er die lange Zunge hervorstreckt und sie in die Wohnungen der in den Höhlen der Bäume versteckt lebenden Ameisen einführt. Durch spielende Bewegungen der Zunge lockt er dieselben heran, worauf er diese, wenn er fühlt, dab sie mit Ameisen dicht besetzt ist, zurückzieht und seine Beute verzehrt. « Diesem Schriftsteller sind auch die vorstehend mitgeteilten Berichte anderer Forscher entnommen. Jonston, geboren 1605, gestorben 1675 als Stadtphysikus in Lissa, beschreibt in seiner Historia naturalis de Quadrupedibus, Fol. 137 den Ameisenfresser, welchen er Tamandua guacu nennt, wie folgt: >»Der Ta- mandua guacu ist ein Tier von der Größe eines Fleischerhundes (Agsr- VILLE bei MarGrAvE schreibt ihm die Größe eines Pferdes zu), hat einen runden Kopf mit sehr langer spitzer Schnauze, kleinen zahnlosen Mund, eine runde und spitze Zunge, welche 25 oder 27 Fingerbreiten, ja selbst zwei und einen halben Fuß lang, röhrenförmig ist und ihrer Länge wegen in doppelter Windung im Munde liegt. Die Augen sind klein und schwarz, die Ohren rundlich. Der Schwanz ist wie ein Fliegenwedel - mit rauhen, roßhaarähnlichen Borsten besetzt, reichlich einen Fuß breit und er kann ihn über sich klappen und sich vollständig mit demselben bedecken. Die Beine sind rund, an den Vorderfüßen hat er vier ge- krümmte Krallen, von denen die beiden mittleren die größten sind und eine Länge von zwei und einer halben Fingerbreite haben, während die an beiden Seiten kleiner sind. Die Sohle der Füße ist rund. Die Haare an Kopf und Hals sind kurz und nach vorn gerichtet; die des Vorderteils sind weißlich und alle fühlen sich trocken an. Der Gang des Tieres ist langsam; es nährt sich von Ameisen, indem es in die Hügel derselben die Zunge so lange hineinsteckt, bis sie diese dicht besetzt haben.« Die auf Tafel 62 gegebene Abbildung ist nicht erheblich schlechter als viele andere, welche sich bis in die Neuzeit erhalten haben. Be- 202 Max Schmidt, Der Ameisenfresser (Myrmecophaga jubata). sondere Schwierigkeit haben dem Künstler, der offenbar nicht in der glücklichen Lage gewesen ist, nach dem Leben arbeiten zu können, die nach oben gerichteten Krallen gemacht. Der durch seine mitunter recht abenteuerlichen Fahrten an den verschiedenen Küsten von Amerika im letzten Dritteil des siebzehnten Jahrhunderts bekannte Kapitän Damrier teilt in seinem Werke A new voyage round the world, 1700, Vol. II Part II Voyages to the Cam- peachy Seite 60—61 über unser Tier folgendes mit: »Der Ameisenbär ist ein vierfüßiges Tier von der Größe eines ziemlich großen Hundes, mit rauhem, schwarzbraunem Haar. Er hat kurze Beine, eine lange Nase, kleine Augen, ein sehr enges Maul und eine dünne Zunge wie ein Regenwurm, etwa 5—6 Zoll lang. Dieses Geschöpf lebt von Ameisen und man findet es daher stets in der Nähe der Wohnungen oder Wege derselben. Seine Nahrung nimmt es in folgender Weise auf: Es legt seine Nase flach auf den Boden, dicht an dem Pfad, auf dem die Ameisen, deren es in diesem Lande viele gibt, zu laufen pflegen, und streckt dann seine Zunge quer über den Pfad heraus. Die Ameisen laufen be- ständig hin und her, wenn sie aber an die Zunge kommen, bleiben sie hängen und in zwei oder drei Minuten ist dieselbe ganz mit Ameisen bedeckt. Wenn das Tier dies bemerkt, zieht es die Zunge zurück und verzehrt seinen Fang, worauf es sie alsbald wieder ausstreckt, um noch mehr zu erhaschen. Es riecht stark nach Ameisen und schmeckt auch danach; ich habe davon gegessen. Ich habe diese Tiere sowohl in mehreren Gegenden von Amerika getroffen, wie auch hier (d. h. in den Sambaloes) an der Südsee und in Mexiko.« Es wird wohl nicht nötig sein, zu den vorstehenden Schilderungen des Ameisenfressers noch irgend etwas beizufügen. Die meisten der- selben, besonders die älteren, kennzeichnen sich zur Genüge als ein sonderbares Gemisch von richtigen Beobachtungen und Irrtümern. Die kühle, nüchterne Auffassung und ungeschminkte Darstellung DAmrier’s macht im Gegensatz zu den übrigen einen recht modernen Eindruck. Der erste Ameisenfresser, welcher lebend nach Europa gelangt ist, war vermutlich das Exemplar, welches im Jahr 1859 in dem zoologischen Garten zu London sich befand und dem erst im Oktober 1867 ein weiteres folgte. Das erste scheint nur kurze Zeit ‚gelebt zu haben, das zweite starb nach mehr als 14 Jahren im Februar 1882. Ein dritter Ameisenfresser, den der Garten im September 1877 erwarb, lebte bis zum 29. November 1881. Die Tiere wurden mit feingehacktem Fleisch ernährt. Am 21. März 1867 erwarb der zoologische Garten in Hamburg ein solches Tier um den Preis von 1400 Thalern (4200 Mk.), welches dort 11 Jahre und 5 Mo- nate am Leben blieb. In der Zwischenzeit sind wohl einige wenige Exemplare vereinzelt angekommen, doch scheinen dieselben nicht lange gelebt zu haben. Erst in der neuesten Zeit haben die Tierhändler wieder mehrere Ameisenfresser zu mäßigeren Preisen zum Verkaufe ge- bracht, so daß diejeniger zoologischen Gärten, welche die noch immer- hin nicht unerhebliche Ausgabe für ein so merkwürdiges Geschöpf nicht zu scheuen hatten, sich mit demselben versehen konnten. Über einen eigentümlichen Farbenwechsel in dem Blütenstande von Spiraea opulifolia L. Von Dr. F. Ludwig (Greiz). Die biologische Bedeutung des Farbenwechsels, welchen das Saftmal oder die ganze Blumenkrone verschiedener Pflanzen zeigen, nachdem ihre Befruchtungsorgane bereits verblüht sind, ist teilweise bereits von SPRENGEL, genauer von Deurıno, Fritz MüLter und besonders von Herm. MÜLLER richtig erkannt worden (s. H. Müruer, Geschichte der Erklärungsversuche in bezug auf die biologische Bedeutung der Blumenfarben. Kosmos, Bd. XII, p. 117). Auch die eigentümliche von Hınpesrann beschriebene Blüteneinrichtung von Eremurus spectabilis, bei welchem die Blüten ihre Blumenblätter ausbreiten und ihre größte Augenfälligkeit entwickeln, be- vor ihre Befruchtungsorgane funktionsfähig werden und bevor die Honig- absonderung beginnt, wogegen sie während der eigentlichen Blütezeit ihre Blumenblätter einrollen und unansehnlich werden, ist von Herm. MÜLLER in gleichem Sinne gedeutet worden. Der Vorteil, welchen die Blumen von diesen Einrichtungen haben, besteht nämlich darin, daß 1) die (bei Aesculus Hippocastanum, Ribes aureum, Ribes sangwineum, Fumaria capreolata var. pallidiflora, Polygala Chamaebuxus, Androsace Ohamaejasme u. a.) nicht mehr oder (bei Eremurus spectabilis) noch nicht funktionsfähigen Blüten eine erhöhte Augenfälligkeit des gesamten Blütenstandes bewirken und daß 2) die intelligenten Kreuzungsvermittler vor nutzlosen Versuchen an ausbeuteleeren Blüten bewahrt werden und den noch unbestäubten Blüten um so zahlreichere Besuche abstatten können, während nutzlose oder wenig nützende Gäste stets zuerst nach den bereits befruchteten oder noch nicht funktionsfähigen Blüten gelenkt werden. Derurıno hat dies durch Beobachtung des thatsächlichen Insektenbesuchs bei Ribes aureum, Fritz MÜLLER bei einer brasilianischen Zantana-Art, H. Münver bei Pul- monaria offieinalis bestätigt gefunden. Herm. MüLter hat von einheimischen und kultivierten Spierstauden nur Spiraea salicifolia L., 8. ulmifolia L. und S. sorbifolia in bezug auf ihre Befruchtungseinrichtungen näher untersucht, es ist ihm daher ein höchst eigentümlicher hierher gehöriger Farbenwechsel entgangen, der 204 F. Ludwig, Über einen eigentümlichen Farbenwechsel sich bei Spiraea opulifolia findet und den wir im folgenden etwas näher besprechen wollen. Es bildet dieser aus Nordamerika stammende Zierstrauch in unseren Gärten und Parkanlagen bis 3 m hohe vielästige Gebüsche mit bogig überhängenden Zweigen, an denen um Mitte Juni bis zum Juli an kurzen beblätterten Seitenzweigen, scheinbar endständig (in Wirklichkeit sym- podial), aufrechte gedrängte Doldentrauben in großer Zahl zum Vor- schein kommen. Gewöhnlich wird die Fläche dieser Blütenstände aus 20—30 Blüten gebildet, welche — im Knospenzustand von kaum merk- lichem rötlichem Anflug — 5 weiße Blumenblätter, zahlreiche am Kelchrand befestigte weiße Staubfäden mit roten, zuletzt schwärzlichen Antheren (und gelblichem Pollen), welch letztere von weitem der Blüte ein dunkel- punktiertes Aussehen geben, und 3—5 am Grunde verwachsene Stempel enthalten. Letztere sind in den funktionsfähigen Blüten gelbgrün und stehen etwas von dem Kelche ab, der innerhalb der Einfügung der Staub- fäden an der orangefarbenen Innenwand in zehn undeutlichen Riefen zahl- reiche Honigtröpfehen absondert. Die Blüten sind ausgeprägt protero- gynisch und schon vor dem völligen Öffnen der Blüte ragen die papillösen Narbenköpfe aus der Blüte heraus; nach dem Öffnen behalten sie noch eine Zeitlang ihre aufrechte Stellung in der Mitte der Blüte bei, während die Staubgefäße noch der Blütenmitte zu gebogen sind. Die Staub- gefäbe bewegen sich bald nach außen, so daß der Eingang zur Blüte durch ihre starren Fäden für größere kurzrüsselige Insekten völlig ver- sperrt ist — nur winzige Käfer etc. und langrüsselige blumengeübte In- sekten können zum Honig gelangen. Die Dehiszenz beginnt wie bei den von H. MüLver beschriebenen Arten beim äußeren Staubblattkreis und schreitet nach innen fort. Erst spät biegen sich die Griffeläste nach außen zwischen die Antheren, und wenn durch Wetterungunst die Be- stäubung durch Insekten verhindert worden ist, so tritt dann noch spon- tane Selbstbestäubung ein. Die Blüten sind kurzlebig und das Aufblühen und Verblühen schreitet rasch vom Rande zur Mitte fort, bei vielen Blütenständen in 2—3 Tagen. Hierbei nun macht sich eine charakter- istische Verfärbung bemerklich: die äußeren Kreise der befruchteten Blüten zeigen jetzt eine blutrote Blütenmitte; aber es ist nicht der Kelch oder die Blumenkrone, welche sich verfärbt haben (wie dies in den bisher bekannten Fällen nach Mütter u. a. der Fall ist), sondern die Wand der Fruchtknoten. Bald sind, während in der Mitte noch grünstempelige funktionsfähige Blüten vorhanden sind, aus den Rand- blüten die Blumenblätter ausgefallen und die Fruchtknoten haben sich in aufgeblasene, noch intensiver blutrote, glänzende Fruchtkapseln um- gewandelt. Und nun steigert sich die Auffälligkeit nicht nur des Blüten- standes, sondern des ganzen blühenden Strauches von Tag zu Tag. Zwischen blutroten Fruchtständen treten neue junge weißblühende Blütenstände und weiße, in den Außenblüten rot gefärbte Doldentrauben hervor. Es ist nicht das Rot der meisten Früchte, welches die Stempel und Kapseln angelegt haben: ein mächtiges Boukett von roten und weißen Blumen, untermischt mit den schönblättrigen bogigen Zweigen lockt den Beschauer näher herbei. in dem Blütenstande von Spiraea opulifolia L. 205 Auch ein zahlreiches Volk von Insekten wird durch die Farben- pracht — weniger wohl durch den -schwachen Wohlgeruch — (letzterer ist dem der S. «lmaria ähnlich, während andere Spiersträucher wie S. ulmifolia u. a. einen mehr oder weniger widerlichen Wanzen- bis Mehlgeruch haben) herbeigelockt. Ihr Verhalten zeigt uns, was wir aus dem gleichzeitig mit der Verstäubung der Antheren und Belegung der Narbe beginnenden Verfärben des Stempels schloßen: die biologische Be- deutung dieses Farbenwechsels. Die Honigbienen, Hummeln und ver- wandte langrüsselige Hymenopteren, welche Honig sammelten, pollen- sammelnde Kristalis- und größere Syrphus-Arten — welche übrigens alle, in der Mitte der Blüte anfliegend, die Narben zuerst berühren mußten — flogen, wie ich bei längerer Beobachtung am 23. und 24. Juni fand, regelmäßig sofort in die Blüten mit grüngelben Stempeln, nicht erst an den rotstempeligen herumsuchend; während andere Fliegen, wie z. B. Syritta pipiens, die uns auch von der Fliegenfalle (Apocynum androsae- mifolium) her als wenig gewitzigter Blumengast bekannt ist, immer zu- erst den lebhafter gefärbten äußeren Blüten zuflogen ; winzige Staphy- linen u. a. Koleopteren tummelten sich auch zwischen den Staubgefäßen und im Nektarkessel herum. Bemerkenswert scheint es, daß bei Spiraea opulifolia besonders die trockenen Fruchtkapseln die Augenfälligkeit der Blüten- genossenschaften heben. Offenbar sind sie dieserwegen gefärbt, da eine Anlockung von Tieren und Verbreitung der winzigen Samen durch Tiere nicht anzunehmen ist, vielmehr der ganze Fruchtbau der Ver- breitung der Samen durch den Wind angepaßt erscheint. Einige neue Fälle von Blumen-Polymorphismus. Von Dr. Wilhelm Breitenbach. Das Vorkommen kleinblumiger weiblicher Stöcke neben großblumigen hermaphroditischen proterandrischen bei derselben Pflanzenart hat Lun- _ wıs mit dem Namen Gynodimorphismus belegt. Solcher gynodimorpher Pflanzen kennt man durch die Untersuchungen von CH. DArwın, H. MÜLLER, Lupwie u. a. bereits eine ganze Anzahl; ich kann einige weitere hin- zufügen. Nepeta nepetella besitzt großhüllige Zwitter-Blüten und klein- hüllige weibliche Blüten; dasselbe habe ich bei N. Mussini, N. pannonica, N. melissifolia und N. cyanea beobachtet. Bei letzterer Pflanze fand ich die zweierlei Blumenformen nicht an getrennten Stöcken, sondern an demselben Stock, ja sogar an demselben Zweige, und zwar derart, daß im unteren Teil des Zweiges nur große hermaphroditische, an der Spitze des Zweiges hingegen nur kleine weibliche Blüten zu finden waren. Übrigens kamen die zweierlei Blütenformen nicht an allen Zweigen des Stockes zur Beobachtung, sondern nur an einigen wenigen. Bei N. ne- petella und melissifolia finden sich zahlreiche Zwischenstufen zwischen den beiden Blütenformen vor, d. h. man bemerkt ziemlich häufig kleinhüllige Blüten, in denen noch eine oder zwei Antheren funktionsfähig sind. Melissa nepeta und Calamintha offieinalis fand ich in großblumigen herma- phroditischen und in kleinblumigen weiblichen Stöcken. Lupwıe gibt an, daß bei Knautia anstatt der abortierten Staub- gefäße häufig petaloide Gebilde auftreten, so daß die weiblichen Blüten gefüllt erscheinen. (Biologisches Centralblatt, IV.B. Nro. 8, pag. 232.) Bei Knautia macedonica konnte ich dies nicht bestätigen; hier traf ich Stöcke mit nur aus großen hermaphroditischen Blüten zusammengesetzten Köpfchen und solche mit Köpfchen, deren Blüten rein weiblich und nur ganz wenig kleiner waren als die hermaphroditischen. Von Trichisa montana sah ich nur einen Stock; derselbe trug lediglich Köpfchen mit weiblichen Blüten, in denen noch deutlich die Staubgefäß-Rudimente wahrnehmbar waren. Plectranthus striatus, var. glaucocaly& ist durch den Besitz großer hermaphroditischer proterandrischer und kleiner weiblicher Blüten aus- gezeichnet, die sich wie bei Nepeta cyanea an demselben Zweige vor- Wilhelm Breitenbach, Einige neue Fälle von Blumen-Polymorphismus. 207 finden, u. z. die weiblichen an der Spitze der Zweige, die Zwitterblüten weiter nach unten zu. Zwischen den beiderlei Blütenformen findet man die mannigfachsten Übergangsstadien in bezug auf die Größe sowohl wie in betreff des Grades der Verkümmerung der Antheren. Tunica saxifraga ist gleichfalls gynodimorph; in den weiblichen Blüten sind die Antheren-Rudimente noch ziemlich groß, enthalten aber keinen Pollen mehr. Stellaria scapigera gehört in dieselbe Kategorie; die weiblichen Blüten treten uns hier in sehr verschiedener Größe ent- gegen und man kann ohne Mühe beobachten, daß, je kleiner dieselben werden, um so mehr auch die Staubgefäße verkümmern. In den kleinsten von mir beobachteten Blüten dieser. Pflanze konnte ich nur noch win- zige Spuren derselben erkennen. Silene armeria fand ich gleichfalls gyno- dimorph. \ Bei Collinsonia canadensis kommen nach meinen Beobachtungen dreierlei Blütenformen vor, nämlich: 1) große proterandrische Zwitter- blüten; 2) kleinere weibliche Blüten; 3) solche Blüten, bei denen die eine der beiden Antheren der Zwitterblüten rudimentär ist, die andere nicht. Dasselbe, resp. ein ähnliches Verhältnis kehrt bei Satureja mon- tana wieder, wir finden nämlich neben großen Zwitterblüten und kleinen weiblichen solche Blüten vor, bei denen nur zwei der vier Antheren verkümmert sind. An Capsella bursa pastoris habe ich einmal vor mehreren Jahren in Westfalen neben den gewöhnlichen Zwitterblüten größere weibliche Blüten mit noch deutlich erkennbaren Antheren-Rudimenten beobachtet. Da diese Art des Blumenpolymorphismus bisher noch nicht weiter beobachtet worden ist, so liegt die Vermutung nahe, daß wir es hier nicht mit einem normalen Vorkommen, sondern nur mit einer Abnormität zu thun haben. Indessen dürfte es doch der Mühe wert sein, einmal darauf zu achten, ob dieser Fall nicht doch etwa öfter anzutreffen ist. LupwıG sagt: »Die Entwickelung (kleiner) weiblicher Blüten beginnt in der Regel mit einer Reduktion der Staubgefäße (nicht mit der der Corolla)« (l. ec. pag. 233). Diese Behauptung mag für manche Fälle zutreffend sein, für manche dagegen ist sie ohne Zweifel nicht richtig. So fand ich beispielsweise kleine Blüten von Nepeta cyanea, welche nichts- destoweniger doch völlig entwickelte Antheren besitzen. Hier war also zuerst eine Reduktion der Corolla eingetreten. Dasselbe habe ich an einigen anderen Pflanzen beobachtet. Die Beobachtungen wurden (mit Ausnahme derjenigen an Capsella bursa pastoris) in den botanischen Gärten zu Marburg und Göttingen angestellt. Es bleibt also zu konstatieren, ob sich die angegebenen Pflanzen im Naturzustande ebenso verhalten, wie oben geschildert wurde. Wissenschaftliche Rundschau, Physiologie. Lokomotorische Richtungsbewegungen durch chemische Reize. Es ist für die Begründung der monistischen Auffassung der belebten Natur von größter Wichtigkeit, einen genauen Einblick in den ursächlichen Zusammenhang zwischen der Einwirkung von Reizen auf die Organismen und deren Rückwirkungen zu gewinnen. Natürlich wird dies zunächst nur für die einfachsten Vorgänge solcher Art zu erwarten sein, wie sie uns in den »unwillkürlichen« und Reflexthätigkeiten niederer Tiere und den mannigfaltigen Bewegungen von Pflanzen oder Pflanzenteilen entgegen- treten. Immerhin ist man selbst diesen primitivsten Verhältnissen gegen- über, wo namentlich die Komplikation durch ein besonderes Nerven- und Muskelsystem ganz wegfällt, bisher kaum über die einfache Kon- statierung der Thatsachen hinausgekommen, daß bestimmte Agentien als Reize wirken und die Art der Auslösung der Reaktion durchaus von den Eigenschaften des betroffenen Organismus oder Organs abhängig ist. Wir brauchen diesbezüglich nur an die Erscheinungen des Geo-, Helio-, Hydro- und Galvanotropismus, zu denen in neuester Zeit auch ein Thermo- tropismus getreten ist, an die Bewegungen der Zweigenden von Ranken- gewächsen, der insektenfressenden Pflanzen u. s. w. zu erinnern. Eine tiefer eindringende Kenntnis solcher Vorgänge verdanken wir erst neuer- dings den trefflichen Untersuchungen Prerrer’s! über den richtungs- bestimmenden Einfluß gewisser chemisch wirkender Reizmittel auf schwärmende Samenzellen von niederen Pflanzen, einige Spaltpilze, Flagel- laten u. dergl.; die Hauptresultate sind aber an den Samenfäden von Farnen (aus Prothallien von Blechnum fraxineum und Adiantum cuneatum) gewonnen worden; wir halten uns daher im folgenden zunächst und vorzugsweise an diesen wichtigsten Teil der Arbeit. Die schon 1869 von STRASBURGER festgestellte Thatsache, daß bei Farnen und bei Marchantia die Samenfäden von der aus dem Halse des Archegoniums sich entleerenden schleimigen Masse angezogen werden, ! Untersuchungen aus dem botanischen Institut zu Tübingen, herausgegeben von Prof. Dr. W. Pfeffer. I. Bd., 3. Heft; Leipzig, W. Engelmann, 1884; W. Pfeffer, „Locomotorische Richtungsbewegungen durch chemische Reize.“ S. 363—482. Wissenschaftliche Rundschau. 209 Di veranlaßte PFEFFER, zu untersuchen, worauf diese Anziehung beruhe. Eine Reihe von Versuchen lehrte, daß die Ursache in der Anwesenheit eines Stoffes liegen müsse, der im Pflanzenreich sehr weit verbreitet ist und der weder durch Auspressen aus dem lebenden Protoplasma noch selbst durch Kochen, Eintrocknen und Wiederauflösen zerstört wird, und zuletzt konnte mit voller Sicherheit nachgewiesen werden, daß die Äpfelsäure dieses spezifische Reizmittel ist. Nachdem dies ermittelt war, wurden die Experimente zur genaueren Prüfung des Verhaltens der Samenfäden in der Art ausgeführt, daß Lösungen jener Säure (oder eines ihrer Salze) von bekannter Konzentration in feine, einseitig zugeschmolzene Glaskapillaren von 0,1 bis 0,14 mm lichtem Durchmesser eingefüllt und dann die Mündung derselben in das Wasser gebracht wurde, in welchem die Samenfäden schwärmten. Diese, bekanntlich korkzieherartig ge- wundene Körper mit verdicktem Hinterende, an welchem ein Bläschen sitzt, bewegen sich durch die Thätigkeit der an den vorderen Windungen sitzenden Wimpern ziemlich rasch und energisch in gerader oder schraubiger Bahn vorwärts, wobei das spitze Ende vorangeht. Stößt dasselbe irgendwo an, wenn auch nur mit den Wimpern, so wird eine von dem Hemmnis wegführende Richtung eingeschlagen, jedoch ohne Veränderung der Körper- form. Gelangen die Samenfäden aber in ein dichteres Medium, etwa in eine Gummilösung, die ihre Bewegungen verzögert, so streckt sich die Spirale oft erheblich und das Endbläschen, das leicht an fremden Körpern hängen bleibt, kann dann völlig abreißen, worauf der Faden wieder leb- hafter davonschwimmt. Einseitige Beleuchtung oder ungleiche Verteilung des im Wasser gelösten Sauerstoffs scheinen keinen merklichen richten- den Einfluß auszuüben. Es begreift sich nach dem Gesagten, daß in eine der erwähnten engen Glaskapillaren, wenn sie mit gewöhnlichem Wasser gefüllt ist, nur höchst selten ein Samenfaden zufällig einschwärmen kann: die meisten, welche gegen die Mündung zusteuern, prallen sofort wieder ab. Um so auffälliger ist nun ihr Verhalten, wenn die Röhre eine Lösung mit auch nur 0,01°/o Gehalt an Äpfelsäure enthält. Die in der Nähe der Mündung befindlichen werden augenblicklich angezogen, d. h. sie biegen plötzlich unter scharfem Winkel von ihrer bisherigen Richtung ab und dringen in die Kapillare ein. Durch Diffusion der Säure ins Wasser entsteht bald eine immer weiter werdende Attraktionszone, welche immer mehr Samen- fäden heranlockt. Aus den mancherlei Besonderheiten, welche das inter- essante Schauspiel darbietet, seien hier als vorzüglich beachtenswert nur folgende hervorgehoben. 1. Innerhalb der Diffusionszone und der Ka- pillare ist die Bahn geradliniger als vorher, jedoch kaum beschleunigt. 2. Manche Fäden schwärmen aus der Röhre wieder aus, kehren aber dann meistens an der Grenze der Diffusionszone wieder um. 3. Ist die Konzentration der Lösung im Rohre und in nächster Nähe der Mündung durch Diffusion ziemlich gleichmäßig geworden, so übt jenes keine besonders anziehende und richtende Wirkung mehr aus, das Attraktions- zentrum ist nun sozusagen bis vor die Mündung gerückt und hier bildet sich dann eine förmliche Schwärmzone von Samenfäden. 4. In homogener Äpfelsäurelösung, selbst von relativ hoher Konzentration, Kosmos 1884, II. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XV). 14 210 Wissenschaftliche Rundschau. verteilen sich die Fäden gleichmäßig wie in reinem Wasser und es bedarf dann einer Kapillare mit noch erheblich stärkerer Lösung, um das Einschwärmen in dieselbe zu erzielen. Aus alledem geht hervor, daß nicht die Säure an sich, sondern der Konzentrationsunterschied als richtungsbestimmender Reiz wirkt. Die Reizschwelle, d. h. der Konzentrationsgrad, bei welchem eine eben merkliche anziehende Wirkung auftritt, liest, wenn die Samenfäden in reinem Wasser schwärmen, ungefähr bei 0,001 °/o (frische lebhaft bewegliche Fäden sind noch gegen erheblich schwächere Reize empfindlicher als ältere; mit Abnahme der Temperatur scheint die Reizschwelle zu steigen); befinden sich diese aber in Wasser, das bereits 0,0005 °0 Äpfelsäure enthält, so bedarf es einer 30fachen Konzentration, also einer 0,015prozentigen Lösung in der Kapillare, um deutliches Einschwärmen zu veranlassen, und wieder das 30fache, nämlich 0,3°/o ist nötig, wenn im Aufenthaltsmedium 0,01 °/o Äpfelsäure gelöst sind. So verhalten sich auch die Samenfäden der meisten übrigen Farne (außer den oben genannten), nur bei Ceratopteris thalic- troides wird die primäre Reizschwelle erst bei 0,005 °/0o erreicht. Unter einer großen Zahl anderer Stoffe zeigte sich nur noch Maleinsäure (das Produkt der trockenen Destillation der Äpfelsäure) wirksam, ihre Reiz- schwelle liegt aber erst bei 0,03 bis 0,04°/o. — Interessant ist folgende Berechnung: in einer Kapillare von 0,06 mm Tichtem Durchmesser, in welcher die 0,001°/oige Äpfelsäurelösung eine 1 mm lange Säule bildet, befinden sich 0,00284 cmm oder mg Flüssigkeit, also 0,0000000284 mg oder ungefähr der 36millionste Teil eines Milligramms Äpfelsäure; von dieser Menge kann aber wieder nur ein kleiner Bruchteil, wohl kaum !/ıooo, mit je einem Samenfaden in Berührung kommen, und doch genügt sie, um ihn zu reizen! Dem gegenüber ist freilich auch zu beachten, dab die Masse des Samenfadens reichlich gerechnet nur "/amillionstel mg schwer ist, also nur etwa 9mal mehr wiegt als die in der Kapillare enthaltene Äpfelsäuremenge. Zum Vergleiche sei nur angeführt, daß weniger als "/smillionstel mg Ammonphosphat, auf das Köpfchen eines Drüsenhaares von Drosera rotundifolia gebracht, dieses zu einer Krümmungs- bewegung veranlaßt und daß »unter den nach sauerstoffreicherer Flüssig- keit sich hinbewegenden Bakterien die empfindlichsten nach ENGELMANN noch durch eine Sauerstoffmenge gereizt werden, welche etwa den tril- lionsten Teil eines Milligramms beträgt und somit den Grenzen sich nähert, welche die theoretische Physik für das Gewicht eines Sauerstoff- moleküls berechnet. « Während andere Stoffe in mäßiger Menge für sich allein oder mit der Äpfelsäure gemischt gar keinen Einfluß auf die Samenfäden aus- üben, wirken viele in stärkerer Konzentration abstoßend, so besonders Säuren und Alkalien, und werden solche stärkere Lösungen mit Äpfel- säure gemischt, so kommt es zu einem eigentümlichen Konflikt, indem die Samenfäden von letzterer angezogen, dabei aber häufig ins Verderben gelockt d. h. durch den anderen Stoff getötet werden, oder sie kehren noch rechtzeitig um, falls die abstoßende Wirkung überwiegt. Dieses Fliehen vor schädlichen Reizen ist offenbar eine nützliche Anpassung, die aber nicht unfehlbar wirksam ist: ein Gemisch von 0,8°/o salpetersaurem Wissenschaftliche Rundschau. 21 n Strychnin oder 0,01 Quecksilberchlorid mit je 0,01 Äpfelsäure zieht die Fäden so energisch und präzis an wie Äpfelsäure allein, obgleich sie darin fast augenblicklich zu Grunde gehen. Aber auch die Äpfelsäure wirkt nur bis zu einem bestimmten Konzentrationsgrade anziehend, darüber hinaus macht sich eine allmählich wachsende Abstoßung geltend. Dieses »Optimum« scheint für freie Äpfelsäure noch unter 0,1°/o zu liegen, während ihr neutrales Natronsalz, das in schwächeren Lösungen stets genau so wirkt wie die freie Säure, erst bei einer Konzentration, welche ungefähr 5°/o der letzteren enthält, merklich abstoßend zu wirken anfängt. Eine solche Umkehrung der Wirkung mit zunehmender Reizgröße ist übrigens schon mehrfach be- obachtet worden; so fliehen z. B. Schwärmsporen mit steigender Be- leuchtung den Lichtrand, den sie zuvor aufsuchten, und Spirillum sowie Paramaecium und andere Infusorien bewegen sich nur so lange nach dem sauerstoffreicheren Wasser hin, als der Partiärdruck des Sauerstoffs eine gewisse Größe nicht überschreitet, die sie dann fliehen macht. Eine große Tragweite verspricht die bereits erwähnte Feststellung zu gewinnen, daß die Äpfelsäure auch dann, wenn sie die Samenfäden allseitig gleichmäßig umgibt, eine spezifische Wirkung auf dieselben aus- übt, sie in einen gewissen Reizzustand versetzt, der sie gegen neu hinzu- kommende Reize weniger empfindlich macht oder mit anderen Worten die Reizschwelle erhöht und zwar derart, daß diese resp. die Auslösung einer Reaktion erst erreicht wird, wenn der neue Reiz das 30fache des schon vorhandenen beträgt. Denn ganz gleiche Beziehungen bestehen auch in uns selbst hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Reiz, Reizzuwachs und Empfindung: ein Gewicht von 1 g muß z. B. um !/s g, ein solches von 2 g um °”/s g vermehrt werden u. s. w., damit ein eben merklicher Unterschied der Empfindung wahrgenommen wird, und ebenso ist die bezügliche Verhältniskonstante auch für Schallwahrnehmung ungefähr !/s, für Temperatur dagegen nur !/so, für Licht !/ıoo. Ist also auch unser Vermögen der Unterschiedsempfindung viel feiner als das der Samen- fäden der Farne, wo diese Konstante —= 30 ist, so folgt doch jenes Verhältnis demselben Gesetz: damit die Empfindung (resp. die Reaktion) in arithmetischer Progression zunehme, mub der Reiz in geometrischer Progression wachsen. Dies ist aber nichts anderes als das bekannte Weper’sche Gesetz, das FEcHner zur Grundlage der Psychophysik ge- macht hat. Gewiß ist Verf. im Recht, wenn er die Thatsache, daß dieses Gesetz, welches bisher nur für die (als subjektive) Empfindung zu unserem Bewußtsein kommenden Reize konstatiert war, hiernach auch die Be- ziehung zwischen Reiz und (objektiver) Reaktion eines ganz andersartigen Organismus ausdrückt, eine wesentliche Erweiterung der Kenntnisse zur Beurteilung des Ursprungs dieser Beziehungen nennt. Denn es läßt sich nun kaum mehr bezweifeln, daß auch beim Menschen die Ursache der im Weser’schen Gesetze ausgesprochenen Relation in irgend einem physiologischen Vorgang bez. in den Eigenschaften der an der Reiz- bewegung beteiligten Organe zu suchen und nicht, wie FEcHxer will, als ein zwischen Nervenprozeß und Seele (im engen menschlichen Sinne) bestehen- 912 Wissenschaftliche Rundschan. des, allgemein gültiges Verhältnis aufzufassen ist, welches damit der physiologischen Forschung, soweit es die psychische Funktion betrifft, entzogen wäre. — Freilich haben wir dadurch noch keinen Aufschluß über die Natur und den Sitz der Vorgänge gewonnen, welche das Binde- glied zwischen Reiz und Reaktion darstellen und in deren Charakter das Bestehen jener Relation begründet sein muß; wir können nicht ein- mal sagen, ob diese Vorgänge nicht selbst bei den Samenfäden vielleicht eine lange Kette bilden, oder ob nicht z. B. einfache Leitungswider- stände dabei mitspielen u. s. w. Aber wir dürfen mit Bestimmtheit hoffen, bei weiterer Verfolgung des von Pr&rrEr eingeschlagenen Weges der Ergründung des Rätsels um einen wesentlichen Schritt näher zu kommen. Das Einschwärmen der Samenfäden in das eben geöffnete Arche- gonium bietet nun genau das Bild dar, welches durch die mit schwacher Äpfelsäurelösung gefüllten Kapillaren künstlich hervorgebracht werden kann, nur mit dem Unterschiede, daß dieselben hier eine aus dem Archegoniumhals hervorquellende zähe schleimige Masse zu durchdringen haben, wobei sich ihre Bewegung sehr verlangsamt, die Endblase ab- gerissen und der Körper zu einer steilen Spirale ausgezogen wird. Der Nutzen dieser Einrichtung liest offenbar darin, dab die Samenfäden langsamer gegen den Rand der Öffnung herantreten und nicht so leicht davon abprallen, wie es bei den Glasröhrchen so häufig geschieht. Auch diese Erscheinung läßt sich übrigens nachahmen, indem man Tragant- schleim oder Gallert mit der Äpfelsäure mischt, und Verf. berichtet über eine große Zahl von Versuchen über den Einfluß solcher mechanischer Widerstände, die Ursachen der Streckung der Fäden u. s. w., auf die wir aber hier wie auf so viele andere wertvolle Einzelheiten nicht ein- gehen können. Es ist nach allem wenn auch nicht bewiesen und kaum beweisbar, so doch höchst wahrscheinlich, daß Äpfelsäure die Samenfäden ins Arche- gonium lockt und zwar, wie nach obiger Darlegung leicht zu ermitteln ist, indem man die Fäden in äpfelsäurehaltigem Wasser schwärmen läßt, in einer ungefähr 0,3°/o starken Lösung. Etwa 30 Minuten nach der Öffnung des Archegoniums ist dieselbe ins umgebende Wasser hinaus- diffundiert, denn nun werden keine Samenfäden mehr angezogen, was zugleich beweist, daß nicht etwa der Schleim, der noch lange unver- ändert liegen bleibt, die anziehende Wirkung ausgeübt haben kann. Über die weiteren Schicksale der Samenfäden sei noch beigefügt, daß dieselben, nachdem sie sich in geringer Anzahl durch den engen Halskanal des Archegoniums hindurchgearbeitet, in der großen Zentral- zelle, innerhalb deren die rundliche Eizelle liegt, wieder freieren Spiel- raum und eine weniger schleimige Flüssigkeit finden, weshalb sich ihr Körper wieder auf seine frühere Gestalt zusammenzieht und sich lebhafter herumbewegt. Bald bleibt nun einer der Fäden an dem hyalinen »Em- pfängnisfleck« der Eizelle haften, dringt langsam in diese ein, indem er sich um seine Achse dreht, kommt zur Ruhe und wird mehr und mehr undeutlich. Es macht ganz den Eindruck, als ob der Empfängnisfleck anziehend auf den Samenfaden wirkte, ihn zu einer lokomotorischen Wissenschaftliche Rundschau. 213 Richtungsbewegung reizte, weshalb man vielleicht annehmen darf, daß an dieser ‚Stelle eine weitere Ausscheidung von Äpfelsäure (in stärker konzentrierter Lösung) stattfinde, die aber nach dem Eindringen eines Samenfadens wieder aufhören muß, da ein zweiter niemals einzudringen scheint (was ja auch mit den genauesten Beobachtungen bei anderen Pflanzen wie bei Tieren übereinstimmt). Weitere Untersuchungen des Verf. beziehen sich auf das Verhalten der Samenfäden bei Selaginella, Marsilia, Laub- und Lebermoosen und Chara. Bei allen wird augenscheinlich aus dem Archegonium bezw. aus der Eiknospe ein spezifisches Reizmittel ausgeschieden, welches die schwär- menden Samenfäden entweder unmittelbar aus dem Wasser oder (wie insbesondere bei Marsilia) aus einer Schleimschicht, in der sie rein mechanisch festgehalten werden, gegen die Eizelle hin zu streben ver- anlaßt. Bei Selaginella ist dieses Reizmittel Äpfelsäure, bei den Laub- moosen Rohrzucker, bei den übrigen muß es ein gleichfalls leicht diffun- dierender, aber im Pflanzenreiche wenig verbreiteter Körper sein. Die flink herumschwärmenden Isogameten von Chlamydomonas pulvisculus und UVlothrix zonata kopulieren zwar zahlreich, ihr Zusammentreffen scheint aber ganz vom Zufall herbeigeführt zu werden und ein Reizmittel zur Anlockung aus der Ferne also nicht in Wirksamkeit zu treten. Jeden- falls müssen dann aber noch unbekannte spezifische Reize das Festhalten und die wirkliche Kopulation veranlassen, denn es kopulieren ja nur die Gameten derselben Spezies und selbst diese sind kopulationsunfähig bei Dasycladus, wenn sie von demselben Individuum, bei Acetabularia und Ulothrix, wenn sie in demselben Gametangium erzeugt wurden. — Für schwärmende Spaltpilze (insbesondere Bacterium termo, den gewöhn- lichen Fäulniserreger, und Spirillum undula) wurde eine gleiche Reizbar- keit durch jeden für sie geeigneten Nährstoff nachgewiesen, wonach also auch diesen Organismen ein allgemeines Unterscheidungsvermögen für ein Mehr oder Weniger von Nährstoffen zukommt, zu denen in gewissem Sinne auch der Sauerstoff zu rechnen ist, der ja, wie schon angedeutet wurde, gleichfalls lebhafte Richtungsbewegungen veranlaßt. Höchst wahr- scheinlich ändert sich mit steigendem allseitigem Reize die Unterschieds- empfindlichkeit auch bei diesen niedersten Lebewesen konform dem Weser’schen Gesetz. Die Reizschwelle wurde nicht genau ermittelt, doch werden auch die Spaltpilze schon durch eine sehr geringe Menge eines guten, dagegen erst durch eine größere Menge eines weniger guten Nährstoffes angelockt. Bei zu hoher Konzentration wirken sie ebenso abstoßend wie Säuren u. s. w., immerhin aber zeigen die Bakterien in dieser Hinsicht eine viel geringere Empfindlichkeit als z. B. die Samen- fäden. — Entsprechende Erfahrungen wurden endlich noch über die Zoosporen von Saprolegnia ferax sowie über einige Flagellaten und Infusorien gesammelt. Es gebricht uns leider an Raum, um noch auf die bedeutsamen Betrachtungen allgemeinerer Natur, welche Verf. an zahlreichen Stellen eingestreut, besonders aber im vorletzten Abschnitt seiner Arbeit an- gestellt hat, näher einzugehen. Wie sich jetzt schon aus vereinzelten Beobachtungen anderer entnehmen läßt, daß chemische Reize nicht bloß zala Wissenschaftliche Rundschau. bei frei beweglichen Organismen, sondern auch bei festsitzenden Pflanzen und Pflanzenteilen Richtungsbewegungen aller Art hervorrufen, wie nament- lich eine Reihe der wichtigsten inneren Vorgänge des Stoffwechsels, des Wachstums u. s. w. sicherlich auf solche von außen her oder auch von seiten eines anderen Organs wirkende chemische Reize zurückzuführen sein wird, welcher Natur eigentlich der Reiz selber ist, ob das Reizmittel durch bloßen Kontakt oder durch Eindringen in den Organismus wirkt — wegen dieser und so mancher anderer Fragen müssen wir die Leser, welche sich dafür interessieren, auf die Abhandlung selbst verweisen. Dieselbe eröffnet der exakten physiologischen Forschung ein weites, noch beinahe unbebautes Feld und verdient, wie schon aus dem vorstehenden kurzen Referat zu ersehen sein dürfte, die volle Beachtung auch des Psychologen und Philosophen. Zoologie. Wanderungen des Elentiers in Russland". So viel über die Wanderungen der Vögel seit jeher geschrieben worden ist, so wenig Thatsächliches wissen wir von den Wanderungen der Säugetiere, und was wir darüber wissen, bezieht sich meist auf periodische Hin- und Herwanderungen, die von den Jahreszeiten abhängig sind. Über anhaltende Wanderungen eines größern Säugetieres, welche eine wesentliche Verschiebung des en heles zur Folge haben, wissen wir aus historischen Zeiten wenig oder nichts. Prähistorische Wanderungen zahlreicher Tiere sind durch Knochenfunde mit Sicherheit erwiesen, bei manchen gelang es sogar, ein wahrscheinliches Ausstrahlungs- zentrum aufzufinden. Über die Art dieser Wanderungen, über ihre Ur- sachen läßt sich aus den Funden nichts schließen. Diese Fragen können nur durch sorgfältige Beobachtungen und durch Vergleichung der Ver- breitungsgrenzen eines Säugetiers zu verschiedenen Zeiten gelöst werden. Dem aber stellt sich gegenwärtig ein großes Hindernis entgegen: die Tiergeographie ist eine junge Wissenschaft und verfügt daher nur über wenige systematische Beobachtungen eines kurzen Zeitraumes. Daß dieses Hindernis jedoch schon jetzt nicht in allen Fällen besteht, zeigt Herr Köppen, dem es an der Hand eines beträchtlichen aus den verschiedensten Quellen geschöpften Materials gelingt, sehr wesentliche Wanderungen des Elentiers in Rußland aus letzter Zeit nachzuweisen, sie bis zu ihrem Ausgangs- punkt zurück zu verfolgen und gestützt auf diese Ergebnisse Spekulationen über die Ursachen dieser Wanderungen anzustellen. sFr. Th. Köppen, die Verbreitung des Elentiers im europäischen Rußland, mit besonderer Berücksichtigung einer in den fünfziger Jahren begonnenen Massen- wanderung desselben. Nebst einem Anhang, betr effend das vermeintliche Vorkommen des Bison im Gouvernement Nishnij-Nowgorod. Mit einer Karte. Der Akademie vorgelegt 1885. Aus den „Beiträgen zur Kenntnis des russischen Reiches und der angrenzenden Länder Asiens, zweite Folge“ besondersabgedruckt. St. Petersburg 1883. Wissenschaftliche Rundschau. 215 Das Elentier (Alces palmatus Gray) gehört zu einer Gruppe von Säuge- tieren, die ihre größte Verbreitung. zur Diluvialzeit hatte und deren Repräsentanten gegenwärtig ausgestorben sind oder doch ihrem Unter- gang entgegenzugehen scheinen. Zu den allmählich verdrängten Tieren wird auch allgemein das Elen gezählt, das in der That aus dem größten Teil Europas, wo es einst verbreitet war, verschwunden ist. Dieses Zurück- weichen des Elens läßt sich sehr deutlich auch in Rußland verfolgen. Daß das Elentier in früheren Zeiten das ganze europäische Rußland bewohnte, soweit die Hochwaldbestände reichten, wird nicht nur durch fossile und humatile Reste, sondern zum Teil auch durch historische Überlieferung und die Namen vieler nach dem Elch benannter Ortschaften bezeugt. Die südliche Grenze seines Vorkommens in prähistorischer Zeit dürfte wohl ungefähr durch die Linie Kamenez-Podolsk-Jekaterinoslaw- Orenburg repräsentiert werden. Die Einwanderung in dieses Gebiet mag aus Nordasien über die Waldregionen zwischen dem Eismeer und dem aralo-kaspischen Becken stattgefunden haben, »nachdem der Meeresarm, der das letztere mit dem Eismeer verband, trocken gelegt worden war«. (Es dürfte interessant sein, diesen hypothetischen Meeresarm, der so viel- fach in die Tiergeographie |u. a. auch bei O. Heer] eingreift, auf seine Existenzberechtigung hin geologisch zu prüfen.) Aus diesem Verbreitungsgebiet wurde das Elchwild in historischer Zeit mehr und mehr verdrängt, so dab seine Südgrenze 1850, aus welchem Jahr wir eine wertvolle Monographie über das Elen von SseEwErzow be- sitzen, sehr bedeutend nach Norden gerückt erscheint!. Zu jener Zeit verlief dieselbe ungefähr von Memel nach Brest-Litowsk, umzog die Sümpfe des Prypet und wandte sich dann nordwärts über Twer nach Rybinsk, von wo sie mit der aus NW. kommenden Grenze des Rens zusammen- fallend über Makarjew nach Kosmodemjansk in südöstlicher Richtung und von hier rein ostwärts mit einer beträchtlichen südlichen Ausbiegung im Ural nach Jekatherinenburg zog. Südlich dieser Linie kamen nur aus- nahmsweise versprengte Elentiere zu jener Zeit vor. Das war der Stand 1850. Seit 1850 aber zeigten sich Elene an den verschiedensten Punkten südlich jener oben geschilderten Südgrenze, zuerst nur in einzelnen Exem- plaren, bald aber in ganzen Rudeln, in Gegenden, wo sie früher nicht gesehen worden waren. Es begann eine förmliche Massenwanderung nach Süden. Schritt für Schritt kann man diese merkwürdige Wanderung verfolgen, deren Ausgangspunkt das Gouvernement Nowgorod gewesen zu sein scheint, wie aus der Richtung der Wanderung in verschie- denen Gegenden geschlossen werden kann. Von dort drangen die Tiere hinüber in die Gouvernements Moskau, Wladimir, Kaluga, Tula u. s. w. So hat das Elen einen Teil jenes Gebietes wiedererobert, das es in vor- historischen Zeiten besessen, sich dauernd dort niedergelassen, von wo ! Immerhin aber war es auch damals, wie das folgende zeigt, noch lange nicht soweit verdrängt, wie Ad. und K. Müller (Tiere der Heimat 1882! Bd. I, 406) zu glauben scheinen: nach diesen Autoren soll es in Skandinavien sowohl als im östlichen Rußland nur noch vereinzelt vorkommen und Memel und der Bialowiezer Wald sollen die einzigen Orte in Europa sein, wo es noch als wirkliches Stand- wild existiere! 216 Wissenschaftliche Rundschau. es längst verdrängt worden war. Die Größe des wiedergewonnenen Terri- toriums ist nicht unbedeutend; denn die Grenze verläuft gegenwärtig (1880) vom Südrand der Prypetsümpfe über Orel, Tambow und Ssimbirsk nach Ufa, also weit südlich von der Grenze des Jahres 1850, wie ein Blick auf Körren’s Karte zeigt. ; Was sind nun die Ursachen dieser eigentümlichen Auswanderung des Elentiers? Ehe man an die Beantwortung dieser Frage geht, ist es nötig, die Bedingungen zu überblicken, von denen die geographische Ver- breitung des Elens abhängig ist. — Von großer Bedeutung zeigen sich hier einerseits die Fruchtbarkeit des Elens — dasselbe setzt jährlich Zwillinge — anderseits sein außerordentlich geringes Anpassungsver- mögen. Es bedarf zu seiner Existenz eines sumpfigen, zugleich aber auch bewaldeten Bodens. In waldlosen Sümpfen, wie die Tundren es sind, anderseits auch in ganz der Sümpfe entbehrenden Waldungen gedeiht es nicht. Eng verknüpft mit diesen Standortsverhältnissen sind die Nahr- ungsbedingungen: das Elen nährt sich vorzüglich von den Schößlingen der Bäume und Sträucher, wie schon sein Bau verrät. Nahrungsmangel ver- anlaßt, wie gerade in Rußland mehrfach beobachtet wurde, das Elen häufig zu Wanderungen, welche jedoch nur periodisch sind und im Sommer in einem Vorrücken nach Norden, im Winter in einem Zurückweichen nach Süden bestehen. — Von Feinden des Elens ist vor allen der Mensch zu nennen, der ihm seines Fleisches wegen nachstellt oder dasselbe in- direkt durch Abschlagen und Abbrennen der Wälder, Entwässern der Sümpfe, durch Ausdehnung des Ackerbaus, durch seine ganze geräusch- volle Kultur vertreibt. Untersucht man, welche von diesen Bedingungen die massenhafte Auswanderung des Elchs nach Süden zu erklären vermag, so zeigt sich, daß wohl nur örtliche Übervölkerung und damit verbundener Nahrungs- mangel den Anlaß gegeben haben können. Denn die Wanderung ist aus waldreichen und sumpfigen Gegenden in waldärmere und trockenere, aus menschenleeren in stärker bewohnte gerichtet, mithin in Regionen, welche dem Elch gewiß weniger zusagen müssen als die Gegenden, aus denen er kam. Zu dieser Übervölkerung, über welche jedoch leider alle Daten fehlen, scheinen noch andere äubere Störungen sich gesellt zu haben, wie große Waldbrände in den fünfziger Jahren, Eröffnung von Eisenbahnen, von Dampferlinien auf der Wolga und damit verknüpft ein Aushauen der Wälder. Gleichwohl, meint Körren, kann bei dem noch immer enormen Vorrat an dem Elchwild zusagendem Futter von wirklichem Nahrungs- mangel in jenen Gegenden, von welchen die Wanderung ausging, keine Rede sein, wenn auch eine noch so starke Vermehrung stattfand. Daher glaubt er als Hauptursache einen dem Elentier eingebornen Wandertrieb ansehen zu müssen, der beim Eintritt gewisser äußerer Bedingungen, etwa wie die oben genannten, die Tiere nicht nur befähigt, sondern sogar zwingt, eine Wanderung zu unternehmen. »Abgesehen vom Nahrungs- mangel, der zur Wanderung drängt, sagt Minpennorrr ', steigert sich die Gewalt des angebornen Wandertriebes nach Maßgabe der Anhäufung Reise, Bde IV, p. 1198. Wissenschaftliche Rundschau. 27 einer gegebenen Tierart am gegebenen Ort. Je größer die Tierschar, desto entschiedener und regelmäßiger bemächtigt sich jedes einzelnen Individuums die Neigung zum Wandern. Verminderung oder gar Ver- einzelung wandelt nicht selten ausgesprochene Wandertiere in Standtiere um. « Im Anhang berichtet Verfasser noch kurz über die Frage, ob der Bison wirklich, wie von einem genauen Kenner des Tieres mehrfach be- hauptet und auch durch einen Professor in Moskau bestätigt worden war, noch in den vierziger Jahren dieses Jahrhunderts im Gouvernement Nishnij Nowgorod gelebt habe. Da die Angaben so bestimmt lauteten, auch das Vorkommen des Tieres in jenem ungeheuren, über ca. 200 Werst sich hinziehenden und größtenteils noch jungfräulichen Waldgebiet keines- wegs unwahrscheinlich war, gleichwohl aber keine sichere Auskunft er- halten werden konnte, so scheute Verfasser nicht die Mühe einer Reise nach der betreffenden Gegend (im Mai 1876), welche denn auch die Sache, soweit dies überhaupt möglich war, zum Austrag brachte. Der Bison ist dort sicherlich schon längst gänzlich ausgerottet; der Name Builo, ‚womit eben der Wisent gemeint sein sollte, bezieht sich einfach auf das geweihtragende Elen, das den fast nur im Winter im Walde beschäftigten Bauern natürlich weniger bekannt ist als das Tier im geweihlosen Zustand, weshalb sie letzteres auch als besonderes Wild: Loß — wilde Kuh unterscheiden (zum Teil freilich nur aus dem sehr triftigen Grunde, weil jetzt die Jagd auf Elen und Rentier untersagt ist, ein solches Verbot aber für den mythischen Builo nicht existiert, der also fröhlich nieder- geschossen wird!); — und wenn in jener Gegend je fremde Tiere dieser Art vorkamen, so können es höchstens Büffel gewesen sein, von denen nachweislich eine größere Anzahl gegen Ende des letzten Jahrhunderts aus Polen und 1829 aus der Türkei auf ein Gut gebracht worden waren, wo jetzt noch fünf ihrer Nachkommen leben. B..B: Botanik. Amphikarpie von Vicia angustifolia'. Während man als heterokarp diejenigen Pflanzen bezeichnet, welche, wie z. B. Diplocarpon pluvialis, verschieden gestaltete und verschiedenen Verbreitungsarten, oder der gleichzeitigen weiteren Ver- breitung und der Aussaat an Ort und Stelle angepaßte Früchte erzeugen, bezeichnet man als Amphikarpie die biologische Eigentümlichkeit einer Reihe von Pflanzen, neben oberirdischen, in offenen (chasmogamen) Blüten entstehenden Früchten solche in unterirdischen (resp. unter Wasser befindlichen) kleistogamen Blüten zu entwickeln. Der eigen- tümlichste Fall von Amphikarpie, die hier mit Heterokarpie verbunden ist, findet sich bei Cardamine chenopodifolia PErs., wo neben oberirdischen ! Ascherson, P. Amphikarpie bei der einheimischen Vicia angustifolia. Ber. d. Deutsch. Bot. Gesellsch. II. Jahrg. 1884, Heft 5, p. 235. 218 Wissenschaftliche Rundschau. aus den Achseln der Blattrosette entspringenden traubenförmigen Blüten- ständen unterirdische, nur ca. 1 mm lange blumenblatt- und nektarien- lose kleistogamische Blüten gebildet werden, deren Stiele, dem Ende der verkürzten Hauptachse entspringend, sich 2—4 cm in die Erde eingraben. Die normalen Blüten erzeugen hier Schoten, während an derselben Pflanze die kleistogamischen (und »kleistantheren« — nach AscHERrson’s Bezeichnung — weil die Pollenschläuche die geschlossene Anthere direkt durchwachsen) Blüten Schötchen erzeugen, die denen von Erophila verna nicht unähnlich sind. (Bekanntlich werden die Cruciferen von Lins& in Siliguosae und Siliculosae, Schoten- und Schötchen-früchtige ein- geteilt.) Die Samen der Schötchen, welche die Erhaltung der Art in einem ungünstigen Klima sicherstellen dürften, keimen an Ort und Stelle. Eine ähnliche ausgeprägte Form der Amphikarpie — nicht scharf aus- geprägt findet sich dieselbe z. B. auch bei Linaria spuria, Oxalis aceto- sella, Viola-Arten ete. — ist schon länger bekannt bei der Vicia amphi- carpa L. des Mittelmeergebietes, bei ZLathyrus amphicarpos L., der nord- amerikanischen Amphicarpaea monoeca (L.) Nurr., und den Lathyrus amphi- carpos L. hat man als amphikarpe — also nur biologisch, nicht spezifisch unterschiedene — Form von Z2. sativus L. erkannt. Auch bei Vicia amphicarpa war die Zugehörigkeit zu der über ganz Europa verbreiteten V. angustifolia wahrscheinlich und galt die Amphikarpie als wesentlichstes Unterscheidungsmerkmal. Aber erst Ascnerson hat nachgewiesen, daß die Amphikarpie auch bei der einheimischen V. angustifolia vorkommt. Derselbe fand um Berlin etwa 10°/o der untersuchten Stöcke amphikarp, an den unterirdischen weißen Ausläufern mit kleistogamen, >chasman- therischen« Blüten versehen. Lupwie (Greiz). Paläontologie. Fortschrittliche Entwickelung der tertiären Säugetiere Nordamerikas. Einem Vortrage von Prof. E. D. Corps (»Beweise für die Entwickel- ungslehre aus der Geschichte der ausgestorbenen Säugetiere«) entnehmen wir die nebenstehende übersichtliche Zusammenstellung, die sich zwar, wie schon die Namen der Formationsstufen andeuten, nur auf nordame- rikanische Funde bezieht, jedoch dank der ungemeinen Reichhaltigkeit jener Fossilreste für sich allein schon genügt, um das gleichsinnige Fort- schreiten der verschiedensten Organsysteme vom unteren Eocän bis zum oberen Miocän unverkennbar hervortreten zu lassen, zugleich mit der Thatsache, daß doch einzelne Formen oder einzelne Organe sich nahezu unverändert bis in die jüngsten Perioden fortzuerhalten vermochten x ! Bezüglich einer Schilderung der hier in Betracht kommenden Einzelformen sowie der wichtigsten Fundstätten, nach denen die Formationen zumeist benannt sind, können wir unsere Leser auf die treffliche Darstellung von Dr. E. Krause im II. Bd. des Kosmos 8. 325, 417 und 502 verweisen. Wissenschaftliche Rundschau. 219 — Die Reduktion der Finger- und Zehenzahl brauchen wir nicht näher . zu erläutern. Was die Verbindung des Unterschenkels mit ‘der Fuß- wurzel, das Sprunggelenk betrifft, so gab es in der Puercoperiode noch kein einziges Säugetier, bei welchem der Astragalus mit tiefer Rinne und die Tibia mit entsprechendem Vorsprung versehen war, beide Teile waren fast durchweg noch ganz flach. Im Laufe der Zeiten wird die Rinne immer tiefer, bis in der White River- und Loup Fork-Fauna fast alle Formen das typische Scharniergelenk aufweisen. — Die Tiere der Puercofauna treten sämtlich mit der ganzen Fläche der Sohle auf, in der Loup Fork-Periode dagegen schwebt die Sohle in der Luft und nur die Zehen berühren den Boden, mit Ausnahme des Zweiges der Affen, der Ele- fanten und der Bären. — Fassen wir die Zusammenfügung der kleinen Knochen von Hand und Fuß ins Auge, so bietet uns das untere Eocän keinen Fall dar, wo sie gegenseitig ineinandergreifen, wie dies im mitt- leren und späteren Tertiär die Regel ist. Und gleiches gilt von der Artikulation der Zehen mit dem Mittelfuß. — Die Gliedmaßen verlängern sich: die Arten der Puercofauna haben alle kurze Beine, später nehmen diese allmählich zu und in den jüngeren Formationen sind sie fast durch- weg verhältnismäßig lang. — Von den Charakteren der Wirbelsäule greifen wir die Zygapophysen (Gelenkfortsätze) heraus. Bei den niederen Wirbel- tieren sind dieselben stets flach, ebenso noch bei den huftragenden Säugetieren der Puercoperiode. Im Wasatch begegnen wir einer einzelnen Gruppe, bei der die Gelenkfläche sich zu runden beginnt; dies steigert sich in den folgenden Perioden und bei den spätesten Formen endlich finden wir die doppelte (sattelförmige) Aufbiegung und das Ineinander- greifen, welche wie in den Gliedmaßen die größte Festigkeit zugleich mit der größten Beweglichkeit gewährleisten. — Die gewöhnlichen Zähne der höheren Säugetiere, mit und ohne Hufen, zeigen mit wenigen Aus- nahmen kompliziert angeordnete Leisten und Höcker, die sich aber bei den Molaren alle auf die Einfaltung von Ausläufern von vier ursprüng- lichen Höckern zurückführen lassen. Bei manchen niedrigstehenden Ungulaten liegt der ursprüngliche Zustand von vier kegelförmigen Höckern noch jetzt vor. Blicken wir nun in die Vergangenheit, so zeigen uns die Säugetiere der Puercoperiode (mit Ausnahme von drei oder vier Arten) nie mehr als drei Haupthöcker; erst in den folgenden Zeiten tritt der vierte Höcker auf der Hinterseite dazu und daraus wird dann zuletzt die komplizierte Reihe von je nach dem Bedürfnis zum Mahlen oder Schneiden dienenden Einrichtungen. — Was endlich das Gehirn betrifft, so ist die Verallgemeinerung bereits außer allen Zweifel gestellt, daß die ältesten Säugetiere kleine Gehirne mit glatten Hemi- sphären, die späteren im Durchschnitt größere Gehirne mit Windungen auf den Hemisphären besaßen. Im allgemeinen hat sich bei den Karni- voren eine einfachere Form des Gehirns erhalten als bei den Herbi- voren. Die untersten Säugetiere zeigen außerdem die Eigentümlichkeit, daß die Hemisphären, die man doch wohl mit Recht als den Sitz der geistigen Thätigkeit bezeichnet, an ihrem Hinterende stark verkürzt er- scheinen, so dal das Mittelhirn von oben sichtbar wird, obschon es kleiner ist als bei Reptilien und Fischen. Wissenschaftliche Rundschau. 220 er „88 Formation KERN Füße Astragalus ER Ulnoradius | Obere Molaren Zygapophysen Gehirn Sg 1—1 ; OberM, | 2-2 | Disitigrad, | Gefurcht, | a 4-höckerig, mit |n npelt aufzeb Hemisphären r-M. Er ad. efurcht. | greifend. | en A 2 oppelt aufgebogen. 7 (Loup Fork) = ı (Plantigrad.) (Flach.) (Einfach an- | Zleinen) in Einfach aufgebogen. Ehen u 55 fügt.) » indungen. (5—5) Sn = Mittel-M 2_2 Hemisphären S ittel-M. en ee Ineinander- | Facettiert. | 4-höckerig, mit | Einfach aufgeboge Es . = 3—3 Digitigrad. | Gefurcht. : : een ED größer = | (John Day) gen 88 greifend, Glatt. Leisten. Doppelt aufgebogen. ae | | Bes Unter-M. 1 Digitigrad. Tee Ineinander- Glatt. 4-höckerig, mit ? Einfach auf- Hemisph. klein. (White River) = | Plantigrad. ul greifend. Facettiert. Leisten. gebogen. e & größer. I | | Angefügt 4-höckeri | Ober-E. | 4-3 | (Digitigrad.) Gefurcht De DoReNIS- | Einfach aufgebog Hemisphä ee = : “ / Imeinander- | Glatt. Schookerie, mit en ann (Bridger) - 2 Plantigrad. | (Flach.) greifend. Dee Flach. klein. 2) Mittel-E. = | Plantigrad. | Flach. a | Gl | en | Flach Hemisph. klein, SI (Was Dicker Ir n neinander- rlatt. 3-höckerig, z. T.| rn: r Mittelhirn manch- 31! (Wasatch) Bes (Digitigrad.) | (Gefurcht.) | greifend. | Werten Bin aufgebogen. lunbedecki: | ® 5 | ' Mittelhirn unbe- 4 | gi | | S-höckerig. | I ; ee | 5--5 , Plantigrad. Flach. | Angefügt. Glatt. | (4-höckerig), | Flach. Ei nenn | | ohne Leisten. ae glatt. Litteratur und Kritik. 291 Zum Schlusse fügen wir die Daten der Entdeckung der meisten oben angeführten Fundschichten bei: die White River-Fauna wurde schon 1356 erschlossen ; erst 1869 geriet man auf die Kreideschichten, in denen sechs bis sieben verschiedene Faunen nachgewiesen worden sind. Dann folgt die Bridgerfauna 1370 und die Wasatchfauna 1874. Die Jahre 1877 und 78 brachten die Zgwus-Schichten mit ihrer eigentümlichen Fauna, 1879 eine permische Fauna, und zuletzt erst, 1881, kam die Puercofauna zu Tage, welche uns die altertümlichsten und vielfach als direkte Vor- fahren der modernen Säugetiere erscheinenden Typen geliefert hat. Als der Verfasser um 1860 das Studium dieser Formen begann, waren un- gefähr 250 Arten davon bekannt. Jetzt sind es deren gegen 2000 und sie mehren sich fast täglich. Man könnte kaum schlagender die Ver- kehrtheit aller auf bloß negative Befunde in der Paläontologie gegrün- deten Schlüsse beweisen, als durch die einfache Zusammenstellung dieser Thatsachen. Litteratur und Kritik, Die positive Philosophie von Aususrk CoMmTE, im Auszuge von Juues Rıc. Übers. von J. H. von Kırcnmann. Heidelberg, G. Weiss, 2 Bände 1883 und 1884. 472, 524 8. 8°. (M. 17. —) Comre’s Hauptwerk, das den Titel führt: Cours de philosophie positive, ist die Arbeit von 16 Jahren — 1826 bis 1842 — und umfaßt sechs starke Bände folgenden Inhalts: I. Band, als Grundlage alles Wissens, Mathematik samt Geometrie und Mechanik; II. Band Astronomie und Physik; II. Band Chemie und Bio- logie; IV., V. und VI. Band, unter der Bezeichnung Physique sociale, Soziologie (früher sagte man Philosophie der Geschichte, und so nennt's übrigens Comrr selbst, Band V, S. 6, bei Rıc im ersten Absatz des 52. Kap.) als die Gesamtentwickelung des historischen Menschen und zwar nach ihren drei Hauptrichtungen, welche treffend als die theologische, die metaphysische und die positive bezeichnet werden. Der ganze Kursus zerlegt sich in 60 Vorlesungen, von welchen 45 auf die drei ersten, 15 auf die drei letzten Bände entfallen. Wie schon daraus ersichtlich ist, haben wir es da mit einem Riesenwerk zu thun, bei dem ein gewisser Mangel an Ebenmaß nicht überraschen darf, so z. B. wenn man in den letzten Bänden auf Vorlesungen stößt von 120 bis 240 Seiten Länge. Dieses Riesenhafte, wie sehr es auch durch den eneyklopädischen Inhalt und dessen systematische Behandlung ge- rechtfertigt sein mag, ist gewiß ein Hauptgrund der verhältnismäßig ge- 222 Litteratur und Kritik. ringen Verbreitung, welche das durch und durch geniale Werk zumal in Deutschland bislang gefunden hat. Nur in England ist es, und zwar von Sruarr Mıvu und HereBerT SpencHkr, von letzterem besonders in seiner Anwendung der Statik gründlich verwertet worden. Darum war es ein sehr dankenswertes Unternehmen, durch eine Bearbeitung, welche das ganze auf zwei Bände reduziert, das Buch allgemeiner zugänglich zu machen. Dieser schwierigen Aufgabe hat Junes Rıc (soll teilweise Pseudonym sein) mit viel Geschick sich unterzogen (2. Auflage, Paris 1881), und dem unermüdlichen Kırcnmann verdanken wir die vorliegende, der meisterhaften Klarheit des Originals in erfreulicher Weise gerecht werdende deutsche Übersetzung. Die Einteilung ist ganz dieselbe geblieben und von den nunmehr Kapitel überschriebenen Vorlesungen entfallen 45 auf den ]I. und 15 auf den II. Band. Es läßt sich nicht leugnen, dab diese Behandlung auch ihre mißlichen Seiten hat, daß im I. Band bei der Vielseitigkeit der darin entwickelten Gegenstände durch die gewaltigen Kürzungen manches den Eindruck des Überhasteten und Oberflächlichen macht; während im II. Band hin und wieder die allzuknappen Übergänge die Verbindung nicht genügend herstellen. Dadurch wird es noch fühlbarer, daß Comrs in seiner Scheu vor aller nicht im strikten Gewande des Positivismus auftretenden Erkenntnislehre fast den ganzen Kanr und mit ihm den eigentlichen Kritizismus ignoriert. Sozusagen nur pro forma nennt er den Königsberger, wenn wir nicht irren, im ganzen großen Werke drei oder vier Mal. So im I. Band S. 112 (III. Auflage, Paris 1869), um das allerdings Unhaltbare der Scheidewand zwischen dem Qualitativen und Quantitativen hervorzuheben. Dann im VI. Bande (a. a. O. 8. 619), um das große Verdienst zu betonen, das Kant sich erworben hat mit dem ersten Versuch, »durch den berühmten Gedanken einer zweifachen teils objektiven teils subjektiven Wirklichkeit, welcher Gedanke vom richtigsten Gefühl für eine gesunde Philosophie Zeugnis gibt, dem Ab- soluten in der Philosophie zu entrinnen.« Man sieht aus diesen paar Worten ganz gut, daß Comrz den »berühmten Gedanken« richtig erfaßt hat; aber er nennt ihn: »ein glückliches Apercu, aller aktiven _ wissenschaftlichen Konsistenz bar infolge der unfruchtbaren Isolierung, in welcher die Metaphysik sich befand« (Ebendaselbst). Er sieht in Kant nur einen alten Metaphysiker und hat keine Ahnung von der Nachhaltigkeit seiner Leistung. Es ist richtig, daß die alte Metaphysik immer wieder Versuche macht, bei Kayr anzuknüpfen, und auch An- knüpfungspunkte bei ihm findet; allein zu einem Wiederaufleben bringt sie es damit nicht mehr, weil es ebenso gewiß ist, daß Kant es war, der ihr den Lebensnerv durchschnitten hat. Von CGomtr ist es bekannt, daß er in seiner Jugend außerordent- lich viel gelernt, aber auch verhältnismäßig sehr früh und zwar grund- sätzlich aufgehört hat, Bücher zu lesen. Bei einem Plan, wie er ihn gefaßt hatte, bei seinen Vorkenntnissen und seinem Genie war es’ auch das Richtige. Er wäre nie zur Vollendung seines Kursus gelangt. Bei einem Genie solchen Ranges ist es auch kein Unglück, zu keiner streng philosophischen Schulung gelangt zu sein. Es rächt sich zwar Litteratur und Kritik. 223 auch bei ihm dieser Mangel: seine Unklarheit in betreff der Wahrnehm- ung und Beobachtung wie des freien Willens spielen ihm manchen bösen Streich; und die unbedingte Wirklichkeit, die er den Dingen beilegt, zwingt den deutschen Übersetzer, für Phänomene »Vorgänge« zu sagen und von dem Ausdruck »Erscheinungen« Umgang zu nehmen, — ein glücklicher Ausweg, welcher aber, da dieser Begriff das ganze Werk durchzieht, ab und zu doch ins Dunkle führt. Seine Angst, durch jede Art Psychologie in die Schlingen der Metaphysik zu geraten, ließ ihm Garn als einen Retter erscheinen, obwohl er anderseits doch gegen alle spezifischen Vermögen und Energien zu fest gewappnet war, um von dessen Verteilung der geistigen Kräfte sich ganz gefangen nehmen zu lassen. Ebenso macht die mathematische Analytik eine Darlegung der eigentlichen Denkgesetze nicht so entbehrlich, als er meinte. Allein ihm war es um mehr, ihm war es um das Brechen einer neuen Bahn zu thun, und die hat er gebrochen. Auf diese wollen wir nun den Blick des gütigen Lesers lenken, und hoffen, unsern Zweck vollständig zu erreichen durch das bloße Auf- decken ihrer Kühnheit und Großartigkeit. Der deutsche Übersetzer hat, vielleicht beunruhigt durch das dem Buche nicht eben förderliche Urteil, das er in Verbindung mit biographischen Notizen im Vorwort zum I. Bande ausgesprochen, dem II. Bande eine Vorrede beigegeben, in welcher er detailliert nachweist, daß GorrHE’s Faust, vom rein wissen- schaftlichen Standpunkt aus betrachtet, folglich im Vergleich zu Comnme’s Werk, das er damit zu verherrlichen meint, eine recht mißlungene Arbeit sei. Damit hat sich Herr von Kırcnmann in einen glühenden, aber ver- hängnisvollen Enthusiasmus hineingeredet; denn unmöglich kann er wün- schen, daß das von ihm übersetzte Buch vom Standpunkt eines drama- tischen Gedichtes aus beurteilt werde. Das größte deutsche Poem gegen einen solchen Ästhetiker in Schutz zu nehmen, fällt uns nicht ein; wir konnten nur nicht umhin, diese Gelegenheit zu ergreifen, um Du Boıs- Reymoxp, der in seiner Rektoratsrede vom 15. Oktober 1582, wenn auch aus ganz anderen Motiven, nämlich um einen großen Gelehrten zu ver- dunkeln, Gorrur mißhandeln zu wollen für gut befunden hat'!, zu dem unerwarteten Leidensgenossen unsere Glückwünsche darzubringen. Die Bahn, die ComrE gebrochen hat, kann mit der Zeit stark ver- ändert werden, aber seine Hand wird daran immer zu erkennen sein; denn sein Hauptgrundsatz ist wahr und die Weise, wie er ihn ausspricht, ganz danach angethan, Millionen aus dem metaphysischen Schlummer zu wecken. Das ist sein großer Vorzug, und darum kann Jures Rı@'s Resümee nicht zu warm empfohlen werden. Mag er auch Deutschlands Wert und besonders dessen Philosophie unterschätzen: gerade Deutsch- land sollte ganz besonders auf das Studium seiner Philosophie sich ver- legen; denn wie wenig Kant von seinen Vorwürfen getroffen wird, so sehr treffen sie den metaphysischen Zug, der den modernen Hyper- kritizismus beherrscht. Comtre’s Grundgedanke lautet: dab man den Menschen nur dann richtig beurteilen könne, wenn man ihn auffasse in Zusammenhang mit der gesam- - Vergl. Kosmos XII, 1883, S. 558. 294 Litteratur und Kritik. ten Entwickelung, und daß diese Auffassung nur dann eine der Menschennatur entsprechende sei, wenn man sie zu einem Abschluß bringe, ohne nach ersten Ursachen oder letzten Zielen zu fragen, die wie alles abselnte Wissen zu den unmöglichen, weil nicht aufErfahrung ge- gründeten Kenntnissen gehören. Allerdings hat z. B. uns erst Darwın, welcher für ComtE zu spät kam, diesen Weg zu gehen bestimmt und vermögen wir nur auf realidealistischer Grundlage, welche Conre verschmähte, zu ethischen Prinzipien zu gelangen; allein daß wir nicht alle seine Sätze zu den unserigen machen können, ist noch lange kein Grund zur Annahme, dab wir und mit uns alle, deren Forschung keine gebundene Marschroute kennt, nicht sehr viel von ihm zu lernen haben. Auf gar manche Unklarheiten wird man erst durch jene aufmerksam gemacht, die nicht auf dem ganz gleichen Geleise vor- wärts streben. Die Weise, in welcher ComtEe uns darthut, daß eine richtige Soziologie nur auf Grundlage der Biologie, der Lehre von den Lebewesen überhaupt, sich entwickeln läßt; daß diese nur durch das Studium der Chemie und Physik verständlich wird; die letztere end- lich aller Gründlichkeit entbehrt, wenn ihr nicht die Astronomie vor- hergeht, die, sowie schließlich jede dieser Wissenschaften, auf Mathe- matik in Verbindung mit Geometrie und Mechanik beruht — gehört zu den unvergänglichen Denkmälern der philosophischen Litteratur. Diese acht Wissenschaften, die wohl heute um ein paar zu vermehren wären, umfaßt Comtz nach ihrem organischen Zusammenhang, um sie in ihren Grundzügen durch eine allgemein verständliche Darstellung zum wahrhaften Gemeingut des Menschen zu machen. Ist auch dabei, wie es der rasche Fortschritt aller positiven Wissenschaften in den letzten 50 Jahren mit sich bringt, manche seiner Auseinandersetzungen veraltet und längst überholt: in der Klarheit und Bestimmtheit, mit welcher er, seiner Zeit voraneilend, die Umgebung der Organismen als maß- gebend für deren Entwickelung (Comre-Rıs, Bd. I, S. 370) be- zeichnet, steht er ganz auf der Höhe der Neuzeit und ihrer Evolutionslehre. Um eine Vorstellung von seiner Darlegungsart zu geben — JuuEs Rıc läßt den Meister durchweg selbst reden — wollen wir eine charak- teristische Stelle über die Astronomie wörtlich hierher setzen, von welcher er im Vergleich zu den anderen Wissenschaften sagt: »Keine hat der Lehre von den letzten Zwecken so schwere Schläge bei- gebracht wie diese. Die bloße Kenntnis von der Bewegung der Erde hat jene Meinung zerstört, das Weltall sei der Erde und folglich dem Menschen untergeordnet. Die Ermittelung unseres Sonnensystems hat alle blinde und maßlose Bewunderung verschwinden lassen, denn die Wissenschaft vermag zu zeigen, daß sich eine bessere Anordnung denken läßt. Wenn die Astronomen in solche Bewunderung verfallen, so denken sie an die Organisation der Tiere, welche sie nicht kennen, während die Biologen, welche die ganze Unvollkommenheit derselben kennen, wieder über die Ordnung der Gestirne staunen, von denen die tiefere Kenntnis ihnen fehlt. Seit Newron hat alle theologische Philosophie ihre herr- Litteratur und Kritik. 225 schende Rolle eingebüßt, indem man erkannt hat, daß selbst die regel- mäßigste Ordnung in dem ganzen Weltall durch die gegenseitige Schwere in seinen einzelnen Teilen herbeigeführt und erhalten wird.«< Und etwas weiter unten: »Der angeblich letzte Zweck läuft also darauf hinaus, daß es in unserem Sonnensystem keine anderen bewohnten Ge- stirne gibtalsdie, welchebewohnbar sind. Man geht auf das Prinzip für die Bedingungen des Bestehens zurück, und dies ist die wahre positive Umgestaltung dieser Lehre.< (Comrr-Rıs Band I, S. 166 und 167.) / Diese wenigen Worte kennzeichnen die Entwickelungsstufen, welche, wie Comue’s Soziologie auseinandersetzt, die Menschheit durchwandeln mußte, um auf ihren jetzigen Standpunkt, sozusagen zum Betreten der dritten Stufe zu gelangen. Diese Stufen oder geistigen Richtungen folgen nicht haarscharf auf einander: sie bestehen teilweise zugleich, nur treten sie nacheinander in die Erscheinung, so daß als herrschend und ihre Zeit charakterisierend immer nur eine betrachtet werden kann. Die geistige Richtung, mit welcher die Weltgeschichte beginnt, ist die theologische. Da weist Comtz den keines Priestertums bedürftigen Fetischglauben als das Ursprünglichste nach, woraus allmählich und zwar als eine Abschwächung der religiösen Innigkeit der Polytheis- mus hervorgegangen ist. Als eine weitere Abschwächung der religiösen Innigkeit, weil aus dem Konkreten immer mehr ins Abstrakte übergehend, ist aus dem Polytheismus der Monotheismus erstanden. Der be- schränkte Raum dieser Besprechung gestattet uns nicht, auf die frap- panten historischen Belege einzugehen, die uns da vorgeführt werden und an deren Hand uns erklärt wird, wieso im Monotheismus der Keim der Metaphysik enthalten war und wie das Streben, im Deismus eine höhere Art des Monotheismus darzubieten, in negativem Bezuge nur des letzteren Zerstörung herbeiführte, in affırmativem dagegen für den kom- menden Positivismus grundlegend war. Von höchstem Interesse ist der geschichtliche Nachweis der engen Verbindung, aber auch Neben- buhlerschaft destheologischen und des kriegerischen Geistes, die gleichzeitig ihren Höhepunkt erreichten und ihren Niedergang er- lebten. In der Blütezeit des Monotheismus bestanden die Völker aus Kriegern; seit dem Vorherrschen des metaphysischen Glaubens gibt es nur mehr erzwungene und bezahlte Soldaten. Die Lehensherrlichkeit und die Hörigkeit sind theologisch - kriegerische Schöpfungen, und mit der Hörigkeit ging die Lehensherrlichkeit zu Ende. Der Befreiung der Personen folgte die Befreiung der Gemeinden und Städte und mit dem Erblühen dieser letzteren, ihrer Industrie, ihres Handels und Verkehrs feierte die neue Zeit ihren Einzug. Als den letzten König Europas, der in eigener Person seine ganzen Regierungsgeschäfte besorgt hat, bezeichnet Comrtz Ludwig IX. und die von da an auftauchenden Diplomaten und Minister als die leben- digen Zeugen der Lüge, als welche die Alleinherrschaft des Absolutismus sich erweist, des krankhaften Erzeugnisses der theologia militans und . der blutlosen Metaphysik. Comtse kennt keine im strengen Sinn des Wortes tote Natur; für ihn gibt es keine Rechte, welchen keine Pflichten Kosmos 1884, II, Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XV). 15 936 Litteratur und Kritik. entsprächen; daß die Begründung der Sittlichkeit unabhängig sei von Jedem Glauben, gilt ihm als unzweifelhaft; und daß ein so entschiedener Positivist den Begriffen des »Ganzen« und »Allgemeinen« dieselbe Wichtigkeit beilegt, die wir ihnen vindizieren, ist namentlich für uns von höchstem Wert. Nicht bloß für die Zeit, in welcher er schrieb, auch für heute reicht sein Blick weit hinaus in die Zukunft. Allein wie er den Zustand der Abschnitte seines Werkes einen erst vorläufigen nennt und vor allem nach der Festigung der Grundsätze strebt, so ent- hält er sich alles näheren Eingehens auf die künftige Gestaltung der sozialen Verhältnisse und begnügt sich fast nur mit Aussprüchen, wie daß die Erziehung des einzelnen wenigstens in ihren wichtigsten Teilen die Erziehung der Gattung zu wiederholen hat und daß keine soziale Annahme der Menschennatur widersprechen darf, wobei aber die Natur des ethisch erhobenen Menschen ins Auge zu fassen sei. Wie erhaben der sittliche Standpunkt ist, welcher ihm für die Zeit vorschwebt, in der die positive Philosophie eine Wahrheit und »die Ge- setze der Soziologie so feststehend sein werden als die Gesetze der Physik«, sagen die wenigen Worte: daß, welche Stellung immer einer in der neuen Gesellschaft einnehmen mag, er nur als deren Beauf- tragten sich wird betrachten können, weil der sittliche Fortschritt im zunehmenden Überwiegen des Geistes für das Allgemeine gegenüber dem Geiste für das Einzelne liegt. Nur in einem läßt er sich zu weit ein, und es ist dies wohl auch der Grund, daß der Mann, der doch sonst in allem die Klarheit selbst ist, plötzlich unklar wird. Wir meinen das Bild, das er von der künftigen Geistlich- keit entwirft, ein leises erstes Anklingen des Mystizismus, der in seinen spätern Arbeiten zum Durchbruch gekommen ist. Doch diese haben mit seinem Hauptwerk nichts zu thun. Eher hat mit ihnen die Zeit zu thun, welche einen ComrE nicht zu würdigen verstand und ihm das herbe Wort entpreßte, das sein Schüler Lirrr& in der Vorrede zur III. Auflage verewigt hat: »Der Philosoph wird nicht mehr hingerichtet, nicht einmal mehr eingekerkert; aber Hungers sterben kann er noch immer.« — Möchte das vorliegende Buch eine Aufnahme finden, die Zeugnis gibt von der Würdigung des großen Toten. Graz, 17. Juli 1884. B. CARNERI. Psychologisch-ästhetische Essays von Dr. SUSANNA RUBINSTEIN. Zweite Folge mit dem Bildnis der Verfasserin. Heidelberg, Carl Winter, 1884,84 027328: Mit aufrichtiger Befriedigung haben wir dieses Buch bis zu Ende gelesen, und zwar weil es nicht nur viel des Anregenden und Interessan- ten enthält, sondern weil es in thatsächlicher Weise darthut, daß, woran wir übrigens nie gezweifelt, echte Weiblichkeit durch ein Doktordiplom Litteratur und Kritik. 327 gar nicht beeinträchtigt wird. Was uns in den vorliegenden acht Essays: Schicksale der Vorstellungen; Zeit und Raum; Die Bewegungsarten; Zur Psychologie der Geschlechter; Leidenschaft und Affekt; Zur Natur- geschichte des Witzes; Charakteristik der griechischen, und Charak- teristik der indischen Phantasie — geboten wird, kann gewiß mannig- faltig genannt werden, und nirgends thut sich das Bestreben hervor, mit männlicher Gründlichkeit breit zu thun und zu zeigen, dab das Weib, sobald es auf die Wissenschaft sich verlegt, es bis zum Manne bringen könne. Das soll es auch nicht, hat vielmehr durch und durch Weib zu bleiben und von seinem Standpunkt aus die Wissenschaft zu beleuchten. Dann wird es uns auch bieten, was der Mann nicht zu bieten vermag, weil das Wissen Nüancen genug hat, auf welche näher einzugehen dem Manne teils die Geduld, teils die Feinfühligkeit mangelt. Der Fortschritt gegenüber den vor fünf Jahren erschienenen sechs Essays ist unbestreitbar. Der Stil ist abgerundeter, weniger gesucht und dadurch wärmer; die Sicherheit in der Darstellung ist größer ge- worden, ohne daß darum die Bescheidenheit im Auftreten, welche 1874 den ersten Schritt in die Öffentlichkeit: »Die sensoriellen und die sen- sitiven Sinne«e — kennzeichnete, die geringste Einbuße erlitten hätte. Schon die längere Pause, die zwischen der zweiten und dritten Publika- tion liegt, beweist, daß wir es da mit keinem Vielschreiber zu thun haben und dab emsiges Sammeln, aber auch sorgfältiges Sichten, ge- wissenhafte Bearbeitung die leitenden Sterne sind. Das sehr schön aus- gestattete Buch zeichnet sich auch durch Korrektheit aus und ein Ver- sehen, wie wir es auf S. 25 fanden, wo der Entdecker des Hypnotismus, der englische Arzt BrAıp, zu einem französischen Arzt gemacht wird, dürfte wohl dem Abschreiber zur Last fallen. Eigentümlich ist S. 30 der Gebrauch des Ausdrucks Gedanke für Begriff im Gegensatz zur Vorstellung, und wir wissen nicht recht, ob wir dies einer weiblichen Scheu vor der Abstraktion zuzuschreiben haben oder ob es bloß eine etwas freie Übersetzung des »idea« der Engländer ist? Dann ist S. 55, wenigstens unseres Erachtens, beim Schönen in der. Architektur und Musik etwas zu viel Gewicht auf die Grundlage der Mathematik gelegt; und da möchten wir die Verfasserin, die gerne auf Herrmann Lorzz kom- promittiert, an dessen System der Philosophie erinnern, wo im ersten Teil, S. 597, zwischen Verstehen und bloßem Berechnen scharf unter- schieden wird. Alle Essays weisen Geistvolles und Tiefempfundenes auf; die be- deutendsten sind die zwei letzten, in welchen an der griechischen und indischen Phantasie nachgewiesen wird, was die Verfasserin im ersten Bande ihrer Essays an der jüdischen und an der christlich-germanischen Phantasie dargethan hat: daß bei den Völkern wie bei den Individuen die Richtung der Phantasie durch die vorherrschende Entwickelung eines Sinnes bestimmt wird. So ist — um mit ihren eigenen Worten zu reden — »die Prädisposition zum stereometrischen Sehen die causa efficiens vom sinnlich-plastischen Charakter der griechischen Kul- tur«, S. 229, und »besteht der Charakter der indischen Phantasie 2398 Litteratur und Kritik. in seiner psychischen Anlage aus den sich komplizierenden Äquivalenten von Gehörs- und Gesichtsvorstellungen«, S. 278. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Phantasie, d. h. die Weisel in der sie auftritt und wirkt, von hoher Bedeutung ist für die Gestalt ung der Kultur und daß sie selbst bedingt ist durch die Art der Sinnes- thätigkeit. Allein diese ist nicht die einzige Ursache, und unter den anderen mitwirkenden Ursachen sind gewiß auch solche, welche schon zur höheren Ausbildung des einen oder des andern Sinnes entscheidend beigetragen haben. Daß jede Wirkung aus einer Komplikation von Ur- sachen hervorgeht, weiß auch die Verfasserin; darum spricht sie im ersteren Satze nur von einer causa efficiens und läßt im letzteren das Wort ganz weg, gewib nicht aus dem bloß stilistischen Grunde, sich nicht zu wieder- holen. Die mitwirkenden Gründe der Umgebung, des Klimas u. s. w. u sie sogar mit besonderer Lebendigkeit. Wir brauchen nur auf 8. 235 ff. zu verweisen, wo uns gezeigt wird, was den Inder zur Askese führt. Alles drängt ihn zum besehaulichen Leben, woraus indirekt hervorgeht, weshalb der Abendländer von Haus aus nicht zur Askese neigt und diese, so oft er sich ihr hingab, nur bei Ausnahmscharakteren edle Früchte trug, bei der Mehrzahl dagegen immer umschlug in wilden Sinnentaumel. Für den, der sich sein Leben hart erarbeiten muß, ist die Außenwelt kein leerer Schein, und an ihrer pochenden Brust will er selig ruhen nach gethaner Arbeit. Das bestimmt dann auch seine Phantasie. Ist aber auch demnach die Art der Sinnenentwickelung vielleicht von etwas geringerer Bedeutung, als die geehrte Verfasserin meint, schließen dürfte man auf sie noch immer, je nachdem die Phantasie eines Volkes mehr in der Architektur, in der bildenden Kunst, in der Musik oder in der Poesie sich hervorthut. Jedenfalls bildet die Richtung, nach der die Sinnesthätigkeit sich entwickelt, einen glücklichen Anhaltspunkt für die Gruppierung von Kulturstudien. Die vorliegenden Essays sind davon ein sprechender Beweis und ohne Genuß und Gewinn wird sie niemand aus der Hand legen. Graz, 25. Juli 1884. B. CARNERı. Moxzwes, Franz: Über Bastarde von Mentha arvensis und Mentha aquatica, sowie die sexuellen Eigenschaften hybrider und gyno- diözischer Pflanzen. Inaugural-Dissert. Leipzig 1883. (S.-A. ohne Taf. aus EncLer’s bot. Jahrb. IV, 2.) Die formenreichen Mentha-Arten, besonders die von Linn£ mit den Namen Mentha aquatica, sativa, gentilis und arvensis belegten Formen haben von jeher den Botanikern Schwierigkeiten gemacht, weil, wie Fock& sagt, »alle Untersuchungen über die einheimischen Menthen von be- schränkten Gesichtspunkten einzig und allein im Dienste der Systematik angestellt worden sind. Bei richtiger Würdigung der sexuellen Verhält- nisse bei den normalen Pflanzen und bei ihren Bastarden könnte das Litteratur und Kritik. 229 Studium der Menthen ein bedeutendes Interesse bieten«. Verf. hat, in- dem er die sexuellen Verhältnisse berücksichtigte, zunächst in die zahl- reichen mit M. arvensis und M. agquatica verwandten Formen Licht ge- bracht. Die meisten dieser Formen, wie z. B. die von den Floristen bald als gute Art, bald als Varietät von M. aquatica oder M. gentilis betrachtete M. sativa, erwiesen sich als Bastarde der obengenannten Arten, die aber zum Teil stellenweise sich bereits wie echte Arten fort- pflanzen (zu Blendlingen geworden sind). Die beobachteten Mischlinge zeigten in verschiedenem Grade die ihre Stammeltern M. arvensis und aqua- tica auszeichnende Eigenschaft des Vorkommens kleinblütiger weiblicher und großblütiger Zwitterstöcke. Verfasser erklärt die große Mannigfaltig- keit der hybriden Zwischenformen zunächst daraus, daß nicht nur, je nachdem die eine Art als Weibchen oder Männchen fungiert, verschiedene Zeugungsprodukte entstehen, sondern auch die Einwirkung des Pollens auf die Narbe der Zwitterpflanzen und der kleinblütigen Weibchen ver- schiedene Formen verursache. Auch die Bildung von Tripelbastarden, von »Tinkturen« oder »halben Bastarden«, wie sie KÖLREUTER durch gleichzeitige Anwendung von wenig Pollen derselben Art mit einer großen Menge fremden Pollens erzielt haben will, glaubt Verf. zur Erklärung gewisser Mentha-Bastarde heranziehen zu sollen. (Die eine Pollensorte würde nach der Anschauung Frırz MürLer’s nur durch direkte Beein- flussung des mütterlichen Organismus wirken und die Anregung zur Fruchtbildung dabei geben können, während der Pollenschlauch der an- deren Sorte die Eizelle befruchtet.) In einem besonderen Abschnitt behandelt Verf. noch den Ursprung der Gynodiözie und verschiedene auf den Hybridismus bezügliche Fragen, ohne indessen etwas wesentlich Neues beizubringen. Daß die Konta- beszenz der Staubgefäße oft der erste Schritt zur Gynodiözie ist, läßt sich wohl nicht bezweifeln und ist auch bereits früher vom Ref. hervor- gehoben worden, doch dürften auch andere Wege dazu führen. Lupwıg (Greiz). GRASSMANN, P.: Die Septaldrüsen, ihre Verbreitung, Entstehung und Verrichtung. (Flora 1884, No. 7 ff.) Die Blütennektarien finden sich nur bei denjenigen Pflanzen, welche Tiere (Insekten, Vögel) als Bestäubungsvermittler haben — sie fehlen den Pflanzen, bei welchen Wind oder Wasser den Pollentransport be- sorgen. Auch die vorliegende Arbeit bestätigt dies. Verf. hat in ihr eine eigentümliche in den Fruchtknoten der Monokotyledonen vorkommende Art von Nektardrüsen beschrieben, die eine weite, fast allgemeine Ver- breitung bei den entomophilen Liliifloren und Scitamineen haben und sich durch einen sehr vollkommenen ihrer Funktion entsprechenden Bau vor den Nektarien der Dikotyledonen, welche nur oberflächliche Sekretions- schichten bilden, wesentlich auszeichnen. Die »Septaldrüsen« stellen in den Scheidewänden der Fruchtknoten — Pflanzen, deren Fruchtknoten 230 Litteratur und Kritik. keine Septa enthalten, haben auch keine derartigen Drüsen — gelegene Hohlräume vor, welche durch einen Kanal nach außen münden. Diese durch das Sekretionsgewebe gebildeten Hohlräume dienen als Reservoir, aus welchem der Honigsaft fortwährend frisch dem Blütenboden zugeführt wird. Bei den Liliaceen verengern sich die Hohlräume in der Regel nach oben allmählich zu einem engen nach außen führenden Kanal, nur bei Allium verengt sich die Septaldrüse nicht, sondern mündet durch einen seitlichen Kanal nach außen. Bei den Bromeliaceen hat nicht jedes Septum eine besondere Drüse, die Septaldrüsen vereinigen sich vielmehr zu einem im Querschnitt zickzackförmigen Hohlraum, der bei den Arten mit halbunterständigem Fruchtknoten ohne besonderen Ausführungskanal in seiner ganzen Ausdehnung direkt in den Blütenboden übergeht, wäh- rend er bei den Arten mit unterständigem Fruchtknoten einen besonderen Kanal in die Höhe sendet. Bei den Iridaceen, Agaveen und einer Gruppe der Amaryllideen steigt der Drüsenkanal eine Strecke im Griffel empor und läßt durch einen Spalt in letzterem den Nektar in den Blütenboden hinabfließen, während er in anderen Familien die Griffelgewebe nicht berührt, sondern direkt in den Blütengrund mündet. Bei den Musaceen sind die Drüsenräume nur unten zickzackförmig verbunden wie bei den Bromeliaceen, oben aber frei und durch besondere Kanäle ausmündend. Die Gynandrae, Enantioblastae und einzelne Gattungen der schon ge- nannten Pflanzenabteilungen haben entweder eine andere Art der Nektar- absonderung oder andere Anlockungsmittel für die Insekten (Beköstigungs- antheren bei den Commelinaceen u. a. »Pollenblumen«). Lupwıc (Greiz). Where did Life begin? A Monograph by G. Hıuron SCRIBNER. New York, Seribners Sons 1883. 64 S. 8°. Das Hauptresultat dieser »kurzen Untersuchung über den wahr- scheinlichen Ort der Entstehung der Flora und Fauna der Erde und die natürliche Richtung der von demselben ausgehenden Wanderungen« teilt uns schon die Außenseite des Einbandes mit, auf welcher in Golddruck ein artiges Kärtchen der den Nordpol umgebenden Länder und Meere zu sehen ist. Wir können der kleinen Schrift die Anerkennung nicht versagen, daß sie sehr geschickt und in angenehmer beredter Form aus- einandersetzt, wie die Erde, sofern sie durch allmähliche Abkühlung aus dem feuerflüssigen Zustande hervorging, an den Polen zuerst eine hin- länglich erniedrigte Temperatur erreicht haben muß, um pflanzliches und tierisches Leben auftreten lassen zu können, wie sodann nacheinander immer niederere Breiten ähnliche Bedingungen darboten, je weiter die Abkühlung fortschritt, wie auch heute noch die verschiedenen Zonen gleichsam die Phylogenie, die einzelnen Stadien der Vorgeschichte des am frühesten zu selbständiger Entwickelung gelangten Teiles, eben der Polarländer, repräsentieren und das jetzige Klima der letzteren seiner- seits wieder nur ein Vorbild des Zustandes ist, der zunächst die ge- . Litteratur und Kritik. 231 mäßigten und zuletzt auch die warmen Zonen ergreifen wird; wie also mit diesem successiven Vorrücken klimatischer Gürtel von den Polen nach dem Äquator hin auch die jedem einzelnen entsprechenden Floren und Faunen in gleicher Richtung gewandert sind und somit die Polar- gebiete nicht bloß der Ort des ersten Entstehens lebender Wesen über- haupt, sondern im wesentlichen auch die Stätte der Differenzierung der immer weiter sich vervollkommnenden späteren Pflanzen- und Tier- geschlechter bis gegen Ende der Tertiärzeit gewesen sein müssen. So unzweifelhaft richtig nun diese Idee gewiß in der Hauptsache ist, so können wir doch nur bedauern, daß dem Verf., der, wie er selbst sagt, dem wissenschaftlichen Leben ziemlich fern steht, seine Vorgänger auf diesem Gebiete ganz fremd geblieben sind. Daß er solcher nicht wenige hat, mögen unsere Leser dem S. 129 des V. Bandes dieser Zeit- schrift mitgeteilten Bericht über einen Vortrag von Sir J. HooKER ent- nehmen, in welchem außer dem Urheber der Idee vom polaren Ursprung des Lebens, Burron, namentlich noch Graf SarortA, Asa Gray, LE CoNtE und Tuısevnron Dyer in gleichem Zusammenhang genannt wurden. Die Kenntnis dieser Vorarbeiten dürfte den Verf. veranlaßt haben, mehr auf die mancherlei Schwierigkeiten und Einzelfragen einzugehen, welche sich bei näherer Betrachtung erheben. Wenn so manches für eine arktische Herkunft unserer Lebewelt spricht, wie steht es dann mit den Spröß- lingen der Antarktis, wo ja doch unter ähnlichen Bedingungen auch ähnliche Resultate zum Vorschein gekommen sein müssen? Wie kommt es, daß geologisch gleichaltrige Formationen in den Tropen wie in höheren Breiten durchschnittlich übereinstimmende Fossilien enthalten? Oder liegt hier ein Circulus vitiosus vor, indem man erst aus der Übereinstimmung der Fossilien auf Gleichaltrigkeit schloß? Diese und viele andere Fragen wären zu erledigen, bevor man den zu gunsten der Hypothese zeugenden Thatsachen den Wert von wirklichen Beweisen beimessen darf. V. O. Heer: Über dienivale Flora der Schweiz. (Denkschr. d. schw. Gesellsch. f. d. ges. Naturw. Juni 1884.) In dieser letzten Arbeit des großen Forschers, welche von ihm leider nicht ganz vollendet werden konnte, ist eine Zusammenstellung aller Pflanzen, welche bisher über 8000 Fuß in der Schweiz beobachtet wurden, sowie eine Vergleichung derselben mit der Flora nivalis anderer Länder geboten. So interessant auch jede Seite des Werkes ist, so be- schränken wir uns hier nur auf auszugsweise Wiedergabe dessen, was dem Zweck dieser Zeitschrift entspricht. Die Gesamtzahl der Arten, welche die nivale Region der Schweiz mit der arktischen Zone im allgemeinen gemeinsam hat, beträgt 150, von denen 70 auf Island, 84 auf Grönland, 29 auf Grinnelland, 29 auf Spitzbergen, 134 auf Skandinavien, 91 auf das arktische Sibirien, 75 auf das arktische Amerika kommen. Unter ihnen sind 28 Ebenenpflanzen, so daß 122 als arktisch-alpine bezeichnet werden können. Das arktische 232 Litteratur und Kritik. Skandinavien hat auch nach Abzug der Ebenenpflanzen die meisten Arten mit der nivalen Zone der Schweiz gemeinsam, nämlich 59 Arten mehr als mit dem arktischen Amerika und 43 mehr als mit dem arktischen Asien. Die beträchtliche Zahl von mit dem arktischen Europa, Asien und Amerika gemeinsamen Arten, wird durch die große Gleichförmigkeit der arktischen Flora bedingt. Es lag daher die Vermutung nahe, daß zur Gletscherzeit die arktische Flora nach Süden vorgeschoben worden und so in die Alpen gekommen sei, wo sie, als das Klima wieder milder geworden, in denselben eine für sie passende Wohnstätte gefunden habe; denn hätte — bei Voraussetzung des Ausgangs jeder Pflanzenart von Einem Bildungsherd — die Wanderung von S. nach N. stattgefunden, so mübten in der arktischen Zone die verschiedenartigsten Pflanzentypen zusammengetroffen sein und die Flora der drei Erdteile in derselben sehr verschieden sich gestaltet haben, während doch das gerade Gegenteil der Fall ist, wozu noch kommt, daß die europäischen Alpen eine ganze Zahl von Pflanzenarten mit den Alpen Asiens und Amerikas gemeinsam haben, die sämtlich auch in der arktischen Zone daheim sind. Für die arktisch- nivalen Arten der Schweiz wird Skandinavien als Ausgangspunkt zu nehmen sein, da es am nächsten liest und die meisten Arten mit der nivalen Region der Schweiz — darunter mehrere Arten ausschließlich — gemeinsam hat. Das großenteils mit Gletschern bedeckte Festland hatte immerhin, wie die massenhafteh erratischen Blöcke in Deutschland und Finnland beweisen, zahlreiche eisfreie Gebirgsgipfel, denen, da in der Schneeregion der Schweizer Alpen 357 PBlütenpflanzenarten von HEER nachgewiesen werden konnten, wohl auch der Blütenschmuck keineswegs gefehlt haben wird. Mit den ungeheuren Felsmassen mögen die sie bewohnenden Pflanzen nach Süden transportiert worden sein, was die im südlichen Schweden, in Dänemark und Norddeutschland in Gletscherablagerungen gefundenen Blätter von Pflanzen beweisen, die gegenwärtig nur im Norden Skandinaviens sich finden. Gletscherbäche, Wind und Tiere mögen wohl zur weiteren Verbreitung das Ihrige beigetragen haben; doch wird Keimung und Entwickelung nur da möglich gewesen sein, wo sie ein für ihr Leben passendes Klima vorfanden, was in einem großen Teile von Europa zur Gletscherzeit der Fall gewesen sein mag. Im Tieflande verschwanden sie, als sich das Klima änderte; doch blieben manche auf den dazwischen liegenden Gebirgen, z. B. auf dem Harz, den Sudeten und Karpathen. Eine ganz andere Frage ist, ob Skandinavien der Bildungsherd der arktischen Flora gewesen sei. Auf diesem dunklen Gebiete können nur Vermutungen ausgesprochen werden. Dr. Christ spricht Skandi- navien wie der ganzen arktischen Zone die Fähigkeit, neue Pflanzenarten hervorzubringen, ab; ihm ist der Herd der nordisch-alpinen Pflanzen die temperierte Zone Nordasiens (besonders Altai!) und in viel kleinerem Umfange die Nordamerikas. Herr dagegen betont, daß neue Arten sich nur da gebildet haben können, wo sie die zu ihrer Entwickelung not- wendigen Lebensbedingungen vorfanden, also die arktischen nicht in einem heißen oder temperierten, sondern nur in einem kalten. Ein solches wird nun allerdings auf den Gebirgen Asiens gefunden. Doch wäre von Litteratur und Kritik. 233 hier aus die Verbreitung gegangen, so müßten die arktisch-alpinen Pflanzen auch auf den dazwischen liegenden Gebirgen, z. B. Ural und Kaukasus, sich finden, was aber nur teilweise der Fall ist. Dazu kommt, daß wir die 41 arktisch-alpinen Arten der amerikanischen Alpen, welche mit der europäischen Nival-Flora übereinstimmen, nur durch Annahme ihres ark- tischen Ursprungs erklären können und da in der Schneeregion die Alpen- flora am meisten ausgesprochen ist, so ist dieses starke Verhältnis der arktischen Arten von großer Bedeutung und führt zur Überzeugung, daß innerhalb des arktischen Kreises die Urheimat dieser Pflanzen zu suchen sei. Dieses. große Gebiet besaß vom Ende der Devonzeit an Festland und gab so den Boden zur Entwickelung der Pflanzenwelt durch alle Zeiten ab. Zur Miocänzeit, in welcher wahrscheinlich viel mehr Fest- land vorhanden war als jetzt und Spitzbergen, Grönland und Grinnell- land mit einander in Verbindung standen, lebte auf den Ebenen dieses Gebietes eine reiche Flora in weiter Verbreitung, welche im großen und ganzen denselben Charakter wie die der jetzigen gemäßigten Zone hatte. Die Bergföhre und die Rottanne fehlen dem tertiären Europa und treten erst zur quartären Zeit auf, sind daher offenbar aus dem hohen Norden gekommen. Auf den Gebirgen der arktischen Zone mag aber eine der jetzigen alpinen ähnliche Flora gelebt haben, welche die Mutterflora der jetzigen arktischen Flora sein dürfte und bei der Umänderung in den klimatischen Verhältnissen zur Pliocänzeit in das Tiefland hinabstieg, wofür aus Spitzbergen einige Kunde aus Schichten erhalten ist, deren Bildung unmittelbar der großen Gletscherverbreitung vorausging. Nicht alle arktisch-alpinen Arten sind in derselben Gegend entstanden, sie ver- breiteten sich aber allmählich in dem großen Gebiete, da in ihm- überall sehr ähnliche klimatische Verhältnisse bestanden, und drangen in der quartären Zeit strahlenförmig nach Süden vor, wobei die Arten, welche für diese Wanderungen die besten Eigenschaften besaßen, die größte Ver- breitung fanden. Woher aber stammt die endemische Flora der Nival-Region? Von ihr gehören nur 8 Spezies den Alpen ausschließlich an, die Mehrzahl hat einen weit größeren Verbreitungsbezirk. Ihre Verbreitung mag wohl von den Alpen nach den Pyrenäen und Karpathen zugegangen sein, be- sonders in -der zweiten Eiszeit, in welcher die Gletscher die größte Ver- breitung hatten (?). Das Dunkel aber, welches noch über die Entstehung dieser Alpenflora sich ausbreitet, wird sich aufhellen, wenn es gelingen wird, den Zusammenhang derselben mit der Pflanzenwelt der vorange- gangenen Zeiten nachzuweisen. Die Alpen erhielten erst zu Ende der pliocänen Zeit ihre jetzige Gestalt und Höhe; für den Beginn der quar- tären Periode haben wir dagegen die topographische Grundlage für die Alpenflora bekommen. Damals hat jedenfalls, da in dieser Zeit die Pflanzen- und Tierwelt Europas ihr jetziges Gepräge erhielt, eine Um- wandlung und Anpassung der Alpenpflanzen an die neuen Verhältnisse stattgefunden. Die Mutterpflanzen mögen in einem miocänen Gebirgs- lande gelebt haben, doch fehlen zur Zeit alle Anknüpfungspunkte an die tertiäre Flora, die wir aus dem Tieflande der Schweiz und Oberitaliens kennen. Da die alpinen Pflanzen nicht aus dem Auslande, in welchem 234 Litteratur und Kritik. zur Tertiärzeit nirgends eine hohe Alpenwelt bestand, hergeleitet werden können, so muß wohl angenommen werden, daß sie im Gebirgslande der Schweiz entstanden seien, und darf man wohl die Vermutung aussprechen, daß die Flora, welche in früheren Weltaltern das Gebirgsland der Zentral- schweiz bewohnte, die Grundlage für die jetzige endemische Alpenflora bildete, die zu Anfang der Quartärzeit ihr jetziges Gepräge erhielt. Die in Gletscherablagerungen gefundenen Pflanzenreste beweisen, daß sie während der Gletscherzeit schon vorhanden war, sich also nicht erst später bildete. Dresden. H. ENGELHARDT. Der Weg nach Eden. FEpische Dichtung in fünf Büchern von Karu Kösrıng. Leipzig, Ernst Günther’s Verlag 1884. 350 8. 8°. Obwohl die Besprechung von Dichterwerken sonst nicht in den Rahmen dieser Zeitschrift gehört, glauben wir doch unsern Lesern das oben genannte Epos wenigstens mit einigen kurzen Worten empfehlen zu sollen. Die unaustilgbare Sehnsucht der Menschen nach wahrer Glückseligkeit, das Ringen nach immer höheren Idealen, die unausbleib- lichen Kämpfe und Leiden des Einzelnen wie ganzer Völker beim Über- gang von einer zur andern der Stationen im Entwickelungsprozeß der Menschheit, insbesondere endlich die beiden gegensätzlichen Standpunkte des Optimismus und Pessimismus in der Beurteilung dieses Prozesses — das sind im wesentlichen die Probleme, welche der Verfasser in seiner Dichtung verkörpert. Die ganze Einkleidung zeugt von bedeutender dichterischer Schaffenskraft; tieftragisch ist der Grundton, manch’ düster- grausiges Bild entrollt sich vor unsern Blicken, und dennoch bleibt uns ein erhebender Gesamteindruck, weil nirgends die poetische Gerechtig- keit verletzt ist und das Ideal des wahren Glückes, von sittlich erhobenen, geistig freien Menschen getragen, doch endlich zum Siege sich empor- ringt. Mutet es uns auch etwas fremdartig an, die neueste Zeitgeschichte und Politik so unmittelbar in die Schicksale der Helden des Gedichtes eingreifen und als Weltgericht auch in ethischem Sinne entscheidend dargestellt zu sehen, und vermögen wir auch leider nicht des Dichters freudige Zuversicht in die Beständigkeit des Glückes und Friedens zu teilen, deren Abglanz das versöhnende Schlußbild umgibt, so zollen wir doch der Tendenz des Ganzen und dem frischen Mute, mit dem der Autor hier mitten ins moderne Leben hineingegriffen, ohne dabei seinen höheren Standpunkt je zu vergessen, unsere vollste Anerkennung. Möchte er uns nur auch, nachdem sein Epos vorzugsweise die Befreiung der neuen Welt von der Schmach der Sklaverei geschildert, in dem Dramen- cyklus, welchen das Vorwort in Aussicht stellt, ein dichterisch verklärtes Bild der alten Welt entwerfen können, wie sie aus den Fesseln des Aberglaubens, der pharisäischen Selbstsucht, der geheiligten Lüge, in denen sie heute noch schmachtet, sich emporarbeitet zu wahrer Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenliebe ! M Litteratur und Kritik. 235 Von Dr. Gustav RAppe, dem unermüdlichen Direktor des Kau- kasischen Museums in Tiflis, ist soeben die 1. Lieferung der Ornis caucasica (Kassel, Th. Fischer. 4°) mit 4 chromolith. Taf. erschienen, eines Werkes, das gewiß für systematische und tiergeographische Studien ‘ ungemein wertvoll werden wird. Auf welchen Umfang das Ganze be- rechnet ist, läßt sich nicht ersehen, dagegen zeigt die Tafelerklärung, daß es mit 25 Tafeln und einem Titelbild geschmückt werden wird, welches das Vogelleben im Talyscher Tieflande veranschaulichen soll. Ferner enthält dies Heft außer der »Einleitung« noch den Anfang eines »Verzeichnisses aller bis jetzt in den Kaukasusländern und auf den an- grenzenden Meeren gesammelten und beobachteten Vogelarten, nebst kurzen Bemerkungen über ihre horizontale und vertikale Verbreitung und über die Zeiten des Zuges und Brütens«. Aus der Einleitung heben wir, die anschauliche Entstehungs- geschichte des Werkes übergehend, zunächst nur hervor, dab der Verf. seit 1878 eine Sammlung von ca. 4400 kaukasischen Vogelbälgen zu- sammengebracht hat, die er mit ungefähr 700 Exemplaren aus Europa direkt vergleichen konnte, daß er aber ebenso eifrig die volkstümlichen Namen sowie alle möglichen Beobachtungen über Alters- und Geschlechts- verschiedenheiten, Lebensweise in Freiheit und Gefangenschaft und über Verbreitung sammelte. Ein besonderes Interesse beansprucht der auf Grund so eingehender Studien gewonnene Standpunkt des Verf. der mo- dernen Systematik gegenüber. Er verwirft entschieden die allerdings gerade von den »Koryphäen der Wissenschaft« mit Vorliebe geübte Me- thode, neue Arten zu schaffen, sobald nur »ganz geringfügige Abänder- ungen z. B. an der Spitze des Schnabels oder ein kaum merklich ab- weichendes Kolorit, eine etwas lebhaftere Nüance im Gefieder an irgend einem Körperteile« vorliegen. Werden auch bei wilden Tieren >so stark ausgebildete Variationen in der Umgrenzung von verschieden gefärbten Stellen des Kleides nur höchst selten in dem Umfange beobachtet wie bei Haustieren, so doch um so öfter große Veränderungen und Ab- weichungen in der Farbe des gesamten Kleides;< und namentlich »sind es immer die am weitesten verbreiteten Arten, die so sehr variieren, « so daß man wohl eine teilweise Abhängigkeit dieser Charaktere von den verschiedenartigen Lebensbedingungen, denen sie ausgesetzt sind, an- nehmen darf. Er anerkennt daher durchaus eine gewisse Modifikations- fähigkeit bei Tieren und Pflanzen; was man gegenwärtig zumeist als Arten unterscheidet, findet er in der Regel durch allmähliche Übergänge verbunden; wenn er demnach die Umgrenzung einer Art »durch die beiden extremsten Formen einer Individuenreihe bestimmt sein läßt, deren Mitglieder in Übergängen, sei es der Größe oder Färbung nach, die Extreme verbinden,< so gewinnt er dadurch allein schon einen wertvollen Einblick in die genealogische Zusammengehörigkeit und Umbildungsfähig- keit vieler Formen, der völlig verloren geht, wenn alles artlich gespalten und gleichwertig nebeneinander gestellt wird. Aber auch für die richtige Beurteilung der Tiere in geographischem Sinne ist diese Methode von großer Bedeutung. >»Es ist etwas ganz Anderes, wenn ich mir sage, daß z. B. der gemeine Eichelhäher ein Vogel ist, der über das gesamte 236 Litteratur und Kritik. Europa und Asien mit Ausschluß des hohen Nordens und des tiefen Südens vorkommt und auf diesem großen Gebiete seiner Verbreitung in 6—7 nahestehenden Formen variiert, als wenn ich diese Formen artlich trenne und nun eines schönen Tages neben dem Garrulus melanocephalus Gen& auch den typischen glandarius Europas finde und nur wenig weiter gegen Südosten ein schon dem Garrulus hyrcanus BLANFORD recht nahe- stehendes Individuum abermals mit dieser oder jener der genannten Arten zusammen lebt.«e — Um diese Ansichten zu rechtfertigen, gibt Verf. eine kurze Übersicht der zweifelhaften Formen seines Gebiets und betont endlich noch in Kürze die große Bedeutung, welche der gewaltige Gebirgszug des Kaukasus für das gesamte Pflanzen- und Tierleben hat (eine ausführliche Schilderung der physiko-geographischen Verhältnisse der Kaukasusländer nebst Bemerkungen über den Zug der Vögel soll dem systematischen Abschnitt des Werkes folgen). Nicht nur den Wan- derungen der Pflanzen ist er ein unübersteigliches Hindernis, das nur wenige an seinem Ost- und Westende zu umgehen gewußt haben, auch den flüchtigen Vögeln bleibt auf ihren alljährlichen Wanderzügen zumeist kein anderer Weg übrig; »wenigstens gilt dies zumal für die schlechten Flieger, für die schwächeren kleineren Vögel und für die lange Reihe, welche die Stelzer und die Schwimmvögel bilden.«e Am deutlichsten zeigt dies die Wachtel: riskiert sie es im Herbst, von der Krim über den Pontus nach der anatolischen Küste hinüberzufliegen, so kommt sie in Menge um; daher führt die Mehrzahl in dichten Haufen eine weite, oft 3—4 Wochen in Anspruch nehmende litorale Wanderung längs des schmalen Ostufers durch Abchasien und Mingrelien und dann wieder dem Südufer des Schwarzen Meeres entlang bis in die Gegend von Trapezunt aus, wo das Gebirge niedriger und das Land offener wird und ihr direkt südwärts vorzudringen gestattet. Ebenso ziehen die am Nordabhang des Großen Kaukasus bis 7000° Höhe brütenden Wachteln nie über die Pässe, sondern nachdem sie sich noch im September an der Gerstenernte gemästet, gehen sie nordwärts die Thäler hinab, um- wandern die Vorberge des Dagestan und folgen dann dem West- und Südufer des Kaspischen Meeres. — Wir hoffen seiner Zeit an Hand der versprochenen Einzelschilderung ausführlicher auf diese interessanten bio- logischen Verhältnisse eingehen zu können. V. Notizen. „Kometische Strömungen auf der Erdoberfläche“ betitelt sich ein von L. Graf von Prrin herausgegebenes, bei Hempel in Berlin bereits in 3. Auflage erschienenes Buch, das im Anhang IV einen Aufsatz enthält, welcher unter der Überschrift: „Eine Darwinistische Phantasie. Dichtung und Wahrheit“ gegen den Darwinismus auftreten will. Im folgenden geben wir einige Haupteedanken wieder. Am Anfang behauptet der Verfasser, daß die Entwickelung der Tier- und Pflanzenarten aus einem halben Dutzend von Zellen, vielleicht aus einer Zelle, in langsamer Entwickelung, teils durch den Kampf ums Dasein, teils durch Zuchtwahl mit einer unbefangenen Theorie oder mit der Erfahrung nicht vereinbar sei. Es ist ihm bei weitem wahrscheinlicher, daß zahllose Geschöpfe auf einmal entstanden, weil die Zustände, die das Entstehen gewisser Geschöpfe ermöglichten, gewiß in sehr großer Ausdehnung vorhanden waren und weil die DArwIn’sche Annahme „mit der uns bekannten Thatsache im Widerspruche steht, daß die Besamung, der nie- deren Geschöpfe zumal, eine unermeßlich große ist, "daß sie nach Tausenden und Millionen von Keimen zählt, welche aus einem, bezüglich aus zwei Individuen ent- springen, und wovon doch im Durchschnitt nur zwei zur Reife gelangen.“ (Manche Sätze, wie der, dab aus einem einzigen Wassertropfen sich verschiedene Infusorien entwickeln, E sind völlig unverständlich.) Die Umwandlung der Arten durch den Kampf um das Dasein oder durch Zucht- wahl, also durch langsame Veränderung, bietet nach dem Verfasser „ebenfalls ganz unüberwindliche Schwierigkeiten“. Er will nicht soweit gehen, zu fragen, „wie sich denn ein kaltblütiges Tier in ein warmblütiges verwandeln soll, da es lau- blütige bekanntlich nicht gibt, oder wie in einem Frosch oder Fisch sich die Zitzen des Muttertieres vorbereiten sollen, welche doch nach der Geburt des Jungen auf der Stelle zum Gebrauch fertig sind, “ aber auch in engeren Begrenzungen erscheine der langsame Übergang von einem organischen Geschöpf in ein anderes, wesentlich verschiedenes nicht nur völlig unmotiviert und völlig erfahrungslos, sondern auch vollkommen unmöglich, weil "allen Zwischengliedern die Ernährungsfähigkeit fehlen würde. Ihm ist es wahrscheinlicher, daß z. B. alle Hunde die übrig gebliebenen Stämme weit zahlreicherer untergegangener Hundegeschlechter sind, als daß sich die Familie der Hunde aus einem Urhund entwickelt habe. Die Darwın’sche Lehre „vom Kampf um das Dasein“ ist ihm eine fehler- hafte Auffassung der richtigen Lehre des MAtruus (Principles of Population), nach welcher das ältere , weil schwächere Geschöpf einfach sterbe, das jüngere, weil stärkere sich erhalte. Die zahlreichen und mühsamen Versuche DArwın’s um „die Zuchtwahl“ be- weisen ihm nicht, was sie sollen, weil in der Natur ein auf die Erhaltung der Rasse, nicht auf deren Zerstörung gerichtetes Streben notorisch wirksam sei. Die Umformung müsse in allen Teilen und in beiden Geschlechtern gleichzeitig er- folgen, was nur durch einen unmittelbaren, bewußten Schöpfungsakt möglich sei, weil eine langsame Umänderung dem Geschöpfe die Ernährungs- und Zeugungs- fähigkeit und damit die Lebensfähigkeit raube. Wir glauben, es ist nicht ganz unnütz, von Zeit zu Zeit daran erinnert zu werden, dab es heutzutage noch Bücher gibt, in denen solches zu lesen steht — Bücher, die im Gewande ernster Wissenschaftlichkeit auftreten und, weiß der Him- mel wie, drei Auflagen erleben. Daß der Verfasser die ganze Entwickelungslehre . 238 Notizen.. und alle ihre Folgerungen gründlich mißverstanden, daß er überall, wo er auf den Darwinismus zu sprechen kommt, die größte Ignoranz verrät und deutlich erkennen läßt, wie ihm Darwın’s Gedankengang nur aus den Entstellungen seiner Gegner bekannt geworden ist, hat ihm bei seinem Leserkreis augenscheinlich keinen Ein- trag gethan. Uns ist dieses klägliche Exempel eine eindringliche Aufforderung, unablässig fortzuarbeiten' an der Klärung und Vertiefung des eigenen Wissens wie an der Verbreitung wahrer Naturerkenntnis, die am besten den Geschmack des „gebildeten“ Publikums über das Niveau Preıir’scher Phantasien zu erheben ge- eignet ist. Dresden. H. ENGELHARDT. Der Stammbaum der Insekten. Als Einteilungsprinzip der Insekten gilt gegenwärtig gewöhnlich entweder deren Metamorphose oder der Bau ihrer Freßwerkzeuge. Der bekannte Entomolog Dr. G. ScuocH macht in einem kleinen Artikel in den „Mitteilungen der schweizer- ischen entomologischen Gesellschaft“ mit Recht geltend, daß man „in beiden Fällen auf ein durch Anpassung erworbenes Element zu viel Wert lege und die Gesamt- summe der andern trennenden Merkmale in den Hintergrund stelle“. Die Bildung des Thorax scheint ihm ein natürlicheres, also besseres Einteilungsprinzip zu sein. Die Insekten sind durch die Dreiteilung ihres Körpers in Kopf, Brust und Abdomen charakterisiert. Doch ist diese Teilung nicht überall gleich scharf aus- gebildet. ScHoch stellt diejenigen Insekten als die höchstentwickelten hin, „bei denen jene Dreiteilung den höchsten Grad der Ausprägung erlangte, indem die 3 Thorakalringe, die Träger des lokomotorischen Apparates, durch möglichst voll- kommene Verschmelzung den größten Gegensatz zu den Abdominalsegmenten bilden, während die Ordnungen mit gesonderten Thorakalsegmenten offenbar als eine nie- dere Stufe der Entwickelung des im Insektenbau repräsentierten Prinzips zu be- trachten wären“. So teilt er die Klasse ein in Schizothoraca mit den Ordnungen Aptera, Örthoptera, Dietyoptera, Neuroptera, Coleoptera, Rhynchota und in Zygo- thoraca mit den Ordnungen Hymenoptera, Diptera und Lepidoptera. Ihre gegen- seitigen Verwandtschaftsbeziehungen sucht er durch folgenden Stammbaum zu ver- anschaulichen: Lepidoptera. Hymenoptera. | Diptera. Sr Neuroptera. Coleoptera. Rhymchota. N Orthoptera. N. Dietyoptera. Aptera.- —— Archiptera? | | Orustacea. 10.18, Notizen. 239 Oenothera speciosa, Schmetterlinge fangend. (Mit ı Holzschnitt.) In den „Mitteilungen der schweiz. entomolog. Gesellschaft“ findet sich folgen- des Referat eines Herrn WOLFENSBERGER (Zürich): Re Im vergangenen Jahre (1882) teilte mir Herr FröBeL, Kunst- und Handelsgärtner in Riesbach bei Zürich, mit, daß er in seinem Garten eine Pflanze habe, in _ deren Blüten Schmetterlinge gefangen würden. Ich säumte nicht, sogleich an Ort und Stelle zu gehen, um die mir an und für sich interessante Thatsache- zu sehen und dann vielleicht die Ursache der Erscheinung zu finden. Zu meinem nicht geringen Erstaunen traf ich in der großen weißen Blume von Oenothera speciosa einen Sphinx elpenor gefangen. Ich wiederholte nun einige Tage meinen Besuch und fand wieder Deilephila elpenor und procellus, Maer oylossa stellatarum und eine (ucullia. Im Juni dieses Jahres suchte ich die Pflanze wieder auf und die Zahl der gefangen getroffenen Spezies von Schmetterlingen mehrte sich, indem sehr oft Plusia g gamma "und vereinzelt Pl. moneta sich in der Blume fanden. Der 1. Kelehröhre mit 4 Gefäßbündeln (a). — 2. Pistill mit 4 Gefäßbündeln (die Zacken sind die Haare). — 3. Rüssel von Plusia gamma. Schmetterling hatte den Rüssel in den Schlund der Blume hineingedrängt und hing an demselben wie an einem Faden. Die Tiere waren beim Fang lebendig, und wenn man sie durch Zerreißen der Blume befreite, flogen sie lustig umher. Es wäre also unrichtig, anzunehmen, daß die Pflanze ein Gift enthalte, das die Schmetter- linge schnell töte. Daß ein Harz in der Blüte sei, das einen S. elpenor festzu- halten im stande wäre, läßt sich wieder nicht denken. Wie verhält es sich dann mit dieser Sache? Ich untersuchte das Innere der Kelchröhre mit der Lupe und wurde nicht klüger. Mikroskopische Schnitte durch Kelchröhre und Pistill gaben erst Aufschluß. Der untere Teil der Innenwand der Röhre sowie die äußere Seite des Pistills sind mit 1000 und 1000 feinen, abwärtsstehenden Härchen bekleidet. Stößt ein Schmetterling seinen Rüssel beim Suchen nach dem Nektar der Blume zwischen Kelchröhre und Pistill hinab, so werden die Haare seitwärts gedrückt und noch mehr nach unten gerichtet und der Rüssel ist völlig eingeklemmt. Be- 240 Notizen. kanntermaßen besteht der Rollrüssel aus einer sehr großen Zahl von Ringen, die nach außen vorspringen. Will das Tier denselben zurückziehen, so stemmen sich die Haare gegen die Ringe und lassen ihn nicht wieder los. Wie aus beigegebener Zeichnung des Querschnittes von Kelchröhre und Pistill ersichtlich, macht die Innen- wand der Röhre 4 stärkere Ausbiegungen, so daß dann zwischen ihr und dem Pistill 4 weitere Öffnungen entstehen, und nur durch diese kann der Rüssel hinab- gestoßen werden, an den andern Stellen ist durchaus kein Platz. Dadurch wird der Rüssel nicht nur auf 2 Seiten, sondern ringsum von den Haaren eingeklemmt und das Tier um so sicherer gefangen. Noch bemerke ich, daß wegen bedeutender Länge der Kelchröhre nur lang- rüsselige Insekten gefangen werden. Ich beobachtete Bienen auf den genannten Blumen; die schienen halb rasend zu werden, daß es ihnen nicht gelang, mit ihrem wenn auch gar nicht kleinen, doch hier zu kurzen Leckrüssel zum Honigseim zu gelangen. Und fragen wir nun schließlich nach dem Zweck der beschriebenen Ein- richtung der Blume, so ist, wie schon im Anfang bemerkt worden, ziemlich klar, daß es kein Ernährungszweck sein kann, vollends wenn man noch in Betracht ziehen will, welche „Brocken“ gefangen werden. Zum Zweck der Befruchtung durch Kreuzung kann die Einrichtung wieder nicht passen und zur Selbstbefruch- tung ist die Oenothera sehr gut eingerichtet. So kann ich auf das „Warum diese Einrichtung?“ nur antworten: „Ich weiß es nicht!“ Wir glauben die Aufmerksamkeit weiterer Kreise auf diese eigentümliche Erscheinung lenken zu sollen und bitten diejenigen unserer geehrten Leser, welche diese Beobachtung zu kontrollieren in der Lage sind, uns ihre Ergebnisse gefälligst mitzuteilen. Ausgegeben den 15. September 1884. Zum Problem des Schönen. Von B. Carneri. Das Problem des Schönen ist wie kaum ein zweites geeignet, den Widerstreit zwischen Idealismus und Materialismus in seiner Richtigkeit und seinem Irrtum klarzulegen. Wir haben schon wieder- holt Anlaß genommen — und je höher die Wogen des modernen Spiri- tualismus gehen, desto ernster drängt es uns, jede Gelegenheit zu er- greifen — darzuthun, wie nahe wir dem Materialismus stehen. Die Reaktion, die immer mehr um sich greift und am liebsten jeden Fort- schritt erdrücken möchte, fängt bereits an, auch in der Wissenschaft fühlbar zu werden. Da erweisen sich als besonders wertvoll alle An- knüpfungspunkte, die nur der Klärung bedürfen, auf daß Männer, welche sich für Gegner halten, Schulter an Schulter dem gemeinsamen Feind entgegentreten. Der Monismus, zu dem wir uns bekennen, legt allen Erscheinungen Stofflichkeit zum Grunde und unterscheidet sich dadurch ebenso wesentlich vom Dualismus, der neben dem Stoff einen eigent- lichen Geist annimmt, als vom spiritualistischen Monismus, für den in letzter Analyse Alles Geist ist. Zwischen diesen drei Auffassungen der Erscheinungswelt ist eine Vereinbarkeit undenkbar, während zwischen dem Materialismus und unserem Realidealismus der Unterschied nur in einem korrekteren Verständnis der Erscheinungswelt besteht. Wie der sogenannte erkenntnistheoretische Monismus von dem unserigen sich unterscheidet, ist schwerer zu sagen, als er selbst meint. Allerdings scheint auf den ersten Blick die Lösung eine sehr einfache zu sein. Er muß zum Solipsismus sich bekennen — denkt man — und da kann er seinem Ich nur entweder einen Stoff oder einen Geist zum Grunde legen; denn sonst fällt er dem Nihilismus anheim und bringt es einfach zu nichts, was er doch gewiß nicht beabsichtigen kann. Allein mit derselben Entschiedenheit, mit welcher er auch unter anderen Bedingungen gegen die Annahme eines Stoffes oder Geistes protestiert, lehnt er den Solipsismus ab und erklärt sich als Monismus schlechtweg. Nur wenn man durchaus darauf besteht, daß er zur Unterscheidung von den andern Sorten Monismus eine nähere Bezeich- nung wähle, nennt er sich den erkenntnistheoretischen Monismus; Kosmos 1884, II. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XV), 16 242 B. Carneri, Zum Problem des Schönen. er selbst fühlt nicht das geringste Bedürfnis nach irgend einer, Präzi- sierung. Entgeht er aber damit dem Vorwurf des Nihilismus? Ist eine Frage damit, daß sie ignoriert wird, auch ernsthaft beantwortet? Wir geben zu, dab Einer singen könne: Ich hab’ mein Sach’ auf nichts ge- stellt — ohne darum ein Nihilist sein zu müssen. Allein wenn die Sache, von der die Rede ist, die Welt bedeutet, kann er sie als ernster Mann auf nichts stellen?” Gewiß nicht — lautet die Antwort — sie wird auf eine Theorie gestellt, und zu mehr hat’s noch keiner gebracht. Wir scherzen nicht, und sind vielmehr der Ansicht, mit diesen wenigen Worten zu zeigen, dab wir für diesen Monismus einiges Ver- ständnis haben. A. von LECLAIR, einer seiner entschiedensten Vertreter, läßt uns in seiner Abhandlung: Das kategoriale Gepräge des Denkens (R. AvenArıus’ Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, VI. Jahrgang, 3. Heft, S. 258 ff.) so tief in diese seltsame Anschauung blicken, wie es bislang uns noch nie gelungen war. Leider sind wir nicht so glücklich gewesen, im Labyrinth seiner mathematischen Symbole uns ganz zurecht zu finden; allein diese Art Labyrinthe hat das Gute, dab man, um herauszukommen, nur bis zu Ende zu lesen braucht. Die Hauptsache ist es uns, daß wir glauben annehmen zu dürfen, ihn ver- standen zu haben; und nun wollen wir versuchen, den Kern seiner Aus- einandersetzungen in unserer Weise bloßzulegen, wodurch wir auf den Punkt gelangen, von dem wir hier auszugehen haben. Zwei Wege gibt es, die uns zu einem Begriff der Welt und unseres Verhältnisses zu ihr führen. Wir können, gestützt auf die letzten Re- sultate der verschiedenen Wissenschaften, von der Betrachtung und Be- urteilung der uns umgebenden Dinge ausgehen und auf Grund der Entwickelungslehre, uns selbst in den Kreis unserer Beobachtung ein- beziehend, zu einer Erklärung selbst unseres Bewußtseins und Denkens gelangen. Wir sehen nämlich im Anbeginn einer derartigen Untersuch- ung ganz ab von unserer Person und finden uns schließlich als Gleiche unter Gleichen. Gehen wir dabei kritisch zu Werke, so überzeugen wir uns, dab die sogenannten Dinge, uns mit inbegriffen, nur Erscheinungen sind, aber auch nicht bloßer Schein sein können, weil nicht bloß etwas dagewesen sein muß, damit wir von etwas ausgehen, sondern, auf daß dies möglich sei, wir selbst etwas sein müssen. Mit dem kritischen Denken ist die Einsicht gegeben, daß wir keine Kenntnis haben können von der Natur dessen, was den Dingen zum Grunde liegt, obwohl es uns möglich ist, immer tiefer in die Natur der Dinge einzudringen; allein mit eben dieser Möglichkeit des Eindringens ist zugleich die Einsicht gegeben in die Notwendigkeit, ein solches den Dingen zu Grunde liegendes Etwas vorauszusetzen, und zwar nicht als etwas Transcendentes, sondern als den Dingen immanent. Die Dinge lösen sich uns in Empfindungs- komplexe auf, aber die Empfindung selbst, auf der mit unserer Sinnes- thätigkeit unser gesamtes Denken beruht, führt auf eine Grundlage zu- rück, die man wie immer denken und nennen mag, jedoch bei dieser Art der Untersuchung nicht wegleugnen kann. Geht man, anstatt von der Betrachtung der Dinge, von einer Selbstbetrachtung aus und beginnt man beim Bewußtsein, so steht B. Carneri, Zum Problem des Schönen. 243 man gleich vor einem unlösbaren Rätsel. In seiner Vollendung erscheint das Bewußtsein als etwas wenn auch nicht Transcendentes — das es für den kritischen Verstand nicht gibt — so doch als etwas Allererstes, hinter das zurück man nicht kann oder hinter das man überhaupt nicht kommt, was soviel bedeutet, daß man es nicht zu erklären vermag, weil es als etwas absolut Einfaches sich darstellt, das auf etwas Einfacheres nicht sich zurückführen läßt. Von diesem Standpunkt aus gewinnt die Welt ein anderes Aussehen. Allerdings erkennt auch hier der Kritizis- mus die Dinge als bloße Erscheinungen; allein die Vorstellungen, als welche schließlich alle bewußten Empfindungen sich erweisen, sind hier Vorstellungen eines absolut Einfachen, das mit dem, was wir im stofi- lichen Sinn Realität nennen, nichts gemein haben kann, und in das sie folglich einfach aufgehen müssen. Ist man mit dieser Auflösung in — wir haben nur das Wort Nichts dafür, zufrieden; drängts Einen nicht, die Dinge auch von ihrer Seite aus zu betrachten; fühlt man kein Be- dürfnis, den genetischen Weg einzuschlagen, auf welchem uns das Be- wußtsein erklärlich und zu etwas wird, das, selbst aus der Realität her- vorgegangen, seine Vorstellungen und Empfindungen als reell aufzufassen vermag: so setzt man sich der Gefahr aus und erliegt man nur zu leicht der Verführung, in eine Einseitigkeit zu verfallen, welcher notwendiger- weise alles, was sie in ihrer Einseitigkeit nicht zu umfassen vermag, als barer Unsinn erscheinen mub. An sich also läßt sich, insofern die Untersuchung da oder dort anheben muß, ja vielleicht das Bewußtsein den wissenschaftlicheren Aus- gangspunkt bildet, gegen den erkenntnistheoretischen Monismus gar nichts einwenden. Mit vollem Recht kann er, gestützt auf die Un- faßbarkeit des Ansichseins der Dinge, jede nähere Bezeichnung seines Wesens oder seiner Richtung ablehnen. Nur praktisch darf er nicht werden wollen; denn sowie er das Feld der reinen Theorie verläßt und sich selbst beim Wort nimmt, stellt er sich als ein auf die Spitze ge- triebener Kritizismus heraus, der nicht bloß eine übersinnliche, sondern auch diese sinnliche Welt zum Hirngespinst herabsetzt. Davon kann nicht die Rede sein, daß er auf Einer Stufe sich erhalte mit der rein formalen Logik oder gar mit der Mathematik und Geometrie: die prak- tische Anwendung, welche auch diesen den Stempel der vollen Genauig- keit abstreift, liegt in der Natur des Erkenntnisstrebens; und indem er als Monismus sich bezeichnet, kennzeichnet er ja selbst die Richtung dieses seines Strebens.. Wir erkennen ihn gerne an als eine blendende Leistung des menschlichen Geistes, an der wir uns aber nicht erwärmen können, weil er nur der Abglanz ist der Sonne, welche in Königsberg aufgegangen ist. Er ist das andere Extrem des Materialismus, welchem wir aber näher stehen, weil wir dessen Händedruck fühlen, wenn er uns die Hand reicht, während wir, nach jener theoretischen Hand greifend, nichts zu ergreifen vermögen. Die Hand des Materialismus hat andere Schattenseiten: sie erdrückt das ideale Moment, das über die naive Naturauffassung allein uns zu erheben vermag; und damit befinden wir uns dort, wo wir sein wollten. Die Naturwissenschaft führt notwendiger Weise zum Mate- 244 B. Carneri, Zum Problem des Schönen. rialismus. Ist auch der einzelne Forscher kritisch geschult, was ihm nur vom größten Nutzen sein kann: bei seinen Arbeiten verfällt er un- vermeidlich in einen gewissen naiven Realismus, der sozusagen zum Fach gehört, weil es das Erste ist, daß er sich diesem ganz hingebe. Gelten ihm dabei die Elemente und Atome auch an und für sich als das, wofür er sie nimmt, so ist dies weniger vom Übel, als wenn er auf Abstraktionen sich einläßt, welche seine Methode um ihre Klarheit bringen. Nicht daß keine Ideen ihn leiten dürften; auch sein Ziel ist ein Ideal: er darf nur nicht einer Weltbetrachtung sich überlassen, welche ihn von der Realität ablenken und in ein Reich des Geistes oder des bloßen Scheines geleiten könnte. Seine Sinne, seine Instrumente, seine Prozesse sind für ihn die einzigen Mittel der Forschung. Von Thatsachen geht er aus und nur auf Thatsachen stützt er sich, wenn er anders Verständnis hat für seinen Beruf. Die Stofflichkeit der gesamten Erscheinungswelt darf er nicht einmal theoretisch anzweifeln, sonst ist die Lebensfrische der Arbeit dahin und mit ihr deren Fruchtbarkeit. Um, was wir da nur andeuten können, auszudenken, braucht man nur die Leistungen der Forschung, welche ihre Lorbeeren aus nebelhaften Glaubensregionen holte, mit den Leist- ungen der Forschung zu vergleichen, die im Vollgefühl, festen Boden unter den Füßen zu haben, auf jede Entdeckung verzichtet, die nicht der helle Tag des Wissens ihr entgegenbringt. Aber keine Wissenschaft kann als Ganzes sich zusammenfassen und begründen, ohne bei der Er- kenntnislehre anzufragen; und da erweist sich ihr der idealistische Rea- lismus als der alleinige Weg, auf welchem die Gesamtheit der Wissen- schaften als ein widerspruchsloses Ganzes sich ergibt. Zwischen dem echten Kritizismus und der echten Naturforschung besteht daher kein Widerspruch; was so aussieht, ist nur die Verschiedenheit der Seiten, von welchen aus sie denselben Gegenstand bearbeiten: bei jenem handelt sich's um die innere, bei dieser um die äußere Seite der Erkenntnis. Allein die riesigen Fortschritte der positiven Wissenschaften mußten zu einer Art Überhebung führen, bei welcher sich der Mensch, weil er eben kein Gott ist, von Zeit zu Zeit immer wieder ertappen lassen wird und deren Folgen nie ausbleiben. Einerseits meinte plötzlich die posi- tive Wissenschaft bis zum Ansichsein der Dinge oder, wie man dies gerne nennt, bis zum Urgrund der Dinge vordringen zu können. Nach dieser Richtung aber verwandelte sich ihre ganze Macht in Ohnmacht; denn ist es auch ganz unberechenbar, wie tief der Mensch noch eindringen wird in die Natur der Dinge oder in das sogenannte Wesen der Natur: das Ansich der Dinge und ihr Urgrund entziehen sich vollständig dem Wissenskreise des Menschen. Anderseits versuchte man die Methoden der Naturforschung auf Gebiete zu übertragen, deren Erscheinungen zwar auf biologischen und physiologischen Prozessen beruhen, aber nicht diese Prozesse selbst sind, bei welchen man daher mit dem bloßen Zersetzen, Wägen, Messen und Berechnen nicht auslangt. Mit der Evolution kann man über gewisse Grenzen der Anwendung auch nicht hinaus. Die Moral ausschließlich mit den Gesetzen des »Kampfes ums Dasein« begründen zu wollen, ist dasselbe, als wenn man die Ästhetik auf bestimmte Formen und Verhältnisse zurückführen wollte, die schließlich B. Carneri, Zum Problem des Schönen. 245 in Zahlen ihren vollen Ausdruck finden müßten. Die Psychologie gelangt an der Hand der Physiologie zu den frappantesten Erklärungen; aber je näher man auf diesem Wege der Frage des Bewußtseins kommt, desto ferner zeigt sich ihre Beantwortung. Es gab eine Zeit, in welcher man die Lösung des sogenannten Welträtsels von Tag zu Tag erwartete. Als an ihrer Statt der Tag der Enttäuschung kam, gab es großen Jubel im bunten Lager der Wissenschaftsgegner und der Kritizismus ermangelte nicht, in Hyperkritizismus überzuschäumen und unter anderem mit dem wohlfeilen Nachweis, daß die Kausalität als solche unfaßbar sei, an der Verläßlichkeit alles Wissens zu rütteln. Im Charakter der Skepsis liest etwas Vornehmes, das nur zu leicht sie verleitet, die Grenzen ihrer Be- rechtigung zu überschreiten; und der Menge imponiert das Vornehme immer, selbst in seinen Überschreitungen, wenngleich nicht immer auf lange Zeit. Den Schlüssel zu diesen Schwankungen der Wissenschaft, die nur in der Form wechseln, im Grunde jedoch immer auf Eines hinauslaufen, liefert uns die dem Menschen innewohnende Sehnsucht nach etwas Ab- solutem. Es liegt Logik darin, daß der Menschengeist im Erfassen der irdischen Vergänglichkeit als dauernd sich betrachtet und damit als Einen, der das Unvergängliche wenigstens zu finden berufen sei. »Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, das heißt vermutlich, der Mensch schuf Gott nach dem seinigen,«e — sagt der geistvolle LicHTENBERG (Werke, Wien 1817, Band I, S. 111) und kennzeichnet damit die ganze Art. Der Mensch in seiner bestimmten Zeit und Umgebung ist jedesmal der Maßstab der Weltbetrachtung. Wäre die Genesis auf Java ge- dichtet worden, auf diesem nie ruhenden Herde der furchtbarsten vulka- nischen Erschütterungen, die göttliche Schöpfungsgeschichte würde nicht so mild uns anlächeln. Der Mensch hat immer gethan, was er konnte, und oft haben die herrlichsten Triumphe weniger Opfer ihn gekostet als die schmählichsten Verirrungen. Kein Wunder, daß von Zeit zu Zeit die Intelligenz unterliegen mußte. Aber immer hat sie wieder sich empor- gerungen, und wie verderblich auch die Stürme waren, welche die Mensch- heit zu bestehen hatte, drei Ideen sind es, die sie immer sich zu retten und fort und fort zu läutern gewußt hat, die des Wahren, des Guten und des Schönen. Wie diese Ideen entstanden sind? Wie eben der Mensch fühlend denkt, zu Begriffen gelangt und von diesen die Ideen unterscheidet. Diese drei aber haben die Eigentümlichkeit mit einander gemein, dab der Mensch sie mit dem Begriff des Absoluten und Ewigen in Verbind- ung bringt, nach welchem er strebt als nach einem Halt, ohne den seinem selbstbewußten Wesen das irdische Dasein unerträglich werden müßte. Die Vorstellung einer Gottheit war nur das Korrelat des Strebens nach einem Absoluten, und es wurden das Schöne, das Gute und das Wahre, das Schöne als Bild der Gottheit, das Gute als höch- stes Gut, das Wahre als absolute Idee zu Gegenständen anbetender Verehrung erhoben. Religion und Philosophie, von ihren rohesten bis zu ihren verfeinertsten Formen, sehen wir da, ununterbrochen sich unter- stützend, befehdend und ablösend, das menschliche Denken und Fühlen 246 B. Carneri, Zum Problem des Schönen. beherrschen. Wir sehen ganz ab von bestimmten philosophischen Sy- stemen und Religionen und halten uns nur an die landläufigen Bezeich- nungen der Banner, unter welchen Glaube und Aberglaube, Wissen und was für Wissen sich hielt, auf Leben und Tod sich bekämpften. Daß es, indem dabei fast immer das Fühlen überwog, vorherrschend ein Natur- kampf war, beweist der Erfolg. Wie bei aller Naturentwickelung ward daraus nicht, was dieser oder jener beabsichtigt haben mochte, sondern es ergab sich eine Klärung, zu welcher es schließlich allein kommen konnte. Die Altäre, welche Griechenland dem Göttlichschönen er- richtet hatte, sind gestürzt, vom höchsten Gut ist nur der Wille des Guten uns zurückgeblieben, und das absolut Wahre der Metaphysik hat nur mehr den negativen Wert des Kritizismus. Die drei Ideen sind uns geblieben, aber als rein menschliche Ideen. Es ist nicht gar so lange her, daß ein durch die Großartigkeit seiner Zielesauffassung blendendes philosophisches System, dem auch wir durch Jahre angehangen haben, aus dem dialektischen Verhalten dieser drei Ideen das Absolute erschließen wollte. Zweifelhaft schien es, ob das Gute, als Religion, oder das Schöne, als Ästhetik, den Reigen zu eröffnen habe, während es als unzweifelhaft galt, daß mit dem Wahren abzuschließen sei. Wer lächelt heute nicht über den Ernst, mit welchem damals über derlei gestritten werden konnte? Die absolute Idee ist ein überwundener Standpunkt und wie die Ethik hat auch die Ästhetik auf eigenen Füßen zu stehen: ihre Grundlage haben positive Wahr- heiten zu bilden, die mit einem echt kritischen Denken nicht in Widerspruch geraten. Allerdings geht uns die Ästhetik nur insoweit an, als das Schöne zu unserem Begriff der Sittlichkeit gehört; aber gerade darum sind für uns ihre Grundlagen das Wichtigste. Wie wir bei der Ethik von allem Glauben absehen, so können wir auch keine Ästhetik brauchen, die durch ein wenn auch noch so leises Hinweisen auf ein Jenseits die Erbschaft der Religion antreten möchte. Nach dieser Erbschaft tragen wir gar kein Verlangen. Im Schönen liegt ein ethisches Moment, das wie kein anderes den Menschen über sich selbst erhebt. Worin dieses Erheben besteht, daß es nur ein Er- heben ist über das Gewöhnliche, daß es nur liegt in einer idealen Richtung und daß diese nicht ins Unkritische überschlagen darf, ist der Punkt, den es hier klar zu legen gilt. Mit dem kleinen Satz: »Die Philosophieist die griechische Wissenschaft« — hat A. Rırku in seiner zu Freiburg im Breis- gau gehaltenen akademischen Antrittsrede (Freiburg i. B. und Tübingen 1883, S. 14) der bisherigen Philosophie ein neues Antlitz gegeben. Es ist das Vorrecht des Genies, Wahrheiten auszusprechen, die durch ihre Einfachheit den Eindruck des Selbstverständlichen machen und doch durch Jahrhunderte niemand eingefallen sind. Mit voller Klarheit weist RıenL nach, daß mit der Entwickelung der positiven Wissenschaft das, was man heute gemeinhin Philosophie nennt, seine Berechtigung verloren hat, so daß allein der Erkenntnistheorie der Name wissenschaft- liche Philosophie zukommt und »>das wahre System der Er- kenntnisse die Gesamtheit der Wissenschaften selbstist«. B. Carneri, Zum Problem des Schönen. 247 (A. a. OÖ. S. 7.) Seine ganze Rede leuchtet von neuen Gesichtspunkten, überraschenden Parallelen und treffenden Folgerungen. Die kernige Weise, in der er Du Boıs-Reymoxp’s transcendentes Atom aufgreift, um zu zeigen, dal es auch jenseits der >»Grenzen des Naturerkennens« noch Erkenntnis und Wissenschaft gibt (S. 41), charakterisiert seinen ganzen Standpunkt, welcher der Erkenntnislehre eine zentrale Stellung in der Wissenschaft vindiziert. Fast alles müssen wir ihm zugeben, und vor allem, daß mit dem Ausdruck Weltanschauung viel und großer Unfug getrieben wird, daß gar manches, was mit dieser Bezeichnung in die Öffentlichkeit hinaussteuert, widerrechtlich die Flagge der Wissen- schaftlichkeit aufhißt. Nur wenn er, auf Hrrearr sich berufend, sagt: »Die Weltanschauungen gehören nicht in die Wissenschaft, sondern zum Glauben« — (S. 12), können wir ihm nieht völlig beipflichten. Eine Weltanschauung, welche die Welt, insoweit der Mensch Kenntnis von ihr hat, sowie das Verhältnis des Menschen zur Welt umfaßt, kann von allem Glauben sich fern halten. Sie gehört ohne Zweifel in den Bereich der Ethik, was aber nicht ausschließt, daß der Physiker, der Astronom, der Psychologe, selbst der Logiker, ja sogar der Erkenntnis- theoretiker kaum umhin können wird, sie wenigstens zu streifen, viel- leicht recht einschneidend zu streifen. Dieser letztere Umstand allein beweist die Möglichkeit ihrer wissenschaftlichen Behandlung. Daß sie subjektiv sein müsse, weil sie das Gemüt in sich begreift, werden wir nie zugeben. Sie läuft leicht Gefahr, subjektiv auszufallen, aber sie vermag auch und sie hat ganz objektiv gehalten zu sein. Wäre das nicht, so könnte es keine wissenschaftliche Ethik geben. Diese Ansicht wird zwar und z. B. von H. Sıpawick besonders energisch ver- treten; allein er unterscheidet nicht zwischen Moral und Sittlich- keit. Durch diese Unterscheidung gelangt man in der Ethik zu einer vollen Objektivität. Die Ethik hat nicht ein bestimmtes, sondern das menschliche Gemüt ins Auge zu fassen und von diesem rein wissenschaftlich zu handeln, sowie sie die letzten Resultate der einzelnen Wissenschaften in ihrer objektivsten Reinheit in sich aufzu- nehmen hat. Allerdings kann, wie niemand zum Glauben, auch niemand zu einem sittlichen Fühlen gezwungen werden. Doch kann etwa jeder zum Einsehen alles Wahren gezwungen werden? Da fällt uns wieder ein Satz LICHTENBERG’s ein, der doch ein Mathematiker war und der zu einer Zeit, welche von weniger oder mehr als dreidimensionalen Körpern sich nichts träumen ließ, sagen konnte: »'./elches Argument in der Welt wird den Mann überzeugen können, der einmal Absurditäten glauben kann?« (A. a. 0. S. 119.) Wie wenig Wahres gibt es, das man jedem normalen Kopf aufzwingen kann! Wenngleich nur indirekt, spricht Rırnv’s Rede klar wie nichts für unsere Auffassung des Sittlichkeitsbegriffs. Die eigentliche Moral läßt streng wissenschaftlich nicht sich behandeln; ja dagegen die Sittlichkeit, wenn bei ihrer Entwickelung nur von allgemeingültigen Grundsätzen ausgegangen wird. Da aber die Anlehn- ung an Herparr leicht mißverstanden werden könnte in einer Zeit, welche nur zu sehr nach Weltanschauungslehren zu verlangen scheint, die dem subjektiven Glauben ein wissenschaftliches Gewand umhängen, 248 B. Carneri, Zum Problem des Schönen. so legen wir unserseits dagegen Verwahrung ein, daß nicht von nun ab, was durch Jahrhunderte irrtümlich als wissenschaftliche Philo- sophie sich breit gemacht hat, mit Berechtigung in der Ethik sich ablagern zu dürfen meine. Was wir da von der Ethik sagen, gilt in gleichem Maße von der Ästhetik, die so wenig den Zweck hat, Kunstwerke zu schaffen, als es Sache der Ethik sein kann, einen sittlich erhobenen Charakter oder einen Weisen hervorzubringen. Die Eine zeigt uns das Gute, die andere das Schöne, wie die Erkenntnislehre uns das Wahre zeigt. Wenn wir aber auch das Wahre als das Erste anerkennen, weil auf ihm wie das Gute so auch das Schöne beruht, so ist doch das Wahrste auf Erden nur für den Menschen wahr. Das Schöne ist, wie das Gute, nur eine andere Form des Wahren. “Aber gerade weil das Schöne diejenige Form des Wahren ist, bei welcher der subjektive Ein- druck von besonderer Wichtigkeit ist, hat man ganz besonders davor sich zu hüten, es als etwas Subjektives zu betrachten. Gewiß liegt beim Schönen diese Verführung noch näher als beim Guten; darum ist es eine der wichtigsten Aufgaben der Ästhetik, vom künstlerischen Geschmack den individuellen Geschmack auszuscheiden. Und hier liegt das unüberwindliche Hindernis, das Entscheidende am Schönen bloß psychologisch oder gar bloß physiologisch und mathematisch ab- leiten oder bestimmen zu wollen. Auf diesen Wegen und dabei die historische Entwickelung dieses Begriffs zu Hilfe nehmend, werden wir eine immer klarere Einsicht in seine Natur gewinnen; allein von der Wirkung auf den einzelnen ist die Wirkung auf den Menschen überhaupt, von der psychologischen und pathologischen die ethische Wirkung zu unterscheiden. Fassen wir das Wahre als einen konkreten Begriff auf und ist das Gute eine als Handlung sich verwirklichende Idee — was wir unter Ideen verstehen, haben wir in der kleinen Abhandlung über die Entwickelung der Sittlichkeitsidee klarzulegen versucht — so ist das Schöne eine Idee, die so vollendet in einem Bilde sich darstellt, daß der Schein sich uns erzeugt, die Idee enthalte nichts, das nicht im Bilde zum Ausdruck kommt, und im Bilde sei nichts, das nicht Idee wäre. Wir haben es also beim Schönen mit einem Schein zu thun, aber mit einem inhaltsvollen Schein. Das Ideal des künstleri- schen Geistes tritt leibhaftig uns vor die Seele, und weil die Arten — die Ideen sind Artbegriffe — auf Grund ihrer Entwickelung alle zusam- menhalten, so kommt uns im echten Kunstwerk selbst mittels einer untergeordneteren Idee oder Art aus den Reichen des Lebens die ge- samte Welt zur Erscheinung. Daher rührt das überwältigende Moment des Schönen und seine eminent ethische Bedeutung. Das Indi- viduum vergegenwärtigt uns in seiner Vollendung die gesamte Art, weil in der Idealisierung der Individualismus untergeht: im schönen Menschen haben wir den Menschen vor uns. Während in der Religion der Gläubige den subjektiven Schein zur objektiven Wahrheit umstempelt und vor ihm in die Kniee sinkt, bewahren wir uns der Kunst gegenüber unsere ganze Objektivität: anstatt dem Schein B. Carneri, Zum Problem des Schönen. 249 zu erliegen, sind wir des freien Spiels uns bewußt und erheben uns in ihm über das Alltägliche. Darum bezeichnet Frırp. Tr. Vıscher, dem wir bei der Charakterisierung des Schönen folgen, ganz richtig und zwar im Gegensatz zu HzseEn die Religion als das Subjektive und das Schöne als das Objektive. Der echte Kunstgenuß erheischt eine hohe Bildung und zu dem Schönheitssinn, den er voraussetzt, verhält sich der gleichnamige Trieb des Wilden wie der rohe Glückseligkeitstrieb zum ethisch entwickelten. Die ganze Zivilisation können wir nur fassen als hervorgegangen aus einer Wechselwirkung, in welcher das Wahre, Gute und Schöne ununterbrochen sich klären und veredeln, wobei, wenn das Wahre als das Grundlegende, das Gute als das Vollbrachte sich erweist, das Schöne die krönende Vollendung bildet. Ohne das Schöne wäre der Mensch nie zum Erfassen des Idealen gelangt. Darum reicht, obwohl das Schöne das stofflichste ist von den dreien, zu seiner Erklärung der Materialismus nicht aus und sehen wir hier am klarsten die Notwendigkeit seiner idealistischen Läuterung. Der Versuch, dem Menschen aus der Auffassung der schönen Künste eine Art Surrogat für die Religion zu entwickeln, kann nicht nur Mibß- verständnisse veranlassen, sondern selbst den, der ihn unternimmt, auf einen Abweg führen. Thatsächlich durchgeführt müßte ein solcher Ver- such, weil ausgehend von einer Verkennung des ganzen Problems des Schönen, zu einer Schädigung der Kunst ausschlagen. Die einfachste Beobachtung des Erfolges, wenn Einer bei tiefem Kummer an einem Kunstgenuß sich Trost holen will und in peinlichster Weise sich ab- gestoßen fühlt, genügt, um zu zeigen, dab die Berechnung von einem ganz falschen Ansatz ausgeht. An den Künstler selbst darf man dabei nicht denken. Nicht allein weil wir da wieder eine Religion hätten, die in erster Linie für ihre Priester da wäre, sondern und hauptsächlich weil, was in einem solchen Falle den Künstler rettet, die Arbeit ist, das einzige richtige Mittel gegen Kummer. Die Verkennung des Problems liegt darin, daß die Ideen kein anderes Leben konstituieren, sondern die edelsten Blüten dieses Lebens bilden. Sie müßten diesem Leben uns entreißen können, um den Leiden dieser Welt uns zu entreißen. Über das Gemeine im Leben heben sie uns hinweg, indem sie uns dem Idealen zuwenden. Aber dabei wirkt das Schöne nur allmählich bildend und die ethischen Anschauungen vollendend. Würden die schönen Künste in dem oben angedeuteten Sinn religiös wirken, so gelangten wir dadurch zu einer neuen Art faulenzender Beschaulichkeit, die wir nach unseren Begriffen als eine unsittliche bezeichnen müßten. Was wir Sittlichkeit nennen, ist unzertrennlich von gemeinnütziger Werkthätigkeit, und der Kunstgenuß setzt Geistesfreiheit voraus, während der Zustand, der nach den Tröstungen der Religion verlangt, Sehnsucht nach geistiger Befreiung ist. Wir haben wiederholt gezeigt, wie fern es uns liegt, den Wert des Glaubens an ein Jenseits zu unterschätzen, sobald man von keiner andern Seite als von der des Trostes für den Leidenden ihn betrachtet. Allein überschätzen darf man die Sache nicht, und dies geschieht nur zu leicht, wenn man den Menschen nach vorgefaßten Meinungen beurteilt, anstatt 350 B. Carneri, Zum Problem des Schönen. unter das Volk sich zu mengen und es nach der Natur zu studieren. Man frage den Mann, der fast nur die Beschwerden des Lebens kennt und durch harte Arbeit sich und die Seinen ernährt, wie oft im Jahre der Gedanke an das Jenseits ihn wieder aufrichtet? Die gewöhnliche Antwort lautet: Ja, daran zu denken habe ich wohl selten Zeit; und dann, wenn man nur bestimmt wüßte, daß es »nicht schlechter wird !« — Was ihm das Leben erträglich macht, ist die Arbeitslust, und was ihn aufrichtet, ist der gesunde Schlaf des Fleißigen. Kommt er zum Sterben, so mag ihm sein Glaube einige Beruhigung gewähren, aber vor- nehmlich indem er ihm ein schützendes Mittel bietet gegen das »schlechter werden«. Im Sterben selbst — seltene Ausnahmen abgerechnet — trübt sich das Denken fast gleichzeitig mit dem Erlöschen der Hoffnung; es ist der einzige Fall, in welchem wir von einer gütigen Natur reden könnten. In den untern Schichten des Volkes ist es mit dem Wert jenes Trostes nicht so weit her und in den höhern Schichten steigen, je ge- nußreicher die Existenz ist, desto unbescheidener die Anforderungen an das künftige Leben — was jene, die ein solches mittels einer ethischen und ästhetischen Metaphysik neu in Aussicht stellen wollen, nicht über- sehen sollten. Zudem ist nichts ungegründeter als die Besorgnis, daß die Religion auf dem Punkt stehe, der Welt Adieu zu sagen. Die Kirchen verfügen über riesige Mittel, der Zug der Zeit ist ihnen günstiger als je und für die Staatenlenker bilden sie das allerbeguemste Massengängel- band. Wir haben in der That gar keinen Grund, das Reich des Schönen uns verderben zu lassen durch Bestrebungen, die vortrefflich gemeint sein mögen, aber nicht ahnen, was für ein gesundes Heidentum von seinen lichten Höhen weht. Das Schöne ist die Verklärung des irdischen Lebens und versöhnt mit ihm den ethisch erhobenen Menschen bis in die verborgenste Falte des Gemütes. Verfolgt man in den bildenden Künsten die Ver- geistigung der Gestalt bis zum vollen Ausdruck der Seele; lauscht man in der Poesie dem zur Sprache gewordenen Menschenherzen; fühlt man endlich in der Musik bis in die Knochen sich geschüttert von Ideen, die wiederzugeben jedes Wort versagt: so gelangt man zur Erkenntnis, daß in der Identität von Inhalt und Form das Geheimnis des Schönen liegt und daß es dies ist, was über das Besondere hinaus zum Erfassen des Allgemeinen uns erhebt. Indem der Mißklang aller Einzelheit sich auflöst in eine Harmonie des Ganzen, spricht das grobe Ganze zu uns in seiner Einheitlichkeit und erscheint uns als dessen Dolmetsch der Mensch. Im Schönen erwahrt sich der Begriff des Gött- lichen als ein menschlicher Begriff und das vollständig befriedigte Gemüt atmet frei auf in himmlischer Wunschlosigkeit.e. Darum wirken die schönen Künste, die nur gedeihen können bei hoher Gesittung, selbst mildernd auf die Sitten zurück und ist der Akkord des Wahren, Guten und Schönen ein reiner Dreiklang, in welchem die irdische Vollendung ausklinst. Wir sagen mit Absicht ausklingt. Es liegt ein tiefer Sinn darin, dab das Schöne, in welchem das menschliche Können sozusagen sich selbst überbietet, als das Ewige uns erscheint und zugleich als das Vergänglichste sich erweist. Es ist eben, wie SCHILLER treffend K. Fuchs, Titus Lueretius Carus. II. >51 gesagt hat, das Schöne nur ein Spiel. Aber es ist ein edles Spiel des Geistes, das nur als das sich gibt, was es ist, und dem, der in Geistesklarheit ihm sich überläßt, eine triumphierende Resignation ge- währt, von deren lächelnden Lippen die Worte schweben: Schwer ist das Leben, aber der Mensch ist ihm gewachsen. Tıtus LucretiusGarus. Von K. Fuchs (Ödenburg). (Fortsetzung.) 2. Mechanik. Der Hauptgegenstand der Mechanik sind die Bewegungen der Atome, und mehrere Grundgedanken der Mechanik sind schon in der Chemie vorweggenommen, sollen aber hier eingehender behandelt werden. Die Atome sind träge. Das Gesetz der Trägheit besteht aus zwei Sätzen, deren einer auf die Bewegungsrichtung, deren anderer auf die Geschwindigkeit eines freien Atoms sich bezieht. Erster Satz: Ein freiesAtomkannseinehichtung spontan nicht ändern und bewegt sich in gerader Linie so lange fort, bis es durch den Zusammenstoß mit einem andern Atom in eine neue Rich- tung geworfen wird. Diesen Satz wendet L. auf Schritt und Tritt an. Die Theorie der Reizstoffe beruht auf ihm!. Zweiter Satz: a) Ein freies Atom kann seine Geschwin- digkeit spontan nicht vermindern. >»(IU. 80.) Es wäre un- richtig, zu glauben, daß die Atome aus eigener Kraft ihre Geschwindig- keit vermindern und etwa durch diese spontane, aller Berechnung sich entziehende Verzögerung auf den Verlauf der Dinge modifizierend ein- wirken könnten. « b) Ob ein freies Atom seine Geschwindigkeit spontan vergrößern kann, läßt sich aus dem Texte leider kaum entnehmen. Lucrkzz hat die hier ins Spiel kommende Theorie des freien Falles einem Werke ent- nommen, das Erıkur entweder nicht selbst geschrieben hat oder das eine ı TI. 129 wird der Umstand, daß die Sonnenstäubchen ihre Bewegungsrich- tung scheinbar spontan ändern, als Beweis dafür angesehen, daß sie durch unsicht- bare Teile fortwährend gestoßen werden müssen. Siehe übrigens unten das clinamen motus. 252 K. Fuchs, Titus Lucretius Carus. II. _ vollkommen selbständige Studie über die Gravitation war, die alle an- deren Theoreme der Physik vollkommen ignorierte. Anders kann ich mir wenigstens den Umstand nicht erklären, daß einerseits die Prämissen der Theorie der Schwere mit den übrigen Theoremen des Werkes in Widerspruch stehen, anderseits die Konsequenzen der inredestehenden Theorie in den übrigen Teilen des Werkes mit einer einzigen’ Ausnahme nicht einmal anspielungsweise erwähnt und noch viel weniger angewendet werden. Auf Grund aufrichtigen Suchens glaube ich auf die Frage nach Lucrrz’ Meinung über die spontane Beschleunigung zwei verschiedene Antworten vorlegen zu dürfen, die sich beide aus dem Texte rechtfer- tigen lassen. «) Ein freies Atom kann seine Geschwindigkeit spontan auch nicht vergrößern. Wenn seine Geschwindigkeit bei einem Zusammenstoße vermindert worden ist, wird sie bei irgend einem anderen Zusammen- stoße wieder vergrößert. Da die Wahrscheinlichkeit dafür spricht, daß die beschleunigenden und die verzögernden Stöße abwechseln werden, so wird eine mittlere Geschwindigkeit der Atome resultieren, die für das ganze Weltall konstant ist und von der große Abweichungen nicht vor- kommen. Daraus ergibt sich, daß die Summe der lebendigen Kräfte im Weltall konstant ist. ß) Ein freies Atom kann seine Geschwindigkeit spontan ver- größern. Wenn durch einen Zusammenstoß seine Geschwindigkeit vermindert worden ist, dann erlangt es spontan in einer nicht näher anzugebenden Zeit seine ursprüngliche Geschwindigkeit zurück. Diese Fundamentalgeschwindigkeit, die ein Atom unter keinen Umständen über- schreiten kann, ist für das ganze Universum konstant. Sie beträgt jedenfalls mehrere hundert Meilen per Sekunde und ist etwas größer als die des Lichtes (die Citate folgen bei der Theorie des Lichtes). Im luftleerenRaume würdenalleKörpergleichschnellfallen, denn sie würden alsbald alle jene Normalgeschwindigkeit erlangen. Daß sie in der Luft verschieden schnell fallen, hat seine Ursache im Wider- stande des Mittels. Dieser Satz führt aber zu dem weiteren Satze von der Erhaltung der lebendigen Kraft. Den Satz von der Erhaltung der Summe der leben- digen Kraft spricht L. am klarsten an einer Stelle aus, wo er sagen will, daß die Natur der strengsten Notwendigkeit unterworfen ist, d. h. daß die künftigen Ereignisse ausschließlich eine Folge der gegenwärtigen momentanen Verteilung der Atome und deren momentanen Geschwindig- keiten sind und sich eventuell daraus berechnen ließen. Die Tendenz ist gleichsam den Göttern die Thüre vor der Nase zuzuschlagen. Luckkz sagt!: »(II. 303.) Eine Schwankung in der Summe der lebendigen Kraft, die natürlich sofort in die Vorgänge des Universums modifizierend ein- ' L. hat die für den Physiker unendlich fatale Gewohnheit, zur Vermeidung der Wiederholung desselben Wortpaares, z. B. „vergrößern und verkleinern“ oder „Hitze und Kälte“ ete., einmal das eine, das anderemal das andere Wort auszu- lassen. Die Folge ist, daß man deshalb oft zum Aufsuchen von Parallelstellen greifen muß, um entscheiden zu können, ob wirklich beidemale beide Worte zu verstehen sind. So war es auch hier. K. Fuchs, Titus Lucretius Carus. II. >53 greifen müßte (rerum summam commutare), kann nicht stattfinden. Denn es gibt keinen Ort außerhalb des Universums, in den ein Teil der bewegten, d. h. mit lebendiger Kraft begabten Materie entweichen und dadurch die Summe der lebendigen Kraft im Universum vermindern könnte, oder umgekehrt, von dem aus bewegte Materie in das Universum eintreten und die Summe der lebendigen Kraft vermehren und dadurch in den Verlauf der Phänomene verändernd eingreifen könnte.« Den mit # bezeichneten Satz betreffend, ist es wohl höchst wahr- scheinlich, daß die Griechen zuerst den Einfluß des Mittels auf die be- wegten Körper beobachteten; daß sie daraus schlossen, daß im mittel- freien (luftleeren) Raume alle Körper gleich schnell fallen, und daß sie durch diese Ansicht zu jenem Theorem geleitet wurden, das sich zur Erklärung manchen Problemes brauchbar erwies. Lucrzz fährt fort: Molekularkräfte gibt es nicht. Daß er es zweckmäßiger findet, statt deren das Vorhandensein von Häkchen vorauszusetzen, ist schon erwähnt worden. (Man darf, wenn man eine praktisch brauchbare Theorie haben will, nicht daran Anstoß nehmen, dab die Häkchen ja widerstandsfähig und somit dennoch mit Molekular- kräften begabt gedacht werden müssen, »ne tibi res redeant ad nilum funditus omnes«.) Fernwirkende Kräfte gibt es nicht. Solange es nämlich möglich ist, die Wirkungen, die gemeinhin durch fernwirkende Kräfte er- klärt werden, durch Molekularbewegungen zu erklären, liegt kein zwin- gender Grund vor, ein so neuartiges Element, wie die fernwirkende Kraft es wäre, in die Physik einzuführen; besonders da Kraft doch nur ein leerer Name bleibt, der uns nichts lehrt. Daß aber die Gastheorie aus- reicht, scheinbare Fernwirkung zu erklären, soll am Beispiele der mag- netischen Anziehung nachgewiesen werden!. Durch absolut leeren Raum kann weder magnetische noch sonst eine >» fernwir- kende Kraft«< wirken. Die Luft muß vermitteln und sie umspült sowohl den Magnet als auch das Eisen. Die Luftmoleküle sind wie schon erwähnt unter fortwährenden Kollisionen in ewiger Bewegung und stoßen fortwährend gegen jede Fläche, die ihnen geboten wird, woraus der allseitige Luftdruck auf jeden Körper resultiert (VI. 1026 semper enim circumpositus res verberat aer). Weil jedoch die Drucke auf die entgegengesetzten Seiten irgend eines Körpers sich aufheben, wird derselbe nicht in Bewegung gesetzt. Nun hat aber der Magnet die Eigenschaft, daß gewisse in der Luit vorhan- dene Atome, sobald sie, wie das ja bei allen Körpern geschieht, in ihn hineindiffundieren (sozusagen absorbiert werden), sich in seinem Innern chemisch vereinen. Der Magnet hat ferner die Eigenschaft, den Bahnen der Moleküle dieses neugebildeten, in seinem Innern schwingenden Stoffes eine zentrifugale Richtung zu geben, wodurch sie vom Magnete ab ge- radlinig hinausschießen. Hierbei stoßen sie gegen die Atome der Luft. und treiben diese vom Magnet ab, so daß rings um den Magnet luft- verdünnter Raum entsteht. Ebenso stoßen sie gegen das Eisen, das sich ! Lucrez ist der Redende. 254 K. Fuchs, Titus Lucretius Carus. I. in der Nähe des Magnetes befindet, und trachten es vom Magnete zu entfernen. Wenn aber die Luft zwischen Magnet und Eisen verdünnt ist, erleidet das Eisen auf der dem Magnete zugewendeten Seite einen verminderten Luftdruck und wird durch den Luftdruck der entgegen- gesetzten Seite dem Magnete zugedrängt, d. h. es wird scheinbar vom Magnet angezogen. Je nachdem nun der Stoß des obigen magne- tischen Gases oder die Differenz der Luftdrucke stärker wirkt, wird das Eisen durch den Magnet scheinbar angezogen oder abgestoßen. Gleich- zeitig wird klar, daß der Magnet im Laufe der Zeit nicht an Kraft ver- liert. Aus der Luft diffundiert ihm eben immer neues Material für magnetisches Gas zu und er gibt demselben ja keine Kraft, sondern gibt der Bewegung, welche die Atome mitbringen, nur die zentrifugale Richtung. Die Erscheinungen der Adhäsion, wie sie beispielsweise der Leim bietet, finden darin ihre Erklärung, daß der allseitige Druck der Atmosphäre die in Berührung befindlichen Körper gegen ein- ander preßt. Worin der Unterschied zwischen festen und gasför- migenKörpern besteht, ist schon früher erwähnt worden. »(II. 99.) Bei manchen Körpern erfolgen die Zusammenstöße der Atome in großen, bei anderen in kleinen Intervallen. Bei den letzteren, bei denen wegen der großen Gedrängtheit der Atome die Intervalle von Stoß zu Stoß sehr klein sind, verhaken sich die Atome und es entsteht ein fester Körper; die ersteren Körper hingegen, bei denen wegen ihrer unverhältnismäßig geringeren Dichte die Stobintervalle auch sehr groß sind, liefern uns die leichte Luft, den Duft-, den Schall-, den Wärme-, den Licht- und den magnetischen Stoff. « Die Diffusion der Gase läbt sich folgendermaßen charakteri- sieren: »(l. 1041.) Es sei der Raum mit einem Gase erfüllt und wir denken uns eine Kugelschale in dem Raum, so daß wir von jedem Atom sagen können, daß es entweder innerhalb oder aber außerhalb dieser nicht wirklichen, sondern nur gedachten Kugel oder Grenzfläche liegt. Alle Atome sind in der schon oft beschriebenen Bewegung. Dann sind die äußeren Atome nicht im stande, zu verhindern, daß die inneren Atome aus der Kugel austreten. Denn die äußeren Atome können allerdings in vielen Fällen die nach außen zu sich bewegenden inneren Atome zu- rückstoßen; aber es kommen immer wieder andere geflogen, die gegen die Grenze vordringen. Endlich wird doch der Fall eintreten müssen, daß nicht die inneren, sondern die äußeren gezwungen werden, weiter zurückzuprallen und dadurch den inneren Atomen Zeit und Raum zum Austritt zu gewähren, so daß sie von ihrem früheren Verbande abge- schnitten werden und später in ähnlicher Weise noch weiter nach außen geraten können. Auf diese Weise muß, vorausgesetzt daß keine chemi- schen Verwandtschaften ins Spiel kommen, allmählich eine vollkommene Mischung der äußeren und der inneren Atome eintreten. (Das Vorhanden- sein chemischer Verwandtschaft würde freilich die gerade entgegengesetzte Wirkung herbeiführen und die anfangs getrennt gewesenen verwandten Atome würden sämtlich sich verbinden, mit Ausnahme derjenigen wenigen K. Fuchs, Titus Lucretius Carus, II. 255 Atome, die durch das zufällige Zertrümmern des einen oder anderen Moleküles hier und da auf kurze Zeit frei werden.) — Es ist kein Grund anzunehmen, daß mehr Atome von innen nach außen geraten als äußere Atome nach innen. Sollten aber die Atome innen ursprünglich weniger dicht sein als außen, so werden gewiß auch in gleichen Zeiten weniger Atome von innen nach außen vordringen als umgekehrt. Das hat aber eine Zunahme der Dichte im Innern der Kugel zur Folge, bis die Dichte innen und außen die gleiche ist. Durch Verallgemeinerung dieses Schlusses kommt man zu dem Resultate, daß die Tendenz besteht, die Dichte im ganzen Weltraum zu nivellieren, und daraus folst wieder, daß die Materie den ganzen Weltraum in durch- schnittlich gleicher Dichte erfüllt. >»(Il. 294.) Nie waren die Atome im Weltraum gedrängter als heute, noch hatten sie je größere Intervalle.« So viel von Lucrkez’ Mechanik der Moleküle Von den übrigen Teilen der Mechanik willichnur das archimedische Prinzip erwähnen. Luckez scheint zwar ein sehr gutes Auge für physikalische Funktionen gehabt zu haben, aber ein schwacher Mathematiker gewesen zu sein und ÄRCHIMEDES Werke nicht gekannt zu haben, obwohl sie ihm um mehr als ein Menschenalter näher standen als die des Epıkur. Es ist aber aus Luckzez’ Werk zu schließen, daß ARcHIMEDES keineswegs den Grundgedanken des sogenannten archimedischen Prin- zipes, nämlich die Differenz des Druckes, den das Medium auf die obere und die untere Fläche des eingetauchten Körpers ausübt, zuerst entdeckte. AÄRCHIMEDEsS unterwarf nur die zu seiner Zeit schon alte Grundidee der mathematischen und numerischen Berechnung. LucrEz teilt uns nämlich namentlich zwei Fälle mit, in denen Erıkur die Idee der Druckdifferenz anwendet: bei der bereits besprochenen Theorie der magnetischen Anziehung und bei der Theorie der Flamme, über die ich jetzt nochmals sprechen will. Luckzz sagt: »(VI. 1026.) Die umgebende m an: auf die Körper durch die unausgesetzten Stöße der Atome einen konstan- ten allseitigenDruck aus.« »(VI. 1063.) Wie ungeheuer groß der atmosphärische Druck ist, ersieht man aus den geleimten Platten, die oft eher nach der Faser zerreißen als an der Leimungs- stelle, und doch werden sie nur durch den Luftdruck zusammengehalten« (unsere heutige Ansicht ist das freilich nicht). Dieser Luftdruck kann aber nur dann als Bewegungsursache erscheinen, wenn er auf einer Seite geringer ist als auf der anderen. Wenden wir diesen Satz auf die Flamme an. »(I. 191.) Die Flammen springen auch nicht aus eigenem Antrieb aus dem Innern der Häuser, wo sie ausgebrochen sind, auf die Dächer, sondern man mul voraussetzen, daß sie es einer von unten drückenden Kraft zufolge thun, (II. 205) obwohl ihr Eigengewicht sie nach unten zu führen strebt, so wie das Wasser mit großer Kraft die Balken auswirft.< (Daraus folgt aber, daß der Luftdruck an höheren Stellen geringer ist als an tieferen, oder mit anderen Worten: Der Luftdruck nimmt mit der Höhe ab.) 256 K. Fuchs, Titus Lucretius Carus. I. 3. Die Reizstoffe. (Geschmack, Duft, Schall, Wärme, Licht, Magnetismus.) Seit einigen Dezennien wissen wir, daß Schall, strahlende Wärme und Licht, so grundverschieden ihre Wirkungen auf unsere Nerven und auf die Naturkörper sind, doch nur spezielle Fälle desselben Erscheinungs- typus, nämlich der Schwingungen sind, und so diametral entgegengesetzt mehrfach ihre Gesetze zu sein scheinen — man denke an die schein- bar geradlinige Fortpflanzung des Lichtes im Gegensatz zur scheinbar allseitigen Fortpflanzung des Schalles — ihre Gesetze dennoch nur spezielle Fälle der allgemeinen Grundgesetze der Schwingungstheorie sind. Ganz dieselbe Ansicht hat Luckezz nicht nur über Schall, Licht und Wärme, sondern auch über Geschmack, Duft und Magnetismus. Auch er meint, daß alle sechs Erscheinungen trotz ihrer scheinbar vollständigen In- komparabilität nur Spezialisationen desselben Erscheinungstypus sind. Diesen Erscheinungstypusglaubt er aber in der Diffusion (Gastheorie)gefunden zuhaben. Mit Staunen finden wir, daß unsere Zeit trotz ihrer außerordentlichen mathematischen Hilfsmittel auf diesem Gebiete der Gastheorie verhältnismäßig wenig mehr bietet als die Zahlen- werte für die Errıkur’schen Theoreme und wenigstens die ersten Vertreter der Gastheorie vor wenigen Dezennien kaum so weit dachten wie Erıkur. Die Grundzüge der inredestehenden Theorien des Erıkur sind bereits bei der Theorie des Magnetismus gegeben worden. Ich will sie noch- mals präziser fassen; sie basieren auf folgenden Sätzen: 1) Ein indifferentes Gas verbreitet sich in einem an- deren Gase durch Diffusion jederzeit so, daß es überall gleiche Dichte erhält. 2) Wie das Niveau eines ganzen Ozeans sich um einen Meter senken müßte, wenn man dasselbe auch nur an einer einzigen Stelle durch fortwährendes Schöpfen um einen Meter erniedrigt halten könnte, weil alles höher liegende Wasser der einen Stelle zuströmen würde: so würde auch die Dichte des obigen Gases in der ganzen Atmosphäre sich erniedrigen, wenn dieses Gas auch nur an einer einzigen Stelle irgend- wie konsumiert würde, weil allmählich alle Atome durch Dif- fusion auch an diese Stelle gelangen würden, von der es keine Rückkehr gibt. Dasselbe läßt sich von Flüssigkeiten sagen. 3) Es kommt vor, daß zwei Gase in der Atmosphäre sich gegen- einander vollkommen indifferent verhalten. Wenn sie sich aber nicht in der Atmosphäre, sondern in einem anderen Körper treffen, vereinigen sie sich. 4) Jedes Molekül, auch das festestgebaute, wird endlich einmal durch andere Moleküle so getroffen werden, daß es zerfällt. 5) Je größer ein Molekül ist, um so wahrscheinlicher wird es mit anderen Molekülen zusammenstoßen, d. h. um so kürzer wird die mittlere Weglänge. 6) Je kürzer die mittlere Weglänge ist, je öfter also ein Molekül aus seiner Richtung geworfen wird, um so langsamer entfernt es sich im allgemeinen von seinem Ausgangspunkt, d.h. also, Gase mit großen K. Fuchs, Titus Lucretius Carus. II. 957 Molekülen in einer dichten Atmosphäre diffundieren langsamer als Gase mit kleinen Molekülen in einer dünnen Atmosphäre. 7) Die Atome jedes beliebigen Körpers sind in ununterbrochener sehr schneller Bewegung und bergen somit eine sehr große lebendige Kraft. Der reißendste Gießbach und der ruhigste Tümpel unterscheiden sich diesbezüglich nur darin, daß im ersteren sämtliche Atome sich vor- zugsweise parallel bewegen, während sie in letzterem die verschiedensten Bewegungsrichtungen haben. Man brauchte den Atomen des Tümpels nicht die geringste Geschwindigkeit zur schon vorhandenen hinzuzugeben, sondern man brauchte nur ihren Bahnen parallele Richtungen zu geben, und der Erfolg wäre, daß derselbe Tümpel nicht nur mit der Gewalt des Gießbachs, sondern mit einer Geschwindigkeit größer als die des Lichtes wie durch eine Zauberkraft geschleudert dahinstürmen würde. Dieser Satz läßt sich auch umkehren. Setzen wir den Fall, daß ein Körper sich mit jener enormen Geschwindigkeit fortschreitend be- wegt und also alle Atome parallele Bahnen haben, wie die Soldaten in einer marschierenden Armee. Wenn nun durch irgend eine Ursache, die durchaus nicht die Geschwindigkeit, sondern ausschließlich die Richtungen der Atome ändert, die Atome zu Zusammenstößen gebracht werden, dann werden sie von ihrer Geschwindigkeit nichts einbüßen und doch wird man schließlich einen ruhenden Körper vor sich zu haben glauben, »gleichwie die wildeste Schlacht von der Vogelperspektive aus großer Entfernung gesehen als ein ruhender Fleck in der Ebene erscheinen würde«. Dieser Satz des Lucrkzz ist, wie man auf den ersten Blick erkennt, nichts Geringeres als ein Fundamentalgedanke der heutigen mechanischen Wärmetheorie. Luckzz spricht diesen Gedanken allerdings nirgends in dieser ge- drängten Form aus. Sehr breit entwickelt er ihn auch in der Theorie des Blitzes.. Am vollständigsten und sehr weitläufig gibt er dessen zweite, umgekehrte Form in seiner Theorie der Gravitation. Er wendet ihn aber genial an; die enormen lebendigen Kräfte, die bei Erdbeben, vulkanischen Eruptionen, Wirbelwinden und Gewittern sich offenbaren, sind nach ihm nicht neugeschaffen; sie sind schon in den scheinbar ruhenden Körpern der Erde vorhanden; sie werden aber für unsere Sinne erst dadurch offenbar, daß die Bahnen der Atome parallel werden. Er hält selbst angesichts dieser sinnverwirrenden urplötzlichen, scheinbar ursachlosen Arbeitsleistungen der Natur den Satz aufrecht, daß lebendige Kraft weder verloren gehen noch geschaffen werden kann. Den Satz der Um- wandlung innerer Arbeit in äußere Arbeit hat also schon Luckez ausgesprochen. — Ich will nur eine hergehörende Stelle ci- tieren, obwohl sie nur ein Detail bespricht: >»(II. 308) Es hat nichts Unbegreifliches an sich, daß alle Atome eines Körpers in beständiger Bewegung sind und doch ihre Summe, nämlich der Körper selbst, zu ruhen scheint, abgesehen von dem Falle, daß die Bahnen vorzugsweise in Eine Richtung fallen, in welchem Falle der Körper als Ganzes sich progressiv bewegt. Man muß sich aber vor Augen halten, daß die Atome tief unter der Grenze sinnlicher Wahrnehmung liegen. Oft sehen wir eine weidende Schafherde, in der jedes Tier seine eigenen Wege Kosmos 1884, II. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XV). 17 258 K. Fuchs, Titus Lucretius Carus. I. nach Nahrung geht; uns schwimmt aber alles durcheinander und die Herde scheint festzustehen. Auch bei den militärischen Manövern werden die Legionen durcheinandergeworfen, die Reiterei sprengt umher; dennoch scheint das Ganze zu stehen, wenn wir es von einer Bergeshöhe be- trachten. « Auf Grund obiger Sätze entwickelt Luckez folgende Ansicht von den Gegenständen des vorliegenden Kapitels. Geschmack, Geruch, Töne, Farben, Wärme müssen auf Stoffen beruhen, wie folgende Erwägung zeigt, die auch heute richtig ist: Unsere Sinnesorgane sind offenbar aus Materie gebaut. In der Physik müssen wir aber an dem Grundsatze festhalten, daß auf Materie nur Materie wirken kann (L. formuliert diesen Ge- danken durch den spießigen Satz: tangere enim et tangi nisi corpus nulla potest res). Nun bewirken aber die obigen Phänomene in den Sinnesorganen nicht nur Empfindungen, sondern sie üben auch Wirk- ungen aus, die nur durch eine lebendige Kraft verursacht werden können. »(IV. 323.) Das Sonnenlicht beispielsweise macht das Auge blind, wenn man direkt in die Sonne blickt, weil es offenbar lebendige Kraft enthält; die Sonnenstrahlen üben Schläge auf das Auge aus und zer- stören seinen organischen Bau.« »(I. 810.) Eine bestimmte Empfindung ist nur ein Äquivalent eines bestimmten physikalischen Prozesses, und wenn wir beispielsweise weiße Farbe zu sehen glauben, dann hat that- sächlich das Auge nur eine bestimmte Form von Schlägen erlitten (plagae quoddam genus excipit in se pupula, cum sentire colorem dieitur album).« Luckez schließt vollkommen korrekt. Aber während wir glauben, daß die lebendige Kraft von der Sonne aus von Atom zu Atom über- tragen und weitergegeben wird bis in unser Auge, glaubt Luckrz wie Newron, daß ein und dasselbe Atom die lebendige Kraft auf der Sonne übernimmt und bis in unser Auge trägt. Doch zurück zu LUCREZ. Wie vielerlei Empfindungen, d.h. mit anderen Worten, wie vielerlei Sinnesreize es gibt, so vielerlei Reizstoffe muß es auch geben (II. 440). Viele Erscheinungen lassen sich nur so erklären, daß die Reizstoffe nicht Elemente, sondern chemische Verbindungen sind. Da die Anzahl der möglichen chemischen Verbindungen eine end- liche ist, so folgt daraus, daß die Anzahl der möglichen Empfindungen auch eine, wenn auch außerordentlich große, so doch endliche ist. Zwischen den Gerüchen gibt es also keinen allmählichen, sondern nur einen sprungweisen Übergang. Dasselbe gilt von den Farben und Tönen. Die Reizstoffe entstehen, wie bereits bei der Theorie des Magnetismus entwickelt worden, indem jeder Körper die Atome bestimmter Elemente, die aus der Atmosphäre in ihn eingedrungen sind oder, wie bei den Riech- und Schmeckstoffen, im Körper bereits vorhanden sind (s. unten, Theorie der Wärme), im Sinne des Satzes 3 veranlaßt, zu bestimmten Verbind- ungen zusammenzutreten. Dies sind die ihm eigentümlichen Reizstoffe, denen er seinen charakteristischen Geschmack, Geruch, Farbe etc. ver- dankt. K. Fuchs, Titus Lucretius Carus. II. 259 Die Bildung mancher Reizstoffe geht nur unter bestimmten Be- dingungen vor sich. Besonders förderlich sind Erschütterungen ; Töne entstehen nur in erschütterten Körpern. Die sog. dunkeln Körper liefern Farben nur, wenn sie vom Licht erschüttert werden (IV. 75); wenn der Zirkus mit roter Leinwand überspannt ist und es scheint die Sonne, so erscheint alles, was im Innern des Zirkus sich befindet, von rotem Licht überflutet, und zwar um so intensiver, je vollständiger das Dach das Ganze überspannt, weil die Leinwand von ihrer Oberfläche Rotstoff auswirft. Der Austritt der verschiedenen Reizstoffe aus den Körpern gestaltet sich bei den verschiedenen Reizstoffen verschieden. Die Schmeckstoffe bleiben in dem erzeugenden Körper gebunden, und nur wenn der ganze Körper auf die Zunge gebracht wird, wirken auch sie chemisch auf die- selbe und erwecken eine entsprechende Geschmacksempfindung. Den Riechstoffen gegenüber verhält sich der erzeugende Körper indifferent; sie diffundieren in freien Molekülen in seinem Inneren, gelangen auch nach aulen und verbreiten sich allmählich in der Atmosphäre, und dasselbe gilt für andere Reizstoffe. Die Moleküle dieser Reizstoffe sind aber verschieden groß; die der Riechstoffe sind die größten, die der Licht- und Wärmestoffe die kleinsten. Die Folge ist, dab die ersteren Moleküle nur äußerst kleine Strecken geradlinig vom Körper ab zurücklegen können und sofort an Moleküle der Atmosphäre prallen, wodurch sie in ganz andere Richtungen geworfen werden. Unter fortwährendem Hin- und Hergeworfenwerden entfernen sie sich allmählich vom Ursprung und verbreiten sich in der Atmosphäre. Sie sind fest genug, um lange, Stunden, Tage und Monate lang, unzerstört zu bleiben; endlich aber werden sie doch zerschmettert und in ihre Bestandteile aufgelöst. Die Tonstoffe sind kleiner und legen bedeutende Strecken gerad- linig zurück, ohne an andere Moleküle anzuprallen, und entfernen sich dergestalt sehr rasch von ihrem Ursprung; diese Geschwindigkeit der Fortpflanzung schätzt man am leichtesten ab, wenn man einem Holzhauer aus der Entfernung zusieht. Man hört dann den Schall der Entfernung entsprechend viel später, als man das Beil fallen sieht. Die Zusammen- stöße sind indes immerhin noch häufig genug, daß ein namhafter Teil der Tonmoleküle aus der ursprünglichen zentrifugalen Richtung abgelenkt und sogar rückwärts geworfen wird. So erklärt es sich, daß man auch um die Ecke hören kann, wenn auch nicht so gut als direkt. Auch sind die Tonmoleküle fest genug, selbst mehrfache Reflexionen an festen Wänden zu vertragen, ohne gänzlich zu zerschellen. So erklärt es sich, dab man auch durch gewundene Korridore oder durch Mauern, in denen die Poren doch labyrinthartig sich verschlingen, hören kann, wenn auch der Klang durch die unterlaufenden Verstümmelungen der Moleküle ge- ändert wird. Kein Tonmolekül erhält sich aber wohl minutenlang. Die Lichtmoleküle sind die kleinsten und können daher unge- heure Strecken durchmessen, ohne zu kollidieren. Sie verbreiten sich daher mit einer Geschwindigkeit im Raume, die der schon erwähnten Maximalgeschwindigkeit der Atome sehr nahe kommt. Sie sind aber so 260 K. Fuchs, Titus Lucretius Carus. II. zarte Verbindungen, daß sie schon nach sehr wenig Kollisionen zer- schmettert sind. Dies sieht man daran, daß es in einem Zimmer mo- mentan finster wird, wenn man das Fenster schließt und dadurch ver- hindert, daß immer neue Lichtstoffe einströmen!. Aus dieser Empfind- lichkeit erklärt es sich auch, daß das Licht sich scheinbar nur geradlinig fortpflanzt und man nicht um die Ecke sehen kann; die durch Kolli- sionen abgelenkten Moleküle zerschellen während der Kollision. Nur an vollkommen glatten Flächen, wie an Spiegeln, werden sie unverletzt reflektiert. Von den Tonmolekülen ist gesagt worden, daß komplizierte Ton- moleküle, wenn sie durch wiederholte Kollisionen Atome verlieren und innere Verschiebungen erleiden, nicht sofort aufhören, Tonmoleküle zu sein, sondern zunächst sich in Moleküle anderer, einfacherer Töne ver- wandelten, welche schließlich in Bestandteile zerfallen, die nicht mehr Töne sind”. Man könnte wohl auch sagen, daß ein beliebiger Ton die Summe vieler einfacher Töne ist; und wenn eines seiner Moleküle zer- schellt, so zerfällt es zunächst in seine einfachen Tonmoleküle. — Genau dasselbe können wir von den Lichtmolekülen sagen. Namentlich scheint das weiße Licht dieSumme der Farben zu sein, und wenn weißes Licht zerfällt, so zerfällt es in Farben. Viel- leicht verwandelt es sich auch nur in diese oder jene Farbe, je nachdem es in dieser oder jener Weise verstümmelt ist. (Lucrez erwähnt hier auch einen genialen Gedanken: Wie man aus Polygonen mosaikartig ein Quadrat zusammensetzen kann, so ist ein Weißmolekül aus Farben- molekülen zusammengesetzt. Der Reiz, den ein Weißmolekül auf das Auge ausübt, ist natürlich nicht die Summe der Reize, die die Farben- moleküle einzeln ausüben würden, gleich wie der Reiz, den ein Kugel- hagel auf die Haut ausüben würde, durchaus nicht derselbe wäre, den ein Hagel von schlanken, spitzen Pyramiden ausüben würde, obwohl die Kugeln aus lauter mit den Spitzen sich im Kugelmittelpunkte treffenden Pyramiden zusammengesetzt sein könnten. Die Folge ist, dab das Auge ‚nicht erkennt, daß Weiß die Summe von Farben ist.) Die strahlende Wärme folgt im allgemeinen den Gesetzen des Lichtes. Das wichtigste Wärmephänomen ist für die Theorie dies, daß die Blei- kugeln (plumbea glans), welche die Schleuderer schleudern, bei Gellern (Prellschüssen) heiß werden; und zwar kann man ihnen ohne Ende unendlich viel Wärme entlocken. Das beweist, daß die Wärme nicht im Blei aufgespeichertseinkann, sondern durch gewaltsame Reib- ung neu entsteht in einer Menge, die der Reibungsarbeit entsprechendist. »(VI. 177.) Wir sehen, daß durch Bewegung alles ı (IV. 370.) „Immer neue Lichtmengen ergießen sich in Strahlen, und die alten vergehen, als hätte man Wolle ins Feuer geworfen.“ Detailliert in der unmittelbar vorhergehenden Zeile. : Das auffallendste Beispiel ist die menschliche Stimme. (IV. 547.) In der Kehle entstehen äußerst komplizierte Töne, die gleichsam das Rohmaterial für die Sprache bilden. Wenn diese inden Mund dringen, werden sie aber je nach der Stel- lung, die wir den Mundteilen geben, durch die Kollisionen an denselben in bestimmter Weise gleichsam abgeschliffen, modelliert, verstümmelt und werden auf diese Weise zu den Molekülen des Buchstabens, den wir eben aussprechen. K. Fuchs, Titus Lueretius Carus. II. 261 bis zum Brande erhitzt werden kann. Die Bleikugel kann durch lange Reibung zum Schmelzen kommen.« (Auch andere Stellen. — Soweit ist die Auffassung identisch mit der heutigen.) Daraus kann man im Sinne der bisherigen Theorien schließen, daß der Wärmestoff sich während der Reibungserschütterung aus Atomen bildet, die der Umgebung ent- nommen werden. Die magnetische Substanz ist schon besprochen worden. Es wurde bereits erwähnt, daß die Atome, in welche die Reizstoffe zerschellt sind, durch den Raum diffundieren, um eventuell wieder zu Reizstoffen verbunden zu werden. Das Material der Reizstoffe ist daher in ewigem Kreislaufe begriffen. (Durch diese Theorie steht Erıkur hoch über Newron, wie ich glaube.) Lucrez hat offenbar einen Fehlgriff gethan, als er bei Erklärung der Erscheinungen der Reizstoffe für die gemeinschaftliche Basis die Diffusion annahm ; aber man muß bekennen, dab auf falscher Basis kaum je genialer gearbeitet worden ist. Interessant ist hierbei seine unbewußte Hinneigung gegen die richtige Theorie, die Theorie der Schwingungen: er betont immer wieder, daß es die Bewegungsformen, die durch die Form der Verbindungen der Atome bestimmten Bewegungsformen der Atome sind, welche die Phänomene veranlassen. Am präzisesten sagt er dies III. 564: »Der Geist (zu verstehen ist hier das Nervensystem, wie später nachgewiesen werden soll) ist jedenfalls aus Materie gebaut. Zum Geiste wird er aber nicht durch seinen Stoff (bestehen ja doch die heterogensten Dinge aus ganz denselben Elementen), sondern durch das Denken; das Denken erfolgt aber durch bestimmte Bewegungen der Atome. So lange die Atome des Geistes zwischen die Atome des Körpers ge- bettet sind, können sie nicht frei und in größeren Intervallen (nämlich von Stoß zu Stoß) schwingen, sondern sind an bestimmte Grenzen und Bewegungsformen gebunden, deren Summe die Empfindungsbewegungen (die von bewußter Empfindung begleitet sind, nicht aber dieselbe ausmachen) darstellt. Wenn aber der Geist vom Körper getrennt ist, so können seine Atome nicht mehr dieselben Bewegungen ausführen, weil ihre Bahnen nicht mehr in derselben Weise durch die Atome des Mediums determiniert sind. Wenn wir aber voraussetzen, daß die Luft- atome die Bahnen der Geistatome in derselben Weise determinieren könnten, wie die Körperatome es thaten (in eos concludere motus), dann hätten wir keine freie Seele, sondern eine Seele in einem Luftleibe. Eine freie Seele kann also nicht denken, und folglich nicht existieren. « 4. Kosmologie. (Universum. Planetensystem. Fauna. Flora.) Das Universum ist unendlich und überall mit Materie von durch- schnittlich gleicher Dichte erfüllt. Der Sternenhimmel, den wir von der Erde aus überblicken, ist endlich und nur eines der unendlich vielen Sternsysteme der Welt. »(II. 1052.) Von keinem Standpunkte aus er- scheint es wahrscheinlich, daß, nachdem im unbegrenzten Weltraum so ungemessene Mengen der Atome seit Urzeiten ihre Bahnen gehen, nur 262 K. Fuchs, Titus Lucretius Carus. II. dieses Eine Erdenrund erschaffen sein sollte und all die außerhalb seiner liegenden Atome nichts produziert haben sollten.« Da zufolge der allgemeinen seit Urbeginn thätigen Diffusion die Elemente durch den ganzen Raum gleichmäßig verteilt sind und somit das Material für alle Welten wohl das gleiche ist, müssen auch die Produkte, die sich aus denselben bilden, einander mehr oder weniger gleichen. »(I. 1067.) Man ist gezwungen zuzugeben, daß aus den Ele- menten — deren Atome ja alle dieselbe Beschaffenheit haben und an allen Orten nach ganz denselben Gesetzen wie bei uns sich zu immer höheren Verbindungen vereinen — in anderen Regionen des Welt- raumes ebenfalls Erden, ebenfalls Tiere, ebenfalls Menschen gebildetsein müssen. Gleichzeitig muß man sogar voraussetzen, daß im Weltall kein Ding nur in Einem Exemplar vorhanden ist. Wild, Menschen, Fische, Vögel, ja selbst Sonnen, Monde, Meere, Erden gibt es im Universum in solcher Mannigfaltigkeit, daß alles, was uns als einzelstehende Form erscheint, thatsächlich nur ein einzelnes Individuum einer ganzen Gattung ist.« Da die Himmelskörper, die Tierkörper und die Pflanzenkörper sämtlich nichts als Komplexe chemischer Verbindungen sind und ihre Ver- änderungen ausschließlich durch die Gesetze der Chemie und Mechanik bestimmt werden (also eine Lebenskraft oder dergleichen nicht existiert): so erkennt man im Laufe ihrer Entwickelung auch stets dieselben Er- scheinungstypen. Die hervorragendsten sind: 1) der Stoffwechsel; 2) Mutter- medien und Seminalgebilde (diese Worte werden später erklärt); 3) Aus- lese durch den Kampf ums Dasein; 4) Selbstvernichtung; 5) Konkordanz der Organe; 6) Stabilität des Organismus. l1«@) DerErscheinungstypus des Stoffwechsels läßt sich durch folgenden Satz ausdrücken: Jeder Naturkörper verliert einerseits und gewinnt anderseits ununterbrochen (durch Diffusion, Diosmose, Ver- dampfung, Niederschlag, chemische Aufnahme und Ausscheidung etc.) Stoffe. Seine gegenwärtige Masse ist daher die Differenz der bisherigen Stoff-Aufnahme und -Ausscheidung, und im Laufe der Zeit werden seine Atome sämtlich immer wieder durch neue Atome ersetzt. »(ll. 1122.) Denn was man immer durch fröhliches Ge- deihen anwachsen und allmählich in die Phase der Vollkraft treten sieht, nimmt mehr Stoff auf, als es abgibt, so lange die Nahrungsstoffe von den Gefäben leicht aufgenommen werden und so lange der Körper noch keine genug weitläufige Entfaltung hat, um mehr auszuscheiden, als er gleich- zeitig assimiliert. Denn wir müssen den Dingen die Fähigkeit zuschreiben, viel Stoffe auszuscheiden; aber mehr müssen noch hinzutreten, bis sie den Gipfel der Entfaltung erreicht haben. Hierauf brechen sich die er- langten Kräfte und es tritt das Stadium des Verfalls ein. Denn je reicher ein Ding durch Zuwachs entwickelt ist und je mehr Oberfläche es hat, um so mehr Stoffe wirft es nach allen Seiten ab, und die Nahrungs- stoffe werden nicht mehr so leicht von den Gefäßen aufgenommen und auch nicht mehr in genügender Menge, um den Ausfall zu decken. Es geht daher logischerweise der Auflösung entgegen, wenn es durch Abfluß (der primären Stoffe) zu sehr verdünnt ist; und es erliegt den Molekular- K. Fuchs, Titus Lucretius Carus. II. 263 schlägen der äußeren Agentien, wenn in sehr vorgeschrittenen Phasen endlich die Ernährung wegfällt und die eigenen Stoffe den äußeren Agentien nicht mehr genügend widerstehen können und durch dieselben chemisch zersetzt werden.«< >(IIl. 699.) Was aber permaniert, d. h. durch Intussuszeption aufgenommen wird, das wird eben aufgelöst und hört auf, zu sein, was es war. Die Speise beispielsweise verteilt sich in die Poren des Körpers, sie geht in die Glieder und Organe des Körpers über, und dadurch hört sie auf, Nahrungsstoff zu sein, und verwandelt sich in Stoffe von anderer Beschaffenheit. « ß) Diese Bilder stellen in erster Linie den Stoffwechsel im Inneren eines einzelnen Organismus dar. Ein anderer Typus des Stoffwechsels liegt darin, daß neue Gebilde sich nur dadurch bilden können, daß alte zerfallen und jenen das Material liefern. »(II. 74.) Die Welt wird stets erneut und die sterblichen Wesen borgen das Leben von einander. Erblüht hier ein Geschlecht, geht dort ein anderes unter, und in einer kurzen Spanne Zeit wechseln die Generationen, und wie die Boten der Nacht reicht eine der andern die Fackel des Lebens (et quasi cursores vitai lampada tradunt).« ! Y) Der Satz vom Stoffwechsel gilt auch für die Sonnensysteme. (I. 1041.) Sie stehen in Stoffaustausch durch Diffusion. Ein Sonnen- system entsteht, wächst, schwindet und verschwindet, je nachdem an einer Stelle des Weltraumes der Stoffzufluß im Verhältnis zur Stoffabgabe größer oder kleiner wird, und neue Systeme entstehen durch die Auflösung alter. 2) Der Erscheinungstypus von »Muttermedium und Seminalgebilde« läßt sich etwa folgendermaßen entwickeln. Absolut unzerfällbar ist gar keine chemische Verbindung. Jedes Molekül ist mehr oder weniger empfindlich und kann nur in gewissen Medien, die man Konserviermedien nennen könnte, auf die Dauer sich erhalten. »(III. 782.) In der Luft kann kein Baum, im Meere keine Wolke, im Felde kein Fisch leben, noch kann Blut im Holze oder Most im Steine bestehen. Es hängt durchaus vom Zusammentreffen bestimmter physikalischer Fak- toren ab, ob etwas sich erhalten und gedeihen kann.< Wenn das Me- dium noch besser als ein Konserviermedium der inredestehenden Ver- bindung entspricht, dann wird dieselbe sich nicht nur im Medium kon- servieren, sondern, falls Material vorhanden ist, sogar sich vermehren. Ein solches Medium mag Züchtemedium heißen. — Endlich kann das Medium so sehr der in Rede stehenden Verbindung entsprechen, daß in dem Falle, dal die letztere noch gar nicht vorhanden ist, sondern nur das Material zu ihrer Bildung sich vorfindet, die Atome dieses Mate- rials zu jener Verbindung zusammentreten. In diesem Falle soll das ' „(H. 769.) Nimmer können die verderbenbringenden Bewegungen für alle Ewigkeit siegen und für alle Ewigkeit die Lebensfreude begraben; aber auch nim- mer können die zeugenden und bauenden Neuerungen für alle Ewigkeit das Er- schaffene bewahren. So dauert der in den Urzeiten entbrannte Krieg der Atome in nimmer entschiedenem Ringen. Bald siegen die Lebensregungen hier, bald siegen sie dort, um hier und dort wieder überwältigt zu werden.“ Kann man den Ge- danken, daß Kampf die Fundamentalerscheinung der Natur ist, schöner ausdrücken ? 264 K. Fuchs, Titus Lueretius Carus. II. Medium Muttermedium und jene Verbindung das Seminalgebilde ! heißen. (In diesem Sinne ist das belichtete Laubblatt ein Muttermedium und die Stärke, die sich in ihm bildet, ein Seminalgebilde oder der Most ein Muttermedium und der Alkohol ein Seminalgebilde) Das Seminal- gebilde kann selber Muttermedium eines dritten Stoffes werden, der sich in ihm bildet; dieser wird Muttermedium in bezug auf einen vierten in ihm sich bildenden Stoff ete. und so bildet sich eine Kette von Stoffen, deren jeder in bezug auf die vorhergehenden Glieder Seminal- gebilde, in bezug auf die nachfolgenden aber Muttermedium ist. Im Sinne des Lucrkzz bedeutet Entwickelung, mag nun das Sonnensystem oder die Erde als solche oder ein Tier oder eine Pflanze oder selbst die Menschheit oder ein Staat sich entwickeln, so vielalsBildungeiner Kette von Seminalgebilden. Mit diesem Satze, den LuckEz nirgends so kurz ausspricht, aber auf Schritt und Tritt anwendet und ausmalt, schuf er die Basis einer mechanischen Theorie der Entwickelung. An einer früheren Stelle, S. 172 und 173, ist bereits nach I. 1024 bis 1051 dargestellt worden, wie nach dem Schema der Seminalgebilde sich ein Sonnensystem aus einem Urnebel bildet, in welchem die Elemente noch unverbunden sind. Die Atome gelangen infolge ihrer fortwährenden Zusammenstöße in alle möglichen Combinationen und es bilden sich somit alle möglichen Formen von Verbindungen und Molekularbewegungen. Wenn sich hierbei eine durch geringere chemische Verwandtschaft zusammengehaltene Verbindung bildete, wurde sie sofort wieder zerfällt, bis endlich die festesten Verbindungen sich konstituiert hatten. Diese wurden sodann die Muttermedien lockerer und kompli- zierterer Verbindungen. Der Urnebel war in Rotation, und zwar rotierte die Peripherie am schnellsten, während das Zentrum der Erde geradezu ruht, ohne sich zu drehen. Nachdem die fundamentalen Rohstoffe der Erde, nämlich die Ge- steine, die Luft-, die Wärme- und Tonstoffe, das Wasser ete. nach chemischen Gesetzen ihre definitive (je nach dem lokalen Klima wech- selnde) Beschaffenheit erlangt hatten, konnten sich immer zarter kon- struierte Stoffe bilden. Zunächst bildeten sich schlamm-, schleim- und erdartige Stoffe, dem Humus gleich, die die verschiedensten Ele- mente in sich aufzunehmen geeignet waren, und zwar hatten diese Massen je nach den physikalischen, geologischen und meteoro- logischen Verhältnissen des Ortes ihres Vorkommens verschiedene Zu- sammensetzungen und Beschaffenheiten. Dieser Urschlamm, wenn man so sagen will, war und ist das Muttermedium der organischen Stoffe. »(IH. 897.) Organische Stoffe finden wir im Reisig und in der trockenen Ackererde nicht. Wenn diese aber durch Regengüsse in Gährung versetzt sind, ge- bären sie niedere Organismen, weil die Atome aus ihrer alten Ordnung verschoben und zu neuen Stoffen zusammengeführt werden, die sodann ! Lucrez versteht unter semina rerum an verschiedenen Stellen Verschie- denes, z. B. Atome, Moleküle, Keime; an vielen Stellen meinte er offenbar das, was ich mit Seminalgebilde bezeichne. K. Fuchs, Titus Lucretius Carus. II. 265 das Bildungsmaterial für neue Lebewesen sind.< >»(V. 785.) Man kann die Erde mit einem Vogelleibe vergleichen. Im Finken stecken ursprünglich keine Federn oder Federkeime; er ist ja aus dem Ei entstanden, das aus Dotter und Eiweiß besteht. Der Fink hat aber eine Haut, und diese hat an verschiedenen Stellen verschiedene Beschaffenheit. Sobald aber die Haut sich gebildet hat, werden bei jedem Finken an jeder Stelle der Haut sich von selbst Federkeime bilden, und zwar je nach der verschiedenen Beschaffenheit der betreffenden Hautstelle verschiedene Keime. Daraus resultiert das bunte, bei allen Finken aber gleiche Federkleid. Auch jede Holzart hat ihren eigentümlich riechenden Rauch, und zwar erhält man von derselben Holzart immer denselben Geruch, auch wenn man tausend Stücke nach einander anzündet. Der Rauch hat sich aber doch aus den Atomen des Holzes jedesmal ganz neu gebildet und es waren keine Rauchkeime vorhanden. Gerade so haben die Federn sich jedesmal neu gebildet.«< (Ich glaube die im Texte sehr kurze Stelle hiermit richtig interpretiert zu haben. D.V.) Hieraus erklärt es sich, warum jedes Land seine charakteristische Fauna und Flora hat. Es hat nämlich jedes Land seinen charakteristischen Urschleim und die Tier- und Pflanzenkeime sind die Seminalgebilde des Urschleimes, die einzelnen Spezies der Organismen entstehen also durch Ur- zeugung. Lucrez hat hier die Deszendenztheorie in der Hand, aber er sieht sie nicht. Er kennt nämlich das Variieren der Tiere und Pflanzen und erklärt dasselbe, wie wir gesehen haben, dadurch, daß im Embryo im Mutterleibe, resp. im Samenkorn sich fremde Atome einschleichen, die dem Entwickelungsgange des Keimes eine andere Richtung geben. Das würden wir unbedingt für die Antezipation der Deszendenztheorie ansehen, wenn er sagen würde, daß die niederen Tiere und Pflanzen die Muttermedien der Eier und Samen der höheren Tiere sind. Er scheint aber im Gegenteile zu sagen, daß auch für diese höheren Organismen das Muttermedium der Urschleim ist und die Arten konstant sind. Die Tier- und Pflanzenspezies sind nicht auf einmal, sondern im Laufe von Jahrtausenden entstanden und auch heute entstehen noch Tiere durch Urzeugung, wenn auch heute sich die Arten zu wiederholen scheinen. Das scheinen die Tiere zu beweisen, die man die Pfützen bevölkern sieht, welche ohne alle Verbindung mit anderen stehen und nach Regenzeiten sich frisch beleben. 3) Die Flora und Fauna der Gegenwart ist nicht die Summe der bis heute erschaffenen Spezies, vielmehr ist sie das Resultat der Naturauslese durch den Kampf ums Dasein. Es verhält sich hier etwa wie mit den toten Naturkörpern, den Mineralien und Atmosphärilien. Auch diese sind keineswegs die Summe der bisher gebildeten Stofftypen. Vielmehr haben sich von jeher wieder- holt chemische Verbindungen gebildet, die aber kein Konserviermedium fanden und darum bald oder sofort wieder durch ihre Umgebung zer- fällt wurden (s. oben S. 263), so daß auch unsere tote Natur gleichsam das Resultat einer Naturauslese im Kampfe um das chemische Gleichgewicht ist. »(V. 834.) Im Laufe der Zeit hat die Erde viele Ungeheuer von wunder- 266 K. Fuchs, Titus Lucretius Carus. 11. licher Gestalt und absonderlichem Baue geschaffen, wie z. B. das Mannweib (Anspielung auf Praro), Fußlose, Handlose, Mundlose, Blinde, solche, deren Gliedmaben mit dem Körper verwachsen waren, so daß sie weder die Gefahren meiden, noch die Bedürfnisse befriedigen konnten. Umsonst! Die Natur versagte ihnen das Gedeihen, und sie konnten weder das Alter der Vollentwickelung erreichen, noch sich begatten: denn es müssen sehr viele Faktoren zusammentreffen, damit eine Art sich fortpflanzen könne. Die bestehenden Arten ver- danken ihre Erhaltung der List, der Kraft oder ihrer Be- weglichkeit. Viele Arten erhielten sich sehr lange, mußten abeı schließlich doch untergehen. Beispiele für die ersteren Fälle sind der Fuchs (List), der Löwe (Stärke), der Hirsch (Flüchtigkeit). Für die untergegangenen Tiere dienen als Beispiele der Hund und die Haus- tiere, deren Stammtiere bereits ausgestorben sind und die heute nur mehr durch den Menschen erhalten werden, der sie ihres Fleisches, ihrer Wachsamkeit u. dgl. wegen züchtet. Sie dienen gleich zeitig als Beispiel für den Typus von Organismen, die ihre Eı- haltung einer relativen Eigenschaft verdanken, denn die Reitbarkeit des Pferdes, der es seine Erhaltung durch den Menschen verdankt, ist doch nur eine relative Eigenschaft, nämlich mit bezug auf den Menschen, der es reiten will. Welche Tiere aber weder subjektive (d.h. auf sie selbst bezügliche), noch relative Vorteile hatten, mußten, durch diesen Mangel bloßgestellt, den anderen zur Beute fallen, bis sie ausgerottet waren.« 4) Das Prinzip der Selbstvernichtung ist schon in der Besprechung des Stoffwechsels im Lebewesen (S. 262) angedeutet!. Es läbt sich folgendermaßen entwickeln. Es ist wohl nicht zu bezweifeln, dab ein Stoff am leichtesteu dort sich bildet und gleichsam nieder- schlägt, wo er wenigstens in geringer Menge bereits vorhanden ist. (Heute würden wir darauf hinweisen können, daß ein Salz aus einer Lösung sich am leichtesten an einem in der Lösung bereits vorhandenen Krystalle niederschlägt und ihn vergrößert) Man kann daher sagen, daß wenigstens öfters Stoffe ihre eigenen Muttermedien sind. »(II. 1114.) Die Diffusion führt im Laufe der Zeit jedem Körper unter anderen auch die ihm verwandten Stoffe zu, die er dann festhält; so wächst allmählich Feuchtigkeit durch Feuchtigkeit, Erde durch Erde, Feuer durch Feuer, Luft durch Luft.« Weit allgemeiner ist aber der Fall, daß ein Stoff das Mutter- medium für eine andere Verbindung ist, wie etwa die weiche Haut das Muttermedium der harten Hornsubstanz ist. Die Entwickelung eines Tieres vom Embryo bis zum Tode ist wesentlich nichts anderes als die Bildung einer Kette von Seminalgebilden. Die Substanz des Eies ist das Muttermedium für Blut, Fleisch, Leimsubstanz; Leimsubstanz ist das Muttermedium für Knochenkalk; die Haut des Nagels ist Mutter- medium für die Hornsubstanz des Nagels etc. Auf diese Weise werden aber die Stoffe der ersten Lebensabschnitte immer mehr durch ihre ! Die nun folgende Theorie der Selbstvernichtung ist bei Lucrez nirgends scharf ausgesprochen und eher herauserraten als herausgelesen. Ob ich recht ge- raten und vermutet habe, das zu entscheiden ist Sache der Kritik. - K. Fuchs, Titus Lucretius Carus. II. 267 eigenen Seminalgebilde, die sich unter sie mischen, verdünnt, und diese neuen Seminalgebilde haben eben andere Eigenschaften als die alten Muttermedien. Wenn nun die Stoffe, die die ersten Jugendphasen cha- rakterisieren, in hohem Maße die Fähigkeit besitzen, neue Stoffe auf- zunehmen und dabei wenig zersetzt zu werden, so haben deswegen die höheren Seminalgebilde nicht auch diese Fähigkeit. Wenn aber die Jugend- stoffe einmal zu sehr verdünnt sind, verlieren sie allmählich die Fähigkeit, sich selbst zu ergänzen (wie sie oben besprochen und durch die Krystalle illustriert ist). Ihre Zerstörung durch Stoffwechsel schreitet aber fort, und endlich dominieren der Menge nach die Altersstoffe, d. i. die höheren Seminalgebilde.e. Da diese aber als zartere Gebilde weit mehr zur Zer- setzung inklinieren, können sie sich selbst ohne Hilfe der schwindenden Jugendstoffe nicht erhalten und der Körper verfällt der Zersetzung durch die chemischen Agentien seiner Umgebung ,.d.i. der Atmosphäre, des Wassers etc. — Nach dieser Theorie führt also die Entwickelung eines Lebewesens notwendig zur Vernichtung des Individuums in vorgeschritte- nerem Alter. Dieses Theorem findet auch seine Anwendung auf die Erde als Ganzes. »(II. 1144.) Wie das Kind, das erst zum Helden erwachsen ist, endlich doch zum Greise wird, so werden auch die festen Mauern der Erde einst von der Macht des Verderbens gebrochen zum Falle kommen und morsch in Trümmer sinken. Heute schon ist die Erde in einer so vorgeschrittenen Phase desVerfalles, daß sie kaum mehr Tierarten der kleinsten Form schafft, obwohl sie doch die heute noch lebenden herrlichen Arten alle einst geschaffen und die gewaltigen Leiber der Bestien geboren hat. Sie selbst hat einst all unsere Kultur- pflanzen zu freiem Leben erschaffen, und heute gedeihen sie kaum unter der gewaltigen Stütze unserer mühevollen Arbeit.« In der Kulturgeschichte der Menschheit soll am Beispiele der Mittelmeervölker nachgewiesen werden, dab das Prinzip der Selbstver- nichtung selbst auf die Entwickelungsgeschichte eines Kulturkreises An- wendung findet. Es wird dort nachgewiesen werden, daß jeder Kultur- zustand einesteils sich selber mehrt und um sich greift, aber anderseits in erhöhtem Maße gleichsam das Muttermedium eines höheren Kultur- zustandes wird. In dem Maße, als die Jugendtypen des Volkes, nämlich der Bauernstand etc. durch höhere Typen verdünnt werden, verlieren sie die Fähigkeit, sich selbst zu ergänzen, und sie verschwinden. (Soweit geht Lucrez in seiner Kulturgeschichte. Die Zeit des Verfalls schildert er nicht, denn er hat sie nicht erlebt; er starb lange vor Aucustus.) 5) Das Prinzip der Konkordanz der Organe läßt sich folgendermaßen entwickeln: Die Gestalt eines Organes ist lediglich von dem chemischen Bau seiner Bildungsstoffe abhängig. Ein Tier kann nur solche Organe gleichzeitig besitzen, deren Bildungsstoffe einander nicht zersetzen; deren keines auf Nährstoffe angewiesen ist, die einem andern Gift sind; deren keines Zersetzungsprodukte liefert, durch die andere ! Es empfiehlt sich, II. 1122 auf S. 262 nochmals der Kontrolle wegen durch- zulesen. 268 K. Fuchs, Titus Lucretius Carus. II. Organe zersetzt werden. >»(V. 875.) Centauren hat es nie gegeben, wie denn nie Glieder, die aus zwei verschiedenen Muttermedien stammen, in Einem Medium vereint waren (nec esse queunt ex alienigenis membris compacta ; die Übersetzung mag tendenziös scheinen), weil dadurch keinem von beiden Lebensfähigkeit (die, wie wiederholt in Citaten nachgewiesen worden, durch das Medium bedingt ist) übrig bleibt. Dies erhellt aus folgendem: Das Pferd ist mit drei Jahren in Vollkraft, der Knabe durch- aus nicht, denn oft lechzt er da noch im Schlafe nach der Mutterbrust. Später, wenn die Glieder des Pferdes durch das Greisenalter gebrochen sind, beginnt erst die Vollkraft des Jünglings und sein Kinn beginnt sich zu beflaumen. Somit können weder Mensch- und Pferdeteile Cen- tauren bilden, noch andere Tiere mit diskordanten Gliedern entstehen. Ferner sehen wir, daß Schierling die Ziegen fett macht, für die Menschen aber ein scharfes Gift ist. (Dies will folgendes sagen: Welche Form ein Organ annimmt, das hängt ganz von den Substanzen ab, aus denen es gebildet ist; die Form des Organes ist eine Funktion der chemischen Beschaffenheit der Stoffe, aus denen es gebaut ist. Sollten daher Men- schenkopf und Ziegenfuß bei demselben Geschöpfe vorhanden sein, so müßten diese aus Menschenfleisch, resp. Ziegenfleisch gebaut sein. Der Bildungsstoff und das Muttermedium für Fleisch ist aber das Blut. Das Beispiel des Schierlings läßt uns aber erkennen, daß dieselben Nahrungs- stoffe, die das Menschenblut schädigen, das Ziegenblut fördern, und wahrscheinlich auch vice versa. Der Mensch kann also nicht beide Blut- arten gleichzeitig in seinen Adern führen, und folglich auch keinen Ziegen- fuß haben.}« | 6) Das Prinzip der Stabilität des Organismus besteht darin, daß ein Organismus, der durch irgend eine Ursache in einen anor- malen, z. B. krankhaften Zustand gelangt ist, aus eigenem Vermögen in . den Gesundheitszustand zurückkehrt. Seine Theorie wird im Abschnitte über Physiologie, namentlich im Punkte über Krankheit gegeben werden. Luckez bekämpft mit derselben Energie wie wir den Gedanken, als wäre in der Natur irgend etwas einem bestimmten Zwecke zuliebe geschaffen. Über Teleologie sagt er: »(IV. 831.) Nichts ist darum in unserem Körper entstanden, damit wir uns seiner bedienen können; sondern nachdem etwas geschaffen war, bildete sich irgend ein Gebrauch heraus. Es haben daher meiner Ansicht nach alle Organe eher existiert, als es einen Gebrauch derselben gab ... Aufs eindringlichste muß ich erklären, daß es ganz und gar unstatthaft ist, zu glauben, daß irgend etwas geschaffen werden könne, um als Instrument für eine nutzbringende Thätigkeit zu dienen.« Luckez urteilt also folgendermaßen: Die Organismen sind aus- schließlich Produkte chemischer Thätigkeiten. Da die Anzahl der chemi- schen Elemente eine endliche ist, könnte die Anzahl ihrer chemischen Verbindungen und Mischungen nur dann eine unendliche sein, wenn die Organismen unendlich groß sein könnten!. Da deren Größe aber eine ı (1. 479.) Daran will ich den Beweis fügen, dab (unter der Voraussetzung, daß die Atome sich nur in der Form unterscheiden) nur eine endliche Anzahl von Atomtypen möglich ist: Man setze voraus, dal ein Atom eine sehr geringe Menge K. Fuchs, Titus Lucretius Carus. II. 269 endliche ist, so ist auch die Anzahl der möglichen Organismen eine endliche. Unter den mathematisch möglichen Organismen ist aber der größte Teil (nach dem Muster der Centauren) nach dem Gesetze der Konkordanz der Organe physiologisch unmöglich. Unter den physiologisch möglichen Organismen ist aber abermals der größere Teil praktisch unmöglich, weil er (nach dem Muster der Mundlosen) sich selbst nicht erhalten kann, indem ihm die notwendigen zweckmäßigen Organe fehlen. Endlich kann auch unter den praktisch möglichen Organismen der größere Teil im Kampf ums Dasein nicht bestehen, weil er keine Waffen hat. Sokommt es, dab die thatsächlich vorhandenen Tiere l) konkordante Glieder haben, 2) zweckmäßige Organe besitzen, 3) mit Kampf- oder Rettungsmitteln ausgerüstet sind. von Formelementen, etwa drei oder wenig mehr besitze. Wenn wir dann diese Elemente durch Vertauschung der Plätze auf alle mögliche Weisen kombiniert haben, erhalten wir nun eine endliche Anzahl von Typen. Wollen wir aber mehr Typen haben, so bleibt nichts übrig, als das Atom zu vergrößern, um Raum für ein neues Formelement zu gewinnen. Das liefert aber wieder nur eine endliche An- zahl Typen. Eine unendliche Mannigfaltiskeit der Typen ist daher nur möglich, wenn wir voraussetzen, daß auch die Atome unendlich groß sein können. Das widerspricht aber den Thatsachen.“ Mutatis mutandis heißt dies, daß nur eine end- liche Anzahl von Organismentypen möglich ist, falls die Organismen nicht unend- lich groß sind. (Schluß folgt.) _ Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. Von Dr. Fr. Johow. II. Eine Exkursion nach dem kochenden See auf Dominica. (Schlub.) * Das Thal des Roseau-Flusses, durch welches unser Weg nach der Niederlassung Laudat hinaufführt, bietet auf Schritt und Tritt eine Fülle ungemein malerischer Landschaftsbilder von echt tropischem Gepräge dar. Zu beiden Seiten ist das Thal von hohen Bergwänden eingefaßt, an deren Fuß sich Kulturen von Pisang und Colocasia hinaufziehen. Darüber er- heben sich steile Felsen, die von dichten Vorhängen blühender Lianen umsponnen oder mit einer mannigfaltigen Strauchvegetation von Legu- minosen, Rubiaceen und Melastomateen bekleidet sind. Hoch oben auf den Kämmen der Berge ragen die schlanken Schäfte einzelner Kokos- und Areka-Palmen aus dem Buschwerk hervor, während an etwas tiefer gelegenen und daher schattigeren Abhängen sich Gruppen von Baum- farnen durch ihr zartes, moosartiges Grün von dem umgebenden Laub- sehölz abheben. An der Bergwand jenseits des Flusses fesselt eine Baum- gruppe unser Auge, welche über und über mit den grauen, roßschweif- ähnlichen Büscheln der Tillandsia usneoides behangen ist, jenes sonderbaren epiphytischen Gewächses, welches, ohne Wurzeln zu besitzen, lediglich aus der Atmosphäre seine Nahrungsbedürfnisse bestreitet. In der Sohle des Thales haben die Kulturgewächse bereits auf größere Strecken hin die ursprüngliche Vegetation verdrängt. Zu beiden Seiten des Weges ziehen sich Kakao-Haine sowie kleine Pflanzungen von Yams!, Manihoc? und Bataten? hin; in der Umgebung der vereinzelten Hütten gewahren wir wohl auch einen Kalebassenbaum, einen Mangobaum oder eine obstliefernde Sapota. Das Flußufer selbst ist mit großbblättrigen Heliconia- und Canna- Stauden bewachsen oder mit zierlichen Bambusgebüschen geschmückt, deren schlanke Sprosse sich in den anmutigsten Kurven zum Wasser Vgl. das 2. Heft dieses Bandes, S. 112. Dioscorea sativa (Dioscoree). Jatropha Manihot (Euphorbiacee). Batatas edulis (Convolvulacee). wen Aax Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. II. 271 herniederbeugen. An den Stellen, wo das Thal sich kesselartig erweitert, haben sich überall Zitronenpflanzungen ausgebreitet, deren freudiges Grün von unserem erhöhten Standpunkt aus gesehen an die saftigen Wiesen nördlicher Hochgebirgsthäler erinnert. Länger als eine Stunde führt nun der Weg an einer sonnigen und steilen Berglehne aufwärts, und da die zunehmende Hitze des Tages uns jetzt empfindlich zu belästigen anfängt, so fühlen wir wenig Neigung, den bunten und mannigfaltigen Kräutern am Wege eine mehr als flüch- tige Aufmerksamkeit zu schenken. Als besonders elegante Gewächse bemerken wir indessen eine Begonia-Art' mit rosenrot gefärbten Blüten- stielen, welche hier den Schau-Apparat der Pflanze bilden, ferner eine rotblütige Gesneracee?, welche in der Form ihrer Blumenkrone den Gloxinien ähnelt, zwei prachtvolle Amaryllideen® und endlich mehrere Arten von Farnkräutern, unter denen die Lygodien mit schlingenden, an der Spitze unbegrenzt fortwachsenden Blättern, sowie die Mertensien mit gabelförmig verzweigten Wedeln uns besonders merkwürdig erscheinen. Am Rande einer kleinen Quelle, welche hart am Wege aus der Berg- wand entspringt und welche ein verständiger Eingeborner zum Frommen der Vorübergehenden in eine künstliche Rinne, nämlich ein halbiertes Bambusrohr, geleitet hat, damit man mit dem daneben liegenden, eben- falls aus Bambus gefertigten Becher sich bequem an dem kühlen Wasser erfrischen könne, haben wir auch zum erstenmal Gelegenheit, die großblättrigen Heliconien*, welche im Lande als »wilde Bananen« (wild plantain, balisier) bezeichnet werden, uns genauer zu betrachten. Die Heliconien sind hohe Stauden mit riesigen, ungeteilten Blattspreiten, welche an langen Stielen befestigt und denen der Banane sehr ähnlich gestaltet sind. Sehr auffaillende Gebilde sind die zickzackförmig ge- bogenen Infloreszenzen, welche mit großen kahnförmigen Hochblättern oder >Spathen< in zweizeiliger Anordnung besetzt sind. Diese Hoch- blätter sind durch eine leuchtende, purpurrote Färbung ausgezeichnet und haben, da die Blüten unscheinbar und im Innern jener versteckt sind, in gleicher Weise wie die gefärbten Blütenstiele der Begonie, die wir eben erwähnten, der Pflanze als Schau-Apparat zur Anlockung der Insekten zu dienen. Solche »extraflorale Schau-Apparate«, wie wir alle außerhalb der Blüte liegenden Organe zur Anlockung der Insekten nennen können, sind bei tropischen Gewächsen außerordentlich verbreitet und speziell in der westindischen Flora in großer Mannigfaltigkeit bei Pflanzen aus den verschiedensten Familien zu finden. Bei den Begonien und einigen weiter unten zu nennenden Sträuchern aus der Familie der Rubiaceen sind Axenteile die Träger der Lockfarbe, während in allen anderen Fällen Blattgebilde zu Schau-Apparaten differenziert sind. Solche Blätter sind z. B. die einfach gestalteten farbigen Brakteen, welche bei zahlreichen Bromeliaceen verbreitet sind und auch in unserer einheimi- schen Flora (bei Melampyrum nemorosum, bei der Linde und anderwärts) B. nitida oder domingensis. Isoloma hirsutum. Amaryllis equestris und Pancratium caribaeum. H. Bihai oder caribaea oder sp. ign. (?). =» 8 0 272 Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. II. vorkommen, ferner die korollinisch gefärbten Scheidenblätter oder »Spathen« mancher Aroideen und sämtlicher Musaceen und die blumenblattartigen >Involukralblätter«, welche u. a. die Rubiaceen-Gattung Üephadlis (siehe unten) und unsere einheimischen Astrantien besitzen. Aber auch die eigentlichen Laubblätter werden bei tropischen Gewächsen zuweilen in Ermangelung schön gefärbter Blütenteile zur Herstellung des Schau- Apparates herangezogen. So sind bei einer auf Dominica vorkommenden Wolfsmilchart ' sämtliche in der Nähe der Blüten stehenden Blätter an ihrer Basis mit je einem blutroten Fleck versehen, der gegen die grüne Farbe der übrigen Teile sehr lebhaft absticht und auf weite Entfernungen hin von den Insekten wahrgenommen wird. Auch bunt gestreifte oder gefleckte Laubblätter dürften, wo sie ein spezifisches Vorkommnis sind (wie bei manchen Euphorbiaceen), als Schau-Apparate zu deuten sein. Nehmen wir hierzu die oben betrachteten Eigentümlichkeiten, welche bei den baumartigen Leguminosen, dem Kakaobaum- und der Kalebasse vor- kommen, so sehen wir, wie mannigfaltige Einrichtungen zur Bildung oder Verstärkung von Schau-Apparaten die tropische Flora aufweist ?. Nach einer letzten Biegung des immer steiler und beschwerlicher werdenden Weges treten wir endlich in einer Höhe von etwa 1000 Fuß über dem Meeresspiegel in den langersehnten Schatten des Waldes ein. Schon vor dem Eingange dazu begrüßt uns eine malerische Gruppe von Baumfarnen°, jener edelsten und schönsten Pflanzenform, welche der tropische Urwald aufweist. Die unübertroffene Zartheit des Laubes, das moosartige, mit der dunkelbraunen Farbe des Stammes wundervoll har- monierende Grün und die vollendete Ebenmäbigkeit und Gefälligkeit der Krone nötigen uns die höchste Bewunderung ab. Noch einen Blick werfen wir jetzt auf das zu unseren Füßen gelegene Thal zurück, auf seine dunklen Bergwände, seine saftigen Zitronenhaine und seine freundlichen Hütten, auf die fernen Kokospalmen von Roseau und den am Horizont sich zeichnenden Spiegel des Antillenmeeres, dann umfängt uns der tiefe, dunkle Wald, dessen erfrischende Luft wir nach den Beschwerden der letzten Stunde mit vollen Zügen einatmen. Unsere erste Rast im Walde halten wir am Rande einer schatti- gen Schlucht, die wir nach wenigen Minuten erreichen; einer Örtlich- keit, die an Großartigkeit und poetischer Schönheit der Szenerie alles von uns bisher Gesehene hinter sich läßt. Hohe, mit Epiphyten bewachsene Bäume breiten ihre mächtigen Kronen über der Schlucht aus und bilden ein dichtes Laubdach, in dessen Schatten ein Heer von Heliconien und anderen üppigen Stauden wuchert. Baumfarne, deren Stämme wiederum mit zahlreichen kleinen Farnkräutern bekleidet sind, erheben ihre Kronen aus der Tiefe bis an den Rand des Abhanges zu unseren Füßen. Ver- schiedene Lianen, darunter die epiphytische, zu den Rötanggewächsen gehörige Carludovica Plumieri, deren große Fächerblätter sie auf den ! Euphorbia heterophylla. ? Ausführlicheres über „die Biologie der floralen und extrafloralen Schau- Apparate“ hat Verf. in einem Aufsatz in dem „Jahrbuch des Kgl. botan. Gartens zu Berlin“, Bd. III, mitgeteilt. 3 Oyathea sp. Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. II. 9273 ersten Blick als eine kletternde Palme erscheinen lassen, streben aus dem Dunkel der Schlucht zum Licht empor, um die Stämme der Bäume mit den anmutigsten Guirlanden zu umkränzen. Hier hören wir auch zum erstenmal den melodischen Gesang des »Solitairece und die langen, glockenreinen Flötentöne des »Bergpfeifers« ', welche, obwohl nicht zu einem eigentlichen Gesang verbunden, doch außerordentlich lieblich und geheimnisvoll durch den stillen Wald erklingen. Der sanft ansteigende Pfad führt uns jetzt am Rande noch weiterer Schluchten und Abgründe entlang, bald durch dichten Urwald, bald über kurze gelichtete Strecken, an denen hier und da ein verwilderter Orangenbaum oder eine Pisangstaude Zeugnis von einer ehemals vor- handenen Ansiedelung ablegt. Die Stämme, welche den Hochwald zusammensetzen, gehören größtenteils der Dursera gummifera an, einem Baum aus der Familie der Terebinthaceen, dessen riesiger, säulengleicher Stamm durch weit vorspringende Wurzelpfeiler gestützt und mit großen Stücken aus der Rinde hervorgequollenen schneeweißen Balsams besetzt ist. In den feuchten Höhlungen der Wurzelpfeiler wuchern moosähnliche Hymenophyllaceen *, am Stamme klettert die Carluıdovica mit anderen Lianen empor, und in der lichten Höhe der Krone breitet sich eine bunte Mannigfaltigkeit von Epiphyten aus. Unter den letzteren erregen unser Erstaunen vor allem die Clusien, welche, selbst wahre Bäume, hoch oben auf den Ästen der Bursera thronen. Aus einer Höhe von über 100 Fuß senden sie ihre tauartigen, am Ende oft büschelförmig verästel- ten Luftwurzeln zum Boden herab, um Wasser und Nährstoffe zu ihrem luftigen Standort hinaufzusaugen, während sie gleichzeitig zu ihrer mecha- nischen Befestigung den Stamm des Mutterbaumes mit einem eng ver- flochtenen und fest verwachsenen Netzwerk armdicker Haftwurzeln um- klammern. Nicht selten stirbt die Bursera unter dieser Umarmung des »Baumwürgers« ®, und ihr Stamm vermodert allmählich, ohne zerbröckeln zu können, innerhalb der fest geschnürten Umstrickung. Endlich aber stürzt er, wenn er nicht durch seine Lianen daran verhindert wird, zu Boden und bringt so nach seinem Tode den Mörder mit sich zu Falle. An lichteren Stellen im Walde beobachten wir auch eine mannig- faltige Vegetation von Sträuchern, welche sich aus Vertretern der Rubiaceen*, Melastomateen° und Piperaceen® zusammensetzt. Besonders sind die beiden ersteren Familien in einer überraschenden Artenzahl ver- treten. Zwei Rubiaceen erregen unser Interesse durch die extrafloralen Schau-Apparate, die sie besitzen. Es sind dies die mit der Ipecacuanha- Pflanze in dieselbe Gattung gehörige Cephaölis Swartzii, welche schön violett gefärbte Hochblattinvolukren besitzt, und eine Psychotria-Art, welche durch erangerot gefärbte Pedicelli ihrer straußförmigen Blütenstände ausgezeichnet ! Kreol. „Siflleur-montagne“ — franz. „Souffleur de montagne“. ® Besonders T’richomanes-Arten. ® Im Lande wird die Clusia „Scotch attorney“ oder „Figuier maudit“ (Schot- tischer Henker, verfluchter Feigenbaum) genannt. * Psychotria-, Rudgea-, Palicourea-, Oephaölis-, Rondeletia-Arten u. s. w. ° Olidemia-, Conostegia-, Charianthus-Arten u. v. a. ° Enckea- und Artanthe-Arten. Kosmos 1884, II. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XV), 15 274 Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. II. ist. Recht merkwürdige Gewächse sind auch die Piperaceen-Sträucher mit ihren kolbenförmigen Infloreszenzen, die in senkrechter Stellung gleich weiben Kerzen auf den wagerecht abstehenden Zweigen aufgereiht sind. Die Kräuter des Waldes, soweit sie auf dem Boden wachsen, sind größtenteils Farne, Scitamineen, Begonien und Gesneraceen. Andere Familien sind nur durch vereinzelte Formen vertreten. Nach einem wohl vierstündigen Marsch (von Roseau aus gerechnet) erreichen wir endlich unser heutiges Ziel, die Niederlassung Lau- dat. Dieselbe liegt 2000 Fuß hoch über dem Meeresspiegel auf einer rings von Urwald umgebenen, etwa 100 Morgen großen Bergwiese, welche nachweislich erst im Laufe dieses Jahrhunderts durch Ausroden von Wald seitens der Mulattenfamilie LaAupAr entstanden ist. Etwa ein Dutzend kleiner, roh gefügter Holzhäuser stehen auf dem grasigen Abhang zer- streut, auf welchem noch zahlreiche Baumstümpfe und vereinzelt übrig gebliebene Urwaldriesen den früheren wilden Zustand der Örtlichkeit bekunden. An vielen Stellen hat sich schon wieder eine gedeihliche Vegetation von Gesträuch und Gestrüpp, worunter Melastomateen die Hauptrolle spielen, ausgebreitet. Die Vertreter der letztgenannten Familie sind, wie an dieser Stelle bemerkt sei, durch eine sehr merkwürdige Übereinstimmung in der Gestalt und Nervatur ihrer Blätter ausgezeich- net. Es verlaufen nämlich in beiden Hälften der Blattspreite einige stark hervortretende, bogenförmig gekrümmte Rippen, welche durch senkrecht dazu gestellte kleinere Nerven zu einem sehr deutlichen Netzwerk von großer Regelmäßigkeit verbunden sind. Trotz der großen Verschiedenheit der Blüten bei den einzelnen Gattungen hält es daher niemals schwer, eine Melastomatee,, sei dieselbe ein krautiges, strauchiges oder baum- artiges Gewächs, sofort als solche zu erkennen. — Von anderem Strauch- werk haben verwilderte Guaven-Sträucher ' und große Mengen einer mit eßbaren Himbeerfrüchten begabten Rubus-Art?” von einem Teil des Raumes Besitz ergriffen. Gegen den Urwald hin ist die Lichtung auf der einen Seite durch einen reibenden kleinen Gebirgsbach, im übrigen aber durch eine haushohe künstliche Jambosa-Hecke® abgeschlossen; eine Einrichtung, welche nicht, wie der Leser vielleicht vermuten könnte, zum Schutz gegen wilde Thiere — solche gibt es im Lande überhaupt nicht — geschaffen worden ist, sondern sonderbarerweise vielmehr dazu dient, die in der Niederlassung gezüchteten Schweine und Rinder am Ent- weichen in den Wald zu hindern. Die Bewohner von Laudat, welche mit ihrer Ansiedelung den Namen teilen, sind Mulattos und trotz des sehr verschiedenen Prozentsatzes von Negerblut in ihren Adern sämtlich mit einander verwandt. Sie sind fleißige und thätige Ackerbauer, welche Pisang, Manihoc und Kaffee auf Waldlichtungen kultivieren, die oft weit von Laudat entfernt und schwer ! Psidium Guava, eine obstliefernde Myrtacee. ?2 Rubus jamaicensis. 3 Jambosa vulgaris, wie der Guavenstrauch eine obstliefernde Myrtacee, aber nicht wie dieser in West-Indien einheimisch, sondern aus den Tropen der alten Welt eingeführt. Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. II. 275 erreichbar in den Bergen liegen; sie sind aber trotz ihres Fleißes nicht zum Wohlstand gediehen und führen ein ärmliches Leben bei schmaler vegetabilischer Kost. Daß sie nichtsdestoweniger kräftig und rüstig und Krankheiten unter ihnen weit weniger verbreitet sind als in den Ort- schaften an der Küste, ist unstreitig dem herrlichen kühlen Klima zu- zuschreiben, welches hier in den Bergen das ganze Jahr hindurch herrscht und welches beispielsweise von dem der Stadt Roseau durch eine Tem- peraturdifferenz von wohl 10° R. sehr auffallend absticht. Wir kehren in das Haus des alten JurLes LaupAT ein, des an- gesehensten und wohlhabendsten Mannes in der Ansiedelung. Derselbe soll uns morgen als Führer nach dem kochenden See dienen, und in seinem Hause gedenken wir die nächste Nacht zuzubringen. Nachdem wir den Neger, welcher uns als Gepäckträger begleitet hat, nach Roseau verabschiedet haben, lassen wir uns in dem kleinen, uns zur Verfügung gestellten Gemache häuslich nieder und nehmen unser wohlverdientes, freilich sehr frugales Mittagsmahl ein, welches Mde. LaupAr aus aller- hand tropischen Knollen und aus unseren mitgebrachten Fleischkonserven uns bereitet. Eine einstündige Rast nach Tische genügt bei der kühlen und erfrischenden Bergluft, welche hier oben weht, vollkommen, um unsere durch die lange Wanderung etwas erschlafften Kräfte wieder herzustellen, so daß wir den übrigen Teil des Tages ganz der Erforschung der Vege- tation von Laudat widmen können. Kaum an einem anderen Orte auf der ganzen Insel dürfte sich uns so gute Gelegenheit bieten, unsere Kenntnisse über die Lebensweise der tropischen Gewächse zu bereichern und zu vervollständigen als in Laudat. Finden wir doch gerade die eigenartigsten und interessantesten Formen, welche der'tropische Urwald aufweist, nämlich die epiphytisch leben- den Phanerogamen, hier in größter Artenzahl auf den engsten Raum zusammengedrängt, und zwar — was das wichtigste ist — an Standorten, wo wir sie bequem erreichen und beobachten können. Im eigentlichen Hochwalde, wo die meisten Epiphyten nur in der Höhe der Baumkronen vegetieren, weil sie allein dort zu einem ausgiebigen Lichtgenuß, dem wichtigsten Faktor ihres Gedeihens, gelangen können, mußten wir zu dem Opernglase oder zu der Flinte unsere Zuflucht nehmen, wenn wir über einzelne Epiphyten oder Teile derselben genaueres zu erfahren wünschten. Hier in Laudat sind diese Pflanzen gleichzeitig mit dem Lichte von den Baumkronen des umgebenden Waldes herabgestiegen und haben sich auf dem niedrigen Buschwerk der Lichtung angesiedelt. Wir können sie also hier mit der größten Bequemlichkeit erreichen und betrachten. Eine etwas eingehendere Behandlung der Lebensweise der Epiphyten dürfte wegen der vielen interessanten Anpassungserscheinungen, welche diese Gewächse aufweisen, hier im »Kosmos« besonders am Platze sein. Sie ist es um so mehr, als gerade die Epiphytenflora von Laudat einer neueren wertvollen Arbeit über »Bau und Lebensweise der Epiphyten West-Indiens< ! hauptsächlich zu Grunde gelegen hat. ı A. F. W. Schimper, Botan. Centralblatt 1884. Die folgende Darstellung stützt sich vorwiegend auf die genannte Abhandlung des Reisegefährten des Verfassers und kann als ein Referat der wichtigsten Ergebnisse derselben betrachtet werden. 276 Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. I. Die Mehrzahl der in Laudat (wie überhaupt in West-Indien) vor- kommenden Epiphyten sind Orchideen, Aroideen, Bromeliaceen oder Farne. Aber auch zahlreiche andere Familien sind durch vereinzelte epiphytische Formen vertreten, so die Clusiaceen durch den »Baumwürger«, dessen Lebensweise wir schon oben kurz skizziert haben, die Bignoniaceen, Ru- biaceen, Melastomateen und Ericineen durch strauchige Formen und die Gesneraceen und Piperaceen durch krautige Gewächse. Die Eigenartigkeit und Ausgeprägtheit der äußeren Bedingungen, unter denen die Epiphyten leben, bringen es mit sich, daß die letzteren einen ziemlich ausgesprochenen Standortshabitus angenommen haben. Eine unter ihnen weit verbreitete und oft sehr auffallende Eigenschaft, die als eine Einrichtung zur Herabsetzung der Transpiration, mithin als eine Anpassung an die Trockenheit ihres Standorts aufgefaßt werden muß, ist die sukkulente oder lederartige Beschaffenheit ihrer Blätter. Manche Epi- phyten sind auch durch starke Behaarung vor zu starkem Wasserverlust geschützt. Charakteristisch für die meisten Epiphyten ist ferner eine bedeutende flächenförmige Ausbreitung der Vegetationsorgane bei gleich- zeitig geringer Höhe über dem Substrat; häufig sind rosettenförmige An- ordnungen der Laubblätter am Grunde des Stammes, ferner knollige Verdickungen des letzteren und eine kriechende oder kletternde Lebens- weise. Alle diese Erscheinungen stellen offenbar Anpassungen an die Bedingungen der Wasseraufnahme, der Ernährung und der Befestigung am Substrat dar und bedürfen keiner weiteren Erläuterung. Was nun die speziellen Anpassungserscheinungen betrifft, welche die epiphytische Lebensweise hervorgerufen hat, so können wir mit SCHIMPER nach der Art und Weise der Nahrungsaufnahme vier Gruppen von Epiphyten unterscheiden. Ein Teil der Epiphyten entnimmt die Nährstoffe lediglich aus den Überzügen der Borke, auf welchen sie leben, und verhält sich hierin den Bodenpflanzen ganz analog. Von den Ge- wächsen, welche hierher gehören, nennen wir die in Laudat sehr gemeinen Peperomien, die ebenfalls häufige Gesneracee Colummea scandens, eine Utricularia-Art, welche wir auf der humusreichen Borke sehr alter Bäume finden, manche Farne!, vor allem aber mehrere Aroideen? und Orchi- deen®. Die Vertreter der beiden letztgenannten Familien zeichnen sich durch den Besitz eines besonderen, wasseraufsaugenden Organes, der Luftwurzelhülle (velamen) aus und stellen so bereits einen höheren Grad der Anpassung dar als die übrigen Vertreter dieser ersten Gruppe. Die Epiphyten der zweiten Art stehen mit dem Boden durch einen Teil ihres Wurzelsystems in Verbindung, befinden sich mithin, was ihre Ernährung betrifft, unter denselben Bedingungen wie die terrestrischen Gewächse. So verhält es sich mit zwei Sträuchern, deren stattliche Blüten und dicke, glänzende Laubblätter wir auf mehreren Bäumen in Laudat beobachten können, der Rubiacee Hillia parasitica und der Melastomatee Dlakea laurifolia. In manchen Fällen, wie bei Carludovica, bei manchen Anthurium- und Philodendron-Arten und besonders bei Olusia, ı Polypodium-, Aspidium-, Lycopodium- und Trichomanes-Arten. 2 Anthurium-Arten. 3 Pleurothallideen, Oncidium-, Epidendrum-Arten u. a. Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. I. 977 finden wir eine sehr ausgesprochene Differenzierung des Wurzelsystems in Haft- und Nährwurzeln. Beide Arten von Wurzeln unterscheiden sich sehr auffallend sowohl in ihren physiologischen Eigenschaften als auch im anatomischen Bau. Die Haftwurzeln sind negativ heliotropisch, dringen deshalb in die Spalten der Rinde ein und schmiegen sich dem Substrat auf das innigste an. Die Nährwurzeln sind positiv geotropisch, wachsen deshalb senkrecht zum Boden herab und entnehmen demselben Wasser und Nährsalze. Durch eine sehr merkwürdige Art der Ernährung zeichnen sich manche epiphytische Orchideen, Aroideen und Farne aus. Die Wurzeln dieser Gewächse bilden auf der Oberfläche der von ihnen bewohnten Baumrinden vogelnestartige, vielfach verzweigte Getlechte von schwamm- oder korbartiger Struktur, in und auf welchen sich allmählich tote Blät- ter mit anderem organischem Detritus anhäufen und so einen Humus erzeugen, in welchen die Nährwurzeln der Pflanze eindringen. Diese Wurzeln sind nämlich den genannten Bedingungen entsprechend negativ geotropisch, also an eine oberhalb des Substrats befindliche Nährquelle- angepaßt. Ein sehr auffallendes Gewächs dieser Art ist z. B. Anthurium Hügelii, eine mächtige in dem Walde bei Laudat ungemein häufige Aroidee, welche trotz ihrer bedeutenden Dimensionen oft an den tauartigen Luft- wurzeln einer Olusia befestigt ist. Das oft über einen Kubikfuß mächtige Wurzelgeflecht dieser Pflanze bildet zusammen mit den Basen der großen rosettenförmig angeordneten Blätter einen stattlichen Korb, welcher sich allmählich ganz mit Humus füllt und Feuchtigkeit in großer Menge auf- speichert. Die vierte Gruppe von Epiphyten endlich, zu welcher lediglich Bromeliaceen gehören, ist dadurch vor allen anderen in der Luft leben- den Gewächsen ausgezeichnet, dab die Aufnahme des Wassers und der Nährsalze ganz vorwiegend durch die Blätter erfolgt, während die Wur- zeln entweder gar nicht entwickelt oder zu bloßen Haftorganen reduziert sind. Wir haben bereits Gelegenheit gehabt, der Tillandsia usneoides Erwähnung zu thun, welche, ohne Wurzeln zu besitzen, frei in der Luft an Baumzweigen aufgehängt ist. - Diese Pflanze ist über und über mit einer silbergrauen Behaarung aus eigentümlichen schildförmigen Schuppen bekleidet, welche, wie Versuche zeigen, die Organe der Wasseraufnahme darstellen. Andere epiphytische Bromeliaceen besitzen die gleichen was- seraufsaugenden Schuppen und sind noch durch eine besondere Ein- richtung befähigt, Regen- und Tauwasser nebst festen Nährstoffen für längere Zeit aufzuspeichern. Letzteres geschieht nämlich durch die löffel- artigen Basen der rosettenförmig angeordneten Blätter. An diesen Stellen sind denn auch jene Schuppen besonders reichlich entwickelt. In instruk- tiver Weise können wir uns in Laudat von dem Vorhandensein des Wassers in den Blattbasen der Bromeliaceen überzeugen, wenn wir einen mit Brocchinien oder Tillandsien besetzten Baumast zu uns herabbeugen; es werden uns dann, wenn wir nicht mit hinreichender Vorsicht zu Werke gehen, unfehlbar mehrere Liter Wasser auf den Kopf herabflieben. Wir haben hiermit die Lebensweise der interessantesten Epiphyten von Laudat kennen gelernt und dabei gesehen, dab diese Gewächse keine 278 Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. I. - eigentlichen Parasiten ', sondern nur raumparasitische Formen sind, welche wie Bodenpflanzen ihre Nahrung der Atmosphäre und toten Stoffen ent- nehmen. Es gibt aber in Laudat auch große Mengen eines echten Parasiten, welcher einen Teil seiner Nahrungsstoffe dem lebenden Holz der Bäume, auf denen er vegetiert, gewaltsam entzieht; es ist dies ein großer grüner Strauch mit glänzendem Laub und großen Dolden roter Blüten, der Zoranthus americanus. Von hohem systematischem und biologischem Interesse sind uns endlich einige niedere kryptogamische Gewächse: drei Flechten, welche wir an den Baumstümpfen der Lichtung finden. Dem Leser des Kosmos wird bekannt sein, dab die ganze große Klasse der Flechten aus sym- biontischen Formen, und zwar aus Konsortien von Pilzen und Algen be- steht, und dab sämtliche flechtenbildenden Pilze, soweit unsere Kenntnisse reichen, zu den Ascomyceten, d. h. zu einer systematisch scharf charak- terisierten Gruppe mit einer ganz bestimmten Art der Sporenbildung ge- hören. Von dieser Regel ist bisher nur eine einzige Ausnahme bekannt geworden, welche durch die tropische Flechtengattung Cora dargestellt wird. Diese Pflanze wird, wie wir seit drei Jahren wissen, aus einer grünen Alge und einem Basidiomyceten aufgebaut, und zwar gehört der letztere zu derselben Familie wie die Hutpilze, die gewöhnlichen Schwämme unserer Wälder. Wir sind nun nicht wenig überrascht und erfreut, in Laudat nicht allein üppige und reichliche Exemplare der seltenen Cora, sondern auch noch zwei neue Formen von Hutpilzflechten zu finden, welche von jener an Wuchs und Struktur erheblich abweichen. Zu Ehren der interessanten Örtlichkeit, an der wir uns befinden, taufen wir eine dieser neuen Formen mit dem Gattungsnamen Zanudatea ? So viel über die Pflanzenwelt von Laudat! Ein paar Worte seien nun noch den daselbst vorkommenden Tieren gewidmet. Auffallend durch ihre Menge und überraschend durch ihre Farbenpracht sind die Kolibris, welche, wie wir leicht wahrnehmen, drei verschiedenen Spezies angehören. Die größte derselben’, von 5 Zoll Länge, hat eine funkelnd karmoisin- rote Brust, einen glänzend violetten Rücken, ebenso gefärbte Flügel und einen breiten, grün und blau gefärbten Schwanz. Sie ist vielleicht die schönste Vogelart Westindiens und findet sich nur auf Dominica und dem benachbarten Martinique. Die zweite Art, von mittlerer Größe, welche auch anderwärts im tropischen Amerika vorkommt, hat eine vor- wiegend grüne Färbung, ist aber mit einem breiten blauen Bande auf der Brust geschmückt. Dieser Vogel ist so wenig scheu, daß die Kinder in Laudat ihn mit der Hand einfangen und sein Nest aufs leichteste in den Jambosa-Sträuchern ausfindig machen. Der dritte und häufigste Kolibri* endlich ist derselbe, den wir schon unten bei Roseau in der Zitronenpflanzung wahrnahmen; er hat ein metallisch grünes, wie ein Smaragd funkelndes Häubchen auf der Stirn und ist einer der ! So werden sie hingegen im Lande allgemein genannt. ® Eine Bearbeitung der "Hy menolichenen“ West-Indiens findet man in Prings- heim’s Jahrbüchern für wissensch. Botanik, Bd. XV, Heft 2, ® Polytmus (Eulampis) jugular:s. * Trochilus exilis, kreolisch, bezw. caribisch „Fou-Fou“. Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. II. 279 kleinsten existierenden Vögel, indem seine Gesamtlänge kaum zwei Zoll beträgt. Einen höchst merkwürdigen Gegensatz zu diesem winzigsten be- fiederten Geschöpf bildet ein in Laudat vorkommendes Insekt, welches buch- stäblich der größte aller existierenden Vertreter dieser Klasse ist und jenen Vogel an Körperlänge um das dreifache übertrifft. Es ist dies ein Käfer, der mit unserem Nashorn- oder Lohkäfer nahe verwandt ist. Die Entomologen haben ihn wegen seiner riesigen Dimensionen und der wirklich erstaunlichen Kraft, die er in seinen Gliedmaßen besitzt, mit dem schwungvollen Namen Dynastes Hercules belegt. Das Männchen ist, wie unser Hirschkäfer, mit zwei gewaltigen zangenähnlichen Fortsätzen am Kopfe bewaffnet, deren physiologische Bedeutung unbekannt ist; das Weibchen ist unbewehrt und von ungleich schmächtigerer Konstitution. Von anderen Insektenordnungen sind besonders die Hautflügler und zwar die Wespen durch ihr massenhaftes Vorkommen und ihre zahlreichen Nestbauten bemerkenswert. Letztere sind kleine, wabenartige Gebilde, welche oft in solcher Menge an den Baumzweigen und Blättern aufge- hängt sind, daß man beim Botanisieren, besonders von Epiphyten, sehr vorsichtig zu Werke gehen muß, wenn man sich nicht den Stichen der Tiere aussetzen will. Vertieft in die Betrachtung so vieler uns gänzlich neuer Tier- und Pflanzenformen haben wir kaum bemerkt, daß die Stunden des Nach- mittags verflossen sind und das Tageslicht im Schwinden begriffen ist. Wären wir wie der Eingeborıne mit den Tierstimmen des Waldes ver- traut gewesen, so würde uns der vor kurzem gehörte Ruf eines Vogels daran erinnert haben, dab eine halbe Stunde später die Sonne unter dem Horizont verschwunden und nach weiteren zehn Minuten die Nacht hereingebrochen sein würde. Der Sonnenuntergangsvogel ' — so berichtet ein amerikanischer Ornithologe ’, der den Vogel vor kurzem auf Dominica entdeckte — stößt während des ganzen Tages nur zweimal und zwar eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang und ebenso lange vor Sonnenunter- gang seinen eigentümlichen Schrei aus, um dann für den ganzen übrigen Teil des Tages keinen Laut mehr von sich zu geben. — Um wenigstens noch einige Minuten lang das unvergleichliche Schauspiel genießen zu können, welches ein Sonnenuntergang hier in den Bergen uns bietet, eilen wir zur Behausung des JusLes LAUDAT zurück, um von diesem höchstgelegenen Punkt der Lichtung aus unsere Blicke nach dem fernen Meeresspiegel im Westen hinüber: schweifen zu lassen. Die Sonnenscheibe ist bereits unter den Horizont hinabgetaucht, aber mit den glühendsten Farben malen ihre Strahlen noch die Wolken des Abendhimmels und spiegeln sich in der glatten Fläche der unermeßlich sich ausdehnenden See. In raschem lebendigem Wechsel folgen sich jetzt am Horizont die mannigfaltigsten Bilder, ynd ist das bunte Farbenspiel vorüber, so er- scheinen die Thäler und Schluchten zu unseren Füßen von einem milden ! Engl. Sunset-bird, kreol. Soleil-coucher (Myiarchus Ober‘). ? Ober, Camps in the Caribees. Boston, bei Lee & Shepard, 1880. 280 Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. I. gleichmäßigen Dämmerlicht übergossen. In dieser kurzen Zeitspanne, welche kaum eine Viertelstunde währt, ist die Luft am durchsichtigsten, die Aussicht am klarsten und das gesamte vor uns ausgebreitete Pancerama am reichsten an malerischen Effekten. Wie auf ein ge- gebenes Signal beginnen jetzt die Laubfrösche und Cikaden des Waldes ihr Konzert, welches laut und vielstimmig aus der Wildnis hervortönt. Rasch senkt sich dann der Schatten der Nacht über die ganze Land- schaft, und steht der Mond bereits am Himmel, so liegt jetzt ein neues Gemälde, noch poetischer als das entschwundene, vor unseren Augen. — Noch eine halbe Stunde ergehen wir uns in der herrlichen Abendluft, dann suchen wir unser bescheidenes Nachtlager auf, um für das morgige Tagewerk auszuruhen. Von einem erquickenden Schlaf ist indessen für uns aus dreierlei Gründen nicht wohl die Rede. Erstens sind unsere Nerven durch den raschen, fast unvermittelten Luft- und Temperatur- wechsel, dem wir im Laufe des Tages ausgesetzt gewesen sind, in eine eigentümliche Aufregung geraten, die uns nicht zur Ruhe kommen läßt; zweitens stört uns wohl eine Stunde lang die Familie LAupAr durch laut im Nebenzimmer vorgetragene Litaneien und Gebete, und drittens be- findet sich unter dem Fußboden unseres Gemaches die Nachtherberge der Schweine, welche sich durch beständiges Grunzen und Schobern an den Dielen auf das unangenehmste bemerkbar machen. Mit Sonnenaufgang weckt uns JULES LaupAT aus unserem unerquick - lichen Schlummer und treibt zum Aufbruch. Denn der heut zurückzu- legende Weg nach dem kochenden See ist weit und mühselig und wir müssen unbedingt dafür sorgen, vor Einbruch der Nacht wieder in Laudat zurück zu sein. Wir nehmen eilig unseren Morgenimbiß ein und stärken uns sodann für die kommenden Beschwerden durch ein Bad im benach- barten Walde. Eine schönere und idyllischere Örtlichkeit als den Bade- platz beiLaudat kann sich die Phantasie des Lesers nicht vergegen- wärtigen. Zwei reißende kleine Waldbäche, welche in anmutigen Kas- kaden von den Bergen herabkommen und von denen der eine warmes, der andere kaltes Quellwasser führt, vereinigen sich, nachdem sie schon vorher in mehreren, zum Baden wie geschaffenen Felsenwannen sich ge- sammelt haben, vor einem reizenden Bassin und füllen dann dasselbe, indem sie mit einem Wasserfall klarsten Wassers von angenehmster Tem- peratur sich gleich einer künstlichen Douche hineinergießen. Der Badende kann nun unter dreierlei Wasser von verschiedener Temperatur wählen oder nach Belieben mit den einzelnen Felsenwannen und Bassins wechseln. Die Vegetation des Platzes ist, da dem Boden hier reichliche Mengen von Feuchtigkeit zugeführt werden, von außerordentlicher Üppigkeit und Pracht. Die riesigsten Dursera-Bäume, deren Stämme sämtlich mit der kletternden Carludovica und kolossalen epiphytischen Aroideen geziert, deren Kronen hingegen durch ein unentwirrbares Geflecht von Lianen mit einander verwoben sind, bilden ein schattiges Dach über der üppig- sten Vegetation von Baumfarnen, Heliconien und blühenden Cephaälis- Sträuchern. Wenn ein Strahl der Sonne durch eine Lücke in dem Laub- dach hindurchfällt und in den zarten Kronen der Baumfarne zittert, Tr Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. II. 281 wenn Kolibris um die Blüten der Heliconien flattern und dazu die Kas- kaden rauschen und der Bergpfeifer seine langen, leisen Flötentöne me- lancholisch durch die Einsamkeit erklingen läßt, so hat man Mühe, an die Wirklichkeit der Szenerie zu Euhene und meint von einem feen- haften Paradiese zu träumen. Um 7 Uhr treten wir marschfertig bei JuLes LAupAT an und be- geben uns schleunigst unter seiner und seines 17jährigen Sohnes Führung auf den Weg nach dem kochenden See. Es gibt im Innern von Dominica zwei bemerkenswertere stehende Gewässer, welche man beide von Laudat aus erreichen kann. Das eine derselben, welches zum Unterschied von dem andern als »fresh water lake« bezeichnet wird und kaltes Wasser führt, liegt kaum eine Stunde weit von der Ansiedelung an einer idyllischen waldigen Örtlichkeit. Dieser See wird, da ein bequemer gutgehaltener Weg zu ihm hinführt, von Roseau aus vielfach besucht; er ist, obschon er ziemlich hoch über dem Meeresspiegel gelegen ist und wohl aus einem erloschenen Krater sich gebildet hat, weniger durch geologische Eigentümlichkeiten als durch die Schönheit seiner Umgebung hervorragend. Der andere der beiden Seen ist der weit berühmte, aber wenig gekannte »boiling lake of Do- minica«, der Zielpunkt unserer heutigen Exkursion. Vier Stunden von Laudat entfernt in den Bergen gelegen, inmitten einer schwer zugäng- lichen Wildnis von Urwäldern und Schluchten, ist dieser merkwürdige See erst vor sechs Jahren durch Zufall von einem amerikanischen Naturforscher entdeckt worden. Derselbe war — so erzählt man sich im Lande — im Innern der Insel von den Eingebornen, die ihm als Führer dienten, verlassen worden und hatte, nachdem er lange in den Urwäldern umhergeirrt war, eines Tages ein eigentümliches Sausen in der Luft ver- nommen. Der Richtung dieses Geräusches nachgehend, entdeckte er dann den kochenden See. Seit dieser Zeit ist der See mehrfach von dem in Roseau wohnenden Arzt, Dr. A. H. NıcHouts, und einigemale auch von Martinique und Trinidad aus besucht worden; den Bemühungen des erst- genannten, um die Insel vielfach verdienten Herrn ist es zu danken, daß von Laudat aus trotz ziemlich beträchtlicher Kosten ein Pfad durch den Wald bis in die Umgebung des Sees gehauen worden ist, so dab der Besuch des letzteren jetzt ohne allzugroße Strapazen ausgeführt werden kann. Auf diesem Pfade nun dringen auch wir jetzt in die Waldwildnis ein. Wir passieren: noch einmal unseren Badeplatz und treffen sodann nach einer halben Stunde Wanderns auf eine primitive Pisang- pflanzung, welche ein Bewohner von Laudat erst vor kurzem dem Urwalde abgerungen hat. Wild und unregelmäßig wuchern die Kultur- bäume noch zwischen den durch Feuer und Axt zerstörten Stämmen der Waldriesen, und noch machen ihnen Farne, Heliconien und wildes Scita- mineengestrüpp erfolgreich den Platz streitig. Erst wenn wiederholt die strauchigen oder baumartigen »Unkräuter« gerodet und die verkohlten Stämme zerbröckelt sein werden, wird Ordnung in der Pflanzung ein- kehren — vielleicht auch spottet die wilde Vegetation auf die Dauer den Bemühungen des Menschen oder die Pflanzung wird aus irgend einem 283 Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. I. anderen Grunde aufgegeben; dann findet wohl nach Jahrzehnten oder Jahrhunderten an dieser Stätte jemand ein paar Bananenstauden, ver- mischt mit Farnen, Heliconien und Palmen und beschattet von hohen Bursera-Bäumen, welche üppig aus dem Grabe ihrer Kameraden empor- gewachsen sind. Unmittelbar nachdem wir die Pflanzung durchschritten haben, ge- langen wir an einen reißenden Gebirgsbach, den wir nach vergeblichen Versuchen, ihn zu durchwaten, endlich auf dem Rücken des alten LaupAr glücklich passieren. Dann betreten wir einen hohen dunklen Wald von einer Erhabenheit und Großartigkeit, die uns fast beängstigt. Die Bäume haben hier eine solche Größe, daß es an keinem derselben ge- lingt, mit bloßem Auge etwas von der Gestalt der Blätter, der Blüten oder der Früchte zu erkennen. Auch die atmosphärische Vegetation thront hier in einer solchen Höhe, daß sie, selbst der Flinte unerreich- bar, nur durch herabgefallene Blätter und Früchte sowie durch die riesig langen tauartigen Wurzeln der Clusien ihr Dasein verrät. Ziehen wir mit der Hand an einem dieser elastischen. Taue, so hören wir wohl an dem Rauschen der Krone, daß sich ein Baumast bewegt, oder bemerken an dem herabstürzenden Wasser, daß wir die auf dem Aste wohnenden Tillandsien oder Brocchinien in eine schräge Lage gebracht haben; im einzelnen aber ist alles, was dort oben existiert und vorgeht, uns völlig verborgen, und nur in der Phantasie können wir uns ein Bild von dem reichen Leben in den Baumkronen entwerfen. Einige Arten schatten- liebender Epiphyten sind übrigens auch in geringerer Höhe über dem Erdboden an den Stämmen der Bäume zu finden, so vor allem die großen Anthurium-Arten mit ihrem massigen Wurzelgeflecht voll angehäufter Humus- stoffe und die schon öfters genannte (arludovica Plumieri, welche wir hier nur an ganz vereinzelten Bäumen vermissen. Das Unterholz wird, soweit es entwickelt ist, vorwiegend durch Sträucher aus den Familien der Piperaceen und Rubiaceen vertreten, ferner durch mehrere Arten von Baumfarnen, deren eine! einen mit Stacheln besetzten Stamm besitzt, und durch eine Palme?, welche in ihren jungen Blättern ein wohl- schmeckendes Gemüse liefert. Die krautige Vegetation am Boden besteht ganz überwiegend aus großen Heliconien und ansehnlichen Farnkräutern. Beide haben den Weg im Verein mit den Baumfarnen und Palmen stellen- weise so dicht überwuchert und verfilzt, daß wir uns genötigt sehen, von unseren Äxten energischen Gebrauch zu machen. Die Tierwelt in diesem Walde weist mehrere Formen auf, die der Erwähnung wert sind. Da ist zunächst ein kleiner Säuger’, zu den huftragenden Nagern gehörig, welcher hier und da flink über den Weg huscht und uns Gelegenheit gibt, unsere Weidmannskunst zu üben. Er hat ein recht schmackhaftes Fleisch und ist neben einer Art großer Holz- tauben, welche hier ebenfalls sehr häufig ist und allenthalben sich durch lautes Gurren in den Baumkronen bemerkbar macht, das einzige jagbare Tier im Lande. Größere Säugetiere wie Affen, Wiederkäuer, Schweine Uyathea Imrayana. Euterpe montana. Dasyprocta Aguti. Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. II. 283 u. dergl. fehlen auf Dominica gänzlich. Hingegen sind zwei große, pracht- voll gefärbte Papageienarten, von denen die eine zu Ehren ihres Ent- deckers, des schon öfters genannten Dr. NıcHorzs, den Namen Chrysotis Nichollsii erhalten hat, der Insel ausschließlich eigentümlich. Leider sind beide Vögel so wenig häufig und gleichzeitig so scheu, daß es uns nicht gelingt, eines Spezimens habhaft zu werden, obwohl wir an einer Stelle deutlich über uns das Geschrei und das Knistern vernehmen, welches die Papageien durch das Öffnen der ihnen zur Nahrung dienenden Baum- früchte hervorrufen. Wir wollen an dieser Stelle nicht unerwähnt lassen, daß die genannten Papageien nur eines der zahlreichen Beispiele für den eigenartigen endemischen Charakter der Vogelwelt Dominicas darstellen. Der Ornithologe Oser aus Boston, der im Jahre 1880/81 nach Dominica kam, um zum erstenmal die dortigen Vögel zu sammeln und zu studieren, war nicht wenig überrascht, einen ganz erheblichen Prozentsatz der auf der Insel überhaupt vorkommenden Vogelarten als vollkommen neu be- schreiben zu können. Dieser Thatsache entspricht dann auch die andere, daß die Anzahl der endemischen Gewächse unter allen kleinen Antillen auf Dominica bei weitem am größten ist!. Sehr merkwürdige Tiere, die wir nicht übergehen können, sind die großen Landkrabben, welche allent- halben auf dem Boden umherlaufen und sich mutig mit ihrer großen, ein- seitig entwickelten Schere gegen jeden Angriff verteidigen. Oser erzählt von diesen Tieren, dab sie die Lebensgewohnheit hätten, alljährlich in einem bestimmten Monat an den Meeresstrand hinabzuziehen, um ihre Eier in Salzwasser abzulegen, und daß man um diese Zeit große, nach Tausenden und aber Tausenden zählende Krabbenheere auf der Wander- ung begriffen anträfe. Unser zuerst ziemlich ebener Weg führt nun weiterhin durch tiefe, oft dicht verwachsene Schluchten und bringt uns nach zweistündiger Wan- derung von Laudat aus an das Ufer eines zweiten, mit klarstem Wasser erfüllten Gebirgsflusses, woselbst wir eine letzte kurze Rast uns gönnen. Dieser Fluß führt — wie der alte LaupAr uns mitteilt — den eigentümlichen Namen »Riviere-dejeuner«, und zwar aus keinem andern Grunde, als weil jedermann, der von Laudat aus den kochenden See besucht, am Ufer des Flusses gegen 10 Uhr vormittags anzukommen und sein Frühstück an dieser Stelle einzunehmen pflegt. Was uns betrifft, so setzen wir uns auf einen der umherliegenden großen Steine und — thun desgleichen. Die Vegetation dieses Platzes ist von großer Üppig- keit und von romantischer Schönheit. Wir bewundern vor allem die Palmen (Euterpe montana) und Baumfarne, welche die Abhänge an beiden Ufern zieren und sich hier, wo sie dem Schatten der Waldbäume entrückt sind und in feuchter, kühler Bergluft vegetieren, außerordentlich frisch und kräftig entwickelt haben. Am andern Ufer erwartet uns ein sehr steiler und mühsamer An- stieg an einer mit Buschwerk bekleideten Felswand. Nach einer Stunde Kletterns auf dicht verwachsenem Steige langen wir endlich auf dem ! Nach den jedenfalls zu tief gegriffenen (weil auf sehr unvollständigem Ma- terial beruhenden) Angaben Grisebach's beträgt sie 29. („Die Vegetation der Erde“, Bd. II, p. 354.) 284 Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. II. Gipfel eines Berges an und blicken auf ein Panorama von überraschender Großartigkeit, aber zugleich erschreckender Wildheit: Hinter uns im Westen liegt der durchwanderte Urwald und das enge, grüne Thal des »Frühstücksflusses«, vor uns im Osten dehnt sich eine kahle schluch- tenreiche Wildnis aus, die mit vulkanischem Eruptivgestein und gelber Schwefelblüte übersät, von heißen Quellen, Bächen, Fumarolen und Solfataren durchzischt, mit den Überresten zerstörter Wälder be- deckt und von einer hohen, bis in die Wolken reichenden Dampfsäule gekrönt ist. Hinter einer Biegung des Thales zu unseren Füßen ertönt ein dumpfes, donnerähnliches Sausen, welches uns zusammen mit der senkrechten Dampfsäule die Richtung angibt, in welcher der kochende See gelegen ist. Wir klettern an der steilen Felswand in das Thal hin- unter durch einen Wald von zu Asche verbrannten, aber noch aufrecht stehenden Bäumen. Dieses grausige Werk der Zerstörung rührt von einer Eruption des Sees her, welche im Jahre 1880 stattfand und bei welcher grobe Mengen von glühender Asche und heibem Schlamm über die be- waldeten Thalwände geschüttet wurden. Zwischen den grauen Stämmen, welche so morsch sind, daß sie bei dem kleinsten Anstoß zusammen- fallen und beim Hinabklettern an dem Abhang nicht den geringsten Halt gewähren, ist der Boden überall mit Auswurfstoffen und Steingeröll be- deckt, zwischen welchem nur hier und da eine spärliche Vegetation von Lycopodien und Farnen !, trockenen Gräsern und Bromeliaceen? sich an- gesiedelt hat. Ein paar in den Steinritzen erwachsene Exemplare von Charianthus glaberrimus? und von Phytolacca icosandra, ein an feuchten Stellen wucherndes Moos und eine blaugrüne Fadenalge, die in den warmen Quellen vegetiert, vervollständigen die Flora dieser schrecklichen Einöde. In der Sohle des Thales strömt ein warmes dampfendes Flüßchen, welches durch kleine allenthalben hervorsprudelnde Bäche gespeist wird, schäumend zwischen Felsblöcken dahin. Die meisten dieser Zuflüsse führen farbiges Wasser, der eine blaues, ein zweiter gelbes, ein dritter milch- weißes, ein vierter braunrotes u. s. w., je nach den mineralischen Be- standteilen, die ein jeder suspendiert oder aufgelöst enthält. An man- chen Stellen zischen wässerige und schwefelige Dämpfe wie aus geöffneten Ventilen einer Dampfmaschine aus dem Boden hervor, und hier und da befindet sich ein brodelndes Bassin, aus dem sich große Gasblasen mit Vehemenz entbinden. Das Flußbett selbst ist mit großen Steinen und Blöcken besät, über die hin wir unsern Weg zu nehmen haben. Wohl eine Stunde lang bewegen wir uns der Richtung des Flüßchens entgegen, indem wir uns nicht ohne Gefahr mit Hilfe einer Springstange von einem Block zum andern schwingen, und kommen endlich aufs äußerste er- mattet am Rande des kochenden Sees an. Ein Blick auf den höllischen Kessel, der vor uns liegt, belehrt uns, daß wir hier an dem Schlunde eines noch thätigen Vulkans stehen. Das Bassin, welches den See bildet, liegt in der Mitte eines tiefen, steil ab- I Gymnogramme chrysophylla („Gold- and Silver-farn“). ? Pitcairnia angustifolia. ® eine Melastomatee. Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. II, 285 fallenden Beckens, des eigentlichen Kraters, in welchen von Norden her zwei Bäche sich ergießen. Der eine dieser Bäche führt kaltes, eisen- haltiges Wasser und strömt am Rande des Bassins vorbei, um sich mit dem heißen Abfluß desselben zu vereinigen, der andere hingegen, welcher warmes Wasser führt, ergießt sich in den kochenden See. An der Süd- seite des Kraters ist eine große Öffnung in der Wand vorhanden, durch welche der Abfluß des Sees stattfindet. Diese Lücke ist indessen ganz rezenten Ursprungs; sie rührt von der großen Katastrophe vom Jahre 1880 her, welche eine gewaltsame Durchbrechung der Südwand des Kraters sowie die Zerstörung der Wälder in der Umgebung zur Folge hatte. Vor diesem Zeitpunkte war das von dem See eingenommene Areal um das dreifache umfangreicher als heute, wo der »See« auf ein kreis- rundes Becken von 45 Schritt im Durchmesser beschränkt ist. In der Mitte dieses Bassins befindet sich ein aus einer schwarzen Schlammsäule bestehender Geyser, welcher zur Zeit, als der Verfasser ihn beobachtete, etwa 15—20 Fuß hoch emporsprang. Andere Beobachter haben ihn indessen zu einer Höhe von 60—100 Fuß steigen sehen; eine solche Erhöhung der vulkanischen Thätigkeit soll immer in eine an Erdbeben reiche Periode fallen. Im Innern der Schlammsäule des Geysers bemerken wir, wenn der Wind zufällig die darüber lagernde Dampfwolke bei Seite legt, ein eigen- tümliches, anscheinend tuffsteinartiges Gebilde, über dessen nähere Natur jedoch nichts Genaues zu ermitteln ist. Große Mengen schwefelhaltiger Gase entbinden sich auf der ganzen Oberfläche des Beckens aus der schwarzen, schlammigen Flüssigkeit und erregen ein lautes Dröhnen und ‚Sausen, welches den unheimlichen Eindruck nur vermehrt, den die ganze Örtlichkeit bei dem Besucher hervorruft. — Wir aber stehen hier am Zielpunkt unserer Exkursion in das Innere von Dominica. Darwinistische Streitfragen. Von Moritz Wagner. IV. Chorologische Thatsachen. (Schluß.) Asien, besonders diejenigen Teile des großen Kontinents, welche die mächtigsten Bodenanschwellungen der Erde tragen: Zentralasien mit dem Altai, Thian-schan und ihren östlichen Ausläufern und Zweiggebirgen sowie die südlich sich anschließenden Gebirgssysteme mit dem Himalaya, dem Kuen-lün, Karakorum, Hindukusch, sie erscheinen durch ihre Relief- verhältnisse vor allen geeignet, in den vorkommenden Thatsachen der Verteilung ihrer organischen Formen die Richtigkeit der Migrationstheorie zu prüfen. Leider sind aber diese durch ihren orographischen Bau so überaus merkwürdigen asiatischen Hochländer in ihren einzelnen Teilen noch zu lückenhaft erforscht. Selbst die lehrreichen Sammlungen, die wir nament- lich von verschiedenen Gebirgsländern des Himalaya erhalten haben, sind im Vergleich mit der ungeheuren Ausdehnung dieser Hochgebirge noch zu ungenügend, um uns in die chorologischen Verhältnisse ihrer Floren und Faunen eine volle Einsicht zu gewähren. Immerhin bezeugen aber die bisher erhaltenen Sammlungen und angestellten Beobachtungen, daß die Mannigfaltigkeit der organischen Formen in Hochasien eine überaus große ist und dab die Reliefverhältnisse, welche dort die isolierten Ko- lonienbildungen der Organismen so vielfach begünstigten, bei diesem Formenreichtum eine sehr bedeutsame Rolle spielen. Die weitere Erforschung Hochasiens wird uns ohne allen Zweifel in dieser Beziehung noch viele neue wichtige Aufschlüsse bringen. Kein anderer Weltteil hat für die Lösung des phylogenetischen Problems durch chorologische Thatsachen eine größere Bedeutung, denn in keinem an- deren Kontinent waren die Bedingungen für die Entstehung einer großen Mannigfaltigkeit von geschlossenen Formenkreisen in beiden organischen Reichen günstiger als in Asien. [2 Moritz Wagner, Darwinistische Streitfragen. IV, 287 Wenn wir in diesem Beitrag nur einen kurzen eingehenden Blick auf einen verhältnismäßig kleinen Teil Vorderasiens werfen und uns hier mit der Betrachtung des chorologischen Vorkommens einer einzigen, aber sehr instruktiven artenreichen Familie aus einer niederen Tierklasse be- gnügen, so geschieht es, weil gerade dieser Teil des großen Weltteils in zoologischer Hinsicht genauer erforscht ist und weil die plastischen Bodenverhältnisse der betreffenden Länder einen sichern Einblick in die Wirkungen gestatten, welche ihre trennenden mechanischen Schranken auf die Bildung einer großen Anzahl guter Arten und Varietäten übten. Afrika erscheint dagegen in ganz anderer Weise wie Asien und Europa als ein für die kritische Prüfung des phylogenetischen Problems wichtiger und geeigneter Erdteil.e. Nicht nur an seinem südlichen Ende, wo trockene und gut bewässerte Gegenden in schroffem Wechsel sich folgen und wo wir schon im Kapland und in den angrenzenden Provinzen einer staunenswerten Formenmannigfaltigkeit aus beiden organischen Reichen begegnen, sondern auch in den nördlichen, das Mittelmeer be- rührenden Küstenländern dieses Kontinents offenbaren sich auf das deut- lichste die Wirkungen, welche selbst geringe mechanische Schranken ss Reliefs auf die Umwandlung vieler Arten übten. In gewisser Hinsicht ist der einfachere geologische Bau Afrikas, soweit wir denselben kennen, für die kritische Untersuchung der großen Streitfrage bezüglich der wirkenden Ursachen morphologischer Veränder- ungen noch lehrreicher als die kompliziertere Orographie der meisten Länder Asiens und Europas, wo mit der räumlichen Absonderung oft auch schroffer Klimawechsel als Folge der vorherrschenden ostwestlichen Richtung der Hochgebirgsketten auf die Transmutation vieler Arten einen verstärkten Einfluß übte und wo daher die einfachen Wirkungen der Migrationen und der isolierten Kolonien meist viel schwieriger nachweis- bar sind. Wenn sich in Nordafrika die wirksamen Faktoren der soma- tischen Umprägung auch nur bei Organismen von geringer Mobilität, wie bei gewissen Gattungen von Coleopteren, Arachniden und Landmollusken sehr deutlich erkennen lassen, so ist diese Erkenntnis der kausalen Fak- toren doch gerade wegen der Einfachheit der topographischen Verhält- nisse von Wichtigkeit. In der ganzen Peripherie seiner Küstenausdehnung hat Afrika die relativ gleichmäßigste Temperatur. Bei völligem Mangel einer kalten Zone und bei der relativen Seltenheit von parallelen Hochgebirgsketten sind die Übergänge der heißen Zone in die gemäßigte sehr allmähliche. Mit Ausnahme der großen Sandwüsten sind die trennenden Barrieren, welche die mas senhaften Wanderungen der Organismen erschweren, minder schroff als in anderen Kontinenten, aber doch zahlreich genug, um die Entstehung guter vikarierender Arten durch isolierte Kolonien- bildungen zu begünstigen. Wenn daher trotz der viel geringeren klimatischen Differenzen den- noch ein sehr auffallender Artenwechsel in der ganzen Ausdehnung des afrikanischen Litorals bei allen schwerfälligen Formen, die sich leicht isolieren, zu erkennen ist, während sehr mobile Formen die entgegen- gesetzte Erscheinung, nämlich große Ausdehnung ihrer zusammenhängenden. 288 Moritz Wagner, Darwinistische Streitfragen. IV. Wohngebiete zeigen, so ist diese Thatsache in hohem Grade geeignet, für die Wirkung der mechanischen Ursache der Speziesbildung durch einfache Kreuzungsverhinderung ein starkes Zeugnis abzugeben. Der orographischen Eigentümlichkeit des großen Festlandes ent- sprechend zeigt uns die afrikanische Tierwelt auffallend artenreiche weitverbreitete Gattungen. Im Litoral nehmen die Arten von geringer oder mäßiger Lokomotionsfähigkeit in der Regel nur ein sehr beschränktes Wohngebiet ein, während in den ausgedehnteren Plateau- landschaften des Innern auch die schwerfälligen Spezies oft verhältnis- mäßig ziemlich umfangreiche Verbreitungsbezirke bewohnen und viele leicht wandernde Arten, wie der Löwe, Leopard, Elefant, Giraffe, Strauß ete. über ungeheure Räume ohne erhebliche Varietätenbildung sich verbreiten. Im afrikanischen Binnenland haben mehr die sporadi- schen Lücken der Verbreitungsgebiete, im Küstenland dagegen mehr die mechanischen Schranken der Flüsse, der Vorgebirge, der Uferklippen und am nordwestlichen Gestade auch die Wüste als Hindernisse der Massen- verbreitung einen bestimmenden Einfluß auf die räumliche Abgrenzung und die Entstehung neuer Formen geübt. Die artenreichste Klasse des Tierreiches, die Insekten sind in Afrika wie in anderen Weltteilen vorzüglich geeignet, durch das Studium sowohl ihrer Verbreitung über weite Gebiete als ihres lokalen Vorkommens die mechanische Ursache der Entstehung vikarierender Spezies deutlich zu offenbaren. Hier sehen wir in der Ordnung der Coleopteren unter den vielen charakteristischen Gattungen zwei sehr bekannte formen- reiche Genera: Graphipterus und Anthia. Von der erstgenannten Gattung kennen wir 42, von der anderen 51 gute Spezies mit konstanten unter- scheidenden Merkmalen. All’ diese guten Arten erscheinen vorherrschend als vikarierende Formen, d. h. räumlich von einander geschieden und doch morphologisch sehr nahe verwandt. Die mechanischen Schranken, welche sie trennen, sind meist Flüsse, in einigen Gegenden auch vor- springende Uferklippen, Vorgebirge oder Ausläufer von Höhenzügen und im nordwestlichen Litoral, welches die Sahara berührt, bilden völlig trockene Wüstenteile die Scheidewand. Von den einzelnen Teilen Afrikas ist die südliche Spitze, das ganze Kapland mit seinen nächsten Grenz- ländern längst schon bekannt durch die außerordentliche Mannigfaltigkeit seiner Tier- und Pflanzenformen und damit vortrefflich geeignet, die Richtigkeit der Expansionshypothese L. v. BucH’s zu prüfen und zu be- stätigen. Nirgends sonstwo tritt unter auberordentlicher Begünstigung der physikalischen Verhältnisse, besonders infolge des häufigen Wechsels von sehr trockenen und sehr wasserreichen Landschaften, sowie infolge der oft wiederholten Unterbrechung von Wald, Steppe und Wüste ein so auffallender Wechsel der vikarierenden Arten auf. Dabei sieht man aber auch namentlich unter den sehr mobilen Organismen zahlreiche verwandte Formen gesellig miteinander und durcheinander gemischt. Es sind aber immer nur solche Formen, welche eine starke Lokomotions- fähigkeit besitzen, während die schwerfälligen Formen dauernd getrennt sind. Lokale Verhältnisse begünstigen dort die Bildung der Arten an getrennten Standorten ungemein, aber auch die Entstehung und Aus- Moritz Wagner, Darwinistische Streitfragen. IV. 289 breitung von Bindegliedern und Übergangsformen bei ungenügenden me- chanischen Schranken. Noch zugänglicher der prüfenden Untersuchung unserer Naturforscher und in gewisser Beziehung sogar noch instruktiver für das phylogene- tische Problem ist Afrikas nördlichster Teil, das ganze ausgedehnte süd- liche Litoral des mittelländischen Meeres von der Meerenge von Gibraltar bis zur Landenge von Suez. Hier tritt in ungewöhnlicher Zahl und Mannigfaltigkeit eine überaus merkwürdige Käferfamilie auf, welche schon lange, bevor Darwın'sche Fragen diskutiert ‚wurden, die Aufmerksamkeit der beschreibenden Systematiker und namentlich der Zoogeographen erregte. Keine andere Familie irgend einer Klasse oder Ordnung des ganzen Tierreiches mit einziger Ausnahme der Carabiden hat eine gleich sroße Anzahl von Gattungen und Arten aufzuweisen wie die von LATREILLE aufgestellte und gut beschriebene Familie der Melasomen (Tene- brioniden Farkr.), von der wir bereits gegen 400 Genera und viele Tausende von Spezies kennen'. Die Melasomen eignen sich zur kritischen ‚Prüfung der phylogenetischen Frage sogar noch vorzüglicher als selbst die Spongien, da sie als Landtiere der genauesten Untersuchung ihrer Lebensweise, ihrer Metamorphose und geographischen Verbreitung zu- gänglicher sind. In morphologischer Beziehung sind die Melasomen passender als irgend eine andere Insektenfamilie, um uns hinsichtlich der Ursachen ihrer Differenzierung bestimmte Anhaltspunkte zu geben. Nach dem Urteil der bewährtesten Fachmänner vereinigt diese Familie mit ungemein großen morphologischen Differenzen ihrer zahlreichen Mit- glieder in. der äußeren Erscheinung, zugleich eine sehr scharf ausgeprägte Familieneigentümlichkeit in gewissen konstanten charakteristischen Merk- malen. Die Melasomen haben durchaus vorherrschend eine düstere, meist schwarze Färbung und zugleich eine ebenso häufige Verkümmerung der Hinterflügel und eine damit verbundene Verwachsung der Flügel- decken. Sämtliche Arten dieser großen Familie besitzen an den Vorder- und Mittelbeinen fünf-, an den Hinterbeinen viergliedrige Tarsen, das Kinn ist in einer Ausrandung der Kehle eingelenkt, der OÖberkiefer kurz und kräftig, die Augen sind quer, vorn ausgebuchtet und die Hüften stets getrennt. Der Hinterleib ist mit freien Ventralringen ausgezeichnet. ! Gute monographische Schriften über diese wichtige Coleopterenfamilie lieferten Solier: Essai d’une division des Col&opteres heteromeres. Baudi und Truqui: Studi entomologiei. Mulsant und Rey: Essai d’une division des Mela- somes. EM kritisches Verzeichnis der zahlreichen Gattungen und Arten der Me- lasomen gibt uns der von Dr. Max Gemminger undB. von Harold heraus- gegebene „Catalogus Coleopterorum hucusque descriptorum synonymicus et syste- maticus“. Dieser umfangreiche Katalog, ein glänzendes Zeugnis deutschen Fleißes, ist nicht nur für den Entomologen und Systematiker, sondern auch für jeden Zo0- geographen unentbehrlich, indem derselbe zugleich die zuverlässigsten Angaben hinsichtlich der Heimat der meisten einzelnen Coleopterenarten enthält. Daß sich im ein so umfangreiches Werk auch sehr viele Irrtümer der Heimatangaben ein- geschlichen haben, war kaum zu vermeiden. Diese Irrtümer kamen in die ento- mologische Litteratur oft durch absichtlich falsche Angaben gewissenloser Sammler und Händler, welche aus den wirklichen Fundorten neu entdeckter Arten ein Ge- heimnis machten. Kosmos 1884, II. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XV). 19 290 Moritz Wagner, Darwinistische Streitfragen. IV. Die Larven der Melasomen sind immer lang gestreckt, schmal, etwas niedergedrückt, ganz hornig. Wenn wir bei dieser so wichtigen Coleopterenfamilie etwas ein- gehender verweilen, so mag dies hier seine Rechtfertigung in der über- aus merkwürdigen geographischen Verbreitung finden, auf welche scharf- sinnige Entomologen wie ErıcHhson und A. GERSTÄCKER schon vor einigen Jahrzehnten mit Recht die Aufmerksamkeit lenkten und welche uns so be- deutsame Aufschlüsse für das phylogenetische Problem darbietet. Während einzelne Gruppen dieser Familie wie die Tene- brionen, Helopiden, Taxicornen ziemlich gleichmäßig verteilt sind, zeigen uns die eigentlichen an den Erdboden gebundenen Mela- somen bei einem staunenswerten Formenreichtum eine scharf mar- kierte geographische Verbreitung, welche einerseits auf ganz Afrika mit Einschluß der europäischen Mittelmeerküste und die angren- zenden Länder Vorderasiens beschränkt ist, während anderseits die am westlichen Litoral Nord- und Südamerikas vorkommenden charakteristi- schen Gattungen eine zusammenhängende Reihe von analogen vikarie- renden generischen Formen zeigen Für die Küstenländer des Mittelmeeres sind namentlich die Gat- tungen Pimelia, Erodius, Zophosis, Adesmia, Blaps, Tentyria ausgezeichnete Typen und höchst geeignet, in der ganzen Reihenfolge ihrer vor- herrschend abgesonderten, aber doch nachbarlich aneinander gereihten Standorte der zahlreichen Spezies den formbildenden Einfluß einer allmählichen Expansion verbunden mit einer Iso- lierung von genügender Dauer in deutlichster Weise zu offen- baren. An diese generischen Formen schließen sich andere verwandte Gattungen in größeren geographischen Intervallen, das ganze afrikanische Küstenland und Westasien bewohnend an, von denen einzelne Genera merkwürdigerweise ganz monotypisch sind wie z. B. Chirosis, Calosis, Ophthalmosis, Anisosis, Piestognathus etc. etc. Die ausgedehnteren Zwischen- räume, welche diese vikarierenden Gattungen von einander scheiden, erklären uns jedoch genügend ihre typische Eigentümlichkeit in voll- ständigem Einklang mit der Migrationstheorie. Von der Gattung Pimelia kennen wir 139 Arten, welche größten- teils dem Litoral des Mittelmeeres angehören, während andere an der Küste Westafrikas bis zum Kapland auftreten und einige wenige ostwärts bis zum Pontus und selbst zum kaspischen Meer und Aralsee als fernste Pioniere der Gattung vordringen. Jedes Land, ja selbst jede Litoral- provinz, welche durch irgend eine schmale mechanische Schranke wie z. B. einen Fluß oder einen bis zum Gestade reichenden Höhenzug eine Grenzmarke zeigt, besitzt gewöhnlich ihre eigene Art. Jenseits der Grenz- marke aber erscheint eine andere vikarierende Art meist in schärfster Absonderung. Da die ganze Gattung Pimelia zu denjenigen Typen von Melasomen gehört, welche nicht, wie die meisten anderen Genera, licht- scheu und träge sich verbirgt, sondern vielmehr der Sonne nachgeht, und ihre Arten gewöhnlich in großer Individuenzahl den äußersten Sand- streifen des Litorals bewohnen, so ist auch dieser Umstand überaus günstig zur genauesten Beobachtung nicht nur der Lebensweise und des Moritz Wagner, Darwinistische Streitfragen. IV. 291 lokalen Vorkommens, sondern auch ihrer weiteren geographischen Ver- breitung und der Umstände, welche die Expansion teils hemmen, teils erleichtern. Schritt für Schritt sind wir im stande, am nordafrikanischen Litoral in der ganzen Ausdehnung von West nach Ost diese Verhältnisse zu verfolgen. Wir erkennen klar und deutlich, daß hier jeder Fluß, wenn er auch nur, wie der Schelif östlich von Mostaganem oder wie der Seybuß bei Bona, von mäßiger Breite ist, doch in der Regel zwei verschiedene Pimelia-Arten trennt, von denen die eine Art ausschließ- lich nur das rechte, die andere ausschließlich nur das linke Ufer be- wohnt. Doch ist dieses sehr bezeichnende Vorkommen keineswegs nur auf die verschiedenen Arten der Gattung Pimelia und andere schwerfällige Melasomen beschränkt, sondern dasselbe wiederholt sich am ganzen Litoral Nordafrikas wie auch fast in allen Küstenlandschaften Südeuropas auch bei anderen Coleopterengattungen. Immer aber sind es nur solche Typen von Coleopteren, deren verwachsene Flügeldecken eine massenhafte Aus- breitung, also eine Migration in großer Individuenzahl erschweren, da- gegen die Isolierung einzelner Emigranten begünstigen. In auffallendster Weise sieht man hier bei allen fliegenden Insekten, wie überhaupt bei allen leicht beweglichen Tierformen, welchen die Schranken eines Flusses oder eines Vorgebirges kein Hindernis für massenhafte Expansion sind, das gerade Gegenteil des Vorkommens der Melasomen, nämlich sehr weitreichende und langgestreckte Verbreitungsgebiete meist ohne Artenwechsel. Dies zeigen uns alle vorkommenden Lepidopteren und Hymenopteren, sowie auch alle Vogelarten, während die schwerfälligen Landmollusken, besonders AHelix-Arten, in ihrem Vorkommen genau die- selben Erscheinngen von schroffem Wechsel der Formen offenbaren wie sämtliche Melasomen. | Jeder beobachtende Naturforscher, jeder sammelnde Zooioge, welcher Nordafrika in der ganzen Ausdehnung seines Litorals von den westlichen Provinzen Marokkos bis Ägypten und Syrien durchwandert, wird die Richtigkeit dieser bedeutsamen Thatsachen im großen und ganzen be- stätigt finden. Schritt für ‚Schritt wird er sich von dem plötzlichen teilweisen Wechsel der Fauna des äubersten Litoralgürtels überzeugen, so oft ein reißbender Fluß oder ein vorspringendes schroffes Felsgebirge, welches den schmalen Dünenstreifen verdrängt, der Wanderung schwer- fälliger Formen eine Schranke entgegensetzt. Die Küste bei Tanger zeigt uns andere Melasomenarten als das sandige Gestade bei Oran. Zwischen Oran und Arzew tritt ein neuer Wechsel endemischer Arten auf, deren Trennung ein schmaler Höhenzug markiert, welcher hier schroff gegen die Meeresküste abfällt. Dagegen verschwinden wieder gewisse Arten der Litoralfauna etwas weiter östlich am sandigen Gestade bei Mostaganem, wo z. B. die Gattungen Adesmia und Sepidium nicht mehr vorkommen, während an ihrer Stelle einige neue generische Formen und eine relativ ziemlich große Anzahl neuer Spezies erscheinen. Die Grenzlinie scheint hier durch einen schmalen Fluß gebildet zu sein. Selbst unter den Ciecindeliden tritt bei Mostaganem plötzlich eine ausgezeich- nete endemische Art auf, in welcher der französische Entomolog Duroxr sogar eine besondere Gattung (ZLaphyra) erkennen wollte und welche sich 9393 Moritz Wagner, Darwinistische Streitfragen. IV. von den verwandten Nachbararten der Gattung (ieindela auch durch einen schwerfälligeren Flug unterscheidet. Ebenso findet sich hier das Genus Graphipterus durch eine neue ausgezeichnete vikarierende Art (@. lıc- fuosus Des.) vertreten, welche bei Oran fehlt und hier durch @. exela- mationis ersetzt ist. Die endemische Litoralfauna von Mostaganem reicht bis an das westliche Ufer des Schelif, des größten Flusses von Algerien, der mehr infolge seiner starken Strömung als seiner Breite eine wichtige Grenz- marke für eine Anzahl von Speziesformen bildet, welche diese Schranke nicht in größerer Individuenzahl zu überschreiten vermochten. Am öst- lichen Schelifufer treten neue endemische Formen auf, welche für das ganze Litoral von Scherschel bis Algier bezeichnend sind und bis an das Cap Matifu reichen. Östlich von diesem Vorgebirge bei Dellys und Bu- dschia erscheinen zum Teil wieder andere Arten der Gattungen Pimelia, Erodius, Zophosis, Tentyria, Blaps, welche am Gestade von Bona, wo der Fluß Seybuß eine trennende Schranke bildet, abermals durch neu auftretende ähnliche, aber gut charakterisierte endemische Arten ersetzt werden. Analoge schroffe Änderungen der Litoralfauna mit Artenwechsel, besonders an den schwerfälligen Melasomen erkennbar und stets durch schmale mechanische Schranken der Micvation bezeichnet, dauern durch den ganzen östlichen Küstenstrich der Berberei über Tunis und Tripolis bis zur Cyrenaika fort, deren dürftige Coleopterenfauna uns leider nur sehr fragmentarisch bekannt ist. Dieser höchst merkwürdige Wechsel endemischer Typen im nord- afrikanischen Litoral der ganzen Berberei beschränkt sich indessen, wie wir bereits andeuteten und hier nachdrucksvoll wiederholen, auf Tier- formen von geringer Mobilität, bei den Coleopteren mit wenigen Aus- nahmen fast nur auf Gattungen mit verwachsenen Flügeldecken. Gerade dieser Umstand ist aber für die phylogenetische Frage sehr belehrend und wichtig. Es sind immer nur solche Typen, deren Ausbreitung selbst durch geringe mechanisch Schranken gehemmt und unterbrochen wird, während die Isolierung einzelner Individuen meist durch passive Migra- tion begünstigt ist. Diese bedeutsame Thatsache wird jeder aufmerksame Beobachter am nordafrikanischen Gestade besonders deutlich in der Nähe der Flußmündungen wahrnehmen. Das Vorkommen der Gattung Pimelia liefert dafür die zahlreichsten Beispiele. Die passive Migration scheint bei ihr noch wirksamer einzugreifen als die aktiven Wanderungen. Es wird einem schwerfälligen Käfer dieser Gattung nur höchst selten ge- lingen, einen reißenden Fluß von mäßiger Breite schwimmend zu über- schreiten, aber wenn derselbe zufällig am Gestade bei stürmischer See von den brandenden Wogen erfaßt und in das Meer getragen wird, was gar nicht selten vorkommt, so kann er am anderen Ufer der Flußmündung von der Brandung auch wieder ausgeworfen werden, was in einzelnen Fällen gewiß auch stattfindet. Ist dieser Ansiedler an einem neuen Stand- ort zufällig ein trächtiges Weibchen, das seine Eier in den Sand legt, so wird dasselbe gewöhnlich die Stammmutter einer veränderten Form, d. h. einer neuen Art oder Varietät, denn die Fähigkeit, individuelle Merkmale in den Abkömmlingen fortzubilden, verbunden mit ‚einer Än- Moritz Wagner, Darwinistische Streitfragen. IV. 293 derung in der Übung der Organe, um sich Nahrung zu verschaffen, also eine Änderung in den Lebensbedingungen, die mit jedem Standortswechsel erfolgt, müssen ihre transformierende Wirkung in jeder neuen Kolonie notwendig zur Geltung bringen. Daß die Transformation wirklich statt- findet, dafür zeugt einfach die Thatsache des häufigen Artenwechsels jenseits der äußeren Schranken. Einen anderen Beweis für die Umwandlung der Arten durch räum- liche Sonderung liefert uns hier die bereits erwähnte negative Thatsache: daß bei sehr mobilen Formen, nämlich bei allen leicht fliegenden Käfer- gattungen, wie z. B. sämtlichen Buprestiden, ebenso wie bei den Schmetter- lingen, Hymenopteren und bei sämtlichen Vogelarten der Berberei die entgegengesetzte Erscheinung eintritt, nämlich kein schroffer Artenwechsel in der ganzen westöstlichen Ausdehnung des Litorals, dagegen eine sehr weite Verbreitung der gleichen Spezies. Das Rebhuhn der Berberei (Perdix petrosa) kommt ohne jede Änderung in Form und Farbe von Marokko bis Tripolis vor und es fehlt hier die vikarierende Form, während dasselbe im Litoral von Südeuropa bekanntlich durch eine andere vika- rierende Art (Perdix rubra) ersetzt ist. Unter den Lepidopteren liefert Pontia Douei, die stellvertretende Form Nordafrikas für die durch ganz Südeuropa verbreitete nahe verwandte Pontia Eupheno, ein recht charak- teristisches Beispiel. Dem leicht fliegenden afrikanischen Falter waren Vorgebirge und Flüsse kein Hemmnis einer massenhaften Expansion. Daher sehen wir die gleiche Form diesseits wie jenseits der mechanischen Schranken. Wirklich vikarierende Arten fehlen in Nordafrika den meisten leicht beweglichen Gattungen der Lepidopteren. Auch südlich vom Atlasgebirge in den inselförmig getrennten Oasen der Sahara sehen wir, soweit die Beobachtungen der dort eingedrungenen französischen Forscher und Sammler reichen, durchaus analoge Erschein- ungen. ‘ Die Familie der Melasomen ist auch in der Wüste ziemlich zahl- reich vertreten und die endemischen Arten scheinen in jeder größeren Öasengruppe teilweise zu wechseln. Auch unter den Pflanzen zeigt sich ein sehr merkbarer Endemismus. Pflanzenarten mit leicht beweglichen Samen kommen in verschiedenen Oasen ohne Veränderung vor, während die Spezies von schwerfälliger Verbreitung ebenso häufig wie bei den Käfern wechseln. Der französische Botaniker Cossox hat in der alge- rischen Sahara nahezu 500 Arten gesammelt, von welchen über ein Dritt- teil (etwa 36 Prozent) endemisch ist. Unter den Pflanzenfamilien dieses Teiles der großen afrikanischen Wüste dominieren an Artenreichtum die Synanthereen und Gramineen und nach ihnen die Cruciferen und Leguminosen. Die Gramineen sind wegen der leichtern Beweglich- keit ihres Samens und weil dieselben auch durch die wandernden Kamele leichter verbreitet werden, oft ohne Veränderung auf mehreren Oasen- gruppen verteilt, während die übrigen Pflanzenfamilien eine viel be- schränktere Verbreitung zu haben scheinen. Übrigens sind die von den Botanikern Cossox und Trısrram aus den Oasen der algerischen Sahara mitgebrachten Pflanzensammlungen weit entfernt, auf Vollständigkeit An- spruch zu machen. Bei aller Formenarmut der Wüstenflora glaubt Grisegach doch die wirkliche Anzahl der dort vorkommenden Spezies 294 Moritz Wagner, Darwinistische Streitfragen. IV. auf mindestens 1000 schätzen zu dürfen. Im Pflanzenverzeichnis des Botanikers TrıstrAm figurieren nur 414 Arten aus der Sahara, die übrigen 286 aus dem angrenzenden Steppengebiet des Atlasgebirges !. Der westliche Teil des nordafrikanischen Litoralstreifens hat für die Untersuchung der genetischen Frage eine besondere Wichtigkeit wegen’ der groben Gleichförmigkeit des Klimas und der Bodenbeschaffenheit in der ganzen Ausdehnung von der nordwestlichen Grenze Marokkos bis zur östlichen Grenze Tunisiens. Durch volle 17 Längengrade zeigt die Küste der Berberei denselben gleichartigen Naturcharakter, dieselbe mittlere Temperatur. Erst in der südlichen Einsenkung der kleinen Syrte beginnt allmählich ein klimatischer Wechsel. Klima und Bodenbeschaffenheit müssen daher als mitwirkende Faktoren bei dem hier so bestimmt vor- kommenden Artenwechsel eines wesentlichen Teiles der Litoralfauna ganz ausgeschlossen werden. Auch die vertilgenden Feinde der Coleopteren sind hier überall dieselben. Die einzigen wirksamen Faktoren, welche die hier so merkwürdige Transformation der Melasomen wie der Land- schnecken vollzogen, können nur gewisse Veränderungen in den quantitativen Nahrungsverhältnissen und die damit stets verbundenen Änderungen in der Übung der Organe an jedem neuen Standort gewesen sein, sowie der größere oder geringere Grad von individueller Variationsfähigkeit, welchen die einzelnen Einwanderer, mitbrachten. Gleichviel ob im nord- afrikanischen Litoral die Expansion der Gattung Pimelia in ost-westlicher oder in entgegengesetzter Richtung stattgefunden hat — daß die Ver- breitung durch aktive und passive Migrationen der einzelnen Arten wirklich erfolgte, wird kein unbefangener Beobachter bestreiten. Jede hemmende Schranke des Litorals gab hier das Signal zu gewissen mor- phologischen Veränderungen. ‚Jede zeitweilige Isolierung und Kolonien- bildung einzelner Emigranten war für längere Zeit mit einer Befreiung von der Nahrungskonkurrenz mit der Individuenmasse ihrer Stammart verbunden. Damit änderte sich durch eine gewisse Zeitdauer auch ihre Lebensweise, indem sie bei einer durchschnittlich reicheren Ernährung auch zu geringerer Anstrengung und Bewegung für die Beschaffung ihrer Nahrung genötigt waren. Abnorme lokale Verhältnisse der Standorte können mitunter ausnahmsweise bei den Nahrungsverhältnissen mit- bestimmend eingewirkt haben. Unleugbar ist, daß der Akt der morpho- logischen Umprägung und Neubildung hier bei einem verminderten »Kampf ums Dasein« erfolgte, denn der intensivste »struggle for life« wird stets durch die Konkurrenz von Individuen der gleichen Art geführt. ı Ob der Endemismus der Pflanzenarten sich in der Sahara nur auf die größeren weit von einander getrennten Oasengruppen beschränkt oder auch schon in den einzelnen Oasen ähnlich wie auf den ozeanischen Inseln sich bemerkbar macht, ist eine noch unentschiedene Frage, zu deren bestimmter Beantwortung die bisherigen Untersuchungen der botanischen Sammler und Beobachter nicht genügen. Eine Untersuchung des geheimnisvollen Ahaggargebirges als des zweifellos wich- tigsten Ausgangspunktes für viele endemische Pflanzenarten der Sahara wäre höchst wünschenswert. Von Insekten und Arachniden erhielt der französische Oberstabs- arzt Dr. Guyon schon im Jahre 1837 höchst interessante kleine Sammlungen in Weingeist aus der Oasengruppe der Beni-Mzab, sowie aus Tuggurt und Biskara durch Eingeborne, welche er im Sammeln unterrichtet hatte. Die Melasomen der verschiedenen Oasen wie auch die meisten Arachniden zeigten neue Spezies. en ln Moritz Wagner, Darwinistische Streitfragen. IV. 295 Betrachten wir die an Afrika angrenzenden Teile Vorder-Asiens, so bemerken wir, daß in den nächstfolgenden Ländern Palästina und Syrien die Melasomen zwar in verminderter Zahl, doch aber immer noch als ein wichtiger Bestandteil der Litoralfauna mit den gleichen Erschein- ungen des Artenwechsels fortdauern. Weiter gegen Nordosten in den Gebirgsländern von Kleinasien, Armenien, Georgien, Aderbeidschan nimmt diese artenreiche Familie beträchtlich ab und an ihrer Stelle spielt in dem Vorkommen der Coleopteren eine andere noch formenreichere Familie, welche in Afrika verhältnismäßig viel geringer vertreten ist, eine hervor- ragende Rolle. Die Carabiden, von denen wir bereits nahezu 8000 beschriebene Spezies mit zahlreichen Gattungen kennen, ist für Europa und die nördliche Hälfte von Asien in der geographischen Verteilung ihrer Formen ebenso bedeutsam wie die Familie der Melasomen für Afrika. Wohl keine andere Formengruppe der Insekten, ja vielleicht keine andere Abteilung des ganzen Tierreiches liefert uns durch die außerordentlich weite Verbreitung einzelner Gattungen bei fortdauerndem Artenwechsel innerhalb abgegrenzter Zwischenräume so merkwürdige Fingerzeige sowohl für das eigentümliche chorologische Vorkommen der Formen als für die Genesis ihrer typischen Differenzierung. Die große Mehrzahl der Carabiden ist infolge ihrer verwachsenen Flügeldecken unfähig zu fliegen, aber mit ihren schlanken Beinen sind sie geschickte Schnellläufer und für die Migration und Expansion vor- trefflich organisiert. Daher auch die großartige Verbreitung der Familie durch alle Weltteile vom höchsten Norden bis zum Äquator und von der Tiefe des Seegestades bis zur Schneegrenze der höchsten Gebirge. Man findet Carabiden in den äquatorialen Anden von Südamerika noch in großer Individuenzahl bis zur Höhe von 14 400°, im Himalaya bis 15 500". Sämtliche Arten leben von animalischer Nahrung und die meisten gehen nur des Nachts auf Raub aus, während sie am Tage unter Steinen, Baum- stämmen, dürren Blättern sich verbergen. Viele Arten laufen und wandern jedoch auch am Tage im Sonnenschein. In Größe und Form, besonders aber in der Skulptur der Flügeldecken differieren die Carabiden weit mehr als die Melasomen und haben vor dieser einfarbigen Käferfamilie auch noch oft den Vorzug glänzender Farben, in denen namentlich ge- wisse endemische Arten der Gattung Carabus in den Pyrenäen, Griechen- land, Kleinasien, Südrußland und Sibirien selbst den farbenprächtigsten Insekten der Tropenzone nicht nachstehen. In seiner überaus mannigfaltig gestalteten vertikalen Gliederung mehr noch als in seiner eigentümlichen horizontalen Konfiguration ist ganz Vorderasien in ausgezeichneter Weise geeignet, uns durch die choro- logischen Erscheinungen seiner Organismen die wahre äußere Ursache der Artbildung noch deutlicher zu enthüllen als selbst der Litoralstreifen des nordwestlichen Afrika durch den Formenwechsel seiner Melasomen. Schon die Halbinsel Kleinasien, welche zwischen dem Mittelmeer und dem Pontus euxinus sich ausdehnend weit nach Westen vorspringt und hier in das inselreiche ägäische Meer hineinragt, besaß nicht nur in der günstigen Entwickelung ihres Küstenrandes, sondern ungleich mehr noch in der so mannigfaltigen Plastik ihrer Binnengegenden, welche die räum- 296 Moritz Wagner, Darwinistische Streitfragen. IV. liche Absonderung von Einwanderern außerordentlich begünstigte, ein wunderbares Mittel, das organische Leben in wechselnder Differenzierung zu entfalten. Zwar erkennen wir auch an der Litoralfauna Kleinasiens gegenüber der europäischen Balkanhalbinsel den Einfluß trennender Schran- ken, welche selbst das Marmorameer und die stromartigen Meerengen des Bosporus und der Dardanellen einer Massenwanderung schwerfälliger Organismen entgegensetzte und der Verbreitung ihrer Formen eine be- stimmte Grenze zog. Dagegen hatten Flüsse und Vorgebirge, welche die Küste berühren, in Kleinasien offenbar einen geringeren Einfluß auf die Bildung endemischer Arten als in Nordafrika, indem die Melasomen dort seltener vorkommen und die viel mobileren Carabiden schmale Schranken leicht in größerer Zahl überschreiten konnten. Für die Art- bildung der letzteren ist daher ein reich gegliedertes Relief des Hinter- landes stets günstiger. Das ganze Gebirge des Taurus und des Anti-Taurus besitzt im all- gemeinen viel mannigfaltigere plastische Formen als die europäischen Alpen, die Pyrenäen und der mauerförmige Kaukasus. Dem entsprechend sehen wir daher in Kleinasien auch eine relativ artenreichere Fauna und Flora in kleineren Arealen mit ungleich mehr endemischen Formen aus- gestattet. Jede Höhenstufe in der Skala seiner Gehänge, besonders jede größere Terrasse in den mittleren und oberen Regionen war eine Versuchsstation zur Hervorbringung neuer Formen. Jedes ge- schlossene Hochthal, jedes von Bergketten umgrenzte Plateau, welches durch mäßig hohe Querjoche vom nächsten Plateau geschieden, zeigt sich als eine natürliche Werkstätte zur Umprägung eingewanderter Organismen, zur Bildung und Fixierung neuer endemischer Spezies und Varietäten. Alle etwas isolierten und die Ketten über- ragenden Berggruppen wie der bithynische Olymp bei Brussa, der Er- dschas-Dagh bei Kaisarieh, die Berge bei Angora, der Hassan-Dagh und Karadscha-Dagh in der Provinz Karaman besitzen neben den gemein- samen Arten auch ihre besonderen Lokalfaunen, d. h. eine gewisse Zahl eigentümlicher Arten und Varietäten, die ihnen ausschließlich zugehören. | An das vielgegliederte Hochgebirge des westlichen Taurus und Anti- Taurus schließt sich im Nordwesten das mächtige Alpenland Armenien an mit seinen mehr oder minder ausgedehnten Hochebenen, welche an ihren äußersten Enden durch Querjoche geschlossen sind, von deren rela- tiver Höhe der größere oder geringere Grad von Endemismus ihrer Orga- nismen wesentlich abhängt. Jedes geschlossene Plateau, wie z. B. die Hochebene von Erzerum hat eine kleine Zahl eigener Formen, welche in den von West nach Ost gegen Persien sich anreihenden Plateaus durch ähnliche vikarierende Arten ersetzt werden. Hier tritt in Vorderasien zum erstenmal die sehr charakteristische Carabiden-Gattung Callisthenes auf, welche in Armenien ihren Ausgangspunkt zu haben scheint und von dort sich durch Persien und ganz Nordasien bis nach dem westlichen Nord- amerika verbreitet, wo aber nach größeren Zwischenräumen stets eigen- tümliche Arten dieser Gattung erscheinen. Die höchsten vulkanischen Berggruppen Armeniens, Kurdistans und Moritz Wagner, Darwinistische Streitfragen. IV. 297 Aderbeidschans mit den Einsenkungen ihrer großen Seebecken können wir mit Fug und Recht als inselartige Ursprungszentren bezeichnen für eine gewisse Zahl typischer Arten, welche dort ausschließlich vorkommen. Der grobe Ararat im russischen Armenien hat nicht nur einige eigen- tümliche Carabiden, sondern auch eine andere Art von Dorcadion als die vulkanische Höhegruppe des Allaghös, welche durch die Hochebene des Araxes von ihm getrennt ist. Einen noch auffallenderen lokalen Endemismus zeigt die Fauna der vulkanischen Einsenkung des Goktschai- Sees. Ebenso zeigen die Ufer des Urmia-Sees im westlichen Persien und des Wan-Sees in Kurdistan eine wesentlich verschiedene Fauna von Coleo- pteren und selbst von Lepidopteren. Dagegen ist lokaler Endemismus und schroffer Artenwechsel in den nördlichen Ländern Vorderasiens, in Grusien und Mingrelien weniger be- wmerkbar, weil geschlossene Plateaus und isolierte Berggruppen, welche für das Relief der südwestlichen Teile so charakteristisch sind, dort seltener vorkommen. Die gewaltige Erhebung der trachytischen Zentral- kette des Kaukasus setzte der Wanderung der Carabiden eine fast un- überwindliche Schranke. Daher ein plötzlicher Artenwechsel, welcher dort in auffallender Weise, besonders an den vielen und schönen aus- gezeichneten Arten der Gattung Carabus bemerkbar ist. Nicht eine einzige Spezies dieser großen Gattung am nördlichen Fuß des Kaukasus ist mit den Arten des südlichen Gehänges identisch. Ebenso hat das taurische Jailagebirge, welches durch den kimmerischen Bosporus und durch Steppen vom Kaukasus getrennt ist, seine durchaus eigentümlichen Caraben, die aber doch unverkennbar eine nahe Verwandtschaft mit den kauka- sischen Arten bekunden. Indem der Verfasser diese Mitteilungen bedeutsamer chorologischer Fakta bezüglich des Vorkommens von sehr artenreichen und daher auch für unser Problem besonders lehrreicher Gruppen des Tierreiches in ver- schiedenen Kontinenten abschließt, glaubt derselbe noch bemerken zu dürfen, daß ihm aus vieljährigen Erfahrungen als Forscher und Sammler auch von anderen Ländern, wo er lange genug verweilte, um Einsicht in die chorologischen Verhältnisse zu gewinnen, eine sehr große Anzahl instruktiver Thatsachen zu Gebot stehen, welche analoge Wahrscheinlich- keitsbeweise für die Migrationstheorie, wie die oben mitgeteilten, enthalten. Für den geehrten Leser würde es freilich eine wahre Geduldsprobe sein, wenn ich ihm alle bezüglichen Fakta aus fernen Weltteilen schildern wollte. Wenn ich daher diese Mitteilungen auf einzelne Länder Europas und die nächstgelegenen, das Mittelmeer und den Pontus berührenden Teile Nordafrikas und Westasiens beschränkte, so geschah es vor allem in der Absicht, denjenigen Naturforschern, die sich für diese Frage be- sonders interessieren, die Prüfung der Richtigkeit sowohl der zoo-geo- graphischen Thatsachen als der genetischen Schlußfolgerungen, die sich an dieselben knüpfen, möglichst leicht und bequem zu machen. Das Litoral Nordafrikas ist heute fast in seiner ganzen Ausdehnung von Marokko bis Ägypten zugänglich und ohne zu große Mühe und Kosten erreichbar. Auch die Länder südlich vom Kaukasus und die meisten Gegenden Vorder- asiens mit Inbegriff der großen vulkanischen Berggruppen Armeniens 298 Moritz Wagner, Darwinistische Streitfragen. IV. dürfen wir als leicht erreichbare und höchst instruktive Schauplätze für das Studium der mit dem phylogenetischen Problem so enge verbundenen chorologischen Vorkommnisse besonders hervorheben. Es gibt freilich auch andere ferner gelegene Länder, wo die geo- graphische Verteilung der Organismen noch auffälligere Beweise und Fingerzeige für das kausale Verständnis der Artbildung darbietet. Als ein solches Land dürfen wir z. B. das berühmte Hochland Quito im Staat Ecuador bezeichnen, dessen eigentümlicher Reliefbau für das Studium der geographischen und topographischen Verhältnisse der Flora und Fauna wie geschaffen erscheint, um auf die wichtigsten phylogenetischen Fragen ein helles Licht zu verbreiten. Das Hochgebirge der Cordilleras de los Andes entbehrt jener tiefen Paßsenkungen, welche in Europa und Asien auch massenhafte Wanderungen von Individuen begünstigten und isolierte Kolonienbildungen erschwerten. Die Erscheinungen sind daher an den beiden entgegengesetzten Gehängen des südamerikanischen Hoch- gebirges um so merkwürdiger. Dazu hat das Hochland von Quito noch den Vorteil, an seiner Doppelreihe von kolossalen vulkanischen Andesit- kegeln, welche meist durch Intervallen von 2—3 Meilen getrennt sind und die Kammhöhe der Cordilleren beträchtlich überragen, eine größere Zahl von isolierten Stationen, d. h. natürlichen Werkstätten für die lokale Umprägung der zugewanderten Emigranten zu besitzen als vielleicht irgend ein anderes Land der Erde mit Ausnahme der ozeanischen Archipele. Die Erscheinungen in dem Vorkommen und der Verteilung der zahl- reichen endemischen Formen aus beiden organischen Reichen sind dort diesen günstigen Reliefverhältnissen ganz entsprechend. Man könnte es für unbegreiflich halten, daß die bedeutsamen chorologischen Thatsachen in diesem so wichtigen äquatorialen Hochland einen scharfsinnigen Beob- achter wie A. von Humporpr nicht mit überzeugender Macht zu einer ähn- lichen Hypothese wie L. von BucH auf den kanarischen Inseln drängten, wenn wir nicht wübßten, daß der große Forscher in den Ansichten Linx&’s und Cuviıer’s bezüglich der Unveränderlichkeit der Spezies allzutief und fest befangen war. Auch hat sich Humsorpr mit den dortigen Verhält- nissen der Fauna wenig befaßt und nur der Flora seine Aufmerksamkeit zugewendet. Der Chimborazo wie der Pichincha, der Cotopaxi wie der Tunguragua und Antisana besitzen aber nicht nur gewisse Pflanzen- arten, welche jedem dieser isolierten Bergkolosse allein eigen sind, sondern auch gewisse Käfer, Landschnecken und sogar sehr bewegliche endemische Vogelarten, welche den lokalen somatischen Stempel des Berges tragen, auf welchem sie vorkommen. Wenn der Chimborazo in der isolierten genetischen Werkstätte seiner höchsten Region ebenso eigentümliche Spezies und Varietäten von alpinen Pflanzen, Käfern und Trochiliden (Oreo- trochilus Chimborazo GouLnp) besitzt, welche von nächstverwandten Formen der isolierten Nachbarvulkane auf den ersten Blick unterscheidbar sind, so hat weniger die botanische oder zoologische Entdeckung einer solchen neuen Art als die Thatsache eine Bedeutung: daß isolierte Berge, selbst wenn sie einander nahe liegen, trotz der völlig gleichen physischen Ver- hältnisse stets eine gewisse Anzahl endemischer Formen hervorzubringen Moritz Wagner, Darwinistische Streitfragen. IV. 299 vermögen, deren einfache genetische Ursache augenscheinlich nur die mehr oder minder lange dauernde Kreuzungsverhin- derung sein konnte. Wenn aber ganz analoge Erscheinungen in dem Teil des stillen Ozeans, welcher dem äquatorialen vulkanischen Hochland von Quito westlich gerade gegenüberliegt, nämlich auf den vulkanischen Inseln der Galapagos, wo jedes einzelne Eiland nicht nur seine eigen- tümlichen Pflanzenarten, sondern auch seine endemischen Spezies von Finken und Drosseln und selbst seine eigenen Varietäten von Landschild- kröten besitzt, in ebenso bestimmter Weise sich offenbaren, so dürfte die genaue Wiederholung solcher analoger Thatsachen an so ganz ver- schiedenen Lokalitäten wohl geeignet sein, die einfache genetische Ur- sache dieser Erscheinungen für jeden Unbefangenen klarzulegen. Wir rekapitulieren hier in den folgenden diskutierbaren Thesen die Schlüsse, welche sich aus unseren chorologischen Thatsachen von selbst aufdrängen: 1) Die Arten des Tier- und Pflanzenreiches bildeten sich durch räumliche Sonderung und isolierte Kolonien, zu welchen aktive oder passive Migrationen von abgezweigten Bruchteilen der Stammart den Anstoß gaben. Die Faktoren, welche auf Grund der individuellen Variabilität und der Vererbungsfähigkeit neuer Merkmale die morphologischen Ver- änderungen bewirkten, waren: Kreuzungsverhinderung, gesteigerte Fortentwickelung persönlicher Merkmale der Kolonisten durch Inzucht und veränderte äußere Lebensbedingungen, welche in jeder neuen Ansiedelung besonders durch veränderte Übung der Organe auf die Kolonisten und ihre Nachkommen umbil- dend wirken. Eine »collokale« oder »cönobitische« Entstehung der Arten, wie sie Näszrı und EnGtEr auf Grund unzureichender Beobacht- ungen und irriger Schlußfolgerungen behaupteten, findet nirgends statt und ist auch nirgends nachgewiesen. Die absorbierende und nivellierende Wirkung der freien Kreuzung macht überhaupt im Wohngebiet der Stamm- art jede konstante Neubildung durch Selektion unmöglich und widerlegt vollständig die Hypothese einer Artbildung durch Auslese im Konkurrenz- kampf der Organismen. j 2) In Ländern, wo beträchtliche Schranken der horizontalen oder ver- tikalen Gliederung als Hemmnisse der Massenwanderungen fehlen, bildeten sich neue Speziesformen durch isolierte Kolonien weniger Individuen teils in den sporadischen Lücken ausgedehnter Verbreitungs- gebiete, teils in größeren Entfernungen von deren periphe- rischen Grenzen. Diese verwandten Arten einer gleichen Gattung, welche mit den dauernd geographisch getrennten vikarierenden Arten nicht verwechselt werden dürfen, haben durch Individuenvermehrung und Ausdehnung ihrer Standorte im Laufe der Zeit ihre Wohnbezirke wieder mit dem Verbreitungsgebiet der Stammformen verbunden und man sieht dann oft jüngere und ältere Formen von verschiedenartiger Stabilität durcheinander gemischt. Alle sog. schlechten Arten, d. h. Spezies mit schwankenden Merkmalen und häufigen Übergängen sind Produkte einer solchen ungenügenden Dauer der Isolierung. Verwandte Spezies, welche jetzt gesellig vorkommen, zeigen dem Beobachter meist eine sehr ver- 300 Fritz Müller, Fühler mit Beißwerkzeugen bei Mückenpuppen. schiedene Ausdehnung ihrer Verbreitungsgrenzen, eine wichtige Thatsache, die man besonders bei den Insekten wie auch bei vielen Pflanzen bestimmt nachweisen kann. 3) Die stets getrennt vorkommenden Arten und Varietäten, welche oft nur geringe, aber stets konstante morphologische Merkmale be- sitzen, sind durch Isolierung von langer Dauer entstanden. Dieselben sind entweder noch jetzt von nächstverwandten Arten räumlich abge- sondert oder sie berühren meist deren Wohngebiete nur an den Grenzen. Reliefschranken, welche die Massenwanderungen hemmten und eine längere Isolierung einzelner oder weniger Emigrantenpaare begünstigten, wie Hoch- gebirge, Wüsten, Meere und in gewissen Fällen (bei sehr schwerfälligen Formen) selbst schon Flüsse von mäßiger Breite, gaben Veranlassung zur Bildung dieser vikarierenden Formen. Die durch beträchtliche Zwischenräume geschiedenen Ursprungszentren, die ketten- förmige Anreihung und Anordnung der Wohngebiete aller vikarierenden Arten und die nahe morphologische Verwandt- schaft der getrennten Nachbarformen, wie sie uns die Choro- logie der Organismen im großen und ganzen offenbart, sind genügende induktive Beweise für die Bildung der stellver- tretenden Arten und Varietäten durch die mechanische Ursache der räumlichen Absonderung, indem diese Erscheinungen nach unserer Überzeugung auf andere Weise keine genügende Er- klärung finden. Fühler mit Beisswerkzeugen bei Mückengruppen. Von Fritz Müller. An den Blättern einer Paullini« kommen hier nicht selten Aus- wüchse vor, welche die Gestalt langgestielter Moosfrüchte haben (Fig. 1). Meist sitzen sie, bisweilen ihrer zwanzig und mehr beisammen, auf der Unterseite der Blätter; nur vereinzelt finden sie sich auch auf der Ober- seite. Sie scheinen auf eine einzige Pflanzenart beschränkt zu sein; an keinem anderen der mancherlei nahe verwandten rankenden Sträucher aus der Familie der Sapindaceen (Pandlinia, Serjania, Urvillea) habe ich sie bis jetzt bemerkt. Der obere dickere Teil der Auswüchse ist drehrund, etwa 5 bis 6 mm lang, bei 1,25 mm Durchmesser; er verjüngt sich nach unten allmählich in einen dünnen, etwa doppelt so langen Stiel. Das obere Ende ist entweder flach abgerundet und trägt dann in der Mitte, wie so oft der Deckel der Moosfrüchte, einen verschieden langen, dünnen Fortsatz — Fritz Müller, Fühler mit Beißwerkzeugen bei Mückenpuppen. 301 oder es verjüngt sich rasch zu einer kurzen, kegelförmigen Spitze. Farblose, bis !/s oder !/ı mm lange, senkrecht abstehende Haare (in den Abbildungen weggelassen) bedecken ziemlich dicht den oberen Teil, nur weitläufig den Stiel. Die Farbe dieser Auswüchse ist bisweilen ein ziemlich reines, helleres oder dunkleres Blutrot, das jedoch oft wie durch durchschimmerndes Grün mehr oder minder getrübt ist; bisweilen bildet ein trübes Graugrün oder Gelbgrün die Grundfarbe, auf der dann einzelne rote Längslinien sich abzuzeichnen pflegen. Aus TI Mückengallen vom Blatte einer Paullinia, nat. Größe. Puppe in der aufgebrochenen Galle, von der Seite. Dieselbe von unten. Leere Puppenhaut, aus der Galle hervorstehend. 2 bis 4 sind 25 mal vergrößert.) Fwvr Entfernt man durch einen Querschnitt die Spitze des Auswuchses, so blickt man in einen dünnwandigen, innen glatten Becher, dessen Höhlung den ganzen oberen verdickten Teil einnimmt. In diesem Becher liegt dann entweder eine bisweilen noch äußerst winzige weiße Made oder man sieht auf das die ganze Lichtung des Bechers füllende vordere Ende einer Puppe. An dem sogenannten Fuße, der bei dieser Art als zweizinkige Chitingabel auftritt, ist die Made leicht als Gallmückenlarve zu erkennen, Recht befremdlich aber ist bei dem ersten Blick, den man von oben in den Becher wirft, die Puppe; man könnte versucht sein, sie für die eines Haarflüglers (Phryganiden) zu halten. Wie die Puppe der Haar- flügler, welche beißender Mundteile später entbehren, vorn am Kopfe zwei kräftige Kinnbacken trägt, die ihr zur Eröffnung ihres Gehäuses dienen, so springen auch hier vorn am Kopfe zwei ansehnliche kiefer- ähnliche Gebilde vor, die besonders dann durch ihre dunkle Farbe in die Augen fallen, wenn die Puppe selbst noch weiß oder erst leicht ge- ! Vergl. Brauer, die Zweiflügler des kaiserl. Museums zu Wien. II. 1883. 8. 20. 302 Fritz Müller, Fühler mit Beißwerkzeugen bei Mückenpuppen. bräunt ist. Zieht man freilich die Puppe aus ihrer Höhle hervor, so erkennt man auch sie sofort als Gallmückenpuppe; jene Scheinkiefer aber erweisen sich als Fortsätze der Fühler. Sie gehen aus von dem in der Puppenlage vorderen Rande der Fühler, dicht an deren Ursprung, und bilden breite, dünne, wie die Seitenansicht (Fig. 2) zeigt, ein wenig nach abwärts aufs Blatt gebogene Blätter. Ihr innerer und ihr äußerer Rand stoßen (Fig. 3) in einer fein gezähnelten Spitze zusammen, der innere Rand ist in seiner Endhälfte mit 3 oder 4 größeren Zähnen be- wehrt (nicht selten ist die Zahl rechts und links verschieden); der äußere Rand trägt eine längere Reihe kleinerer Zähnchen. Wie vorauszusehen war, benutzt die Puppe diese Fühlerkiefer, um sich einen Weg zu bahnen aus ihrer rings geschlossenen Galle Mit senkrecht zur Wand gestellten Kiefern (Fig. 4) durchschneidet sie dieselbe rings herum dicht unter dem oberen Ende des Bechers, schiebt sich dann etwa in halber Länge aus dem Becher hervor und läßt aus ihrem gespaltenen Rücken die fertige Gallmücke entschlüpfen. Der abgeschnittene Deckel fällt entweder ab oder bleibt am Rande des Bechers hängen. Ich teile diese einfache Beobachtung mit auf die Gefahr hin, dab ähnliches den Blattmückenforschern längst bekannt sei. In den mir zu- gänglichen Schriften finde ich nichts darüber und die Verwendung der Fühler zum Beiben schien mir merkwürdig genug, um auch über den engen Kreis der Mückenfänger hinaus Beachtung zu verdienen. Blumenau, Santa Catharina, Brazil, 21. Juli 1884. Wissenschaftliche Rundschau. Die 57. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Magdeburg, 18.—23. September, welche bei ungemein reger Beteiligung aus allen Gauen Deutschlands einen höchst befriedigenden und gewil) für alle Besucher fruchtbringenden Verlauf nahm, brachte in ihren beiden allgemeinen Sitzungen unter sechs Vorträgen nur einen, der für die Entwickelungslehre von unmittelbarem Interesse ist, denjenigen von Prof. A. Kırcnnorr in Halle »Über den DarwinismusinderVölkerentwickelungse, dessen Hauptgedanken wir hier zunächst in Kürze wiedergeben wollen. Bei allen Naturvölkern ist die körperliche Ausbildung streng ab- hängig von den Naturbedingungen des jeweiligen Wohngebietes. Der Polarmensch kann in den Tropen nicht leben, weil seine Leber die hier erforderliche Arbeit nicht zu leisten vermag; umgekehrt genügt die Lunge des Tropenmenschen nicht zum Leben in hohen Breiten; die geräumig- sten, zellenreichsten Lungen sind den Bewohnern der drei höchstgelegenen Hochländer eigen, den Mejikanern, Peruanern und Tibetanern. Dies kann nicht auf prästabilierter Harmonie beruhen, denn warum hätten sich sonst in den tropischen Bezirken von Amerika, Asien und Australien aus den einheimischen Rassen nicht auch Neger hervorgebildet, wie sie Afrika in so großer Vollkommenheit entwickelt hat, Menschen, die vermöge ihrer starken Perspiration eine um so kühlere Haut haben, je heißer die Sonne brennt, die überhaupt in ihrem ganzen Stoffwechsel so merkwürdig den Verhältnissen eines feuchtwarmen Klimas angepaßt sind? Hier ist offenbar nur die >»tellurische Auslese< als Ursache anzuerkennen, welche wohl in Afrika, nicht aber in den Wendekreisen der übrigen Erdteile zufällig gerade jenen glücklichen Impuls zu wenn auch anfangs nur geringen körperlichen Umbildungen vorfand, die dem Milieu genau ent- sprachen und an die sie dann, durch die Jahrtausende fortwirkend, an- knüpfen konnte. Wenn der Jakute sich in leichter Kleidung wohl fühlt bei einer Temperatur, welche das Quecksilber gefrieren macht, so liegt dies nur daran, daß von sämtlichen dieses Gebiet durchziehenden Horden nachsichtslos alle diejenigen vertilgt worden sind, die solchen Einflüssen nicht Stand zu halten vermochten; das Land hat sich also durch Auslese seine Bewohner selbst geschaffen. Wir kennen wohl kaum irgendwo ein echt autochthones Volk, jedes aber wird autochthon dadurch, daß es sich allmählich seiner Umgebung immer vollkommener anpaßt. Auch 304 Wissenschaftliche Rundschau. € die Wirksamkeit eines bloß instinktiven sich Gewöhnens soll dabei nicht geleugnet werden. Ein höchst merkwürdiges Beispiel dieser Art ist kürzlich erst festgestellt worden: in einigen höheren Partien des Thüringer Waldes ist die Brustweite durchweg größer als in den benachbarten Niederungen, selbst wenn die allgemeine Körpergröße geringer ist. Wenn aber die Malayen bei ihrem Ausschwärmen in die Südsee allgemein einen höheren Wuchs erlangten, wenn die Europäer in Nordamerika fast mit jeder Generation dem einheimischen Indianer in Statur, Temperament u. s. w. immer Ähnlicher werden, so liegen hier unzweifelhaft geheimnis- volle tellurische Einflüsse zu Grunde. — Am auffälligsten ist die Wirk- ung solcher natürlich bei schroffem Wechsel der Verhältnisse: die Ein- wanderer unterliegen einer gewaltigen Dezimierung, aber es genügt’ dann auch ein Individuum unter tausenden zur Züchtung einer neuen Varietät. Schon Darwın berichtet, wie die Hochlandsindianer schrecklich dahin- sterben, wenn sie in die feuchten Ebenen am Amazonenstrom nieder- steigen; jetzt dauern aber dort einige wenige Familien doch schon durch mehrere Geschlechter aus — Menschen freilich, die von ihrem heimischen Typus erheblich abgewichen sind, insbesondere eine schmächtigere Brust bekommen haben. Gewiß ein klassisches Beispiel der Entwickelung eines neuen Volkes aus einem alten! Eine der Hauptbedingungen dabei ist noch, daß zu häufige Kreuzung mit dem Mutterstamm verhindert ist, daß kein zu rascher Nachschub stattfindet: in der That bestätigt sich Morırz Wasner’s Lehre von der Artbildung durch Migration und Iso- lierung hier glänzend. Nur weil sie verhältnismäßig spärlichen Zuzug aus dem Heimatlande erhielten, sind aus Engländern Amerikaner, aus Holländern Boers geworden u. Ss. w. . Auch die tägliche Beschäftigung eines Volkes, die ihrerseits wieder wesentlich von den »tellurischen« Verhältnissen abhängt, bedingt immer besondere organische Eigentümlichkeiten. Hat ja doch jeder Beruf seinen Typus. Der Matrosendienst verkürzt die Arme, verlängert die Beine. Die südfranzösischen Harzsammler haben einen förmlichen Kletterfuß mit freibeweglicher großer Zehe etc. etc. Dergleichen wird für den. Völker- kundigen wichtig, wenn es als geographisch bedingte Erscheinung vor- kommt. So ist z. B. für die Ausbildung des Auges, für die Sehschärfe von höchster Bedeutung der vorherrschende Grad der Luftdurchsichtigkeit. Steppen- und Wüstenbewohner weisen bekanntlich ganz erstaunliche Leistungen im Weitsehen und -erkennen auf. Gleiches gilt vom Gehör- und Geruchsinn. Der Australneger unterhält sich mit einem Genossen noch ganz bequem, wenn dieser schon über alle Berge ist; der Araber riecht den Nil, wenn das Hygrometer noch keine Spur von Feuchtigkeit anzeigt. Ebenso ausgezeichnet sind die Wüstenvölker durch ihren Orts- sinn, ihre Ausdauer im Ertragen von Hunger und Durst, im Marschieren und Reiten. Die Ursache von alledem ist klar genug: ist doch der Steppenjäger einfach verloren, wenn er kurzsichtig ist, keinen Ortssinn hat u. s. w. |Hier scheint uns der geehrte Herr Redner neben der Auslese nicht genügend die Übung betont zu haben, welche direkt eine gesteigerte Leistungsfähigkeit der Sinnesapparate und namentlich ein vascheres und bestimmteres Interpretieren der Wahrnehmungen bewirkt { Wissenschaftliche Rundschan. 305 und gegebenenfalls sicherlich im stande ist, auch ohne Mithilfe der Auslese Bevorzugter resp. der Ausjätung Untauglicher typische, dauernd sich vererbende Besonderheiten zu erzeugen. Den gleichen Einwand vermögen wir manchen vorhergehenden wie auch einigen folgenden Sätzen des Vor- tragenden gegenüber nicht ganz zu unterdrücken.] — Bezeichnend ist ja für solche Völker auch die Stärke des Weibes; hier gibt es eben überhaupt keinen Platz für den Zärtling, den Verwöhnten. Die eheliche Auslese wirkt vielfach ganz bedeutend auf die Gestaltung des Körpers ein (Zurechtdrücken des Kopfes, Moden der Haartracht, Bartwuchs: bei den Ainos, wo der Bart ja so hoch geschätzt wird, erhalten die Mädchen zum Ersatz sehr früh eine bartartige Täto- wierung der Lippen); zugleich aber beeinflußt sie, ihrerseits natürlich wiederum bestimmt durch die Anforderungen der Außenwelt, den Cha- rakter der Völker: sie züchtet beim Manne diejenigen Eigenschaften, welche ihn befähigen, unter den gegebenen Umständen seine Frau, seine Familie zu ernähren und sich und ihnen die nötige Stellung im Stamme, im Staate zu verschaffen. Wie der Jurist sein Assessorexamen hinter sich haben muß, bevor er an die Verlobung denken darf, so hat der Eskimojüngling erst seine Geschicklichkeit in der Seehundsjagd zu do- kumentieren, wenn er bei seiner Angebeteten Gehör finden will. So waren ja auch die Turniere und Ritterspiele unserer Vorfahren im Mittel- alter nichts anderes als Veranstaltungen zum öffentlichen Nachweis des Erwerbs derjenigen Fähigkeiten, welche damals für den freien Mann un- umgänglich erschienen. Werden auch hierbei manchmal sehr rohe Sitten, ja sogar Mordlust gefördert, so kommt die eheliche Auslese doch zumeist dem Fleiß, der Arbeitsamkeit, der Aufopferungsfähigkeit und ähnlichen zu höherer Gesittung hinführenden Tugenden zu gute. Aber auch abgesehen von dieser speziellen Form waltet das Prinzip der Ausmusterung der Besten allgemein über der Sinnesart, dem Tem- perament ganzer Völker. Gut ist eben bei jedem, was der Gesamtheit nützt, schlecht, was ihr schadet. Ein alter Irrtum läßt die umgebende Natur gleichsam sich widerspiegeln im Charakter und Gemüt eines Volkes und seit langem hat namentlich der lachende Himmel Griechen- lands dazu herhalten müssen, die Mythologie, die Kunstentwickelung etc. des griechischen Volkes zu erklären. Aber in der neuen Welt hat sich unter dem blauesten Himmel der trübe asketische Charakter des Meji- kaners gebildet, der den Mord und die ausgesuchteste Grausamkeit zum Prinzip erhob, und umgekehrt finden wir bei den den Indianern nächst verwandten Völkern im schaurigsten. Norden Amerikas eine unverwüst- liche Fröhlichkeit. Hier sehen wir deutlich: in den lichtarmen Einöden der Polarländer erlahmt mit dem Lebensmute die Spannkraft des Körpers; folglich konnten dort nur diejenigen fortexistieren, denen die göttliche Gabe der Heiterkeit unter allen Umständen treu blieb; und ebenso ist auch die Friedfertigkeit der Eskimos tellurisch gezüchtet, denn sie sind darauf angewiesen, zu mehreren Familien die lange Polarnacht in dem- selben engen Gemache zu verbringen und sich gegenseitig zu wärmen. Im Löß von China hat sich durch äußerste Volksverdichtung eine Riesen- nation von vierhundert Millionen gebildet mit erstaunlicher Ausdauer, Kosmos 1884, II. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XV). 20 306 Wissenschaftliche Rundschau. Genügsamkeit und Arbeitsamkeit, wodurch sie nun im Konkurrenzkampf alle trägeren oder anspruchsvolleren Völker zu verdrängen vermag. So siegt denn überhaupt stets das physisch wie sittlich tüchtigere Volk. Darum ist auch für unsere Zivilisation nicht ein fauler Friede zu wünschen und zu erwarten, sondern ein unaufhörlicher Wettkampf, der jedes entartete Glied ausmerzt, den Leistungsfähigsten die Obmacht sichert und dadurch den dauernden Fortschritt der gesamten Kultur- welt gewährleistet. Aus dem in der ersten allgemeinen Sitzung gehaltenen Vortrage von Prof. RosexßAcHh aus Göttingen über »Mikroorganismen bei den Wundinfektionskrankheiten des Menschen«<, worin der- selbe die Resultate wichtiger eigener Untersuchungen mitteilte, können wir hier nur folgendes hervorheben. Der Vortragende stellt sich in der Mikroorganismenfrage durchaus auf den Standpunkt Koc#’s, welcher bekanntlich mit aller Strenge die F. Connx’sche Lehre aufrechterhält, »daß zwischen den kleinsten Wesen, selbst zwischen solchen, deren Formen unter dem Mikroskop nicht zu unterscheiden sind, ebenso streng geschiedene Arten bestehen wie in der makroskopischen Pflanzen- und Tierwelt und daß diese Arten ebenso- wenig ineinander übergehen oder übergeführt werden können, als sich. aus einem Lindenbaum eine Tanne, aus einem Wurm eine Schnecke züchten läßt.« Es wird die Methode der Reinkulturen geschildert, durch welche es KocH gelang, mikroskopisch genau gleich aussehende Formen, die sich aber ätiologisch höchst verschieden verhalten (z. B. Milzbrand- und Heupilz), selbst dem unbewaffneten Auge sichtbar und unterscheidbar zu machen, und als allgemeines Resultat der auf Wundinfektionskrank- heiten bezüglichen Forschungen wird angegeben, daß jedem dieser kleinsten Wesen eine bestimmte Krankheitsform entspreche, daß zwar viele der- selben, vom Menschen auf Tiere und umgekehrt übertragen, hier eine gleiche Erkrankung hervorrufen, gewisse andere aber dabei gänzlich un- wirksam bleiben und daß solche Unterschiede in der Empfänglichkeit selbst zwischen nahverwandten Tieren (Hausmaus—Feldmaus, Kaninchen) bestehen können. Gerade für die häufigst vorkommenden Klassen von Wundkrankheiten aber, die weniger spezifischen Charakter zeigen und überall ihren Infektionsstoff finden — für die einfache Eiterung, die fortschreitende eitrige heiße Entzündung, die faulige Blutvergiftung (Septikämie), die eitrige Blutvergiftung oder Eitersucht, Pyämie etc. ist der Nachweis bestimmter Erreger erst dem Vortragenden gelungen. Derselbe erklärt jede Eiterung mit wenigen Ausnahmen für eine durch kleinste Wesen bedingte Infektionskrankheit. Versuche am Kno- chenmark hatten ihn schon früher gelehrt, daß man weder durch Quet- schung noch durch Verwundung, Erschütterung, Verbrennung, Ätzung u. s. w. eine Eiterung erzielen kann außer durch einige wenige Eiter erregende Gifte. Vermittelst des antiseptischen Verbandes hat man ja auch gelernt, selbst die schlimmsten Wunden und Brüche ohne Eiterung und ohne Fieber zu heilen. Anderseits hat Ocsrton in 69 untersuchten Fällen ausnahmslos die betreffenden Organismen gefunden. Diese suchte Wissenschaftliche Rundschau. 307 nun Rosexg#AcH mit Hilfe der KocnH'schen Kulturmethoden näher kennen zu lernen. Er fand fünf verschiedene Arten, von denen drei eingehend beschrieben und veranschaulicht werden. Die wichtigste Rolle als Eiter- ungserreger scheint der »goldgelbe Traubencoccus (Staphylococcus aureus) < zu spielen, so genannt, weil er goldgelbe Kulturen liefert und mikrosko- pisch in traubenförmiger Anordnung wächst. Er zersetzt gekochtes Eiweiß, Rindfleisch u. s. w., aber ohne allen Fäulnisgeruch. In den Tierkörper gebracht, erzeugt er eine rasch tödliche Blutvergiftung. Höchst bemerkenswert ist seine Lebenszähigkeit: drei Jahre alte Kulturen, ganz schwarz und eingetrocknet, keimten auf neuem Nährboden in schönster Form wieder auf. Das läßt verstehen, wie auch beim Menschen Knochen- entzündungen, welche von diesem Coccus bewirkt worden sind, nachdem sie 10, 20, ja 40 Jahre geheilt waren, von neuem auftreten und Eiter bilden können. — Der »weiße Traubencoccus< scheint sich in jeder Hinsicht genau so zu verhalten wie der gelbe, nur daß seine Kulturen rein weiß sind. Der dritte, der »Eiterkettencoccus«, wohl ebenso häufig wie der erste, besteht aus winzigen, kettenförmig verbundenen Kügelchen und liefert sehr zierliche, unscheinbare Kulturen. Auch er verflüssigt Fleisch und Eiweiß ohne Geruch, bewirkt bei Kaninchen nur beschränkte un- schuldige Eiterung, wird dagegen Mäusen oft selbst in kleinster Menge verderblich. Dem Menschen scheint er, wenn auch gewöhnlich nur Eiter- ung erzeugend, doch unter Umständen höchst gefährlich werden zu können, indem er nämlich nicht wie die übrigen rasch die Gewebe zerstört und dabei eine stürmische, oft zur Gesundung führende Reaktion verursacht, sondern sich tückisch in die lebenden Gewebe einschleicht und darin verbreitet, ehe sie es merken; später unterliegt dann doch alles dem eitrigen Zerfall. — Dieselben vier Coccusarten fanden sich nun aber auch bei einer ganzen Anzahl anderer Krankheiten. Zunächst bei heißen, rasch auftretenden Entzündungen, sog. Phlegmonen, und eitriger Brust- fellentzündung, welche in der That nichts weiter sind als gewöhnliche Eiterungen in größerem Maßstabe. Der gelbe Traubencoccus erschien noch bei der akuten Knochenmarksentzündung, welche sich auch durch seine Einimpfung in den Körper und gleichzeitige Schädigung eines Knochens künstlich hervorrufen läßt, und in einem Falle von Pyämie, der Eiterketten- coceus beim fortschreitenden Brand (auch schlechthin Blutvergiftung ge- nannt) sowie in der Mehrzahl der untersuchten Fälle von Eitervergiftung oder Pyämie. Außerdem aber wurde der erstere auch nachgewiesen bei Sepsis oder Septikämie neben eigentlichen Fäulnisbacillen, welche zwar tote Stoffe unter schrecklichem Gestank zersetzen, dabei aber nicht in die lebenden Gewebe einzudringen vermögen. Es wäre also möglich, daß beiderlei Formen zusammen vorhanden sein müßten, um gerade Sepsis zu erzeugen. Ein spezifischer Sepsisbacillus scheint nicht zu existieren. Jedoch selbst bei völligem Ausschluß von Mikroorganismen gelingt es, septische Krankheitserscheinungen hervorzurufen, indem man einem Tiere tote, chemische Stoffe, sog. Sepsin-Ptomaine, aus der Flüssigkeit faulender Wunden dargestellt, beibringt. Hier herrscht also noch eine Unklarheit, die nur durch vielfältige weitere Untersuchungen zu heben sein wird. 308 Wissenschaftliche Rundschau. Die bisher auf diesem Gebiete gewonnenen Erfahrungen scheinen aller- dings zu der Hoffnung zu berechtigen, daß Kocr#’s Standpunkt bald völlig sichergestellt sein und daß es dann auch gelingen wird, die Mittel zur Vermeidung, Bekämpfung und Vernichtung dieser kleinsten Feinde zu entdecken. Im nächsten Hefte werden wir noch eine kurze Übersicht derjenigen in den Sektionssitzungen gemachten Mitteilungen bringen, welche auf die Entwickelungslehre oder allgemeinere biologische Fragen Bezug haben. Anatomie. Die Unterzunge des Menschen und der Säugetiere. Obgleich die menschliche Zunge ein auch am Lebenden ohne Schwierigkeit zu untersuchendes Objekt darstellt, dessen Besichtigung ja auch in der praktischen Heilkunde eine große Rolle spielt, so dürfte es doch bisher den Wenigsten aufgefallen sein, daß an ihrer unteren Fläche gar nicht selten eine eigentümliche saum- oder fransenartige Bildung vorkommt, die wahrscheinlich für die Frage nach der Herkunft und eigentlichen Natur unserer Zunge von wesentlicher Bedeutung ist. Professor C. GEGENBAUR in Heidelberg hat diesem von früheren Anatomen zwar öfter beschriebenen, aber nicht weiter gewürdigten Gebilde kürz- lich eine interessante vergleichende Studie gewidmet (Morphol. Jahrb. Bd. IX, 1884, S. 428—456; 2 Taf., 1 Holzschn.), deren Ergebnisse wir hier mitteilen wollen. Die »Plica fimbriata«, wie dieselbe in den Handbüchern der Ana- tomie zumeist benannt ist, erweist sich keineswegs als ein normales Vor- kommnis: deutlich ausgeprägt fand sie GEGENBAUR in 110 Fällen nur 18 mal, während die übrigen alle Grade der Rückbildung bis zum fast völligen Verschwinden erkennen ließen. In typischer Form stellt sie ein längliches dreieckiges Feld an der Unterfläche des freien Teiles der Zunge dar, dessen Spitze vorn gegen die Zungenspitze ausläuft, dessen seitliche Ränder aber in Gestalt einer freien Schleimhautlamelle von ca. 1 mm Breite von der übrigen Unterzungenfläche sich abheben, um hinten all- mählich wieder in diese zu verstreichen. Das dreieckige Feld wird durch eine median vom Ende des Frenulum bis gegen die Spitze hinziehende Falte halbiert; die Fläche des Feldes zeichnet sich durch völlig glatte Schleimhaut aus, seine Ränder dagegen sind mit zahlreichen zacken- oder lappenförmigen, bis zu 3 mm langen Vorsprüngen besetzt, welche als auf- fallendste Erscheinung dem Ganzen den Namen gegeben haben. Die Rückbildung betrifft entweder die Vorsprünge der seitlichen Säume oder sogar diese selbst oder die Längenausdehnung des ganzen Feldes; stets aber grenzt sich dieses wenigstens durch die Beschaffenheit seiner Schleim- haut deutlich ab. — Ein häufigeres oder stärker ausgebildetes Vorkommen dieser »>Unterzunge« (denn als solche, als mehr oder weniger selb- ständige Bildung darf sie wohl schon nach dem Vorstehenden bezeichnet Wissenschaftliche Rundschau. 309 werden) beim Kinde oder beim Neugebornen ließ sich nicht konstatieren, wenngleich sie im Verhältnis zum Volum der Zunge im ganzen beträcht- licher hervortritt. Dagegen erscheint regelmäßig in der letzten Fötal- periode eine andere, jener im allgemeinen ähnliche Bildung unterhalb derselben: eine gleichfalls zackige Schleimhautfalte, die jederseits vom Frenulum längs der Zungenbasis nach hinten zieht. Diese »Plica sub- lingualis« scheint einfach dadurch bedingt zu sein, daß die Unter- zungenspeicheldrüse (Glandula sublingualis) medianwärts von ihr einge- lagert ist und sich besonders beim Fötus wulstartig in den Raum zwischen Zunge und Boden der Mundhöhle vordrängt. Damit hängt auch wohl zusammen, daß sie schon sehr frühe, bei freierem Spiel der Zunge, sich rückbildet und beim Erwachsenen überhaupt nie mehr angetroffen wird. Was nun die Befunde bei Säugetieren betrifft, so scheint die Unterzunge bei Orang und Hylobates (vielleicht auch bei Gorilla) zu fehlen, während sie dem Schimpanse in menschenähnlicher Ausbildung und Variabilität zukommt; allen übrigen Affen fehlt sie ganz oder sie ist nur höchst rudimentär vertreten (Imuus nemestrinus, Cercopithecus sabaeus), wohingegen die vorhin erwähnten Sublingualfalten wohl überall anzutreffen sind. Ganz anders bei den Halbaffen, wo auch Tırpe- MANN die Unterzunge zuerst aufgefunden und beschrieben hat. Dieselbe erscheint hier außerordentlich selbständig, indem sie sowohl in ihren seitlichen Teilen als im vorderen Abschnitt frei vorragt; überdies ist ihr Epithelialüberzug ganz oder teilweise verhornt und hat gelbliche oder bräunliche Färbung angenommen. Da zugleich das vordere Ende in eine, zwei oder mehrere feine Spitzen ausläuft und die Basis durch plötzliche Verschmälerung von ihrer Wurzel abgesetzt erscheint, so erhält das Ganze eine unverkennbare Ähnlichkeit mit der Vogelzunge, wie schon TiEDEmANN bemerkte. In der Regel ist aber auch die Sublingualfalte besonders in ihrer mittleren Partie gut entwickelt, so daß z. B. bei Stenops gracilis drei scharf getrennte zungenartige Gebilde übereinander zu liegen kommen. Ähnlich verhält sich Zemur, während Chiromys und Tarsius schon entschieden zu dem Verhalten der Beuteltiere überleiten, wo das Organ in seiner ganzen Länge mit der Unterfläche der Zunge chen ist. Dagegen hat es an Ausdehnung gewonnen, indem es meist bis zur Zungenspitze reicht und mit seinen gewöhnlich glatten Rändern weit nach hinten sich ausdehnt. Eine mediane Falte ist immer stark ausgeprägt, sie trägt aber keine dicke Hornschicht mehr, sondern zeigt sich selbst bei größerer Derbheit doch mehr in Über mane mit der Nachbarschaft. Eine Plica sublingualis fehlt häufig. — Fernere Untersuchungen bei einigen Nagern, Insektenfressern, Karnivoren, Huftieren und Fledermäusen ließen Homologa der Unterzunge mehrfach auffinden, ohne daß die nähere Betrachtung der- selben jedoch zur Lösung der vorliegenden Frage wesentlich beitragen könnte. Es ergibt sich aus dem Mitgeteilten, daß vor allem scharf zwischen einem zur Zunge gehörigen Gebilde, der »Unterzunge«, und der ihr ur- sprünglich fremden Plica sublingualis zu unterscheiden ist und daß die erstere, inihrem primitiveren Zustande (bei den Halbaffen) noch vogelzungen- ähnlich, verhornt, sehr selbständig, bei den Marsupialien mehr und mehr in die Zunge aufgeht, dabei aber noch ebenso allgemein verbreitet bleibt 310 Wissenschaftliche Rundschau. wie dort, während die übrigen Säugetierordnungen und insbesondere die Primaten eine Unterzunge nur noch in rudimentärer Form oder gar nicht mehr aufweisen. Frägt man aber nach der Funktion dieses Gebildes, so ist einleuchtend, daß eine solche auch schon bei den Halbaffen nicht mehr möglich ist, daß wir es also mit anderen Worten auch hier bereits mit einem funktionslos gewordenen, in der Rückbildung begriffenen Organ zu thun haben, das sich von früheren einfacheren Zuständen her noch erhalten hat. Da nun diese Rückbildung innerhalb des Kreises der Säuge- tiere, wie wir gesehen haben, den Weg einschlägt, daß die eigentliche Zunge immer mehr das Übergewicht über die Unterzunge erlangt und dieselbe dabei immer vollständiger in sich aufnimmt, so liegt die Vermutung nahe, es sei die Unterzunge früher noch ansehnlicher und selbständiger gewesen, während die Zunge dagegen, je weiter wir sie zurückverfolgen, um so schwächer entwickelt erscheinen mochte und ursprünglich vielleicht nur einen unbedeutenden Auswuchs auf dem Rücken der bis dahin als »Zunge« fungierenden Unterzunge darstellte. Diese selbst hätten wir uns denn wohl zugleich noch stärker verhornt und weniger beweglich zu denken, als sie es bei den Halbaffen ist, somit ungefähr gleich der Zunge. der heutigen Vögel, die zwar natürlich nicht als unmittelbarer Vorläufer der Säugetierzunge gelten kann, wohl aber einen primitiven Zustand dieses Organs repräsentiren mag, wie sie denn auch in der That hinsichtlich ihrer Muskulatur eine tiefere Stufe einnimmt als diejenige der meisten Reptilien. Diese Annahme, wonach also die Zunge der niederen Wirbeltiere gar nicht dem ebenso genannten Organ der Säuger, sondern deren »Unter- zunge< homolog zu setzen wäre, läßt auch aufs einfachste die sonst unerklärliche Verhornung der Unterzunge bei den Halbaffen sowie ihre immerhin ansehnliche Ausbildung ohne irgendwie nachweisbare Funktion verstehen. Der Umstand, daß wir hier und nicht bei den Beuteltieren die an frühere Verhältnisse anknüpfende Gestaltung des Organs antreffen, kann nicht gegen die Hypothese sprechen, da wir ja unzähligemal schon die Erfahrung gemacht haben, daß einzelne Organe in solchen isolierten Gruppen, wie es die Halbaffen unzweifelhaft sind, ein ursprünglicheres Verhalten bewahrt haben als in anderen nach ihrer übrigen Organisation tiefer zu stellenden Formenkreisen. Es müßte von Interesse sein, die Beschaffenheit der fraglichen Teile bei den Edentaten kennen zu lernen, wenigstens bei den nicht allzusehr durch eigentümliche Ernährungsweise modifizierten Gürtel- und Faultieren. Den Monotremen allerdings fehlt eine Unterzunge völlig, doch erklärt sich dies ja ebenfalls sehr einfach aus der abweichenden Lebensweise der beiden unter sich so verschiedenen Vertreter dieser Gruppe. Immerhin ist bemerkenswert, daß die Musku- latur der Zunge selbst bedeutend von derjenigen der übrigen Säuger sich entfernt und insbesondere durch Zurücktreten des M. genioglossus und Überwiegen des M. hyoglossus lebhaft an die Zustände bei den Rep- tilien erinnert. Ihre sichere Begründung kann die vorgetragene Hypo- these jedoch natürlich erst von einer eingehenden vergleichend-anato- mischen Untersuchung erwarten, die sämtliche Beziehungen der Zunge und der mit ihr in Zusammenhang stehenden Teile bei allen Wirbel- tieren genau berücksichtigt. Wissenschaftliche Rundschau. . 311 Botanik. Georg Bentham’s Beiträge zur Entwickelungslehre. Der am 10. September d. J. im Alter von 84 Jahren verstorbene berühmte englische Botaniker Grors Bentruam! ist in den Fachkreisen Deutschlands hauptsächlich durch seine vieljährige Thätigkeit als Syste- matiker und seine betreffenden Spezialwerke bekannt. Es dürfte indessen auch für weitere Kreise von Interesse sein, auf die vortrefflichen Be- sprechungen allgemeiner biologischer Fragen aufmerksam gemacht zu werden, welche sich in BentHuam’s Schriften und zumal in seinen Reden als Präsident der Londoner Linnean Society finden. Verschieden von manchen anderen in systematischen Arbeiten ergrauten Botanikern und Zoologen, hat BexrHuam — gleich seinem eminenten Fachgenossen und Freunde J. D. Hook£er — die Darwın’sche Reformation alsbald mit Freuden begrüßt und die neue Lehre für Pflanzengeographie und Pflanzen- geschichte vielfältig lichtbringend in Nutzanwendung gezogen. Manche der von BexntHam dargelegten Gesichtspunkte werden noch kaum all- seitig in ihrer vollen Bedeutung gewürdigt oder sind in Deutschland erst durch das ausgezeichnete Werk EnGLer’s: »Versuch einer Entwickelungs- geschichte der Pflanzenwelt«, zur Geltung gelangt, während vorher unter dem Einflusse des an Thatsachen ebenso reichen als in deren Beurteilung schwachen GriseBAcH schen Buches »Die Vegetation der Erde« vielfältig unklare Ansichten auf den betreffenden Gebieten verbreitet waren. Zwei Präsidialadressen BrxntHuams an die Linn&'sche Gesellschaft, vom 24. Mai 1869 und vom gleichen Tage 1870?, haben wir vor allem hier zu betrachten. In der ersteren hebt BextHuam zunächst die Be- deutung der vikarierenden Arten hervor, auf welche schon früher besonders durch Asa Gray die Aufmerksamkeit hingelenkt worden war. BentHAm legt dar, daß Arten, welche in weit von einander entfernten Ländern völlig übereinstimmen, mehr auf Übertragung in relativ neuer Zeit hindeuten; jene stellvertretenden Arten dagegen, welche in ent- fernten Gebieten in verschiedenen, doch nahe verwandten Formen auf- treten, wie z. B. die orientalische und die amerikanische Platane, »die drei Formen von Waulfenia, jede auf beschränktem Areal, in Kärnten, Kleinasien und auf dem Himalaja, die drei Varietäten der Zeder in Himalaja, Libanon und Atlas und unzählige ähnliche Fälle gewähren eine beträchtliche Einsicht in die frühere Erdgeschichte, indem sie auf eine Gemeinsamkeit der Herkunft deuten, in Perioden, als manche jetzt unübersteigbare Verbreitungsschranken noch nicht existiert haben können«. Ebenso wichtig und wohl noch mehr unserm Autor original eigen- tümlich ist seine im gleichen Vortrage enthaltene Darlegung der Bedeutung der endemischen, d. h. gewissen mehr oder weniger beschränkten geographischen Gebieten eigenen Arten. BerxrtHam statuiert hier das überaus fruchtbare Prinzip, daß die endemischen Arten zwei entgegen- ! Neffe des Rechtsphilosophen Jeremy Bentham. ?2 Beide im Linnean Journal, letztere auch in Nature, 2. Juni 1870. 312 Wissenschaftliche Rundschau. gesetzten Kategorien angehören: in den einen Fällen sind es Neubildungen, in ihren gegenwärtigen Wohngebieten selbst entwickelt, in anderen Fällen dagegen sind es die letzten Vertreter alter, früher weitverbreiteter, aber durch klimatische oder geologische Änderungen zurückgedrängter und nunmehr auf ein kleines Gebiet beschränkter Typen. Entsprechend unter- scheiden sich die an endemischen Arten reichen Erdgegenden einerseits als Entstehungs-, anderseits als Erhaltungsareale, wobei indessen nicht ausgeschlossen ist, daß dasselbe Gebiet, wie z. B. die Alpenkette, für gewisse Gruppen an Neubildungen reich ist, während es zugleich anderwärts verdrängten Typen die letzte Zufluchtsstätte gewährt. — Diese Unterscheidungen sind für die Pflanzen- und Tiergeographie von bahnbrechender Bedeutung geworden; BenxtHuam selbst hat sie vielfach angewandt und zumal EnstLer dieselben in lichtvoller Weise für die ver- schiedensten Erdteile durchgeführt. Im zweiten der oben gedachten Vorträge finden wir die Begründung nicht minder umfassender und folgenreicher Prinzipien, zunächst jenes, daß in der geologischen Aufeinanderfolge der organischen Typen >an- scheinend unbegrenzte Beharrung und totale Abänderung Hand in Hand gehen können, ohne daß für letztere irgend eine allgemeine Katastrophe erforderlich wäre, welche die erstere ausschließen würde«. Es leuchtet ein, daß dieser Grundsatz nicht minder als für die Arten und höheren Typen auch für die einzelnen Organe gültig ist: wie in der Phylogenese gewisse Typen eine Reihe von Erdperioden hindurch stabil geblieben sind, während andere sozusagen unter unseren Augen sich verändern, so können auch gewisse Organe von uralten Vorfahren her unverändert vererbt worden sein, während andere Organe derselben Träger die tiefgreifendsten Modifikationen erfahren haben. BrvrHam erläutert das Obige durch das Beispiel der Sumpfeypresse des südlichen Nordamerika, Taxodium distichum, welche einst zusammen mit der jetzt auf Kalifornien beschränkten Gattung Seguoia und vielen anderen Bäumen in Spitzbergen und Grönland lebte. »Als diese Wälder durch die allgemeine Wärmeabnahme zerstört wurden, nahm Taxodium ein Areal ein, ausgedehnt genug, um Distrikte einzuschließen, in welchen es noch leben und sich fortpflanzen konnte; und weichen Schädlichkeiten es auch in einigen Teilen oder selbst im ganzen seines ursprünglichen Gebietes ausgesetzt gewesen sein mag, so fand es doch durch allmähliche Ausbreitung und Wanderung stets einen Ort, wo es fortdauerte und seine Rasse erhielt, von Generation zu Generation bis zum heutigen Tage, un- verändert in Merkmalen und ohne Wechsel seiner Anforderungen«, — trotz der größeren oder geringeren Veränderungen der Typen, mit welchen es vergesellschaftet war und von welchen manche durch geographische und klimatische Wechselfälle ausgetilgt oder durch andere Typen verdrängt, andere mittels natürlicher Zuchtwahl mehr oder weniger abgeändert wurden. Sofort warnt BevtHam dann — und diese Mahnung ist eine sehr beachtenswerte — vor übereilten Schlüssen aus den Orten des gegen- wärtigen oder auch des ältestbekannten fossilen Vorkommens von Arten auf die Entstehungsorte derselben. Solche Funde, wie z. B. von Taxodium etc. in Spitzbergen, können niemals beweisen, dab die betreffenden Spezies etc. Wissenschaftliche Rundschau. 313 daselbst entstanden sind und nicht in noch früheren Zeiten ein anderes Gebiet bewohnten. Beiläufig sei erwähnt, daß BrxtHuam bereits in diesen Vorträgen entschiedene Zweifel erhob hinsichtlich der damals noch (seit UnGEr’s »Neuholland in Europa«) allgemein angenommenen Bestimmung gewisser im europäischen Eocän verbreiteter Blattreste als Proteaceen, welche Zweifel seitdem wesentliche Bekräftigung gefunden haben. — Nicht ver- schweigen wollen wir, dab Bextuam bei demselben Anlasse sich ent- schieden für die sog. Abstammung von Einem Paar aussprach. Er sagt: »Die Lehre, daß jede Rasse (Spezies oder von einer solchen abgeleitete Speziesgruppe) ihren Ursprung in einem einzigen Individuum und dem- nach an einem einzigen Orte nahm, von welchem aus sie sich allmählich verbreitete, ist eine notwendige Konsequenz der Annahme Darwın'scher Ansichten«. Der »einheitliche Stammvater« wurde aber bekanntlich in den späteren Auflagen der »Entstehung der Arten< von Darwın selbst aufgegeben und damit verlor auch der einheitliche Ausgangspunkt seine bestimmte Bedeutung. Die damit eröffneten Fragen der monophyletischen oder polyphyletischen Deszendenz sind von höchster, noch oft unter- schätzter Wichtigkeit; wir können indessen hier nicht näher darauf ein- gehen. — Eine spätere Rede BrxtHam’s, vom Mai 1875, enthält eine sehr bemerkenswerte Kritik der gebräuchlichen Aufstellung von Stammbäumen für das Pflanzen- wie für das Tierreich; zumal warnt BEntHAam vor solchen Versuchen, bei welchen, in Ermangelung leitender paläontologischer Funde, Stammtypen und Nachkommen als noch gegenwärtig koexistierend an- genommen werden. »Soll das Bild eines Baumes zur Versinnlichung der Verwandtschaft von Pflanzentypen Anwendung finden, so muß es anders aufgefaßt werden.... In der imaginären Konstruktion eines solchen Baumes..... für die Dikotyledonen z. B. können wir nichts weiter thun, als gewissermaßen die Gipfelkrone aus der Vogelperspektive skizzieren. .... Wir würden dann die gegenwärtig lebenden Typen vertreten sehen durch die zahllosen Zweiglein, welche den flachen Gipfel bilden, — 100 bis 150 000, wenn wir nur die Spezies in Betracht ziehen, zehnmal so viel, wenn wir bis zu Subspezies und Varietäten gehen. Die Zweige, welche unmittel- bar diese gegenwärtigen Zweiglein tragen, ebenso die unteren, all- gemeineren Verästelungen, würden unseren Blicken ganz entschwunden sein oder nur hier und da die fragmentarischsten Spuren hinterlassen haben, und die überlebenden Zweiglein selbst würden aufs unregel- mäßigste verteilt sein. Hier würden wir Tausende in kompakte und allseitig bestimmt umschriebene Gruppen zusammengehäuft sehen (Kom- positen, Orchideen, Gramineen etc.), dort würden wir enorme Lücken bemerken, entweder ganz unausgefüllt oder mit wenigen vereinzelten Zweiglein oder kleinen Häuflein derselben in der Mitte (Aristolochia, Nepenthes ete.)....« Bexruam erläutert dann, wie wir uns diese Gruppen durch supponierte Stammtypen verbunden denken können, ge- leitet durch organologische, geographische u. a. Beziehungen. >»Solche Beweismittel werden stets äußerst vag und unsicher sein, und die Hilfe, welche wir von geologischen Daten erlangen können, ist so überaus 214 Wissenschaftliche Rundschau. geringfügig ', zumal wenn wir unter jene Tertiärzeiten hinabsteigen, in welchen die Verästelung nicht sehr wesentlich von der gegenwärtig zu erkennenden verschieden war, daß in der Konstruktion unseres Baumes vieles der Einbildungskraft überlassen bleiben muß. Dennoch, indem thatsächliche Affinitäten und geographische Beziehungen eifriger studiert und indem hier und da fehlende Zwischenglieder entdeckt werden, sei es unter fossilen Resten, sei es noch überlebend in unerforschten Erdgegenden, können wir immerhin hoffen, nach und nach eine angemessene Übersicht der verlorenen Verzweigungen unseres Dikotyledonenbaumes zu erlangen, vorausgesetzt, daß wir stets auf unserer Hut sind gegen den verbreiteten Irrtum, plausible Vermutungen als festgestellte Thatsachen zu behandeln. « Die Nutzanwendung dieser so klaren und vorsichtigen Maximen finden wir in besonders lehrreicher Weise in unseres Autors bedeutender Arbeit über die Kompositen”, einer Zusammenfassung der Haupt- ergebnisse der Behandlung dieser größten Pflanzenordnung in BENTHAM’S und HookeEr’s gemeinsamem Hauptwerke Genera Plantarum (1862—83), mit dessen Vollendung im vorigen Jahre der ehrwürdige Greis seine ver- dienstvolle Thätigkeit abgeschlossen hat. BrxrHam bespricht hier zu- nächst die leitenden Merkmale der verschiedenen Blütenteile in ihrer Bedeutung für die Systematik der Kompositen, welche er in 13 Tribus einteilt, und wendet sich dann zur Geschichte und geographischen Ver- breitung. Auch wenn die mehrfach geäußerte Ansicht richtig sein sollte, daß die Kompositen den Höhepunkt der Entwickelung des Pflanzenreichs bilden® und somit relativ neuer Entstehung seien, >... so müssen wir anderseits bedenken, daß die vielen monotypischen und oligotypischen Genera, welche je auf die weit entfernten Präservationszentren* des Mittelmeergebiets, des tropischen und südlichen Afrika, Australiens, Chilis ete. beschränkt sind, auf eine sehr weite Dispersion des ursprüng- lichen Bestandes der Ordnung in einer sehr frühen Periode deuten, in welcher die Gestaltung der Erdoberfläche von der gegenwärtigen sehr verschieden gewesen sein muß, .... und daß vor dieser Dispersion der Stamm lange genug existiert haben muß, um den wesentlichen Merk- malen eine sonst beispiellose Konstanz zu geben, ...« wie sie sich bei allen den ca. 10 000 Spezies jetzt noch zeigt. Über die geologische Periode, in welcher der Kompositentypus entstand, gestattet BExtHam sich gar keine Vermutung. Er gibt eine nähere Untersuchung der Ver- breitung der Tribus und wichtigsten Genera, voll lehrreicher Streiflichter auf die vermutliche Vorgeschichte dieser Verbreitung, deren unermeß- liches Alter es ermöglichte, daß z. B. die Gattung Adenostyles außer ! Es ist hier nicht zu übersehen, dab Bentham nur vom Pflanzenreiche, speziell von den Dikotyledonen spricht. Für viele Abteilungen des Tierreiches liegt die Sache dadurch anders, daß fossile Zwischenglieder reichlich bekannt sind. ® Notes on the Classification, History and Geographical Distribution of Com- positae. — Journal of the Linnean Society, v. XIII, No. 70/72, London 1873. ® „Wenn wir in dem Fortschritt vom Einfacheren zum Zusammengesetzteren eine Reihenfolge erkennen wollen, so müssen wir offenbar die Gräser und Kom- positen als die höchste Stufe der gegenwärtigen irdischen Vegetation ansehen.“ Schleiden, „Die Pflanze u. ihr Leben.“ * Erhaltungsareale, s. o. S. 312. Litteratur und Kritik. 315 den wenigen europäischen Arten nur noch eine kalifornische aufweist, ohne alle Vertreter in den weiten asiatischen und amerikanischen Zwischen- ländern — dab Helichrysum außer ca. 30 mediterranen Arten 137 süd- afrikanische und ca. 60 australische und neuseeländische besitzt — daß von einer Subtribus Petrobieae (zur Tribus Helianthoideae gehörig), in welcher BentHuam nach Eigentümlichkeiten des Blütenbaues die ver- hältnismäßig geringste Abänderung von der Urform der ganzen Ordnung vermutet, nur zwei Arten von Chili, eine von Quito und eine von St. Helena bekannt sind — daß den vielen monotypischen und lokalen Gattungen die mehrere hundert Arten zählende und über alle Erdteile und durch alle Klimate verbreitete Gattung Senecio gegenübersteht. — Diese Betrachtung der einzelnen Familien und Gattungen in Hinsicht auf deren geographische Verbreitung wird dann ergänzt durch ver- gleichende Erörterung der einzelnen Erdgebiete in Hinsicht auf die sie bewohnenden Kompositen, zumal auf die verschiedenen Gebieten gemein- samen Typen und auf die zu Grunde liegenden vermutlichen vorzeitlichen Verbindungen und Wanderungen. Hierauf näher einzugehen, ist diese Skizze nicht geeignet; unsere Absicht ist nur, auf die Wichtigkeit der besprochenen und noch vieler anderer Arbeiten BzwrHuams für die Entwickelungslehre hinzuweisen, besonders darauf, daß aus diesen Arbeiten ebensowohl Zuversicht auf die Festigkeit und Fruchtbarkeit der transformistischen Grundsätze als auch vorsichtige Zurückhaltung vor übereilt-spekulativen Versuchen in der Anwendung derselben zu lernen ist. NUZEL Litteratur und Kritik. Der Kampf mit der Nahrung. Ein Beitrag zum Darwinismus von G. Tornıer. (XI, 207 S. 8°.) Berlin 1884. Verlag von Issleib. Das vorliegende Werk hat nach des Verf. Aussage den Zweck, den >Verwirrungen in den Grundbegriffen der Entwickelungstheorie«, die der Entwickelung des Darwinismus sehr geschadet, entgegenzutreten und nament- lich »auf Grund der bis jetzt vorliegenden Thatsachen zu entscheiden, ob innere oder äußere Ursachen die Umwandlung der Organismen be- wirkendaß die Konvergenz in der Nahrung Kon- vergenz in Form und Gestalt« hervorzurufen vermöge. Wir ge- stehen unumwunden, daß trotz ihrer sehr bestechenden Seiten die Warvace'sche Theorie uns nicht völlig befriedigt, daß wir aber der von TorNIEr dargelegten vor der Hand den Vorzug noch nicht geben. In- dem die Analogie der Nahrung als Ursache der Analogie der Form etc. hingestellt wird, kann doch im besten Fall nur jenes Gebiet der Mimiery erklärt werden, wo ein tierischer Organismus einem andern sich anpaßt. Denn Farbenanpassung an die Umgebung ist weder durch Analogie der Nahrung. noch durch die Art der Nahrung zu erklären. Daß eine grüne Raupe grün ist, weil sie grünes Gras, grüne Blätter ete. frißt, wird Verf. doch nicht behaupten wollen. Er käme ja dadurch in die schwierige Position, das weiße Futter des Schneehasen, des Polarfuchses etc. nach- zuweisen. In diesen Darlegungen über die Mimiery liegt der schwache Punkt der Arbeit, der vor der Logik nicht überall standhalten kann, der sich auch gelegentlich kaum wissenschaftlicher Argumente bedient. Zum Beweis des zuletzt Gesagten führen wir folgende Stelle an: »Auch bei den Säugetieren finden sich Analogien bei gleicher Nahrung, so zwischen den fleischfressenden Raub- und Beuteltieren, worauf schon die Namen: Beutelhund, Beutelmarder, Beutelratte etc. hindeuten.« Es riecht solche Argumentation bedenklich nach der bekannten JÄger’schen Be- weisführung, der in dem »Zauberduft< der Poeten die unbewußte Be- stätigung seiner Seelenlehre findet. — Wer möchte leugnen, dab die Nahrung auch bei Tieren bedeutenden Einfluß auf Form u. s. f. ausübt? Es ließe sich ja jeder derartigen Negation die ausnahmsweise Aufzucht einer Bienenkönigin aus Arbeiterbienenanlagen entgegenhalten. Aber von »Einfluß der Nahrung auf die Organisation« bis zu »Formenanalogie bei analoger Nahrung« ist noch ein Riesenschritt. In zu einseitiger Verfolgung einer Idee, die wohl ursprünglich als der Ausfluß von Thatsachen gelten muß, hat sich Verf. in eine unhalt- bare Stellung verrannt. Das hindert allerdings nicht, daß das Werk in vielen seiner Partien unser volles Interesse verdient. Winterthur. Dr. Ro. KELLER. 318 Litteratur und Kritik. Das Weib in der Natur- und Völkerkunde. Anthropologische Studien von Dr. H. Pross. Leipzig, Th. Grieben’s Verlag 1884. 8°, Vollständig in S Lieferungen. Bis jetzt liegen 4 Lieferungen (Band I und den Anfang des I. enthaltend) von diesem interessanten Werke vor, in welchem der Ver- fasser von »Das Kind in Brauch und Sitte der Völker« (2. Aufl. Berlin 1883) einen wahrlich nicht minder wichtigen und anziehenden Gegen- stand von vergleichend-anthropologischen Gesichtspunkten aus zu be- handeln unternommen hat. Es ist selbstverständlich, daß er als Arzt vorzugsweise auf die anatomischen, physiologischen und insbesondere pathologischen und therapeutischen Seiten seines umfassenden Themas Gewicht legt, während die psychischen Eigentümlichkeiten des Weibes, seine Stellung in Familie, Gesellschaft, Staat, Wirtschaft u. s. w. bei den verschiedenen Völkern mehr in den Hintergrund treten. Demgemäß sind in dieser ersten Hälfte des Buches entschieden am wertvollsten die Kapitel über die Sexualorgane, die Reife des Weibes, seine Beziehungen zum männlichen Geschlecht, Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit, Schwanger- schaft und Verhalten in derselben, welche ein ungemein reichhaltiges Material an Beobachtungen, statistischen Untersuchungen, einschlägigen Angaben aus Reiseberichten u. s. w. bringen. Freilich ist es bei der hier befolgten Methode, fast jede einzelne Erscheinung im Leben und Sein des Weibes für sich zu behandeln und die darauf bezüglichen Daten gesondert aufzuführen, nicht ohne mancherlei Wiederholungen abgegangen _ (im Abschnitt »Heiratsalter« kehrt vieles von dem unter »Pubertät« Gesagten wörtlich wieder, und ähnlich an zahlreichen anderen Stellen), und viele Partien machen den Eindruck einer noch ziemlich ungeordneten oder nur provisorisch klassifizierten Sammlung; allein man muß dem Verfasser auch schon für das in solcher Form Gebotene aufrichtig dank- bar sein und sich mit dem vom Verfasser selbst citierten Ausspruch Basııan s trösten: »Besser vorläufige Verwirrung unter dem objektiven Material, das sich jederzeit, wenn die rechte Zeit gekommen, methodisch zurechtschieben läßt, als eine Verwirrung in subjektiven Ansichten« — ohne daß wir uns damit etwa zu den allgemeinen wissenschaftlichen Prinzipien des letzteren bekannt haben wollen. — Die einleitenden Kapitel: 1. Anthropologische, 2. ästhetische Auffassung des Weibes, 3. Auffassung des Weibes im Volks- und religiösen Glauben, wird man ohne großen Schaden überschlagen, weil eben gerade auf diesem Felde mit dem bloßen Zusammentragen des Rohstoffes, wie z. B. aller mög- lichen Äußerungen über Schönheit der Frauen oder einzelner ihrer Körperteile bei diesen und jenen Völkern, noch gar zu wenig für ein wirkliches Verständnis geleistet und die Gefahr weder vermieden noch auch nur angedeutet ist, daß hier über Zufälligem und Nebensächlichem gar zu leicht eben das übersehen wird, was für die genetische Erklärung den größten Wert haben würde. — Der II. Band des Werkes wird hauptsächlich der Geburt und allem, was damit zusammenhängt, gewidmet sein — ein Gebiet, auf welchem sich der Verfasser bereits durch zahl- reiche Detailforschungen rühmlichst bekannt gemacht hat, so dab wir Litteratur und Kritik. 319 mit Bestimmtheit einer vortrefflichen Leistung entgegensehen dürfen. — Zum Schluß noch die Bemerkung, daß die »Geburtshelferkröte« ihren Namen keineswegs, wie S. 123 angedeutet ist, dem Volksaberglauben verdankt, welcher die Gebärmutter für ein Tier von der Gestalt einer Kröte hält, sondern dem Umstande, daß bekanntlich das Männchen dieser Art sich die vom Weibchen abgelegten Eierschnüre um die Hinterbeine wickelt und dadurch gleichsam als Geburtshelfer desselben erscheint. V. Die Anatomie des Kaninchens in topographischer und operativer Rücksicht, bearbeitet von Prof. Dr. W. Krause in Göttingen. 2. Aufl. Mit 161 Fig. in Holzschn. Leipzig, W. Engelmann, 1884. XVI, 383 S, gr. 8°, Mit dem Frosche teilt bekanntlich das Kaninchen die wenig be- neidenswerte Ehre, schon längst zum »physiologischen Haustier« erhoben zu sein und zu allen möglichen vivisektorischen Operationen herhalten zu müssen. Daraus erklärt sich höchst einfach, warum wir, vom Men- schen abgesehen, bisher nur gerade von diesen beiden Wirbeltieren solche bis ins kleinste Detail gehende topographisch-anatomische Schilderungen besitzen: die Anatomie des Frosches von A. EckEr und das vorliegende Buch, dessen erste Auflage 1565 erschienen ist. In der That ist dieses ganz vorzugsweise auf die Bedürfnisse des am lebenden Tiere experimen- tierenden Physiologen und Pathologen berechnet; es bietet aber natür- lich auch dem vergleichenden Anatomen eine sehr bequeme, äußerst reichhaltige und durchaus zuverlässige Sammlung von Einzelthatsachen, die z. T. in den verschiedensten Arbeiten zerstreut, z. T. erst durch den Verfasser selbst festgestellt sind und, mit den Befunden bei anderen verwandten Formen in Beziehung gebracht, als unentbehrliche Grundlage allgemeinerer Erkenntnisse dienen können. Das aber sei, um falschen Auffassungen vorzubeugen, bestimmt ausgesprochen, dab eine solche Materialiensammlung als solche mit der Wissenschaft nichts zu thun hat, daß sie erst durch ihre Verwertung im Dienste irgend einer leitenden Idee eigentliche Bedeutung erlangt. — Übrigens geht auch hier der speziellen Anatomie eine kurze »allgemeine Anatomie« der Organsysteme voraus, welche wenigstens vergleichende Blicke auf das Verhalten beim Menschen wirft und diejenigen Besonderheiten hervorhebt, durch welche sich der Bau des Kaninchens vom menschlichen unterscheidet, und das Ganze wird eingeleitet durch eine gedrängte Darstellung der Natur- geschichte des Tieres, seiner Rassen, seiner Unterschiede vom Hasen und seiner Krankheiten, aus der wir das gewiß für alle unsere Leser inter- essante Ergebnis der Diskussion über die Frage, ob es wirklich unter sich fruchtbare Bastarde zwischen Hasen und Kaninchen gebe, hier noch mitteilen wollen. Bekanntlich werden seit Mitte der sechziger Jahre von Frankreich aus sogenannte Hasenkaninchen, Lievres-lapins in den Handel gebracht, die durch Kreuzung der beiden Arten und fortgesetzte Inzucht der erzielten Bastarde entstanden sein sollten. Während Darwın selbst sich hierüber sehr vorsichtig äußerte (vgl. »Entstehung der Arten«, 6. Aufl. 1876, 8. 335, wo übrigens nur von Fruchtbarkeit der Bastarde 320 Litteratur und Kritik. mit einer der Stammarten die Rede ist, und »Variieren der Tiere und Pflanzen« etc. 3. Aufl. 1578, S. 115), wurde von anderen Seiten die Existenz einer auf solchem Wege neu gebildeten Art als ausgemacht hingenommen, dieselbe mit dem wissenschaftlichen Namen Zepus Dar- winii belegt und als Beweismittel gegen die Möglichkeit einer Abgrenzung der Arten auf Grund der Unfruchtbarkeit ihrer Bastarde aufgeführt. Namentlich hat P. BrocaA’s Bericht über die Hasenkaninchenzucht von Rovy in Angoul&me, wonach dieselbe mit der größten Sorgfalt über- wacht sein sollte, die etwaigen Zweifel beschwichtigt, und Prof. Zürn glaubte 1872 auch auf anatomischem Wege, nämlich durch Vergleichung der Skelette von solchen »Leporiden« aus der dritten bis sechsten Ge- neration, die in Westpreußen anscheinend unter Befolgung aller nur möglichen Vorsicht seit 1366 gezüchtet worden waren, mit dem Skelett von Hasen und Kaninchen den Beweis erbringen zu können, daß jene in der That ziemlich genau die Mitte zwischen diesen hielten. Allein schon vox NarHuusıus kam durch Vergleichung einer größeren Anzahl solcher Skelette zu dem Schluß, daß sowohl die französischen als die westpreußischen (sogen. echten) Leporiden in allen wesentlichen Punkten vom Kaninchen in seinen größeren Abarten nicht abweichen, und KrAusE zeigt nun dasselbe auf Grund einer ganz genauen Prüfung der Maße und sonstigen Formverhältnisse dieser Rassen. Die Leporiden, fran- zösischen wie deutschen Ursprungs, sind also nichts weiter als Varietäten des Lepus cumiculus und haben kein Hasenblut in ihren Adern. Wie ist denn aber jene Sage von ihrer Herkunft entstanden? Was die fran- zösischen Erzeugnisse betrifft, so ist es gelungen, dieselben sämtlich als auf mehr oder weniger absichtlicher Täuschung beruhend nachzuweisen, einer Täuschung, für welche das Motiv nahe genug liegt: der Hase ist in Frankreich seit der ersten Revolution sehr selten geworden; statt seiner wird das Kaninchen in großer Anzahl gegessen; nun hat aber das Tier natürlich einen höheren Handelswert, wenn dem Käufer glaubhaft gemacht werden kann, dasselbe sei wenigstens ein halber Hase. In bezug auf den westpreußischen Fall aber, wo derartige Beweggründe völlig ausgeschlossen sind, ist daran zu erinnern, daß erfahrungsgemäß brünstige Kaninchen, Weibchen wie Männchen, oft komplizierte Kletter- versuche ausführen, um zu einander zu gelangen, und daß jede Unvor- sichtigkeit eines Wärters z. B. beim Füttern leicht zu Täuschungen hin- sichtlich der Herkunft neuer Generationen Anlaß geben kann. — Es würde sich also, falls man überhaupt so großes Gewicht auf die Ent- scheidung gerade dieser Frage legen mag, darum handeln, den Versuch noch einmal unter genauester Kontrolle zu wiederholen. Das Resultat dürfte immerhin zur Feststellung der Thatsache und des etwaigen Ein- flusses der einen und andern Stammform auf die Nachkommen von Interesse sein; jedenfalls aber braucht die Deszendenzlehre heutzutage solcher Stützen nicht mehr, um dem Vorwurf allzu mangelhafter that- sächlicher Begründung entzogen zu sein. V: Ausgegeben den 20. Oktober 1884. Die Entstehung der Sprache durch Nachahmung des Schalles. Von Theodor Curti. I: Der äußere Anlaß zu dieser Arbeit ist die in einem deutschen Blatte erschienene Rezension von Tytor's »Einleitung in das Studium der Anthro- pologie und Zivilisation< geworden, die innere Veranlassung aber ist viel älteren Datums, das Bedürfnis des Verfassers, sich über die Entstehung der Sprache ins Klare zu setzen. Jener Rezensent nahm Bezug auf die Theorien GrigEr’s und Noırf’s und wies denselben gegenüber auf den Nachdruck hin, mit welchem Tyror sich der onomatopoetischen Erklärungsweise annimmt. Aber weder aus der Rezension noch aus dem Werke selbst läßt sich die Überzeugung gewinnen, daß der englische An- thropologe über die wirklichen Schwierigkeiten Herr geworden sei, die sich dem Nachweise, daß die Sprache nur durch Schallnachahmung entstanden sein könne, entgegenstellen. Eine große Rolle bei der Bildung der Wörter ist der Onomatopöie oft genug zugeschrieben worden. Insofern sind Trror’s Ausführungen weder neu, noch gehen sie in die Tiefe, was beides für diesen Leitfaden des anthropologischen Studiums auch kaum beabsichtigt wurde. Soweit es sich aber um die Beispiele dafür han- delt, daß die Verschiedenheit der Laute ein Behelf war, um neue Wörter zu bilden, ähnlich wie Guyrox DE MorvEAU aus der Bezeichnung Sulfate die Bezeichnung Sulfite geschaffen habe, so steigen hiegegen philologische Zweifel auf, und mit einer Theorie der Entstehung der Sprache durch Schallnachahmung hat diese Seite der Betrachtung Tyuor’s natürlich nichts zu thun. Das folgende soll nun ein Versuch sein, zu zeigen, wie es möglich war, daß auch diejenigen Wurzeln, welche nicht als onomatopo&tische angesehen werden, onomatopoetischen Ursprung haben konnten, so dab das gesamte ursprüngliche Material, aus welchem sprachliche Begriffe gebildet wurden, als durch Schallnachahmung erzeugt erschiene. Denn hierauf kommt es an. Besteht die bezeichnete Möglichkeit, dann fallen die gewichtigsten Einwände gegen eine Auffassung, welche zu teilen — im Gegensatze zu andern, die sämtlich etwas Gekünsteltes und Ge- Kosmos 1884, II. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XV). 21 322 Theodor Curti, Die Entstehung der Sprache %“ schraubtes haben — stets große Neigung herrschte. Um mehr aber als um die Darlegung dieser Möglichkeit und damit um die Aufstellung der Hypothese von der größten Wahrscheinlichkeit kann es sich nicht handeln, es müßte denn, was übrigens aus manchen Gründen zweifel- haft ist, eine Revision der Formen und Bedeutungen der Wurzeln er- geben, daß diese nur Schallnachahmung sind ähnlich etwa wie die Atom- gewichte der chemischen Elemente infolge der Theorie MENDELEJEW’s eine Revision und Neubestimmung erfahren haben. Noıre’s Einwände gegen GEIGER, deren die Besprechung des Tytor’schen Buches auch gedenkt, sind berechtigte; die Art selbst aber, wie Noır& das Problem löst, steht derjenigen GEIGER’'s, so viel Befrem- dendes die letztere auch hat, doch nach. Sie wirft uns wieder zurück, “indem sie die fundamentale Erkenntnis, daß die Sprache gyVost, nicht +Eosı entstand, ein Produkt der Natur, nicht eine menschliche Erfindung sei, thatsächlich verleugnet. Denn wenn die ersten Wörter der Sprache die bei gemeinsamer Arbeit der Urmenschen ausgestoßenen Laute sind, so kann diese Sprachschöpfung, wenigstens so wie sie NoIRE darstellt, nicht wohl anders denn als eine Art Verabredung gedacht werden. Gewib hätte bei einer solchen, dem Wesen und den Zwecken der ge- meinsamen Arbeit entsprechend, der Laut auch eine ganz bestimmte Bedeutung annehmen müssen; die meisten Wurzeln aber sind gerade mehrdeutig. Ich glaube nun, daß Homonymie (und Synonymie) der Wurzeln, wonach derselbe Laut verschiedene Begriffe bezeichnen kann (und ver- schiedene Laute denselben Begriff bezeichnen können), sich ohne Schwierig- keit erklären lassen, wenn man die Sprache als durch Nachahmung des Schalles entstanden annimmt. Daß oft der gleiche Laut eines Kindes anfänglich dazu dient, verschiedene Begriffe zu bezeichnen, hat mich auf diesen Weg geleitet, und ich fand nachher die Bestätigung für meine Vermutung in den Vokabularien verschiedenster Sprachstämme. Il: Betrachten wir das Kind bei den ersten Äußerungen seiner Lebens- thätigkeit, so ist es der Schall, welcher an dieser in hervorragender Weise Anteil hat. Jedes Lebewesen ist ein tönender Körper; die phy- siologischen Prozesse gehen unter Geräuschen vor sich. Und wie diese von dem Bewußtsein unabhängige Thätigkeit eine schallgebende ist, gefällt sich auch das Kind, in den Anfängen des Bewußtseins stehend, im Hervorbringen von Geräuschen, Schallen, Tönen. Keinem Beobachter der Kinder im frühesten Alter kann es entgehen, wie ungemein häufig ihre Kundgebungen mittels Schalles sind und welche Freude sie an der Sprache der Eltern und an den Tierlauten empfinden, aber auch, indem sie selber lallen, babbeln, rufen und mit Gegenständen, etwa einem Holze oder Glase spielend, Töne erzeugen. So wie es Geräusche der Eingeweide gibt, aus denen der Arzt mittels Auskultation Schlüsse auf den normalen oder abnormen Zustand der Organe zieht, so sind die Laute sisisisi oder sasasasa oder öööö oder ein anderer, welchen das schlafende, und der Laut äää, welchen das schreiende Kind von durch Nachahmung des Schalles. 1. 323 sich gibt, in unserm Gehöre und Denken jener die Darstellung des Atmungs-, des Lebensprozesses, dieser die Offenbarung der Schmerz- empfindung. Schon frühe vernehmen wir von dem Säugling die Laute ma- mamama, vavavava, amama, mememe, nanana, wawawa, papapa und ähnliche, welche mit den Lippen hervorgebracht werden, ebenso, von der Zunge erzeugt, lalala, den eigentlichen Lall-Laut, oder auch bubu, fufu, mumu, lululu. Auch diese verdanken ihren Ursprung ohne Zweifel Empfindungsbewegungen; wir hören sie haupt- sächlich dann, wenn das Kind zu trinken verlangt. Es bedurfte der Lippen, so oft es an der Brust der Mutter Milch trank, und so oft es dürstet, setzen sich nun die Lippen in Bewegung. Das Bewußtsein hat offenbar mit diesem Vorgange zuerst nichts zu thun, die Lippenbewegung ist eine reflexivische, und erst allmählich dämmert dann jenes auf, um diese Bewegung in seinen Dienst zu stellen. Mit dem Wachsen der Zähne und deren Gebrauch beim Essen wird der Laut adadadad häufig, welcher einer energischeren Bewegung, als es jene Lippenbewegungen sind, seinen Ursprung verdankt, und noch energischer scheint mir sodann das tatatata zu sein, womit das Kind, den Laut mit einem Ausrecken des Armes begleitend, ein Verlangen kundgibt und etwas zu greifen sucht. So klein die Zahl dieser Lautgebärden ist, so würden sie doch schon in der Entwickelung wie des Körpers so auch des menschlichen Empfindungsvermögens und Bewubtseins eine Klimax darstellen. Aber nun darf man nicht dem Irrtum verfallen, zu glauben, es habe die Seele den Lauten eine Bedeutung gegeben, die wir eine sprach- liche heißen könnten. Die Bedeutung, welche die bezeichneten Laute anfänglich haben, ist nur eine physiologische; es sind dieselben, um uns dieses Ausdrucks zu bedienen, das Schallbild, die Klangfigur, darin eine Funktion animalischen Lebens sich ausspricht. Auf daß sie einen sprachlichen Wert erhalten, müssen die Laute von einem zweiten Wesen verwendet und muß ihnen von diesem eine Beziehung ge- geben werden. Wenn die erste Mutter des ersten Kindes dieses betrachtete, wie es schlief und fortwährend einen Atmungslaut — nennen wir ihn sisisisi — von sich gab, so konnte sie durch das Bedürfnis leicht veranlaßt sein, diesen Laut nachzubilden, und derselbe wurde in ihrem Öhre ein sinnliches Zeichen, das ihr jedesmal die Vorstellung von dem Schlafen des Kindes, dem schlafenden Kinde oder dem Kinde überhaupt erweckte — eine in dieser Periode des Bewußtseins dämmernde, unbestimmte und komplexive Vorstellung, aber immerhin bestimmt genug, um von jedem andern Vorstellungskomplex verschieden zu sein und unterschieden zu werden. Schlief die Mutter, erwachte sie und hörte sie im Dunkel den Laut sisisisi, so dachte sie, indem der Laut ihr Ohr affizierte und, in der Klaviatur des Gehirns die betreffende Taste schlagend, auch die betreffende Vorstellung wieder erzeugte, an ihr Kind. Nehmen wir jetzt an, es habe darauf die Mutter dem Manne von dem Kinde sprechen wollen, so that sie es und konnte es nur thun, indem sie sisisisi sagte. Und wenn der Mann zuvor diesen Laut vom Kinde ebenfalls gehört hatte, so verstand er den Laut, den das Weib gebrauchte; er 324 Theodor Curti, Die Entstehung der Sprache legte ihm eine Bedeutung bei — für ihn bedeutete der Laut ein Wort. Das bloße Geräusch, der Ton, — eine physiologische Außerung der menschlichen Lebensthätigkeit — ist, indem er von einer zweiten Person in eine Vorstellung umgesetzt, mitgeteilt und weiterhin begriffen wurde, zu sprachlicher Bedeutung gelangt, Sprache geworden. Wenn jedoch in dieser Darstellung jemand noch Rätsel finden sollte, so gebe ich zu, dab sie deren zahlreiche enthält, aber dieselben sind biologische, sind die Rätsel des organischen Lebens überhaupt, nicht diejenigen der Sprachbildung. Beachten wollen wir übrigens hier schon, daß ebenso gut wie sisisisi ein anderes Geräusch, welches die Eltern vom Körper des Kindes aus- gehen hörten, zu dem Worte werden konnte, bei dessen Aussprache sie sich des Kindes erinnerten. Vielleicht war dieses Wort der zuerst ge- hörte Laut, vielleicht wurde die Vorstellung von dem Kinde eine Zeitlang durch verschiedene Laute erweckt, bis derjenige die Herrschaft behauptete, der am meisten wiedergekehrt oder leichter als andere nachzuahmen war. Wenn sisisisi der erste Laut wäre, der zum Worte gestempelt wurde, so hätte schon hier der Zufall sich thätig erwiesen. Daß aber der ganze Vorgang so gewesen, dafür spricht deutlicher als das eben Gesagte die Geschichte jener zahlreichen durch Lippen- bewegung erzeugten Laute, von denen wir an zweiter Stelle sprachen. Dieselben sind für eine Reihe von Dingen und Thätigkeiten Bezeichnung geworden; wir finden sie heute noch im Wortschatz aller Sprachen, nicht bloß als Lallwörter und Kindersprache, sondern als eigentliche Ver- wandtschaftsnamen ; aber auch den Mund, die weibliche Brust, die Milch, das Getränk, das Wasser, ferner das Säugen, Trinken, Kauen und an- deres konnten sie bedeuten oder bedeuten sie. Dabei ist charakteristisch, daß die gleichen Laute, aus welchen in der einen Sprache das Wort Papa entstand, in der andeın zur Bezeichnung der Mutter verwendet wurden. Aus keinem innern Grunde ist also aus papapapa der Name des Vaters oder Mannes geworden; wenn es geschah, geschah es, weil der Laut papapapa vom Vater auf sich oder von der Mutter auf den Vater bezogen wurde, der Laut mamama, vavava aber auf die Mutter. Es konnte dasselbe mit den nach unserer Vermutung sonst für die Mutter bestimmten Lauten geschehen und ist in manchen Fällen geschehen — Beweis genug, daß die betreffenden Laute nicht jeder schon von Hause aus seine Bedeutung in sich trug und diese Bedeutung etwa dem Willen des Kindes verdankte, dessen Seele entsprang. Natür- lich ist, daß man mit den Lauten dieser ersten Lippenbewegungen die Eltern benannte, welche mit jenen gerufen zu sein glaubten, ebenso andere Verwandte und auch die Kinder selbst als die Lauterzeuger; ferner das Lippenwerk, den Mund, der die Laute hervorbrachte, die Zitze oder Brust, an welcher sie beim Säugen erschallten, das Produkt des Säugens: die Milch und infolgedessen alles Flüssige, endlich das Trinken und Kauen, weil die Lippen dieses tönend verrichteten. In- soweit allerdings besteht ein Zusammenhang zwischen den Dingen und ihren Namen, aber er ist ein äußerer, ist mechanisch-kausal. Beim Prägen der fraglichen Laute zu Wörtern war der Zufall mit im Spiel; durch Nachahmung des Schalles. 1. 325 in den verschiedenen Sprachen wurde der gleiche Laut zu verschiedenen, wenn auch gewissermaßen verwandten, weil einer Reihe verwandter Vor- stellungen angehörenden Begriffen ausgemünzt. Tyvor ceitiert aus der Mandschu-Sprache die Verschiedenheit des Lautes zur Bezeichnung der verschiedenen Geschlechter, so dab ama Vater, eme Mutter, chacha Männchen, cheche Weibchen bedeute. Aber deshalb braucht man noch nicht anzunehmen, dab der Mensch diese Unterschiede künstlich geschaffen habe. In Verbindung mit unserer Ausführung können wir uns die Unterscheidung etwa so ent- standen denken, daß das Kind die vier Laute sprach und dieselben von seinen Eltern so bezogen wurden, wie sie bezogen worden sind. War der Mutter eme zugefallen, so blieb dem Vater ama oder es hätte auch das Umgekehrte stattfinden können. Bei chacha und cheche, falls diese die später entstandenen sind, würde dann nach Analogie der eine Vokal für den Vater, der andere für die Mutter gewählt worden sein. Aber freilich noch wahrscheinlicher ist es mir, dab eine solche Analogie nicht stattfand: löse man die vier Wörter in ihre einfachsten Bestandteile auf, so bleiben uns ama und eme, chacha aber ist nur das repetierte cha und cheche das repetierte che; zwischen ama, eme, cha und che wird dann schwerlich jemand eine Ähnlichkeit der Bildung suchen wollen. Wenn nun gewisse Laute meist für den Begriff Vater, andere für den Begriff Mutter verwendet worden sind, so läßt sich im allge- meinen, angesichts des frühern Verkehrs der Mutter mit dem Kinde oder weil die Laute mama, vava und die ihnen zunächst verwandten das Säugen begleiten oder das Verlangen darnach kundgeben, vermuten, es seien diese deshalb und weil sie wohl meist die frühern, in der Mehr- heit der Fälle die Benenner der Mutter geworden. Um aber drittens von dem adadad und dem tatata zu reden, so dürften diese geeignet gewesen sein, zu solchen Wurzeln zu werden, aus denen in der Folge sehr viele Begriffswörter entstehen konnten. Manche Wurzeln und Wörter in den Sprachen unterstützen die Ver- mutung, ad habe dazu gedient, die Eßthätigkeit zu bezeichnen. Ta aber kann sehr zahlreiche Bedeutungen erlangt haben, weil das Kind beim Verlangen nach dem Verschiedensten diesen Laut gebrauchte, be- sonders aber die Bedeutung Mensch, Sache, Gegenstand, und ohne dar- über kategorische Behauptungen aufstellen zu wollen, finde ich es doch bemerkenswert, wie außerordentlich groß der, Prozentsatz der t-Laute ist, welche wir in malayischen, Indianer- und Negersprachen vorfinden. Selbstverständlich können dieselben noch von andern Wurzeln herrühren, aber dann ist anderseits zu erwägen, daß auch viele Wörter mit Ab- lautungen des t vorhanden sind, in welchen wir diesen Laut nun nicht mehr bemerken, und gewiß darf man zwischen dem Umstande, dab das Kind in einer bestimmten Periode das tatata so gerne gebraucht, und dem andern Umstande, daß die t-Laute in vielen Sprachen, gerade auch in den Flexionssilben der indo-europäischen, so häufig sind, eine Be- ziehung vermuten. Wie das ta konnte freilich auch jeder andere der bezeichneten 32 Theodor Curti, Die Entstehung der Sprache (or) Laute und aller Laute überhaupt, die das Kind von sich gab, durch Zusammenfall mit einer Handlung oder durch örtliche Beziehung auf eine Sache der Name von Handlung oder Sache werden, sobald der Laut darauf bezogen wurde. Eltern sind geneigt, die Dinge nach dem zu- fälligen Worte zu benennen, welches das Kind ausspricht, indem es sie berührt oder indem es etwas thut. Zwischen einem solchen Worte und dem Gegenstande der Benennung ist ein innerer Zusammenhang nicht vorhanden; sprechlustig gebraucht das Kind oft unterschiedslos solche einfache Laute wie da, wa, ama, na, ma, und derjenige Laut, wel- cher nun gerade mit dem Ausstrecken der Hand oder dem Greifen nach einem Kopfe zusammenfällt, würde die Hand oder den Kopf bezeichnen, wie die Laute, welche bei einem Gefühl der Lust, bei einer Erregung oder Anstrengung dem Munde entfallen, das Kommen und Gehen, das Geben und Nehmen, das Halten und Fassen, das Laufen und Springen bedeuten können. Heute geschiedene und selbst gegenteilige Begriffe wie beispielsweise kommen und gehen, geben und nehmen werden aber in der ersten Zeit der Sprachbildung oft genug mit demselben Laute bezeichnet worden sein, bis sie, im reiferen Bewußtsein gespalten, auch in der Sprache eine Scheidung erfuhren. Es scheinen in sehr verschie- denen Sprachen die sehr einfachen, an die geschilderte Lautweise er- innernden Bezeichnungen jener Thätigkeitswörter, welche die ersten ihrer Art sein mußten, sowie mancher Körperteile das Gesagte zu bestätigen. Und in mehreren weit auseinander gelegenen Sprachen läßt sich zeigen, daß ihre Wörter für die Exkremente und dergleichen ganz ähnliche sind wie diejenigen unserer Kindersprache, welche die Gesittung mittlerweile aus dem allgemeinen Sprachgebrauch verdrängt hat. Indem ich mir dieselben in einer größeren Arbeit zu vermehren vorbehalte, will ich hier nur einige wenige Beispiele anführen, um das Gesagte zu verdeutlichen. Mama ist uns und vielen Völkern der verschiedensten Stämme die Mutter, ebenso mu dem Chinesen, ma dem Tibetaner, Malayen und Javaner; aber es bedeutet mama georgisch und imirettisch, mu suanetisch und mu ma mingrelisch nicht die Mutter, sondern den Vater. Griechisch ist mamma auch die Großmutter, in den Sprachen der Maya-Indianer hingegenmama und mam wiederholt der Großvater. In polynesischen Sprachen finden wir, als Form mit wohl demselben Stamme, mamoan für Mensch. In Negersprachen bezeichnet mama und mae die-Mutter, mamuna den Menschen, muana den Sohn oder das Kind, muono das Leben. Im Lateinischen ist mamma die weibliche Brust, ebenso im Griechischen und auf Neu-Holland. In mehreren malayischen Sprachen heißt mama kauen, im Tete-Kaffır uaama saugen. Das meme unserer Kinder ist wohl auch das mema einiger Neger- stämme, womit sie das Flüssige, Wasser und Regen, bezeichnen und das meme in Mundarten der Südsee, welches zur Bezeichnung des Urins dient. In dem malayischen makan und mangan für essen und dem alemannisch-schwäbischen mantschen erblicken wir gleich- falls aus Mundgebärden entstandene Wörter. Wurde aber der Laut ma ausgestoßen, während der Urmensch eine andere Thätigkeit verrichtete, durch Nachahmung des Schalles. 1. 3927 so konnte jener diese Thätigkeit anzeigen, und so mag die Sanskritwurzel ma, nach Verlust einer ursprünglicheren Bedeutung (etwagehen, thun) den Begriff des Messens und Ordnens ausgedrückt haben, wie maa in einer Hottentottensprache geben und auch stehen bedeutet. Dada ist im Griechischen ein Kosewort für den Vater wie dädi im Schweizerischen. Auch im Tuschetischen bedeutet es den Vater und im Russischen djädi den Großvater. Hingegen ist deda iberisch die Mutter, dada in zwei malayischen Sprachen auch die Brust. Der gleichen Lautklasse angehörig wird das otaheitische didie = Kind sein, entsprechend dem diddi der alemannischen Kindersprache. Da heißt in der indoeuropäischen Grundsprache geben, offenbar deshalb, weil dieser einfache Laut die Bewegungen des Gebens, einer der frühe- sten Thätigkeiten, einmal zufällig begleitet hat. Im Sanskrit bedeutet ka, in mehreren mongolischen Sprachen kaj welcher, ein Pronominalbegriff, der noch früher etwa Mensch, Person gewesen sein muß. Kakak ist im Malayischen und kaka im Tagalischen der Bruder, koko im Chinesischen der ältere Bruder; ka, kä und ke finden sich in zusammengesetzten indianischen Ver- wandtschaftsnamen. Für andere Bezeichnungen gebraucht, heißt ka in Mayasprachen auch die Hand und die Mahlzähne, und wieder andere physiologische Funktionen begleitend, ist es das kaka unserer Kindersprache, das caca des Französischen und wohl durch Lautwandel das gäggi eines deutschen Dialekts geworden, entsprechend der indo- europäischen Wurzel kak, wovon sich das lateinische cacare ableitet. Im Osmanischen bedeutet in ähnlicher Weise die Wurzel kok riechen und stinken. Auch von den vielen Formen, welche ta gebildet hat, seien einige hier genannt. Ta ist Vater im Aguateca neben tat und tata in andern Mayasprachen, Tata ist ebenfalls Vater in der Negersprache Kirua wie tatta in der Loango-Sprache. Großvater aber ist tata im Tete- Kaffir und Mann in der Sprache der Sandwichinseln wie tahata im Otaheitischen. Tai ist Vater bei den Papua und Matje, ta bei diesen bei- den Kopf. Hierher gehört aber etymologisch auch das griechische titthe, welches sowohl Zitze als Amme und Großmutter bedeutet, das nieder- deutsche titte, das angelsächsische tit und englische teat mit der ersten Bedeutung und vielleicht ebenso das churwälsche tschut =Lamm und tschitschar —= saugen. Wenn aber ta, wie oben dargethan wurde, auch die Bezeichnung für Sache oder Person oder das Er- langen einer Sache werden konnte, so ist es nur natürlich, daß ta und ähnliche Laute wie tä, te, ti, tl im Indoeuropäischen, Polynesischen Semitischen, Chinesischen und Mexikanischen gebraucht wurden, um Substantive oder einen bestimmten Kasus oder das Geschlecht solcher und um bestimmte Formen der Zeitwörter zu bilden, so zum Beispiel um im Chinesischen als ti den Genetiv anzuzeigen und im Polynesischen mit tä das Verbum zu einem abstrakten Substantivum zu machen. Am nächsten aber steht wohl jenem geschilderten tata des Kindes noch das tata der Betschuanen mit der Bedeutung sehr, heftig und dergleichen, das anfänglich wohl ein ungestümes Verlangen bezeichnete. 328 Theodor Curti, Die Entstehung der Sprache IH. Indessen glaube ich den Einwurf zu hören, daß die Sprache nicht mit dem Kinde entstanden zu sein brauche oder nicht mit ihm entstanden sein könne. Auch wird man mich fragen, warum denn heute das Kind nicht mehr aus Lauten wie den aufgeführten Wörter bilde. Die Antwort darauf wurde eigentlich schon gegeben, indem ich auseinandersetzte, dah die Laute bezogen werden mußten, und wenn heute alle Kinder Europas papa und mama und zwar ersteres zum Vater und letzteres zur Mutter sagen, nie umgekehrt, so ist das nur wieder ein Beleg dafür, daß ihr kindliches Stammeln zu beziehen war, ehe daraus feste Wortbegriffe ge- worden sind. In den ersten Zeiten des Menschengeschlechts lernten die Eltern den Kindern Laute wie ababab, babababa, vavavava und dergleichen ab, indem sie den Schall nachahmten, und je nach der Be- ziehung, welche sie den Lauten gaben, hieß Vater in der einen Sprache ama, papa, abba, mama u. s. w., Mutter in der andern mama. vava, eme, papa u. s. w. Heute wählen wir aus den Lauten des Kindes diejenigen aus und sagen ihm zur Bezeichnung von Papa und Mama selber diejenigen vor, welche für die betreffenden Begriffe in un- serer Sprache als Wortzeichen vorhanden sind, und die Sprachbildung kann nicht mehr in Fluß kommen. Statt dem ääää, sisisisi, 6öö6ö6,adadad, tatata eine Bedeutung zu verschaffen, lehren wir ferner das Kind bei Zeiten die Wörter der konsolidierten Sprache. Der Rohstoff, welchen das Kind zum Sprachbau liefert, wird liegen gelassen, denn weder für das Kind selbst, welchem wir ja die Arbeit der Generationen rascher zu eigen machen können, noch für uns, die wir eine Sprache schon besitzen, nicht erst erwerben müssen, ist die Sprachentwickelung von Anfang an — »aus dem Ei» Sl » » „4 » » » Fr. Heincke, Der Lebensreichtum des Meeres und seine Ursachen. I. 341 der See. Schließlich darf auch nicht unberücksichtigt bleiben, dab die nachweisbar ungeheure Lebensfülle des Meeres nicht durch die ganze Wassermasse des Ozeans gleichmäßig verteilt, sondern vornehmlich auf die flachen Küstenränder, die Bänke und obersten Wasserschichten der hohen See konzentriert ist. Der Boden der Tiefsee und die ungeheuren über ihm lagernden Wassermassen sind zwar nicht ganz ohne Leben, aber doch relativ arm!. Die eigentlich belebt zu nennenden Meeres- räume sind also keineswegs so groß wie das Meer an sich, und dieser Umstand spricht sehr für einen auch relativ größeren Lebensreichtum als auf dem Lande. Als letzten und scheinbar gewichtigsten Einwurf wird man meiner Beweisführung entgegenhalten können, daß zwar die Zahl, Größe und Mannigfaltigkeit der Organismen im Meere größer sei als auf dem Lande, daß aber trotzdem die Summe organischer Kraft- äußerungen auf dem Lande diejenige im Wasser übertreffe, und zwar deshalb, weil das Land den Menschen beherberge und weil dessen Kraftäußerungen, namentlich die seines Gehirns, doch sehr viel gewaltiger seien als die irgend welcher anderer Lebewesen. Auch diese Frage ist sehr schwierig zu entscheiden, weil wir bis jetzt kein Maß für die Größe organischer Kräfte haben. Ich glaube gern, dab die- jenigen, welche die menschliche Kraft über alles schätzen, insofern recht haben mögen, als in keinem tierischen Individuum im Verhältnis zu seiner Größe ein so gewaltiger Herd von Kraft sich befindet als im Menschen. Aber die Zahl der Menschen ist gering und die Kraftpro- duktion aller Menschen zusammengenommen, welche sich in der Um- wandlung gewisser Teile der Erdrinde äußert, wird gewöhnlich stark überschätzt. Sie mag größer sein als die sehr vieler anderer Festlands- organismen zusammengenommen, aber sie ist jedenfalls gering im Ver- gleich mit den Umwandlungen, welche gewisse Seetiere, wie die Korallen, im Meere bewirken. Wie am Schlusse dieser Abhandlung noch einmal ausgeführt werden soll, ist der Mensch gegenwärtig noch sehr weit davon entfernt, Herr der Erde zu sein. Mögen sich auch jetzt schon zahlreiche Kraftwellen des organischen Lebens auf dem Festlande in seiner Person wie in einem Brennpunkte sammeln, noch viel gewaltigere Kraftäußerungen des Lebens spielen sich ab ohne ihn. Um nun den Ursachen der groben Lebensfülle des Meeres nach- zuspüren, ist es zunächst nötig, daß wir uns den Unterschied in den Lebensbedingungen der wasserbewohnenden und luft- bewohnenden Organismen klar machen. Da zeigt sich sofort, dab in sehr vielen Punkten das Wasser als Aufenthaltsort für das organische Leben ungleich günstiger ist als die Luft. Wasser bildet den Haupt- bestandteil aller Pflanzen und Tiere und ist für den Stoffwechsel als Lösungsmittel unentbehrlich; es ist die wahre Lebensflüssigkeit und seine Allgegenwart in Flüssen, Seen und Meeren muß daher das Leben mehr begünstigen als seine wechselnde Menge in der Luft. Auch die Luftorganis- men können nur existieren, weil die Luft Wasser enthält; wo dieses ganz ı Vergl. Wyv. Thomson, The Atlantic II. p. 352. 342 Fr. Heincke, Der Lebensreichtum des Meeres und seine Ursachen. I. fehlt wie in der Wüste oder wo es zu Eis erstarrt, erlischt auch jedes Leben. Auch ergibt sich sofort, daß das Weltmeer mit seiner un- erschöpflichen, stets gleichbleibenden Wassermenge wieder günstiger für das Leben sein mub als Flüsse, Seen und Tümpel; es kann niemals austrocknen und ebensowenig je ganz erstarren, weil es wegen seines hohen Salzgehaltes in ruhigem Zustande erst bei —3,17° C, in be- wegtem erst bei —2,55° C gefriert, Temperaturen, welche zudem, wie wir später sehen werden, nur an wenigen Stellen im Meere und auch dort nur sehr vorübergehend auftreten. Der günstige Einfluß des Wassers als Aufenthaltsort für lebende Wesen zeigt sich nirgends besser als bei den ersten Entwickelungsstufen der Pflanzen und Tiere, den Embryonen und Larven. Alles sich ent- wickelnde ist weich, zart, leicht verletzlich, stark von Wasser durch-' tränkt und sehr empfindlich gegen Austrocknen. Daraus folgt ohne weiteres, dab jedes luftbewohnende Tier während seiner Entwickelung mehr geschützt sein mub als die Wassertiere. Der Vogelembryo ist, mit Nahrungsstoff reichlich versehen, in der schützenden Eischale ge- borgen, das Säugetier im Innern des mütterlichen Körpers von Flüssig- keit durchtränkt und umgeben. Von beiden kann man sagen, daß sie während ihres Embryonallebens Wassertiere sind und sein müssen; wenn sie die Wiege verlassen, sind sie bereits gestärkt gegen die Einflüsse des Luftlebens. Anders natürlich im Wasser; hier bedarf es kaum einer schützenden Hülle für den Embryo, alle Entwickelungsstufen können sich frei im Wasser ausbilden, ja sie vermögen sich selbst zu ernähren, weil das Wasser, wie ich weiterhin zeigen werde, ungemein reich ist an mikroskopischer, auch den kleinsten Larven leicht zugänglicher Nahrung. So erklärt sich die Thatsache, daß fast bei allen Wassertieren die embryonalen Entwickelungsstufen als selbständige Wesen sich tummeln. Hierdurch wird eine Manniefaltigkeit lebendiger Gestalten im Wasser hervorgerufen, die jeder Beschreibung spottet, und anderseits eine große Kraftsumme erspart, welche bei den Luftorganismen zum Schutze des Embryos verbraucht wird, im Wasser dagegen zur Steigerung der Lebens- vorgänge selbst benutzt werden kann. Schon LzuckArr! hat hervor- gehoben, daß die sogen. freie Metamorphose die Produktion einer zahlreicheren Nachkommenschaft ermöglicht, weil auf jeden einzelnen Keim nicht so viel Stoff verwendet zu werden braucht. So wird im Meere die Individuenzahl vermehrt und damit zugleich der Nahrungs- erwerb für zahlreiche größere Tiere erleichtert, welche oft mit einemmale große Mengen kleiner Embryonen dem Wasser entnehmen können. Ein zweiter wichtiger Unterschied zwischen Luftkreis und Wasser besteht in dem Gehalt an dem für das organische Leben unentbehrlichen Sauerstoff. Hier ist nun das Wasser der Luft gegenüber entschieden im Nachteil. Letztere enthält nicht nur absolut, sondern auch relativ mehr Sauerstoff; während in 1 Liter Luft bei 0°C und 760 mm Druck etwa 0,3 gr O enthalten sind, befindet sich in 1 Liter Meerwasser bei ! Leuckart: Über Metamorphose, ungeschlechtliche Vermehrung und Gene- rationswechsel. Fr. Heincke, Der Lebensreichtum des Meeres und seine Ursachen. I. 343 einer mittleren Temperatur von 10° C nur etwa 0,017 gr! freier O, also etwa 25mal weniger als in der Luft, und im süßen Wasser sogar noch weniger. Da die durch Kiemen oder durch die Haut atmenden Wasser- tiere unfähig sind, das Wasser in seine Elemente Wasserstoff und Sauer- stoff zu zerlegen, so müssen sie sich mit der geringen Quantität des freien, im Wasser gelösten Sauerstoffs begnügen. Man könnte glauben, es sei Gefahr vorhanden, daß die Wassertiere diese geringe Menge Sauer- stoff bald aufzehren, allein jedes von ihnen verbrauchte Quantum dieses Gases wird teils durch die im Lichte O ausscheidenden Wasserpflanzen ersetzt, teils durch Aufnahme neuen Sauerstoffs aus dem unerschöpflichen Reservoir des Luftkreises, das ja mit dem Wasser in beständiger Be- rührung ist. Luft- und Wasserhülle der Erde tauschen in der That beständig Wasserdampf und Sauerstoff gegeneinander aus. Die Ver- teilung des Sauerstoffs im Wasser ist aber nach den neueren Forschungen viel gleichmäßiger und stetiger als die des Wasserdampfes in der Luft oder des flüssigen Wassers in der Erdrinde. Ebenso wie in der Luft ist der Sauerstoffgehalt überall im Meere nahezu gleich. Die geringen Schwankungen werden durch Temperatur und Tiefe bedingt ?. Der geringe Sauerstoffgehalt des Wassers ist offenbar ein Nach- teil für das organische Leben, aber doch, wie ich glaube, nur insofern, als er einen Einfluß auf die Formen desselben, nicht auf seine Masse aus- übt. Er verhindert die Existenz solcher Wesen, welche wie die Vögel und Säugetiere zur Erhaltung ihres Stoffwechsels in einer Zeiteinheit eine relativ viel größere Sauerstoffmenge gebrauchen als z. B. die Fische. Mit anderen Worten: die Wassertiere werden im allgemeinen niedriger organisierte Geschöpfe sein als die Luftbewohner. Die Summe des Lebens im Wasser braucht aber darum keine geringere zu sein, weil ja die Menge des Sauerstoffs im Wasser wegen seiner steten Verbindung mit der Luft eine unerschöpfliche ist; nur wird den Tieren dieses Gas in kleineren Rationen verabfolgt. Auch ist zu bedenken, was JÄGER trefflich hervor- gehoben hat”, daß die Atmung der Wassertiere leichter vor sich geht als die der Lufttiere, einmal weil sie nicht bloß mit den Kiemen, sondern auch mit der gesamten Hautoberfläche O0 aufnehmen können, und dann auch weil sie jener komplizierten Apparate nicht bedürfen, welche für die Lufttiere zum Einpumpen der Luft in die inneren Atmungsorgane nötig sind. Auch belehrt uns die Physiologie, dab z. B. der. Mensch bei jedem Atemzug nicht etwa die ganze in der eingezogenen Luft be- findliche Sauerstoffmenge (21°/o) ins Blut aufnimmt, sondern nur etwa ein Viertel derselben (5,5°/o). Ein dritter für das organische Leben sehr wichtiger Unterschied zwischen Luft und Wasser besteht in dem spezifischen Gewicht beider Elemente. Am größten ist derselbe zwischen Luft und Meerwasser, welch’ letzteres infolge seines Salzgehaltes spezifisch noch schwerer ist als destilliertes und süßes Wasser, und zwar um so mehr, je größer der ! Berechnet nach Jacobsen, Luft des Meerwassers. Jahresberichte der Kieler Kommission z. Unters. d. deutschen Meere. Jahrg. 1872—73, p. 45. ?® Vergl. hierüber Boguslawski, Ozeanographie p. 135, und Jacobsen, l. c. ° Aquarium p. 21. 344 Fr. Heincke, Der Lebensreichtum des Meeres und seine Ursachen. I. prozentische Salzgehalt. Wegen der größeren Dichtigkeit des Wassers wirkt nun die Schwerkraft auf ein lebendes Wesen in demselben weit schwächer als in der Luft, und da das spezifische Gewicht organischer Körper dem des Wassers, namentlich des Meerwassers, nahezu gleich ist, so folgt, daß organische Wesen im Wasser ohne besondere Kraftanstrengung in jeder Schicht über dem Boden desselben zu leben vermögen, was nur wenigen Luftbewohnern, nämlich den fliegenden und auch diesen nur zeitweise, möglich ist. Obwohl das Wasser der Fortbewegung eines Tieres größeren Widerstand entgegensetzt als die Luft, so hebt doch das fast völlige Verschwinden des Eigengewichts im Wasser diesen Nachteil vollständig auf. Man wird daher wohl behaupten dürfen, dab die Fort- bewegung der Wassertiere weniger Muskelkraft beansprucht als die der Landtiere, ganz sicher weniger als die der fliegenden Geschöpfe. Die so ersparte Kraftsumme kann zu anderen Lebensäußerungen verwandt werden. Der größere Widerstand, welchen das Wasser einem sich be- wegenden Geschöpfe entgegensetzt, ist anderseits insofern vorteilhaft, als derselbe die Ausbildung eines so festen Bewegungsskeletts, wie es die Lufttiere besitzen, unnötig macht. Geschöpfe von so gewaltiger Stärke wie die achtfüßigen Tintenfische oder Kraken, welche doch so gut wie gar kein Skelett besitzen, sind nur im Wasser möglich, im besonderen nur in dem spezifisch schwereren Meerwasser. Das Wasser, besonders das Meer, so sahen wir, ist also in allen seinen Schichten bewohn- bar, die Luft dagegen nur in ihren untersten Schichten, wo die Organismen auf der Oberfläche des festen Landes Stütze finden. Selbst fliegende Geschöpfe vermögen sich nur in den untersten Luftschichten über den Erdboden zu erheben, weil die Luft oben infolge des schnell abnehmen- den Druckes so dünn wird und infolge davon ein so geringes spezifisches Gewicht hat, daß die Kraft der organischen Wesen nicht mehr ausreicht, den großen Unterschied zwischen ihrem eigenen und dem Gewicht der Luft zu überwinden, ganz abgesehen von anderen Hindernissen, z. B. der schnellen Abnahme der Temperatur nach oben zu. Im Gegensatz zur Luft ist das Wasser auch beim stärksten Druck äußerst wenig verdichtbar und diese seine Inkompressibilität ist der Grund, weshalb in den tiefsten Abgründen des Meeres noch Leben möglich ist, obwohl der Druck dort ein so ungeheurer ist, daß er mehrere 100mal soviel beträgt als der Luftdruck an der Oberfläche. Allein da das Wasser trotzdem flüssig bleibt und seine Teile ebenso beweglich gegen- einander sind wie früher, so können die Zirkulationsvorgänge im Innern und in der Umgebung: der Tiefseeorganismen ungestört vor sich gehen. Ist das größere spezifische Gewicht des Wassers dem organischen Leben günstig, so ist anderseits seine geringere Durchgängigkeit für die Lichtstrahlen ein Nachteil, wenigstens auf den ersten Blick. Ins Meer dringen Lichtstrahlen wahrscheinlich nicht viel tiefer als 200 m ein, während sie die ganze gewaltige Luftschicht mit Leichtigkeit durch- setzen. Wo aber kein Licht mehr hindringt, ist das Pflanzenleben un- möglich und von diesem hängt ja auch alles tierische Leben ab. Die Naturforscher des Travailleur fanden unter 250 m keine Spur von leben- den Pflanzen mehr. Aber dieser Nachteil wird reichlich aufgewogen durch h Fr. Heincke, Der Lebensreichtum des Meeres und seine Ursachen. I. 345 andere aus dem größern spezifischen Gewicht des Wassers sich ergebende Vorteile. Einmal gestattet dasselbe die Existenz von schwimmenden Pflanzen in den mittleren und oberen Schichten des Wassers, welche in der Luft unmöglich sind, und dann wird durch dieselbe Eigenschaft des Wassers eine so gleichmäßige Verteilung der Nahrung für die Tiere hervorgerufen, wie sie in der Luft nie vorkommen kann. Dies ist von einer kaum zu überschätzenden Bedeutung für das organische Leben. Vermoderte, zu Staub zerfallene Pflanzenstofie können der Natur der Luft gemäß nur nahe am Boden in erheblicher Menge schwebend er- halten werden. Obwohl nun dieser Luftstaub stets eine gewisse Menge organischer Stoffe enthält, namentlich die sehr leichten, weil sehr kleinen, eingetrockneten Keime von Infusorien und Pilzen, so kann derselbe doch als Nahrung für Tiere gar nicht in Betracht kommen, weil den Lufttieren die Mittel fehlen, ihn aufzunehmen. In der That besitzen dieselben eigentlich nur eine wirksame Methode, diesen schwebenden Staub in ihren Körper zu bringen, nämlich zugleich mit dem Luftstrom, der in ihre Lungen eintritt. In den Lungen kann aber der organische Staub, namentlich die Pilzkeime, nur schädlich wirken; er erzeugt Krankheiten der Lungen, wie Tuberkulose u. a. Daraus erklärt sich auch die gesunde Wirkung der staubfreien Berg- und Meerluft. Ganz anders im Wasser. Die meisten Pflanzenstoffe in demselben werden nahe der Oberfläche erzeugt, vermodern hier und fallen nun, weil ihr spezifisches Gewicht dem des Wassers nahezu gleich ist, äußerst langsam als ein unaufhörlicher feiner Regen bis in die tiefsten Schichten hinab und werden zugleich wegen der inneren Bewegung der Wassermasse überall hin gleichmäßig verteilt. Hierdurch wird einmal die Existenz von Tieren in den licht- und pflanzenlosen Tiefen möglich und dann diejenige der festsitzenden Tiere, welche einfach die vorübergetragene Nahrung mit ihren empfind- lichen Fangarmen ergreifen wie die Polypen, oder mit Hilfe zarter Flimmerhaare einen Strudel am Eingange ihres Mundes erzeugen und den Wasserstaub einziehen wie die festsitzenden Moostiere, Infusorien und Muscheln. Solche zarte Organe wie die mikroskopisch kleinen Flimmerhaare würden in der Luft bald eintrocknen und finden sich in der That bei keinem Lufttier an der Oberfläche des Leibes. Unter Umständen kann freilich auch der Wasserstaub den Wassertieren schädlich werden, inso- fern er ebenfalls zahlreiche Pilzkeime enthält. Da aber die Atmungsorgane fast aller Wassertiere äußere sind und in ihrer Umgebung teils durch eigene Thätigkeit des Tieres, teils durch die innere Bewegung des Wassers ein beständiger Strom unterhalten wird, so können solche Pilzkeime sich weniger leicht festsetzen als in den inneren Atmungsorganen der Lufttiere. Ebenso wie das Wasser eine Menge nahrungsreichen Staubes schwebend erhält, finden sich in ihm aus denselben Gründen die Be- dingungen für die Existenz einer reichen Welt mikroskopischer Wesen, die hauptsächlich von jenem Staube sich ernähren, und ferner für die schon oben besprochene selbständige Existenz der Embryonen und Larven. Alles das ist in der Luft unmöglich. Aus unsern vorherigen Betrachtungen ergibt sich zur Genüge, dab 346 Fr. Heincke, Der Lebensreichtum des Meeres und seine Ursachen. I. das Wasser mit der einzigen Ausnahme, daß die höchst organisierten Wesen nur in der Luft gedeihen können, nicht nur an Fülle des organischen Lebens, sondern auch an Mannigfaltigkeit der Gestalten den Luftkreis übertreffen muß. Es birgt nicht bloß festsitzende Pflanzen und ortsbewegliche Tiere wie die Luft, sondern auch schwimmende Pflanzen und festsitzende Tiere, welche dort unmöglich sind, und endlich kann das kleinste Leben überhaupt nur im Wasser gedeihen. So erklärt es sich, daß, wie bereits erwähnt wurde, von den sieben Kreisen des Tierreichs nur drei, nämlich Wirbeltiere, Gliedertiere und Weichtiere gleichzeitig auch den Luftkreis bewohnen, während die 4 andern, nämlich Würmer, Stachelhäuter, Polypentiere und Urtiere, zu denen das Gros der festsitzenden Tiere gehört, mit vereinzelten Ausnahmen (Regen- würmer, Landplanarien etc.) ganz auf das Wasser beschränkt sind. Ebenso stimmt es mit unseren Erörterungen, daß das organische Leben in der Geschichte der Erde seinen Anfang im Wasser nahm und während der längsten Zeit derselben auf das Wasser beschränkt blieb, indem die Luftorganismen erst sehr spät auftraten und lange Zeit nur in amphibischen Formen existierten. Nach dem Vergleich zwischen Luft und Wasser müssen wir, um unserm Problem näher zu treten, von vornherein auch noch die Bedeutung berücksichtigen, welche die Bewegung des Aufenthalts- mediums für alle organischen Wesen ohne Ausnahme besitzt. Wenn Luft und Wasser sich in andauernder Stagnation befänden, so wäre jedes Leben unmöglich. Ein Lufttier würde z. B. den in seiner unmittel- baren Umgebung befindlichen Sauerstoff bald aufgezehrt haben, an die Stelle desselben würde die giftige Kohlensäure treten, das Tier ginge zu Grunde, wenn ihm nicht durch eigene Ortsbewegung oder durch Bewegung der Luft neuer Sauerstoff zugeführt würde. Da die Kohlensäure spezifisch schwerer als Sauerstoff ist, würde sich bald alle Kohlensäure der Atmo- sphäre am Boden ansammeln, und da aus andern Gründen nur hier Leben möglich ist, würde dasselbe ganz erlöschen. Nicht anders im Wasser. Die geringere Menge Sauerstoff wäre auch hier schnell ver- zehrt, und wenn an der Grenze von Luft und Wasser, namentlich also an der Oberfläche der Ozeane, keine Durchschüttelung beider Elemente durch die Kraft der Winde stattfände, so wäre der Übergang von Sauer- stoff aus der Luft ins Meerwasser, wenn auch nicht ganz aufgehoben, da er ja bis zu einem gewissen Grade allein schon nach den Gesetzen der Diffusion stattfinden muß, so doch viel langsamer und unvollkommener. Bei mangelnder Bewegung im Wasser mübte ferner der organische Wasser- staub im Lauf der Zeit längst auf den Boden der Ozeane herabgesunken sein und namentlich das offene Weltmeer würde sehr arm an solchem Staube sein. Auch würde den zahlreichen festsitzenden Tieren, nament- lich wenn sie, wie z. B. viele Polypen, keine Strudelorgane besitzen, Nahrung nicht mehr mit Sicherheit zugeführt werden. Alle diese Er- wägungen sind indessen zu selbstverständlich, als daß wir länger bei ihnen zu verweilen brauchten. Hier kommt es nur darauf an, welche Art und welcher Grad von Bewegung des Aufenthaltsmediums für das organische Leben am günstigsten ist. Da liegt es nun auf der Hand, Fr. Heincke, Der Lebensreichtum des Meeres und seine Ursachen. I. 347 dab diese Bewegung weder eine sehr langsame, noch ein sehr stürmische sein darf, und dab sie innerhalb gewisser Grenzen umso günstiger sein wird, je gleichmäbiger sie die ganze zu bewegende Masse durchdringt und je stetiger sie zugleich ist. Die Notwendigkeit innerer Bewegung in einer Wassermasse und ihre wohlthuende Wirkung für das organische Leben läßt sich nirgends unzweideutiger beobachten als in einem Zimmeraquarium. Die Be- wohner desselben bleiben frisch und munter, solange man mit den jetzt all- gemein gebräuchlichen Luftzuführungsapparaten beständig Luftperlen von unten auf in die Höhe steigen läßt. Steht der Apparat, namentlich bei warmem Wetter, auch nur einen Tag still, so pflegen schon eine Anzahl Tiere einzugehen; im Winter, wo viele Aquariumtiere eine Art Winter- ruhe halten, kann dagegen, wenigstens in einem schwach geheizten Zimmer, die Luftzuführung ohne Schaden tagelang unterbrochen werden. Ich glaube, dab bei dieser Luftzuführung nicht die Luft die Hauptsache ist, denn bei ihrem schnellen Durchgang durch das Wasser wird nur sehr wenig davon absorbiert, sondern die unausgesetzte innere Be- wegung der Wassermasse, welche nicht nur den Gasaustausch er- leichtert, sondern auch die mikroskopische Nahrung überall verteilt und vorbeiführt, wovon man sich leicht durch den Augenschein überzeugen kann. Kehren wir jetzt zu dem eigentlichen Gegenstande unserer Unter- suchung zurück und prüfen wir, welche Gründe vorhanden sind, dab von allen Wasseransammlungen auf der Erde die Meere und namentlich die Ozeane das reichste organische Leben besitzen. Wir erkennen so- fort als erste Ursache das größere spezifische Gewicht des Meer- wassers gegenüber dem süben Wasser, bedingt durch seinen größeren Gehalt an Salzen, namentlich Kochsalz oder Chlornatrium. Die gleich- mäßige Bewohnbarkeit des Meeres in all seinen Schichten ist deshalb größer als bei irgend einem andern Aufenthaltsmedium organischer Wesen und dasselbe gilt von der Suspendierung der mikroskopischen Nahrung. Wir begreifen nun, daß nur im Meere jene unendlich zarten schwimmen- den Geschöpfe vorkommen wie die Salpen, Pyrosomen, Quallen und zahl- reiche andere Polypentiere, die außerordentlich reich an Wasser in ihren Geweben, dasselbe spezifische Gewicht besitzen wie das Meerwasser und wohl nur aus diesem Grunde mit der äußersten Zartheit die reizendste Gestalt und die prächtigsten Farben vereinigen, lebendige Glasglocken oder Blumenguirlanden. Die meisten derselben ernähren sich von mikro- skopischer Nahrung. Die Existenzmöglichkeit dieser Wesen, welche oft auf Quadratmeilen hin die oberflächlichen Wasserschichten bevölkern und wesentlich zum Leuchten des Meeres beitragen, ist auch noch da- durch mitbedingt, dab das Meer eine so ungeheure Ausdehnung hat, so dab nur wenig Gefahr vorhanden ist, daß diese den Strömungen und Wellen willenlos preisgegebenen Tiere auf den Strand geworfen werden, was in süßen Gewässern unvermeidlich wäre. Auch ist das Meer tief genug, um ihnen zu gestatten, sich bei Sturm so weit hinabsinken zu lassen, dab sie der zerstörenden Wirkung desselben entgehen. Welche staunenswerte Größe so zarte Geschöpfe des Meeres er- reichen, können wir am besten würdigen, wenn wir die Schilderungen 348 Fr. Heincke, Der Lebensreichtum des Meeres und seine Ursachen. 1. von Acassız und andern lesen, welche Quallen mit einem Scheiben- durchmesser von 2 m beobachteten, deren Randfäden bis über 30 m lang waren und wie eine lange seidenglänzende Schleppe in dem ruhigen Wasser nachgezogen wurden. Neueren Forschungen zufolge ist die reichste pelagische Tierwelt da anzutreffen, wo das Meer am tiefsten ist, wo also diese zarten Wesen vor dem Nahen des Sturmes oder beim Beginn des Tages sich weit genug hinabsenken können, um vor mechanischen Insulten oder vor dem hellen Lichte sich zu schützen. Hier auf hohem Ozean, über der schrankenlosen Tiefe, ist auch die Heimat der zierlichsten aller mikroskopischen Wesen, der Radiolarien, die bei ruhigem Wetter oft in so ungeheurer Menge nahe der Oberfläche auftreten, dab das Meer meilenweit von ihnen gefärbt ist!. Die reizenden Skelette dieser Tiere, meist aus Kieselsäure gebildet, welche nach dem Absterben ihrer Träger hinabsinken und große Flächen des Meeresbodens bedecken, scheinen im Verein mit der sie umhüllenden Gallerte einen Apparat zu bilden, welcher unsere Geschöpfe befähigt, sich im Wasser schwebend zu erhalten. Bei bewegter See lassen sie sich stets in die Tiefe sinken. Die gewaltige Ausdehnung des Meeres, dessen ungeheure gleichförmige Wassermasse auch der schnellsten Bewegung keine Schranke entgegensetzt, erklärt auch die Existenz der gewaltigen Haie und Wale und die erstaunliche Schnelligkeit, mit der viele von ihnen dahinschwim- men. Und wenn man die riesigen Zähne vorweltlicher Haifische erblickt und auf die Größe ihrer ausgestorbenen Träger schließt, muß man wohl an- nehmen, dab in vergangenen geologischen Zeiten das Meer vielleicht noch ausgedehnter war und eine noch größere Lebensfülle beherbergte als jetzt. Die gleichmäßigere Verteilung einer ungeheuren Menge von Wasserstaub im Meere ermöglicht ferner das Dasein enormer Mengen von festsitzenden Tieren, namentlich aus den Klassen der Polypen und Muscheln. Die Riffe erbauenden Korallen, große Austern- bänke, an Pflanzen, Steinen und Pfählen festgesponnene Muscheln und tausende ähnlich lebender Geschöpfe sind nur im Meere denkbar, denn es ist klar, daß große, mehrere Meter hohe, baumartig gestaltete Tier- kolonien nur dort gedeihen können, wo nicht nur eine sehr große Menge schwebender Nahrung vorhanden, sondern auch jede Gefahr ausgeschlossen ist, daß eine dauernde Erniedrigung des Wasserstandes eintritt, wie er in süßen Gewässern vorkommt. Abgesehen von geologischen Veränder- ungen (wie Hebung und Senkung der Küsten oder nach PEnxk’s neuer Theorie Sinken des Meeresspiegels in der Nähe der Festländer) findet überhaupt im Meere keine Unterbrechung des Lebens statt und dadurch unterscheidet sich dasselbe sehr wesentlich von dem orga- nischen Leben auf der übrigen Erde. Selbst in den tropischen Urwäl- dern, welche immer als Beispiele der ununterbrochenen Wirkung orga- nischer Kräfte angeführt werden, nimmt die Lebensenergie vieler Orga- nismen während der regenlosen Jahreszeit erheblich ab. Wie MonrnıkE in seinem schon oben erwähnten trefflichen Buche sehr schön hervorhebt, sind die Urwälder der malayischen Inselwelt deshalb reicher und üppiger ı Wyv. Thomson, The Atlantie II. p. 340. Fr. Heincke, Der Lebensreichtum des Meeres und seine Ursachen. I. 349 als alle andern, weil ihnen das nahe Meer eine so große Menge von Feuchtigkeit zuführt. Wenn so schon die Nähe des Meeres einen för- dernden Einfluß auf die Üppigkeit und den Gestaltenreichtum der Orga- nismen des Festlandes übt, wie viel mehr muß das Meer selbst in dieser Hinsicht auf seine eigenen Bewohner wirken! Die Kontinuität der Lebensbedingungen im Meere erklärt nach meiner Ansicht auch die auffallende Erscheinung, dab die ungeschlechtliche Vermehrung durch Teilung, Sprossung und Keimbildung nirgends so verbreitet ist wie im Meere. Denn unleugbar steht die ungeschlechtliche Zeugung im engsten Zusammenhange mit Überfluß an Nahrung und stets gleichbleibenden Lebensbedingungen, während die geschlechtliche Vermehrung ebensosehr da vorherrscht, wo der Nahrungs- erwerb schwieriger ist und öfter gänzlicher Mangel eintritt oder sonst- wie durch physikalische Einflüsse eine vorübergehende Herabsetzung der Lebensenergie vorkommt, oft bis zum Eintritt des sogen. anabiotischen oder Schlafzustandes. Dementsprechend findet sich unter den Bewohnern des Luftkreises eine ungeschlechtliche Vermehrung nur bei einigen wenigen Insekten (Blattläusen, Gallwespen etc.). Die nähere Erörterung dieses interessanten Problems verbietet mir hier der beschränkte Raum; ich verweise den Leser auf die unten eitierten Schriften'. Nur sei noch bemerkt, daß die ungeschlechtliche Zeugung eine viel stärkere Vermehr- ung ermöglicht als die geschlechtliche; dieselbe ist also eine weitere Erklärung für die große Individuenzahl der Meerorganismen. Übrigens muß unsere Behauptung, daß im Meer niemals eine Unter- brechung der Lebensbedingungen stattfinde, eine kleine Einschränkung erfahren. An den Küsten bewirkt die Ebbe zweimal täglich die Ent- blößung großer Strecken des Meeresbodens vom Wasser und erschwert dadurch die Existenz der dort wohnenden Geschöpfe, welche zu Anpas- sungen an diese Verhältnisse gezwungen werden. Wie dies selbst fest- sitzenden Tieren gelungen ist, beweisen die Balanen oder Meereicheln, welche die Küstenfelsen oft bis zur obersten Flutmarke bedecken und bei Ebbe ihre Schalen hermetisch verschließen können. Bekanntlich ist im offenen Ozean, also auch an der Küste ozeanischer Inseln die Höhe der Flutwelle viel geringer als an den Festlandküsten, speziell im Innern von Buchten; so beträgt sie bei den Sandwichinseln kaum 1 m, während sie im englischen Kanal und anderswo mehr als das 10fache erreicht”. Die Unterbrechung der Lebensbedingungen ist also in der Mitte großer Ozeane am geringsten und so erklärt sich auch aus diesem Grunde der besonders große Lebensreichtum solcher Gegenden. Übrigens brauche ich kaum hinzuzufügen, daß die Unterbrechung der Lebensbedingungen durch Ebbe und Flut weit geringer und ganz anderer Art ist als die in süben Gewässern durch Austrocknen und Gefrieren des Wassers. ! Karl Düsing, die Regulierung des Geschlechtsverhältnisses bei der Ver- mehrung der Menschen, Tiere und Pflanzen. Jena. G. Fischer 1884, und mein Aufsatz über dies Werk in Zeitschrift „Humboldt“, 3. Jahrg. 1884, p. 434. ? Vergl. Hann, Hochstetter und Pokorny, Allgemeine Erdkunde. I. Aufl. p. 189 ff. (Schluß folst.) Zur Kenntnis der Dinosaurier und einiger anderer fossiler Reptilien. Nach Arbeiten von Prof. O. C. Marsh, Dr. G. Baur u.a. Von B. Weiter. (Mit Tafel 1. II.) Schon mehrfach haben wir unseren Lesern über die ungemein wert- vollen Reste jener ungeheuerlichsten aller ausgestorbenen Tierformen, der Dinosaurier, und so vieler anderer interessanter Geschlechter zu berichten gehabt, welche innerhalb der letzten fünfzehn Jahre in Nordamerika ent- deckt und vornehmlich durch den unermüdlichen Eifer von Prof. Marsh in New Haven und Prof. Core in Philadelphia für die wissenschaftliche Untersuchung gesichert worden sind und auch zum größten Teil schon eine ausgezeichnete Bearbeitung erfahren haben !. Heute sind wir in der angenehmen Lage, dem Referat über mehrere neue Publikationen von Prof. Marsh eine stattliche Anzahl von Originalabbildungen beigeben zu können, welche der Verf. uns freundlichst zur Verfügung gestellt hat, wodurch der Wert dieser Mitteilungen bedeutend erhöht wird. Zunächst möchten wir auf das restaurierte Skelett des merkwürdigen Brontosaurus excelsus Mars# (Taf. I, Fig. 1) aufmerksam machen, dessen Be- ' Vgl. Kosmos Bd. Il, S. 325, 417, 502: Das Auftreten der vorweltlichen Wirbeltiere in Nordamerika; Bd. V, 8. 137: Neu aufgefundene jurassische Reptile Nordamerikas; Bd. VI, S. 388: Neue jurassische Reptile und Säuger aus den Felsen- gebirgen; ebend. S. 476: Die Mosasaurier; Bd. VII, S. 74: Die Glieder von Saur- anodon; ib. S. 213: Die Stegosaurier; ib. S. 317: Das Brustbein der Dinosaurier; Bd. IX, S. 230: Ein Übergangsglied von den Amphibien zu den Reptilien; ib. S. 319: Rückenmarkshöhle, Becken und Füße der Stegosaurier; ib. S. 464: Eine neue Ordnung ausgestorbener Jura-Reptile (Coeluria MArsH); ib. S. 465: Die Klassifikation der amerikanischen Jura-Dinosaurier ; Bd. X, 8. 231: Jurassische Vögel und ihre Verwandten; ib. S. 382: Die Klassifikation der Dinosaurier; Bd. XI, S. 102: Die Flügel der Pterodaktylen; Bd. XIII, S. 549: Zur Kenntnis der Dino- saurier. — Da diese hochwichtigen Arbeiten unseres Wissens von keinem für weitere Kreise berechneten deutschen Journal in gleicher Vollständigkeit verfolgt worden sind, so hielten wir esnicht für überflüssig, hier eine solche Zusammenstellung der einschlägigen im Kosmos erschienenen Artikel zu geben. B. Vetter, Zur Kenntnis der Dinosaurier etc. 1. 351 schreibung wir in unserem letzten Berichte wiedergegeben haben. Das Bild läßt deutlich die wichtigsten der dort erwähnten Charaktere dieses gewaltigen Sauropoden erkennen: den verhältnismäßig kurzen, aber ungeheuer dicken, 'massigen Rumpf, die allmähliche Verschmächtigung des Halses, auf dessen Vorderende der zwerghaft kleine Schädel sitzt (in der auf '/so verkleiner- ten Figur hat derselbe 8 mm Länge, 6 mm Höhe, während das ganze Skelett 20 cm lang und 6 cm hoch ist; die wirklichen Maße betragen also 64 und 48 cm für den Kopf, 16 und 4,5 m für den gesamten Körper), den langen, an der Wurzel noch sehr mächtigen Schwanz, die hohen und kräftiger Hinterbeine mit ihrem überaus plumpen Becken- gürtel, die stark entwickelten, aber fest mit den zugehörigen Wirbeln verbundenen Halsrippen u. s. w. Dagegen bleiben natürlich unerkennbar die sonderbaren Postoccipitalknochen, die Columellae und Zungenbein- knochen, der kavernöse Bau sämtlicher präkaudalen Wirbel und die eigentümliche Thatsache, daß die über der Wirbelsäule, namentlich in der Lendengegend hoch emporragenden unpaaren Knochenstücke nicht etwa echte Dornfortsätze, sondern sogenannte Postmetapophysen sein sollen, welche, den Processus accessorii der Säugetiere entsprechend und paarig angelegt, durch mediane Verwachsung vollkommen die Stelle der fehlenden Dornfortsätze vertreten. Bezüglich weiterer Einzelheiten ver- weisen wir auf das citierte Referat. Zu derselben Familie der Atlantosauridae wie Brontosaurus hatte MarsH# in seiner Übersicht des Systems der Dinosaurier! auch eine bis dahin noch unvollständig bekannte Form unter dem Namen Diplodocus gestellt; weitere Funde lehrten jedoch, daß es sich hier um den Vertreter eines erheblich abweichenden Typus handelt, welcher als Familie der Diplodocidae zwischen die beiden andern Sauropodenfamilien (Atlanto- sauridae und Morosauridae) zu stellen ist. Allerdings scheinen die Ex- tremitäten von Diplodocus noch nicht aufgefunden zu sein, dagegen liegen der Schädel mit vollständiger Bezahnung, ein Teil des Beckengürtels und eine Anzahl Wirbel (wie es scheint nur vom Schwanzabschnitt) in vor- züglicher Erhaltung vor. Die nachstehende Erläuterung der Abbildungen (Taf. I, Fig. 2—10) schließt sich in der Hauptsache der ausführlichen Beschreibung dieser Teile an, welche Marsn kürzlich im American Journal (Vol. XXVII, 1884, S. 161—168; 2 Taf.) gegeben hat. Der Schädel ist von mäßiger Größe, hinten hoch und schmal, der lang vorgezogene Gesichtsteil etwas verbreitert. Die Profilansicht des- selben erinnert einigermaßen an einen Pferdeschädel, namentlich durch die hohe Lage der großen runden, wulstig umrandeten Augenhöhle, die Form der Hinterhauptsgegend und den sanften gleichmäßigen Abfall des Gesichts. Die Ansicht von oben lehrt aber ganz fundamentale Unterschiede kennen: die Nasenlöcher liegen nicht vorn, sondern, zu einer unpaaren großen Öffnung vereinigt, auf der höchsten Stelle des Schädels, zwischen den beiden Augen, und auf die kurze, von hier gegen die Ocecipitalregion hin rasch sich senkende Strecke des Schädeldaches sind Nasen-, Stirn- und Scheitelbeine zusammengedrängt, so daß also schon hiernach viel ! Amer. Journal Vol. XXIII, p. 81; Jan. 1882; vgl. Kosmos, X, S. 382. 352 B. Vetter, Zur Kenntnis der Dinosaurier eher ein Vergleich etwa mit dem Schädel des Delfins am Platze zu sein scheint. Außer Nasen- und Augenhöhle (c, d) bemerkt man noch jederseits ein kleines vorderes Loch im Maxillare («), eine große Lücke vor dem Auge (b) und eine tiefe »untere Schläfengrube« (e) unterhalb des letzteren. Von diesen drei Öffnungen ist die erste bisher nur bei Diplodocus beobachtet worden, die zweite ist für alle Sauropoden charakteristisch, während die dritte sämtlichen Dinosauriern zukommt. Endlich zeigt das typische Exemplar von Diplodocus noch gerade über der Hirnhöhle eine kleine Scheitelbein- fontanelle (f‘) wie die Eidechsen, doch scheint dies nur eine individuelle Eigentümlichkeit zu sein. Die Fläche der Occipitalregion fällt senkrecht ab und beinahe in gleicher Richtung schließt sich daran der Gelenkfortsatz des Hinterhaupts, der von hinten gesehen schwach dreilappig erscheint, indem er fast aus- schließlich vom Basioccipitale gebildet wird, während die Exoccipital- knochen kaum daran teilnehmen. Das Paroccipitale jeder Seite verbindet sich durch kräftige, distal etwas verbreiterte Fortsätze mit dem Quadratum. Wie aus dem ÖObengesagten schon hervorgeht, sind Scheitel- und Stirnbeine in der Längsrichtung bedeutend verkürzt und dem entsprechend erscheinen sie auch zu einer einfachen Platte (/, p) verschmolzen, an welcher nur noch die unpaare Stirnnaht angedeutet ist. Ebenso sind auch die Nasenbeine (n) breiter als lang; durch Nähte von einander wie vom Stirn- bein getrennt, umgrenzen sie die im ganzen herzförmige Nasengrube von hinten und durch einen mit dem Maxillare zusammenstoßenden Fortsatz z. T. auch von außen. Jenseits derselben folgen die ungemein langen, schmalen und dünnen Intermaxillaria (pm), die in der Medianlinie zu einem stumpfen Kamm zusammentreten, mit medianer Spitze in die Nasenhöhle einspringen und an ihrem unteren, etwas verbreiterten Ende je vier Zähne, die größten des ganzen Gebisses, tragen. — Eine gewaltige Ausdehnung erreicht das Maxillare (m), wie ein Blick auf die Abbildungen lehrt; sein unterer Rand ist zwar in ganzer Ausdehnung verdickt und etwas nach außen gewendet, trägt aber doch nur im vordersten Abschnitt neun Zähne, deren Größe nach hinten hin successive abnimmt. In der Ansicht von unten wird ein verdickter Kamm oder Fortsatz des Maxillare sicht- har, welcher median mit dem der anderen Seite zusammentrifft und so die Zwischenkiefer von der Bildung des Gaumendaches ausschließt. Übri- gens schieben sich auch schon die aufsteigenden Fortsätze der Maxillaria eine längere Strecke weit unter die Intermaxillaria und vereinigen sich in der Medianlinie. Präfrontale und Lacrimale (pf, !), untereinander sowie mit dem Jugale vereinigt, vervollständigen die seitliche Partie des Gesichtsschädels; die hintere und untere Umgrenzung der Augenhöhle übernimmt das drei- strahlige Postfrontale, dessen längster Fortsatz nach unten und vorn gegen das Jugale herabsteigt, während ein hinterer Ast dem Squamosum aufliegt, das seinerseits mit einem plattenförmigen unteren Abschnitt den ! Eine ähnliche Öffnung fand sich auch bei einem Exemplar von Morosaurus; sonst aber sind die Scheitelbeine bei allen Sauropoden, obgleich oft stark verdünnt, doch nie durchlöchert. und einiger anderer fossiler Reptilien. I. 353 Kopf des Quadratum (g) bedeckt. Dieses ist namentlich bemerkenswert durch seine schlanke Gestalt und seine Richtung nach vorn und unten, wodurch die Gelenklläche für den Unterkiefer bis vor die Mitte der Augenhöhlengegend zu liegen kommt. Vorn entsendet es ins Innere der »unteren Schläfengrube« hinein eine dünne plattenartige Ausbreitung, welche das Hinterende des Pterygoids überdeckt. Sein Gelenkfortsatz endlich wird von außen her umfaßt von dem verbreiterten hinteren Ab- schnitt des Quadratojugale (qj), dessen Vorderstück, einen schlanken unteren Schläfenbogen bildend, mit Jugale und Maxillare in Verbindung tritt. Das Gaumendach, hoch gewölbt und dachförmig, wird hauptsächlich von den Flügelbeinen gebildet. Die Basipterygoidfortsätze [des Basi- sphenoids, welche die Verbindung der Schädelbasis mit den Pterygoidea vermitteln und bekanntlich bei vielen Vögeln durch Ausbildung von Gelenk- flächen ein Hin- und Hergleiten des ganzen Quadrat-Flügel-Gaumenbein- apparates ermöglichen| sind hier stärker verlängert als bei irgend einem andern Sauropoden und senken sich in eine seichte Grube der Pterygoidea ein; dagegen mangelt ein deutlicher Eindruck zur Aufnahme einer Columella, die somit gefehlt zu haben scheint'. Unmittelbar vor jener Grube be- ginnen sich die Flügelbeine zu verbreitern und stellen bald breite flache Platten dar, die nahezu senkrecht aufgerichtet sind, offenbar um die von der Scheitelhöhe gerade herunterführenden Nasenhöhlen zwischen sich zu fassen. Das Vorderende des Pterygoids reicht weit nach vorn, ist zugespitzt und verbindet sich längs seines unteren Randes mit dem Vomer, während ein nach unten und außen gehender Fortsatz an das Trans- versum und davor an das Palatinum oder Gaumenbein anschließt. Dieses und der Vomer stehen außerdem noch mit dem Maxillare in Verbindung. Unverhältnismäßig schlank und schwach im Vergleich zu dem der übrigen Sauropoden ist der Unterkiefer, insbesondere fehlt dem Dentale ganz der massive Charakter, den es z. B. bei Morosaurus besitzt. Nur der vorderste Abschnitt trägt Zähne; die beiden Unterkieferäste senken sich dabei, während sie medianwärts der Symphyse zustreben, zugleich ! Bei dieser Gelegenheit möchten wir die Möglichkeit eines Mißverständnisses beseitigen, welches daraus entstehen könnte, dab in der Beschreibung von Bronto- saurus (Bd. XIII, S. 551) auf die Diskussion des augenscheinlich fehlenden Gehör- knöchelchens, welches dort als Stapes benannt ist, gleich die Schilderung der Columella folgt; man könnte vielleicht glauben, es handle sich um die Colu- mella auris, wie der zwischen Fenestra ovalis und Tympanum ausgestreckte „Gehörknochen“ allerdings in deutschen Handbüchern zumeist bezeichnet wird. In Wirklichkeit ist, wie der Kundige leicht sieht, die Columella im eigentlichen Sinne, d.h. jener säulenförmige (Haut-) Knochen gemeint, welcher bei der Mehr- zahl der Lacertilier vom Scheitelbein zum Pterygoid herabsteigt und Veranlassung gegeben hat, diese Gruppe als Unterordnung der Kronocerania (STANNIUS) ZU- sammenzufassen, welcher jedoch auch bei Schildkröten und Schlangen durch (hier an der Begrenzung der Schädelhöhle teilnehmende) plattenartige Stücke vertreten ist. Die Columella auris sollte besser, um Verwechselungen ganz auszuschließen, stets als Stapes bezeichnet werden, wie es auch in dem erwähnten Referat geschehen ist, oder es müßte die eigentliche Columella einen anderen Namen erhalten; gegenwärtig sind selbst die Verfasser der Lehrbücher genötigt, bei der letzteren extra beizufügen: „nicht zu verwechseln mit der Columella auris!* — und wo diese Warnung unterbleibt, ist die Verwirrung besonders beim Anfänger nur zu bald fertig. Kosmos 1884, IT. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XV). 23 354 B. Vetter, Zur Kenntnis der Dinosaurier stark nach unten und erleiden eine Drehung des oberen Randes nach vorn, so dal die Zähne sehr schief zu stehen kommen. Die ganze Bezahnung von Diplodocus macht unstreitig einen rudi- mentären Eindruck; sie ist schwächer als bei irgend einem andern bisher bekannt gewordenen Dinosaurier und zeigt uns, daß in dieser großen, nach so verschiedenen Richtungen differenzierten Gruppe auch die Tendenz zum völligen Aufgeben der Zahnbewaffnung, die Hinneigung zum Eden- tatenzustand ihre Vertreter hatte. Wie bereits erwähnt trägt jedes Prämaxillare 4, jedes Maxillare 9 Zähne, und diesen wirken 10 in jedem Dentale entgegen. Diese meißel- oder stiftförmigen, fast bis zu der mit dünner Schmelzschicht überzogenen Spitze hohl bleibenden Zähnchen, welche zu der Größe des ganzen Schädels und vollends des gesamten Tieres in gar keinem Verhältnis stehen, sind zudem nur sehr locker in ihren Alveolen befestigt, so dab sich leicht die ganze Reihe derselben aus dem Kiefer löst, ohne in Unordnung zu geraten (vgl. Fig. 6). Eine solche Zahnreihe war früher zusammen mit den Resten von Stegosaurus gefunden und daher von Marsu als dieser Gattung zugehörig beschrieben worden'!, während sich jetzt herausgestellt hat, daß die Bezahnung der letzteren derjenigen von Scelidosaurus (Typus der zweiten Familie von Mars#’s Ordnung der [pflanzenfressenden, mit verknöcherten Hautstacheln bewaffneten] Steyosauria) einigermaßen ähnlich war. Höchst charakte- ristisch ist Fig. 5, welche einen Querschnitt durch das Maxillare in der Gegend des vierten Zahnes darstellt: der merkwürdig dünnwandige - Knochen umschließt eine weite Höhle, in welcher, gegen die Wurzel des lose eingekeilten funktionierenden Zahnes geneigt, nicht weniger als fünf Ersatzzähne von immer geringerer Größe verborgen liegen. Prämaxillare und Dentale liefern genau gleiche Bilder, woraus wohl geschlossen werden darf, daß sämtliche Zähne einer sehr raschen Abnutzung und Wieder- ersetzung unterworfen waren. Von Gaumen- oder Vomerzähnen u. s. w. ist keine Spur zu sehen. Von der Wirbelsäule scheinen wie bemerkt bisher nur Teile des Schwanzabschnittes bekannt geworden zu sein. Der in Fig. 7 u. 8 ab- gebildete zwölfte Caudalwirbel zeichnet sich aus durch seinen hohen, stark nach hinten geneigten Dornfortsatz, wohlentwickelte Gelenkfortsätze, tiefe Einbuchtung des Körpers von unten her, augenscheinlich plane oder nur sehr schwach konkave Endflächen des letzteren und vor allem durch die »Chevronknochen« (Fig. 9 u. 10), welche an der Unterseite zweier be- nachbarter Wirbel befestigt waren: dieselben sind hier doppelt, d. h. so- wohl nach vorn als nach hinten von der Anheftungsstelle aus ent- wickelt — eine Eigentümlichkeit, auf welche sich eben der Gattungs- name Diplodocus bezieht (7 dox0g der Balken). Diese Chevronknochen sind übrigens morphologisch sehr untergeordnete Stücke und stellen offenbar nur verknöcherte Sehnen dar, weshalb sie denn auch so erheb- lich variieren. Endlich liegt noch vom Beckengürtel wenigstens das Sitzbein vor, gerade der Teil, welcher in den beiden bisherigen Familien der Sau- ! Amer. Journ. XIX, 255; März 1880. und einiger anderer fossiler Reptilien. I. 355 € ropoden so wesentliche Unterschiede aufweist. Bei den Aflantosauridae sind die Sitzbeine dick und kräftig, nach unten gerichtet, nur ihre ver- breiterten Enden berühren sich in der Medianebene; bei den Morosauridae sind sie schlank, nach hinten gerichtet, der Schaft ist um etwa 90° gedreht und sie treten median in der ganzen Ausdehnung ihrer Innen- seiten zusammen. Das Ischium von Diplodocus nun hält ziemlich genau die Mitte zwischen den beiden genannten Formen: der mäbig schlanke Knochen ist distal nicht verbreitert, aber auch nicht gedreht; er sieht schief nach unten und hinten und berührt sich nur am Ende mit dem der andern Seite. Wie bei so vielen Dinosauriern hat aber Marsh auch hier außer- dem noch die ungefähre Form und Größe des Gehirns ermittelt (s. Fig. 4b). Abgesehen von seiner Kleinheit, worin Diplodocus nichts vor den übrigen jurassischen Vertretern seiner Klasse voraus hat, fällt es besonders durch seine Lage auf: es zieht nicht wie bei allen bekannten Reptilien parallel der Längsachse des Schädels horizontal nach vorn, sondern steigt vom Hinterhauptloch aus stark empor, was an das Verhalten der Wiederkäuer unter den Säugern erinnert, hier aber offenbar nur dadurch bedingt ist, dab die Nasen- und Augenhöhlen so weit nach oben und hinten verlegt sind und der Gesichsteil des Schädels sich so sehr nach unten und vorn hin verlängert hat, ganz als ob er unter stumpfem Winkel vom Gehirnteil abgeknickt wäre. — Außerdem ist das Gehirn von Diplodocus durch “einen ungemein großen Pituitarkörper (Hypophysis cerebri, Hirnanhang) ausgezeichnet, welcher von einer geräumigen Grube in der Schädelbasis umschlossen wird. Erinnert man sich dabei des Befundes bei den Atlanto- sauridae!, wo noch der embryonale Zustand eines weiten, die Schädel- höhle mit dem Darmrohr verbindenden Pituitarkanales besteht, und anderseits der kleinen Pituitargrube bei den Morosauridae, so sieht man deutlich, wie Diplodocus auch in dieser Hinsicht zwischen jenen beiden Familien die Mitte hält. — Die Form des Gehirns bietet nichts Außer- gewöhnliches: die Großhirnhemisphären (e‘) sind kurz und breit und ragen weiter nach oben als die Sehhügelregion; die Riechlappen (ol) waren wohlentwickelt und wurden vorn durch eine senkrechte knöcherne Scheide- wand von einander geschieden. Nach Marsu’s Schätzung war das typische Exemplar von Diplo- docus longus, welchem die hier beschriebenen Reste angehört haben mögen, ein Tier von gewaltiger Größe, »ungefähr zwischen Atlantosaurus und Morosaurus stehend, wahrscheinlich 40 bis 50 Fuß lang«. Worauf sich diese Schätzung gründet, ist freilich nicht gesagt; es können jedoch nur die Maßverhältnisse der Schwanzwirbel und des Sitzbeins als Unterlage gedient haben, da ja andere Skeletteile überhaupt nicht vorzuliegen scheinen und der Schädel, dessen größte Länge (nach der Abbildung zu schließen) ca. 70 cm betragen haben muß, doch wohl an sich auf ein erheblich geringeres Maß des ganzen Körpers hinweisen würde. — Über die Lebensweise des Tieres sagt Marsu: »Die Zähne zeigen, dab es ein Herbivore war, dessen Nahrung wahrscheinlich aus saftreichen ! Vgl. Kosmos XII, 549. 356 B. Vetter, Zur Kenntnis der Dinosaurier Pflanzenteilen bestand. Die Lage der äußeren Nasenlöcher weist auf ein Leben im Wasser hin.«< Es ist schwer verständlich, wie Cor dem gegenüber in einer kurzen Notiz über Diplodocus! zu der Bemerkung kommt, MaArsı nehme an, dieses Wesen habe auf dem Lande gelebt und sich vom Laube von Waldbäumen genährt. Dabei betont aber auch er mit vollem Rechte, daß seine Bezahnung, die man mit einem Paar von einander gegenübergestellten Rechen vergleichen könnte, entschieden weiche Nahrung verlange, die nicht gekaut zu werden brauchte, und daß ferner die Lage der Nasenlöcher auf der Höhe des Schädels für das Leben im Wasser und ganz besonders im Meere bezeichnend sei. Er erblickt denn auch in Diplodocus eine neue Bestätigung seiner schon früher ausgesprochenen Vermutung, daß die »Opisthocoelier< (eine Ab- teilung, die sich ziemlich mit den Sauropoden MaArs#’s deckt) auf dem Meeresgrunde herumspazierend ihre hauptsächlich aus Tangen bestehende Nahrung gesucht haben müßten, wobei ihnen die hohlen, mit Luft ge- füllten Wirbel als hydrostatischer Apparat, d. h. als Hilfsmittel beim Schwimmen und beim Emporsteigen zur Oberfläche, die massigen Beine und der Schwanz hingegen gleichsam als Anker gedient hätten. Die unserer bisherigen Beschreibung zu Grunde gelegten Reste wurden in Schichten des oberen Jura bei Canon City, Colorado, gefunden. Eine zweite kleinere Art, welche durch Reste aus der Nähe von Morrison, Col., repräsentiert wird und D.lacustris heißen mag, hat viel schwächere Kinnladen: das Maxillare trägt 3 Zähne und ist an der Naht mit dem Prämaxillare nur 2,6 cm dick; die ganze Zahnreihe nimmt. einen Raum von blob 7 cm ein. Ein zweites Exemplar von augenscheinlich derselben Art wurde seither noch in Wyoming entdeckt. Aus dem Obigen ergeben sich nun folgende vervollständigte (vgl. Kosmos X, 382) bezw. erweiterte Diagnosen: „Ordnung Sauropoda. »Prämaxillare mit Zähnen versehen. |Große Antorbitalöffnung. | [Äußere Nasenlöcher auf der Höhe des Schädels.| [Postoceipitalknochen. | [Vordere Wirbel opisthocöl]; die präsakralen Wirbel? hohl; [jeder Sakral- wirbel trägt seinen eigenen Querfortsatz.| Vordere und hintere Glied- maben nahezu gleich, ihre Knochen solid. Fuß plantigrad, mit Hufen versehen; fünf Finger in Hand und Fuß; die zweite Reihe der Hand- und Fußwurzelknochen unverknöchert. Brustbeinknochen paarig*. Scham- beine nach vorn gerichtet, distal durch Knorpel verbunden; kein Post- pubicum. z en Naturalist, Mai 1884, S. 526. ” Zum Vergleich mit der 1. c. wiedergegebenen Klassifikation sind die hier neu near Charaktere in eckige Klammern eingeschlossen. ® Früher: „die präcaudalen Wirbelf. * „Ceteosaurus |ein europäischer Morosauride]l wurde von Phillips und anderen Autoritäten mit unpaarem Brustbein abgebildet. Der Verf. fand aber bei neulicher Untersuchung des Originalexemplars in Oxford Stücke von zwei solchen Knochen, welche den Sternalplatten amerikanischer Sauropoden außerordentlich ähnlich sind.“ und einiger anderer fossiler Reptilien. I. 357 »1. Familie: Atlantosauridae. |Ein Pituitarkanal.| Sitzbeine nach unten gerichtet; ihre [verbreiterten] Enden berühren sich median. [Sakrum hohl.| [Vordere Schwanzwirbel mit seitlichen Hohlräumen. | [>2. Familie: Diplodocidae. Bezahnung schwach. Gehirn nach hinten abfallend. Große Pituitargrube. Zwei Antorbitalöffnungen. Sitz- beine mit geradem Schaft, distal nicht verbreitert, nach unten und hinten gerichtet, ihre Enden berühren sich median. Die Schwanzwirbel von unten tief eingebuchtet. Chevronknochen mit vorderen und hinteren Ästen. | »3. Familie: Morosauridae. |Kleine Pituitargrube.] Sitzbeine [schlank, mit gedrehtem Schaft] nach hinten gerichtet, berühren sich median mit der ganzen Innenseite. [Vordere Schwanzwirbel solid. |< Natürlich darf nicht vergessen werden, daß diese Übersicht nur unsere augenblickliche, noch sehr dürftige Kenntnis zum Ausdruck bringt und später wohl manche Änderung und Einschränkung, besonders in der Charakteristik der Diplodocidae, sich nötig machen wird. Es sei hier nochmals daran erinnert, daß die Sauropoden die in mancher Hinsicht am wenigsten differenzierte Ordnung der Dinosaurier sind, welche nahe Verwandtschaft zu den Krokodilen zeigt, besonders wenn man einige ausgestorbene Formen hinzuzieht. Diplodocus z. B. gleicht dem triassischen BDelodon namentlich durch die großen antorbitalen Lückenräume im Schädel, durch die Verlagerung der äußeren Nasen- öffnungen nach hinten und durch einige andere Merkmale. Die aus der- selben Formation stammende Gattung Aötosaurus (die von O. Fraas be- schriebene merkwürdige »gepanzerte Vogelechse«, vgl. Kosmos IV, S. 57) nimmt eine Mittelstellung ein, repräsentiert aber eine besondere Ordnung, die man Aötosauria nennen kann. Die ausführliche Erörterung der Be- ziehungen zwischen diesen Gruppen behält Marsh einer späteren Gelegen- heit vor. Ein noch vollständigeres Bild als von den Diplodociden wird uns in einer späteren Arbeit dieses Autors! von den karnivoren Dino- sauriern entworfen, die er unter dem ÖOrdnungsnamen Theropoda zu- sammenfaßt. Obwohl Megalosaurus als erster Vertreter dieser Gruppe schon 1824 von BuckrLAanD beschrieben worden ist, war doch der Schädel und vollends das übrige Skelett nur ganz ungenügend bekannt. Die oben erwähnten Atlantosaurus-Schichten des oberen Jura von Colorado haben nun auch zwei nahezu vollständige sowie zahlreiche teilweise er- haltene Skelette von Theropoden geliefert, darunter vor allem den Typus einer neuen Gattung und Familie, Ceratosaurus nasicornis, und ein Skelett von Allosaurus fragilis, zugleich mit Resten verschiedener Sauropoden, Stegosaurier und Ornithopoden und einiger jurassischer Säugetiere. Auf die beiden erst erwähnten Formen wird sich die nachfolgende Beschreibung - hauptsächlich beziehen. Daß Ceratosaurus in der That eine neue Familie vertritt, zeigt eine kurze Übersicht seiner Eigentümlichkeiten: der Vorderschädel trägt ein großes Horn; die Wirbel sind nach einem ganz neuen Typus gebaut; ! Americ. Journ. Apr. 1884, S. 329—340. Mit 7 Tafeln. 358 B. Vetter, Zur Kenntnis der Dinosaurier im Becken sind sämtliche Knochen synostotisch verbunden (zu einer Masse verknöchert) wie bei den heutigen Vögeln; der Rücken ist von der Schädelbasis an mit großen Hautknochenplatten bedeckt. — Die. Größe des Tieres scheint ungefähr 17 Fuß betragen zu haben, etwa die Hälfte derjenigen des gleichzeitig gefundenen Allosaurus fragilis. Gehen wir nun an .der Hand der trefflichen Abbildungen (Taf. II, Fig. 1—5) zur Schilderung der einzelnen Teile über. Der Schädel ist im Verhältnis zum übrigen Körper ansehnlich groß (Länge ca. 66 cm, Höhe 36 em), hinten ziemlich boch und breit, vorn aber gestreckt und allmählich zugespitzt, so daß er von oben ge- sehen sehr an den eines Krokodils erinnert. Von der Seite betrachtet erscheint der Schädel jedoch mehr lacertilierartig durch die Leichtigkeit seines Baues. Vier große Öffnungen unterbrechen die Knochenwand desselben. Nahe der Schnauzenspitze liegen die nierenförmigen äußeren Nasenlöcher (a); darauf folgt jederseits ein sehr großes dreieckiges Ant- orbitalloch (c), dann die weite Augenhöhle mit eiförmigem Umriß (d) und viertens die noch umfänglichere untere Schläfengrube (e). Im Schädeldach liegt endlich noch eine kleine obere Schläfengrube (R). Wie wir oben sahen, kommen diese Öffnungen, welche bei allen Theropoden zu finden sind, auch den Sauropoden zu, auch die Antorbitalöffnung, von welcher Mars# wohl nur aus Versehen bemerkt, sie kehre bei keinem anderen Dinosaurier wieder. Höchst eigenartig erscheint der hinterste Abschnitt des Schädels, sowohl von oben als von der Seite betrachtet, durch die kräftige Ent- wickelung der Quadratbeine nach hinten und unten hin, was zugleich einen ausgeprägten Gegensatz zum Verhalten von Diplodocus und der andern Sauropoden ergibt. Der halbkugelige Hinterhauptskondylus ist nur schwach gegen die Längsachse des Schädels geneigt, die Basioccipitalfortsätze sind kurz und dick; ganz außergewöhnliche Länge und Richtung zeigen aber die flachen Paroccipitalfortsätze, die weit nach außen und hinten ragen, um mit wenig verbreitertem Ende den oberen Kopf des Quadratums zu erreichen. Die Scheitel- und Stirnbeine sind von mäßiger Größe, bei beiden ist die mediane Naht verschwunden, auch fehlt das mediane Foramen parietale. Eine mächtige Entfaltung haben dagegen die Nasen- beine erlangt. Sie erstrecken sich von der Vorderaugenhöhlengegend bis zu den Nasenlöchern, sind median verschmolzen und erheben sich in der vorderen Hälfte ihrer Länge gemeinschaftlich zur Bildung eines senkrecht aufstrebenden schmalen langen Hornzapfens (b), dessen Seitenflächen dicht mit unregelmässigen Furchen bedeckt sind, wie sie auf den Hornkernen der Wiederkäuer durch ein reich entwickeltes Blutgefäßnetz hervor- gebracht werden. Unzweifelhaft saß also auch auf diesem Zapfen ein großes Horn, wahrscheinlich mit scharfer Schneide und Spitze, jedenfalls eine höchst wirksame Waffe für Angriff und Verteidigung. Von keinem anderen Dinosaurier ist etwas Ähnliches bekannt und am allerwenigsten würden wir nach unsern hergebrachten Anschauungen eine derartige Ausrüstung bei einem ausgeprägten Karnivoren zu finden erwarten: erst unter den Fischen treten uns vereinzelte räuberisch lebende Formen mit einigermaßen vergleichbaren Stacheln oder Dornen bewaffnet ent- und einiger anderer fossiler Reptilien. I. 359 gegen!. Die Zwischenkiefer bleiben von einander getrennt; jeder trägt nur 3 funktionierende Zähne, während der nahe verwandte Megalosamurus sowie Compsognathus und sämtliche Sauropoden deren 4 besitzen und Üreo- saurus sogar 5 aufweist, von denen der erste sehr klein ist, der zweite dagegen hauerartig hervortritt. Das mächtig entwickelte Maxillare, das die Antorbitalöffnung von oben und unten umgreift, enthält 15 große, schwach rückwärts gekrümmte, mit schneidenden Kanten versehene Zähne, welche hinlänglich den karnivoren Charakter ihres Trägers verraten und denen von Megalosaurus sowohl in der Form als in der Art ihres Er- satzes gleichen. Die Umgrenzung der Augenhöhle wird gebildet: vorn vom Lacri- male, darüber vom Präfrontale (»/), das mit einem mächtigen nach außen überhangenden Knochenwulst versehen ist, der wohl zum Schutz des Auges (vielleicht auch einer hornigen Vorragung zur Unterlage ?) diente; oben eine kurze Strecke weit vom Frontale, dann vom Postfrontale, endlich hinten und unten von dem wie ein umgekehrtes ] aussehenden Jugale, das nach vorn mit Lacrimale und Maxillare, nach hinten mit dem Quadratojugale in Verbindung steht, auf diese Weise den unteren Schläfenbogen abschließend, der allen bekannten Dinosauriern eigen- tümlich ist. Das langgestreckte, von hinten nach vorn abgeflachte Qua- dratum zeigt am unteren Ende eine doppelte Gelenkfläche wie bei manchen Vögeln und in der oberen Hälfte der Außenseite einen kurzen kräftigen Haken, in den ein Fortsatz des Quadratojugale eingreift; sein oberes Ende wird vom Squamosum und vom Paroceipitalfortsatz umfaßt. Über die Elemente des Gaumendaches sei nur bemerkt, daß das lange Flügelbein in der Mitte eine Grube zur Aufnahme des Basipterygoid- fortsatzes aufweist, dab seinem unteren Rande das krumme, nach unten vorragende Transversum sich anlegt, während von ihm nach oben eine sehr kurze dünne Columella zum Postfrontale aufsteigt, und daß das Pterygoid sowohl wie das kräftige Palatinum und der Vomer nahezu senkrecht stehen wie bei den Sauropoden (woraus wohl zu entnehmen ist, daß die inneren Nasenlöcher wie bei Lacertiliern weit vorne liegen). — Endlich fanden sich noch 4 stabförmige, schwach gekrümmte Knochen, welche nur Elemente des Zungenbeins sein können. — Der Unterkiefer zeigt, entsprechend der an Schlangen erinnernden Rückwärtsverlegung des Quadratumgelenkes, bei aller Kräftigkeit doch eine schlanke Gestalt, besonders in der vorderen Hälfte, welche 15 durchschnittlich etwas schwächere Zähne trägt als der Oberkiefer. Es standen also, wie die Abbildung lehrt, den 6 bis 7 hintersten Zähnen des letzteren keine im Unterkiefer gegenüber, ein Hinweis darauf, daß das ganze Gebiß wohl hauptsächlich nur zum Festhalten der Beute, nicht zum eigentlichen Beiben diente und somit auch noch lange nicht den Grad der Speziali- sierung erreicht hatte wie das der Säugetiere, was man angesichts der sonstigen hohen Entwickelung des gesamten Skelettes nur gar zu leicht vergißt. Vorn werden die Unterkieferäste sehr niedrig und treten zu ! Das „Horn“, welches Mantell von I/guanodon beschrieben und welches bisher für einen Rückenstachel gehalten wurde, hat sich als die Endphalange des ersten Fingers herausgestellt. 360 B. Vetter, Zur Kenntnis der Dinosaurier einer äußerst schmalen, durch Knorpel vermittelten Symphyse zusammen. — Gleichzeitig beschreibt Marsh das Dentale eines Unterkiefers, den er Labrosaurus zurechnet, einen sehr schmalen und niedrigen Knochen, der aber hinten, wo er an das Articulare und Angulare anschloß, plötzlich sehr hoch wird. Sein vorderstes verdicktes Ende ist zahnlos, die in seichten Alveolen sitzenden 12 Zähne sind klein und eigentümlich drei- kantig. Ceratosaurus besab ein mittelgroßes Gehirn (s. Fig. 3), das aber immerhin verhältnismäßig viel umfänglicher war als das der herbivoren Dinosaurier. Auffallend ist seine langgestreckte schmale Form bei ansehn- licher Höhe, besonders im mittleren Abschnitt. Das Foramen magnum war klein, das Kleinhirn mittelgroß, die Sehlappen besonders gut entwickelt im Vergleich zu den Hemisphären des Großhirns, und ausnehmend scharf setzten sich die großen verbreiterten Riechlappen ab. Auch der Pituitar- körper scheint bedeutenden Umfang gehabt zu haben. In der Wirbelsäule ist an den Halswirbeln (Fig. 4) ein ganz eigenartiges Verhalten zu beobachten. Mit Ausnahme des Atlas sind die- selben alle ausgeprägt opisthocöl, mit ungewöhnlich tiefer Grube am hinteren Ende jedes Wirbelkörpers. An Stelle jedoch eines entsprechend ausgebildeten runden Gelenkkopfes am vorderen Ende findet sich hier eine vollkommen ebene Fläche auf schwacher Vorragung, welche nur mit ihrem vordersten Rande, einen deutlich markierten Gelenk»ring« darstellend, in die nächst vorhergehende Gelenkhöhle eingesenkt werden konnte, so daß mindestens drei Vierteile der letzteren unausgefüllt blieben — offenbar eine nicht sonderlich feste Gelenkverbindung, die einigermaßen in Widerspruch steht mit den kräftigen Fangzähnen und der räuberischen Lebensweise des Tieres, welche doch unstreitig oft genug den Hals einem plötzlichen Ruck oder gewaltsamer Zerrung aussetzte. — Diese neue Wirbelform lehrt, daß die bisher übliche Bezeichnung pro- und opisthocöl, die sich nur auf ein Ende bezieht und von der Voraussetzung ausgeht, das andere müsse entsprechend geformt sein, nicht durchaus zutrifft und daher besser mit bikonkav, konvex-konkav, konkav-konvex, plan-konkav u. s. w. zu ver- tauschen wäre. Bei Ceratosaurus artikulieren die Halsrippen mit den zugehörigen Wirbelkörpern wie bei allen übrigen Theropoden außer Coelurus; ebenso finden sich freie Rippen in der Halsgegend auch bei den Stegosauriern und Ornithopoden, so daß die Sauropoden, wo sie fest mit den Körpern verwachsen sind, in dieser Hinsicht ganz vereinzelt dastehen. — Die Rücken- und Lendenwirbel sind in mäßigem Grade bikonkav, von der lateralen und ventralen Seite her tief eingebuchtet und durch kompliziert gestaltete Gelenkfortsätze mit einander verbunden. Sämtliche prä- sakralen ebenso wie die vordersten Schwanzwirbel umschließen innere Hohlräume. Das Kreuzbein von Ceratosaurus besteht aus nicht weniger als 5 fest verwachsenen Wirbeln, deren je zwei gemeinschaftlich einen kurzen Quer- fortsatz tragen. Diese berühren sich nicht mit ihren distalen Enden. Auch Megalosaurus hat 5 verschmolzene Sakralwirbel, während Creosaurus deren nur 2 aufweist; diese Zahl scheint also bei den verschiedenen Gattungen und einiger anderer fossiler Reptilien. 1. 361 der Theropoden ebenso zu variieren wie bei den Sauropoden. — Die Schwanzwirbel sind bikonkav. An den vordersten (mit Ausnahme des ersten) saßen außerordentlich lange Chevronknochen, die auf einen hohen schmalen, zum Schwimmen trefflich geeigneten Schwanz schließen lassen. Derselbe war zugleich von ansehnlicher Länge, die letzten Schwanzwirbel erscheinen stark verkürzt. Über die Vorder- und Hintergliedmaßen von (eratosaurus teilt uns MArsm nichts mit, dieselben scheinen also noch nicht entdeckt zu sein; dagegen gibt er uns eine höchst interessante Abbildung und Schilderung dieser Skelettstücke von Allosaurus fragilis sowie des Beckens von Ceratosaurus. — Was die Vorderglieder betrifft, so sind dieselben bei Allosaurus (Fig. 6) wie bei allen bisher bekannten Theropoden unverhält- nismäßig klein, aber ziemlich kräftig, besonders das Schulterblatt und das breite kurze Coracoid, welche denen von Megalosaurus gleichen. Der Humerus ist etwas S-förmig gebogen, kurz und stämmig und inwendig hohl, wie überhaupt alle Gliedmaßenknochen dieser Gattung. An der Hand sind die starken, seitlich zusammengedrückten Klauen beachtenswert, mit denen einige (besonders der 2. und 3.) ihrer vier Finger ausgerüstet sind. Diese jedenfalls sehr wirksamen Waffen wurden bisher bei mehreren ver- wandten Gattungen dem Hinterfuße zugerechnet, welcher jedoch bei allen bekannten Theropoden runde, nicht schneidende Klauen besitzt. Die Elemente des Beckengürtels der Theropoden sind bisher vielfach mißdeutet worden: das Darmbein drehte man völlig um und er- klärte es für das Coracoid, das Sitzbein galt als Schambein und dieses selbst hielt man gar nicht für einen Teil des Beckengürtels. Glück- licherweise sind nun bei dem vorliegenden Exemplar von Ceratosaurus (Fig. 5) alle drei Knochen fest mit einander verwachsen, so daß über ihre Be- stimmung und relative Lage kein Zweifel aufkommen kann. Überdies hängen die Darmbeine mit dem Kreuzbein zusammen, das seine natür- liche Stellung in dem überhaupt wenig zerrütteten Skelett bewahrt hat. — Das Darmbein hat im allgemeinen dieselbe Gestalt wie bei Megulo- saurus und wie sie überhaupt für die ganze Ordnung der Theropoden charakteristisch zu sein scheint. Creosaurus zeigt zwar einen stärker aufsteigenden vorderen Flügel und eine bedeutend weitere Bucht dar- unter, doch mag dies zum Teil durch unvollständige Erhaltung bedingt sein. — Das Sitzbein von Üeratosaurus ist verhältnismäßig schlank und stark nach hinten gerichtet, in seiner distalen Hälfte berührt es sich innig mit dem der andern Seite und die äußersten verbreiterten Enden sind sogar synostotisch verbunden. Dasselbe gilt für alle Theropoden von den Schambeinen, die nach vorn und unten ragen und von vorn gesehen die Gestalt eines je nach der Gattung etwas verschieden ge- formten Y haben. Die verschmolzenen distalen Enden verbreitern sich zu einem massiven verlängerten fußähnlichen Stück, einem der merkwür- digsten und charakteristischsten Teile des ganzen Skeletts. Derselbe kann nur dazu gedient haben, den Körper in sitzender Stellung zu stützen. Daß gewisse triassische Dinosaurier sich auf ihre Sitzbeine niederließen, geht unzweifelhaft aus den von ihnen hinterlassenen Eindrücken im Sand- stein des Connecticutflusses hervor; gleichzeitig ruhten auch die Hinter- 362 B. Vetter, Zur Kenntnis der Dinosaurier beine mit den Fersen auf dem Boden auf. Denkt man sich einen Thero- poden in solcher Stellung, so würde er ziemlich genau senkrecht unter- halb seines Schwerpunktes durch die Verbreiterung seiner Schambeine ge- stützt werden, wobei die Sitzbeine und die hinteren Extremitäten natür- lich mithelfen würden, das Gleichgewicht zu erhalten. Vielleicht pflegten diese räuberischen zweifüßigen Reptilien in der Regel eine solche Stellung anzunehmen, wenn sie auf Beute lauerten. Eine andere Frage erhebt sich angesichts des ungemein engen Beckens der Theropoden, insbesondere wenn man das weite Becken der gleichaltrigen herbivoren Formen dagegenhält. Bei einer neu entdeckten Art von Coelurus, die mindestens dreimal so groß gewesen sein muß als die typische Art Ü. fragilis und die von Marsa (. agilis genannt wird, vereinigen sich die Schambeine sogar schon im Beginn des zweiten Drittels ihrer Länge und lassen für das Becken einen so schmalen Raum, daß es wohl begreiflich wird, wie R. Owen dasselbe Stück von einer andern Form (Poikilopleuron pusillus) als »abdominale Hämapophyse mit Hämal- dorn« beschreiben konnte. Daß diese Tiere Eier von annähernd ent- sprechender Größe, d. h. mit relativ ebensoviel Nahrungsdotter und Eiweib gelegt haben sollten wie die heutigen Reptilien, ist ganz undenkbar; es müssen daher entweder ihre Eier erheblich kleiner, noch mehr batrachier- ähnlich gewesen sein oder sie haben, worauf auch einige andere That- sachen hinweisen ', lebendige Junge mit noch sehr unvollständig ver- knöchertem Skelett geboren, die sich durch das enge Becken hindurch- zwängen konnten. Auch für die Restaurierung der hinteren Gliedmaße (Fig. 7) lieferte Allosaurus fragilis das Material; es fehlen nur die Tarsalknochen der zweiten Reihe, die vielleicht unvollkommen verknöchert waren (wie bei den Sauropoden). Von besonderer Bedeutung ist, daß auch hier Sprung- und Fersenbein deutlich von Tibia und Fibula getrennt erscheinen wie bei allen übrigen Theropoden; wir kommen auf diesen Punkt speziell mit Rücksicht auf Compsognathus weiter unten noch zurück. Die Meta- tarsalknochen der 3 funktionierenden Zehen sind bedeutend verlängert und schließen namentlich an ihrem oberen Ende innig zusammen. Pha- langen und Klauen fanden sich zumeist in ungestörter Lage, so daß die Abbildung des Fußes auf völlige Richtigkeit Anspruch machen kann. Auch diese Abhandlung schließt Marst mit einer klassifikatorischen Übersicht der Theropoden, in der wir wie oben die neuen Charaktere durch eckige Klammern auszeichnen. „Ordnung Theropoda. »Prämaxillare mit Zähnen bewaffnet. [Äußere Nasenlöcher an der Spitze des Schädels.| [Großes Antorbitalloch.]| Wirbel mehr oder weniger kavernös. Vordere Gliedmaßen sehr klein; Gliederknochen hohl. Füße digitigrad; Zehen mit Greifklauen. Schambeine nach unten gerichtet, an ihren distalen Enden synostotisch verbunden. ! Vgl. Kosmos XIII, 552. und einiger anderer fossiler Reptilien. I. 363 »l. Familie: Meyalosauridae. |Vordere Wirbel konvex-kon- kav], die übrigen bikonkav. Schambeine schlank. Sprungbein mit auf- steigendem Fortsatz'. »Gattungen: Megalosaurus (Poikilopleuron), Allosaurus, Coelosaurus, Creosaurus, Dryptosaurus ( Laelaps). [>2. Familie: Ceratosauridae. Ein Horn auf dem Schädel. Halswirbel plan-konkav, die übrigen bikonkav. Schambeine schlank. Alle Beckenknochen mit einander verwachsen. Knochenplatten in der Haut. Sprungbein mit aufsteigendem Fortsatz. »Gattung: Ceratosaurus.| >3. Familie: Labrosauridae. |Unterkiefer vorn unbezahnt.| Hals- und Rückenwirbel konvex-konkav. Schambeine schlank, ihre vor- deren Ränder vereinigt. [Sprungbein mit aufsteigendem Fortsatz. |? >Gattung: Labrosaurus. >4. Familie: Zanclodontidae. Wirbel bikonkav. Schambeine breite langgestreckte Platten mit vereinigten Vorderrändern. Sprungbein ohne aufsteigenden Fortsatz. Fünf Zehen im Vorder- und Hinterfuß. (Die bekannten Formen sind Europäer.) »Gattungen: Zanclodon, ? Teratosaurus. »5. Familie: Amphisauridae. Wirbel bikonkav. Schambeine stabförmig. Fünf Zehen im Vorder- und drei im Hinterfub. »Gattungen: Amphisaurus (Megadactylus), 7 Bathygnathus, ? Clepsy- saurus, Palaeosaurus, T’hecodontosaurus. ® »Unterordnung Coeluria. >6. Familie: Coeluridae. Wirbel und übrige Skelettknochen pneumatisch. Vordere Halswirbel konvex-konkav°, die übrigen bikonkav. [Halsrippen fest mit ihren Wirbeln verwachsen.] Mittelfußknochen sehr lang und schlank. »Gattung: Coelurus. »Unterordnung Compsognatha. »7. Familie: Compsogynathidae. Halswirbel konvex-konkav*, |die übrigen bikonkav|. Drei funktionierende Zehen im Vorder- und Hinterfuß. Sitzbeine mit langer medianer Symphyse. Gattung: Compsognathus. < Von diesen sieben wohlunterschiedenen Familien stammen die Amphisauridae und Zanclodontidae aus der Trias, die Megalosauridae wur- den im Jura und der Kreide, die übrigen nur im Jura gefunden. — Außerdem liegen noch Reste von einigen sehr kleinen karnivoren Dino- sauriern vor, die sich bisher noch nicht in eine der genannten Familien einordnen ließen, was jedoch wesentlich auf ihrer höchst unvollkommenen Erhaltung beruhen mag. ! Früher außerdem: „5 Zehen vorn, 4 hinten.“ ® Früher außerdem: „Vordere Wirbel kavernös. Mittelfußknochen stark verlängert.“ > Früher: „opisthocöl.“ * Früher: „Vordere Wirbel opisthocöl.* 364 B. Vetter, Zur Kenntnis der Dinosaurier ete. I. Über die merkwürdige Ordnung der Hallopoda (Springfüßler), welche Marsh in seinem früheren System unmittelbar auf die Theropoda folgen ließ, bemerkt er diesmal nur, daß sie ebenso wie die der Aötosauria (vgl. oben S. 357) von karnivoren Reptilien gebildet werde, die mit den Dinosauriern verwandt, aber doch in einigen der wichtigsten Punkte von ihnen verschieden seien. Bei Hallopus ist das Fersenbein stark nach hinten verlängert und die ganze hintere Extremität vorzüglich dem Springen angepaßt; bei Aötosaurus hatte das Fersenbein dieselbe Ge- stalt, aber die Gliedmaßen sind im ganzen viel mehr krokodilähnlich, was auch für die knöcherne Hautbedeckung gilt. Ferner haben beide Gattungen nur zwei Sakralwirbel, allein auch dieser ursprünglichere Zu- stand findet sich bei typischen Dinosauriern nicht bloß aus der Trias, sondern auch z. B. bei dem oben erwähnten Üreosaurus, welcher der bis in die Kreide hinaufreichenden Familie der Megalosauriden angehört. Es scheint daher fast, als ob Marsh an diesen Formen noch andere, viel- leicht noch nicht genau definierbare Charaktere gefunden hätte, die ihn nötigten, dieselben von den eigentlichen Dinosauriern zu trennen. (Schluß folgt.) Tafelerklärung. artl® Fig. 1. Restauriertes Skelett von Brontosaurus excelsus MARSH. !/so nat. Gr. Fig. 2. Schädel von Diplodocus longus MARSH; Ansicht von der Seite. !/s. Fig. 3. Derselbe; Ansicht von vorn. !/e. Fig. 4a. Derselbe; Ansicht von oben. !/s. 5 Fig. 4b. Dieselbe Ansicht, mit eingezeichnetem Gehirn. !/s. a Öffnung im Maxillare ; b Antorbitalloch; c vereinigte äußere Nasenlöcher; ce‘ Großhirnhemisphären ; d Augenhöhle; e untere Schläfengrube; f Frontale; f‘ Gegend der Scheitel- beinfontanelle; ! Lacrimale; m Maxillare; m‘ verlängertes Mark; n Nasen- bein; oc Hinterhauptskondylus; o/ Riechlappen; op Sehhügel; p Scheitel- bein; pf Präfrontale; pm Zwischenkieferknochen; y4 Quadratum; 47 Qua- dratojugale. Fig. 5. Querschnitt durch das Maxillare von Diplodocus longus, in der Gegend des vierten Zahnes, um das Verhalten des funktionierenden Zahnes (1) und der fünf Ersatzzähne (2—6) zu zeigen. !/.. a Außenwand, 5b Innenwand der Alveole; e Höhle im Knochen; f Foramen für Blutgefäße u. s. w. Fig. 6. Zahnreihe des Maxillare von Diplodocus longus; Seitenansicht. !/» nat. Gr. e Schmelz; r Wurzel Fig. 7. Zwölfter Schwanzwirbel von Diplodocus longus, Seitenansicht. !/s. c,c‘ vor- dere und hintere Ansatzstelle von „Chevronknochen“ (oft als „untere Bogen“ bezeichnet) ; s Dornfortsatz; z,z‘ vordere und hintere Gelenkfortsätze. Fig. 8. Derselbe Wirbel von unten gesehen. '/s. h Fig. 9. Chevronknochen von Diplodocus, der noch am zehnten und elften Schwanz- wirbel festsitzend gefunden wurde. Ansicht von oben und von der Seite. !/ıo. a vorderes, p hinteres Ende; v Flächen zur Befestigung an der Unter- seite zweier zusammenstoßender Wirbel. Fig. 10. Chevronknochen von einem andern Individuum. !/ıo. ua: Fig. 1, 2 u. 3. Schädel von Ceratosaurus nasicornis MARSH, Ansicht von der Seite, von vorn und von oben. !/s nat. Gr. a äußeres Nasenloch; 5 Horn- Max Schmidt, Über die Fortpflanzung des indischen Elefanten ete. 365 zapfen; e Antorbitalöffnung; c‘ Großhirnhemisphären; d Augenhöhle; e un- tere Schläfengrube; f Stirnbein; f‘ Foramen im Unterkiefer; A obere Schläfengrube; j Jugale; m Maxillare; m’ verlängertes Mark; n Nasale; oc Hinterhauptskondylus; o/ Riechlappen; pf Präfrontale; pm Prä- (Inter-) maxillare; y Quadratum; q,) Quadratojugale; t Transversum. 4. Zweiter Halswirbel (Epistropheus) von Ceratosaurus nasicornis. !snat. Gr. a von der Seite, 5 von vorn, ce von hinten, d von unten. Fig. 5. Becken von Ceratosaurus nasicornis. Linke Seitenansicht. !/ıs nat. Gr. 6. Linkes Hinterbein von Allosaurus fragilis MARSH. 7. Linkes Vorderbein von Allosaurus. Beide !/ı» nat. Gr. Über die Fortpflanzung des indischen Elefanten in Gefangenschaft. Von Dr. Max Schmidt (Frankfurt a. M.). AxrtıAn berichtet, daß von Elefanten, welche in Rom gehalten und von GERMANICUS ÜAESAR, dem Adoptivsohn des Kaisers Tıperıvs, bei den öffentlichen Spielen verwendet wurden, Junge geboren worden seien. Unter diesen habe man verschiedene ausgewählt und sie zu allerlei Kunst- stücken abgerichtet, worin sie es zu großer Vollkommenheit gebracht hätten. Näheres wird aber nicht angegeben, so daß wir nicht erfahren, ob es sich hier um wirklich in der Gefangenschaft erfolgte Paarung handelte oder ob trächtige Weibchen eingeführt worden sind, welche dann in Rom geboren haben. Letzteres ist das wahrscheinlichere, denn seit der Mitteilung Aruıav’s ist kein Fall von Förtpflanzung bei in Europa gehaltenen Elefanten bekannt geworden. Man hat ein derartiges Vorkommnis selbst in Indien für eine große Seltenheit erklärt; nachdem aber in der neuesten Zeit in Amerika wiederholt Geburtsfälle bei Ele- fanten beobachtet worden sind, dürfte der Nachweis als erbracht gelten, daß die Fortpflanzung dieser Riesentiere nicht nur in Gefangenschaft, sondern auch außerhalb ihrer Heimat möglich ist. Es liegen uns über diesen Gegenstand zwei Berichte vor, von denen der erste Beobachtungen enthält, welche zu Ende des vorigen Jahrhun- derts in Indien gemacht worden sind’, während der zweite die in Amerika vorgekommenen Fälle betrifft”. ! Observations on the Manners, Habits and Natural History of the Elephant by John Corse. Philos. Transact. of the Roy. Soc. of London 1799. p. 31—35. ® Breeding of Elephants in Captivity by George Arstingstall, Ele- phant Trainer for Barnum, Bailey and Hutchinson. Journal for Comparative Me- decine and Surgery, Vol. III. 2. Newyork April 1882. p. 146—153. 366 Max Schmidt, Über die Fortpflanzung Wir wollen nun versuchen, an der Hand des litterarischen Materials und eigener Wahrnehmungen über das Geschlechtsleben das Bild der Fortpflanzung beim Elefanten zusammenzustellen, und hoffen, daß dasselbe für die Naturgeschichte dieser merkwürdigen Tierart nicht ohne Interesse sein wird. Nach Coxrse’s Beobachtungen werden die Elefanten im Alter von etwa 15 Jahren fortpflanzungsfähig und sind mit 19 Jahren vollkommen entwickelt. Das Weibchen, von dem er in Indien Fortptlanzung erzielte, war ungefähr 16 Jahre alt, als die Befruchtung erfolgte. Der weibliche Elefant des hiesigen zoologischen. Gartens, welcher im Jahre 1863 etwa 14 Jahre alt in den Besitz unseres Institutes kam, war zuvor schon wiederholt brünstig gewesen und die Erscheinungen des Paarungstriebes traten von Zeit zu Zeit immer aufs neue bei ihm auf und erreichten um 1872 ihren Höhepunkt, sowohl bezüglich der Häufigkeit als auch der Intensität. Von da ab ließ sich eine Abnahme erkennen und jetzt ist nur ganz vereinzelt einmal etwas Derartiges wahrzunehmen. Wie ich nachgewiesen habe (Die Wachstumsverhältnisse des indi- schen Elefanten. Zool. Garten, Jahrg. 25. 1884. S. 18), fällt die haupt- sächlichste Entwickelung des Rumpfes der weiblichen Tiere in das Alter von 15—21 Jahren und mit Ende dieser Periode erscheint das Wachs- tum des Hinterteils beendet. Diese Wahrnehmung trifft mit den Be- obachtungen CorseE’s bezüglich des Eintritts der Fortpflanzungsfähigkeit ziemlich genau zusammen. In dem gleichen Alter wie beim Weibchen tritt auch bei dem männlichen Elefanten die Geschlechtsreife ein. Es geht dies namentlich aus den Berichten über solche Exemplare hervor, welche wegen der sogenannten Brunstwut getötet werden mußten. Ich habe eine Anzahl solcher Fälle zusammengestellt in einer Arbeit über die Krankheiten der Dickhäuter (Deutsche Zeitschrift für Tiermedizin und vergleichende Patho- logie, Bd. V, S. 60—65) und hier wird das Alter von 12—14 Jahren als derjenige Zeitpunkt angegeben, zu welchem sich die Erscheinungen der Brunst bemerklich machten. Wie lange die Tiere fortpflanzungsfähig bleiben, ist noch nicht festgestellt, doch ist in dieser Hinsicht von Wichtigksit, dab ARSTINGSTALL das Alter des Weibchens, welches ein Junges lieferte, in einem Falle auf 28—50 Jahre angibt. Der hiesige Elefant hat bis in die neueste Zeit noch hier und da Zeichen von Brunst geäußert und namentlich einmal im vergangenen Jahre noch in recht lebhafter Weise. Eine regelmäßige Wiederkehr derartiger Erscheinungen habe ich bei unserem Tiere nicht festzustellen vermocht. Sie traten selbst in der höchsten Blütezeit desselben mitunter in Zwischenräumen von wenigen Wochen, bisweilen aber erst nach Monaten auf. Ebenso waren sie dem Grade nach sehr verschieden, und während das einemal der Elefant nur eine kleine Erregung erkennen ließ, geriet er in anderen Fällen in einen heftigen Paroxysmus. Auch an eine bestimmte Jahreszeit schien der Eintritt der Brunst nicht gebunden zu sein, doch fand derselbe bei unserem Tiere vorzugs- weise in den Sommermonaten statt, wenn dieses täglich mehrere Stunden des indischen Elefanten in Gefangenschaft. 367 im Freien verweilte. Nach Corse bemerkt man auch in Indien von einem direkten Einfluß der Jahreszeit nichts, sondern die Tiere zeigen sich das ganze Jahr hindurch geschlechtslustig. So fanden nach seinen Beobachtungen Begattungen im Januar, Februar, April, Juni, September und Oktober statt und trächtig eingefangene Weibchen gebaren gleich- falls in den verschiedensten Monaten. Die in Amerika vorgekommenen Geburtsfälle traten im Januar und Februar ein. Dagegen ist selbstverständlich die Körperbeschaffenheit der Tiere von größtem Einflul auf die Äußerungen des Geschlechtstriebes und CorsE teilt uns in dieser Beziehung mit, daß es in Indien keineswegs leicht sei, die männlichen Elefanten in einen so guten Ernährungszustand zu bringen, daß sie zur Zucht zu dienen vermögen. Nach seiner Er- fahrung sind diese viel weniger gefügig als die Weibchen und werden, nachdem sie gefangen worden sind, bei weitem nicht so leicht zahm wie diese. Sie verschmähen infolgedessen anfänglich jede Nahrung und er- fordern die sorgsamste Pflege. Bei jüngeren Exemplaren geht die Ein- gewöhnung rascher von statten als bei älteren und sie gelangen weit eher als diese in die zur Fortpflanzung erforderliche Verfassung. Er- wachsen eingefangene Elefanten leiden unter dem Verluste ihrer Freiheit so sehr, daß von zehn kaum einer sich paarungslustig zeigt, wenn man ihn mit Weibchen zusammenbringt. Im wilden Zustande verhält sich dies wesentlich anders. Hier sind die Männchen stets bereit, einem weiblichen Tiere zu folgen, und man bedient sich solcher, die zahm ge- halten werden, zum Anlocken der Männchen, auch wenn sie nicht hitzig sind, mit Erfolg. Es ist wohl auch vorgekommen, dab wild eingefangene Männchen noch in der Umzäunung, welche als Falle dient, den Begat- :tungsakt ausgeübt haben. Selbstverständlich kommt bei Elefanten, welche in Europa gehalten werden, gleichfalls der Ernährungszustand in betracht, wenn sie sich fortpflanzen sollen, und hier wirkt noch ein sehr wichtiges Moment mit, nämlich der nachteilige Einfluß des fremden Klimas, der sich wohl mit- unter dem Gedeihen solcher Tiere hemmend in den Weg stellt. So be- richtet Hoven (Histoire Naturelle des deux Elephants, mäle et femelle, du Museum de Paris, venus de Hollande en France en l’an VI. Paris, an XII (1803), dab bei einem in Paris gehaltenen Elefantenpaar, welches bis zum Alter von 20 Jahren lebte, keine Äußerungen des Geschlechts- triebes wahrgenommen worden seien. Wenn indes ArsrtınsstaLL als Grund, daß die Elefanten sich in Europa nicht fortpflanzten, die unge- nügende Ernährung ansieht, mittels welcher man die Tiere fügsamer zu erhalten beabsichtige, so dürfte dies wohl nicht als allgemein zutreffend zu betrachten sein. Abgesehen davon, daß es schwer nachzuweisen ist, ob irgendwo ein Elefant ungenügend ernährt werde, findet seine An- schauung darin ihre entschiedenste Widerlegung, dab eben doch bei weitem die meisten der in Europa gehaltenen Elefanten sowohl weiblichen als männlichen Geschlechtes brünstig werden. Daß man in Europa noch keine Fälle von Fortpflanzung bei Ele- fanten wahrgenommen hat, liegt offenbar daran, dab sowohl die fürst- lichen Menagerien und Tierparks als auch die zoologischen Gärten nur 68 Max Schmidt, Über die Fortpflanzung (3%) selten mehr als einen Elefanten zu besitzen pflegen. Gelangte aber auch einmal ein Paar solcher Tiere zur Beobachtung, so waren es meist junge . Exemplare, bei denen an Äußerungen des Geschlechtslebens noch nicht zu denken war, und wenn sie schließlich in das Alter kamen, in welchem sie fortpflanzungsfähig zu werden pflegen, so hatten die Nachteile der Gefangenschaft und des fremden Klimas die normale Entfaltung des Organismus so gehemmt, daß der Begattungstrieb sich nur sehr unvoll- kommen äußerte. Dies war offenbar bei dem eben erwähnten Elefanten- paare in Paris der Fall. Über die Haltung und Pflege der beiden Elefanten, von denen CorsE Fortpflanzung erzielte, berichtet derselbe etwa folgendes: Ein junges, besonders schönes Männchen, welches im Jahre 1792 gefangen worden war und sich rasch an seinen Wärter gewöhnt hatte, dem es große Anhänglichkeit bewies, wurde mit einem nicht minder zahmen Weibchen zusammengebracht, als dieses im März 1793 Zeichen der Brunst geäußert hatte. Es wurde den Tieren ein speziell für sie hergerichteter großer eingefriedigter Raum als Wohnplatz angewiesen. Den Tag über weideten sie und abends erhielten sie ein großes Quantum frisch eingebrachtes Grünfutter. Außerdem wurde jedem von ihnen 10—12 Pfund in Wasser aufgequellter Reis gegeben, dem etwas Salz zugesetzt war. Von Mitte Mai. bis Ende Juni wurden ihnen überdies leichte Reizmittel verabfolgt, wie Zwiebeln, Knoblauch, Curcuma und Ingwer, welche dem Reis beigefügt wurden. Es geht hieraus klar hervor, daß man eine besondere, auf Hebung des Allgemeinbefindens gerichtete Pflege für erforderlich hielt. : Es ist von Interesse, daß es sich in dem vorliegenden Fall darum handelte, auf dem Wege des Versuches festzustellen, ob die Tiere in Gegenwart von Menschen den Paarungsakt vollziehen würden oder ob — wie man damals allgemein annahm — eine Art von Schamhaftigkeit sie daran verhinderte. Über diesen Punkt ist inzwischen längst die nötige Aufklärung erfolgt, indem man gefunden hat, daß die Elefanten keineswegs die ihnen angedichtete Empfindlichkeit besitzen, sondern ihren Trieben folgen wie andere Tiere auch. Ich selbst habe Gelegenheit gehabt, im Sommer 1859 im zoologischen Garten zu Antwerpen ein Elefantenpaar längere Zeit zu beobachten, wie es wiederholt den Koitus ausübte, ohne sich durch die Anwesenheit einer größeren, in lebhafter Unterhaltung begriffenen Men- schenmenge auch nur einmal stören oder irgendwie beeinflussen zu lassen. Einige Tage vor Eintritt der eigentlichen Brunsterscheinungen stellt sich sowohl beim männlichen als beim weiblichen Tiere aus den in der Schläfengegend gelagerten Drüsen, welche beiden Geschlechtern eigen sind, ein leichter Ausfluß ein. Derselbe besteht aus einer schleimähn- lichen Masse von eigentümlichem Geruch, welcher, wie dies für ähnliche Ausscheidungen auch bei anderen Tierarten zu gelten pflegt, offenbar dazu beiträgt, daß die Tiere einander leichter auffinden. Nach andert- halb bis zwei Tagen pflegt diese Erscheinung wieder zu verschwinden und dann erst, nicht schon während des Ausflusses, treten die Zeichen der Brunst ein. 14 des indischen Elefanten in Gefangenschaft. 369 Diese sind im allgemeinen bei beiden Geschlechtern fast gleich. Zunächst bemerkt man eine «auffällige Injektion der Bindehaut des Auges, so dab das »Weiße« desselben stark gerötet erscheint, wodurch der Blick einen fremdartigen, wilden Ausdruck erhält. Gleichzeitig tritt eine gewisse Erregtheit bei dem Tiere ein, welche sich anfänglich durch Unruhe und häufiges Schreien äußert. Alsbald zeigt sich das Tier we- niger geneigt, seinem Wärter zu gehorchen, als zuvor und ist weder durch ruhiges Zureden, noch durch Strafen zur Folgsamkeit zu bringen. In diesem Stadium trägt sein Benehmen im allgemeinen und sein Verhalten gegen den Menschen speziell noch keineswegs einen bösartigen oder feind- seligen Charakter, sondern weit eher den Stempel einer mutwilligen und übermütigen Laune. Mit Vorliebe treibt der Elefant allerlei Allotria, von denen er recht gut weib, dab sie ihm gewöhnlich nicht gestattet sind, und die er jetzt ausübt, als wolle er einmal die Folgen, die er nicht fürchte, ruhig abwarten. Er springt umher, stößt mit Rüssel und Beinen Gerätschaften um, die er erreichen kann, drückt mit der Stirn oder der Rüsselbasis gegen Wände und Thüren, als wolle er diese zertrümmern und ausbrechen. Das männliche Tier des Paares, welches ich in Ant- werpen zu beobachten Gelegenheit hatte, stellte sich oft auf den Hinter- beinen an der Wand in die Höhe und unser Weibchen pflegte mit den Zähnen so stark auf die ziemlich leichte Einfriedigung seines Laufplatzes zu drücken, daß jedesmal sofort einige Eisenstäbe brachen. Wenn, wie dies häufig der Fall ist, die Stallung eines Elefanten mehr mit Rück- sicht auf die Gutmütigkeit und Zahmheit des Tieres als auf seine Kraft errichtet ist, wie dies namentlich bei solchen Exemplaren vorkommt, welche auf Messen und Jahrmärkten zur Schau gestellt werden, so haben solche Bestrebungen oft ihre sehr bedenkliche Seite. Tiere, welche an- gekettet gehalten werden, zerreißen wohl ihre Fesseln und schleudern die Stücke derselben weit von sich. Überhaupt sind sie zum Werfen mit allerlei Gegenständen sehr geneigt. So suchte unser Exemplar früher sich immer einer schweren hölzernen Verschlußstange zu bemächtigen, welche zur Befestigung seiner Thür diente, welche es dann über seine Einfriedigung warf. Der Antwerpener Elefant pflegte in diesem Stadium der Brunst die Dickrüben, welche ihm zur Nahrung gegeben wurden, unversehens zum Bombardieren der Besucher zu benutzen. Einmal traf er mit einem solchen Geschoß das lederne Käppi eines Offiziers mit solcher Wucht, daß dasselbe weithin durch das Haus kollerte. Mitunter stürzen solche Tiere plötzlich gegen Personen los, welche vor ihrem Be- hälter stehen, als wollten sie dieselben niederwerfen, und führen auch wohl heftige Schläge mit dem Rüssel gegen dieselben. Bei Verübung derartigen Unfugs pflegt der Elefant häufig nach seinem Wärter zu schielen, als wolle er sich an dem Unbehagen weiden, welches er diesem durch seinen Übermut bereitet. Er weiß dabei ganz genau, daß ihm eine ernste Strafe, die er sonst sehr fürchtet, unter den obwaltenden Ver- hältnissen nicht droht. Der Elefant läßt jetzt seine Stimme häufig ertönen und zwar in verstärktem Maße, nicht als das Quieken, welches seine gewöhnliche Laut- äußerung bildet, sondern seinen Trompetenton oder ein donnerndes Kosmos 1884, II. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XV). 24 370 Max Schmidt, Über die Fortpflanzung Brüllen. Er bringt außerdem ein blasendes oder zischendes Geräusch mit dem Rüssel hervor, schlägt viel mit den Ohren und wedelt lebhaft mit dem Schwanze. Beim Weibchen hat sich die Vulva gleich zu Beginn der Erschein- ungen der Geschlechtslust merklich gesenkt, die Schleimhaut erscheint gerötet und geschwellt und es ist zeitweises Ausfließer dicker Schleim- massen zu bemerken. Beim Männchen stellen sich Erektionen ein und wenn Gelegenheit geboten ist, wird nun der Paarungsakt vollzogen. Diesem gehen gegenseitige Liebkosungen vorher, indem die Tiere einander mit den Rüsseln berühren und streicheln und diese oft in sehr merkwürdigen Windungen umeinander schlingen. Das Weibchen pflegt hierbei sehr häufig das Männchen geradezu zum Sprunge aufzufordern. Die Begattung selbst erfolgt im Stehen und zwar stützt sich das Männchen zuerst mit der Basis seines Rüssels auf die Kruppe des Weib- chens, erhebt dann das Vorderteil und legt seine Vorderfüße zu beiden Seiten der Wirbelsäule in der Schultergegend des weiblichen Tieres an, wobei es sich nach vorn über dasselbe beugt. In dieser Stellung findet der Koitus statt, der nach Corse’s Wahrnehmungen, die ich aus eigener Anschauung bestätigen kann, nicht länger dauert als beim Pferde. Nach Beendigung dieses Vorganges bleibt das Weibchen ruhig stehen und lieb- kost das Männchen ein weniges mit dem Rüssel. Mittels der Vorderbeine hält das männliche Tier das weibliche während des Paarungsaktes fest und in einem Falle, in welchem das letztere sich nicht ganz willfährig zeigte, wendete das Männchen solche Gewalt an, dab Corsz tiefe Eindrücke an der Schulter des Weibchens bemerkte, welche von den Nägeln der Vorderfüße des Männchens herrührten. ° Coxss erwähnt ausdrücklich, dab bei einem jungfräulichen Weib- chen, welches 5'/s Jahre vorher noch ziemlich jung eingefangen worden und noch nie mit einem Männchen in Berührung gekommen war, der Paarungsakt gleich beim erstenmal ohne alle Schwierigkeit stattge- funden habe. Der Penis des Elefanten, im Zustande der Erektion gemessen, ergab eine Länge von 71—76 cm und einen Umfang von 35—40 cm. Mit- unter berührt er beim Gehen den Boden, wozu die Kürze der hinteren Extremitäten dieser Tiere das ihrige beiträgt. Der Paarungsakt wird mehrmals täglich vollzogen, nach meiner Wahrnehmung etwa 6—Smal, während Cors£ nur viermal beobachtete. In dem von diesem mitgeteilten Falle war das Weibchen schon am folgenden Tage nicht mehr hitzig und wies das Männchen, als dieses weitere Annäherungen versuchte, entschieden zurück. Kleine Liebkosungen wurden indes von den Tieren noch immer ausgetauscht, so oft dieselben zusammenkamen. Die Elefanten in Antwerpen zeigten sich höchstens 3—4 Tage lang paarungslustig, worauf dieser Zustand wieder vorüberging, ohne daß, wie ich hier ausdrücklich bemerke, eine Befruchtung erfolgt war. Auch bei einzeln gehaltenen Exemplaren verschwinden die Brunst- erscheinungen nach zwei bis drei Tagen wieder. Wie bei männlichen Elefanten, denen es an Gelegenheit zur Befriedigung des Geschlechts- des indischen Elefanten in Gefangenschaft. 371 triebes fehlt, dieser zuletzt zu Wutanfällen Veranlassung wird, welche unendliche Gefahren für Menschen mit sich bringen, so dab man schließ- lich genötigt ist, solche Tiere zu töten, habe ich in meinem Aufsatze »>Die Krankheiten der Dickhäuter« a. a. O. ausführlich mitgeteilt. Es wäre indes ein Irrtum, anzunehmen, dab die Befriedigung des Paarungs- triebes vor dessen übeln Folgen schütze. Dal dem nicht so ist, beweist der mehrerwähnte Antwerpener Elefant, welcher wenige Jahre, nachdem ich ihn beobachtet hatte, abgeschafft wurde, da er den Wärter zu wieder- holten Malen in große Lebensgefahr gebracht und ihn schwer verletzt hatte. In den ersten Monaten nach der Begattung ist an dem Weibchen, auch wenn eine Befruchtung stattgefunden hat, nach dem übereinstim- menden Zeugnis von AÄRSTINGSTALL und ÜorRsE eine Veränderung nicht wahrnehmbar. Nach Ablauf von etwa drei Monaten trat eine bemerkbare Umfangsvermehrung der Milchdrüsen ein. Diese liegen beim Elefanten bekanntlich weit vorn an der Brust, dicht hinter den Vorderbeinen und erinnern in ihrer Form an die menschliche Brust. Vom vierten Monat an wird die Größenzunahme auffälliger und sie erreichen zuletzt in der Mitte eine Höhe von 15—20 cm bei einem Umfang von etwa 60 cm. Auf den Zitzen bilden sich schorfartige Krusten, welche bis zum Tage des Gebärens bleiben. Bei der von ArstınGstALL angestellten genaueren Untersuchung ergab sich, daß die rechte Zitze elf und die linke drei- zehn Mündungen besab. Bezüglich der Pflege des trächtigen Tieres teilt CorsEe mit, dab in ‘ dem von ihm beobachteten Falle dasselbe besonders sorgfältig gehalten wurde. Es wurden alle Anstrengungen vermieden, reichliche Nahrung gegeben, für viele Bewegung gesorgt, um es in gutem Zustande zu halten. Hierbei und vielleicht auch infolge hiervon trat bei diesem Elefanten während der Trächtigkeit ein auffallend rasches Wachstum ein. Das Tier war zur Zeit, als es belegt wurde, 2,21 m hoch und maß, bevor es noch geworfen hatte, also nicht ganz zwei Jahre später, 2,34 m, war also um 13 cm höher geworden, während sein Wachstum vorher durchschnittlich nur 3,7 cm per Jahr betragen hatte. (S. Sckmir, Die Wachstumsverhältnisse des indischen Elefanten, Der Zoologische Garten Jahrg. XXV. S. 13—14.) Die Trächtigkeitsdauer anlangend teilt uns Corse mit, dab die Begattung am 28. Juni 1795 und die Geburt am 16. März 1795 statt- fand, was einer Tragezeit von 20 Monaten und 18 Tagen oder 626 Tagen entspricht. ArstınGstaLL gibt die Dauer der Schwangerschaft auf einige Tage weniger als 20 Monate an, kann aber dieselbe nicht genauer be- stimmen, da die Tiere zur Zeit der Paarung mehrere Wochen miteinander in Berührung geblieben waren. Den Geburtsakt selbst beschreibt CorsE nicht näher, wohl aber ARSTINGSTALL, der darüber etwa folgendes mitteilt: Etwa zwei Stunden vor Beginn der Geburt stellte sich ein leichter wässeriger Ausfluß aus der Scheide ein. Die Schamlippen waren merk- lich geschwollen und die Blutgefäße so stark gefüllt, daß sie als blaue Linien auf der Schleimhaut sichtbar waren. Das Tier schien sich dabei noch vollständig wohl zu fühlen und nahm etwas Futter an. Zwanzig 312 Max Schmidt, Über die Fortpflanzung Minuten vor der Geburt des Kleinen schien die Mutter etwas Unbehagen zu verspüren, ohne indes wirkliche Wehen zu haben. Die Geburt selbst erfolgte ziemlich rasch und zwar im Stehen, wobei das Tier die Hinter- beine weit auseinander spreizte. Kopf und Beine des Jungen erschienen, von den Eihäuten ein- gehüllt, zuerst, und zwar machte es den Eindruck, als ob dieses aus dem Rektum zum Vorschein käme, eine Täuschung, welche durch den Übergang über den Schambeinbogen bewirkt wurde. Nicht ganz zwei Minuten später fiel das Junge auf den Boden. Die Mutter stellte sich nun sofort gerade, kreuzte die Hinterbeine und rieb sie aneinander, wodurch sie die Nabelschnur trennte. Sobald dies geschehen war, drehte sich das Tier nach dem ruhig und anscheinend ohne zu atmen daliegenden Jungen um, setzte einen Vorderfuß auf den Eihautsack, den sie so kräftig zertrat, daß er sofort mit lautem Geräusch zerplatzte. Nachdem sie auf diese Weise die Eihäute gesprengt hatte, stellte sie ihren Fuß auf die Brustwand des Kleinen, drückte ihn, wie es schien, recht kräftig nieder, ließ dann wieder nach, drückte abermals und wiederholte dies, bis das Junge zu atmen begann und unzweideutige Lebenszeichen gab. Es stellte sich nun eine bedeutende Aufregung bei ihr ein, welche etwa eine halbe Stunde andauerte. Weit größere Schmerzen als während des Geburtsaktes selber schien das Muttertier von Beendigung desselben bis zur Entfernung der Nach- geburt zu leiden. In ihrem Bereiche stand ein niederer Baum, auf welchen sie sich, sehr matt geworden, rittlings niederhockte, bis die Nachgeburt abgegangen war, was etwa zwei Stunden nach der Geburt selbst erfolgte und von einer leichten Blutung begleitet war. Nun erst stand das Tier, sichtlich gekräftigt, von dem Baum wieder auf. Hoven gibt in seinem oben erwähnten Werke über die beiden Elefanten in Paris eine Abbildung und Beschreibung des Geburtsaktes, wozu ihm ein Herr FouchEr-D’ÖBSOUVILLE, welcher längere Zeit in Indien gelebt hatte, das Material geliefert bat. Die Abbildung stellt den Moment dar, in welchem bereits der Kopf und die Vorderbeine des Jungen sichtbar sind, welches ganz in derselben Weise gelagert ist, wie dies bei anderen Tieren der Fall zu sein pflegt. Die Stellung des Muttertieres stimmt mit der von ARSTINGSTALL gegebenen Beschreibung überein, wie denn überhaupt das ganze Bild, welches offenbar während des Geburtsaktes selbst gezeichnet worden ist, den Eindruck großer Naturwahrheit macht. Nach den Mitteilungen FoucHzr’s sucht sich das Weibchen für seine Niederkunft einen ruhigen, abgelegenen Ort auf, an welchem es trockenes, noch lieber aber frisches Laub aufhäuft. Sodann ruft es ein oder mehrere andere Weibchen zu seiner Unterstützung herbei, was diese auch nie verweigern, wie der Berichterstatter bei Elefanten, welche in größerer Zahl beisammen gehalten wurden, stets wahrgenommen hat. Während des Geburtsaktes selbst läßt das Tier dumpfe Schmerzenslaute hören, es steht dabei aufrecht mit gespreizten Hinter- und Vorderbeinen, senkt den Kopf tief herab und drängt heftig mit verhaltenem Atem. Beim Austritt des Fötus beugt es die Beine etwas und läßt diesen auf des indischen Elefanten in Gefangenschaft. 373 das Laubbett gleiten. Während des ganzen Vorganges suchen die assi- stierenden Weibchen der Gebärenden durch Reiben des Bauches mit ihren Rüsseln Erleichterung zu verschaffen. Diese beiden Schilderungen des Geburtsaktes beim Elefanten — soweit mir bekannt ist, die einzigen — geben in ihrer Gesamtheit ein recht anschauliches Bild dieses Vorgangs. Bei denselben fällt uns eine Eigentümlichkeit auf, welche in beiden Fällen beobachtet worden ist, nämlich das Bedürfnis eines äußeren Druckes gegen die Bauchwand zur Unterstützung der Wehen. Bei ArsrısastaLL wurde dies durch das Niederhocken auf den Baumstamm erreicht, FoucHer sah es durch die Manipulationen der assistierenden Weibchen vollziehen. Vielleicht be- dingt die Form des Bauches beim Elefanten, der eine gewisse Weite und Schlaffheit zeigt, eine derartige Hilfe von außen. Von besonderem Interesse ist das, was bezüglich des Verfahrens der Mutter nach dem Austritt des Fötus von ArstıssstaLu beobachtet worden ist, nämlich die Art, wie sie die Trennung der Nabelschnur und die Befreiung des Jungen aus dem Eihautsacke bewirkt. Das Zutagetreten des Fötus innerhalb dieser Hüllen hat für die jungen Geschöpfe bei manchen Tierarten leicht die schlimmsten Folgen. Bekannt ist, daß die meisten Tiere, mit Einschluß der Pflanzenfresser, namentlich der Wiederkäuer, ihre Jungen alsbald nach der Geburt auf das eifrigste abzulecken pflegen. Hierbei zerreißen durch die Einwirkung der oft sehr rauhen Zunge die umhüllenden Membranen und werden von den Tieren mit Begier verzehrt, auch wenn diese sonst vor allem Fleisch- genuß oder was an solchen erinnert, einen gewaltigen Widerwillen haben. Auf diese Weise wird die Gefahr für das Junge beseitigt. Anders ist es bei pferdeartigen Geschöpfen, wie z. B. Zebras, welche die Jungen nicht zu belecken und die Eihäute nicht zu fressen pflegen. Hier bleibt der Eihautsack geschlossen, wenn er nicht bereits bei der Geburt oder durch die ersten Bewegungen des Kleinen zerrissen worden ist, der Zu- tritt der Luft zu den Atmungsorganen des Jungen ist abgeschlossen und dieses erstickt. Man kommt daher bei solchen Tieren in die Lage, während des Geburtsaktes selbst einzugreifen und durch Zerreißung der Häute die Nasenlöcher und das Maul des Jungen von dieser Hülle zu befreien. Wenn nun der Elefant, der ja seinem Naturell entsprechend nicht befähigt ist, sein neugebornes Kind zu belecken, überhaupt die Gewohn- heit besäße, die Eihäute mittels Darauftretens zu zersprengen, so würde dies ganz seinen Körperverhältnissen und Fähigkeiten gemäß erscheinen. Diese Tiere pflegen nämlich auch unter anderen Verhältnissen solche Gegenstände, welche sie mittels des Rüssels nicht zu zerkleinern ver- mögen, durch vorsichtiges Zertreten mit dem Fuße zu zertrümmern. Namentlich habe ich dieses bei unserem Exemplare beobachtet, wenn man ihm einen größeren hart getrockneten Brotlaib oder sehr dicke Futter- rüben reichte. Weit merkwürdiger noch als dieser Teil der Sorgfalt, welche die Mutter dem Jungen zuwendet, ist die künstliche Einleitung des Atmungs- prozesses, welche ArstınsstaLnL beobachtet haben will und welche das 374 Max Schmidt, Über die Fortpflanzung Weibchen dadurch bewirkte, daß es mit dem Fuße die Brustwand des Jungen abwechselnd niederdrückte und wieder frei gab. Nachdem nun- mehr der Beweis erbracht ist, daß der Elefant sich überhaupt in Ge- fangenschaft fortpflanzt, werden hoffentlich weitere Beobachtungen iiber die hier geschilderten Einzelheiten des Geburtsaktes nähere Aufschlüsse geben. FoucHEr sagt bezüglich der ersten Pflege, welche die Elefanten- mutter ihrem Kleinen widmet, nur, daß sie sich mit demselben beschäftigt habe, wie andere Tiere auch zu thun pflegen, ohne einzelnes hervor- zuheben. Das in Amerika geborne Tier bestrebte sich etwa eine halbe Stunde, nachdem es von der Mutter verlassen worden war, auf die Beine zu kommen, was ihm denn auch schließlich gelang. Es war indes mehrere Stunden noch auffällig schwach, wurde aber nach etwa zwei Stunden recht lebhaft und zeigte Neigung zu spielen. Erst fünf Stunden nach der Geburt begab es sich zur Mutter, um zu trinken. Das Saugen geschieht mit dem Maule, was schon ArısToTELEs be- kannt war. Während dessen wird der Rüssel gegen den Kopf zurück- geschlagen und gegen die Brust der Mutter gedrückt, um die Milch zum stärkeren Ausfließen zu bringen. Die Zitze hält das Tier seitlich im Munde. Es trinkt immer im Stehen und wenn das Kleine, wie es wohl vorkommen kann, die Zitze nicht zu erreichen vermag, beugt sich wohl die Mutter etwas nieder, um ihm dies zu ermöglichen, oder man macht ihm auch eine kleine Erderhöhung, auf welche es sich stellen kann. In Indien läßt man zahm gehaltene Elefanten, welche Junge haben, nie frei gehen, weil sie leicht sich mit den Kleinen zu weit entfernen und ent- laufen. Die Elefantenmilch ist nach Arsrısestanı weit süßer als die Kuh- milch und ihr Geschmack erinnert an den der Kokosnußmilch. Der hahmgehalt soll um etwa ein Achtel größer sein als bei der Kuhmilch. Das von Corsz beobachtete Weibchen wurde im September schon wieder hitzig und am 17. desselben Monats zweimal besprungen. Nach zwei Tagen schlug es das Männchen ab. Was aus diesem Tiere und seinem Jungen weiter geworden ist, vermochte unser Gewährsmann nicht zu verfolgen, da beide Tiere weggebracht wurden. Der in Amerika geborne junge Elefant maß im Rücken 76 cm Höhe, als er zwei Stunden alt war, das neugeborne Corse’sche Exemplar war 35'/» Zoll englisch — 90 cm hoch, ein anderes, ebenfalls in Indien ge- bornes S2 cm und die Jungen, welche von trächtig gefangenen Weibchen in Indien geboren wurden, überschritten nach Corse selten die Höhe von 34 Zoll = 86 cm. Über das Wachstum dieser Tiere habe ich in meinem Aufsatze »Die Wachstumsverhältnisse des indischen Elefanten« a. a. O. eingehend berichtet. Das Gewicht des zwei Stunden alten Elefanten betrug nach ArstınG- stauu 145 Pfund. Die Farbe des kleinen Tieres bezeichnet er als ein helles Mausgrau. Soweit bekannt, wirft der Elefant stets nur ein Junges und Zwillingsgeburten sind wohl noch nie beobachtet worden. ARSTINGSTALL teilt uns auch über die Eihäute des Elefanten einiges des indischen Elefanten in Gefangenschaft. 375 mit, was die Untersuchung der Nachgeburt ergeben hat, und wir glauben daher auch diesem Gegenstande einige Aufmerksamkeit widmen zu sollen. Die Lederhaut oder das Chorion bildet einen „länglichen quer- liegenden Sack, welcher bei dem in Bridgeport beobachteten Falle einen Längendurchmesser von 96 cm bei 56 cm Querdurchmesser zeigte. In der Mitte seiner Länge ist dieser Sack von einer ringförmigen Placenta umgeben, welche durch zwei gegenüberliegende Einschnürungen in zwei Abteilungen geschieden ist, die hinsichtlich ihrer Länge und Breite un- erheblich von einander abweichen. Im übrigen ist die Außenfläche des Chorion glatt und glänzend, indes befinden sich an den Enden des Sackes je eine runde Stelle mit Gefäßverzweigungen und zottigen Gebilden. Diese Form der Placenta ist nur dem Elefanten und dem Klipp- schliefer eigen und erinnert an die ringförmige Gestalt derselben bei den Fleischfressern, wenn sie auch nicht so kompakt gebaut ist, sondern zum Teil aus zerstreut stehenden Gefäßbüscheln besteht, welche mit den Koty- ledonen der Wiederkäuer einige Ähnlichkeit haben. Da wo diese mit dem Mutterorgan inniger verschmolzen sind, löst sich bei der Geburt eine Schicht der Uterusschleimhaut als hinfällige Haut (Decidua) ab. Die Kotyledonen befanden sich in dem von Arsrınastaun beobach- teten Falle an den Falten des Chorion, welche dicht mit ihnen besetzt waren. Sie hatten eine eiförmige Gestalt und erinnerten ihrem Gefüge nach, soweit dieses mit bloßem Auge erkennbar war, an Lymphdrüsen. Ihre Zahl betrug etwa 500, von denen die geringere Hälfte sich am Exochorion und die größere Hälfte am Endochorion befanden. Sie treten aus den Gefäßen der Allantois hervor. Wenn man den Zweig eines Nabelgefäßes verfolgt, auf dem ein solcher Körper sitzt, so findet man, daß das Gefäß nach der Seite des Chorion hinzieht, ohne auf seinem Wege eine seitliche Verzweigung abzugeben, und aus der nach der Allan- tois gerichteten Seite der Gefäßwand gehen diese Körper direkt hervor. In der Nähe der eigentlichen Placenta sind sie in größerer Zahl vor- handen und die Räume zwischen ihnen geringer. Weiter auseinander gelagert sind sie auf dem nicht placentalen Teil des Chorion, namentlich in der Nähe der Pole des Chorionsackes. Mikroskopische Untersuchungen der Blutgefäße und Kotyledonen, welche von Wırrıam H. Porter und Wıruıam G. LE BOUTEILLER vor- genommen worden sind, ergaben nach ArstınGSTALL folgendes: Das Lumen der Nabelvene, dessen Durchschnitt sternförmig erschien, war beinahe geschlossen. Die Wand bestand aus glatten Muskelfasern, weißem fibrösem und gelbem elastischem Gewebe in konzentrischen Schichten. Das weiße fibröse und das gelbe elastische Gewebe war abwechselnd gelagert und die Schichten des letzteren waren schwächer als die des ersteren, traten aber deutlicher hervor. Die Muskelschicht war schwach und unregel- mäßig; die Endothelialschicht war vorhanden, aber nicht sehr deutlich sichtbar. Auch die Öffnungen der beiden Arterien zeigten einen sternförmigen Durchschnitt; ihre Wandungen bestanden hauptsächlich aus Längs- und Querbündeln zarter Muskelfasern, von denen die ersteren vorherrschten. Diese Muskelbündel waren auffallend stark entwickelt. Außerdem fand 376 Max Schmidt, Über die Fortpflanzung sich eine dünne äußere Schicht von weißem fibrösem und gelbem ela- stischem Gewebe und ebenso war eine unvollständige Tunica intima vor- handen. Durchschnitte der Kotyledonen zeigten, daß dieselben hauptsächlich aus Schleimhautgewebe bestanden, welches zahlreiche dünnwandige Blut- gefäße sowie alle Formen von Bindegewebe enthielt und außerdem eine geringe Zahl von glatten Muskelfasern. Die benachbarten Teile waren gefäßreicher und zeigten sich aus dichterem oder wirklich faserigem Binde- gewebe zusammengesetzt. An den kompakteren Stellen waren die Blut- gefäße minder zahlreich und vollständiger ausgebildet. An dem äußeren Ende des Durchschnittes oder an der umhüllenden Membran war eine Anzahl papillenartiger Hervorragungen, welche aus vollständig entwickelten, runden und ovalen, mit Kernen versehenen Zellen bestanden und welche vermuten ließen, daß diese Papillen, wenigstens teilweise, mit einer Schicht von mehr oder minder deutlich abgegrenzten zelligen Elementen bedeckt gewesen seien. Bezüglich der Allantois oder Hornhaut teilt uns Owen', dem wir zur Vervollständigung der Beobachtungen Arsrıscstauu’s hier folgen, etwa nachstehendes mit: In die Allantois mündet der Urachus mit dem fötalen Ende des Nabelstranges und sie teilt sich da, wo sich das Amnion an sie an- schließt, in drei Sacculi. Einer, und zwar der größte derselben, dehnt sich über die Innenfläche der ringförmigen Placenta aus und mündet mit einem engen Gang in den einen Sack des Chorion. Eine zweite Ab- teilung oder ein Horn der Allantois geht nach der entgegengesetzten Seite des Chorion, füllt diese ganz aus bis gegen die Placenta und ihre Spitze steht mit dem betreffenden Teil der ersten Abteilung der Allantois in Verbindung. Die dritte Verlängerung der Allantois, welche in zwei kleine getrennte Blindsäcke endet, umfaßt die hauptsächlichen Nabel- gefäße, mit denen sie fest verbunden ist. Die Allantois breitet sich mit den Verzweigungen der Nabelarterie und der Nabelvene aus und entwickelt ihren Hauptsack zwischen deren Ästen. Der Urachus mündet trichterförmig in die Allantois ein und in einiger Entfernung von dieser Stelle geht ein Nabelgefäß, mit welchem eine Falte des freien und verdickten Randes verläuft, von dem Amnion nach dem Chorion. Jedes der beiden anderen hypogastrischen Gefäße wird von einer ähnlichen Falte nach innen begleitet, welche von der Oberfläche des Amnion nach dem Chorion verläuft, und die Allantois selbst ist wieder in drei breite Falten gelegt, welche von einem gemein- samen Zentrum nach dem Amnion verlaufen. Das Amnion verbindet sich mit der Allantois in einiger Entfernung vom Nabelstrang und vor dieser Stelle sind beide Membranen durch ein lockeres netzförmiges Gewebe verbunden. Die ersten Verzweigungen der Nabelgefäße erreichen zuerst die ‘ Description of the foetal Membranes and Placenta of the Elephant (Blephas indieus Cuv.) with Remarks on the Value of placentary characters in the Classi- fication of the Mammalia. By Professor Owen. Philos. Transact. of the Roy. Soe. of London. Vol. 147. 1857. p. 347 ft. des indischen Elefanten in Gefangenschaft. Sa Ränder der Placenta und verlaufen dann in dieser sowie an der Innen- fläche des Chorion, wo sie von der Fortsetzung der Allantois, welche das sog. Endochorion bildet, gehalten und umgeben werden. Die Nabelschnur vergleicht ArsrınsstarLL mit einem kräftigen Tau. Die Zellgewebs- und Fettschicht, welche die Gefäße derselben einhüllt und dieselben von der umgebenden Allantoisscheide sondert, war sehr deutlich sichtbar. In vorstehendem dürfte wohl das Wesentlichste dessen, was in bezug auf Fortpflanzung beim indischen Elefanten in Gefangenschaft be- kannt geworden ist, zusammengefaßt sein. So geringfügig das bis jetzt vorliegende Material auch noch ist, so läßt es doch schon erkennen, daß eine Reihe von interessanten Beobachtungen über diese merkwürdige Tierart bei Gelegenheit der Fortpflanzung in Gefangenschaft zu machen wären, welche das Bild derselben wesentlich zu ergänzen und abzurunden vermöchten. Gleichzeitig ergibt sich aber auch aus den vorliegenden Berichten, dab der Erzielung von Nachkommenschaft beim Elefanten in Europa wesentliche Hindernisse wohl kaum entgegenstehen. Wir dürfen uns viel- mehr der Hoffnung hingeben, daß bei den Fortschritten, welche man auf dem Gebiete der Tierhaltung im Laufe der beiden letzten Dezennien ge- macht hat und denen noch täglich neue folgen, es gelingen wird, durch entsprechende Auswahl der Exemplare und geeignete Pflege und Haltung derselben das, was man in Amerika erzielt hat, auch in Europa zu er- reichen. Die Aussichten hierfür sind um so günstiger, als gerade der indische Elefant eines der ausdauerndsten Tiere ist, welche unsere zoologischen Gärten besitzen. Die Sambaguys von Cidreira”, Aus dem Portugiesischen des Herrn Carl von Koseritz frei übersetzt °. Von Dr. Wilhelm Breitenbach. Endlich habe ich die wertvollen Funde in meinem Besitze, welche mein Freund L. BAuEr in einem Sambaquy machte, den er in der Um- gegend von Cidreira entdeckte und der von den bis jetzt untersuchten einer der interessantesten ist. Meinem alten Freunde THEoDoR BiscHorr verdanke ich ein genaues Studium der Knochen, Geräte etc., welche in dem Sambagquy gefunden wurden, und in den folgenden Zeilen will ich das Resultat seiner Untersuchungen wiedergeben. Der Sambaquy, den Herr L. Bauer bei Gelegenheit einer Jagd auf jacares (Krokodile) entdeckte, befindet sich am Ufer einer Süßwasser- Lagune, etwa eine halbe Legua vom Ufer des Atlantischen Ozeans ent- fernt, inmitten eines Systems von Lagunen und unmittelbar hinter den alten Sandhügeln, die mehr als eine halbe Legua von den neueren ent-, fernt bleiben. Der Sambaguy ist 300 Brassen lang und 75 Brassen breit, aber seine Höhe übersteigt im Maximum nicht 2,5 Palmos, eine Thatsache, die ich weiter unten erklären werde (1 Brassa — 10 Pal- mos — 2,200 Meter). Als Herr BaAuErr am Rande des Sambaquy jagte, sah er, dab ein Teil der Uferböschung der respektiven Lagune von den Wellen abge- waschen war, und die weiße Farbe der aufgedeckten Schicht erregte seine Aufmerksamkeit. Bei näherer Untersuchung sah er, dab er einen 2—2,5 Palmos hohen Muschelberg vor sich hatte, der aus kleinen Stücken feiner Muscheln bestand, von der Art, welche die Bewohner der Gegend »marisco de bugre< nennen und welche noch heute in großen Massen an der Meeresküste existiert und von den armen Leuten der Gegend als Speise benutzt wird. Der Zartheit der Muscheln ist es zuzuschreiben, ! Sambaquys heißen in Brasilien die längs der Meeresküste sich findenden, von den früheren Bewohnern des Landes angehäuften Berge von Muschelschalen, deren Tiere den Indianern zur Nahrung gedient haben. Vergl. Kosmos, Bd. XI. 1882. p. 287 die Anmerkung. ° Cidreira und das weiter unten genannte Conceicao do Arroio sind kleine Plätze in der Nähe der Küste der Provinz Rio Grande do Sul. ® Bosquejos ethnologicos por Carlos von Koseritz. Porto Alegre. 1884. Wilhelm Breitenbach, Die Sambaquys von Cidreira. 379 daß sie den Einwirkungen der Zeit nicht widerstanden haben; man trifft nicht eine einzige ganze Muschel in dem so ausgedehnten Haufen, und diese geringe Widerstandsfähigkeit des Materials ist die Ursache, dab der Sambaquy auf eine so unbedeutende Höhe reduziert geblieben ist. Wären es Schalen von Austern oder anderen starken Seemuscheln, so würde dieselbe Ablagerung Meter hoch sein. So aber haben die wenig festen Muscheln durch den Einfluß der Zeit bedeutend gelitten. Als Herr Bauer die Muschelschicht untersuchte, fand er in der- selben Knochenreste und er begann sofort zu graben, weil er erkannt hatte, daß die in Frage stehenden Knochen einem menschlichen Fub angehörten. Mit großer Mühe deckte Herr Bauer ein ganzes Skelett auf, welches unter dem Muschelhaufen lang ausgestreckt auf dem Sande lag, die Arme dem Körper anliegend. Zur Seite des Skeletts befanden sich einige Waffen und bearbeitete Steingeräte, von denen wir weiter unten sprechen werden; zwischen den zerbrochenen Muschelschalen lagen Tierknochen, welche ihm unbekannt waren. Diese Knochen waren sämt- lich gewaltsam zerbrochen, was beweist, daß die Indianer das Mark ge- gessen haben; ferner gab es Gräten und Wirbel von Fischen von be- deutender Größe, viele Topfscherben und eine große Anzahl von Steinen und Steinsplittern, die ohne Zweifel von Costa da Serra, etwa 6 Leguas entfernt, hergebracht waren, weil es in der Umgebung der Lagune nur Sümpfe und Sandhügel gibt. Ein Stein war gespalten und von dem Stück waren kleine Stückchen abgesplittert worden; es war ohne Zweifel ein in Arbeit befindliches Werkzeug. Wir haben hier also einen Sam- baquy dicht an einer Sübwasser-Binnenlagune, dessen geringe Höhe nur der Beschaffenheit der Muscheln zuzuschreiben ist, der aber bei seiner großen Ausdehnung viele andere Skelette, Waffen, Gerätschaften etc. enthält. Die Lage, in der das. Skelett gefunden wurde, beweist, dab es hier begraben worden ist und daß es sich folglich um einen wirklichen Sam- baquy handelt, dessen Alter nach Tausenden von Jahren zählt, weil die Humusschicht, welche sich auf den Schalen der Seetiere bildete, eine Höhe von 6—7 Zoll hat; und da es gewib ist, dab dort alles Wasser und Sumpf ist, so muß diese Erde vom Winde herbeigeführt sein, so dab ohne Zweifel Tausende von Jahren nötig waren, damit sich eine Schicht von etwas mehr oder weniger als einem Palmo Höhe ansammeln konnte. Heute bedeckt kurzes Gras diese Erdschicht und nur dicht an der Lagune gibt es auf dem eigentlichen Sambagquy ein Stückchen Busch- werk und die Wurzeln der Bäume durchkreuzen den ganzen Sambaquy; so war eine derselben durch die hintere Öffnung des von Herrn Bauer gefundenen Schädels hindurchgegangen. In derselben Gegend fand Herr BAUER noch zwei Sambaquys, die er aber aus Mangel an Zeit nicht untersuchte. Unter den Knochen befanden sich auch einige von Wasservögeln und andere, die von Straußben herzustammen schienen. Sowohl im Sam- bagqguy wie am Ufer der Lagune fand Herr Bavrr eine große Anzahl von flachen und polierten Steinen von 1—1,5 cm Durchmesser; diese Steine enthielten künstlich gemachte, regelmäßige Löcher (1—5 an der 380 Wilhelm Breitenbach, Die Sambaquys von Cidreira. Zahl). Es scheint mir außer Zweifel zu sein, daß diese Steine zur An- fertigung von Fischernetzen und eventuell zum Beschweren der Netze dienten wie ähnliche in den Kjökkenmöddinger von Dänemark gefundene Steine. Die große Anzahl derselben beweist, daß sie eine häufige und für das Leben der Indianer wichtige Anwendung gefunden haben müssen. Die in diesem Sambaquy gefundenen Topfscherben sind von roher Arbeit, ohne Färbung und kaum verziert durch Eindrücke mit den Fingernägeln, während Herr BiscHorr bei Conceicao sehr schön gefärbte und mit schön gezeichneten Ornamenten versehene sah. Es ist klar, daß die Funde des Herrn BAvER nicht genügend sind zu einem eingehenden Studium des Gegenstandes, weil er nur wenig Meter von diesem ungeheuren Sambaguy aufgrub, und es würde ha Zweifel nötig sein, eine sehr genaue Untersuchung dieses ganzen Muschel- haufens vorzunehmen, um sich ein endgültiges Urteil über sein Alter bilden zu können. Ich lenke die Aufmerksamkeit des gefeierten Direktors des National-Museums' auf diesen Gegenstand. Die Engländer arbeiten in jener Gegend und wenn diese dort diese ethnologischen Schätze ent- decken, so werden sie sämtlich nach England geschickt und wir bleiben ohne dieses höchst kostbare Material für das Studium der Vorgeschichte unserer Provinz?. Die Waffen und Steingeräte, welche Herr Bauer bei dem Skelett fand, sind folgende: 1) Einer jener glatten und polierten Steine, die auf jeder Seite eine Höhlung haben (vide: Kosmos, B. XI. 1882. Taf. II, Fig. 5). 2) Ein Reibstein. 3) Ein Stück Stein von der Form eines Keiles; es fehlen die beiden Enden und ein Teil des Rückens. Dieser Stein ist gut geschliffen, hat eine regelmäßige Schneide und diente wahrscheinlich zum Reinigen von Robbenhäuten oder zum Abschaben der Gravatä-Faser, aus der die Wilden ihre Netze machen. 4) Ein Beil von außerordentlicher Größe, sehr breit und ähnlich den in Conceicao do Arroio gefundenen, von denen es sich nur durch die Größe unterscheidet und dadurch, daß das Loch am vorderen Ende nicht kreisrund ist. 5) Eine sehr große Keule mit abgeflachten Enden. Es ist wahr- scheinlich, daß dieses Werkzeug als Waffe und zum Zertrümmern von Knochen diente. 6) Ein Stein von ovaler Form, flach und mit einer großen Höhl- ung auf einer der Oberflächen. Auf diesem Werkzeug wurden wahr- scheinlich die anderen Steine mit Hilfe feinen Sandes geschliffen. ! Ich habe schon früher (Kosmos Bd. XI. 1882, p. 286) darauf hingewiesen, daß in Rio Grande do Sul reiche ethnologische Schätze zu heben sind. Ich weise wiederholt darauf hin. Eine von einem wissenschaftlich gebildeten Mann vor- genommene Untersuchung der Sambaquys und anderer Fundstätten würde reich- lich lohnen. ® Direktor des Museo Nacional in Rio de Janeiro ist Dr. Ladislau Netto. Von demselben erscheint demnächst ein großes Werk über Archäologie und Kra- niologie Brasiliens. Das Werk wird von 1600 Holzschnitten im Text und 21 Kupfer- tafeln begleitet sein. Wilhelm Breitenbach, Die Sambaquys von Cidreira. 381 « 7) Ein Steinmesser mit horizontaler Schneide, welche ebenso wie die Spitze von vielem Gebrauch zeuste. S) Ein flacher, feiner, wenig bearbeiteter, aber sehr harter Stein, der ohne Zweifel dazu diente, die kreisförmigen Öffnungen in den Beilen zu machen. Das ist die kleine Sammlung von Steinwerkzeugen, welche mein Freund BAvEr in dem erwähnten Sambaquy fand. Ohne Zweifel enthält derselbe bei seiner großen Ausdehnung noch Hunderte von Werkzeugen und Waffen, sowie auch noch Skelette. Auf dem Sambaguy, d. h. auf der Humusschicht, fand Herr BavEr eine ziemliche Anzahl von Bolas (von jenen Steinbolas; welche man in der Provinz »bolas dos charruas« nennt); in dem Muschelhaufen wurde nicht eine dieser Bolas gefunden, was genügend beweist, daß dieselben einer andern Generation von Indianern angehören, welche denselben Platz besuchte, als schon die Humusschicht die Reste jener Indianer bedeckte, die sich am Ufer des Meeres ihre aus Seetieren bestehende Nahrung suchten. Wir haben hier also Reste von zwei verschiedenen Indianer-Zivilisationen, die verschiedenen Epochen angehören. Zuerst die Rasse der Sambaquys, welche äm Ufer des Meeres und der Lagunen von Muscheln, Fischen und andern Seetieren lebte. Hier am Ufer des Meeres baute sie diese riesigen Muschelhaufen, in denen sie ihre Verstorbenen begrub. Ist sie von Feinden vertilgt worden oder hat sie sich in die Wälder zurückgezogen? Wer vermag das zu sagen? Gewiß ist, dab hier ihre Muschelhaufen geblieben sind und daß diese langsam mit Erde bedeckt wurden, die sich in Humus umwandelte, Gras schuf und heute am Rande der Lagune Waldungen trägt. Und dann sehe ich, :nach vielen Jahrhunderten, eine andere Rasse dieselben Plätze besuchen. Es waren berittene Indianer, welche auf ihren Jagden die Bolas anwandten und von Fleisch lebten. Sie müssen hier auf diesem ausgedehnten Sambaquy ein Lager gehabt haben, denn groß ist die Zahl der Bolas, die hier gefunden werden. Vielleicht wurde ein blutiger Kampf auf jenem gigantesken Grabe vergangener Gene- rationen ausgefochten und auf dem Schlachtfelde blieben die Überreste, jene Bolas, welche die bevorzugte, wenn nicht die einzige Waffe der Charruas bildeten und deren Anwendung die ersten europäischen Be- wohner jener Gegend von den Indianern geerbt haben! Es ist hier der Platz zu bemerken, daß diese Indianer nicht drei Bolas von verschiedener Größe gebrauchten wie unsere Campbewohner, sondern nur eine, wie noch heute die indianischen Lassowerfer von Mexiko. Dies geht daraus klar hervor, daß nicht Bolas von verschiedener Größe zusammen gefunden wurden. Eine andere interessante Beobacht- ung ist die, dab die in dem Sambaquy gefundenen Topfscherben nur ein Drittel so dick sind wie diejenigen Töpferarbeiten, welche in unsern Wäldern gefunden werden. Ich finde die Erklärung dieses Umstandes nicht leicht, es sei denn, dab die Bewohner der Küste geschickter in der Töpferei waren und über bessere technische Hilfsmittel verfügten wie die Bewohner der Wälder. Die Graburnen von Conceicao do Arroio sind ebenfalls dünn und von sehr vollkommener Arbeit. Als Gegenstück 382 Wilhelm Breitenbach, Die Sambaquys von Cidreira. dazu habe ich Scherben von einer großen Graburne, die in einer Tiefe von mehreren Metern am Ufer des Taquary gefunden wurden und welche eine Dicke von mehreren Centimetern haben und von sehr grober Arbeit sind, was ohne Zweifel beweist, daß sie älter sind als die Töpferwaren von Cidreira und Conceicao (?). Südlich von Cidreira gibt es andere Sambaquys. Dieselben sind von runder Gestalt und einige dienen den Viehzüchtern jener Gegend als »Mangueiras<. Mit dem praktischen Verstande, der unsern Camp- bewohnern eigen ist, benutzen diese Leute jene. runden Muschelwälle, die einige Meter Höhe haben, indem sie in den inneren Teil ihr Vieh einsperren, und es gibt einige, welche mehr als 600 Stück Vieh auf- nehmen können. Die ersten Ansiedler fanden das Innere dieser kreisförmigen Muschel- haufen mit dichtem Wald bedeckt, den sie abzuschlagen und abzubrennen hatten. Es ist klar, daß der Wald dort erst entstanden ist, nachdem die Wilden die Sambaquys verlassen haben, welche ohne Zweifel im Innern jener hohen Ringwälle wohnten, die ihnen Schutz gegen die Stürme darboten. Die Thatsache, daß noch heute jene Muschel der Sambaquys im Meere lebt, spricht nicht gegen das Alter der letzteren, weil dieselbe Muschel in fossilem Zustande auf hohen Hügeln gefunden wird, 20—30 m über dem Meeresspiegel, und zwar in der ganzen Gegend von Conceicao und Cidreira, woraus hervorgeht, daß die Indianer in einer sehr weit zurückliegenden prähistorischen Epoche dort lebten. Wissenschaftliche Rundschau. Physiologie. Zur Mechanik des Wiederkauens. Unter den Organen des tierischen Organismus ist der Magen eines derjenigen, dessen Funktion uns in seinem Mechanismus resp. Chemis- mus verhältnismäßig am besten bekannt ist; denn schon SPALLANZANI und seine Zeitgenossen stellten durch Versuche. fest, daß die Magen- verdauung im wesentlichen ein chemischer Vorgang ist und daß die me- chanischen Bewegungen von untergeordneter Bedeutung sind. Doch so gut uns auch im allgemeinen das Wesen der Magenverdauung bekannt ist, so wenig klar waren wir über den Mechanismus einzelner bei einigen Wirbeltieren vorkommender Abweichungen. Zu diesen letzteren gehört das Wiederkauen, die Rejektion der Ruminantien. Die Nahrung gelangt zuerst in den weiten Pansen (rumen) und aus diesem in den seiner Funktion nach nicht wesentlich vom Pansen verschiedenen Netzmagen (reticulum, ollula). Nach einiger Zeit gelangt die grob zerkleinerte Nahrung aus dem Pansen und Netzmagen durch Rejektion in die Mundhöhle, wird zum zweiten Male gekaut und nun von dieser aus sofort in den dritten Magen, das Buch, Psalter (omasus) übergeführt, indem die Speiseröhre als Schlundrinne über die Insertions- stelle des Pansen und seines Anhangs, des Netzmagens, sich hinweg legt und der wiedergekaute Bissen so an dem Eingange des Pansen vorübergleitet. Aus dem Psalter gelangt der Bissen endlich in den vierten und letzten Magen, in den Lab- oder Käsemagen (abomasus). Der Pansen, eine Ausweitung des Oesophagus, dient offenbar zur Aufnahme möglichst großer Mengen von ungenügend gekauter Nahrung, welche noch einmal zerkleinert und eingespeichelt und zu diesem Zwecke in kleinen Mengen nach einander wieder in die Mundhöhle befördert werden muß. Dieser Akt der Rejektion wurde schon von FLourEnSs in Hinsicht auf seine Mechanik studiert. Er stellte durch Versuche fest, dass zur Rejektion die Mitwirkung der Bauchpresse erforderlich sei!. Auch Tovssamr und CHAuvEau studierten den Mechanismus und be- schrieben denselben genau”. Man erfuhr durch jene Forschungen, daß ‘ Flourens, Experiences sur le mecanisme de la rumination. Mem. de Vacad. roy. de sc. de l’inst. de France. XII, 531—551. 1833. ®? Toussaint, Arch. de Physiol. norm. et pathol. 1875. 384 Wissenschaftliche Rundschau. der Akt der Rumination durch den Verschluß der Stimmritze eingeleitet wird. Zwerchfell und Bauchmuskeln kontrahieren sich, das kuppelförmige Zwerchfell wird infolge der Kontraktion platt, die Bauchhöhle verliert, die Brusthöhle gewinnt an Rauminhalt. Der Bauchhöhleninhalt steht also infolge der erwähnten Kontraktion unter höherem, der Brusthöhleninhalt unter niederem Druck. Die aus dieser Druckdifferenz resultierenden be- wegenden Kräfte wirken nun beide im gleichen Sinne nach oben und drängen das mit viel Flüssigkeit gemischte Futter im Pansen nach der Mundhöhle zurück. Soweit war der Mechanismus der Rumination aufgeklärt, doch dunkel blieb die Ursache der Rumination. Man nahm an, daß die Rejektion ein willkürlicher Akt sei, zumal da man beobachtet hatte, daß dieselbe vom Tiere eingestellt wird, sobald Angst, Arbeit oder Unbehagen das- selbe stören. Marey behauptete daher auch: »L’animal doit &tre dans un calme parfait pendant la duree de l’experience, c’est la condition necessaire de la rumination,« und alle Forscher scheuten infolgedessen vor operativen Eingriffen zurück; kaum wagte Toussaınr MArry’s Luft- trommeln bei seinen Versuchen zu benutzen, und er war zufriedengestellt, wenn einige Male spontane Rejektionen eintraten. Die Ansicht von der willkürlichen Natur der Rejektion war aber dennoch sehr sonderbar; denn die meisten Akte der Magenverdauung, auch die Schlingbewegungen vom Pharynx ab sind bekanntlich bei allen Tieren, soweit bis jetzt unsere Kenntnis reicht, der Herrschaft des Willens entzogen und es erschien daher die Annahme eines jüngeren Forschers (LuchsinGer) nicht unbegründet, dab auch das Wiederkauen ein Reflexakt sei, dessen Auslösung vom Pansen aus gelingen müsse. Ebenso nahe- liegend war es, daran zu denken, dal die den Pansen ausdehnenden Futtermassen die sensibeln Nerven des Magens reizen. Es wurden daher folgende Versuche angestellt. Da die Hirnthätigkeit als hemmend für die Rumination von den Franzosen angegeben wurde, so narkotisierte man eine Ziege durch eine Morphiuminjektion, der Kehlkopf wurde blob- gelegt und median gespalten, in die Trachea eine Kanüle eingelegt und der Pansen durch einen Bauchschnitt zugängig gemacht; er war nebst dem Zwerchfell sichtbar. Wurde nun der Pansen mäßig mit der flachen Hand gedrückt oder durch tetanisierende Ströme gereizt oder wurde durch einen Einschnitt warmes Wasser in den Pansen eingegossen und die Spannung in ihm erhöht, dann beobachtete man allemal, daß die Stimm- ritze geschlossen wurde, das Zwerchfell trat nach unten, die Bauch- muskeln kontrahierten sich und ein Bissen gelangte schnell in die Mund- höhle, das überflüssige Wasser aber wurde abgeprebt und verschluckt. Es folgten nun eine lange Reihe von Kaubewegungen, die Speichelsekretion steigerte sich und Schlingbewegungen schlossen den Akt. Damit glaubt nun der Verfasser die Rumination als einen Reflexakt experimentell nach- gewiesen zu haben. Die Versuche erwiesen auch zur Evidenz, daß die Kaubewegungen und die vermehrte Speichelsekretion nicht dadurch bedingt sind, daß der in die Mundhöhle gelangende Bissen die sensibeln Nerven derselben mechanisch reizt, sondern daß beide Prozesse auch schon durch den Reiz vom Pansen aus ausgelöst werden; denn wurde die Speiseröhre Wissenschaftliche Rundschau. 38 quer durchtrennt und durch ein in das zentrale Stück eingebundenes Rohr der Bissen nach außen geschafft, so traten dennoch Kaubewegungen und vermehrte Speichelsekretion ein, trotzdem unter diesen Verhältnissen der Bissen überhaupt nicht in die Mundhöhle gelangte. Im verlängerten Mark (Medulla oblongata) liegen bekanntlich Zentren für die Atemmuskeln, Kaumuskeln, für die Speicheldrüsen, für die Schlund- schlingmuskeln und für die Speiseröhre; bei den Wiederkäuern muß nun nach der Ansicht LuchsisgEr’s eine durch Übung gezüchtete Verknüpfung zwischen diesen Zentren bestehen, so daß eine Erregung von sensibeln Pansennerven alle diese motorischen Gangliengruppen durcheilt; diese Verknüpfung einfacher Zentren glaubt Luchsiseer als Zentrum für die Rumination bezeichnen zu dürfen. Die sensibeln Erregungen der Pansen- nerven gehen in der Bahn der Nervi vagi dem verlängerten Mark zu; denn schon FrLourens fand, dab bei durchschnittenen Vagi die Rumi- nation aufhört, und dieses Ergebnis ist auch bei diesen neuen Versuchen bestätigt worden. Die Rumination kann demnach mit dem Brechakt in Parallele ge- stellt werden, nur ist die erstere ein geordnetes Erbrechen, so dab nur soviel Inhalt in die Mundhöhle gelangt, als die letztere zu fassen ver- mag. Daß dem so sei, konnte auch deutlich nachgewiesen werden. Denn ging man mit der Hand in den Pansen ein, während eine zweite Person den Magen reizte, so fühlte man bald nach dem Beginn der Rejektion die Schlundrinne verschlossen, so daß das Aufsteigen des Futters in die Mundhöhle nicht weiter vor sich gehen konnte. Eine aktive Beteiligung der Pansen- und Haubenmuskulatur oder der Muskulatur des Oesophagus bei dem Rejektionsakte konnte nicht konstatiert werden, eine solche ist auch sehr unwahrscheinlich, da die langsam sich vollziehende Kontraktion der glatten Magenmuskulatur bei der schnell vor sich gehenden Rejektion schwerlich mitwirken kann; dagegen ist eine indirekte Mitwirkung derselben erwiesen; denn die Kon- traktion der Muskulatur des Pansen muß offenbar die im letzteren vor- handene Spannung erhöhen und so zur mechanischen Reizung der sen- sibeln Nerven mit beitragen. Die Versuche gelangen an dem im Halbschlummer befindlichen Tiere ohne Schwierigkeit, doch auch der Verfasser muß zugestehen, daß die Rumination durch sensible Reize, besonders durch psychische Erregung gehemmt wird. Diese aufs neue bestätigte Beobachtung macht die Reflexnatur der Rejektion etwas zweifelhaft; denn ein wirklicher Reflexakt kann durch derartige begleitende Umstände nicht aufgehalten werden. REn£E Descartes, welcher bekanntlich zuerst die Natur der Reflexaktionen erkannte jene von der Cornea auszulösende aus- führlich als solche beschrieb, hat den Begriff derselben genau bestimmt. Mögen noch soviele, noch so intensive sensible Reize und psychische Erregungen an ein Individuum herantreten, dennoch erfolgt der sofortige Schluß des Augenlides, sobald die Cornea ein sensibler Reiz trifft. Es kann mithin die Rumination mit dem Erbrechen in Hinsicht auf die Reflexnatur nicht in Parallele gestellt werden, dagegen ist meiner Ansicht nach eine derartige Parallele zwischen Rumination einerseits und Defä- Kosmos 1884, II. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XV). 25 386 Wissenschaftliche Rundschau. kation oder Urinieren anderseits wohl gerechtfertigt. Weder zu urinieren, noch den Mastdarm zu entleeren, noch zu rejizieren vermag das Indivi- duum willkürlich zu jeder Zeit, es müssen Urin in der Blase, Fäces im Mastdarm, Futtermassen im Pansen vorhanden sein, welche die sensiblen Nerven der zugehörigen Schleimhäute reizen; insofern sind diese Akte unwillkürliche, dem Willen entzogene. Aber die Einleitung der Defä- kation, des Urinierens, der Rumination, sowie deren plötzliche Beendig- ung unterliegt, wie bekannt, ganz der Herrschaft des Willens. Diese Eigentümlichkeit ist uns bei der Defäkation und dem Urinieren begreif- lich; denn wir wissen, dab die Schließmuskeln des Afters und der Blase (Sphincter ani, Sphincter vesicae) willkürliche Muskeln sind, unerklärlich aber ist uns diese Eigentümlichkeit bei der Rumination, doch ist die Vermutung gewiß nicht ungerechtfertigt, dab auch an der Schlundrinne der Ziege sich ein dem Willen unterworfener Schließmuskel befinden wird. Eine derartige Verknüpfung unwillkürlicher und willkürlicher Akte in etwas anderer Weise finden wir auch bei dem Fortschaffen des Bissens in den Magen; denn bis in die Gegend der Constrictores pharyngis ist die Fortbewegung des Bissens ein willkürlicher Akt, von hier an aber ein reiner Reflexakt, daher auch der längst bekannte Satz, daß das Schlingen willkürlich eingeleitet, aber unwillkürlich beendet wird. Aus diesen Parallelen und Erörterungen wird es höchst wahrscheinlich, dab die Fähigkeit der Ziege, die Rumination zu unterbrechen resp. zu unter- drücken, aus einer Verknüpfung willkürlicher und unwillkürlicher Akte resultiert. Herrn Luchsiseer’s Erklärung, daß die Rumination durch ein namentlich für psychische Erregungen empfindliches Hemmungszentrum des Grobhirns gehemmt werden könne, ist offenbar nur eine Umschreib- ung der Thatsache, daß der Wille die Rumination beherrscht, keineswegs jedoch eine Erklärung. Dr. JuLius NAtHan. Zze@elogie. Über Entwickelung und Lebensweise von Medusen liegen uns drei bemerkenswerte neuere Mitteilungen von CrAvus, C. KELLER und GopErRoY Luxeu vor. Die erstere! füllt eine wesentliche Lücke in unserer bisherigen Kenntnis des Entwickelungsganges der wurzelmündigen Quallen aus. Nachdem schon früher die im Mittelmeer lebende Cotylo- rhiza tuberculata (Cassiopea borbonica oder Üephea Wagneri) vom Ei- zustande an bis zum achtarmigen festsitzenden Scyphostoma-Stadium ver- folgt worden war, gelang es 1854 GEGENBAUR, auch noch die sechzehn- armige Form daraus zu erziehen; das weitere aber, die Strobilation und die Abstoßung von »Ephyra<«-Formen, d. h. freischwimmenden Larven, welche dann durch allmähliche Metamorphose zum fertigen Tiere heran- ı 0. Claus, Die Ephyren von Cotylorhiza und Rhizostoma und deren Ent- wickelung zu achtarmigen Medusen. Mit 2 Taf. Wien, A. Hölder 1883. 8.-A. aus: Arbeiten aus d. zool. Inst. d. Univ. Wien und d. zool. Station in Triest, V. Bd., 2. Heft. d Wissenschaftliehe Rundschau. 387 reifen, blieb noch unbekannt. Und bezüglich der Entwickelung von Rhizostoma war noch nicht einmal entschieden, ob hier eine Strobilation überhaupt stattfindet oder nicht. Cravs suchte durch pelagischen Fang in den Besitz junger Ephyren zu gelangen, da er schon vor mehreren Jahren die älteren Stadien öfter, besonders im August, angetroffen und beschrieben hatte. Allein erst Mitte Juli des vorigen Jahres fanden sich bei Triest ganze Schwärme von Cotylorhiza-Larven, in denen auch alle bisher vermißten Jugendzustände enthalten waren. Die jüngste der beobachteten Formen stellt eine flache Scheibe von 1,5 bis 2 mm Durchmesser dar, mit 8 langen schlanken Lappen, deren freies Ende durch. einen tiefen Einschnitt halbiert erscheint und nach innen von letzterem je einen handkörper mit ÖOtolithenhäufchen trägt. Das kurze Mundrohr zeichnet sich zwar bereits durch die Stärke seiner Wand und die Dicke der Gallerte aus, entbehrt aber noch der vier Arme und zeigt also ganz einfache primitive Gestaltung. Von dem weiten Magenraum, in welchen erst 4 kurze Gastralfilamente hinein- ragen, gehen S radiale Kanäle in die Sinneslappen und S kurze inter- radiale Ausbuchtungen ab. Kurz die Ephyra stimmt in allen wesent- lichen Punkten durchaus mit den Ephyren der semaeostomen Schirmquallen (mit flacher Scheibe und einfacher großer Mundöffnung) überein, ins- besondere mit denen von Aurelia und Chrysaora. Ihr wichtigstes Unter- scheidungsmerkmal ist biologischer Natur, indem sie ausnahmslos im Entoderm des Magenraumes und der Kanäle reichliche gelbbraune Algen- zellen (Zoochlorellen), enthält, die z. T. auch frei in den inneren Höhlungen flottieren. Wir kommen auf die Bedeutung dieser Körper noch zurück. Außerdem finden sich im Endabschnitt der Sinneslappen zahlreiche kleine spindelförmige Kryställchen von unbekannter Natur und Bedeutung, vereinzelt in den Ektodermzellen liegend. Die weiteren Umbildungen bestehen nun wesentlich im folgenden: 1) Die interradialen Partien der Scheibe wachsen stärker als die radialen, weshalb die schlanken Sinneslappen verhältnismäßig immer kürzer werden und immer mehr in dem sich rundenden Schirmrande aufzugehen scheinen. 2) Interradial wächst aus dem letzteren je ein kurzes spitzes Läppchen hervor, das bald an Gröbe und besonders an Breite zunimmt und zu- letzt in die Zone der radialen Sinnesläppchen vorrückt, wodurch haupt- sächlich die Larve das Aussehen einer Ephyra allmählich verliert und in die durch einen Kranz von Randlappen bezeichnete jugendliche Aka- lephenform übergeht. 3) Die Gastralfilamente vermehren sich in jedem Radius auf 2, dann 4, endlich bilden sie knäuelförmige Gruppen. 4) Seit- liche Auswüchse der Radialkanäle fließen mit den interradialen zusammen und bilden den geschlossenen Ringkanal; später wächst zwischen jedem radialen und interradialen Gefäß ein schmales Pararadialgefäß aus dem Magen hervor, um sich gleichfalls in den Ringkanal zu öffnen; zuletzt werden die zwischenliegenden Räume von zahlreichen unregelmäßigen seitlichen Gefäßwucherungen durchzogen und es entsteht ein für die Gattung charakteristisches engmaschiges Gefäßnetz, das auch den peri- pherischen Ringkanal derart in sich aufnimmt, daß man ihn für ganz verschwunden halten könnte. 5) An dem viereckigen freien Saum des 388 Wissenschaftliche Rundschau. Mundrohres sprossen zunächst kleine Tentakelchen hervor; die Ecken wachsen sodann zu 4 kurzen, mit solchen Tentakeln besetzten Mund- armen aus, ganz wie sie z. B. eine junge Aurelia aufweist; nun erst bahnt sich durch Auftreten einer inneren Längsfalte an jedem Arm die Bildung der späteren Armpaare an, deren Spreiten sich bald kanalförmig zusammenrollen und an den verbreiterten Enden stets neue Tentakel erhalten. Während dann die eingerollten Ränder an zahlreichen Stellen mit einander verlöten, wiederholt sich peripherisch derselbe Vorgang fortwährend, so daß der Charakter der Rhizostomie immer vollständiger zur Ausprägung kommt. In Kürze gedenkt Cnaus noch einer jungen Ahizostoma-Larve von 3,5 mm Durchmesser, bei der zwar das Ringgefäß schon geschlossen ist, die mit Tentakelchen reich besetzten Mundarme aber noch einfach und ungespalten und die interradialen Läppchen, obwohl schon beinahe bis in die Zone der Sinneslappen vorgerückt, doch noch ziemlich klein, aber zugleich zweispaltig sind, woraus wohl zu entnehmen ist, daß sie hier nicht wie bei Cotylorhiza und Aurelia als unpaare zungenförmige Läppchen, sondern wie bei Discomedusa gleich in paariger Zahl hervorwachsen. Für die beiden hier erörterten Formen fehlt uns nun aber noch immer die Kenntnis gerade jener Stadien, welche den Übergang von der festsitzenden Strobila -zur freischwimmenden Ephyra darstellen. Den Grund, warum es bisher nicht gelang, die Scyphostomazustände von Cotylorhiza zu weiterer Entwickelung zu bringen, vermutet CrAaus wohl nicht mit Unrecht darin, daß sie im Aquarium nicht eine genügende Anzahl jener Zoochlorellen vorfinden, deren sie schon sehr früh zu ge- deihlicher Existenz durchaus zu bedürfen scheinen. Man findet nämlich bereits bei diesen jugendlichen Wesen ausnahmslos nicht bloß die Epithel- zellen des ganzen Gefäßbsystems, sondern auch die Arme und Trichter- krausen sowie den Magen und die Gastralfilamente so dicht mit den pflanzlichen Einmietlingen erfüllt, daß die Frage entsteht, ob überhaupt noch eine selbständige animalische Ernährung stattfindet oder ob nicht die überschüssigen, dem Entoderm zu gute kommenden Assimilations- produkte der Algenzellen zur Erhaltung der Meduse ausreichen. Die Aufnahme derselben aus dem Gastrovaskularraum, in welchem man sie wie gesagt auch zahlreich flottieren sieht, dürfte wohl durch aktive amöboide Bewegungen der Entodermzellen stattfinden, die ja nun auch bei Medusen nachgewiesen sind; jedenfalls vermehren sie sich dann reichlich durch Teilung (darauf hindeutende Zustände werden vielfach angetroffen), ob sie aber zuletzt und besonders bei der fertigen Meduse, wo sie oft als kugelige oder traubige Ballen in die Gallerte des Schirmes vorragen, wirklich ins Mesoderm gelangen, entweder selbständig oder durch Vermittelung der dorthin auswandernden Entodermzellen, ist noch nicht direkt bewiesen, jedoch höchst wahrscheinlich. Dieses symbiotische Verhältnis bespricht neuerdings auch C. Keuver!. Derselbe hatte kugelige Haufen gelbbrauner Zellen in der Gallerte von ! „Mitteilungen über Medusen“, mit 1 Taf., in: Recueil zoologique suisse, T. I, No. 3, Juni 1884. Genf-Basel, H. Georg. Wissenschaftliche Rundschau. 389 Cassiopea polypoides aus dem Roten Meere gefunden und dieselben für eine besondere Art von Mesodermelementen erklärt. Jetzt schließt er sich teilweise der Ansicht von Cravs an, glaubt aber seinen früheren Standpunkt noch insofern wahren zu sollen, als er, sofern wir ihn näm- lich richtig verstanden haben, annimmt, jene Zellhaufen würden durch eine Symbiose von grünen Algenzellen mit besondern »Entoderm- und Mesodermzellen, welche eigenes tierisches Pigment enthalten«, gebildet — und zwar nur darauf gestützt, daß nach Alkoholbehandlung derselben »ein unlösliches braungelbes Pigment zurückbleibt, .... das der Meduse selbst angehört und tierischen Ursprung besitzt«. Wir meinen, die letztere Behauptung müsste doch noch etwas besser begründet werden, um die wunderliche Annahme glaubhaft zu machen, daß eine be- sondere, von anderen Medusen bisher noch nicht bekannt gewordene Art von Entoderm- und Mesodermzellen, die ohnedies schon einen bräunlichen Farbstoff produzieren, damit beauftragt sei, zwischen und in die übrigen Zellen des Mesoderms (und wohl auch des Entoderms ?) einzudringen und ihrerseits dann erst die Zoochlorellen in sich aufzu- nehmen. Verfasser bringt diese Symbiose nun auch noch mit einer anderen biologischen Frage in Zusammenhang. Wie unsere Leser wissen !, ist er durch seine Beobachtungen an der eben genannten (assiopea polypoides zu der Ansicht gelangt, die Anthozoen seien von Akalephen ähnlichen Vorfahren abzuleiten, welche ebenso, wie die erwähnte es zeitweilig thut, sich dauernd vermittelst der freien aboralen Fläche ihres Schirmes fest- gesaugt und so zur sedimentären Lebensweise übergegangen wären. Um zu ermitteln, welche Umstände bei Cassiopea eine solche Festsetzung ver- anlassen, stellte er in Neapel Versuche an mit der nahe verwandten Art Cassiopea borbonica oder Cotylorhiza tuberenlata (von der oben schon die Rede war), welche dort regelmäßig gegen die Mitte August scharen- weise im Golfe auftritt, um spätestens im November oder Dezember wieder zu verschwinden, und von welcher er: daher vermutete, sie bringe den übrigen Teil des Jahres in tieferen Wasserschichten und zwar auf dem Meeresboden angesaugt zu. Es zeigte sich in der That, daß die Versuchstiere, obgleich die Muskulatur auf der Aubenfläche des Schirmes hier viel schwächer entwickelt ist als bei der Meduse des Roten Meeres, doch meistens schon nach wenigen Stunden sich umkehren und auf dem Boden oder der Glaswand des Aquariums sich. festsetzen; mehrere der- selben blieben über 5 Wochen lang ruhig auf derselben Stelle sitzend am Leben. Da nun diese Meduse bisher niemals, auch nicht in einzelnen, etwa vom Sturm verschlagenen Exemplaren, während. der ersten Hälfte des Jahres bei Neapel angetroffen worden ist, da sie ferner auch auf dem Boden des Neapler Golfes entschieden nicht vorkommt, so scheint aller- dings der Schlub völlig begründet, daß wir es hier mit einer echten Tief- ı s. den Aufsatz. des Verf.: Über die Abstammungsverhältnisse der Pflanzen- tiere, in Kosmos 1884, I, S. 120, insbesondere S. 129 u. ff., sowie das Referat im Kosmos XII, S. 701. 390 Wissenschaftliche Rundschau. seemeduse zu thun haben, welche nur zum Zwecke der Fortpflanzung an die Oberfläche und in die Nähe der Küsten gelangt, sonst aber wahr- scheinlich sessil auf dem Meeresboden in Tiefen von mehr als 120 Faden (Maximaltiefe des Golfes) lebt. Oben haben wir gesehen, daß die Ent- wickelung dieser Form ein Scyphostoma- und Strobilastadium durchläuft, welches notwendig auf das littorale Gebiet angewiesen ist; die frei- gewordenen Ephyralarven scheinen pelagisch zu leben und erst im nahezu ausgebildeten Zustande den Meeresboden aufzusuchen, den sie dann wohl nur noch für wenige Wochen alljährlich einmal behufs Ablage der Ge- schlechtsprodukte mit einem Aufenthalte im offenen Meer nahe der Küste vertauschen — gewiß ein sehr lehrreiches Beispiel der Anpas- sungsfähigkeit eines Organismus an die verschiedenartigsten Lebens- bedingungen. Daß wir übrigens die Kerzer'sche Ansicht von der Abstammung der Anthozoen auch durch diese Versuche noch keineswegs für begründet halten können und ebenso die zu gleichem Resultate führende Folgerung Kırı Vogr's als auf ganz falsche Basis gestellt erklären müssen, haben wir schon früher angedeutet (vgl. die Anmerkung auf S. 131 in Kosmos 1884, I. Bd., zu der citierten Arbeit von C. Krıterr). Wenn es über- haupt einer Widerlegung dieser Hypothese bedarf, so sei hier nur noch auf das total verschiedene Verhalten der Muskulatur und des Nerven- systems bei den Aktinien und Medusen, auf das sogen. Magenrohr der ersteren, die Mundarme der letzteren hingewiesen, welche jeweils der an- deren Gruppe völlig abgehen — Verschiedenheiten, denen gegenüber eine vereinzelt auftretende Annäherung in der Lebensweise unmöglich in Be- tracht kommen kann. Um nun aber zu unserem Ausgangspunkt zurückzukehren: die ge- schlechtsreife Cotylorhiza tuberculata enthält, wie wir sahen, im Ento- und Mesoderm (nach Keızer auch im Ektoderm der Schirmoberfläche) außer- ordentlich reichliche, lebhaft vegetierende Algenzellen, welche ihren Träger sicherlich zu einem guten Teile mit der für ihn erforderlichen Menge von Nahrung und Sauerstoff versehen. In der Tiefe von über 100 Faden aber, in welcher die Meduse unmittelbar vor ihrem Auftauchen vermutlich längere Zeit lebte, konnte eine solche Symbiose mit an die Einwirkung direkten Sonnenlichtes gebundenen pflanzlichen Wesen unmöglich bestehen. Ketrer hält es daher für ausgemacht, daß die Meduse ihre Mietlinge immer erst daun aufnehme, wenn sie an die Oberfläche emporsteigt. Nun wissen wir jedoch durch Craus, daß auch die Ephyra schon Zoochlorellen führt und zwar um so mehr, je älter sie wird. Sollen wir nun annehmen, daß sie dieselben, wenn sie dann in die Tiefe sinkt, alle wieder aus- stoße resp. nach ihrem Absterben gänzlich verdaue, um sich vielleicht dreiviertel Jahre später an der Meeresoberfläche abermals mit solchen Algen vollzustopfen, jedoch natürlich nur für wenige Wochen, da ja bei der Rückkehr in die Tiefsee dies Verhältnis wieder aufhören muß? Diese Frage ist natürlich nur durch Auffindung der Meduse an ihrem Aufenthaltsorte während der ersten Hälfte des Jahres zu lösen; wir ge- stehen aber, dab uns jene Annahme von vornherein ziemlich gewagt erscheint. Sie würde einen noch viel gewaltigeren Sprung in den Lebens- Wissenschaftliche Rundschau. 391 verhältnissen des Tieres bedingen, als er schon durch den Wechsel des Standortes gegeben ist. Wenn es aber für diese eine Art so leicht wäre, bald mit, bald ohne Algen zu existieren, während sie doch zugleich, so- lange sie pelagisch lebt, ausnahmslos die innigste Symbiose mit denselben aufweist, so mübte es billig wunder nehmen, daß wir diesem Zusammen- leben nicht bei einer viel größeren Zahl, ja bei allen irgendwie durch- scheinenden Meerestieren der littoralen und pelagischen Zone begegnen. Thatsächlich ist dasselbe aber doch nur auf verhältnismäßig wenige ver- einzelte Formen beschränkt, und zwar in der Regel so, dab die sämt- lichen Individuen einer Art, bei der überhaupt Algen gefunden werden, ohne Ausnahme und reichlich damit versehen sind. Daraus läßt sich doch wohl schließen, daß das Eingehen dieses Verhältnisses eine be- deutende Umwälzung im Lebenshaushalt der betreffenden Tiere mit sich bringt, der nun nicht mehr so ohne weiteres in die frühere Richtung zurückzulenken vermag. Sind diese Erwägungen zutreffend, so müßte Cotylorhiza die Zeit ihrer Verborgenheit doch irgendwo im offenen Meere zubringen, wo sie eben die einmal aufgenommenen Zoochlorellen ungestört weiter beherbergen kann. Hoffentlich führen die eifrigen maritimen Forschungen der Gegenwart auch diese interessante Frage recht bald ihrer Lösung näher. An gleicher Stelle beschreibt KeLzer noch das bei Neapel gefundene geschlechtsreife Tier und die Jugendform eines zu den Thaumantiaden ge- hörigen Orchistoma (O. agarieiforme), welche Gattung bisher nur in zwei Arten von den Antillen und von Westafrika bekannt war. Das zierliche, 2 cm im Durchmesser haltende Wesen ist mit sieben krausenartig ge- falteten Mundarmen und 19 (offenbar noch nicht die volle Anzahl) Rand- tentakeln versehen, zwischen denen je 6—S kurze hohle Cirren und ca. 20 feine Ocellen (Pigmentflecken, jedoch wie es scheint ohne Linsen) sitzen, und zeichnet sich namentlich durch folgende Eigentümlichkeit aus: Das reife Tier hat keinen eigentlichen Magen; zwar hängt ein mächtiger stumpf kegelförmiger Magenstiel aus der Glockenwölbung herab, allein der- selbe ist durchaus solid, von einer Fortsetzung der Schirmgallerte gebildet ; der Mund führt unmittelbar in die 19 plattgedrückten, längs der Wand des Magenstiels emporsteigenden Radialkanäle, an deren oralem Ende ebensoviele längliche Wülste, die Geschlechtsorgane (Gonaden) sitzen. Die Jugendform dagegen, welche bereits 16 wohl ausgebildete Radial- kanäle nebst zahlreichen interradialen Anlagen solcher aufweist, ent- behrt noch fast völlig eines Magenstiels, indem nur eine schwache Vor- wölbung der Schirmgallerte in die Glockenhöhle hineinragt; darin aber ist ein ansehnlich breiter, niedriger Magen vorhanden, der peri- pherisch in zahlreiche zipfelartige Ausbuchtungen ausläuft, von denen dann die Radialkanäle in verschiedenen Stadien der Entwickelung aus- gehen. Es muß demnach in verhältnismäßig kurzer Zeit eine tief- greifende Metamorphose sich vollziehen, bei welcher der mächtige Magen- stiel hervorwächst und der Magen dadurch immer mehr verdrängt und schließlich ganz zum Schwunde gebracht wird; höchst wahrschein- lich gehen die Gonaden direkt aus seinen zipfelförmigen Aussackungen hervor. Jener Jugendzustand erinnert lebhaft an eine äquoride Meduse; 392 Wissenschaftliche Rundschau. durch die Metamorphose erst wird sie in eine weit abweichende Gruppe übergeführt. Die dritte der eingangs erwähnten Mitteilungen! erörtert die Frage, welches Verhältnis zwischen gewissen Medusen (insbesondere Rhizostomiden) und den kleinen Fischchen bestehe, die man, wie schon DE BLAINVILLE und Cuvier beobachtet hatten, so häufig in ihrem Innern oder an ihnen antrifft. Wie der Name eines dieser Fische, Schedophilus medusophagus, andeutet, herrschte lange die Meinung vor, dieselben ernährten sich von den Medusen, nachdem früher das Umgekehrte angenommen worden war. H. For dagegen vertritt nach eigener Anschauung und GÜNTHER in London nach Mitteilungen von Ocıusy die Ansicht, das Zusammenvorkommen sei ein mehr zufälliges, die Fische hätten sich nur ein passendes Versteck gesucht. G. Lunxen selbst schließt sich dieser Auffassung an auf Grund eines aus Mauritius ihm zugegangenen Fundes, den er abbildet. Ein Fischehen von ungefähr 15 cm Länge, ein junger (aranı melampygus Cuv. et VaArn., steckt mit dem größten Teil seines Körpers zwischen den vier Magenpfeilern, welche bei einer Urambessa palmipes HAECKEL von nicht viel größerem Umfang den Magen mit dem Schirm verbinden und in der von den Rhizostomiden bekannten Weise durch ihre inneren Kanäle vom Magen ins Gastrovaskularsystem des Schirmes überleiten. Diese Pfeiler waren allerdings bedeutend über ihre normale Länge ausgedehnt und nach außen gebogen, um den Fisch zwischen sich aufnehmen zu können ; sonst aber war die Meduse durchaus intakt und laut beigegebenem Be- richt auch ganz lebensfrisch gefangen worden. Der Fisch soll sein Versteck häufig verlassen haben, aber regelmäßig wieder dahin zu- rückgekehrt sein. Bei normaler Lage der Meduse kann er nicht ein- mal aufrecht in dasselbe hineinschwimmen, sondern er muß sich dazu auf die Seite legen und sich auch in dieser Lage herumtransportieren lassen. Ist nun auch nach diesem Befunde nicht daran zu zweifeln, dab zwischen den beiden genannten Tieren ein friedliches Kommensalen- verhältnis besteht, indem der Fisch, wahrscheinlich in noch ganz jugend- lichem Zustande, zwischen den Mundpfeilern der Meduse seinen Wohnsitz aufschlägt, denselben jedenfalls entsprechend seinem Wachstum allmäh- lich ausweitet und dabei zugleich von der Ausbeute an kleinen Meeres- tieren sich ernährt, welche die Meduse umschwärmen und welche sie mit ihren Nesselorganen abtötet — so ist doch auch die andere Behauptung, daß solche Fische häufig die ihnen Schutz gewährenden Medusen an- fressen, ja sich geradezu ausschließlich von ihnen nähren, vollkommen berechtigt, obwohl Lux£u sie durch den Hinweis zu entkräften sucht, dab das Gewebe des Medusenkörpers nicht genug Nährstoffe enthalte. Denn wie unser geschätzter Mitarbeiter Dr. H. Eısıs in Neapel im I. Bande dieses Jahrgangs S. 305 nach mehrfachen eigenen Beobachtungen mit- geteilt hat, pflegen gerade die oben genannten und naheverwandte Ma- krelenarten, die man regelmäßig in Gesellschaft dortiger Rhizostomiden ! Sur un cas de commensalisme d'un Caranz et d’une Orambessa, par G. Lunel. 1 Taf. (Rec. zool. suisse, T. I, Nr. 1. 1883.) Wissenschaftliche Rundschau. 393 antrifft, ungestraft deren nesselzellenreiche Tentakel u. s. w. aufzufressen und sogar andere Nahrung standhaft zu verweigern! Eierlegende Säugetiere! In »Nature« vom 9. Okt. d. J. findet sich in dem Berichte über die biologische Sektion der britischen Naturforscher-Versammlung, welche diesmal bekanntlich in Montreal, Canada, stattgefunden hat, folgende höchst merkwürdige Nachricht: »Der Vorsitzende teilte mit, er habe soeben ein Kabeltelegramm aus Sydney von Prof. Liversipgz erhalten, des Inhalts, daß Hr. CALDwELL, der »BALrour Student,« welcher nach Australien geschickt worden war, um Untersuchungen insbesondere über die Fortpflanzung und Entwicke- lung der Marsupialien und Monotremen anzustellen, die Entdeckung ge- macht habe, dab die letzteren Eier legten. Er meine, ein in wissen- schaftlicher Hinsicht wichtigeres Telegramm sei wohl noch nie durch ein submarines Kabel übermittelt worden . . . . Diese niedrigsten Säugetiere, über deren Fortpflanzung man bisher noch nichts gewußt . . .. ae in der Entwickelung ihrer Eier eine große Ähnlichkeit mit derjenigen der Eier von Reptilien, und damit sei also auch bewiesen, daß dieselben mit den Sauropsiden näher verwandt seien als mit den Amphibien. « An der Richtigkeit dieser überraschenden Meldung ist unter den ob- waltenden Umständen nicht zu zweifeln. Dieselbe läßt mit Bestimmtheit hoffen, dab uns bald die interessantesten Aufschlüsse über die Entwickelung und damit auch über die phylogenetische Bedeutung der »Kloakentiere« zu- gehen werden. Kurz zuvor war übrigens in derselben Sektion eine vor- läufige Mitteilung von Herrn CaLpweEız über die Eihäute der Marsupialien verlesen worden, woraus zum mindesten hervorgeht, dal» dieser Forscher seine Aufgabe eifrig und allseitig in Angriff nimmt. Derselbe ist wie schon erwähnt »BaLrour Student,« d. h. die zu Ehren des hochverdienten Embryologen F. M. Barrour errichtete Stiftung hat ihm die Mittel zur Fortsetzung selbständiger entwickelungsgeschichtlicher Untersuchungen ge- währt und ihn mit jenem bestimmten Auftrag nach Australien entsendet. Es wird gewiß jeden, der BALFOUR und seine Arbeiten kennt, herz- ! Nach Mitteilung des „Zool. Anzeigers“ Nr. 161, vom 3. März 1884, er- klärte Herr Macleay in der Sitzung der "Linnean Society von Nen-Süd-Wales am 27. Dez. 1883, der von Lunel beobachtete Kommensalismus von Fischen und Medusen sei ehr Neues, denn vor 4 Jahren schon habe die kgl. Kommission für die Fischereien von Neu-Süd-Wales berichtet: „Die ganz jungen Individuen des „elbschwanzes“ (Trachurus trachurus) zeigen eine sehr ungewöhnliche und schlaue Art, zu gleicher Zeit für ihre Nahrung und ihre Sicherheit zu sorgen: sie nehmen ihren Wohnsitz innerhalb des Schirmes großer Medusen, wo sie vor ihren Feinden geschützt sind und zugleich ohne irgend“ welche Anstrengung ihrerseits, vermöge des durch die Thätigkeit der vorhangartieen „Cilien“ des Tieres unterhaltenen konstanten Wasserstroms, mit den winzigen Organismen versorgt werden, welche ihre Nahrung bilden.“ Allein auch abgesehen davon, daß diese Bemerkung sich offenbar nicht auf genauere Beobachtungen stützt. legt doch in dem von Lnnel berichteten Fall unstreitig ein viel innigeres Verhältnis zwischen der Meduse und nur einem nahezu gleich groben Fische vor, welcher sosar an der ersteren eine bedeutende Deformität hervorgebrae ht hat. 394 Wissenschaftliche Rundschau. lich freuen, sein Andenken durch diesen schönen Erfolg geehrt zu sehen. Wir vermögen aber zugleich die Frage nicht zu unterdrücken, ob es nicht eigentlich vor allem einem Deutschen geziemt hätte, die Entwickelungs- geschichte, die wir im Hinblick auf C. E. v. BAER, BiscHorrF, WAGNER, RATHKE, REMAK U. Ss. w. so gern und mit Recht als eine spezifisch deutsche Wissenschaft bezeichnen, um diese bedeutungsvolle Errungenschaft zu bereichern ? An trefflich vorgebildeten jungen Forschern, die mit Freuden einen solchen Auftrag übernommen haben würden, hätte es wahrlich nicht gefehlt. Und wenn man liest, welche Summen von unsern maßgebendsten wissenschaftlichen Gesellschaften und Akademien zur Unterstützung rein sammlerischer Reisen Jahr für Jahr dahingegeben werden, so kann man auch nicht am Vorhandensein der viel bescheideneren Mittel zweifeln, welche nötig gewesen wären, um ein so wichtiges Problem wie die Ent- wickelung der Monotremen zu lösen. Sollen wir auch im Reiche der biologischen Entdeckungen erst auf dem Plane erscheinen, wenn die Welt schon verteilt ist? B. VETTER. Philesephie. Philosophie der Mystik. Unter diesem Titel’ hat der in weiten Kreisen bekannte Verfasser des »Kampf ums Dasein am Himmel«, dann: »Die Planetenbewohner und die Nebularhypothese« — soeben der Öffentlichkeit ein Werk übergeben, das mit vollen Segeln dem Hafen zusteuert, dessen Lage wir bei Be- sprechung seiner Abhandlungen über das Wesen der Träume? ziemlich richtig gekennzeichnet haben. Der Hafen, in den wir unter seiner Führung einzulaufen haben, liegt in einer anderen Welt. Es ist dies zwar nicht im Sinn der alten Metaphysik zu verstehen, denn pu Prer ist Monist und Evolutionist: aber wie den Darwinismus, erfaßt er den Monismus in erweiterter Form. Sein Monismus weist eine kleine Spalte auf, die insofern keine Bedeutung haben soll, als sie innerhalb seiner selbst sich vollzieht; und was er als metaphysischen Darwinismus bezeichnet, ist dessen Anwendung auf die Entwickelung künftiger Formen. Wenn daher von einer anderen Welt gesprochen wird, so heißt dies bei ihm nicht notwendig: über unsere Erde hinaus, obwohl er zur Unsterblichkeitsfrage nicht ablehnend sich verhält und seine Lehre, welche das ganze Weltall ins Auge fabt, sogar die Möglichkeit unserer Versetzung auf einen an- deren Stern im Wege der Seelenwanderung oder Wiedergeburt nicht ausschließt; sondern es heibt: über unsere Sinnenwelt hinaus, aber auch nicht im gemeinen Sinn der Übersinnlichkeit. Diese andere Welt, die auch auf dieser Erde Raum hat, ist eigentlich untersinnlich, und wir ge- langen zu ihr, indem durch eine Verschiebung unserer Empfindungsschwelle die sinnliche Auffassung sich verdunkelt und unser inneres Leben auf- ! Die Philosophie der Mystik, von Dr. CarlduPrel. Leipzig, Ernst Günther’s Verlag 1885. Groß 8°. VII, 548 S. IM ® s. Kosmos XI, 1883, S. 44, 321, 435, 502, ferner 1884, I. Bd. S. 1. Wissenschaftliche Rundschan. 395 leuchtet wie ein Fixstern, der immer leuchtet, den wir aber nur sehen können, wenn die ihn überstrahlende Sonne vom Horizont verschwindet. In dieser anderen Welt geht alles mit natürlichen Dingen zu. Darum ist auch die mystische Aufschrift des Werkes nicht im alten Sinn zu nehmen. Bestätigen sich die Erwartungen, die der geehrte Verfasser vom Somnambulismus hegt, und erweist sich seine Ansicht über die Trans- cendentalität des Subjekts als stichhaltig, so wird dem Menschen die absolute Wahrheit zugänglich und es erhellt sich, wie der Verfasser ganz richtig bemerkt, das mystische Dunkel, welches heute noch den sogenannten tierischen Magnetismus umhüllt. Es würde dann, wenig- stens nach dieser Richtung, keine Mystik mehr geben. Wir möchten daher den Titel des vorliegenden Werkes als eine Art Trutzbanner be- zeichnen, dessen Schwingen die Bedeutung hat: ich bin auf jeden An- griff gefaßt. Das Werk zerfällt in sieben Abschnitte. I. Über die Entwickelungs- fähigkeit der Wissenschaft; II. Über die wissenschaftliche Bedeutung des Traumes; Ill. Der Traum als Dramatiker; IV. Der Somnambulismus: V. Der Traum ein Arzt; VI. Das Erinnerungsvermögen; VII. Die moni- stische Seelenlehre. I, II und Ill sind bereits im »Kosmos«, V im »Salon« veröffentlicht worden und erscheinen nun wesentlich erweitert und ver- bessert; IV, VI und VII sind unseres Wissens ganz neu’! und jedenfalls die bedeutenderen, insofern IV in das Wesen des Somnambulismus so tief eindringt, als es heute vom Standpunkt des Verfassers aus über- haupt möglich ist, VI und VII alle Konsequenzen ziehen ohne Scheu vor den etwaigen Folgen. Der Stoff wird durchweg meisterhaft behandelt. Du Prev ist ein Mann von umfassender wissenschaftlicher Bildung, von ganz ungewöhnlicher Belesenheit, dabei Schriftsteller durch und durch und von der gewinnendsten Art. Auf einem Fehlschluß wird man ihn nie ertappen ; seine Polemik ist brillant, edel selbst in der Leidenschaft, und jeder Zeile, die er schreibt, sieht man die Überzeugung an, die sie diktiert hat. Allein seine Überzeugung wurzelt in einem unvertilgbaren metaphysischen Bedürfnis. Er will einen neuen Ausweg und strebt da- nach mit aller Kraft. Diese Welt, wie sie dem einfachen Verstande sich offenbart, genügt ihm nicht. Wie es in seinem Herzen aussieht, sagt er unumwunden, indem er z. B. S. 472 jenen sich anschließt, welche »dieses Dasein nur als eine Prellerei ansehen könnten, wenn ihm der metaphysische Hintergrund fehlen würde«. Nichts liegt uns ferner, als ein solches Bedürfnis nicht zu begreifen; auch ohne es zu teilen, wissen wir es zu achten. Aber es erklärt uns die Trübung des Punktes, von welchem dieser helle Geist ausgeht. Es erklärt uns die Überhastung, mit der auf die bloße Hoffnung hin, daß in Zukunft die Träume aus der Mitte des Schlafes unserem Wissen zugänglich werden könnten, eine ganze Weltanschauung aufgebaut wird. Es erklärt uns endlich, wie ein Mann vom Schlage nu Prer's Scheinphilosophen, die auf dem Gebiete des Unbewußten und des tierischen Magnetismus es zu einer sehr zwei- ı VI ist gleichfalls bereits im Kosmos erschienen, Bd. XIII. 1885. S. 321, 435, 502. D. Red. 396 Wissenschaftliche Rundschau. « felhaften Bedeutung gebracht haben, in seinen Dienst nimmt und bis in die vierte Raumdimension (S. 406) sich versteigt. Wegen dieses subjektiven Moments, das mehr oder weniger jedem, folglich gewiß auch uns anhaftet, bestreiten wir nicht den Nutzen der vorliegenden Unternehmung. Mit dem bloßen Bekämpfen wird keine An- sicht aus der Welt geschafft. Erst müssen alle für sie sprechenden Gründe dargelegt sein, und dazu hat nur der für sie Eingenommene das nötige Geschick und die nötige Geduld. Allerdings darf er nicht jeder Unbefangenheit entbehren, was hier nicht der Fall ist. Wir übersehen nicht, daß der geehrte Verfasser die spiritistischen Medien ganz ignoriert. Damit zieht er nicht nur eine scharfe Linie zwischen einem gewissen geistreichen Geplauder und dem eigentlichen Schwindel; er schneidet auch mehr als die Hälfte aus dem Leibe des sogenannten tierischen Magnetismus heraus. Wenn er jedoch (S. 155—157) gegenüber Bra und PrEYER, welche am tierischen Magnetismus nichts geringeres als den Magnetiseur für überflüssig erklären, zwar beim Hypnotismus dessen Ent- behrlichkeit zugibt — womit er, vielleicht ohne zu wollen, den Mag- netiseur Hansen auf sein richtiges Niveau herabdrückt — aber dennoch das Vorhandensein eines Agens oder Fluidums annimmt, so genügt es nicht, daß er für seine Person auf den eigentlichen Rapport zwischen dem Magnetiseur und seinem Patienten kein Gewicht legt: dieser Streit muß ganz ausgetragen werden; denn in neuerer Zeit soll REICHENBACH s Od nicht mehr beobachtet werden, abgesehen davon, daß es nur ein ganz äußerlicher elektrischer Schimmer sein kann. Gibt es ein solches von dem Einen auf den Anderen übergehendes Fluid nicht, mit welchem das Urteil des ärztlichen Gehirns dem Sonnengeflecht der schlafenden Jung- frau zuströmen könnte: so wäre ein weiteres gutes Viertel des sogenann- ten tierischen Magnetismus über Bord geworfen und die bleibenden Leistungen der Somnambulen würden sich auf einfache Hausmittel redu- zieren, welche sie instinktiv kennen lernen, die ihnen aber nur im Schlaf einfallen. So weit können wir dem geehrten Verfasser, vorausgesetzt, daß durch seine Auffassung keine neue Verwirrung in den Begriff In- stinkt gebracht wird, zur Not folgen, und viel weiter geht auch er nicht anlangend die bisherigen praktischen Ergebnisse auf diesem Gebiete. Auch uns gilt das S. 154 erwähnte Zeugnis der französischen Akademie als beachtenswert, wenngleich wir an das Lesen mit der Magengrube noch immer nicht glauben. Auch uns gilt der eigentliche Skeptizismus als ein-Symptom geistiger Beschränktheit und wir werden es uns nie beikommen lassen, Thatsachen zu leugnen, bloß weil wir sie uns nicht erklären können. Selbst die Zeugen eines wirklichen Wunders werden wir solange für ehrlich halten, als wir keine Beweise gegen ihre Auf- richtigkeit haben. Nur der nie geirrt zu haben meint, kann über die Macht der Selbsttäuschung im Unklaren sein. Zudem ist auch pu PrEL darüber nicht in Zweifel, daß die bisherigen Experimente, fast nur an Kranken vorgenommen, große Schattenseiten haben und am allerwenig- sten für seinen Zweck, für die Ergründung der Wahrheit überhaupt taugen, nicht der positiven, dem sinnlichen Menschen zugänglichen, da- her von einem höhern Standpunkt aus immer relativen, nur für den Wissenschaftliche Rundschau. 397 Menschen wahren — sondern der absoluten und ewigen Wahrheit. Darum sagt er S. 135: »eine spätere Experimentalpsychologie wird den Som- nambulismus nur um so reiner darstellen, wenn sie den gesunden, wie- wohl seltener empfänglichen Menschen zum Objekt ihrer Versuche nimmt«. Eine solche Möglichkeit geben wir gerne zu und folglich auch die, dab es in Zukunft gelingen könne, einen im tiefsten Schlaf liegenden Menschen mittels des Somnambulismus zum Reden, zum Mitteilen seines geheimsten Wissens zu bewegen. Auf diese sehr schwankende Hoffnung aber — pu Preu sagt selbst, daß es durchaus noch nicht erwiesen sei, ob überhaupt der Mensch im Tiefschlaf träume — baut sich diese ganze neueste Weltanschauung auf. Wir gestehen unumwunden, daß uns heute noch. die Somnambulen als die Wahnsinnigen unter den Schlafenden erscheinen. Allein wir leugnen darum nicht die Möglichkeit, daß redende Tiefschläfer eines Bessern uns überzeugen. Wenn ein prinzipieller Dissens zwischen DU PrEL und uns besteht, so bezieht er sich nur auf den Grund, aus welchem unser verehrter Gegner heute schon von diesem Verfahren mit Bestimmtheit die Lösung des Welträtsels erwartet. Gegen diesen einen Punkt schwinden alle jene in nichts, die sonst noch zum Widerspruch oder zu einer scherzhaften Bemerkung uns reizen könnten. Sie sind auch in der That nebensächlich und pu Pren würde sicherlich in allem nachgeben, wenn ihm der eine allgemein zugestanden würde. Übrigens wollen wir auch in diesem Punkte soweit als nur irgend mög- lich mit ihm gehen. Wir geben daher gleich zu, daß die Empfindungs- schwelle für die äußere Reizungsfähigkeit der Sinne im Schlaf herab- gesetzt wird und dadurch für die inneren Reize steigt, so dab wir — wie beim Schließen der Augen im wachen Zustande eine Erinnerungs- vorstellung infolge der geringeren Ablenkung unserer Aufmerksamkeit lebendiger auftaucht — im Traum die an uns vorüberziehenden Bilder in einer Klarheit sehen, die wir wachend mittels des normalen Gedächt- nisses nie zu erreichen vermöchten. Zwar gilt uns der wache Mensch als der Normalmensch; aber darum geben wir nicht minder gerne zu, dab zum ganzen Menschen auch der schlafende und träumende Mensch gehört daß die anomalen Zustände wie Krankheit, Schwäche, Überspannt- heit u. s. w., zumal die notwendig und regelmäßig eintretenden, zu seiner Natur gehören, weshalb uns die frappantesten Leistungen des Ge- dächtnisses und der Phantasie im Traume, obwohl wir für diesen wie für den Schlaf noch über keine ganz genügende Erklärung verfügen, nicht als etwas erscheinen, das zu extravaganten Folgerungen uns be- rechtigen könnte. Traum und Schlaf betrachten wir als sinnliche Zu- stände; und da es die Haut, aus welcher gewiß auch für pu- Prer alle Sinnesthätigkeit sich entwickelt hat, auch inwendig gibt, so fehlt es uns nicht an jeglichem Anknüpfungspunkt, um die Traumerscheinungen den übrigen Erscheinungen anzureihen. Was wir dagegen ungern zugeben, aber zugeben müssen, ist, daß die unglückseligen Ausdrücke transcendentales Bewußtsein, transcenden- tales Ich, transcendentales Subjekt mißverstanden werden können. Nichtsdestoweniger erachten wir diese Ausdrücke für völlig mißverstanden, wenn sie, anstatt in rein kritischem Sinn als etwas Immanentes, als an 398 Wissenschaftliche Rundschau. und für sich existierende Dinge aufgefaßt werden. Allerdings kann, ja muß man das Bewußtsein des Träumenden vom Bewußtsein des Wachen- den unterscheiden; denn es ist teilweise das Ergebnis anderer Verhältnisse: allein sobald man es im Zusammenhang mit den es konstituierenden Organen betrachtet, so ist auch es in seiner Art eine empirische Er- scheinung, wie in diesem Bezuge zwischen unbewußter Pflanze, bewußtem Tiere und selbstbewußtem Menschen kein Unterschied ist, und liegt ihm das allen Erscheinungen gemeinsame Ansich zum Grunde. Es ist daher eine rein willkürliche, das Transcendentale in etwas Transcendentes ver- wandelnde, den Kritizismus in seiner Wurzel verleugnende Annahme, wenn man das Bewußtsein des Träumenden oder Somnambulen als das Ansich des wachenden Bewußtseins betrachtet und von ihm- Auf- schlüsse über das Ansich der Dinge oder, wie man oft lieber sagt, über das Welträtsel erwartet. Für den kritischen Verstand gibt es nur einen sinnlichen Menschen, dessen geistige Thätigkeit auf sinn- liche Erfahrung zurückführt, und es liegt einfach in der Natur dieses Menschen, auch schlafen und die Antwort auf manche Fragen ver- schlafen zu müssen. Auf alle Fragen Antwort geben zu wollen, über- läßt der Kritizismus der Metaphysik, der Mystik und dem naiven Ma- terialismus. Wir verkennen nicht das Verlockende gewisser Eigentümlichkeiten des Traums, wie z. B. der folgenden, auf welche die sogenannte drama- tische Spaltung des Ichs im Traum sich stützt und auf welche pu PrEL das größte Gewicht legt. Es kann sich einer den Namen einer Stadt nicht ins Gedächtnis zurückrufen, in welcher er einen bestimmten Mann kennen gelernt hat, und dieser Gedanke verfolgt ihn einige Tage. Da träumt er, jenem Mann zu begegnen, und dieser nennt ihm die Stadt. Es scheint die Regel zu sein, daß wir Dinge, deren wir wachend uns nicht entsinnen können, träumend einem anderen in den Mund legen. Und warum nicht? Der Gedanke, daß wir einer Sache uns nicht ent- sinnen, bleibt uns auch im Traum eingeprägt und es liegt uns am nächsten, die in einem Moment der Sammlung eintretende Erinnerung einem andern zuzuschreiben, und dies ganz besonders, wenn dieser mit der Sache in Verbindung steht und vielleicht wirklich sein Anblick uns darauf gebracht hat. Wenigstens finden wir diese Erklärung nicht so ungenügend, dab sie uns zwingen sollte, in der Person, welche uns im Traum den gewünschten Aufschluß gibt, unser klareres Ich, ein trans- cendentes Bewußtsein zu erblicken. Es kann nicht geleugnet werden, dab pu Pren diesen Fall wie gar viele Mitteilungen aus alter und neuer Zeit, an welchen sein Buch überreich ist, und vor allem den Vergleich mit den Fixsternen in wahrhaft bestrickender Weise verwertet; aber was hilft das, wenn seine Annahme betreffend das Bewußtsein eine ganz willkürliche ist? Er legt dem Umstande, daß wir im Traum für Zeit und Raum kein Verständnis haben, eine hohe Bedeutung bei. Spricht dies nicht vielmehr für eine niedere Stufe des Traumlebens? Kinder langen nach dem Monde und meinen oft, eine Stunde könne in einer Sekunde verfliegen. Auch wir stimmen SCHOPENHAUER zu, wenn er sagt, Kanr’s kategorischer Imperativ beruhe auf einer petitio principii. Ist es aber _Wissenschaftliche Rundschau. 399 etwa keine petitio principii, wenn pu Prer behauptet: >in der Stimme des Gewissens vernehmen wir das transcendentale Subjekt?« (S. 419.) Wie kommt’s, dab ein in der Wildnis aufwachsendes, der unbeirrten Führung seines transcendentalen Subjekts überlassenes Kind ganz gewissen- los aufwüchse? In ethischer Beziehung wüßten wir mit pu Prer’s An- schauung gar nichts anzufangen. Vielleicht findet der geehrte Autor, dab wir voreilig urteilen. Erst müsse der Tiefschlaf zum Reden gebracht werden, dann erst werde sich’s zeigen, wie elend das Stückwerk unseres jetzigen Wissens sei. Das Widersinnige an den Träumen rühre daher, dab wir fast nur von solchen aus dem Beginn oder Ende des Schlafes Kenntnis haben, bei welchen die noch nicht gänzlich zurückgetretene oder die wiederauftauchende Auben- welt störend eingreift. Das ist alles möglich; aber was thun wir, bis der Tiefschlaf spricht? Und wenn er endlich spricht und nach dem Bei- spiel des heute bekannten Somnambulismus in Symbolen spricht: wer wird uns die Symbole auslegen, wer uns verbürgen, daß der Redende bei Verstand ist? was wird uns die verläßliche Kontrolle ersetzen, welche — solang wir offenen Auges vorwärts schreiten — unsere jetzige, wenn auch mangelhafte, aber fürs Leben vollauf zureichende Erfahrung an der uns umgebenden Sinnenwelt findet? Soll es eine Art Priestertum geben, das die Aussprüche des seltenen, aber gesunden Somnambulismus verkündet? Ja, wenn bislang die Welt an den verschiedenen Priester- tümern nicht gar so wenig einladende Erfahrungen gemacht hätte! Oder sollen wir in Zukunft alle somnambul werden? Sollen wir alle »die Nacht unseres sinnlichen Bewußtseins abwarten, um unser transcendentales Subjekt keimen zu sehen« (S. 155)? Aber wenn, wie unser verehrter Verfasser selbst zugibt, der natürliche Somnambulismus fast nur bei Kranken — wenngleich als Heilmittel — vorkommt, so ist hundert gegen eins zu wetten, dab der künstliche die Gesunden, welche bekanntlich nicht ungestraft Heilmittel anwenden, krank machen wird. Nein, dafür geben wir unsere begrenzte, aber helle und gesunde Sinnenwelt nicht her. Der Verfasser kann nicht sagen, daß wir ihm fast nichts zugeben. Bis auf das transcendente Bewußtsein haben wir ihm alles zugegeben, und schließlich selbst dieses, wenn auch nicht zugegeben, so doch an- genommen, um bis in seine Ethik ihm zu folgen. Da sind wir erst recht stecken geblieben. Wir verstehen den von DU PREL so warm vertretenen »faustischen Drang«e. Wenn aber von diesem Du PrEn's erweiterter Dar- winismus sagt: wir können aus ihm »so sicher auf eine metaphysische Welt schließen, als aus dem abnorm verlängerten Insektenrüssel a priori auf einen korrespondierenden Blumenkelch«e — (S. 547) so »graut uns« vor diesem Faust wie vor aller Metaphysik. Faust’s Größe liegt im ungebrochenen Streben nach einem irdischschönen Augenblick. Graz, 4. Oktober 1884. B. CARNERI. A400 Litteratur und Kritik. Litteratur und Kritik. Von Ozean zu Ozean. Eine Schilderung des Weltmeeres und seines Lebens. Von A. v. SCHWEIGER-LERCHENFELD. Mit 200 Illustr., 12 Far- bendruckbildern, 15 kol. Karten und 30 Plänen im Text. Voll- ständig in 30 Lfen. Erste Lfg. Wien, A. Hartleben’s Verlag 1884. Eine gemeinverständlich geschriebene Ozeanographie im weitesten Sinn ist gewiß eines der zeitgemäßesten Werke, und schon darum läßt sich dem hier angekündigten Unternehmen der beste Erfolg voraussagen. Der Verf., durch seine populären Schilderungen hinlänglich bekannt, ver- spricht die neuesten geophysikalischen und meteorologischen Forschungen, die Tiefseeuntersuchungen und ihre Resultate für Geographie, Biologie und Geologie, die Bedeutung des Meeres für den Menschen in alter und neuer Zeit nach jeder Richtung vollständig und leicht faßlich vorzuführen ; das Buch wird demgemäß in folgende Hauptabteilungen zerfallen: 1. Das Meer (Physik des Meeres). 2. Die Ozeane (Küsten und Inseln, Topo- graphie der Ozeane). 3. Die Organismen im Meere. 4. Das Leben auf dem Meere (Ethnographie, Fischer- und Schifferleben). 5. Das Meer im Kulturleben (Kosmogonie, Geschichte und Sage, Handel und Seereisen, die Poesie des Meeres). Daß die Ausstattung des Buches mit Abbildungen eine ungemein reiche und im ganzen vorzügliche und zweckentsprechende werden wird, läßt schon das vorliegende 1. Heft erkennen, dessen Text eine schwungvolle, aber bereits durch zahlreiche geschickt eingeflochtene sachliche Angaben erläuterte »Einführung« und den Anfang des Kapitels über die Tiefsee bringt. Wir glauben das Werk als eine wertvolle Be- reicherung unserer populär-naturwissenschaftlichen Litteratur aufs wärmste empfehlen zu dürfen. Berichtigung. Zu dem auf S. 155 des vorigen Bandes in dem Referat „über blaugefärbtes Steinsalz“ gebrauchten Satze: — „ÜCHSENIUS schrieb die Blaufärbung der An- wesenheit geringer Mengen freien Schwefels zu, doch ist... auch diese Annahme bereits... genügend widerlegt“ — erlaube ich mir die Bemerkung, daß meiner- seits nur eine Vermutung ausgesprochen worden ist; denn auf S. 117 des Werkes: Die Bildung der Steinsalzlager, heißt es: „Es ist bis jetzt noch nicht gelungen, den blauen Farbstoff zu ermitteln; wahrscheinlich ist er Schwefel.“ — Eine An- nahme liegt also nicht vor, und demnach kann auch nur von der Nichtbestätigung einer schwachen Vermutung die Rede sein. Marburg. CARL ÖCHSENIUS. Empfangsbestätigung. Als Beitrag zur Hermann Müller-Stiftung sind vor kurzem noch M. 10. — von zwei ungenannt sein wollenden Verehrern H. MüLreEr's bei uns eingegangen, wofür wir hiermit den Gebern unsern besten Dank aussprechen. Die Redaktion. Ausgegeben den 10. November 1884. Kosmos, 1884. Il. Bd. IM, > ) {{ } j \ | >> ei pm — = erh £ > = Bean E aM ZN) / A ul HESS HN | DW 7) Fig. 10. Fi ig. 6. Fig. 8. D ö ae N a Are a ee 5 Dur % ) Kosmos, 1884. II. Bd. E Tafel 11. WR ; WE MIA, WERL, N Die Entstehung der Sprache durch Nachahmung; des schalles. Von Theodor Ourti. (Schluß,.) VI. Schauen wir nun zurück, so überblicken wir bereits eine ziemliche Anzahl Laute, aus denen Wörter sich haben bilden können. Der Ver- kehr zwischen Mann und Weib, wie der Verkehr beider mit dem Kinde und mit der Natur, führte sie zu Vorstellungen, welche mit Tönen zu- sammenfielen und vermöge des innern Rapports zwischen Auge und Ohr durch den Klang wieder wachgerufen wurden, und die Töne selbst gestalteten sich, bezogen auf die Dinge, Vorgänge und Zustände, welche vorgestellt waren, zu Wörtern. Um es aber zu veranschaulichen, wie außerordentlich viele Wortbegriffe und Begriffswörter auch außerhalb des ge- schilderten Bereiches durch Schallnachahmung gebildet werden konnten, wollen wir bei diesem Punkte noch einige Zeit verweilen. Wenn jemand behauptete, dab die Wurzel pu reinigen bedeute, so würden wir in derselben wohl nichts finden, was uns an ihre Ent- stehung durch Schallnachahmung glauben ließe. Wenn wir aber pu als ein ursprünglich Vielsilbiges auffassen, pupupupu, so müssen wir bei dessen langsamer oder dessen rascher Aussprache an das Blasen des Mundes denken, und von blasen zu reinigen hat der Gedanke nur einen Schritt. Wie papa und mama zur Bezeichnung einer Reihe von Vorstellungen verwendet werden konnten, je nachdem sie zufällig be- zogen wurden, so kann pu oder pupupupu blasen, reinigen, es kann auch den blasenden Mund, kann die gereinigte Fläche bedeuten. Eine Wurzel plu, besonders wenn wir sie durch Wiederholung verlängern, wird uns an ein starkes Wehen des Windes erinnern. Sie kann wiederum die verschiedensten Bedeutungen haben: wehen, blasen, Wind, auch Welle, oder die Bedeutung des ganzen Komplexes einer Sturmeserscheinung, also stürmisch, Sturm, und desgleichen das Fahr- zeug, das Schiff, das auf den Wellen dahingetrieben wird. Kosmos 1884, II. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XV), 26 402 Theodor Curti, Die Entstehung der Sprache Treten wir mit dem Fuße auf, so hören wir einen Schall, der etwa mit pa wiedergegeben werden könnte. Mehrfaches Auftreten würde als papapapa in unser Ohr tönen. Dieses einzige Elementarwort konnte aber auch zur Wortbezeichnung werden fürstampfen, gehen, schreiten, Fußtapfen in den Boden zeichnen, für Fuß, für beide Füße, für Fuß und Bein. Eine Wurzel duch würde uns schon fremder klingen; wir könnten ihr nicht sofort eine onomatopoötische Wirkung zuschreiben. Spreche man aber einmal duchduchduchduch und denke sich darunter das Geräusch, welches ein säugendes Kind an der Brust der Mutter ver- ursacht, so wird uns dieser Wortklang nicht mehr so ungewöhnlich be- rühren. Es könnte nun duch das Kind, die Brust, die Mutter, ferner säugen oder auch saugen, Milch, süß, Getränk, Flüssigkeit und anderes bedeuten. Eine Wurzel ruk als ein Schallwort anzusehen, liegt uns des- gleichen fern. Dennoch läßt sich gewiß mehr als ein Vorgang ersinnen, wo sie als Schallwort hätte entstehen können. Wir wollen uns beispiels- weise die Erfindung des Feuers vergegenwärtigen. Wurde da ein Scheit quer auf dem andern gerieben oder ein Hölzchen in einem Baumstamm gedreht, so war ein Geräusch zu vernehmen, und dieses glaubte man vielleicht am besten nachzubilden, indem man rukrukrukruk sprach. Die Nachahmung kann übrigens auch anders gewesen sein, bloß eine Verbindung der Konsonanten: rrkk, oder möglicherweise arkark und daraus wäre schließlich etwa rak oder rek oder ruk geworden. Die Bedeutung von ruk aber konnte, wenn wir wieder eine Vorstellungs- reihe entwickeln, diejenige einer Menge von Gegenständen, Thätigkeiten und Zuständen sein: so Hölzchen, Baum, reiben, drehen, brennen, rauchen, flammen, glänzen, Feuer, Licht, hell,Brand, Schmerz. Es ist eines nicht zu verkennen: daß nämlich gar viele Wurzel- wörter, welche wir nicht mehr dafür halten, onomatapoötische, ursprüng- lich einen Schall bezeichnende gewesen sein können. Unser heutiges Sprachgefühl wäre in dieser Sache ein schlechter Richter. Wir sind auf die Schallnachahmung als Mittel der Sprachbildung nicht mehr an- gewiesen, und deshalb ist uns auch die Natur nicht in gleicher Weise mehr ein Tönendes wie unsern Ureltern. Wir unterscheiden tausenderlei, was sie nicht unterschieden haben, aber die Laute, welche Menschen, Tiere und die Natur erklingen lassen — von der Musik kann hier nicht die Rede sein — unterscheiden wir nicht so gut wie sie dieselben, im Kampfe ihr Ohr schärfend, zu unterscheiden wußten. Bekanntlich zeichnen sich die Naturvölker durch den Besitz eines feinen Gehöres aus. Zudem ist — beides bedingt einander — unser Vergnügen am Schalle nicht so groß wie wir es noch am Kinde wahrnehmen und wie es bei den Na- turvölkern sich kund gibt, so daß uns auch deshalb die Zucht fehlt, um das ganze Reich der Onomatopöie kennen zu lernen. Ob die gewählten Beispiele nun Wörter seien, die in den Sprachen wirklich als letzte Bestandteile, in welche die heutigen Wörter grammatisch zerlegt werden können, sich vorfinden, oder ob dem nicht so, verschlägt im Grunde nichts. Es gilt Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten dar- durch Nachahmung des Schalles. II. 403 zuthun; nicht auf die gebrauchten Beispiele, sondern auf die entwickelten Prinzipien kommt es an — nicht darauf, ob jene vorhandenen Sprachen entnommen, sondern darauf, ob diese die Bildung der Wörter zu erklären im stande seien. In der That sind aber die Beispiele, die ich wählte, Sans- kritwurzeln oder solche der suppositionellen indo-europäischen Ursprache: pu heißt »reinigen«e — plu bedeutet »schwimmen«, wovon sich das griechische sr/&w ableitet — pa heißt allerdings »erhalten«, »schützene, »herrschen«, hat also nicht die ihm beigelegten Bedeutungen — duch ist >melken< und wie man auch glaubt: »ziehen»ich greife nach den Gegenständen«. In einen zusammengezogen aber bedeuten beide Sätze: »Die Mutter ist ein Gegenstand.« Sollte die Körperlichkeit der Mutter ausgedrückt werden, so trat die Erinnerung an den Schall in beiden Vorstellungsreihen zurück, schwächte sich ab, wurde zuletzt eliminiert wie gleiche Größen in einer mathematischen Gleichung. In ma-ta ist mama nun ein anderes geworden, der Be- griff hat sich verengt; mit ta trat die Gegenständlichkeit in die Vor- stellungsreihe hinein und einige andere Glieder wurden aus der Vor- stellungsreihe hinausgeschoben. Ebenso hat sich der Begriff ta verengt; er ist inma-ta um einige Glieder der Vorstellungsreihe ärmer ge- worden. Verfahren wir statt synthetisch analytisch, so werden wir, mama- ta in seine Teile auflösend, nur in die Hände erhalten, was jedes im Zusammenhange bedeutet hat: mama ist ein Gegenstand geworden, ta der Index dieses Gegenstandes. Dab dieser Gegenstand ein anderer Gegenstand als andere, kann nur daraus ersehen werden, daß andere Gegen- stände pa-ta, ruk-ta, va-ta heißen, und um zu wissen, daß mama einst »säugen« bedeutete, ta »greifen«, müssen wir diese Laute erst in andern Verbindungen auffinden, wo ihnen jene Bedeutung noch verblieben ist. Die Vorstellung von dem Schalle, welche die erste Vorstellung war, liegt weiter zurück, und nur wenn wir die verlorenen Glieder bis zu ihr hinaufführen, gelangen wir zu dem Angelpunkte eines gleichen Prin- zips der Wortbildunge. durch Nachahmung des Schalles. II. 407 Denken wir uns auch duch und mama in Verbindung gebracht, so haben wir neben einander die zwei Vorstellungsreihen: »Ich ziehe Milch aus dem Euter der Kuh« und »Du, die mir zu trinken gibt.« Das würde durch die Verbindung eine neue Vorstellungsreihe erzeugen : »Die Kuh wird von der Mutter gemolken«, »es milkt die Mutter«, »die Mutter milkt«, »die Mutter ist eine Melkerin«, was alles wesentlich das- selbe bedeutet und was wir hier alles für einander setzen dürfen, da für unsere Beweisführung nicht die Gedanken- und Wortfolge maßgebend sein kann, sondern nur das Schicksal der Vorstellungsreihen Gegenstand unserer Untersuchung ist. In dem neuen Worte duch-mama oder mama-duch sind die Vorstellungen, welche sich mit dem Schall der Laute mama und duch zuerst verbanden, erloschen. Wir denken bei seiner Aussprache vielleicht noch an den Schall, der beim Melken ent- steht, aber nicht mehr an den, der beim Säugen entsteht; daß die Mutter die Kuh milkt, ist das hauptsächliche, und in mama-duch bedeutet mama somit eine Person, duch das Melken. Wir hören beim Ge- brauche des Wortes mama-ta die Schalle mamamama und duch- duchduchduch nicht mehr und sehen auch das Kind nicht mehr an der Brust der Mutter: aber wir sehen eine Person, welche vormals ein Kind stillte, wie sie jetzt mit Melken beschäftigt ist. Die Gesichts- felder beider Vorstellungen sind jedes kleiner und beide zusammen sind sie ein anderes geworden, welches größer ist als jedes allein war, gerade so, wie wenn wir beim Sehen mit einem Auge, dann mit dem andern und zuletzt mit beiden in jenen zwei ersten Fällen weiter nach rechts oder nach links, im letztern Falle aber zwar nicht soweit nach rechts oder links sehen, aber ein größeres Gebiet, als jedes der frühern war, vor uns wahrnehmen. Es ist derselbe Prozeß — den ich erwähne, um kein Mißverständ- nis aufkommen zu lassen — wenn ein Laut das Gefäß von Begriffen wird, die man versucht sein möchte, Nüancen eines und desselben Be- griffes zu nennen. Ein Beispiel soll darthun, was ich meine. Wenn ein Mensch ruk sagte, so bedeutete dies nach unserer Annahme: »Ich werde im Walde ein Drehholz in den Baum drehen.< Man denke sich, daß er nun den Himmel betrachtete, als es blitzte.e Er mag nach dem- selben gezeigt und ruk-ta gerufen haben, denn seine Vorstellungsweise und die andere »Ich greife nach den Gegenständen« schmolz zusammen in diese dritte: »Der Himmel brennt« oder »Es blitzt<. Das Leuchten des Blitzes war ein anderes als dasjenige des brennenden Holzes und in manchen Verbindungen konnte ruk seitdem »blitzen< bedeuten, wie es im andern »brennen« bedeutete. Hieß die Nacht nu, so konnte nu- ruk der Glanz der Morgensonne sein, welche der Nacht folgte — der Tag — und hier war die Lichterscheinung wieder eine andere; ruk konnte in Verbindungen, welche sich von diesem Punkte aus knüpften, >scheinen<, »glänzen« bedeuten. Doch wenn man genauer zusieht, so sind diese Vorstellungsreihen dieselben wie die frühern; je die verwand- ten Glieder rücken zusammen, die andern treten zurück; ein neues Wort mit neuer Bedeutung entstand, und ist es immer eine Lichterscheinung ge- wesen, welche damit bezeichnet wurde, so war sie doch jedesmal eine andere. 408 2 Theodor Curti, Die Entstehung der Sprache An diesem Beispiel könnte zwar getadelt werden, daß ruk, wenn der Laut von der Erfindung des Feuers hergenommen war, schwerlich zur Bezeichnung des Blitzes und der Morgensonne verwendet worden ist, weil diese die Sinne des Menschen anregten, ehe derselbe das Feuer erfand. Aber wir hätten auch umgekehrt vom Rollen des Donners oder vom Rufe der Tierstimmen am Morgen Schallwörter bilden und die Vor- stellungsreihen zum Brennen des Holzes hinleiten können. Der Laut ward Wort, indem er auf eine Reihe von Vor- stellungen bezogen wurde, welche einer Reihe von Wahrnehm- ungen entsprachen. Das Wort bedeutete diese Vorstellungen und begriff sie in sich. Bei Verbindung zweier Worte mit einander traten aber diejenigen Vorstellungen zurück, weiche für den Zweck, einen neuen Begriff zu schaffen, unwesentlich waren, und es bildete sich aus den dafür wesentlichen Vorstellungen eine neue Vorstellungsreihe, die in ihrer Totalität den neuen Begriff ausmachte. Das neue Wort hatte eine andere Bedeutung, war ein anderer Wortbegriff, ersteres, weil die Vor- stellungen nur noch zu einem Teile dieselben waren, letzteres, weil der Umfang der Vorstellungen sich verändert hatte. Die Bedeutung eines Wortes erfahren wir, indem wir es deuten, auslegen, also auf die von ihm repräsentierten Vorstellungen hindeuten, sie auseinander legen; ein Wort, das heißt: seinen Sinn, begreifen wir, indem wir jene Vorstellungen in ihrem Zusammenhange auffassen. Aus dem eingeengten Begriff hatten die Vorstellungen von einer Schallgebung verschwinden müssen, das neue Wort konnte sie nicht mehr bedeuten. So verloren die Worte oder (da wir jetzt an die grammatische Technik denken) die Wörter ihre onoma- topoetischen Bedeutungen. Der Laut blieb, aber als Wort repräsen- tierte er andere Vorstellungen. Sagen wir dasselbe noch einmal in umgekehrter Folge und in einem einzigen Satze: Die Sprache, das Mittel der Gedanken- darstellung durch Wörter, welche nicht mehr dsesei ben Vorstellungen zu erwecken brauchen, die ihr Laut ursprünglich, erweckte,. ist in ihrem letzten Bestangde die Nachahmung der Naturlaute zu dem Zwecke, bei Zweien oder Mehreren gemeinsame Vorstellungen hervor- zurufen. Dergestalt sollte aber, glaube ich, klar geworden sein, warum wir in den Wörtern, auch wenn man dieselben auf jene Bestandteile zurück- führt, welche die Philologen Wurzeln nennen, ein onomatopoötisches Element oft nicht mehr zu ermitteln vermögen. Selbst wenn alle diejenigen onomatopoötischen Bildungen, welche man allgemeiner als solche gelten läßt, wie etwa das chinesische miau — Katze, das grönländische m ek = Ziege und das deutsche wauwau=— Hund ihre heutige Lautform nur der Ablautung verdanken würden und also nur scheinbare Onomatopöien wären, so könnten sie an ihrer Ursprungs- quelle gleichwohl onomatopoetisch gewesen sein, weil die früheste uns bekannte Lautform eines Wortes, um der Onomatopöie ihre Entstehung zu verdanken, nicht notwendig noch eine onomatopoetische Bedeutung zu haben braucht. Denn diese früheste uns bekannte Lautform, eine u re durch Nachahmung des Schalles. II. 409 Wurzel, kann sich von dem ersten bedeuteten Laut, dem Urwort, in Laut und Bedeutung schon entfernt haben. In der Mehrheit der Fälle wird auch eine onomatopoetische Be- deutung der Wörter aus dem folgenden einleuchtenden Grunde nicht zu ermitteln sein: deswegen nicht, weil die Sprachbildung sich natürlich von der Bezeichnung onomatopoötischer Vorstellungen wegbewegte, als sie sich infolge des Besitzes anderer Mittel, wie der Zusammensetzung und Be- griffsübertragung auf die Schallnachahmung weniger angewiesen sah, auch die sprechenden Individuen, durch eine leicht begreifliche Wechselwirk- ung, ihr Ohr nicht mehr zu onomatopoetischen Zwecken übten, son- dern seine Ausbildung mehr nach der Seite des Rhythmus und der Musik hin pflegten. Die Schriftsprache, mit welcher schon eine gewisse Gelehr- samkeit beginnt, und die Dichtkunst waren der Onomatopöie ebenfalls eher feindliche als freundliche Mächte. Man fühlte nur das Bedürfnis — und die bildliche Redeweise unterstützte diese Neigung trotz ihres Hanges zur Tonmalerei — manche Dinge, welche unter demselben Laute begriffen worden waren, besser zu unterscheiden oder denselben Gegen- stand nach verschiedenen Merkmalen zu nennen, das Pferd beispielsweise, wenn es mit andern Tieren das so und so Rufende geheiben hatte, öfter das Schnelle oder das Springende oder das Ziehende, was allerdings auch nur durch Anwendung ursprünglich onomatopoötischer Wörter geschehen konnte, wobei aber infolge der Übertragung die Erinnerung an die ono- matopoetische Herkunft sich verlieren mußte. VHL Es bleibt uns noch eine einzige Frage zu erledigen übrig: wie es denn möglich geworden sei, dab eine ‚größere Zahl Menschen einander zu verstehen im stande waren, wenn ein Laut so verschiedene Vorstell- ungen bezeichnete und die Bedeutung der ersten Wörter sich verändern konnte. Dann mußten, sobald sich diese Menschen zerstreuten, die einen für die gleichen Begriffe ganz andere Namen gebrauchen als die andern! ? Wer aber durch das Gebiet einer Sprache wandert, der macht noch heute die Erfahrung, daß bei vielen gleichen Wörtern der Dialekte die Bedeutung eine verschiedene ist, und von Negervölkern hat man behaup- tet, ihre Sprache sei einem derartigen Wechsel unterworfen, daß Nach- barn oft außer Verständnis mit einander geraten, oder es sind doch auf engem Gebiete die Sprachungleichheiten auffallende. Es ist besonders die Schriftsprache, welche unter den Angehörigen der zivilisierten Natio- nen die Einheit des Verständnisses erhält. So gab es ähnlich schon im Jugendalter der Sprache Faktoren, welche eine gleiche Aufgabe erfüllten. Hatten sich die Begriffe noch nicht sehr geschieden, so war es für das Vorstellungsvermögen auch weniger schwer, den einen dem andern wieder zu nähern. Sodann konnte, wovon die chinesische Sprache Beispiele gibt, durch die Nebeneinanderstellung zweier Wörter von gleicher Be- deutung der Wortsinn deutlicher gemacht werden. Die Gebärde war ebenfalls ein wirksames Hilfsmittel. Fermer gehört hierher die Neigung der Menschen, Sprache und Geste nach Personen, die bei ihnen Autori- 410 Theodor Curti, Die Entstehung der Sprache etc. II. tät besitzen, einzurichten, so daß die Sprache des Ältesten der Familie oder des Stammes einigermaßen Regel machte; nur wollen wir dabei nicht glauben, es habe der Älteste gleichsam das Amt eines Sprach- präfekten geübt; denn wäre dem so, dann würden wohl die Verwandt- schaftsnamen, worunter sein eigener war, kaum so vieldeutig gewesen sein. Der Verkehr glich Verschiedenheiten aus und schuf eine sehr grobe Zahl gemeinsamer Benennungen für Entdeckungen und Erfindungen, Werkzeuge und Handelsartikel. Angelegenheiten des Stammes und ge- meinsamer Religionsübung führten zu einer Gemeinsprache und nach Er- findung der Schrift mußten die Sprachbesonderheiten der Kasten, welche die Schrift pflegten, für größere Kreise Gemeingültigkeit erhalten. Was seitdem oft im großen geschehen, hat sich damals schon im kleinen er- eignet; ähnliche Erscheinungen wie die Ausbildung einer Verkehrs-, Staats-, Kirchen- und Litterarsprache erhielten oder begründeten aufs neue die Spracheinheit. Wäre die Beziehung zwischen Laut und Begriff eine geistig innere, nicht eine nur durch die Onomatopöie geschaffene und sonst zufällige, so könnte man es sich nicht erklären, wie die Lautformen der Verwandt- schaftsnamen selbst in stammverwandten Sprachen verschiedene Be- griffe enthalten oder verschiedene Lautformen für denselben Begriff be- stehen. Unsere Darstellung aber hat diese Erscheinung erklärt und so ist auch das scheinbare Wirrsal, welches dieselbe, wie man einzuwerfen geneigt sein möchte, bei der Sprachbildung hervorrief, zum Beweise für sie geworden. Die Individualität der Sprachen aber, im Sinne ihres ganzen Baues und Geistes genommen, dürfte ebenso schon in einer sehr entlegenen Region der Sprachgeschichte sich zu entfalten begonnen haben, nicht erst als die Lautform zu zerfallen begann. Wenn die Wurzelwörter ver- schiedener Sprachen Thätigkeiten oder Gegenstände oder Zustände oder mehrere dieser Kategorien zugleich bezeichnen, so finden wir schon hierin einen vielsagenden Unterschied. Sei es, dab die Sprachen von einer Quelle, sei es, dab sie von mehreren Quellen herkamen: die Vor- stellungsreihen, welche an die Schallgebung geknüpft waren, gestalteten sich bei ihnen nicht in gleicher Weise; sie blieben bei den einen ge- mischte, bei den andern erfüllten sie sich entweder mit verbalen oder mit substantivischen oder mit adjektivischen Begriffen. Ihre Art, die Wahrnehmungen in Vorstellungen auszugestalten, mub somit eine ver- schiedene gewesen sein. Sollten Völker, welche schon frühe darauf an- gewiesen waren, zu arbeiten und die zahlreichen Verrichtungen kultu- reller Thätigkeit vorzunehmen, zu Wortbegriffen hauptsächlich Thätig- keitsbegriffe geschaffen haben — andere, welchen die Natur ihr Antlitz in bunter Fülle und jähem Wechsel zeigte, mehr auf die Merkmale, und wieder andere, einen ruhigern Weg beschreitend, mehr auf die Gegen- stände, welche für die Wahrnehmung die Summe der Merkmale sind, geachtet haben? Mein Gedankengang führt mich dazu, diese Frage auf- zuwerfen. Weder die Annahme eines gemeinsamen Ursprungs aller Sprachen noch die ihr entgegengesetzte kommt damit in Konflikt, und wenn nicht gebieterisch, so ist doch die versuchte Deutung auch nicht gekünstelt. K. Fuchs, Titus Lucretius Carus. III. 411 War der Ursprung der Sprachen mehrfach, so war auch eine gröbere Prädisposition zu verschiedener Ausgestaltung vorhanden; war er der- selbe, so ist zu sagen, daß die zur Wortbedeutung verwendeten Urlaute, Komplexivvorstellungen repräsentierend, so lange Zeit die einzigen Sprach- elemente blieben, daß mittlerweile die redende Menschheit sich weit über die Erde ausbreiten konnte und unter verschiedenen Himmelsstrichen wie bei verschiedenen Beschäftigungen und Bedürfnissen die Wortform mehr oder ganz Thätiges, Gegenständliches oder Zuständliches zu ihrem Inhalte wählte. Es widerspricht somit auch unter diesem Gesichtspunkte der Be- trachtung weder die Annahme einer monophyletischen noch diejenige einer polyphyletischen Entstehung der Sprache unserer Lehre, daß die Nachahmung des Schalles das einzige Mittel gewesen sei, Vorstellungen in Worten auszudrücken, daß sich die Herkunft aller Wörter so erklären lasse und daß die Onomatopöie im Sinne der Schallnachahmung als das originäre sprachbildende Prinzip anerkannt werden müsse. Titus Lucretius Carus. Von K. Fuchs (Ödenburg). (Schluß) 5. Meteorologie, Geologie. Obwohl Luckez über diese Dinge weitläufig spricht, will ich nur einzelnes herausheben. Die Gewitterwolken bergen im Gegensatze zu denan- deren Wolken eine außerordentliche Menge von lebendiger Kraft, die besonders in den Wärmestoffen, welche die Wolken enthalten, aufgespeichert ist. Diese Wärmestoffe können namentlich zwei Quellen haben. Sie können während der Wanderungen der Wolken durch Reibung der Luftschichten entstanden sein, wie ja auch eine Bleikugel durch Reib- ung beliebig oft bis zum Schmelzpunkt erhitzt werden kann. Sie können auch der Sonne entstammen, indem die Wolken den von der Sonne zur Erde sich ergießenden Wärmestoften den Durchgang nicht gestatten und dieselben in sich aufspeichern; welch’ große lebendige Kraft aber die Sonnenstrahlen bergen, ersieht man daraus, daß ein Sonnenstrahl die Molekularstruktur des Auges in einem Momente zerstören und dadurch das Auge blenden kann. Der Blitz besteht darin, daß die Atome der Wärmestoffe, in deren schneller Bewegung die aufgespeicherte lebendige Kraft liegt, aus irgend einer Ursache parallele Bahnen bekommen und somit gleich einem Geschosse dahinschießen (wie oben geschildert worden). Die Wirkungen des Blitzes werden durch die plötzliche Erhitzung der 412 K. Fuchs, Titus Lueretius Carus. II. getroffenen Körper verursacht, indem sie von den daherschießenden Wärmestoffen durchdrungen werden. Die Erscheinung des Donners ist analog dem Zischen des Wassers, wenn ein glühendes Eisen hin- eingesteckt wird. Erdbeben und Vulkanismus betrachtet LucrEz als verwandte FEr- scheinungen und bespricht sie VI. 535— 702. Ein Prinzip der Gastheorie, das er hierbei anwendet, muß ich aber nochmals aussprechen. Nach unserer heutigen Gastheorie ist der Druck, den ein Gas auf die Gefäßwände aus- übt, ein vollkommen gleichmäßiger, weil die Stöße, die die Gasmole- küle gegen die Wand ausführen, sich so gleichmäßig verteilen, daß auf gleiche Zeiten gleich viel Stöbe fallen. Zugleich merkt man im Innern des Gases keine Strömungen, weil an jeder Stelle die Moleküle nach allen Richtungen fliegen. Lucrez hält es aber für möglich, daß gelegentlich die Moleküle in einem Gase sich gleichsam in Strömen oder Ballen oder Wellen bewegen, so daß im Innern des Gases sich heftiges Stürmen zeigt und die Gefäbwände daher keinen konstanten Druck, sondern ruck- weise Stöße erhalten, die aber, weil stets eine große Menge Atome auf einmal anprallt, überaus heftig sind. Diese Form eines Gases will ich die Sturmform nennen. Luckzz kennt eben noch nicht das Ergebnis der Wahrscheinlichkeitsrechnung, das auch wir nicht seit sehr langer Zeit kennen, daß diese Bewegungsform, die an sich vollkommen möglich ist, in sehr kurzer Zeit in die scheinbar ruhende Form mit konstantem Drucke übergehen müßte. Luckzz unterscheidet nun 4 Typen von Erd- beben, die er auf ebensoviele verschiedene Ursachen zurückführt, nämlich Einsturz- (scharfe Rucke), Fluktuations- (horizontale Schwank- ungen), Undulations- (vertikale Schwankungen) und Expansions- erdbeben (allgemeines Beben, Klüftebildung). Die beiden ersteren beruhen auf Einsturz resp. Rutschungen der Deckschichten von unter- irdischen, durch Wasser erodierten Höhlungen, die letzteren auf dem plötzlichen Druck von im Innern der Erde entstandenen Gasen, welche in die »Sturmform« übergehen !. Die vulkanischen Erscheinungen (VI. 647—679) werden von den Menschen vielfach falsch beurteilt. Einerseits findet man es ganz natürlich, daß der Himmel voll Sterne ist; und doch gäbe es für uns kein srößeres Wunder, als wenn die Sterne plötzlich erst heute am Himmel sicht- bar würden und doch nicht auf unsere Köpfe fielen; hier unterschätzen wir eine wirklich wunderbare Erscheinung. Anderseits meinen wir, dab die vulkanischen Erscheinungen nur durch übernatürliche Kräfte verursacht werden können; und doch sind sie im Verhältnis zum Universum gerade so minimale Erscheinungen, wie wenn wir Fieber haben; und gewiß werden die vulkanischen Erscheinungen durch ganz dieselben einfachen Gesetze bestimmt wie etwa unser Kopfweh oder Augenschmerz. Die vulkanischen Eruptionen sind im wesentlichen eine höhere Form der Expansionserdbeben. Himmel und Erde sind voll von Stoffen, die in unseren Körper gelangend dessen chemischen Bau derart beein- flussen, daß daraus die erschreckendsten Krankheitserscheinungen re- ı VI. 540-551; 552-556 ; 557577; 577—607. K. Fuchs, Titus Lucretius Carus. II. 413 sultieren. Himmel und Erde enthalten aber auch genug Stoffe, um den chemischen Bau auch der Erde zu verändern. Jede Änderung durch einen chemischen Prozeß hat aber auch Änderungen der physikalischen Eigenschaften undinder Folge Änderungen dermechanischen Erscheinungen zur Folge. Dieser Satz findet auch auf die vulkanischen Erscheinungen seine Anwendung. Unter den Vulkanen befinden sich große Gesteinsmassen (silices). Es sammeln sich zwischen diesen zunächst enorme Gasmassen, die wohl das Produkt chemischer Prozesse sind; das treibende Agens bei den Erup- tionen sind Gase von hoher Spannung. Diese Gase kommen in die Sturmform und verursachen bei ihren Stürmen zwischen den Gesteinen durch Reibung die Bildung von Wärme. Endlich ist so viel Wärme gebildet, daß die Gesteine schmelzen, und so viel Gas, daß die Erddecke für sie zu schwach wird, es treten dann die Erscheinungen des Expansionserdbebens auf, der Krater öffnet sich und die gespannten und erhitzten Gase schleudern die geschmolzenen Gesteinsmassen aus. Lucrez führt mehrere geographische Orte namentlich an, an denen Gas- exhalationen konstant stattfinden. Hier möge die geniale Ansicht des Luckez über Sonnenwärme, die sich kühn mutatis mutandis unseren heutigen Ansichten an die Seite stellen kann, folgen: >(V. S. 591.) Man braucht sich nicht zu wundern, daß die Sonne seit so vielen Jahrtausenden mit ungeschwächter Kraft so viel Wärme und Licht spendet. Man kann voraussetzen, daß die Atome, in welche die ausgeworienen Licht- und Wärmemoleküle nach den früheren Theorien endlich doch zerschellen (gleich den Duftstoffen), durch Diffusion wieder zur Sonne gelangen, wo sie abermals zu Licht- und Wärmestoffen vereint und nochmals ausgeworfen werden. Die Sonne ist dann gleich- sam nur der Ort des Aufsteigens der großen Licht- und Wärmequelle, und die Atome der Licht- und Wärmestoffe sind dem Wasser gleich in ewigem Kreislaufe.« >(V. 608.) Vielleicht hat auch die Sonne einen un- gleichgrößerenlichtlosenGluthof, derdurch keinen Glanz bezeichnet ist.« 6. Physiologie. Mehrere der wichtigsten Sätze der Physiologie sind bereits ent- wickelt worden. Ich will sie kurz wiederholen. Die Erscheinungen der Lebewelt sind ausschließlich durch die Ge- setze der Chemie bestimmt. Durch den chemischen Bau des Embryo ist bereits festgestellt, was aus ihm sich entwickeln kann. Die konstituierenden Stoffe eines organischen Körpers nehmen durch den Stoffwechsel einerseits an Masse zu, anderseits dienen sie anderen Stoffen als Muttermedien. Das Variieren der Arten hat seinen Grund darin, daß in irgend einer Phase der Entwickelung sich fremde Stoffe unter die normalen Stoffe des Körpers einschleichen. Die Konkordanz der Organe hat ihren Grund darin, daß Jeder Stoff des Körpers nur bestimmten Stoffen als Muttermedium dienen 414 K. Fuchs, Titus Lucretius Carus. III. kann. In den Stoffen des Menschenembryo beispielsweise können sich die Bildungsstoffe eines Ziegenfußes nicht bilden. Die Stabilität der Organismen hat ihren Grund darin, daß anormale Stoffe, z. B. anormales Blut, die aus irgend einem Grunde im Körper sich gebildet haben und die Veranlassung zur Bildung weiterer anormaler Seminalgebilde werden könnten und dadurch auch die Gestalt des Tieres ändern würden (denn die Gestalt ist eine Folge des chemischen Baues) — daß, wie gesagt, dieselben im Körper kein Muttermedium finden, durch das sie vermehrt werden, und daß sie daher im Laufe der Zeit durch den Stoffwechsel wieder zersetzt und durch die entsprechen- den normalen Stoffe (in unserem Beispiele normales Blut) ersetzt werden, die sich als Seminalgebilde in den noch unverletzt gebliebenen primäreren Stoffen als in ihren Muttermedien gebildet haben und fortwährend bilden, wodurch der Körper seine alte Konstitution zurückerhält. Der Körper erneut sich stets durch den Stoffwechsel, und seine gegenwärtige Masse ist die Differenz der bisherigen Stoffaufnahme und Stoffabgabe. Der Körper geht unaufhaltsam durch Selbstvernichtung dem Tode entgegen, weil mit seiner höheren Entwickelung die Ausscheidungs- organe sich immer vollkommener entfalten, die stoffaufnehmenden Organe aber immer mehr reduzieren !. Es gibt keinen vom Körper trennbaren, eine selb- ständige Einheit bildenden Geist, wie denn die Physik überhaupt keine selbständigen Einheiten, sondern nur Atomkomplexe kennt. Die geistigen Thätigkeiten basieren auf dem Nervensysteme, das für sich ein Organ ist wie Auge oder Fuß. Welcher Zusammenhang aber zwischen den Bewegungen der Nerventeilchen und der mit diesen gleichzeitig auftretenden bewußten Empfindung besteht, ist eine offene Frage. Der freie Wille läbt sich einerseits nicht leugnen, anderseits aus den Prinzipien, auf denen die Physik beruht, nicht er- klären. Man muß ihm zuliebe dieselben um ein weiteres Prinzip ver- mehren. Es erübrigt noch die Ansichten des Luckez über Krankheit wieder- zugeben. LuckEz sagt: Die Theorie der Krankheiten steht im innigen Zusammenhange mit der Theorie der Ernährung. Die Ernährung geschieht folgendermaßen: die Nahrungsmittel werden in den Körper aufgenommen; hier werden sie chemisch zerfällt; ein Teil der Stoffe wird vom Körper assimiliert, d. h. er geht solche chemische Verbindungen ein, durch die die Atome zu solchen Bewegungsformen ge- zwungen sind, die eben den lebenden Körper charakterisieren ”; der andere ! Diesen Ausspruch glaube ich, wie schon gesagt, so auffassen zu dürfen, daß die höheren Seminalgebilde (die Altersstoffe), welche die Jugendstoffe (ihre Mut- termedien) verdrängen, eine höhere Zersetzlichkeit, aber geringere Assimilations- fähigkeit haben als jene Jugendstoffe. ?® Hier ist also wieder ein Beispiel, daß nicht die Stoffe, sondern ihre Be- wegungsformen die Dinge charakterisieren. „Geruch, Geschmack, Schall, Wärme, „Licht kann man im Sinne des Lucrez ganz gut als Bewegungsformen be- K. Fuchs, Titus Lueretius Carus. III. 415 Teil der Stoffe, der nicht geeignet ist, vitale oder sensorische Bewegungs- formen anzunehmen, wird chemisch nicht gebunden. Es liegt aber im Wesen der Diffusion, dab verwandte Stoffe, die sich begegnen, an ein- ander haften, also scheinbar zusammengeführt werden, während indifferente Stoffe sich ruhig zerstreuen können und folglich scheinbar ausgestoßen werden. Letzteres geschieht auch mit jenen Stoffen, die teils als Fäkalien, teils als Körperausdünstung den Leib verlassen. Aus dieser Theorie der Ernährung wird es klar, wie es möglich ist, daß die verschiedensten Tiere, die also den verschiedensten chemischen Bau haben, dieselben Kräuter fressen, dasselbe Wasser trinken können, und doch dabei ihre spezifische chemische Konstitution bewahren. >(II. 711.) In jedem Tiere scheiden sich aus den Nahrungsmitteln diejenigen Stoffe aus und treten in die Glieder über, die dort, sobald sie gebunden sind, entsprechende Bewegungen ausführen können. Diejenigen Stoffe aber, die chemisch nicht gebunden werden konnten, noch im stande waren, die vitalen Bewegungen mitzumachen oder nachzuahmen, werden wieder der Erde zugeworfen, oder diffundieren percita plagis als sinnlich nicht wahrnehmbare Atome nach außen.« Den auffallendsten Beweis der chemischen Verschieden- heit der Körper von Tieren verschiedener Art liefern die Gifte und Medizinen. Gifte und Medizinen sind Stoffe, die, in den Körper eingeführt, exzessive Molekularbewegungen hervorrufen, welche bei großen Dosen zur Zersetzung der Körperstoffe und namentlich der so überaus empfindlichen Nerven (anima et animus) führen; in geringeren Dosen wirken beide nur modifizierend.. Nun zeigt die Erfahrung, daß derselbe Stoff eine gewisse Tierart in heilsamer Richtung affıziert, eine andere Art aber geradezu tötet. Auf gleiche Stoffe könnte aber derselbe Stoff nur gleiche Wirkungen ausüben. Wenn er also verschiedene chemische Wirkungen ausgeübt hat, muß er auf verschiedene chemische Verbindungen gewirkt haben; das heißt aber, dal die verschiedenen Tiere im chemischen Baue verschieden sind. »(II. 635) Der menschliche Speichel, der beim Menschen die Verdauung fördert, ist für die Schlange ein tötliches Gift; der Germer hingegen (Veratrum), der uns tötet, fördert das Gedeihen der Ziegen und Wachteln.« Ein Körperist krank, wenninihmausirgendeiner Ur- sache an irgend einer Stelle anormale Molekularbeweg- ungen vorsichgehen. Diese anormalen Bewegungen (motus incon- venientes) verursachen zunächst in dem Organ, in dem sie stattfinden, eine Änderung der chemischen Konstitution, d. h. die normalen Stoffe werden zer- stört und anormale Stoffe bilden sich durch Neugruppierung der Atome, ähnlich wie es im Feuer geschieht. Diese chemische Alteration erstreckt sich immer weiter, bis sie den ganzen Körper ergreift. Dann aber tritt der Tod ein. Denn der Körper stirbt, sobald durch Verwerfung der Atome die vitalen Molekularbewegungen in andere Formen „zeichnen, die aber gleich der Nerventhätigkeit an bestimmte Stoffe gebunden sind, „ganz in ähnlichem Sinne, wie auch nach unseren heutigen Vorstellungen das Licht „eine Bewegungsform ist (Undulation), die aber an ein bestimmtes Medium, den „Ather gebunden ist,“ der allerdings zufällig überall bereits vorhanden ist. 416 K. Fuchs, Titus Lueretius Carus. III. gedrängt werden. Im kranken Körper kämpfen sozusagen die normalen Bewegungen mit den anormalen, denn es braucht Zeit, bis die Atome der normalen Stoffe aus ihren Bewegungsformen geworfen sind. Solange aber die Stoffe normal sind, produzieren sie durch die Ernährungsvorgänge weitere normale Stoffe, während die anormalen Stoffe oft im Körper un- genügendes Material finden, um sich auch entsprechend zu ernähren und zu vermehren. Sie leiden dann durch die Zersetzung im Stoffwechsel weit mehr als die normalen Stoffe, und es kann geschehen, daß sie endlich gänzlich zerfallen und eliminiert und durch normale Stoffe ersetzt werden, und dann ist der Körper gesund geworden. Eine Medizin ist ein Stoff, der auf die Molekularbewegungen be- sonders heftig wirkt; und zwar wirkt sie im Gegensatz zu den Giften auf die normalen Prozesse fördernd, auf die anormalen Prozesse hemmend, und verschafft dadurch den ersteren größere Aussicht auf den Sieg in jenem Kampfe. Die Alteration im chemischen Baue des kranken Körpers zeigt sich auffallend dadurch, daß er auf dieselben Agentien andersreagiertals der gesunde Körper. »(IV. 662.) Wenn Fieber oder eine andere Krankheit den Körper erschüttert, dann wird der ganze Körperbau verwirrt (perturbatur) und sämtliche Gruppierungen (omnes positurae) der Atome werden verändert. Dies hat zur Folge, daß die Süßstoffe des Honigs, die früher der Zunge chemisch verwandt waren und darum von ihr aufgenommen wurden, jetzt ihr nicht mehr verwandt sind und nicht aufgenommen werden; während die im Honig vorhandenen Bitterstoffe, denen gegenüber früher der Körper sich indifferent verhielt und die er nicht aufnahm, nun eindringen und bitteren Geschmack ver- ursachen.« Über Vergiftung siehe II. 500. — Der Kampf der Krankheitsstoffe gegen die gesunden Stoffe wird an mehreren Stellen besprochen. Ich glaube ihn richtig geschildert zu haben, er ist der wichtigste Punkt für das Prinzip der Stabilität des Organismus. Am ausführlichsten spricht Lucrkez über Epidemien. Er spricht hierüber so klar, daß ich einfach seine Worte anführe. >(VI. 1088.) Über Epidemien und endemische Krankheiten habe ich (nämlich Lucrzz) folgende Ansicht: Es ist schon gesagt worden, daß es in unserer Umgebung Keime von Dingen gibt, von denen manche, in den Körper eingeführt, denselben in heilsamer Richtung, andere aber in verderblicher Richtung alterieren (die semina schaffen dort anormale res). Wenn solche Keime letzterer Art aus irgend einer Ursache in ungewöhn- lich großer Menge entstehen und die Luft erfüllen, dann ist die Atmo- sphäre krankhaft infiziert. Diese Infektionsstoffe können einer Gegend wie die Wolken durch Winde zugeführt werden oder sie können in der Erde selbst entstehen, wenn diese durch exzessive Feuchtigkeit oder Hitze eine ungewöhnliche chemische Konstitution angenommen hat. Die verschiedenen Länder der Erde sind durch verschiedenen Gehalt an Heils- und Krankheitsstoffen charakterisiert, der in den verschiedenen Klimaten seine Ursache hat. Es ist bereits in der Theorie des Variierens der Arten entwickelt worden, daß durch das Eindringen solcher, zum Teil K. Fuchs, Titus Lucretius Carus. III. 417 wie Gifte und Medizinen sehr energisch wirkender Stoffe in den Organis- mus, dessen ganzer Bau und Habitus derart affiziert wird, daß die Tier- und Pflanzenwelt verschiedener Länder geradezu verschiedene Typen zeigen, und damit steht in innigstem Zusammenhange, daß die verschiedenen Länder auch verschiedene typische Krankheiten haben. Ein Spezifikum von Ägypten ist die Elephantiasis, während Attika durch Fußlähmungen!, Achaja durch Augenleiden charakterisiert sind. Winde, die von solchen Seuchenherden ausgehen, verschleppen die Infektionsstoffe auf weite Entfernungen. Diese geraten dadurch auch ins Wasser, setzen sich in und an die Nahrungsmittel, und ob wir nun atmen, essen oder trinken: wir nehmen sie ohne es zu wissen in unseren Körper auf; und wie uns, so geht es oft auch dem Vieh. Es scheint, daß den Wirkungen der lokalen Infektionsstoffe die Fremden mehr unterworfen sind als die Einheimischen, für die diese Stoffe mehr oder weniger zu normalen Bestandteilen ge- worden sind. Die Pest zu Athen, wie sie uns THuukyvınes beschreibt, illustriert diese Theorie aufs grellste”.« 7. Psychologie. Die Verwickeltheit des Gegenstandes zwingt mich, iu diesem Ab- schnitte abweichend von der bisher befolgten Methode nicht Luckzz zum Leser sprechen zu lassen, sondern selbst über Luckzz zu sprechen. Ich glaube nämlich die Behauptung aufstellen zu dürfen, daß Luckez in seiner Psychologie ein Bild der Thätigkeiten des Nervensystems, entwickelt, ohne das Nervensystem zu kennen, gleichwie L£evErkIEr die Wirkungen eines Planeten? darstellte, ohne den Planeten zu kennen. LuckEz postuliert auf Grund seiner psychologischen Wahrnehmungen ein Körperorgan; aber er hat keine Ahnung, daß das Gehirn, das Rückenmark und die Nerven dieses Organ sind. Speziell läßt sich sein animus mit dem Zen- tralnervensystem, seine anima mit den peripherischen Nerven identi- fizieren, und ebenso deutlich spricht er von den Sinnesnerven, ohne sie zu kennen. Nach Luckez finden im Nervensystem gewisse Moleku- larbewegungen, die sensiferi motus, statt, und mit diesen gleichzeitig tritt bewußte Empfindung, sensus, auf. Welcher Zusammenhang aber zwischen Nervenerregung und Empfindung besteht, das erklärt er für un- ergründlich. So denken aber auch wir. Das Nervensystem, nicht den Geist erklärt er für sterblich. Ich will einzelne Stellen des Luckez citieren und ihnen voran- ı Gicht (?). ?2 Der römische Offizier steckt Lucrez in allen Gliedern. Wie der römische General sein Werk, den Kriegszug, mit einem Knalleffekte schließt, indem er die eroberte feindliche Stadt, mag sie Numantia oder anders heißer, in Flammen aufgehen läßt, so schließt Lucrez sein Werk, das Gedicht, mit einem infernalen Schreckens- bilde, das seine Theoreme glänzend beweisen, seine Bemühungen krönen soll: mit dem Höllenbilde der Pest in Athen. Bedenkt man überdies, daß das halbmathe- matische Werk mit einem glänzenden Hymnus auf die Lebensfreude beginnt, dann erkennt man, daß wohl selten einem tiefernsten Werke eine wildmenschlichere Disposition zu Grunde gelegt worden ist. ® Neptun. Kosmos 1884, II. Bd. (VII. Jahrgang, Bd. XV). 27 418 K. Fuchs, Titus Lucretius Carus. III, schicken, was ich aus ihnen herauslese. Der Leser mag sich darüber entscheiden, ob er meine Auffassung billigen kann. Der Sitz der psychologischen Vorgänge ist ein besonderes Körper- organ, wir nennen es heute Nervensystem. »(III. 94.) Vor allem be- haupte ich, daß der Geist, den man auch Verstand nennt und der Sitz der Erwägungen und der Führung desLebens ist, ein Organ des Körpers ist, um nichts weniger als Hand und Fuß oder die Augen. Geist und Auge sind im gleichen Sinne Teile des Ganzen!.« Das Nervensystem zerfällt in einen zentralen Teil, das Zentralnervensystem, das in der Brust seinen Sitz hat (heute wissen wir, daß es im Kopfe liegt), und in einen peri- pherischen Teil, der durch den ganzen Körper verbreitet ist. Beide bilden ein geschlossenes Ganzes. Die Geistesthätigkeiten im engeren Sinne haben im Zentralorgan ihren Sitz. >(III. 136.) Ich behaupte, daß animus und anima eng vereint durchaus ein Ganzes bil- den; gleichsam Herr und Haupt des Körpers ist aber das, was wir animus oder Verstand oder Überlegungskraft nennen und das in der Mitte der Brust seinen Sitz hat. Denn hier tobt Angst und Furcht, hier erweicht uns die Heiterkeit. Der übrige Teil, die anima, erscheint durch den ganzen Körper verbreitet.« Die peripherischen Nerven sind Leitungsorgane. Sie vermitteln die Bewegung, indem vom Gehirn aus ein Reiz durch die peripherischen Nerven fortgeleitet und auf die Gliedmaßen übertragen wird, die infolge dieses Reizes sich bewegen. Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit des motorischen Reizes in den motorischen Nerven ist eine meßbare. >»(I. 263.) Wenn die Pferde zum Wettrennen aufgestellt sind, ist vor ihnen ein Strick gespannt. Wenn aber diese Schranke fällt, dann bemerkt man, dab die Wucht des Pferdes nicht so schnell vorstürzen kann, als es sein Geist will. Dies zeigt, daß jede Bewegungs- absicht im Zentralorgan durch den Willen des Geistes geschaffen, darauf fortgeleitet und erst nach diesem Laufe auf den Körper und die Glied- maßen übertragen wird.« Das physische Äquivalent derpsychischen Thätigkeit ist der Nervenreiz oder die Nervenerregung, die sich von Nerven- teil zu Nerventeil fortpflanzt. Der Reiz, der in einem Nerven- teilchen vorhanden ist, ist stets eine heftige Bewegung der Moleküle. »(lI. 434.) Veranlaßt wird aber diser Reiz (tactus) teils durch äußere Molekularstöße, wie beim Sehen, wo die Lichtmole- küle das Auge treffen; teils durch das Eindringen von äußeren Mole- külen in die Körper, wie bei der Wärmeempfindung, wobei die Wärmemole- küle sich zwischen die Moleküle unseres Körpers eindrängen; teils durch das Austreten von Molekülen unseres eigenen Körpers aus ihrem Ver- bande, wie bei der Begattung, wo die Samenteile unseren Körper ver- lassen.< Die auf eine dieser Weisen veranlaßte heftige Molekular- erschütterung pflanzt sich im Nervensystem fort. Wenn man in eine ! Noch bestimmter ist (III. 546). K. Fuchs, Titus Lueretius Carus. III. 419 Menge daliegender Kugeln von auben heftig eine Kugel wirft, würde die Bewegung sich in ähnlicher Weise wie der Nervenreiz von Kugel zu Kugel fortpflanzen. Unter anderen Belegen paßt her III. 275: »Die so- eben genannten Stoffe sind geeignet, die Träger jener durch den ganzen Körper sich fortpflanzenden Molekularbewegungen zu sein, die von Empfindung begleitet sind.« Der Reiz wird als Schmerz empfunden, wenn die Moleküle so heftig erschüttert werden, daß sie außerhalb der Grenzen ihres natürlichen Spielraumes geraten. Ist die Erschütterung so stark, daß die Moleküle nicht mehr in ihre natürliche Lage zurückkehren können, so ist der . Nerv an dieser Stelle zerstört. Findet dies im Gehirne statt, dann tritt Irrsinn ein. Wenn es dem Körper, der ja den Nerven geschaffen und gleichsam geboren hat, gelingt, ihn im Laufe des Stoffwechsels durch korrekt gelagerte Moleküle zu ersetzen, dann ist der Irrsinn gehoben. Wenn die Verwerfung der Moleküle im Gehirn aber gewisse Grenzen überschreitet, tritt der Tod ein. Wenn die Moleküle aber in die nor- malen Grenzen zurückkehren, haben wir Lustempfindung. ' Wenn das Nervensystem in Aktion ist, d. h. wenn Empfindungen und Geistesthätigkeiten stattfinden, dann müssen Bewegungen von Atomen parallel zu gewissen Linien stattfinden und zwar müssen solche parallel fortschreitende Schwingungen um so vorherrschender sein, je schnellere und heftigere Bewegungen des Körpers die Geistesthätigkeit begleiten. Dies ist z. B. der Fall, wenn der Hirsch (denn ein qualitativer Unter- schied zwischen Menschen- und Tier-Seele existiert nicht) angsterfüllt flieht (offenbar ahnt hier Lucrez das Spiel der motorischen Nerven). Gleichzeitig ist die Aktion des Nervensystems von chemischen Zersetz- ungen in der Nervenmasse begleitet, die dem Feuer analog und von Wärmeentwickelung begleitet sind. Das ist am auffallendsten bei leiden- schaftlichen Erregungen, wie bei Zorn, etwa bei dem Löwen. Ehe ich in der Besprechung des Nervenreizes fortfahre, muß ich das eben Gesagte rechtfertigen, denn es steht im schroffsten Widerspruch mit der diesbezüglichen allgemein herrschenden Ansicht. Man meint viel- fach, Luckez behaupte, daß die Seele aus Luft- oder Windstoff (aer, ventus), Hauchstoff (aura), Dampf (vapor) und einem vierten namenlosen Stoffe bestehe, und bezieht sich hierbei auf die maßgebende Stelle II. 258—322. Diese Auffassung ist, glaube ich, falsch. Erstens haben diese Wörter bei Luckez ganz andere Bedeutungen. Von aör sagt er an einer Stelle geradezu, daß er es mit ventus gleichbedeutend gebrauche. I. 295 führt er aber ausdrücklich in einem sehr schönen Vergleiche von Wind und Gießbach aus, daß Wind nichts anderes ist als die atmosphärische Luft, wenn ihre Atome (corpora caeca) sich in parallelen Linien progressiv bewegen?. Man könnte daher höchstens ‘ Die wunderbare Theorie des Irrsinns, von der rauhe Gegeneiferer be- haupteten, daß der Dichter sie aus herben Erfahrungen an seinem eigenen Geiste geschöpft hätte, findet sich III. 497 ff. ® „(VI. 685.) Ventus findet statt, wenn aör durch eine treibende Kraft in Be- wegung gebracht wird.“ Es ist also unter ventus der Bewegungszustand, nicht der Stoff gemeint, wie unter einer Statue nicht der kohlensaure Kalk :gemeint ist, aus dem sie besteht, sondern dessen Form. 420 K. Fuchs, Titus Lucretius Carus. III. ventus für »Atome in Bewegungszustand« nehmen. — Aura gebraucht Lvorzz als frigida aura in solcher Anwendung, daß man darunter höch- stens Kältestoff verstehen könnte. Ich halte es für Frostschauer. Vapor bedeutet aber bei Lucrzz Wärme, wie z. B. aus der öfteren Antithese »frigusque vaposque« hervorgeht. Daß er aber in der Psychologie ge- radezu an Feuer denkt, scheint aus der Stelle II. 579 hervorzugehen: »Die Nahrungsstoffe verwandelt die Natur in den lebenden Körper, und an die- sem schafft sie mit Hilfe der Nahrungsstoffe (die also hierbei verbraucht werden) die mannigfaltigen psychischen Thätigkeiten in ganz derselben Weise, wie sie das trockene Holz zur Flamme aufschließt und in Feuer umsetzt.< Das in flammas explicare ist aber in der Theorie des Feuers erklärt worden: Feuer ist eine Neugruppierung der Atome des brennen- den Körpers, aus dessen Material hiermit neue chemische Verbindungen entstehen. Von Feuerstoff (im Gegensatz zu Feuererscheinung) kann somit in der Psychologie durchaus nicht die Rede sein, sondern nur von Verzehrung der Nervensubstanz. Zweitens nennt Luckzz in der Psychologie ventus, aura und vapor nie Stoffe, nennt sie nie corpora, nie res, sondern spricht stets einkleidend von ihrer vis, potestas, status; daraus schließe ich aber, dab er mit jenen drei Worten ! nicht die Stoffe selber, sondern ihre Zustände oder Er- scheinungen meint. Drittens erklärt er III. 260 sich wegen der Armut der lateinischen Sprache für unvermögend, mehr zu thun, als seine Gedanken eben nur anzudeuten. Wenn er aber unter jenen Worten wirkliche Stoffe ver- stünde, hätte ja die Sache gar keine Schwierigkeit. Die geschraubten Ausdrücke deuten darauf, daß er nicht Stoffe, sondern Zustände andeuten wolle, die allerdings an bestimmte Stoffe gebunden sein mögen, etwa wie die Lichtschwingungen nach unserer Auffassung an den Äther, was uns nicht hindert, Licht eine Bewegungsform zu nennen und nicht einen Stoff. Die Unterschiede der Charaktere der verschiedenen Menschen und Tiere haben ihren Grund in Unterschieden desphysiologischen Bauesihrer Nervensysteme. (Ill. 288 bis 306.) Ist ein Mensch auffallend agil, so ist die Ursache wohl die, daß seine Nervenatome zu jenen linear fortschreitenden Schwingungen, welche es verursachen, daß Seelenerregung sofort in Körperbewegung umgesetzt wird, inklinieren. (So verstehe ich ventus.) Ist ein Mensch leicht in Zorn entflammt, wobei der Körper eine auffallend große Wärmemenge entwickelt: dann inkliniert das Nervensystem zu heftigen chemischen Umsetzungen. (So verstehe ich vapor.) Ist ein Mensch auffallend langsam, dann sind seine Nervenmoleküle schwer in Bewegung zu bringen, und die Erregungs- zustände pflanzen sich, im Gegensatze zu den Agilen, in den Nerven langsam fort. (III. 302 at natura boum placido magis aöre vivit, im Gegensatz zu at ventosa magis cervorum frigida mens est. Wenn meine Auffassung von ventus richtig ist, ist wahrscheinlich auch die Interpre- tation von placidus aör richtig.) Wenn ein Mensch zu Schrecken, Furcht 1 Das Namenlose nehme ich aus; darunter denkt sich Lucrez einen allerfein- sten Stoff, der unserem Ather entsprechen würde. K. Fuchs, Titus Lucretius Carus. III. 4921 und den damit verbundenen Frostschauern neigt: dann inkliniert sein Nervensystem zu einer dritten Erschütterungsform, die in einem Gegen- satze zu den Erschütterungsformen- stehen mag, welche in den Nerven der Jähzornigen so leicht überhand nimmt. Die Charaktere physiologisch zu erklären, gehört zu den delikatesten Problemen. Wenn Luckez schon über so typische Formen wie die Agilen, die Apathischen, die Furchtsamen, die Jähzornigen sich nur so tastend aussprechen kann, wie es bis jetzt geschehen, so ist es ihm wohl nicht möglich, feiner nüancierte Charaktere physiologisch zu erklären. Aus der Stelle III, 5316 »quorum nunc nequeo caecas exponere causas nec reperire figurarum tot nomina quot sunt principiis, unde haec oritur variantia rerum« lese ich folgendes unter Bezugnahme auf andere Stellen heraus: Die Form der Atome bedingt die chemische Konstitution der Nerven; die chemische Konstitution bedingt die Bewegungserscheinungen der Atome, welche in Schwingungen, parallelen oder divergenten Bewegungen, Platz- wechsel, Lösung oder Schließung von Verhakungen (chemischen Ver- bindungen) etc. bestehen mögen. Diese Bewegungstypen bedingen aber das Spiel der Seelenthätigkeiten und die verschiedenen Arten dieses Spieles oder Ineinandergreifens der psychischen Aktionen bedingen die verschie- denen Charaktere. Wir beobachten direkt wohl nur den Charakter. Aus dem Charakter können wir nur schwer auf das ihn charakterisierende In- einandergreifen der elementaren Seelenthätigkeiten schließen; noch schwerer schließen wir auf die dieselben bedingenden Bewegungstypen der Atome (ich, Lucrez, habe nur den feuerähnlichen und den windähnlichen Typus auf- zustellen gewagt): wie schwer ist es aber, nun geradezu auf die jene Be- wegungsformen bedingenden chemischen Konstitutionen und aus diesen auf die Form der in den Nerven verwendeten Atome zu schließen! Ich (Luckzz) begnüge mich mit meinen bisherigen Versuchen. Zu präziseren Hypo- thesen fühle ich mich unvermögend.« Lucrez erklärt somit III. 5316 ausdrücklich, daß nicht vier Typen (welche Meinung vielfach gehegt wird), sondern deren sehr viele die Basis des Seelenlebens liefern. — Er sagt überdies sehr richtig: >(IIl. 262.) Die mechanischen Funktionen der Atome greifen derart in- einander, daß wir nicht im stande sind, zu unterscheiden, welche Rolle diesem, welche jenem Stoffe zukommt; und da sie sich auch nicht räum- lich getrennt äußern, glauben wir nicht einen Komplex von vielen Teilen, sondern eine Einheit, ein Ganzes vor uns zu haben, das sich aber auf sehr mannigfaltige Weise äußern kann.« Das sind goldene Worte, deren Vernachlässigung der Wissenschaft hoch zu stehen gekommen ist. Instinktiv sehen wir jeden Komplex für eine Einheit an. Nachdem der Charakter des Menschen eine Folgeerscheinung der Kon- stitution seiner Nerven ist, diese aber nicht von unserem Willen, son- dern von unserem Körper geschaffen wird, so folgt daraus, daß wir durch Selbstbeherrschung unseren Charakter wohl mildern und glätten, aber die durch den Nervenbau bedingten fehlerhaften Neigungen (zu Zorn, Furcht etc.) nie vollständig ausrotten können. Das Böse der mensch- lichen Natur kann keine Moral und keine Religion austilgen. > (III. 307, 422 K. Fuchs, Titus Lucretius Carus. III. 319.) Die Doktrin kann den Menschen wohl vielfach glätten, aber den angebornen Stempel vollständig verwischen kann sie nicht und das Böse kann nie radikal ausgemerzt werden. So viel aber wage ich zu behaupten, daß wir jene ursprünglichen Züge, die ganz auszu- rotten der Verstand unvermögend ist, auf ein so kleines Maß reduzieren können, daß uns nichts mehr hindert, ein Leben zu führen, dessen ein Gott sich nicht zu schämen brauchte (das gottgefällig ist). « Daß animus atque anima des Luckzz wirklich eine Divination des Nervensystems ist, zeigt sich sehr klar darin, daß er als fundamentale Erscheinung der Seelenthätigkeit nicht etwa das Denken oder dergleichen, sondern die zentripetale und zentrifugale Reizfortpflanzung, oder rezep- tive und produktive Aktion ansieht, die er in Ausdrücken schildert, welche für uns ganz unverständlich sind, wenn wir nicht an das Nervensystem denken. LuckEz sagt: Das Nervensystem kann man mit einem Kreise vergleichen. Man darf aber nicht voraussetzen, daß die höheren Geistesthätigkeiten im ma- thematischen Zentrum, in einem mathematischen Punkte stattfinden und daß die Radien lediglich zuleitende Apparate sind. Vielmehr finden die psychischen Thätigkeiten längs der ganzen Radien statt. Sie beginnen schon in der Peripherie; das Zentrum hingegen wird eben nur erreicht. Wenn ein einfacher Reiz, sagen wir ein Geruch, die Peripherie trifft, die aus verhältnismäßig plumpen Molekülen besteht, und er pflanzt sich von Molekül zu Molekül gegen das Zentrum fort, das aus unend- lich feineren kleineren Molekülen besteht, dann wird jedes mehr außen liegende, größere Molekül gewöhnlich auf einmal mehrere von den mehr innen liegenden kleineren Molekülen treffen, und die lebendige Kraft überträgt sich von einem Moleküle auf mehrere, die nun geson- derte Bahnen einschlagen. Dadurch werden die Molekularbewegungen gegen das Zentrum zu immer komplizierter, denn es geraten immer mehr Atome in Bewegung und die Bewegungen derselben werden nach dem Zentrum zu immer schneller. Dadurch erklärt es sich, daß der einfachste Reiz, z. B. eine Geruchswahrnehmung, im Zentralorgan eine bedeutende Menge von Seelenthätigkeiten, wie Überlegungen, Stimmungen, Folger- ungen, Vermutungen, Vorstellungen etc. erregt. — Umgekehrt resultiert aus den kompliziertesten Überlegungen etc. eine relativ sehr einfache Körperaktion, weil bei der Übertragung des Reizes von innen nach außen gemeinhin mehrere kleine, mit verschiedener Bewegung begabte Moleküle gegen ein grobes Molekül stoßen, das doch nur eine Bewegung ausführen kann. Den letzteren Erscheinungstypus finden wir, wenn auch in ganz fremder Nutzanwendung, in Il. 129 geschildert: »In den Zimmern sieht man in dem einfallenden Lichte viele Sonnenstäubchen scheinbar ohne Grund ihre Bahnen ändern und die entgegengesetzte Richtung einschlagen. Dies erklärt sich folgendermaßen: Progressiv bewegen sich ursprünglich, ohne spontan je ihre Richtung zu ändern, die freien Atome, die äuberst klein sind; deren kombinierte Stöße bewegen größere Moleküle, die nur aus wenigen Atomen bestehen; diese regen durch kombinierte Stöße wie- der größere an. So steigt die Bewegung von den freien Atomen auf und wird endlich an den Sonnenstäubchen für unsere Sinne wahrnehm- K. Fuchs, Titus Lucretius Carus. III. 433 bar.«< Gut illustriert auch teilweise III. 179 die Notwendigkeit, das Zentralorgan aus sehr kleinen Teilen gebildet zu denken: »Vor allem behaupte ich, daß der Geist aus sehr zart verbundenen und äußerst kleinen Atomen bestehen muß, denn es scheint in der Natur nichts so schnell zu erfolgen als das Überlegen und Ausführen durch den Geist. Dessen Atome müssen auch durch den allerkleinsten Anstoß bewegt wer- den können. Einen Haufen Mohnkörner kann ein Lufthauch zerblasen, während einen rauhen Steinhaufen selbst ein Sturm nicht bewegt.« Die zentrifugale Reizbewegung ist Ill. 246 gezeichnet: »Zuerst wird jener feinste Stoff bewegt; von diesem erhält calor et venti caeca potestas seine Bewegung, von diesen aör (diese charakterisieren die innerste, die mittlere, wahrscheinlich durch die ventus-Erscheinung fortleitende, und die äußere Zone des Nervensystems. Der Reiz tritt nun aus dem Ner- vensystem auf die Organe über), hierauf werden die übrigen Körperteile in Bewegung gebracht: es wird das Blut getroffen; diesesüber- trägt die Molekularbewegung auf die Weichteile und diese verursachen endlich die Bewegungen des Knochen- gerüstes.« Luckez bespricht die schwierige Frage des freien Willens. Er erklärt, daß die Hypothesen, auf den die Physik beruht, den freien Willen zu erklären nicht vermögen. Wollen wir ihn aber u er- halten, so müssen wir im Fundamente der Physik eine Änderung vornehmen. Er spricht: »(II. 251.) Wenn zwischen allenBewegungen inder Natur eine zwingende Kausalität besteht, und jede neue Ord- nung die notwendige Folge der vorhergehenden ist, und die Atome nicht im stande sind, aus eigener Initiative, ohne äußere Veranlassung mindestens eine minimale Richtungsänderung in ihrem Fluge eintreten zu lassen, dadurch ein neues Bewegungsmoment indie Natur einzuführen und so den Bann der mathematischen Prädesti- nation zu brechen (eine Geschwindigkeitsänderung würde dem von Lucrzz behaupteten Satze von der Konstanz der Summe der lebendigen Kräfte widersprechen; die Änderung der Bewegungsrichtung ist der ein- zige Faktor, der uns zur Verfügung steht, wenn wir jenen Satz und den von der Unveränderlichkeit der Materie aufrechterhalten wollen) und zu hindern, daß in alle Ewigkeit die Ursachen und Wirkungen eine eherne Kette bilden: dann ist es nicht möglich, das bei den Lebewesen (also auch bei den Tieren) thatsächlich bestehende, über die zwingende Notwendigkeit erhabene Vermögen, das uns gestattet, dorthin zu gehen, wohin wir selber wollen, irgendwie zu erklären. Unsere Atome müssen sonach ihre Richtung ändern können (declinamus motus), und zwar un- abhängig von Zeit und Ort, wohl aber abhängig vom Verstande.« »(11. 217.) Die Atome können aus eigenem Vermögen zu unbestimmter Zeit an unbestimmtem Orte ein wenig die Richtung ändern, so daß man von einer nüancierten Bewegung (momen mutatum, clinamen motus) reden kann.« Das elinamen motus verwendet Luckzz auch zu einer verfehlten Theorie der Gravitation. Die Leitungsfähigkeit der Nerven ist nach Umständen sehr ver- änderlich, oder besser gesagt, dieNerven, welche die Wechselwirk- 4924 K. Fuchs, Titus Lucretius Carus. III. ung von Gehirn und Körper vermitteln, können nach Um- ständen fast vollständig ausgeschaltet werden, so daß nahe- zu keine Wechselbeziehung besteht. Auch ist ihre Leitungsfähigkeit ver- schiedenen Erregungsformen gegenüber verschieden; namentlich wer- den peripherische Schmerzreize fast vollständig arretiert, noch ehe sie das Zentralorgan erreichen. — Die Übertragung des Reizes aus dem Zentrum auf den Körper erfolgt unter normalen Umständen durch einen Einschaltungsakt unseres Willens (III. 143: cetera pars animae ad numen mentis momenque movetur), und der Geist kann ohne äußere Veranlassung thätig sein (Ill. 145). Als Belege mögen folgende Stellen dienen: »(Il. 147.) Wie der Kopf. oder das Auge uns schmerzen kann, ohne daß der übrige Körper dadurch in Mitleidenschaft gezogen wird, so kann der animus leiden oder genießen, während gleich- zeitig die anima in den Gliedern und Organen durch keinen ungewöhn- lichen Reiz deshalb affıziert zu werden braucht. Nur wenn der animus beispielsweise durch Furcht besonders stark erschüttert wird, sehen wir, daß auch die anima im ganzen Körper mit erschüttert wird, denn (offen- bar durch den Einfluß der anima) Schweiß und Blässe treten auf, die Stimme versagt.< In bezug auf die Schmerzleitung: »(IH. 252.) Die Schmerzerschütterung kann nicht unbedingt bis zum namenlosen zentralen Stoff vordringen, denn dadurch würde derselbe derart zerstört, daß er geradezu zersetzt wäre, und das Leben hörte auf. Zumeist wird der Reiz schon früher gehemmt (sit finis motibus).« Mit dem vielberufenen »namenlosen Stoffe« des Luckez, dem am besten unser Äther entspricht, verhält es sich folgendermaßen. Aus dem schnellen Ablauf der Denkthätigkeit ist zu schließen, daß das Nervensystem aus äußerst kleinen Atomen bestehen muß (III. 179, vergl. oben S. 423). >(III. 238.) Es ist nicht annehmbar, was einige Windbeutel ora- keln," daß die derben Atome der unorganischen Natur bereits im stande wären, von bewußter Empfindung begleitete Bewegungen (sensiferos mo- tus) auszuführen. Es muß notwendig noch einen Stoff geben, dessen Existenz sich uns allerdings außerhalb der Nerven nirgends verrät und der (ganz wie unser Äther) kleinatomiger und folglich beweglicher als irgend ein anderes Element ist, welcher der eigentliche Träger der sensiferi motus ist. Ihm ist das momen mutatum, das elinamen motus wohl eigen, von ihm geht bei Willensakten der Reiz aus, der sich von ihm aus auf immer derbere Stoffe überträgt, bis die Arme und Beine sich regen.« Manche Leser des Luckezz lassen sich dadurch täuschen, daß er im Text diesen Stoff den »vierten Stoff« nennt, und meinen, daß Luckzz über- ı Wo Lucrez sein Ideal, Epikur, aus dem Auge verliert und seiner in- dividuellen Laune frei die Zügel schießen läßt, bricht sofort die aufbrausende Soldatenprätension (alle Augenblicke versichert er seinen lieben Freund Memmius, dem er das Gedicht gewidmet, mit der innigsten Treuherzigkeit, daß er diesen oder jenen nicht anders denn als „hirnverbrannten Idioten“ ansehen dürfe) und der sehr, sehr grobkörnige Lagerwitz des aristokratischen Kavallerieoffiziers durch, welche nur durch die durch und durch edle, männliche Gesinnung, die gerade in solchen Regionen des Gedichtes durchstrahlt und schon von den großen Männern der Kaiser- zeit bewundert wurde, durch die Wucht des Seelenadels des Dichters wett ge- macht werden. . K. Fuchs, Titus Lucretius Carus, II. 425 haupt nur +4 »Seelenstoffe« annimmt. Lucrzz sagt aber darum »Vier- ter«, weil in den vorhergehenden Zeilen nur von dreien die Rede ist, aber 80 Zeilen weiter, 316, sagt er klar, daß auber diesen Vieren im Nervensystem noch sehr viele Stoffe enthalten sein müssen. Wie die Basis, das Primäre der materiellen Welt die Materie ist, so ist das Primäre, die Basis der geistigen Welt die bewußte Empfindung (sensus), die in erster Linie am typischsten durch die Sinne erweckt wird (als Farbenempfindung, Gaschmacksempfindung etc.). Was für eine Verwandtschaft aber zwischen dem, was wir Materie nennen, und dem unfaßbaren Empfindenden besteht, das entzieht sich der Erörterung. Das aber können wir sagen (meint Lucrez), dab bewußte Empfindung nicht dort auftritt, wo Atome überhaupt vorhanden sind, d. h. daß sie nicht der Materie als solcher innewohnt, sondern nur dort erscheint, wo Atome in Wechselwirkung sind, und zwar bestimmte Atome in bestimmten Wech- selwirkungen oder präziser gesagt Bewegungen. >(1I. 931.) Manche sagen, daß aus Nichtempfindung, d. h. aus Materie die Empfindung durch eine qualitative Schwankung resultieren könnte oder daß Empfindung aus Nichtempfindung durch einen Akt des Ausflusses nach dem Typus des Gebärens apsgeschieden werden könne. Diesen kann man entgegenhalten, daß sowohl der Typus des Gebärens oder der Emanation, des aus sich selbst Tretens, als auch die Vorstellung einer qualitativen Änderung nur psychische Fiktionen sind, denen nichts Reales entspricht. Denn nach unserer Auffassung der Natur hat überall, wo wir Geburt, d. h. Produk- tion ohne eigene Verminderung, oder qualitative Änderung zu sehen glauben, in Wirklichkeit ein Zusammentritt, nämlich unserer Auffassung nach ein Zusammentritt von Atomen stattgefunden. Fiktionen darf man aber nicht zu Erklärungen verwenden!. Wir glauben, daß Empfindung nicht eher vorhanden sein kann, als bis ein Lebewesen geschaffen ist, in welchem die bis dahin in alle Welt zerstreuten Atome derart zu- sammengetreten sind, daß daraus diejenigen Bewegungsformen entstehen, die von bewußter Empfindung begleitet sind.< »(11. 967.) Aus der Theorie, daß Schmerz- oder Lustempfindung vorhanden ist, je nachdem die Schwingungen der Atome über oder unter gewissen Grenzen stattfinden, folgt, daß hierbei die Atome an sich weder Schmerz- noch Lustempfindung enthalten können, denn sie sind nicht wieder aus Atomen zusammen- gesetzt, die gleichzeitig mit dem Auftreten der Empfindung entsprechende Bewegungen ausführen könnten.«< Nachdem Lucrkez so scharf sensus und sensiferos motus animi atque animae trennt, scheint es mir feststehend, daß animus und anima, deren Sterblichkeit, Zerstörbarkeit er so drastisch beweist, das Nervensystem, nicht der Geist sind. - Wenn wir einem Dinge eine Eigenschaft zuschreiben, dann haben wir nach Lucrez eine psychische Type, einen Empfindungskomplex oder dergl., der durch einen Nervenreiz in unserer Seele erzeugt worden ist, auf das Objekt unwillkür- lich übertragen, obwohl dieses Objekt gew vöhnlich, zB: 'wenn wir es sehen, hören etc. ar nicht einmal unmittelbar, sondern durch Vermittelung des Äthers, resp. der Luft den Nervenreiz verursacht hat und zwischen Nervenreiz und seiner Ursache nicht mehr Ähnlichkeit besteht als zwischen dem Most und der Weinpresse, in der er erzeugt wird. Diese Übertragung der Empfindung auf das Objekt spricht Lucrez, wie schon früher eitiert worden, am präzisesten IV. 260 aus. 426 K. Fuchs, Titus Lucretius Carus. III. Luckez bespricht unter den Sinnesthätigkeiten am ausführlichsten das Sehen und gibt eine sehr ausführliche Theorie des Sehens, die leider verfehlt ist. (Der Grundgedanke ist der, daß die Lichtstoffe rhythmisch von der Oberfläche der Körper ausgeworfen werden und die gleichzeitig ausgeworfenen Lichtmoleküle eine geringe Kohärenz haben, so daß sie in ungefähr derselben relativen Lage ins Auge gelangen, in der sie aus- geworfen worden sind.) Er behandelt dieselben Gegenstände wie wir, z. B. Schatten, Durchsichtigkeit, Spiegelung, Schätzung der Entfernung, z. B. nach der Verschwommenheit der Lichtbilder etc. Zwei Dinge sind auffallend: Lucrkzz kennt dasstroboskopische Sehen und kennt das Grundgesetz der Perspektive. Das erstere betreffend sagt er unter anderem: »(IV. 766.) Es ist nicht zu verwundern, daß die Traum- bilder, obwohl sie dadurch entstehen, daß nach einander verschiedene von den Körpern (wie oben entwickelt) ausgeworfene Lichthäute in uns gelangen, die einzeln starr sind, dennoch in ihrer Folge sich zu be- wegen und die Arme zu regen scheinen. Denn wenn der Eindruck des einen Abbildes verlöscht, ist bereits der von einem anderen Ab- bilde da, das eine andere Stellung zeigt. Uns scheint es dann, als hätte das erste Bild sich bewegt. Wir haben nämlich vorauszusetzen, dab der Wechsel der Bilder sehr rasch erfolgt.< Den Satz der Perspek- tive, dab parallele Linien scheinbar in einem Punkt in unendlicher Ent- feınung zusammenlaufen, spricht er in folgendem Bilde aus: »(IV. 424.) Wenn wir eine Kolonnade der Länge nach durchblicken, nähern sich für unser Auge rechts und links, oben und unten, bis sie sich in der dunk- len Spitze einer Pyramide treffen. (111. 759.) Was sich nach unserer Auffassung geändert hat, ist thatsächlich ein anderes geworden. Denn was etwas ist, das ist es durch die An- ordnung der Atome, aus denen es besteht. Diese Anordnung wird durch die sogenannte Änderung aber aufgelöst und es tritt eine andere ein. Durch diese andere Anordnung ist aber das Ding ein anderes geworden (quod mutatur enim dissolvitur, interit ergo; trajiciuntur enim partes atque ordine migrant).« > (III. 517.) Formänderung ist wiederholtes Sterben. Es ist ohne Zweifel eine große Erleichterung, wenn wir den Greis für dasselbe Ding ansehen wie den Knaben, aus dem der Greis sich entwickelt hat,«< oder den Hund, der jetzt den Hasen jagt, für dasselbe Ding, das vor einer Stunde den Knochen benagt hat. Wenn wir aber den Ge- danken der Änderung festhalten, kommen wir bald auf den Dolch des Bessus mit neuem Griff, an dem die Klinge ausgewechselt ist, oder auf ein Quadrat, das durch Neigung schiefe Winkel erhalten hat, oder auf einen Kalbskopf, der ein Krautkopf ist, weil mit jenem das Krautfeld gedüngt worden ist ete. Für den Mathematiker, der die Natur betrachtet, ist jede neue Form ein neues Ding. Der Physiker muß sich aber auf den Mathematiker, nicht auf den Ästhetiker stützen. Lucrkzz wendet die volle Schärfe dieses Satzes gegen die Behauptung der Seelenwanderung (II. 749) und der Existenz der Seele überhaupt. »(II. 700.) Wenn die Speise sich in den Poren der Glieder gänzlich verteilt hat, hört sie auf, die Speise zu sein, wenn auch alle ihre Atome noch vorhanden sind, und sie bildet einen ganz neuen Typus, nämlich tierische Substanz. Ganz das- selbe gilt auch für die behauptete Seele. Aus Stoff muß sie bestehen, denn sie soll auf den Körper wirken können, aber tangere et tangi nisi corpus nulla potest res, und wir können höchstens zugeben, daß ihre Atome so überaus abweichen von allen anderen Atomen, daß die Phänomene des Lichtes, der Farbe, des Schalles, der Schwere etc. auf sie gar keine An- wendung finden können. Wenn nun diese Seele ewig sein und sich vorüber- gehend dem Körper des Menschen einverleiben soll, dann müssen während dieses Permanierens die Atome, die den Seelenleib bilden, ihre Verbindungen lösen, und die Seele ist dann trotz Existenz aller ihrer Atome etwas anderes geworden, geradeso wie die assimilierte Speise. Die Seele kann daher ganz ruhig ihren Geburtstag feiern und wir können ihr ebenso ruhig nach wenigen Jahren einen Grabstein setzen, ohne fürchten zu müssen, ihr Unrecht zu thun.< Die 28 Argumente des Luckez gegen die Exi- stenz der unsterblichen, vom Körper getrennt als geschlossenes Wesen, geschlossene Einheit sich erhaltenden Seele, die größtenteils mit dem eben entwickelten Theorem zusammenhängen (und die eigentlich alle dem Nervensystem gelten, das Lucrzz leider nur mit dem geistigen, nicht auch mit dem leiblichen Auge erkannt hat), sind wohl das Genialste, aber auch das Hohnvollste, was je in dieser Richtung über die arme Seele unter ein K. Fuchs, Titus Lucretius Carus. III. 429 wieherndes Publikum geschleudert wurde. »Wenn die Seelchen unter den Fingern der Hebamme sich um den besten Platz balgen, um als Erste in das arme Ding schlüpfen zu können, das da kommen soll: da möchte ich einmal dabei sein !« Schluss. Ich will schließen. Im vorliegenden ist nur ein Teil der Ansichten des Lucrzz entwickelt. Die Theorie des Sehens, die Theorie des Geschlechts- triebes, die ganze sehr bedeutende Anthropologie und Kulturgeschichte, die Theorie des leeren Raumes,' die Meteorologie, die Theorie der Gravitation, die Theorie des Ursprungs und der individuellen Bedeutung der Religion, zusammen mehr als die Hälfte des Werkes, sind kaum dem Namen nach er- wähnt. Aber auch das Vorliegende wird genügen, um zu zeigen, dab die Naturkenntnis der Griechen in qualitativer Richtung höher stand als die unserer leiblichen Väter. Daß wir bisher so gering von ihnen dachten, hat seinen Grund darin, daß uns die Schätze der antiken Litteratur vorwiegend durch Theologen erhalten worden sind und diese begreiflicherweise auf die Erhaltung naturwissenschaftlicher Werke einen sehr geringen Wert legten ; daß der Inhalt der vorhandenen klassischen Werke uns zumeist nicht durch Fachleute, sondern durch Philologen übermittelt worden ist; daß Luckzz thatsächlich solche Ideen ausspricht, die vor 100 Jahren, als es keine Wahrscheinlichkeitsrechnung, vor 50 Jahren, als es keine Gastheorie, als es keinen Darwın gab, nicht gewürdigt werden konnten. Hätte man aber vor 500 Jahren nicht ArısToTELEs, sondern Luckzz oder einen erhaltenen Erıkur zur Bibel der Natur, zum Text, auf den man schwört, gemacht, dann hätten die Helden der Renaissance, auf festen Boden gestellt, in gesunder Schule gedrillt, unsere heutigen Zeiten antizipiert, und die Naturwissenschaft hätte wohl alle Wissenschaften heute schon auf eine Höhe gehoben, die erst unsere späten Enkel erringen werden. Aber die Menschheit arbeitet an einer Sisyphusarbeit. Wie kein Sohn an die Erfahrungen anknüpfen kann, die sein Vater gesammelt, so kann kein neues Kulturvolk das kostbare Gewebe der Zivilisation an der Stelle fortweben, wo es dem alten Volke aus den Händen gesunken ist. Der Sturm der Zeit zerreißt es in tausend Fäden, und klein ist das Stück, um das wir es gegen die Alten vorwärts bringen, wenn wir die enorme Arbeit betrachten, die unsere Ahnen in 2000 Jahren leisten mußten, bevor sie uns auf die Höhe gehoben, auf der wir heute sagen können: Wir sind vor! ! Ein Körper ist für Lucrez nicht ein mit Materie erfüllter Raum, sondern Körper nnd Nichtkörper (leerer Raum), Sein und Nichtsein sind ihm zwei gleich- wertige, qualitativ und quantitativ ewig unveränderliche, einander nie durchdringende Faktoren (corpus und inane). Der Lebensreichtum des Meeres und seine Ursachen. Von Dr. Friedrich Heincke in Oldenburg. (Schluß.) Wie weit neben der physikalischen auch die chemische Beschaffen- heit des Meerwassers von förderndem Einfluß auf das organische Leben ist, entzieht sich noch größtenteils unserer Erkenntnis. Zunächst steht im allgemeinen fest, daß die Meerpflanzen alle mineralischen Stoffe, welcher sie zum Aufbau ihres Leibes bedürfen und welche die Land- pflanzen dem Boden entnehmen, im Meerwasser gelöst vorfinden. Sie sind dadurch den Landpflanzen gegenüber entschieden im Vorteil; die Aufnahme der Salze ist ihnen sehr leicht gemacht und kann durch die ganze Oberfläche der Pflanze stattfinden, weshalb auch besondere Wurzel- organe den meisten fehlen. Im speziellen ist es noch ein ungelöstes Problem, welche Rolle der große Gehalt des Meerwassers an Chlornatrium (dasselbe macht nahezu */5s des ganzen Salzgehaltes aus) für die Pflanzen und Tiere spielt, obwohl es nicht zweifelhaft sein kann, daß seine Wirkung eine günstige ist. Vielleicht wirkt das Chlornatrium nicht nur direkt als solches auf die Organismen des Meeres, sondern auch indirekt, indem es die Gegen- wart anderer löslicher Stoffe im Meerwasser begünstigt. Von diesem Gesichtspunkt aus will ich hier auf den Gehalt des Meerwassers an aufgelöster organischer Substanz, an Kalk und an Kohlensäure etwas näher eingehen. Dab sich im Meerwasser eine gewisse, nicht unbeträchtliche Menge organischer Substanz aufgelöst vorfindet, welche ihm wahrschein- lich den eigentümlichen Geruch verleiht, kann nach den Untersuchungen der Engländer! u. a. nicht bezweifelt werden. Indessen ist dieser Gegen- stand noch zu wenig erforscht, um den Gehalt des Meerwassers an or- ganischen Stoffen mit dem des süßen Wassers vergleichen zu können. Ich will deshalb hier nur zwei nicht unwichtige Punkte hervorheben. Hin und wieder begegnet man wohl noch der phantastischen Ansicht, als ob das Meerwasser an gewissen Orten eine so große Menge form- ! Vergl. Wyv. Thomson, The Depths of the Sea p. 509. Fr. Heincke, Der Lebensreichtum des Meeres und seine Ursachen. I. 431 loser organischer Substanz enthielte, daß aus ihr Organismen einfachster Art gleichsam heraus krystallisieren könnten. Gegenüber dieser Annahme einer Urzeugung aus dem Meerschleim kann nicht genug betont werden, daß alle neueren gewissenhaften Forschungen nicht das geringste zur Stütze solcher Anschauungen beibringen konnten. Nach Tmomson sind diejenigen Wasserschichten, welche das reichste organische Leben zeigen, also nahe der Oberfläche und über dem Boden, auch am reich- sten an aufgelöster organischer Substanz und daraus dürfte zur Genüge hervorgehen, daß die letztere von abgestorbenen und zersetzten Pflanzen und Tieren herrührt und nicht etwa eine Art organischen Urstoffes vor- stellt. Der von Sars entdeckte sogenannte Urschleim an der Oberfläche nordischer Meere hat sich als die bekannte schleimige Umhüllung von Diatomeen herausgestellt!, der Urschleim des Meeresgrundes, der Bathybius, als noch lebend an die Oberfläche gebrachtes Protoplasma von Schwämmen und Protozoen. Unbegreiflich ist es, daß auch jetzt noch viele Schrift- steller, an ihrer Spitze HAEckEL, den Urschleim als einfachstes organisches Wesen festhalten. Sehr wichtig ist jedenfalls die im Meerwasser aufgelöste organische Substanz als Nahrung, nicht nur für die schwimmenden Meerpflanzen, die ihren Bedarf an stickstoffhaltigen Substanzen daraus entnehmen, sondern wohl auch für viele Tiere. JAser? macht darauf aufmerksam, daß Wassertiere durch ihre Haut die im Wasser gelöste organische Sub- stanz ebenso mühelos aufnehmen können wie etwa ein Kranker in einem Bad von Milch oder Fleischbrühe oder, wie ich hinzufüge, ein mund- und darmloser Bandwurm im Chylussafte. Möglicherweise erklärt sich hieraus, daß viele Wassertiere außerordentlich lange hungern können; jedenfalls wäre eine genauere Untersuchung dieses Gegenstandes sehr wünschenswert und vielleicht geeignet, uns manche Geheimnisse der Lebens- und Ernährungsweise niederer Meertiere, wie der Radiolarien u. a., zu enthüllen. Weit besser als über die organischen Stoffe des Meerwassers sind wir über seinen Gehalt an Kalk unterrichtet. Bekanntlich löst das in den Boden einsickernde Regenwasser, welches sich in der Luft und in den mit vermodernden Pflanzenstoffen erfüllten Humusschichten mit Kohlen- säure beladen hat, alljährlich eine große Menge des in der Erdrinde ent- haltenen schwefelsauren und kohlensauren Kalks auf und derselbe wird dann durch die Flüsse ins Meer geführt. Trotz der ungeheuren Menge Kalk, welcher auf diese Weise im Lauf der Zeiten ins Meer geschafft worden, ist jedoch der Gehalt des Meerwassers an dieser Substanz nur ein sehr geringer. Nach ScHmivr befinden sich in 1000 Teilen Meer- wasser nur 1,3 Teile Gips und kohlensaurer Kalk und davon kommt auf ersteren der bei weitem größte Teil, so daß nach JAcogsen® nur 0,027 Teile für den kohlensauren Kalk übrig bleiben. Nimmt man hinzu, dab im Flußwasser im Gegensatz zum Meerwasser der Kalk größtenteils als kohlen- ! Vergl. Fr. Heincke, die nutzbaren Tiere der nordischen Meere etc., p.34f. ® Aquarium p. 20. ® Jahresbericht der Kieler Kommission zur Untersuchung d. deutsch. Meere. IV.—VI. Jahrg. p. 23. 432 Fr. Heincke, Der Lebensreichtum des Meeres und seine Ursachen. II. saurer Kalk auftritt, so können diese Erscheinungen nur dadurch erklärt werden, daß die im Meere lebenden Organismen in sehr hohem Grade die Fähigkeit besitzen, den Kalk und zwar vorzugsweise den kohlen- sauren aus dem Meere abzuscheiden und zur Bildung ihrer Panzer und Schalen zu verwerten. Diese aber widerstehen, einmal gebildet, der Wiederauflösung durch das Meerwasser auch dann noch sehr hartnäckig, wenn ihre Träger selbst abgestorben sind, was wahrscheinlich seinen Grund darin hat, daß sich der kohlensaure Kalk der Schalen in einer sehr engen Verbindung mit einer äußerst widerstandsfähigen organischen Substanz befindet, welche als Chitin oder Conchyolin bekannt ist. Erst wenn die Schalen der Meerestiere zugleich mit dem Meeresboden ins Luftmeer gehoben werden, beginnt die Wiederauflösung des kohlensauren Kalks durch das Regenwasser. Im süßen Wasser ist zwar (abgesehen von den Mineralquellen) der Gesamtkalkgehalt weit geringer als im Meere, der Gehalt an kohlensaurem Kalk dagegen größer; so enthält! der Genfer See auf 1000 Teile 0,07, der Rhein auf 1000 Teile 0,12 Teile kohlen- sauren Kalks. Trotzdem ist im süßen Wasser nicht nur die Zahl der schalentragenden Tiere viel geringer als im Meere, sondern die Schalen selbst sind auch weit dünner. Aus alledem müssen wir wohl schließen, daß in der chemischen Beschaffenheit des Meerwassers ein uns noch un- bekanntes Moment den Tieren und auch vielen Pflanzen (Kalkalgen, sog. Nulliporen, die sich am Aufbau der Korallenriffe beteiligen) die Ab- scheidung des Kalks aus dem Wasser wesentlich erleichtert. Am größ- ten scheint diese Fähigkeit übrigens in den warmen Meeren entwickelt zu sein, denn nur hier treten die mächtigsten kalkhaltigen Organismen auf, die Riffkorallen. Daß diese ohne ihre festen Skelette der stürmischen Bewegung des Meeres und der ewig tosenden Brandung nicht Widerstand leisten könnten, liegt auf der Hand und schon hieraus können wir er- messen, von welch’ enormer Bedeutung für die Meeresorganismen ihre hohe Fähigkeit der Kalkabscheidung sein mub. Vielleicht hängt mit dieser Fähigkeit die dritte hier zu besprechende Eigentümlichkeit des Meerwassers zusammen, nämlich der außerordent- lich hohe Gehalt desselben an Kohlensäure. Während in 1 Liter Luft bei 0° C. und 760 mm Druck etwa 0,0006 g Kohlensäure? ent- halten ist, findet sich nach Jacogsen und Torxor” in den kälteren Meeren in 1 Liter Seewasser etwa 0,1 g dieses Gases, also mehr denn 150 mal soviel, in den wärmeren Meeren nach BucHAanan* c. 0,04 g, also noch über 60 mal soviel. Wäre diese große Menge Kohlensäure in demselben freien Zustande im Meerwasser aufgelöst, wie es der Sauerstoff desselben ist, so würde tierisches Leben im Meere fast ganz unmöglich sein. Ent- hält doch die Ausatmungsluft des Menschen, welche bereits ein reines Gift für denselben ist, in 1 Liter nur 0,08 g Kohlensäure, also noch ı Vergl. v. Klöden, Physische Geographie p. 546 und 583. ? Dies entspricht einem Gehalt von etwa 3 Raumteilen CO» auf 10000 Teile Luft, d. h. dem Ergebnis der neuesten Untersuchungen. “ 3 In den Jahresberichten der Kieler Kommission II. und III. Jahrg. p. 44—56. * Vergl. Boguslawski, Ozeanographie p. 139 und Wyv. Thomson, The Atlantic II. p. 363 ft. Fr. Heincke, Der Lebensreichtum des Meeres und seine Ursachen. II. 433 weniger als das Meer in den kälteren Zonen. Allein nach den schönen Untersuchungen von JacoBsen über die Luft des Meerwassers läßt sich selbst bei stundenlangem Kochen nur ein sehr geringer Teil dieser Kohlen- säure im Meerwasser austreiben und niemals tritt dabei eine Ausscheid- ung von kohlensaurem Kalk ein, was mit süßem Wasser stets der Fall ist und bekanntlich daher kommt, daß die zur Lösung des kohlensauren Kalkes im Wasser nötige freie Kohlensäure entweicht. Der große Kohlen- säurevorrat des Meerwassers muß sich also in einem noch unbekannten gebundenen Zustande befinden, welcher sie für die Atmung der Tiere un- zugänglich macht, ohne doch ihre Aufnahme als Nahrung durch die Pflan- zen zu verhindern. Daß aber dieser eigentümliche Zustand der Kohlen- säure mit dem Salzgehalt des Meerwassers zusammenhängt, geht aus einer interessanten Beobachtung von JAacogsex! hervor. Danach verhält sich eine Lösung von Kalkkarbonat in kohlensaurem Wasser genau so wie das Meerwasser, wenn man eine ganz neutrale Lösung von Chlormag- nesium hinzusetzt. »Das Gemisch kann wochenlang an der Luft stehen, es kann gekocht werden, ohne sich im geringsten zu trüben.« Chlor- magnesium ist nächst dem Chlornatrium der Hauptbestandteil der Meer- salze und im Meerwasser in 1000 mal so großer Menge enthalten wie z. B. im Wasser des Genfer Sees. Nach der Beobachtung BucHAnAn’s” während der Challenger-Expedition nimmt der Kohlensäuregehalt mit dem spezifischen Gewicht des Meerwassers d. h. dem Salzgehalt zu; auch dies stimmt also mit der Annahme eines innigen Zusammenhangs zwischen diesen beiden Erscheinungen überein. Von hoher Bedeutung für das organische Leben ist endlich der Umstand, daß der Salzgehalt des Wassers in den Ozeanen ein merkwürdig konstanter ist. Nicht bloß die Gesamtsumme aller Salze ist dort, wenigstens im offenen Meere, in allen Schichten nur geringen Schwank- ungen unterworfen, sondern auch die Mengen der einzelnen Bestandteile dieses Salzgehaltes (also Chlornatrium, Chlormagnesium, schwefelsaurer Kalk, kohlensaurer Kalk u. s. w.) stehen immer in demselben, nur ganz minimale Schwankungen zeigenden Verhältnis, so daß es z. B. genügt, nur die Menge des Chlors zu berechnen, um daraus durch Multiplikation mit einer empirisch gefundenen Zahl, nämlich 1,81, dem sogen. Chlor- koeffizienten, den ganzen Salzgehalt zu ermitteln. Im Gegensatz zum Meere zeigen die süßen Gewässer sowohl örtlich wie zeitlich große Schwankungen des Salzgehaltes und des Verhältnisses seiner einzelnen Bestandteile und dies kann nur ungünstig auf das organische Leben wirken, welches stets am besten bei möglichster Beständigkeit der Beding- ungen gedeiht. Die Gleichmäßigkeit im Salzgehalt der Ozeane ebenso wie die schon oben erwähnte Gleichmäßigkeit im Luftgehalt, welch’ letzterer in den süßen Gewässern ebenfalls großen Schwankungen unterliegt, kann nur erklärt werden aus der beständigen Durchmischung seiner Wassermasse infolge einer so beständigen inneren Bewegung derselben, wie sie in den süßen Gewässern nirgends stattfindet. Diese Bewegung soll 212 &'P2 306. ® Vergl. Wyv. Thomson, The Atlantic II. p. 363 ff. Kosmos 1884, II. Bd. (VII. Jahrgang, Bd. XV). [80] Be) 434 Fr. Heincke, Der Lebensreichtum des Meeres und seine Ursachen. II. uns noch später eingehender beschäftigen. Doch sei hier schon erwähnt, dab vom Ozean mehr oder weniger abgeschlossene Binnenmeere mit starkem Süßwasserzufluß, wie die Ostsee, relativ sehr große örtliche und zeitliche Schwankungen des Salzgehaltes und in unleugbarem Zusammen- hang hiermit und mit dem geringeren Salzgehalt eine weit geringere Ent- wickelung des organischen Lebens zeigen. Der hohe Gehalt des Meerwassers an Kohlensäure, dieser wichtigsten Nahrung der Pflanzen, führt uns unmittelbar zu der schon oben angereg- ten Frage, ob sich im Meere eine nicht bloß absolut, son- dern auch relativ größere Menge von Pflanzen findet als auf dem Lande oder in den süßen Gewässern? Was den Ver- gleich mit dem Lande betrifft, so möchte ich diese Frage bejahen. Die viele Tausende von Quadratmeilen bedeckenden unterseeischen Wälder festsitzender Tange, die sich an vielen Orten im Meere, z. B. bei den Falklandsinseln und in dem Beringsmeer finden, die üppige Vegetation von Brauntangen und Florideen an felsigen Küsten oder auf steinbedeck- ten Gründen halten mit ihren oft mehrere hundert Fuß langen Tangarten den Vergleich mit den größten Urwäldern der Erde aus, und dasselbe gilt von den ungeheuren Seegraswiesen der warmen und gemäßigten Meere verglichen mit grasreichen Savannen des Festlandes. Muß man doch bei solchen Vergleichen auch berücksichtigen, daß ungeheure Flächen des Festlandes, wie die Wüsten und die nordischen Tundren oder das von Eis bedeckte Grönland, gar keinen oder nur einen äußerst spärlichen Pflanzenwuchs besitzen. Anderseits freilich ist das feste Land in vertikaler Ausdehnung auf weit größere Zonen hin mit Pflanzen bedeckt, während, wie schon oben erwähnt, im Meere unter 250 m alle Vegetation aufhört. Nicht unerwähnt bleiben dürfen hier die riesigen oft Hunderte von Meilen langen und mehrere Meilen breiten Mangrovewälder an den flachen Küsten der Tropen!, die wenigstens zur Hälfte als zum Meere gehörig anzusehen sind. Sind doch ihre vom Meerwasser bedeckten Wurzeln mit zahlreichen Seetieren, wie den sogen. Baumaustern, mit Krustaceen u. a. bedeckt! Aber auch zugegeben, daß die Masse der Luftpflanzen größer ist als die der festsitzenden Meerpflanzen, so geben doch die enormen Mengen schwimmender Pflanzen im Meere, wie die ungeheuren Sar- gassum-Wiesen des Ozeans und namentlich der aus Diatomeen und andern einzelligen Algen bestehende sogen. vegetabilische Meerschleim den Ausschlag zu gunsten einer größeren Pflanzenmenge im Meere. Die Masse dieser Algen, welche, in allen Meeren vorkommend, oft auf viele Quadratmeilen und bis zu einer beträchtlichen Tiefe dem Meerwasser eine grüne, rote oder braune Farbe verleihen, ist für menschliche Vor- stellungskraft geradezu unschätzbar. Obwohl sie in warmen Meeren ebenso verbreitet sind wie in kalten, springt doch ihre enorme Bedeutung als Nahrungsmittel für Tiere nirgends mehr in die Augen als im hohen Nor- den, z. B. an der norwegischen Küste bis Spitzbergen oder im sibirischen Eismeer. Hier findet sich der vegetabilische Meerschleim merkwürdiger- ! Das neueste über Mangrovewälder s. Mohnike, 1. c. p. 134, undJohow, Kosmos 1884. I. p. 415. Fr. Heincke, Der Lebensreichtum des Meeres und seine Ursachen. II. 435 weise in größter Masse unmittelbar unter den schmelzenden Schollen des Treibeises und ist, wie ich namentlich auf die For- schungen von SArs gestützt in meinem oben citierten Aufsatze über die Tiere der nordischen Meere ausgeführt habe, durch Vermittelung der Ko- pepoden, welche sich direkt von ihm nähren, nicht nur die Bedingung für die Existenz der gewaltigen Scharen nutzbarer Fische und Wale, sondern auch für das Leben der nordischen Tiefseetiere, indem entweder die abgestorbenen, aber noch unzersetzten Algen auf den Grund sinken oder die in ihnen enthaltenen Nahrungsstoffe durch Vermittelung pelagischer, von der Oberfläche in die Tiefe hinabsteigender Tiere an den Meeres- boden gebracht werden. Nur durch diese Annahme wird es begreiflich, daß StuxBErs, der Zoologe der Vega-Expedition, am Boden des sibiri- schen Eismeers eine so reiche Tierwelt entdeckte!. Denn Pflanzennahrung in Form größerer, festsitzender Tange findet sich nach KJELLMAN in die- sen Meeren nur sehr spärlich”, hauptsächlich wohl deshalb, weil auf den flachen Küstengründen die jährlich eintretende Grundeisbildung den Pflan- zenwuchs unmöglich macht. Es kommt nun aber für die Entwickelung eines reichen Tierlebens nicht nur die Summe der vorhandenen Pflanzennahrung in Betracht, son- dern auch die Fähigkeit der Tiere, diese Nahrungsmenge möglichst auszunutzen. In dieser Beziehung sind nach meiner Meinung die Meertiere weit günstiger gestellt als die Landtiere. Die Meerpflanzen sind nicht bloß von weicherer Beschaffenheit als die Land- pflanzen, sondern die meisten von ihnen, nämlich die mikroskopischen Algen, auch sehr klein, so daß ihre Aufnahme als Nahrung mit geringer Kraftanstrengung möglich ist. Außerdem können die Meertiere, da sie zur Befriedigung ihres Durstes keine nennenswerte Kraft gebrauchen und auch zur Aufsuchung der Nahrung weniger als die Lufttiere, relativ mehr davon auf die Beförderung der festen Nahrung in ihre Verdauungsorgane verwenden. Sehr wichtig für die Beurteilung des tierischen Lebens im Meere ist auch der Umstand, daß durch die Flüsse eine ungeheure Menge halbvermoderter Pflanzenstoffe ins Meer geführt und dadurch den Luft- und Süßwassertieren entzogen, den Meertieren aber gerade in einer Form geboten wird, welche aus schon oben erörter- ten Gründen für viele derselben außerordentlich passend ist. Nach der Ansicht der Vega-Forscher bringen die großen sibirischen Ströme sehr große Massen organischen Schlammes ins Eismeer und sicher bildet dieser im Verein mit den Diatomeen eine Hauptnahrung der tierischen Be- wohner jenes Meeres. In tropischen Gegenden bringen ferner die großen, aus den Urwäldern kommenden Riesenströme außer organischem Schlamm auch noch gewaltige Massen größerer Pflanzenstoffe ins Meer, welche durch Strömungen wie der Golfstrom über weite Strecken des Ozeans verteilt werden können, weil sie erst nach und nach zu Boden sinken. Von der großen Menge Treibholz in nordischen Meeren ganz ı Ver gl. die wissenschaftlichen Ergebnisse der Vega-Expedition. Deutsche Ausgabe. Leipzig. Brockhaus 1883. p. 481 ff. ” ebenda p. 75—9. 436 Fr. Heincke, Der Lebevsreichtum des Meeres und seine Ursachen. II. zu schweigen, fand A. Acassız im karaibischen Meer 1800 bis 2400 m tief am Grunde Massen von gesunkenen Baumstämmen, Bambus, Zucker- rohr u. a. und an solchen Stellen auch zugleich ein reicheres Tierleben. So viel ist sicher — und in dieser Ansicht stimmen namhafte Forscher! mit mir überein — es kommt mehr Nahrung vom Festlande ins Meer als umgekehrt. Vermutlich wird die Ausnutzung der Pflanzennahrung durch die Meertiere auch dadurch begünstigt, daß wahrscheinlich im Meerwasser wegen seines größeren Gehaltes an Chlornatrium und Kohlensäure die Zersetzung des organischen Staubes nicht so schnell vor sich geht wie im süßen Wasser und namentlich in der Luft, daß derselbe also den Tieren zu gute kommt. Endlich werden im Süßwasser, besonders in lachen, stagnierenden Ansammlungen desselben, noch durch andere wich- tige Vorgänge enorme Pflanzenmengen der Ausnutzung durch Tiere ent- zogen, nämlich auf dem Wege der Vertorfung. Wegen der geringen Tiefe der süben Gewässer und ihrer geringen inneren Bewegung sinken grobe Pflanzenstücke fast unzerkleinert auf den Boden, werden hier von andern überwachsen und nach und nach in Torf verwandelt, hauptsäch- lich infolge eines ungenügenden Zutritts von Sauerstoff bei mangelhafter Zirkulation des Wassers. Auch auf dem festen Boden des Landes, in Urwäldern und Savannen, häufen sich im Laufe langer Zeiträume große Massen halbzersetzter organischer Stoffe, d. h. mächtige Humusschichten auf. Auch hier ist ungenügender Zutritt von Sauerstoff die Ursache zusammen mit der Unfähigkeit der Landtiere, die festen Pflanzenstoffe alle zu bewältigen. Denn so staunenswert auch die alles vernichtende Kraft vieler Insekten ist, z. B. der Ameisen und Termiten, welche selbst das härteste Holz verzehren, so reicht dies doch nicht aus, da außer andern Gründen schon die periodisch eintretende Unterbrechung der Lebensbedingungen ihnen nicht gestattet, unaufhörlich ihre Zerstörungs- arbeit auszuführen. Im Meere kann eine Bildung von Torf und Steinkohlen oder von mächtigen Humusschichten schon deshalb nicht stattfinden, weil, wie wir gleich sehen werden, die innere Bewegung des Meerwassers, also auch die Zirkulation des Sauerstoffs, weit größer und deshalb überall tierischen Wesen der Zutritt zu den feinverteilten organischen Stoffen möglich ist. So begreifen wir, warum Braun- und Steinkohlenlager Eigentümlichkeiten des Festlandes sind und sich am Meeresboden nicht bilden. Es finden sich in marinen Ablagerungen, wie z. B. dem sogen. Fukoidensandstein, zwar zahlreiche Reste vorweltlicher Algen, aber stets nur als Abdrücke oder in versteinertem Zustande; vielleicht sind diese Fukoidenversteiner- ungen auch nur Strandbildungen, hervorgegangen aus den vom Meere massenhaft ausgeworfenen Tangen. Wie ungeheuer groß die Kraftsumme ist, welche auf dem Festlande durch Vertorfung und nachfolgende Verkohlung in einen gebundenen Zustand im Lauf der Jahrtausende übergeführt worden ist, mag man aus der Mächtigkeit der Steinkohlenlager erschließen und ! Vergl. Hensen, Über die Befischung der deutschen Küsten. Jahresberichte der Kieler Kommission. Jahrgang II. u. III. p. 344. Fr. Heincke, Der Lebensreichtum des Meeres und seine Ursachen. II. 437 aus dem Nutzen, welchen ihre Ausbeutung gegenwärtig den Menschen gewährt. Diese ungeheure Kraft auf dem Festlande wieder frei zu machen, bedurfte es der menschlichen Intelligenz und nur durch sie ist die gegen- wärtige, gegen früher so verstärkte Leistungsfähigkeit der Menschheit möglich. Im Meere sind ähnliche Kraftsummen aber seit Jahrtausenden in ununterbrochener Wirksamkeit gewesen. Hiernach läßt sich wohl der Satz verteidigen, daß im Meere eine größere Menge organi- scher Substanz einen vollständigeren und weniger unter- brochenen Kreislauf durchmacht als auf dem Lande und im Süßwasser. Ich komme jetzt zu dem Kapitel von der Bewegung im Meere, auf deren Bedeutung für das organische Leben ich schon wiederholt hin- gewiesen habe und deren Wirkung aufs allerengste mit vielen anderen Eigentümlichkeiten des Meeres zusammenhängt. Ich glaube, es läßt sich unschwer der Beweis führen, daß dieBewegung des Meerwassers nicht nur im allgemeinen eine sehr vielgrößereistalsdiein densüßen Gewässern, sondern auch eine viel gleichmäßig- ere und stetigere. Einen Vergleich zwischen Luft und Meer brauchen wir hier kaum anzustellen; es ist a priori klar, daß die Bewegung in der Atmosphäre noch größer sein muß als im Meere, allein auch unter der Voraussetzung eines denkbar günstigsten Einflusses dieser Bewegung auf das Leben der Luftbewohner kann dieselbe doch im wesentlichen nur eine stete Durchmischung der verschiedenen Luftschichten und damit einen überall gleichen Gehalt derselben an den Atmungsgasen bewirken, keines- wegs aber die Bewohnbarkeit der Luft oberhalb des Erdbodens vermehren. Im Ozean dagegen muß eine starke und gleichmäßige innere Bewegung nicht bloß einen überall gleichen Salz- und Luftgehalt hervorrufen, son- dern auch die Bewohnbarkeit aller Schichten desselben infolge der gleich- mäßigeren Verteilung der schwimmenden Nahrung vermehren. Zwei Kräfte sind es hauptsächlich, welche die Bewegung des Wassers auf der Erde hervorrufen, nämlich die Sonnenwärme und die Gravi- tation oder Schwerkraft. Betrachten wir zunächst die Sonnenwärme. Dieselbe wirkt direkt auf das Wasser durch Erwärmung desselben. Diese muß einerseits, da sie örtlich und zeitlich verschieden ist, Ausgleichs- strömungen hervorrufen, anderseits Verdunstung des Wassers, worauf dann der entweichende Wasserdampf nach erfolgter Abkühlung in der Luft durch die Wirkung der Schwere wieder ins Meer zurückkehrt und dort Bewegungen verschiedener Art erzeugt. Viel wichtiger als die direkte Wirkung der Sonnenwärme ist aber die indirekte, welche zunächst die Luftströmungen oder Winde und durch Druck derselben auf die Wasseroberfläche Wellen und Strömungen erzeugt. Es frägt sich nun, ob die auf letztere Art erzeugte Bewegung im Meere stärker ist als in den süßen Gewässern. Da die letzteren sehr selten eine größere mittlere Tiefe als 100 m haben und die oberste Schicht des Meeres von derselben Tiefe augenscheinlich die an organischem Leben reichsten Teile desselben umfaßt, so wollen wir vor der Hand die tiefer gelegenen Teile des Meeres bei dem Vergleich mit den süßen Gewässern bei Seite lassen. Die Tiefe von 100 m bezeichnet auch ziemlich genau 438 Fr. Heincke, Der Lebensreichtum des Meeres und seine Ursachen. I. die Grenze zwischen der Litoralfauna und der Tiefenfauna des Meeres, welche in ihrem ganzen Charakter große und fast überall im Meere gleiche Unterschiede aufweisen. Es ist nun leicht einzusehen, daß der Vergleich zu gunsten der oberen 100 m Schicht des Meeres ausfallen muß, und zwar aus folgenden Gründen. l. Der Druck der Winde muß auf die Oberfläche des Meeres im Mittel viel stärker wirken als auf die Oberfläche der süßen Gewässer, weil in letzterem Falle seine Kraft durch Reibung am Boden und dessen Unebenheiten abgeschwächt wird. 2. Die in Bewegung gesetzte obere 100 m Schicht des Weltmeers bleibt länger in Bewegung, weil die Reibung der Wassermasse gegen das Festland, die in diesem Falle nur an den Küsten stattfindet, wegen der ungeheuren Flächenausbreitung des Meeres relativ fast gleich Null ist. In allen süßen Gewässern reibt sich die Wassermasse aber nicht nur an den relativ viel ausgedehnteren Uferrändern, sondern auch am Grunde; die Reibungsfläche ist offenbar um so größer, je kleiner ein süßes Gewässer. 3. Aus 1. und 2. folgt, daß im Meere höhere und längere Wellen entstehen müssen als in den süßen Gewässern. Die Meereswellen er- zeugen deshalb nicht nur eine beständigere und stärkere Durchmischung von Wasser und Atmosphäre, die für die Imprägnierung des Wassers mit Sauerstoff so notwendig ist, und zwar vorzugsweise dort, wo starke Brandung herrscht, also an den Küsten, sondern sie wirken auch bis in größere Tiefen. Es läßt sich mit Sicherheit behaupten, daß die Wellen der hohen See noch bis zu einer Tiefe von 50 m eine für das organische Leben wichtige Bewegung erzeugen, während die niedrigeren Wellen der süßen Gewässer nur selten tiefer als 5 m eine merkliche Bewegung her- vorbringen werden. Ganz flache süße Gewässer, wie Teiche und Tümpel, werden allerdings oft bis zum Grunde vom Winde aufgewühlt, aber es ist klar, daß dies für das organische Leben mehr schädlich als nützlich sein muß, zumal ein solcher Fall der Natur der Sache nach immer nur sporadisch eintreten kann. Der Wind erzeugt aber in einer Wassermasse nicht bloß Wellen, d. h. ein Auf- und Abschwingen der Wasserteilchen ohne bleibende Ortsver- änderung derselben, sondern auch Strömungen, d. h. anhaltende Fort- bewegung des Wassers in einer bestimmten Richtung, und zwar um so stär- kere, je kräftiger und länger er in einer bestimmten Richtung weht. Es liegt auf der Hand, daß solche Strömungen in der obern 100 m Schicht des Meeres viel stärker auftreten müssen als in süßen Gewässern. Denn auf letztere wirken die Winde nicht nur schwächer und unregelmäßiger, sondern die etwa entstehenden Strömungen werden auch durch das baldige Aufstoßen auf die Ufer geschwächt, zurückgeworfen und so vielfachen und im all- gemeinen abschwächenden Interferenzen ausgesetzt. Im Meere dagegen — so lehren etwa die neueren Theorien der Meeresströmungen ' — haben die Winde seit undenklichen Zeiten mehr oder weniger jährlich in den- ' Ich folge hier im wesentlichen der Darstellung dieses Gegenstandes in Hann, Hochstetter und Pokorny, Allgemeine Erdkunde III. Aufl. p. 166 ff. Fr. Heincke, Der Lebensreichtum des Meeres und seine Ursachen. II. 439 selben Richtungen mit gleicher Intensität geweht und so sind durch Summierung ihrer jährlichen, in bestimmter mittlerer Richtung zur Wirkung kommenden Kräfte Strömungen von bedeutender Kraft und Ausdehnung sowie großer Konstanz der Richtung entstanden, wie z. B. der Golf- strom. Solche Strömungen erzeugen aber notwendig ebenso regelmäßige Gegenströmungen und so befindet sich im Meere ein großer Teil der oberflächlichen Wassermasse in einer ununterbrochenen regelmäßigen Zir- kulation. Eine weitere, sehr mächtige und sehr regelmäßige Bewegung der oberflächlichen Meeresschichten wird durch Ebbe und Flut hervor- gerufen, namentlich an den flachen Küsten. Zweimal täglich wird die ganze Wassermasse hier bis zum Grunde nicht bloß hin und her be- wegt, sondern auch gleichzeitig durcheinander gemischt. In den süßen Gewässern ist nichts dergleichen; denn selbst in den ausgedehntesten derselben, wie den großen Seen von Nordamerika und Afrika, ist Ebbe und Flut fast gleich Null, weil eben aus Gründen, die hier nicht näher erörtert werden sollen, Flutwellen von Bedeutung nur in großen Meeren entstehen können. Aus demselben Grunde sind auch die Binnenmeere mit sehr geringer Ebbe und Flut dem Ozean gegenüber, was innere Be- wegung betrifft, im Nachteil. Die geringere und unregelmäßigere innere Bewegung der süßen Ge- wässer gegenüber der oberen, lebensreichen 100 m Schicht des Meeres erklärt nach meiner Ansicht zwei sehr wichtige Unterschiede in der tierischen Bevölkerung beider. l. Im Süßwasser ist die Zahl der festsitzenden Tiere, namentlich solcher ohne Strudelapparate, außerordent- lich viel geringer als im Meere. Aus der zahlreichen Klasse der festsitzenden Polypen leben in süßen Gewässern eigentlich nur 2 Arten, nämlich der Keulenpolyp (Cordylophora lacustris) und der kleine Süß- wasserpolyp (Hydra). Erstere Art bildet kleine Polypenstöcke, letztere bringt es dagegen nur selten und nur für kurze Zeit zur Stockbildung, meistens leben die Hydren einzeln und haben dabei noch die Fähigkeit, sich abzulösen und kriechend fortzubewegen, um für den Fall, daß wegen mangelnder Bewegung im Wasser keine Nahrung zugeführt wird, sich helfen zu können. Schon zahlreicher sind im Süßwasser solche fest- sitzende Tiere, welche durch Strudelapparate die mangelnde Bewegung ihres Aufenthaltsmediums ersetzen können, wie z. B. festsitzende Infu- sorien oder Glockentiere, Moostiere (Bryozoen) und Spongien; von letzteren ist jedoch nur die Gattung Spongilla vertreten und auch diese in der Regel nur in dem bewegteren Wasser der Flüsse. Solche Tiere endlich, welche wie die Muscheln ebenfalls von organischem Wasserstaub mit Hilfe von Strudelorganen sich ernähren, aber noch eine gewisse Fähigkeit der Orts- bewegung besitzen, sind im Süßwasser im allgemeinen beweglicher als im Meere, wie man bei Betrachtung eines Süßwasser- und Seewasser- aquariums leicht sehen kann. Nichts bezeichnet wohl den hier in Rede stehenden Gegensatz zwischen Süßwasser und Meer besser als der Ver- gleich zwischen den beweglichen, viel hin und her kriechenden Süß- wassermuscheln, von denen die kleineren, wie Cyclas und Pisidium, sehr 440 Fr. Heincke, Der Lebensreichtum des Meeres und seine Ursachen. II. geschickt zwischen Pflanzen, ja an senkrechten Glaswänden emporklettern, und den bewegungslosen Auster- oder Perlmuschelbänken oder zwischen der kleinen umherkriechenden, einzeln lebenden Aydra und den mehrere Meter hohen, ganz unbeweglichen Kolonien der meeresbewohnenden Ko- rallenpolypen. Letztere gedeihen nachweislich am besten an der Außen- seite des Riffs, soweit dasselbe beständig von Wasser bedeckt und der stärksten Brandung des offenen Weltmeers ausgesetzt ist; letztere ver- mag die mit festem Kalkskelett versehenen Korallen nicht zu zerstören und führt ihnen zugleich mit außerordentlicher Regelmäßigkeit immer neue im Wasser suspendierte Nahrung zu. Sehr belehrend ist auch der Ver- gleich zwischen den Protozoen des Meeres und der süben Gewässer: dort die sehr wenig beweglichen Sarkodetiere aus den Klassen der Rhizo- poden und Radiolarien, hier vorwiegend die lebhaft umherschwimmenden, flimmertragenden Infusorien. 2. Die meisten höher organisierten Süßwasserbewohner, so fastalle Schnecken und Fische, haben die Fähıipkeit, nicht bloß durch Kiemen, sondern daneben auch durch Lungen direkt die atmosphärische Luft zu atmen, indem sie von Zeit zu Zeit an die Oberfläche kommen und Luft schnappen. Im Meere kommen Doppelatmer äußerst selten und nur an der Küste in der Region der Gezeiten vor, wie die Strandschnecken (Zitorina) und manche Krabben (Brachyura). Es liegt auf der Hand, daß dieses Vermögen die Süßwasser- bewohner zur Überwindung der Gefahren befähigt, welche mangelhafte Durchmischung ihres Aufenthaltsmediums sowie der Wechsel im Wasser- stand und im Luftgehalt desselben ihnen bringen. Wir haben bisher bei unserem Vergleich zwischen Süßwasser und Meer die fließenden Gewässer des Festlandes außer acht ge- lassen. Offenbar ist in ihnen die innere Bewegung des Wassers viel größer als in stehenden Gewässern, ja bei sehr schnell fließenden Strömen und Gebirgsbächen kann sie sogar bedeutender sein als im Meere. Doch wird hierdurch das organische Leben nur scheinbar begünstigt. Das sübe Wasser der Flüsse fließt nämlich immer in einer und derselben Richtung und ohne Gegenströmungen zu erzeugen, es fehlt deshalb die gehörige Durchmischung und die suspendierte Nahrung wird an den Tieren zu schnell vorbeigeführt und nie zurückgebracht, wie z. B. bei Ebbe und Flut. Dies gilt gerade am meisten von sehr schnell fließenden Strömen ‚und Bächen, welche deshalb auch sehr arm an organischem Leben sind. Sie bergen neben Algen, welche an Steinen wachsen, meist nur solche Tiere, welche wie die Flußmuscheln zwischen Steinen im Sande des Fluß- bettes vergraben sind, an Orten, wo das Wasser sich temporär staut und Strudel bildet, oder andere, wie die Forellen, welche über die Wasser- fläche emporspringen und daher einen Teil ihres Nahrungsbedarfs durch über dem Wasser schwebende Insekten decken können. Das reichste organische Leben findet sich in solchen süßen Gewässern, welche wie die großen tropischen Ströme langsam fließen, viele langsame Strudel bilden und reichlichen Pflanzenwuchs im Wasser und an den Ufern besitzen, oder in solchen Landseen, die von größeren Flüssen durchströmt und da- durch in größere innere Bewegung versetzt werden. Niemals aber kommt Fr. Heincke, Der Lebensreichtum des Meeres und seine Ursachen. II. 441 die Lebensmenge solcher Gewässer derjenigen des Meeres in denseiben Breiten gleich. Ein Vergleich zwischen großen Strömen des Festlandes und großen Meeresströmungen überzeugt uns übrigens, daß die stärkere Bewegung den letzteren zukommt. Nach GrıkıE bewegt sich Flußwasser von mäßiger Geschwindigkeit etwa 2,5 km in der Stunde vorwärts. Der 200 m tiefe Golfstrom, anfangs 5, dann bis 90 deutsche Meilen breit, legt an der Küste von Florida eirca 7 klm in der Stunde und an der Küste der Vereinigten Staaten noch 4 km zurück!. Gehen wir jetzt über zu den größeren Tiefen des Meeres von 100 m abwärts bis S000 m! Diese lassen einen Vergleich mit den flachen süßen Gewässern nicht zu und müssen ganz für sich betrachtet werden. Welche bewegenden Kräfte wirken nun auf die un- geheure Wassermasse dieser Tiefen? Die Wirkung auch der höchsten Wellen kommt hier nicht mehr in Betracht, wohl aber jene Wirkung der Winde, welche die Meeresströmungen hervorruft. Oben wurde erörtert, daß die gegenwärtig bestehenden Meeresströmungen den Sum- mationseffekt der seit undenklichen Zeiten wirksamen Winde vorstellen. Es ist nun klar, daß die unausgesetzt strömenden oberflächlichen Wasser- massen schließlich ihr Bewegungsmoment auch auf die tiefern Wasser- schichten nach und nach übertragen mußten, so dal» gegenwärtig die Wirkung der Strömungen, wenn auch sehr abgeschwächt, bis in die größten Meerestiefen reichen muß. Man hat berechnet, daß ein 4000 m tiefer Ozean (die mittlere Tiefe der Ozeane beträgt nach KrünmeL etwa 3600 m), der anfangs in völliger Ruhe ist, wenn er 200 000 Jahre hindurch strom- erzeugenden Winden von der gegenwärtigen Stärke ausgesetzt wird, in einen stationären Bewegungszustand versetzt werden muß, derart, dab die Geschwindigkeit von der Oberfläche bis zum Boden proportional der Tiefe abnimmt?. Diesen stationären Bewegungszustand würden dann die jähr- lichen Winde unterhalten, indem sie nur noch die Reibung des Ozeans am Boden und an den Küsten zu überwinden haben, wozu sie jedenfalls aus- reichen, da die Reibungsfläche bei der ungeheuren Ausdehnung des Ozeans relativ kleiner ist als in jeder andern Wasseransammlung auf der Erde. Die zweite Kraft, welche für die Bewegung der tieferen Schichten des Meeres in Betracht kommt, ist Ebbe und Flut. Da die Tiefe des Meeres im Vergleich mit den Entfernungen des Mondes und der Sonne von der Erde verschwindend klein ist, so ziehen diese Himmelskörper die tiefsten Wasserteile des Meeres mit nahezu derselben Kraft an wie die höchsten, woraus eine beständige Durchmischung der ganzen Wassermasse des Ozeans resultiert, deren Größe sich allerdings bis jetzt noch nicht an- geben läßt. Eine dritte Bewegung des Meerwassers bis in die größten Tiefen wird gelegentlich, wohl häufiger als man denkt, durch Erdbeben her- vorgerufen, deren Wellen sich durch die ganze Wassermasse des Ozeans fortpflanzen. ı Vergl. Geikie, Physikalische Geographie. Deutsche Ausgabe 1881, p. 251. Hann, Hochstetter und Pokorny |. c. p. 161. Wyv. Thomson, The Depths of the Sea p. 356 und the Atlantie I. p. 358. ? Vergl. Hann, Hochstetter und Pokorny, 1. e. p. 170. 442 Fr. Heincke, Der Lebensreichtum des Meeres und seine Ursachen. II. Eine vierte und für das organische Leben besonders wichtige Be- wegung der tieferen Schichten des Meeres hat ihren Grund in der un- gleichen Erwärmung der Meeresoberfläche in den ver- schiedenen Zonen. Diese Bewegung ist zwar eine sehr langsame und unsere gegenwärtig sehr unvollkommenen Mittel, unterseeische Strömungen zu messen, reichen nicht aus, sie sicher zu konstatieren, aber da sein muß sie und zwar mit großer Regelmäßigkeit und Stetigkeit bis in die größten Tiefen. Dies geht aus folgenden Erörterungen und Beobachtungen hervor. Angenommen, das Meer wäre ganz auf die tropische Zone be- schränkt, so müßte sich die hohe Temperatur, welche das Oberflächen- wasser durch die Sonnenwärme erhält, nach und nach bis in die größten Tiefen ausbreiten und schließlich müßte die Temperatur der ganzen unteren Wassermasse so hoch sein wie die mittlere jährliche Oberflächentemperatur, ganz ebenso wie in Kellern von einen gewissen Tiefe konstant die Tempe- ratur herrscht, welche gleich der mittleren jährlichen Lufttemperatur des Ortes ist. Allein das Meer wird an der Oberfläche in der Nähe der Pole viel weniger erwärmt als nach dem Äquator zu; das infolge der niedrigeren Temperatur spezifisch schwerere Wasser der Polarmeere strebt deshalb nach unten, während das wärmere und deshalb spezifisch leichtere Oberflächen- wasser der warmen Meere nach den Polen zu abzufließen sucht. Nun erreicht das salzige Wasser der Ozeane seine Maximaldichtigkeit, d. h. seine größte Schwere erst bei —4 bis —5° C.!, einer Temperatur, welche noch unter der niedrigsten Temperatur des Polarwassers (—2 bis — 3° C.) liegt, und daraus folgt, daß letzteres nach und nach bis zum Boden der Ozeane hinabgleiten wird. In völliger Übereinstimmung mit dieser Theorie nimmt nun in der That auch in den Meeren mit sehr warmem Ober- flächenwasser die Temperatur mit der Tiefe sehr schnell ab und meist schon von 2000 m an hat das Wasser eine sehr niedrige, bis in die größten Tiefen fast konstant bleibende oder sehr langsam abnehmende Temperatur von O bis 3° C. ?, je nach der Örtlichkeit. Nur in den flacheren Polarmeeren ist die Bodentemperatur —1 bis — 2°” unter dem Nullpunkt. Jene gleichmäßig temperierte kalte Wassermasse in der Tiefe der warmen Meere kann nur aus den Polarmeeren stammen, wodurch das Vorhanden- sein einer beständigen Strömung unwiderleglich bewiesen wird. Dieselbe hat eine ungeheure Bedeutung für die Belebung der größten Meerestiefen, weil sie es ist, welche zugleich mit dem kalten Polarwasser eine große Menge organischen Wasserstaubes in die lichtlosen Tiefen des Ozeans führt, die sonst ohne Nahrung für die Tiefseetiere wären. Mit der Nahrung bringt sie aber gleichzeitig den Luftgehalt des Oberflächen- wassers in die Tiefe. Der von verschiedenen Forschern für das Tiefen- wasser berechnete Luftgehalt — Summe von Sauerstoff und Stickstoff — ist größer als an der Oberfläche, weil die Temperatur dort niedriger ist und dementsprechend das Wasser mehr Luft absorbieren kann. Daß aber das Tiefenwasser diese seiner Temperatur entsprechende Luftmenge wirk- lich absorbieren konnte, obwohl in dem darüberliegenden Wasser eine 1 Vergl. Bo guslawski, Ozeanographie p. 236. ?® Vergl. hier die zahlreichen Temperaturtabellen in Wyv. Thomson, The Atlantic. Fr. Heincke, Der Lebensreichtum des Meeres und seine Ursachen. II. 443 geringere Luftmenge vorhanden ist, läßt sich nach JAcogsEx nur durch die Annahme erklären, daß sich das Tiefenwasser einst mit annähernd der- selben Temperatur, welche es jetzt besitzt, an der Oberfläche befand. Das heißt aber soviel als: Das Tiefenwasser der warmen Teile des Ozeans war vorher Oberflächenwasser in den Polarmeeren!. Der größte Sauerstoffgehalt des Meerwassers findet sich nach JAcoBsEN und BucHanan im Oberflächenwasser (erklärlich durch die Nähe der Atmo- sphäre), von da an zeigt sich eine langsame Abnahme, ın den größten Tiefen aber wieder eine Zunahme. Hierdurch würde sich auch zum Teil erklären, warum das reichste organische Leben im Meere an der Ober- fläche bis etwa 400 m und dann auf dem Boden der großen Tiefen sich befindet, während die dazwischen liegenden Schichten ärmer sind. In Meeresteilen, welche durch unterseeische Barrieren von der freien Zuströmung des kalten Polarwassers abgeschnitten sind, namentlich also in tiefen Binnenmeeren, wie das Mittelmeer, welches nur durch die schmale und bloß 400 m tiefe Straße von Gibraltar mit dem Ozean in Verbindung steht, muß die Temperatur der Tiefe mehr abhängig sein von der Temperatur der Luft an der Oberfläche. In der That besitzt das Mittelmeer von etwa 400 m an in allen Tiefen eine gleiche und konstante Temperatur von etwa 13° C., d. h. gleich der mittleren Wintertemperatur der Mittelmeerländer. Natürlich ist die innere Bewegung in solchen Meeren weit geringer als im Ozean. Noch ungünstiger sind in dieser Beziehung die Süßwasserseen ge- stellt. Einmal ist ihr Oberflächenwasser wegen seiner geringen horizontalen Ausdehnung nur zeitlich, aber nicht örtlich verschiedener Erwärmung aus- gesetzt. Dann liegt die Maximaldichtigkeit des süben Wassers bei einer Temperatur von 4° C. über dem Nullpunkt. Das ÖOberflächenwasser kann deshalb nur so lange in die größten Tiefen hinabsteigen, als es über 4° C. Temperatur besitzt. Bei hinreichender Tiefe der süßen Ge- wässer wird somit jahraus jahrein am Grunde eine Temperatur von 4° C. herrschen, bei flacheren wenigstens im Winter. Während der ganzen Zeit aber, wo die Oberflächentemperatur unter 4° C. beträgt, hört die Zirkulation, soweit sie durch Wärmewirkung hervorgerufen wird, ganz auf. Es gibt noch eine ganze Zahl anderer Momente, welche eine innere Bewegung des Meerwassers hervorrufen. Die ungeheure auf das Meer niederfallende Regenmenge bringt außer ihrem direkten mechanischen Effekt dadurch Bewegung hervor, daß sich das salzlose Wasser mit dem salzreichen mischt, und dasselbe gilt von dem schmelzenden Eise der Polarländer, welches beim Gefrieren nur einen geringen Teil der Meersalze in sich aufgenommen hatte. Eine eigentümliche Wirkung des schmelzen- den Polareises auf das organische Leben wurde schon oben erwähnt; sie zeigt sich darin, daß der aus Diatomeen bestehende vegetabilische Meer- schleim in größter Menge unter schmelzendem Eise sich findet. Nach Prrrersox’s® Untersuchungen gehen beim Gefrieren des Seewassers vor- zugsweise Sulfate in das Eis über, während die Chloride in der Lauge gl. Boguslawski, Ozeanographie p. 137. o]. Naturforscher 1883, p. 385. 1 2 Ver Ver 444 Fr. Heincke, Der Lebensreichtum des Meeres und seine Ursachen. II. bleiben; vielleicht liegt hierin die Ursache jener auffälligen und enorm wichtigen Erscheinung. Eine andere Bewegung wird im Meerwasser dadurch bewirkt, dab bei der Verdunstung das Oberflächenwasser spezifisch schwerer wird und nach unten strebt. Durch solche und ähnliche, unaufhörlich wirkende Kräfte wird das Gleichgewicht an der Oberfläche des Meeres beständig gestört, aber ebenso schnell wieder hergestellt, wie die geringen Schwank- ungen im Salz- und Luftgehalt bekunden. Solche Zustände aber müssen dem organischen Leben günstig sein. Ich fasse das Resultat unserer Betrachtungen über die Bewegung im Wasser in folgenden Sätzen zusammen. 1. Das Meer ist eine einzige ungeheure Wasseransammlung von zeitlich und örtlich fast konstanter chemischer Zusammensetzung, die sich in einer seit undenkbaren Zeiten geregelten, gleichmäßigen und stetigen inneren Bewegung befindet, welche in den obersten Schichten erheblich größer ist als in den süßen Gewässern und welche zwar schwächer, doch bis in die größten Tiefen sich fortsetzt. 2. Die süßen Gewässer sind viele, winzig kleine Wasseransammlungen, gewissermaßen versprengte Teile des Meeres, mit einer für das organische Leben ungünstig veränderten, zeitlich und örtlich schwankenden chemischen Zusammensetzung und einer nur selten bedeutenderen inneren Bewegung, die stets eine ungeregelte und schwankende ist und häufig von Perioden fast totalen Stillstandes unterbrochen wird. 3. Die vom Weltmeer mehr oder weniger abgeschlossenen Binnen- meere nehmen eine vermittelnde Stellung zwischen den Ozeanen und den süben Gewässern ein. Ihre innere Bewegung ist stets viel geringer als die des Weltmeers. Ihre Tier- und Pflanzenwelt ist in der Regel viel ärmer und stets dort am reichsten entwickelt, wo die Verbindungsstraßen mit dem Weltmeer einmünden und die große innere Bewegung des letzteren ihre Wirkung auf einen Teil des Binnenmeeres ausüben kann. Die Ostsee, deren Fauna genauer bekannt ist als die irgend eines andern Meeres, illustriert vortrefflich den eben angedeuteten Charakter der Binnenmeere. Von den 109 Fischarten, welche in diesem Meere vor- kommen, sind nicht weniger als 37 Arten ganz auf den kleinen west- lichen Teil bis Rügen beschränkt, welcher durch Sund und Belte mit der Nordsee kommuniziert. Von wirbellosen Tieren leben in der Ostsee (die Protozoen und einige kleinere Gruppen abgerechnet) in runder Summe etwa 250 Arten und von ihnen finden sich gar 150 nur im westlichen Teil, während der sehr viel größere, aber vom Weltmeer ganz abge- schlossene östliche Teil nur 70 Arten beherbergt!. Der letzte Abschnitt unserer Betrachtungen soll den Temperatur- verhältnissen des Meeres gewidmet sein. Er ist in gewissem Sinne der wichtigste von allen. Sollten alle vorhergegangenen Erörterungen den Leser noch im Zweifel gelassen haben, ob wirklich das Meer dem i Vergl. Möbius, Die wirbellosen Tiere der Ostsee. Jahresbericht der Kieler Kommission zur Untersuchung der deutschen Meere. Jahrgang I. Möbius und Heincke, Die Fische der Ostsee. Ebenda Jahrgang VII--XI. Fr. Heincke, Der Lebensreichtum des Meeres und seine Ursachen. II. 445 organischen Leben günstiger ist als das Festland mit Einschluß seiner Gewässer, so werden, wie ich hoffe, jetzt auch diese letzten Zweifel zer- streut werden. Die Temperatur im Meere ist ungleich geringeren Schwankungen unterworfen als die derLuft und dersüßen Gewässer, sowohl örtlich wie zeitlich. Folgende Thatsachen beweisen dies!. Die höchste auf der Erde in heißen Gegenden vorkommende Luft- temperatur beträgt etwa 45° C., die niedrigste, am sibirischen Kältepol, —60° C., es finden sich also auf der ganzen Erde Temperaturdifferenzen bis über 100° C. Noch größer werden dieselben, wenn wir den Erd- boden selbst hinzuziehen: derselbe erwärmt sich, z. B. in der Sahara, oft über 70° C. Die höchste Wassertemperatur im Meere, welche im Roten Meer beobachtet wurde, beträgt 34,4° C., die niedrigste in den Polar- meeren etwa —3° C., die Differenz also nur 38° C., d. h. den dritten Teil von jener in der Luft. Die jährliche lokale Schwankung der Lufttemperatur, das ist die Differenz zwischen der mittleren Wärme des wärmsten und kältesten Monats, ist in den Tropen am geringsten und beträgt dort 1 bis 7°C. in der Höhe des Meeresspiegels, weiter nach Norden wird sie immer größer und in Sibirien und Grönland beträgt die Temperaturdifferenz zwischen dem wärmsten und kältesten Monat sogar 30 bis 60° C., in Berlin bereits 19,4° ©. Ganz anders die Meerestemperatur an der Oberfläche. In den äquatorialen Teilen des atlantischen Ozeans ist die jährliche Schwankung nur gleich 2 bis 3° C., bei 35° n. Br. erst 7,3° C. und selbst in den Polarmeeren nicht viel größer. In unseren süßen Gewässern ist die Temperatur der Oberfläche im Winter 0° C., im Sommer oft über 20° C., die Differenz also noch dreimal so groß als in den angrenzenden Meeren mit Ausnahme der Binnenmeere, z. B. der Ostsee, wo der Unterschied zwischen Winter- und Sommertemperatur im Oberflächenwasser bis 14° C., also noch zweimal soviel als im offenen Meere beträgt. Nur in den süßen Gewässern der Tropen wird die jährliche Temperaturschwankung des Wassers sehr gering sein. Noch günstiger fällt der Vergleich für das Meer aus, wenn wir die täglichen lokalen Temperaturschwankungen betrachten. Selbst in den Tropen sind dieselben in der Luft noch bedeutend, indem die Nacht im Mittel etwa 3—4° kälter ist als der Tag, im Innern der Kontinente betragen sie sogar nicht selten 15—20° C. In Berlin ist die tägliche Schwankung der Lufttemperatur im Mittel 7° C. In dem Oberflächen- wasser des Ozeans ist dagegen die tägliche Temperaturschwankung gleich Null und selbst in den Polargegenden wenig über Null®. Anderseits ist sie im Süßwasser unserer Gegenden recht bedeutend und kann zuweilen bis 10° C. betragen. In den großen Tiefen des Ozeans endlich, die mehrere tausend Meter hinabgehen, ist nicht nur die tägliche, sondern auch die jährliche Schwankung der Temperatur gleich Null; ja vom Pol bis zum Äquator ı Hier folge ich hauptsächlich den Angaben von Hann, Hochstetter und Pokorny sowie von Boguslawsky. 446 Fr. Heincke, Der Lebensreichtum des Meeres und seine Ursachen. II. herrscht hier nahezu die gleiche niedrige Temperatur von 1—2° C. und erklärt die Ähnlichkeit in der Fauna der tiefsten Abgründe aller Zonen. Die Ursachen der so geringen Temperaturschwankung im Meere liegen teils in seiner großen Tiefe und seinem hohen Salzgehalt, teils in seiner regelmäßigen inneren Bewegung, was ich hier nicht im einzelnen ausführen will. So viel ist sicher, dab die große Gleichmäßigkeit der Meeres- temperatur in Verbindung mit der Allgegenwart des Wassers, seinem hohen spezifischen Gewicht und seiner großen inneren Bewegung die Hauptbedingung für den Lebensreichtum der Ozeane ist. Um einen Be- griff von dem ungeheuer fördernden Einfluß zu geben, den eine gleich- mäßige Temperatur der Umgebung auf das organische Leben ausübt, weise ich auf einige bekannte Thatsachen hin. Die im Innern gleichwarmer Tiere lebenden Eingeweidewürmer, z. B. Band- und Spulwurm, sind wohl unter allen Tieren diejenigen, welche die größte Summe von Keimen und zwar ununterbrochen produzieren. Nach Esc#kıcHt und LeuckArr! bringt ein Spulwurm jährlich 64 Millionen Eier hervor, eine relative Stoffmenge bei der Vermehrung, welche ein menschliches Weib nur dann hervor- bringen könnte, wenn es täglich 70 Kinder gebären würde. Ferner kann die embryonale Entwickelung der höchstorganisierten Tiere, also der Vögel . und Säugetiere, nur in einer stets gleichbleibenden Temperatur ungestört vor sich gehen. Dieselbe kann in der Luft für den Embryo nur durch Brutpflege, beim Säugetier im Innern des gleichwarmen Leibes selbst, beim Vogel durch Bebrütung der Eier erzielt werden. Viele Kriechtiere, wie die Schildkröten und Krokodile, verscharren ihre Eier in den Sand und setzen sie dadurch der im Vergleich mit der Luft gleichmäßigeren Temperatur des Erdbodens aus. Im Meere sind dagegen solche Veran- staltungen meist unnötig und dadurch wird eine große Summe von Kraft erspart. Anderseits verlangt die größere Unregelmäßigkeit der Tempe- raturen in den süßen Gewässern, wo sonst die Verhältnisse der Existenz selbständig sich ernährender Embryonen günstig sind, dennoch eine größere Brutpflege als im Meere. Auf diese Weise glaube ich zum erstenmal eine Erklärung geben zu können für die interessante Thatsache, daß fast alleBewohner der süßen Gewässer verglichen mit nahe verwandten im Meere lebenden Tierarten länger in der ge- schützten Eihülle verweilen und in einer vollkommeneren Ge- stalt aus derselben schlüpfen. Vergleichen wir nur zwei in ihrem ganzen innern und äußern Bau so ähnliche Geschöpfe wie den Krebs im Süßwasser und den Hummer im Meere! Ersterer hat relativ viel größere Eier als letzterer und macht fast seine ganze Entwickelung im Innern der Eischale durch, so daß er beim Ausschlüpfen im wesentlichen schon ganz die Gestalt des ausgebildeten Krebses besitzt; der Hummer ver- läßt das Ei in einer Form, die so verschieden von seiner späteren aus- gebildeten Gestalt ist, daß ein Laie in solcher Larve schwerlich einen Hummer vermuten wird. Solche Beispiele ließen sich, wie jeder Zoologe weiß, aus allen Tierklassen anführen. Die große Gleichmäßigkeit der Temperatur in den größten Tiefen der Ozeane erklärt es wohl auch, daß ! Vergl. Leuckart, Parasiten des Menschen. 2. Aufl. p. 55. Fr. Heincke, Der Lebensreichtum des Meeres und seine Ursachen. I. 447 trotz des niedrigen Grades dieser Temperatur ein so reiches Tierleben dort gedeiht. Daß das Leben im Meere nirgends reicher ist als an den flachen Küsten der Äquatorialländer und der tropischen ozeanischen Inseln, be- darf kaum einer besonderen Erörterung; denn hier vereinigt sich ein hoher Wärmegrad des Wassers mit einer wahrscheinlich seit undenklichen Zeiten bestehenden Konstanz desselben. Der Einfluß einer konstanten, relativ hohen Temperatur ist von solcher Bedeutung, daß sogar andere Nachteile für das organische Leben dadurch aufgehoben werden. So wenigstens erkläre ich es mir, daß in dem abgeschlossenen Mittelmeer, dessen innere Bewegung jedenfalls viel geringer ist als die des Ozeans, das Leben in der Tiefe dennoch nach den neuesten französischen Forsch- ungen ein sehr reiches ist. Es herrscht eben in diesen Tiefen jahraus jahrein eine konstante Temperatur von 13° C., gleich der mittleren Wintertemperatur der Mittelmeerländer. Je weiter dagegen die im Innern wenig bewegten Binnenmeere nach Norden liegen, desto ärmer müssen sie an organischem Leben werden, namentlich dann, wenn ihr Salzgehalt und ihre Tiefe sehr gering sind, so daß die größeren jährlichen Schwank- ungen der Temperatur an der Oberfläche bis zum Meeresboden hinab- dringen. Aus diesen Gründen ist die Ostsee verglichen mit dem Mittel- meer arm und unproduktiv. Wenn es erlaubt ist, von der Gegenwart einige kühne Schlüsse auf längst vergangene Zeiten zu machen, so möchte ich annehmen, daß jenes Urmeer, in dessen Schoße einst das erste organische Leben entstand, eine relativ hohe und auf lange Zeit durchaus gleichmäßige Temperatur besaß. Es bot wahrscheinlich dem entstehenden Leben ähnliche Zustände, wie sie jetzt, wenn auch nur annähernd, in äquatorialen Meeren bestehen oder noch besser wie sie im Innern des Säugetierleibes oder des be- brüteten Vogeleies existieren. Wohl nur unter solchen Bedingungen ver- mochte die erste Zelle zu entstehen und sich später zu höher organi- sierten, vielzelligen Wesen zu entwickeln. Ohne Zweifel war das Meer die Mutter des Lebens. Auch jetzt noch, nachdem zahlreiche ihrer Kinder den mütterlichen Schoß verlassen haben und in veränderter Gestalt den Gefahren des Luftlebens trotzen, birgt das Meer eine unerschöpfliche Fülle von Leben und ist auch nach wie vor die Grundbedingung für die Existenz aller Luft- bewohner, weil ja alles Wasser ihm entstammt. Endlich bekunden fast alle Lufttiere noch heute ihren Ursprung aus dem Meere dadurch, daß sie die ersten Stufen ihrer embryonalen Entwickelung, welche mit der Teil- ung der Eizelle beginnt, unter Bedingungen durchlaufen, wie sie ähnlich nur im Schoße des Meeres gefunden werden. Ich bin am Ende meines Versuches angelangt, die Ursachen von dem Lebensreichtum des Meeres aufzusuchen. Die meisten derselben können wir nur andeuten oder ahnen, doch ist auch das schon hinreichend, uns zu immer neuer Arbeit zu ermutigen. Jeder, der seine Kräfte der Erforschung des Meeres und seiner Lebewelt widmet, hilft bewußt oder unbewußt mit zur Erreichung eines der erhabensten Ziele der Menschheit, das meine Phantasie auszudenken vermag. Herr des Meeres zu werden, seine un- 448 Fr. Heincke, Der Lebensreichtum des Meeres und seine Ursachen. II. geheuren Schätze zu heben, um die eigene Leistungsfähigkeit zu erhöhen, ist das nicht eine großartige Aussicht für die Menschen der Zukunft? Soweit wir auch von dieser Zukunft noch entfernt sein mögen, das be- ruhigende Gefühl können wir haben: wenn auch alle Teile der festen, bewohnbaren Erde von Menschen bevölkert sein werden, dann bleibt immer noch das Meer, dessen Nahrungsreichtum, mit neuen Mitteln ge- hoben, eine weitere Steigerung der Zahl und Intelligenz der Menschen fast ins Ungemessene gestatten wird; erst dann wird der Mensch sich »Herr der Erde« nennen können, denn was er bis jetzt dem Meere zu entnehmen vermag, das ist nicht einmal soviel, als jährlich an . Nahrungsstoffen vom Festlande dorthin befördert wird. Daß übrigens die Ausnutzung des Meeres durch den Menschen schon mit seinen jetzigen, unvollkommenen Hilfsmitteln einer enormen Steigerung fähig ist, beweisen die Bemühungen der letzten Dezennien auf dem Gebiete der Fischerei, namentlich in Nordamerika; haben dieselben doch die Ausbeute gegen früher vervielfacht. Das Bild auszumalen, welches der Mensch in Zukunft in bezug auf das Meer bieten mag, überlasse ich einstweilen der Phantasie eines JuLEs VERNE, wie sie sich in seinen »zwanzigtausend Meilen unter dem Meere« offenbart. Aber ich will zum Schluß noch darauf hinweisen, daß die Natur selbst bis zu einem gewissen Grade die Aufgabe gelöst hat, die ungeheuren Schätze des Meeres den hochorganisierten Geschöpfen des Luftkreises zugänglich zu machen. Sie schuf Milliarden von Schwimm- vögeln, deren einzige Nahrungsquelle das Meer ist, sie schuf endlich die Robben und die Fischsäugetiere oder Wale, welche die höhere Organi- sation der Luftbewohner mit allen Fähigkeiten vereinen, den Reichtum des Meeres für sich auszubeuten. Ist nicht die ungeheure Menge der Seehunde und die riesenhafte Größe der Wale, welche die aller anderen Tiere weit übertrifft, ein lebendiger Beweis für die ungleich größere Lebensfülle, welche das Meer im Vergleich mit dem Luftkreise beherbergt? Eine merkwürdige Form des Parasitismus unseres Haussperlings. Von Dr. Ed. Hoffer in Graz. Es ist eine bekannte Thatsache, dab dieser nichtsnutzige Vogel schmarotzt, wie und wo er nur kann. Daß er die Amseln sich plagen und Engerlinge, Regenwürmer etc. aus dem Boden ausgraben läßt, um mit denselben, kaum daß sie von der fleißigen Amsel mit Mühe ans Tages- licht befördert wurden, schleunigst das Weite zu suchen, kann man während der guten Jahreszeit auf unseren herrlichen Stadtparkwiesen täglich sehen. Der im nachstehenden zu schildernde Fall dürfte bisher kaum noch beob- achtet worden sein. Ich wohnte vor Jahren im dritten Stocke eines Hauses mit sehr hohen Zimmern, genoß also eine schöne Aussicht über die ganze Umgebung und konnte so mit größter Leichtigkeit das Treiben der mun- teren Vogelwelt ringsumher beobachten. Auf dem gegenüber befindlichen einstöckigen Hause befand sich unter anderem auch ein im Frühling nicht benutzter Rauchfang mit ein paar seitlichen Öffnungen. In diesem ließ sich ein Bachstelzenpaar nieder und legte das zierliche Nest etwa zwei Dezimeter vom östlichen Eingang entfernt an. Wir beobachteten von unserer luftigen Warte aus die Tierchen von dem Momente an, als sie einige Neststoffe zusammentrugen, bis zu der schweren und doch so fröh- lichen Zeit, als sie die Jungen zu füttern hatten. Eines Tages aber be- merkte ich einen Spatzen, dessen Nest sich hinter der an die Mauer angedrückten Jalousie des benachbarten Hauses befand, wie er beim Eingange zum Bachstelzennest stand, von dem Nahrung zutragenden Bachstelzenpaare Tribut forderte und denselben auch ohne weiteres mit Gewalt den Bachstelzen aus dem Schnabel nahm, um ihn gleich darauf seinen ewig hungrigen Jungen zuzutragen. Die Sache interessierte mich so, daß ich jeden freien Augenblick am Fenster mit der Beobachtung des frechen Räubers zubrachte. Da sah ich denn, daß es hauptsächlich das Männchen des Sperlings auf Raub und Gewalt abgesehen hatte, wäh- rend das Weibchen nur gelegentlich die armen Bachstelzen malträtierte. Die letzteren waren durch das freche Benehmen des Strolches so ge- ängstigt, daß sie häufig mehr als 10 Minuten mit dem für die Jungen Kosmos 1884, II. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XV). 29 450 Ed. Hoffer, Eine merkwürdige Form des Parasitismus unseres Haussperlings. bestimmten Leckerbissen im Schnabel auf einem benachbarten Baume oder Dache saßen, um den Moment abzupassen, wenn sich der Sperling entfernen sollte, und dann schnell zuzufliegen und die Jungen, die immer nach Futter schrien, zu ätzen. Oft gelang ihnen das, oft aber stürzte der Sperling vor der Bachstelze zum Eingang und raubte den Wurm, der den Hunger der jungen Bachstelzen stillen sollte. Nach einigen Tagen flog die ganze Spatzengesellschaft aus dem Nest und nun postierten sich auch die Jungen vor dem Bachstelzenneste. Da war es denn sehr merk- würdig, zu sehen, wie es die Bachstelzen anstellten, um doch etwas auch ihren eigenen Jungen zukommen zu lassen. Es flogen nämlich beide zu- gleich gegen den östlich gelegenen, gewöhnlich benutzten Eingang, dann aber, wenn alle fünf jungen Spatzen sich dort zusammendrängten, flog die eine oder andere Bachstelze plötzlich beim südlichen Eingang ins Nest zu den Jungen. Mitunter wurde ihr aber auch dann noch der fette Bissen aus dem Schnabel gerissen, indem schnell der alte Spatz auf die andere Seite flog. Und so ging es einige Tage fort, bis sich endlich die ganze Spatzengesellschaft verlor. — Nie bemerkte ich, daß die Bachstelzen irgend einen Versuch gewagt hätten, die frechen Räuber zu verdrängen; nie machten sie von ihren Schnäbeln gegen die Spatzen Gebrauch, wahrschein- lich im Gefühle ihrer Schwäche; wohl aber versuchten sie neben der früher angegebenen Art auch noch die Spatzen dadurch zu überlisten, daß sie ganz nahe an dieselben flogen, dann aber plötzlich sie zu über- fliegen versuchten, was ihnen indessen nur selten gelang; gewöhnlich erwischte nämlich dabei der Spatz den herabhängenden Teil der Beute und entriß dieselbe der Bachstelze, auch wenn diese sich noch so sehr dagegen sträubte. Wissenschaftliche Rundschau. Die 57. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Magdeburg. (Schlußb.) Indem wir diezwar an sich und im Hinblick auf ihre praktische Bedeut- ung hochinteressanten Vorträge von G. RonLrs über >Die Bedeutung Afri- kas in Beziehung zu Deutschland«, von Med. R. Schwartz (Köln) über >Die Stellung der Hygieine zur allgemeinen praktischen Heilkunde« in der ersten, und von Prof. Brauns (Halle) über »Die Insel Yeso und ihre Bewohner« sowie von Dr. Huyssexn (Halle) über »Die Tiefbohrungen im norddeutschen Flachlande« in der zweiten allgemeinen Sitzung hier übergehen, sind wir genötigt, auch das für uns Wichtigere aus den Vor- trägen in den Sektionssitzungen in gedrängter Kürze wiederzugeben, was um so eher geschehen kann, als ja diesmal durch die ungewöhnlich beschleunigte Fertigstellung des >» Tageblattes« jedermann sofort Gelegenheit geboten worden ist, selber Einsicht in den Gang der Verhandlungen zu nehmen. Prof. Nenrıne (Berlin), »Die diluviale Fauna der Provinz Sachsen und der unmittelbar benachbarten Gebietee — eine kritische Zusam- menstellung der bisherigen Funde, welche abgesehen von zahlreichen Felshöhlen im Gebirge vorzugsweise aus mit Lehm und lößartigen Bild- ungen ausgefüllten Klüften und Spalten von Gips- und Kalksteinbrüchen stammen. Besonders wichtig für weitere Folgerungen sind die zahlreichen Säugetiere; die ebenfalls ziemlich häufigen Land- und Süßwasser- Konchylien hält Nenring (gegenüber SANDBERGER) nicht für geeignet zur Bestimmung des damaligen Klimas u.s. w., da sie zumeist weit ver- breitet und großen Verschiedenheiten in der Feuchtigkeit, Vegetation etc. angepaßt erscheinen. Unsere diluvialen Säugetiere lassen sich in vier Gruppen bringen. 1) Ausgestorben. Elephas primigenius (Mammut) und KRhinoceros tichorhinus (büschelhaariges Nashorn) sehr häufig, teils prä-, teils post- glazial, während der Höhe der Eiszeit wohl nur als Sommergäste; El. antiquus im südlichen Gebiet, E. priseus zweifelhaft, Rh. Merkii vereinzelt; Ursus spelaeus (Höhlenbär) nur im Gebirge, Hyaena spelaea dagegen auch in der Ebene bis Thiede; Cervus euryceros (Riesenhirsch) selten, Bos primi- genius (Urstier) während der milderen Epochen häufig, dagegen nie mit 452 Wissenschaftliche Rundschau. echt arktischen Tieren zusammen gefunden, also wohl in der eigentlichen Gletscherzeit südwärts gewandert; endlich Felis spelaea, falls sie von Felis leo zu trennen ist. — 2) Durch klimatische Veränderungen ver- drängt. a) Arktische Gruppe, d. h. Charaktertiere der arktischen Region. Canis lagopus (Eisfuchs) ; Cervus tarandus (Rentier), von NEHRING nur in echt diluvialen Schichten, von anderen aber auch in Mooren, Flußbetten und Seen gefunden, Oribos moschatus (Schafochs) nur 2 Funde; Myodes lemmus (gemeiner Lemming) sehr zahlreich, jedoch »sind die Reste aus zoogeographischen Gründen wahrscheinlich noch richtiger mit M. obensis zu identifizieren«; M. torguatus (Halsbandlemming), Arvicola ratticeps (nor- dische Wühlratte), Lepu svariabilis (Schneehase), sämtlich nicht selten. — b) Subarktische Gruppe, d. h. Charaktertiere der subarktischen Steppen Osteuropas und Westsibiriens. Alactaga jaculus (großer Sand- springer) häufig, zwei Spermophilus-Arten, die größere wohl zu Sp. rufes- cens (Orenburger Ziesel) und nicht wie früher geschehen zu Sp. altaicus, die kleinere seltene zu Sp. guttatus zu rechnen; Arctomys bobac (Steppen- murmeltier) oder vielleicht nach Liege die Stammform der beiden heutigen Arten; Oricetus phaeus, ein sehr zierlicher kleiner Hamster, vereinzelt; ein Stachelschwein (Hystrix hirsutirostris?); mehrere Wühlmäuse, z. B. Arvicola gregalis und andere jetzt in den Steppen lebende; Zagomys pu- sillus (Zwergpfeifhase), gegenwärtig in Europa nur noch hier und da zwischen Wolga und Ural; vielleicht auch sein nordischer Verwandter L. hyperboreus,; Antilopenreste, wahrscheinlich von A. saiga, und eine schlank gebaute Zguus-Art, wohl E. hemionus (Dschiggetai). — 3) Durch den Menschen ausgerottet oder verdrängt. (Canis lupus (Wolf), in einer ziemlich schmächtigen Rasse; Ursus arctos selten, Felis Iyn« nur an der Südgrenze; vielleicht gehört hierher auch Felis spelaea — leo ; Bison europaeus (Wisent) resp. sein Stammvater Bos priscus, selten; ebenso Cervus alces (Elch), meist jüngeren Datums, aus Torfmooren; sehr zahl- reich und wichtig aber Eyuwus caballus ferus (Wildpferd) in kräftiger mittel- großer langköpfiger Rasse. — 4) Noch jetzt beiunslebend. Mehrere Fledermäuse wie Vespertilio murinus und Daubentonii, Plecotus auritus, eine Sorex-Art, Talpa europaea, Canis vulpes, Mustela martes, M. foina, Foetorius putorius, IF. erminea, F. vulgaris, Lutra vulgaris, Meles taxus, Cricetus fru- mentarius, Arvicola arvalis, A. amphibius, Castor fiber, Lepus timidus, Sus scrofa ferus, Cervus elaphus, ©. capreolus, vielleicht auch Felis catus, Sceiu- rus vulgaris. Von diesen fehlen aber alle echten Waldtiere, d. h. die Bewohner des hochstämmigen Waldes, wie Felis catus, Mustela martes, Seiurus vulgaris, Cervus elaphus, C. capreolus in den Ablagerungen der Eis- und Steppenzeit gänzlich. An den typischen Fundorten von Thiede, ‚Westeregeln und Quedlinburg fehlen außerdem Talpa europaea, Mustela Ffoina, Cricetus frumentarius, Sus scrofa ferus, Castor fiber und Lutra vul- garis, während Canis vulpes, Meles taxus und Sorex selten sind. Die Fleder- mäuse schließen sich den Steppentieren an. Aber auch im Auftreten bezw. Verschwinden aller übrigen Säugetiere läßt sich eine bestimmte Aufeinanderfolge erkennen und danach, speziell für die zwischen dem Harz und der norddeutschen Tiefebene gelegene Landschaft, die ganze klimatische, Fauna- und Florageschichte etwa. wie Wissenschaftliche Rundschau. 453 folgt skizzieren: 1) Präglaziale Zeit. Waldfauna (Cervus elaphus, ©. dama, ©. capreolus ete.). Vorherrschende Waldvegetation. Feuchtes ge- mäßigtes Klima ähnlich dem jetzigen. 2) Glazialzeit. Arktische Fauna (Canis lagopus, Foetorius erminea, Myodes torqguatus, M. lemmus, Arvicola ratticeps, Lepus variabilis, Cervus tarandus, von Vögeln: Zagopus albus, L.mutus, Nyetea nivea, Schnepfen, nordische Enten ete.). Der hochstämmige Wald vernichtet oder ganz reduziert, auf den von. Gletschereis freien Gebieten eine Vegetation von arktischen Moosen, Flechten, Beerensträuchern, krüppelhaften Holzgewächsen (Zwergbirken und -weiden, Legföhren etc.). Feuchtes kaltes Klima ähnlich dem des heutigen Grönland. — 3) Steppen- zeit. Subarktische Steppenfauna, vertreten durch die obengenannte Gruppe sowie durch Vögel, welche offenes, unbewaldetes Terrain lieben; echte Waldtiere nur an der Südgrenze vereinzelt. Vorherrschende Vege- tation Gräser, Krautpflanzen, kurzes Gestrüpp, die Waldvegetation wesentlich nur an den Ufern von Flüssen und Seen, ähnlich wie heute in Westsibirien. Klima kontinental, trocken. — 4) Jungdiluviale Waldzeit. Allmähliches Wiedererscheinen der Waldfauna, wobei auch manche neue Spezies mit vordringen; besonders häufig Gruppe 1) (Aus- gestorbene), die jedoch auch früher als Sommergäste auftraten. Zu- nehmende Ausbreitung des Hochwaldes. Klima milder und feuchter ähn- lich dem jetzigen. — 5) Alluvialzeit, in drei Abschnitte zerlegbar: der ältere entspricht für unser Gebiet ungefähr der neolithischen Zeit, der mittlere der älteren Metallzeit (Bronze- und primitive Eisenzeit), der neuere deckt sich etwa mit der historischen Periode. Auf ihre nähere Charakterisierung kann hier nicht eingegangen werden. Prof. NeurinG berichtet ferner über »Schädel und Skelett der Inca-Hunde aus den Gräbern von Ancon«, bezüglich deren wir unsere Leser auf die Abhandlung des Autors im 2. Hefte dieses Ban- des verweisen; er schließt aber hieran noch »Bemerkungen über die Abstammung derselben«, die auch für die Herkunft der übrigen Haus- hundrassen von Bedeutung sind. Die Incahunde stammen nach ihm vom nordamerikanischen Wolfe (Zupus occidentalis) bezw. von einer seiner Varietäten (insbesondere von den in Mexiko und Texas verbreiteten L. mexicanus und rufus) ab; vielleicht ist auch eine gelegentliche Bei- mischung des Coyote (Canis latrans) anzunehmen, dagegen haben sie mit den südamerikanischen Canis-Arten gar nichts zu thun. Die Gründe hierfür sind zahlreichen Merkmalen des Schädels und des Gebisses ent- nommen; insbesondere wird auch die außerordentliche Übereinstimmung der Incahunde mit den Eskimohunden nachgewiesen, welche letztere un- zweifelhaft aus dem (nordamerikanischen) Wolf hervorgegangen sind. Nur die Größenunterschiede scheinen dagegen zu sprechen; wie wenig Ge- wicht aber auf diese zu legen ist, zeigt Redner durch eine Anzahl in- teressanter Vergleiche zwischen Wölfen in wildem Zustande und solchen, die in der Gefangenschaft geboren sind. Letztere weisen schon in der ersten Generation erstaunliche Abänderungen in Größe und Proportionen des Schädels sowie besonders in Größe, Form und Stellung der Zähne auf, und zwar durchaus von solcher Art, daß sie deutlich den Übergang zum Haushundtypus anbahnen; namentlich erscheinen die Zähne, obwohl 454 Wissenschaftliche Rundschau. sie selbst an Größe abgenommen, doch immer noch zu groß für die ver- hältnismäßig noch stärker verkürzten Kiefer und zeigen die Neigung, sich neben statt hintereinander zu ordnen. Es ist also keineswegs berechtigt, wenn man (wie z. B. Wouprıch und JEerrTELEs) den Nachweis völliger Über- einstimmung in Größe und Form verlangt, bevor die Abstammung eines Haustieres von einer wilden Art anerkannt werden könne. Prof. Lanpors (Münster) schildert treffend die Halbheit und zum Teil Zwecklosigkeit der meisten zoologischen Gärten und empfiehlt die Anlegung kleinerer Gärten mit begrenztem Beobachtungs- und For- schungsgebiet. Er weist auf die Erfolge des Vereins »Zoologische Sek- tion für Westfalen und Lippe« hin, welcher 1) seit neun Jahren einen Garten zunächst für einheimische Tiere unterhält, der bereits alljährlich Überschüsse abwirft; 2) in Verbindung damit ein zoologisches Landes- museum errichtet hat, das namentlich die biologische Seite in den Vor- dergrund stellt und schon nahezu auch für die Wirbellosen vollständig ist; 3) wissenschaftliche Verzeichnisse der heimischen Fauna veröffentlicht und 4) für weitere Kreise »Westfalens Tierleben in Wort und Bild« in vorzüglicher Ausstattung herausgibt, von welchem Werke der erste Band, die Säugetiere, fertig vorgelegt wird. Derselbe berichtet über Magenuntersuchungen von Spechten aus der Provinz Westfalen zur Beurteilung ihres Nutzens und Schadens. Diese beweisen, daß die Spechte wenigstens in West- falen vorzugsweise nützlich wirken. Sommers und Winters besteht ihre Nahrung aus tierischen und pflanzlichen Stoffen, letztere sind aber haupt- sächlich Kiefernsamen und ähnliche. Daß auch winzige Insekten reich- lich verzehrt werden, lehrt das oft massenhafte Vorkommen von Blatt- läusen und kleinen Dipterenlarven in ihrem Magen. Das einfache Per- kutieren der Rinde schädigt den Baum nicht, auch die Anlage der Nist- höhlen ist mehr nützlich als schädlich, weil sie den kleinen Höhlen- brütern vorarbeitet und nicht in gesunden Bäumen stattfindet. Dr. MüLtexHorr (Berlin): Die Größe der Flugflächen. Das von DE Lucy aufgestellte »Gesetz«, daß ein Tier verhältnismäßig um so kleinere Flügelflächen besitze, je größer es ist, auf das sich auch v. Lex- DENFELD und MÜLLENHOFF stützten — der letztere jedoch mit dem Un- terschied, daß er nicht nur die Fläche der Flügel, sondern die gesamte Unterfläche des Tieres, das sogen. »Segelareal« mißt und berücksichtigt, weil eben diese als wirksame Trag- und Gleitfläche von Bedeutung ist — wird von MÜLLENHOFF als unrichtig nachgewiesen und durch Messungen an ca. 400 Tieren und entsprechende Rechnungen gezeigt, dab die Ver- schiedenheiten in der relativen Größe des Segelareals von der Körpergröße ganz unabhängig. daß die größten und die kleinsten Flugtiere durchaus ähnlich gebaut sind. Redner gibt eine richtigere Berechnung der rela- tiven Segelgrößen, berücksichtigt aber namentlich auch zur Beurteilung des Flugvermögens die Stärke der Brustmuskulatur und die daraus resul- tierende Schnelligkeit des Flügelschlags, die bisher nur wenig beachtet wurde; hiernach gruppiert er die Flieger nach Typen: Wachteltypus Wissenschaftliche Rundschau. 455 (z. B. Stubenfliege, Biene, Hummel, Wasserkäfer, Enten, Wachteln), Fa- sanen-, Sperlings-, Geier-, Tagfalter-, Schwalben- und Möventypus, von denen die letzten beiden die vollkommensten Beispiele einer Fortbeweg- ung mit Propellern bezw. mit Segeln bieten — die Länge der Flügel dient bei den Möven, deren Segelareal dasselbe ist wie beim Geiertypus, die aber bei schwacher Brustmuskulatur eine ganz andere Flugmethode haben, nicht zur Erzeugung kräftiger Luftbewegung, sondern nur zur vollkommenen Ausnutzung vorhandener Luftströme, während die Schwalben bei einem Segelareal gleich dem des Sperlings doch vermöge der Länge ihrer Flügel und der Stärke ihrer Brustmuskulatur äußerst wirksame Flügelschläge ausführen. Indem Verf. die Beobachtungen MArry’s über die Zahl der Flügelschläge verwertet, kommt er noch zu den wich- tigen Resultaten, daß »die Gewichte aller Tiere umgekehrt proportional sind den dritten Potenzen ihrer in der Zeiteinheit ausgeführten Flügel- schläge, oder anders ausgedrückt, daß die Zahl der Flügelschläge eines Tieres annähernd umgekehrt proportional ist der Kubikwurzel aus seinem Gewichte«; ferner daß »die Flügellänge bei den verschiedensten Flug- tieren umgekehrt proportional ist der Zahl der in der Zeiteinheit aus- geführten Flügelschläge, daß also die Flügelendpunkte aller Flugtiere mit nahezu gleicher Geschwindigkeit von etwa 1,8 m in der Sekunde durch die Luft schlagen«. Derselbe bespricht die Bedeutung der Ameisensäure im Bienenhonig, worüber wir im nächsten Heft im Anschluß an die Unter- suchungen des Verf. über die Entstehung der Bienenzellen berichten werden. Prof. LeuckArr (Leipzig) beschreibt einen neuen heterogonen Nematoden, Allantonema mirabile, dessen parasitäre Generation als ein 3 mm langer und reichlich 1 mm dicker wurstförmig gekrümmter Körper in der Leibeshöhle von Hylobius piei (Tannenrüsselkäfer) gefun- den wurde. Die Leibeswand dieses Körpers umschließt nichts als einen weiten Sack und einen mächtigen Genitalapparat, bestehend aus einem langen gewundenen Faden, welcher die Bildungsstätte der Eier enthält, und einem daran schließenden plumpen Zapfen, an dessen Basis die Eier durch eine von gelblichem Sperma gebildete Anschwellung hindurchtreten müssen, um dann in dem Sacke ihre Embryonalentwickelung durchzumachen. Die daraus entstehenden rhabditisartigen Nematoden von 0,4 mm Länge, welche bald zu Tausenden in die Leibeshöhle des Käfers gelangen, wo sie wachsen, sich mit Reservestoffen versehen und die erste Häutung erleiden, treten schließlich durch die weichen Rückenhäute ihres Trägers ins Freie, wo sie in wenigen Tagen bei einer Größe von 0,5—0,9 mm geschlechtsreif werden und sich begatten. Ihre wenig zahlreichen Eier sind größer als die der parasitären Generation, besitzen eine ziemlich harte Schale und werden noch während der Furchung abgelegt. Die daraus hervorgehenden Tiere sind etwas kleiner und mit mehr pfriemen- artigem Schwanzende versehen als ihre Eltern, wachsen aber nach einigen Tagen im Freien zur Geschlechtsreife heran. Wie viele freie Genera- tionen auf einander folgen und wie die Einwanderung in den Käfer, jedenfalls in dessen Larve, erfolgt, ist noch nicht festgestellt. 456 . Wissenschaftliche Rundschau. Über weitere Mitteilungen von Prof. Leuckart, die Entwickel- ung des Leberegels (Distomum hepaticum) betreffend, ist im »Tage- blatt« leider so unklar referiert, daß wir hierauf nicht eingehen können. Aus den von Prof. W. Brasıus (Braunschweig) mitgeteilten neuen Thatsachen in betreff der Überreste von Alca impennis L. (zur Vervollständigung seiner im Journ. f. Ornithol. Januar 1884 gegebenen Übersicht) heben wir deren zwei hervor, die allgemeineres Interesse bieten. Im Museum zu Darmstadt befand sich bis vor kurzem ein ausgestopftes Exemplar dieses höchst wahrscheinlich in den 40er Jahren unseres Jahr- hunderts gänzlich ausgerotteten Vogels. Dasselbe wurde aber von Buasıus auf Grund der Angaben verschiedener Gewährsmänner als vollständiges Kunstprodukt aufgeführt. Der jetzige Direktor desMuseums, Prof. G. v. Koch, erfuhr jedoch auf näheres Befragen von dem ehemaligen Verfertiger dieses Stückes, daß, wie derselbe sich genau erinnere, ein Teil des Schädels und die eine Schnabelhälfte echt, der Balg aber aus Stücken von Alca forda, Colymbus u. s. w. zusammengesetzt sei. Beim Aufweichen des gänz- lich verkleisterten Kopfes fand sich in der That ein fast vollkommen er- haltener Schädel mit einigen Stücken der Hornscheide von Alca impenmnis vor. Es stellte sich dann heraus, daß diese Teile wahrscheinlich dem alten Naturalienkabinet, wo sie einst einem ausgestopften Tiere angehörten, entstammen. Kaur, der frühere Direktor und berühmter Paläontolog, hatte »den echten Schädel mit falschen Federn überkleben, mit Wachs überziehen und zu einem ganzen Vogel ergänzen lassen!« — höchstwahrscheinlich weil das Originalexemplar durch Nachlässigkeit größtenteils den Motten ete. zum Opfer gefallen war. — Eine zweite Leistung der Museologie: das Musee Texter in Haarlem besaß einen Balg von Alca impennis, der, wohl ebenfalls weil er verdorben und zur Schaustellung nicht mehr tauglich war, >»zur Zeit der Direktion von Prof. BrepAa absichtlich verbrannt wurde, wie es scheint ohne irgend welche Knochenstücke daraus zu gewinnen.mal mehr Kalium, Smal mehr Phosphorsäure und ist reicher an Stick- stoff als das im Winter gefällte Holz; thatsächlich wird aber jetzt das Holz in großen Forstgebieten mit Vorliebe im ersten Frühjahr gefällt, weil dann die Rinde ungleich besser verwertet werden kann; — wir er- innern noch an die beherzigenswerten Worte von Dr. JeHx (Merzig) über Pubertätszeit und Überbürdungsfrage und an die hoffentlich bald zu wirklicher Ausführung anregenden Vorträge von Geh.-R. NEUMAYER (Hamburg) über die Bedeutung synoptischer (meteorologischer) Studien im südatlantischen Ozean und über die Wichtigkeit fortgesetzter erd- physikalischer Untersuchungen in den antarktischen Gebieten — und schließen damit, freilich ohne die Fülle des Erwähnenswerten erschöpft zu haben, diesen ohnehin zu lang gewordenen Bericht. BEN: Vorgeschiehzie: Das erste Auftreten des Eisens in Nordeuropa.' Seit dem Erscheinen der unter obgenanntem Titel veröffentlichten deutschen Ausgabe des s. Z. vielberedeten Werkes des norwegischen Archäologen Dr. IsGvarLp Unpser sind bereits zwei Jahre vergangen. Durfte das Buch seine Leser nur in den Kreisen der Altertumsforscher und Altertumsfreunde suchen, so ist doch die in demselben behandelte Frage von so allgemeinem Interesse, daß es auch weiteren Kreisen will- kommen sein dürfte, zu hören, wie der Verf. dieselbe angreift und erledigt. Die Bedeutung der Kenntnis und praktischen Verwendung des Eisens für die allgemeine Kulturentwickelung bedarf hier keiner näheren Erörterung. Ein Autor, welcher das erste Auftreten dieses Nutzmetalls in Behandlung nimmt, hat zunächst die Frage zu beantworten, wann und von woher es uns zugebracht worden. Dazu war es nötig, die Kulturzustände vor dem Erscheinen des Eisens zu beleuchten, die Gerätformen dieser älteren Periode mit den ersten eisernen Geräten zu vergleichen und die Spuren dieser neuen fremden Formen bis an den Ort ihres Ursprunges zu ver- folgen. In seinem Studierzimmer findet der Forscher das dazu nötige Material nicht. Er hat weite Wege zu wandeln, um es mühsam ein- zusammeln, und einen weiten Sehkreis mit seinem spähenden Blick zu ! Ingvald Undset: Das erste Auftreten des Eisens in Nordeuropa. 524 u. XVI Seiten, mit 209 Figuren in Holzschnitt und 32 Tafeln. Hamburg, Otto Meissner, 1882. Wissenschaftliche Rundschau. 461 umspannen. Dr. Unpser hat 60 Museen zu dem Zwecke abgesucht unter Benutzung der gesamten einschlägigen Litteratur, die ihm in den größeren Bibliotheken des deutschen Kontinents zugänglich war. Wer es versucht hat, in unseren keineswegs nach einheitlichem Prinzip geordneten Altertumsmuseen Aufzeichnungen zu machen, wo es oftmals schwer fällt, die gewünschte Auskunft zu erhalten, wo die Kataloge nicht immer zugänglich oder mangelhaft geführt sind, wo die Namen der Fundorte durch die Glasthüren schlecht beleuchteter Schränke kaum zu erkennen, der weiß, welche Geduld, welcher Arbeitsmut dazu gehört, das Material, dessen man bedarf, zu sammeln, zu sichten und zu ordnen. Dr. Unpser behandelt in den beiden Hauptabschnitten seines Buches 1. Norddeutschland, 2. Skandinavien. In der Einleitung zieht er die norditalischen und mitteleuropäischen Kulturverhältnisse während der frühen Eisenzeit in Betracht, weil die Kenntnis derselben für das Ver- ständnis gewisser fremder Kulturelemente in den nordischen Sammlungen sowie für die chronologische Feststellung gewisser Erscheinungen und Wandlungen unentbehrlich ist. In gewissen norditalischen Gräbern einer voretruskischen Zeit, in welcher zuerst eiserne Geräte erscheinen, finden wir ähnliche Begräbnis- gebräuche, ähnliche Beigaben an Waffen, Schmuck und Gerät wie im Norden. Deshalb nimmt der Verf. hier den Ausgangspunkt für seine Untersuchung. Das erste größere Gräberfeld dieser Art wurde 1853 vom Grafen GozzAvını auf seinem unweit Bologna gelegenen Landgute Villa nova entdeckt, aufgegraben und litterarisch bearbeitet, und weil die Gefäbe und die darin gefundenen Beigaben als einer bisher unbekannten, eigen- artigen Kulturgruppe angehörig erkannt wurden, die seitdem durch zahl- reiche andere norditalische Funde Bestätigung gefunden, so sind diese typischen Formen mit dem Namen Villanova-Typen bezeichnet und unter dieser Benennung nunmehr allgemein bekannt. Nördlich der Alpen treten uns zwei charakteristische Kulturgruppen aus der ersten Eisenzeit entgegen, die beide in Beziehungen zu den nord- italischen Nekropolen stehen, anderseits aber auch die nordeuropäischen Länder stark beeinflußt haben. Die erste, die sogen. Hallstatt-Gruppe zieht in einem breiten Gürtel von Krain in westlicher Richtung bis nach Frankreich hinein. Sie trägt den Namen des kleinen Städtchens Hallstatt im Salzkammergut, weil dort vor mehreren Jahrzehnten ein großes Gräber- feld entdeckt und ausgebeutet und von dem verst. Freiherrn vox SACKEN beschrieben und veröffentlicht wurde. Die Toten waren teils unverbrannt, teils verbrannt und außergewöhnlich reich mit Beigaben bedacht: Schwerter, Speere, Kelte, Werkzeuge von Bronze und von Eisen, Bronzegefäße, breite Gürtel von gemustertem Bronzeblech, Armringe, Kleiderspangen, Glasperlen, Thongefäße u. s. w. u. s. w., und alle diese Sachen zeigen in ihren Formen und Ornamenten, ja im Material so große Ähnlichkeit mit den Fundsachen aus den norditalischen Nekropolen, daß die Auffassung der Hallstatter Gräberfunde als Importwaren vom Süden her wohl be- rechtigt schien. Als aber diesseits und jenseits der Alpen die Funde gleicher Art sich mehrten und alsbald ein größeres Material für ver- gleichende Studien vorlag, da erkannte man doch, daß beide eine Kultur- 462 Wissenschaftliche Rundschau. gruppe für sich kennzeichneten, zugleich aber auch, daß die nördlichere, die fortan nach dem Fundorte Hallstatt benannt ward, ihre Vorbilder und verschiedenes Material von den Nachbarn im Süden empfangen hatte. Als charakteristisch für die Hallstatt-Gruppe läßt sich das zu Gefäßen, Gürteln ete. verwandte dünn ausgehämmerte Bronzeblech anführen, das durch Nietung zusammengefügt und mit gepunzten ÖOrnamenten reich verziert, zuweilen völlig bedeckt wurde. Beachtenswert ist ferner, dab die eisernen Waffen und Geräte zum Teil Nachbildungen der älteren Bronzewaffen und Gerätformen sind. Die zweite Kulturgruppe ist bekannt unter dem Namen la Tene, der gleichfalls von dem Fundorte entlehnt ist. In der Nähe der kleinen Ortschaft Marin am Neuenburger See (Schweiz) wurde auf einer Untiefe ein großer Fund an eisernen Waffen und sonstigem Gerät gehoben, alle von durchaus eigenartigen Formen und vortrefflicher Arbeit. Die darunter befindlichen gallischen Münzen, Nachbildungen griechischer, makedonischer und massaliotischer Münzen von Silber und Gold, die Lage des Fund- ortes und der entschieden vorrömische Charakter des Gesamtfundes be- rechtigten, denselben als keltischen Ursprunges aufzufassen, wie auch Freiherr vos SAcKkEn in den Funden von Hallstatt die Hinterlassenschaft einer keltischen Bevölkerung, der Taurisker, erblickte. Im Gegensatz zur Hallstatt-Gruppe zeichnen sich, wie dies von HıLpEBRAND (jetzigem schwedischem Reichsantiquar) zuerst erkannt und ausgesprochen worden, die la Tene-Formen durch Konzentrierung, Streben nach Abrundung und kräftige Profilierung aus. Die letztgenannte Gruppe läßt sich von der Schweiz nach Frankreich, Belgien, den britischen Inseln, ins Rheinland, nach Böhmen, West-Ungarn und Norditalien verfolgen. Die nördliche Grenze meint Uxpser in Thüringen zu finden. Das Verhältnis der la Tene-Gruppe zur Hallstatt-Gruppe liegt noch nicht klar zu Tage. Sprechen wir letzterer, deren Gebiet weiter östlich liegt (hauptsächlich im Donaugebiet), ein höheres Alter zu als den west- lichen la Tene-Formen, so ist doch kein Grund für die Annahme, daß die la Tene-Kultur sich aus der Hallstatt-Kultur entwickelt habe. Hier und dort berühren sich beide auf demselben Gebiet. Uxpser ist nicht ab- geneigt, gewisse la Tene-Formen auf norditalische Voraussetzungen zurückzuführen; Tıschner (Königsberg) teilt diese Ansicht nicht. Die Gräber von Villanova hat schon ConeEstAgBıLEe ins 10. Jahrh. v. Chr. gesetzt; für das Gräberfeld von Hallstatt nimmt man etwa 500 v. Chr. an und der Fund bei Marin kann nicht viel jünger sein. Da finden wir uns in allen drei Gruppen im letzten Jahrtausend v. Chr., d. i. dieselbe Zeit, wo in Norddeutschland (Hannover, Mecklenburg, Provinz Sachsen, Brandenburg, Pommern, kimbrische Halbinsel) und Skandinavien eine scharf charakterisierte reine Bronzekultur in höchster Blüte steht, die kein anderes Metall kennt als Zinnbronze und Gold, woraus Waffen, Gerät und Schmuck angefertigt werden. Diese rätselhafte Erscheinung: reine Bronzekultur im nördlichen Europa, während in südlicheren Ländern, von wo auf dem Wege des Handels der Bedarf an Metall und die Vorbilder für die schönen Bronzesachen bezogen wurden, eine voll entwickelte Eisen- kultur herrschte, ist trotz mancher Versuche noch immer nicht erklärt. Wissenschaftliche Rundschau. 463 Aus den Schriften der Alten wissen wir, dab die Etrusker Handels- verbindungen nach allen Richtungen angeknüpft hatten, tief hinein in die Barbarenwelt. Diese Handelswege sind großenteils bekannt, unter anderem hat GENTHE in seinem Buche über den etruskischen Tausch- handel viele Nachweise gebracht, die bei kritischer Benutzung sehr zu schätzen sind. Altitalische Bronzen sind nicht nur in das »Hallstatt- gebiet«, sondern weit darüber hinaus nach dem Norden getragen; reich- licher als diese sind indessen die Industrieerzeugnisse aus den alten Sitzen der Hallstatt-Kultur im Norden vertreten und ist es allerdings auf- fällig, daß mit diesen nicht zugleich auch die Kenntnis und der praktische Gebrauch eiserner Geräte eingeführt worden ist. Wohl finden wir in unseren Sammlungen einzelne Eisenobjekte, die mit ausländischen Bronzen ins Land gekommen sind; allein zwischen den nach Tausenden zählenden einheimischen Fabrikaten fallen sie sofort als Fremdlinge in die Augen. Bei Priment (Posen) wurde z. B. eine cylindrische gerippte Bronzeciste von bekannter norditalischer Form gefunden, welche außer etlichen nordischen Bronzen eine kleine eiserne Axt und eine eiserne Nadel enthielt; in einer gleichartigen Bronzeciste aus einem Grabhügel bei Pansdorf unweit Lübeck lag ein eisernes Messer. Ein anderes eisernes Messer begleitete eine schöne getriebene Bronzekanne (Seitenstück zu einer gleichartigen Kanne aus den Gräbern von Hallstatt), die aus einem Grabe bei Bordesholm in Holstein stammt. Aus Dithmarschen (Holstein) kennen wir zwei bronzene Messerhefte von nicht nordischen Formen, die beide eine eiserne Klinge gefaßt haben; eines derselben gehört zu einem reichen, allerdings späten Bronzegrabfunde. Ähnliche Beispiele ließen sich aus verschiedenen Provinzen mehrere anführen, aber immer sind sie Aus- nahmeerscheinungen; nirgends spürt man einen Versuch, sie nachzubilden, wie es mit den importierten Bronzen in ausgiebiger Weise geschehen ist. Wirklichen Eingang fand das Eisen in Norddeutschland erst in den letzten zwei Jahrhunderten v. Chr. mit einer neuen Strömung (Handel?) von Süden her, welche Eisengerät aus der la Tene-Gruppe brachte. Da kommen mit den neuen fremdartigen Formen und manchem fremden Material alsbald auch andere Neuerungen: neue technische Kunstgriffe, veränderte Begräbnisweise, so daß man angesichts dieser vielfachen Ver- änderungen bekennen muß: da ist eine neue Kulturperiode eingetreten. Nach Unpser’s Meinung ist die Bewegung von Thüringen ausgegangen, nach Osten bis nach Westpreußen, nordwestlich längs der Saale und Elbe ziehend. Merkwürdigerweise scheint Mecklenburg weniger davon be- rührt worden zu sein als die Grenznachbarn. Wie weit diese Kultur nach Norden sich fühlbar macht, ist noch nicht zu bestimmen. Auf Bornholm ist sie so stark vertreten, daß man dort Schritt für Schritt den Übergang von der Bronzezeit in die Eisenzeit verfolgen kann und der Gedanke an eine plötzliche Einwanderung neuer Bewohner hier wie an manchen anderen Orten abzuweisen ist. Auf den dänischen Inseln und auf der skandinavischen Halbinse] waren die Funde von la Töne-Sachen bisher spärlich. Seit dem Erscheinen des Unpser’schen Buches haben sie sich auch dort gemehrt, und wenn sein Ausspruch, daß die vorrömische Eisenzeit dort, wenn sie jemals existiert, kaum von längerer Dauer ge- 464 Wissenschaftliche Rundschau. wesen sein dürfte, da die la Tene-Formen alsbald mit römischen Kultur- elementen vermischt auftreten und bald von diesen verdrängt werden, sich auch in der Hauptsache bewähren dürfte, so kann doch die nächste Zeit schon lehren, daß sie dort stärker vertreten gewesen, als man bisher anzu- nehmen gewagt. Dahingegen wissen wir mit Gewißheit, daß aus den römi- schen Niederlassungen im Rhein- und Donaugebiet so starke Zufuhren römi- scher Waren nach Norden gingen, daß uns sofort in den Funden aus den ersten Jahrhunderten n. Chr. auch nördlich der Elbe eine von römi- schem Einfluß stark gefärbte Kulturwelt entgegentritt. Uxpser schildert in neunzehn Kapiteln die Eigenart jeder ‚Provinz und ihre Beziehungen zu den Nachbarländern. Er lehrt uns rheinische la Tene-Formen kennen, gewisse Fundgruppen, die bestimmten Gegenden eigen sind (Elsaß, Baden, Rheinland), Böhmen, Schlesien, Lausitz, Hannover, Elbmündung ete.; er schärft unseren Blick für lokale Umbildungen gewisser Grundformen, die als Beweise für das Entstehen kleinerer Kulturzentren gelten dürfen. Um ein Bild der damaligen Kulturverhältnisse zu zeichnen und den Einfluß, welchen die Völkergruppen auf einander übten und von einander erfuhren, bedurfte es noch anderer Hilfsmittel als dieser Produkte der Metall- industrie. Der Verf. zieht deshalb auch die Keramik in den Kreis seiner Untersuchungen und zeigt in der Form und Dekoration der irdenen Ge- fäße den Einfluß südlicher Töpferkunst. Ebenso in der Begräbnisweise. Damit ist es indessen eine etwas verwickelte Sache, denn schon in den norditalischen Nekropolen treten nicht nur Skelettgräber und Leichen- brand neben einander auf, die verbrannten Gebeine sind auch bald in einem Gefäß (ossuarium) beigesetzt, bald zu einem Häuflein zusammenge- scharrt, bald mit den Rückständen vom Leichenbrande in kesselartigen Gru- ben angetroffen. Die Urnen stehen bald in Hügeln, bald im flachen Erdboden, bald frei, bald in Geröll eingepackt, bald in einer kleinen Steinkiste. Es bedarf, um diese abweichenden Begräbnisbräuche zu verstehen, noch vieler sorgfältiger Beobachtungen und vor allem übersichtlich geordneter Verzeich- nisse der verschiedenen Gräberformen dieser Periode in sämtlichen Provinzen. Das Material, welches Usps#er gesammelt, ist ein so massenhaftes, daß man wohl begreift, daß der erste Versuch, dasselbe zusammenzustellen und vorzulegen, nach mancher Richtung Lücken zeigt und hier und dort kleine Irrtümer sich eingeschlichen haben. Lückenhaft mußte die Dar- stellung schon deshalb bleiben, weil das Material nicht gleichmäßig ge- sammelt und, wo es vorhanden, nur ausnahmsweise übersichtlich auf- gestellt ist und folglich eine korrekte Aufnahme desselben, wie schon oben gesagt, äußerst schwierig war. Der Verf. darf nicht allein die Nach- sicht der Museumsvorstände und Besitzer privater Sammlungen, welche derlei kleine Irrtümer nachweisen könnten, beanspruchen, er darf auch erwarten, dab sie die Berichtigungen und Ergänzungen nicht nur in das ihnen vorliegende Exemplar seines Buches eintragen, sondern diese Nach- träge auch ihm mitteilen und thunlichst zu weiterer Kunde bringen!. ' Dies ist in ausführlicher Weise besorgt von Herrn Dr. Kühne in Stettin in einer Schrift betitelt: Die ältesten Metallaltertümer Pommerns, eine Erwiderung auf die Schrift von Undset: Das erste Auftreten des Eisens in Nordeuropa (Baltische Wissenschaftliche Rundschau. 465 Man hat dem Eisengerät in älterer Zeit wenig Beachtung geschenkt. Es ist seiner schwierigen Konservierung wegen ein unbequemes und oben- drein größtenteils unschönes Material, weshalb man es an manchen Orten gar nicht der Aufbewahrung wert hielt. Erst seit den letzten Jahrzehnten hat man begonnen, die groben Begräbnisplätze aus der frühen Eisenzeit, wo die Urnen zu vielen Hunderten dicht unter der Erde beisammen stehen und leider oft von der Pflugschar zertrümmert werden, planmäßig auf- zudecken. In der Regel kommen die Gefäße in Scherben zu Tage und es erfordert viel Zeit, Geduld und Geschicklichkeit, um sie wieder auf- zubauen, was sowohl um sie auf ihre Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit mit den Urnen anderer Fundgebiete zu prüfen, als um ein Bild von der damaligen Töpferei zu geben, unumgänglich notwendig ist. Das erste methodisch aufgegrabene und beschriebene und deshalb für die Wissenschaft zu verwertende Material aus der frühen Eisenzeit verdanken wir dem Amtmanne Vepen auf Bornholm. (Aarböger nord. Oldkyndighed etc. 1570 und 1872.) Danach ist in Deutschland der vortrefflichen Untersuchung des Urnenfriedhofes bei Darzau. (Hannover) von Dr. Hosrmaxn zu erwähnen (Braunschweig, Vieweg, 1874); ferner VırcHow’s Aufdeckung des Gräberfeldes von Zaborowo in Posen, welches uns eine bis dahin völlig unbekannte Kulturgruppe vor Augen führt und kennzeichnet (beschrieben in verschiedenen Jahrgängen der Verhandl. der Berliner Gesellschaft f. Anthropologie ete.); nicht minder erwähnens- wert sind die Ausgrabungen und durch sie veranlaßten vortrefflichen Publikationen des Dr. TischLer in Königsberg. Diese Arbeiten, welche durch zahlreiche kleinere Berichte in ver- schiedenen Zeitschriften ergänzt werden, machen uns mit den Haupt- punkten der vorhistorischen Eisenzeit bekannt, von dem ersten Beginn bis in die Völkerwanderungszeit. Im Kieler Museum barg vor zehn Jahren ein Schrank sämtliche Gräberfunde aus der Eisenzeit, jetzt sind zwei Säle damit gefüllt und es mangelt an Platz, das eingehende Material unterzubringen. Vor zehn Jahren war es nötig, mit Bitten in die Landleute zu dringen, daß sie bei der Feldarbeit darauf achten möchten, ob etwa beim Pflügen irdene Topfscherben aufgeworfen würden — jetzt könnte man fast ohne Über- treibung sagen: man kann in Schleswig-Holstein kaum irgendwo den Fuß hinsetzen, ohne auf einen Urnenfriedhof zu stoßen, und seltsam genug sind die meisten der in den letzten Jahren zufällig gefundenen Urnen- Studien 1883, Bd. 33 S. 291—360). Die Ergänzungen sind in hohem Grade dankens- wert, die Berichtigungen dagegen in einem Tone gegeben, den wir aus der deutschen wissenschaftlichen Litteratur verschwinden sehen möchten. Während erfahrene, ver- dienstvolle Kollegen (ich nenne unter diesen Dr. Tischler in Königsberg und Dr. Rautenberg in Hamburg) Undset's Tüchtigkeit volle Anerkennung zollen und namentlich seine strenge Methode allen Forschern auf so dunklen Pfaden zur Nachahmung empfehlen, muß ein jeder, der Kühne’s Abhandlung liest, ohne Undset und seine litterarischen Leistungen zu kennen, die Ansicht gewinnen, daß es das unreife, flüchtige Machwerk eines Anfängers sei, welches hier mit beißender Ironie abgefertigt wird. Jedenfalls sollte niemand versäumen, neben der Kühne'’schen „Erwiderung“ das Undset’sche Buch zur Hand zu nehmen, um die citierten Stellen nachzuschlagen und den wirklichen Sinn derselben im richtigen Zusammenhange des Textes mit der Auslegung des Herrn K. zu vergleichen. Kosmos 1884, I. Bd. (VIIT. Jahrgang, Bd. XV). 30 466 Wissenschaftliche Rundschau. gräber wie auch die methodisch aufgedeckten Gräberfelder alle aus der sogen. vorrömischen, d. h. aus der ältesten Periode. Schon genügt das Material, um die Übergänge von der Bronzezeit in die Eisenzeit zu ver- folgen, und auch hier ist der Gedanke an die Einführung des Eisens durch neue Einwanderer fortan aufzugeben. Die Beigaben sind in diesen ältesten Urnengräbern spärlich. Das Gerät beschränkt sich auf Messer, Scheren, Pincetten, der Schmuck auf Ziernadeln in großer Mannigfaltig- keit, Fibeln, Gürtelhaken, Ringe etc., und hier kann man wieder mit Uxpser die Frage stellen: was ist von diesen Sachen von den Nordländern selbst fabriziert, was ist durch den Handel ihnen gebracht worden '? Bemerkenswert ist jedenfalls, wie auch der Verf. hervorhebt, daß neben vielen völlig gleichartigen allgemeinen Formen auch eigenartige lokale Formen vorkommen (z. B. bronzene la Tene-Fibeln in Jütland, hol- steinische Metallgürtel), die, bis anderswo gleiche Formen zu Tage kom- men, auf eine überraschende Tüchtigkeit einheimischer Metallarbeiter schließen lassen. In den Gräbern der sogen. römischen Periode findet man hier und dort eine reichere Ausstattung. In Mecklenburg und auf Seeland sind aus Skelettgräbern wahrhaft kostbare Sachen ans Licht gekommen. Die Besucher des Kopenhagener Museums werden sich der wunderbaren Glas- gefäße mit buntfarbigen figürlichen Darstellungen erinnern, der prächtigen Bronzegefäße, der Gold- und Silberschmucksachen u. s. w. Nachdem derartige Erzeugnisse der römischen Industrie durch fahrende Händler bis an die Gestade der Nord- und Ostsee und weit darüber hinausgetragen waren (Bronzegefäße mit lateinischen Inschriften sind in Schweden und Norwegen aus Gräbern des ersten Jahrh. n. Chr. ans Licht gekommen), wurden alsbald die Nordlande hineingezogen in den Bereich einer höher entwickelten Kultur, die in günstigem Boden Wurzeln trieb und unter steten neuen Anregungen vom Süden her zu einer Blüte gedieh, welche man ohne die aus den Gräber-, Erd- und Moorfunden beigebrachten Beweise dem Norden niemals zuerkannt haben würde. Kiel. J. MESTORF. Zoologre: Das Tierleben auf der Insel Trinidad. Seitdem es immer öfter vorkommt, daß wissenschaftlich gründlich vorgebildete Forscher nicht mehr um rein geographischer Zwecke willen, sondern in der Absicht, botanische, zoologische etc. Spezialuntersuchungen ' Herr Kühne a. a. O. erblickt auch in dieser Frage einen der vielen Widersprüche, deren er den Verf. anklagt, indem er sie einem Ausspruch in einem früheren Kapitel gegenüberstellt, wo Undset die Meisterschaft der Nord- länder im Bronzeguß rühmt. Wer die Stelle im Undset’schen Buche nachschlägt, der wird finden, daß dieser Ausspruch sich auf die Fabrikate der eigentlichen Bronzezeit bezieht, wohingegen die oben gestellte Frage sich auf das Kleingerät von Bronze und Eisen bezieht, das oft sich so völlig gleicht, daß man es als das Produkt größerer Industrieplätze zu betrachten geneigt ist. Wissenschaftliche Rundschau. 467 vorzunehmen, ferne Länder besuchen, mehren sich auch in erfreulicher Weise die Reiseberichte, in denen wirklich zuverlässige, sachliche, an Ort ‚und Stelle mit kritisch geschultem Auge gewonnene Bechachtungen über die tierischen und pflanzlichen Bewohner derselben zu finden sind. Ein solcher Bericht liegt heute vor uns!. Obgleich der Verfasser seine wäh- rend eines mehrmonatlichen Aufenthaltes auf der Insel Trinidad gesammel- ten Kenntnisse und Erfahrungen, welche er in dieser kleinen Schrift nieder- gelegt hat, bloß als gelegentliche Bemerkungen betrachtet wissen will, die vor allem nur selbst Gesehenes wiedergeben sollen und jeden An- spruch auf Benutzung des von anderen etwa schon Geleisteten abweisen, so bieten sie uns doch eine Menge interessanter neuer Thatsachen in einfacher und zugleich gefälliger Form und dürften sie namentlich für un- sere Leser eine willkommene Ergänzung zu den vortrefflichen Schilderungen unseres Mitarbeiters Dr. Fr. Jomow aus einem anderen Teile Westindiens bilden, in denen vorzugsweise die Flora und deren eigenartige Anpassungs- erscheinungen berücksichtigt sind”. Wir können uns daher nicht ver- sagen, hier etwas näher auf den Inhalt der vorliegenden Schrift einzu- gehen. Vielleicht ist es nicht überflüssig, vorauszuschicken, daß die In- sel Trinidad nebst Tobago und einigen anderen kleinen Inseln an der Küste von Guyana in zoogeographischer Hinsicht nicht zur westindischen Subregion, sondern zu dem großen Hauptteil des südamerikanischen Fest- landes, zur brasilianischen Subregion gehören, von der sie auch nur durch verhältnismäßig seichte Meeresarme geschieden sind, welche die Annahme einer Landverbindung noch in der letzten geologischen Epoche durchaus gerechtfertigt erscheinen lassen, während gegen die kleinen Antillen hin die Tiefe rasch zunimmt. Da Verf. seine Aufmerksamkeit vorzugsweise den niederen Tieren geschenkt hat, so macht er bezüglich der höheren Tierwelt, die ja auch schon anderweitig vielfach beschrieben worden ist, nur auf die stark überwiegende Zahl der Baumtiere aufmerksam. Unter den Säugetieren sind es die Affen, Wickelbären [Cercoleptes|, Kletterstachler [oder Baum- stachelschweine, Cercolabes], Beutelratten und Ameisenfresser | Tamandua], die mit Wickelschwänzen und Greiffüßen versehen ein ausschließliches Baumleben führen; eine kleinere Katze (Felis pardalis) und ein oder zwei Eichhörnchen kann man gleichfalls zu den Baumtieren rechnen, so daß nur ein Reh, ein Schwein [Dicotyles], einige Nager (Aguti und Hydrochoe- rus) und das Gürteltier als exklusiv dem Boden angehörende Formen übrig bleiben, und von diesen darf fast die Hälfte als Wassertiere an- gesehen werden. Dieser relative Mangel an Erdtieren rührt wohl weniger vom Einfluß des Menschen als vom Überwiegen des Urwaldes her, der keine Savannen entstehen läßt. So finden sich auch unter den Reptilien, die ı „Biologische und faunistische Notizen aus Trinidad.“ Von Dr. J. Kennel. (Aus: Arbeiten a. d. zool.-zootom. Institut in Würzburg, herausg. v. Prof. Dr. C. Semper, Bd. VI.) Wiesbaden, Kreidel’s Verlag, 1883. 28 S. 8°. „Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela; I. Die Mangrove- Sümpfe.“ Kosmos 1884, I. Bd. S. 415. „II. Eine Exkursion nach dem kochenden See auf Dominica.“ ibid. IL. Bd. S. 112, 270. Weitere Fortsetzungen folgen zu An- fang des nächsten Jahres. 468 Wissenschaftliche Rundschau. ausschließlich Fleischfresser sind, auffallend viele Baumbewohner, Eidechsen sowohl als Schlangen, und während in Tümpeln und im Gras nur einige Kröten leben, hat man die Frösche sämtlich auf den Bäumen zu suchen. Die Sübwasserfauna läßt sich passend in vier Gruppen bringen, deren Charaktere wesentlich durch die Eigenart der verschiedenen Gewässer bedingt werden, jedoch natürlich ohne daß sich scharfe Grenzen ziehen ließen. Zunächst kommen die Gebirgsflüßchen mit starker Strömung und meist felsigem oder kiesbedecktem Bett in Betracht, deren ziemlich spär- liche Tierbevölkerung (mehrere kleine Fische, einige Krebse der Gattung Atya, auch Kurzschwänzer, Insektenlarven und wenige Würmer, keine Schnecken) sich zumeist dadurch schützt, daß sie sich hinter und unter Steinen aufhält oder vergleichbar den Klettertieren des Waldes mittels verschieden gestalteter Saugorgane an die Felsblöcke anheftet. Ein Pan- zerwels (Plecostomus) thut dies mit dem Munde, zahlreiche Insektenlarven tragen auf der Bauchseite paarige oder in der Mittellinie reihenweis angeordnete Saugnäpfe; zugleich entbehren diese im Gegensatz zu ihren in ruhigerem Wasser lebenden Verwandten sämtlich der Tracheenkiemen, Atemröhren oder dgl. Den Übergang zu den Bewohnern der Kanäle mit langsamfließen- dem Wasser, hauptsächlich in Zuckerpflanzungen, bildet ein kleiner Cyprin- odonte (5 cm) mit prachtvoller Färbung des Männchens im Hochzeits- kleide, lebendig gebärend; derselbe scheint ungemein zäh und aus- dauernd zu sein und kaum ein Hindernis seiner Verbreitung zu kennen, denn er kommt sowohl auf dem Gipfel steiler Felswände als in dem Tränktrog einer Viehweide, häufig in den winzigsten Tümpeln von un- glaublich hoher Temperatur vor und hält sich auch im Glase ohne Er- neuerung des Wassers vortreffliich, so dab er gewiß eine sehr dankbare Zierde unserer Aquarien bilden würde. In und an den mit schlammigem Grunde und meist mit reichlichem Pflanzenwuchs versehenen Gräben und Kanälen der Ebene haust eine Fülle von Anneliden, Clepsinen, Insekten, Schnecken, Planarien, Kaulquappen u. s. w., die einen beinahe vergessen läßt, daß man sich nicht an einem deutschen Bächlein befindet. Besonders bemerkenswert sind die Ampul- larien, tropische Vertreter unserer Paludinen, ungemein träge Tiere, die auch im seichtesten Wasser in großer Zahl unbeweglich halb aus der Schale ausgestreckt am Boden liegen; nur einzelne Exemplare kriechen langsam herum. Sie scheinen jedoch ein verhältnismäßig großes Bedürfnis nach direkter Luftatmung zu haben, weshalb sie eben das seichtere Wasser be- vorzugen, um rascher und öfter an die Oberfläche emporsteigen zu können, als dies in tieferem möglich wäre. Während aber ein Zimnaeus, eine Planorbis beim Einnehmen von Luft »ihr Atemloch öffnen und der äußeren Luft einfach den Zutritt zur Lunge gestatten, wobei, wie es den Anschein hat, die beiden Luftsorten in und außerhalb derselben sich durch bloße Mischung ausgleichen, machen die Ampullarien sehr kräftige und deut- lich sichtbare Atembewegungen. Hat ihr Atemrohr die Wasserober- fläche erreicht, so öffnet es sich und das Tier streckt sich, indem es an einer Stelle ruhig sitzen bleibt, abwechselnd und schnell nach einander aus dem Gehäuse heraus und zieht sich wieder in dasselbe Wissenschaftliche Rundschau. 469 zurück, wobei offenbar die Lungenhöhle rhythmisch erweitert und ver- kleinert wird«. Diesem und dem vorigen Gebiet kann man auch die Landkrabben zurechnen, welche, alle zur Gattung Gecareinus gehörig, meist in den Bergen und höher gelegenen Wäldern und zwar immer vereinzelt unter Steinen, gefallenen Baumstämmen etc. gefunden werden; doch auch in den trockensten Monaten, wenn z. B. die Regenwürmer sich in eine Tiefe von 1 bis 1'/a Fuß zurückgezogen und die Landschnecken, beson- ders Achatina, sich fest an die Baumrinde angeklebt haben und Sommer- schlaf halten, trifft man solche Krabben fern von jedem Wasser an Orten, wo sie nur die Feuchtigkeit der Luft und den allerdings ergiebigen Nachttau zur Verfügung haben. Gegen die Niederung hin, wo die Kanäle sich in die Mangrove- sümpfe verlieren und brakisch werden, wo die Wasserpflanzen verschwinden und ein schwarzer, ungemein weicher Schlamm Boden und Ufer bildet, da ändert sich auch ihre Fauna. Zahllose Krabben von Erbsen- bis Faust- größe haben im Ufer Millionen kleiner und großer Löcher gebohrt, laufen behend über den weichen Schlamm, treiben aber auch auf den Wurzeln der Mangrove und bis in die Kronen umgestürzter Bäume hinauf ihr Wesen und wagen sich erstaunlich weit aufs Land hinaus. Nicht minder charakteristisch für diese Mangrovegewässer ist eine Neritina [Fluß-Schwimmschnecke, fast sämtliche Arten im Süßwasser], die zur Ebbe- zeit in zahllosen Exemplaren auf den flachen Schlammufern zurückbleibt und, in ihr fest mit dem Deckel verschlossenes dunkles Gehäuse zurück- gezogen, auf schwarzem Boden liegend mehrere Stunden die Glühhitze der direkten Sonnenstrahlen ohne Schaden aushält. Noch zäher scheint ein kleiner Panzerwels (Callichihys), der als Speise hochgeschätzte »Cas- caladon< zu sein, der ein sehr weitgehendes Eintrocknen des Schlammes, in dem er lebt, ertragen kann; es soll sogar häufig vorkommen, daß man in der trockenen Jahreszeit, wo auch den Mangrovesümpfen Terrain ab- gewonnen wird, beim Drainieren im harten Schlamm ganze Gesellschaften dieser Fische antrifft, die hier einen vielleicht nicht freiwilligen Sommer- schlaf durchmachen. Was die stehenden Süßwasser betrifft, die sich auf Trinidad nur gering an Zahl und Umfang vorfinden und deren Fauna größtenteils der unserigen entspricht, so heben wir hier als besonders interessante bio- logische Eigentümlichkeit hervor, daß sich eine darin lebende kleine Plana- rie normaler Weise durch Querteilung vermehrt — wohl das erste sichere Beispiel unter dendrocölen Strudelwürmern. Im Anschluß hieran macht Verf. die Bemerkung, daß die niedere Süßwasserfauna Westin- diens, soweit er sie kennen lernte, durchweg aus kleineren Formen be- steht, als die entsprechenden unserer Zone sind, was besonders für die Planarien gilt, die doch so riesige Vertreter auf dem Lande haben. Hier nämlich finden sie sich in großer Artenzahl recht häufig, bis zu 20 cm Länge und 1 cm Breite, trotz ihrer zarten vergänglichen Epidermis mit dem feinen Wimperbesatz und trotz ihres weichen, leicht zerfließenden Körperparenchyms. Allerdings sind es wohl sämtlich Nachttiere, die zum lebhaften Umherkriechen der Flüssigkeitsschicht des Taues bedürfen und 470 Wissenschaftliche Rundschau. bei Tage in passenden Schlupfwinkeln verborgen liegen; doch braucht die Feuchtigkeit derselben gar nicht besonders groß zu sein. Gegen allzu starke Austrocknung schützen sie sich durch Ausscheidung eines dicken Schleimüberzuges; viele sind auch gegen zu viel Feuchtigkeit mindestens ebenso empfindlich wie gegen zu wenig. Die schon früher festgestellte Thatsache, daß unsere Süßwasserpla- narien sich vorzugsweise von Schnecken nähren, konnte Verf. auch für diese großen Landbewohner bestätigen. »Besonders sind es die kleinen, an denselben Örtlichkeiten sich aufhaltenden Subulinen, welche der Raub- gier der Planarien zum Opfer fallen, und es ist höchst interessant, den Vorgang zu beobachten. Die Planarie legt sich um das Gehäuse der Schnecke herum: diese zieht sich bei der Berührung in ihr Gehäuse zurück, allein der Räuber legt seine Mundöffnung auf die Mündung des Gehäuses, und nun beginnt ein lebhaftes Spiel des herausgestreckten Schlundes, das sich durch die dünne Schale der Schnecke deutlich verfolgen läßt. Der Schlund- kopf, vielfach auch Rüssel genannt, macht lebhafte Saugbewegungen, wobei er seine Mündung erweitert und verengt, sich selbst verlängert und ver- kürzt. Da jedoch die Planarie eine Schnecke auf diese Weise nicht aus dem Gehäuse heraussaugen und verschlucken kann, so verdaut sie ein- fach mittels des vom Schlundkopf oder auch vom Darm gelieferten Se- krets [das offenbar auf die Schnecke sehr giftig wirkt und sie rasch abtötet] ihre Beute außerhalb ihres Körpers und saugt nun den zur Ver- dauung präparierten Speisebrei in ihren Darmkanal hinein, wobei natür- lich nicht ausgeschlossen ist, daß auch kleinere Stücke der Schnecke in unzersetztem Zustande mit verschluckt werden. In einer halben Stunde kann eine mäßig große Landplanarie mit einer Subulina fertig sein; der Schlund verlängert sich derart, daß er bis in die engste Windung des spitzen Gehäuses vordringt und die letzten Spuren der aufgelösten Schnecke herausleckt, so daß nach einer solchen Mahlzeit die reine Schale übrig bleibt. « Die Bewohnesschaft der Süßwassertümpel, von deren Betrachtung wir oben ausgingen, gleicht im übrigen außerordentlich derjenigen unserer Teiche, nur daß größere Hirudineen und Krustaceen zu fehlen scheinen. Unter den kleinen Anneliden überwiegen die zur Gattung Dero gehörigen Arten mit kontraktilen Kiemenfäden, welche das Hinterende kreisförmig umstehen und in eine Art Düte zurückgezogen werden können — eine An- passung, die offenbar damit in Zusammenhang steht, daß der Körper des Tieres selbst in einer aus feinen Schlammteilchen zusammengekitteten kleinen Röhre an der Unterseite von Blättern u. s. w. verborgen ist. Noch sei eines zierlichen beschalten Rhizopoden (von der Gattung Ar- cella) gedacht, der, in eine kugelige Schale mit mehreren rückwärts ge- bogenen Hörnern eingeschlossen, aus einer Öffnung wenige breite lappen- förmige Pseudopodien hervorstreckt. Die Schalenmündung trägt reusenartig gestellte kleine Zähnchen, und zwischen diese nehmen die Tierchen, so- bald sie langsam kriechend den Wasserspiegel erreicht haben, eine kleine Luftblase auf, vermöge deren sie dann an der Oberfläche schwimmen. Sobald sie irgendwie gestört, z. B. erschüttert oder mit einer Nadel berührt werden, sinken sie sofort unter, indem sie durch Einziehen der Pseudo- podien das Luftbläschen verdrängen. Wissenschaftliche Rundschau. 471 In den beiden größeren Flüssen der Ebene von Trinidad sind für die Fauna insofern ganz neue Bedingungen geschaffen, als sie im unter- sten Abschnitt von Salzwasser, weiter oben von immer süßer werdendem Brackwasser erfüllt sind, wodurch natürlich das allmähliche Vordringen von Meerestieren bis ins Süßwasser hinauf sehr begünstigt wird. In der That findet sich auch bis 12 englische Meilen flußaufwärts in Gebieten, welche, obwohl noch bedeutend der Ebbe und Flut unterworfen, doch selbst in der trockensten Zeit stets vollkommen süß bleiben, und ebenso in einigen nur zeitweise mit dem Meere kommunizierenden lagunenartigen Wasserbecken, deren obere engere Partien reines Süßwasser führen, eine ganze Anzahl typischer Meerestiere inmitten einer ausgesprochenen Binnen- fauna. An der steilen Uferwand erblickt man mächtige Bänke von My- tilaceen, in allen Altersstufen dicht aufeinandersitzend, obgleich sie zum Teil bei jeder Ebbe mehrere Stunden lang den direkten Sonnen- "strahlen ausgesetzt sind, dazwischen in das weiche Gestein oder einen Baum- stamm eingebohrt eine kleine Pholas-Art, in den Löchern des ersteren eine Lumbriconereis von ca. 8 cm Länge, inmitten der grünen Fadenalgen eine erstaunliche Anzahl von kleinen, etwa 15 mm langen Nereiden (diese beiden wohl die ersten Beispiele des Vorkommens von freischwim- menden Polychaeten im süßen Wasser), ferner eine Fischassel (Aeya), die bereits SEMPER auf den Palauinseln im Süßwasser gefunden, ein zolllanger, völlig durchsichtiger Palaemonide, zwei kleine A/ya-Arten und unge- heure Mengen von Mysideen. Haben auch die meisten der hier aufge- führten Gattungen einzelne Vertreter im Süßwasser, so gehören sie doch lauter Familien an, deren ganze übrige Verwandtschaft entschieden im Meere zu Hause ist. Vor allem gilt dies für die letzte und auffallendste dieser Formen, eine kleine Qualle von 2—3 mm Scheibendurchmesser. Bis- her ist bekanntlich nur im Warmhausbassin des botanischen Gartens von Kew bei London durch E. Ray LAnkESTER eine im süßen Wasser lebende Qualle aufgefunden worden, und woher dieselbe stammt, weiß man noch nicht; hier aber ist nun eine solche in der freien Natur nachgewiesen, leider jedoch ohne daß es gelungen wäre, den dazu gehörigen Hydroid- polypen zu entdecken, obgleich derselbe höchst wahrscheinlich ebenda- selbst seinen Standort haben muß. Zum Schlusse folgen noch einige interessante Notizen über das Vor- kommen und die Lebensverhältnisse von Peripatus, jener bedeutsamen . Mittelform zwischen Anneliden und Tracheaten, über deren Anatomie und Entwickelungsgeschichte wir vor längerer Zeit nach Barrour’s Arbeit referierten'. Auf Trinidad leben zwei Arten dieser völlig isoliert da- stehenden Gattung neben einander: der kleinere Peripatus Edwardsii mit 28—30 Fußpaaren und eine große neue Art (P. forguatus KENNEL) von 15—16 em Länge, mit 41—42 Fußpaaren [zum Vergleiche sei ange- führt, dab P. capensis nur 4,5 bis 5 cm lang wird und bloß 17 Fuß- paare besitzt], jene häufig an derselben Stelle in größerer Anzahl, diese ! Kosmos’XIII, 1883, S. 552; vgl. auch ebenda S. 689. Im nächsten Hefte werden wir einen ausführlichen Bericht über Kennel's soeben erschienene Arbeit: „Entwickelungsgeschichte von Peripatus Edwardsii Blanch. und Peripatus tor- quatus n. sp.“ (Arb. zool. Inst. Würzburg VII. 2. 1884) bringen. ! 472 Wissenschaftliche Rundschan. dagegen immer nur vereinzelt. Ihre beliebtesten Schlupfwinkel sind in dem Mulm hohler Bäume, insbesondere der beiden in den Kakaopflanzungen zum Zwecke des Schattenspendens angepflanzten Erythrina-Arten, mächtige Bäume mit so weichem Holze, daß es schon ein halbes Jahr nach dem Fall des Stammes in sich selbst zusammensinkt, wie ein Schwamm die Feuchtigkeit lange hält und so jederzeit Tausenden kleiner Tiere einen zusagenden Aufenthalt gewährt. Seltener findet man sie in den von großen Käferlarven gebohrten Löchern, unter abgefallenen Blättern oder unter Steinen. Sie sind offenbar Nachttiere, denn nie trifft man sie des Tages herumkriechend an, wohl aber kann man öfter in demselben Mulm, den man Tags zuvor genau durchsucht, am Morgen abermals mehrere Indivi- duen sammeln. Wovon Peripatus sich nährt, konnte nicht mit völliger Sicherheit ermittelt werden. Höchst wahrscheinlich von Schneckchen und weichen Würmchen, hauptsächlich aber von den kleinen Termiten, die sich stets in ihrer Umgebung finden und deren weichen, vom Fettkörper erfüllten Hinterleib sie mit ihren Freßwerkzeugen wohl zu bewältigen vermögen, während sie echten Ameisen aus dem Wege zu gehen scheinen. Bei ihren langsamen Bewegungen kommt den Tieren behufs Erlangung von Beute »ein mächtiger Drüsenapparat ' zu Hilfe, dessen Sekret zu dem klebrigsten gehört, das ich kenne; derselbe Apparat wird aber auch bei mehr oder weniger starker Beunruhigung in Thätigkeit gesetzt und ist besonders bei der großen Art von geradezu verblüffender Wirkung. Während die kleine Form bei der ersten Störung sich zusammenrollt, richtet P. tor- quatus seinen Kopf gegen den Störer und spritzt mit unglaublicher Ge- walt aus den beiden an den Kopfseiten liegenden Papillen ein Drüsen- sekret aus, das zu klebrigen Fäden erstarrend die ganze nächste Um- gebung, vor allem die Hand des sammelnden Zoologen mit einem dichten Netz überspinnt, das man ohne Wasser und Seife vergeblich zu entfernen trachtet. P. torguatus schießt seine Ladung bis in eine Entfernung von mehreren Fuß, und wo die Masse auf Widerstand trifft, prallt sie teil- weise ab, und zwar durch die Gewalt des Stoßes mehrmals, wodurch eben ein solches Fadennetz entstehen kann. Überall haftet der Klebstoff mit der größten Zähigkeit und doch ist er so weich, daß er dem leise- sten Eindruck nachgibt ; ich bemerkte oft, dab winzige Ameisen auf meinem Arbeitstisch an solche Fäden anliefen, die ein Peripatus beim Chlorofor- mieren ausgestoßen hatte, und bei der leisesten Berührung mit dem Fühler unfehlbar hängen blieben. Nur an der Haut des Peripatus selbst haftet er nicht « Es läßt sich wohl denken, dab das Tier mit dieser Waffe jeden Vogel, jede Eidechse od. dgl. wirksam zurückzuscheuchen vermag. Dab sie ihm aber auch zum Fangen und Festhalten seiner Beute dienen wird, schließt Verf. aus der Beobachtung, daß gefangene Ex- emplare Tropfen solchen Sekrets, das sie beim Anstoßen an einen Kör- per langsamer heraustreten en wieder auffraßen; man darf also wohl annehmen, dab Peripatus seine Ben sobald er sie durch den Geruch oder ı Wohl das auf den Mundpapillen ausmündende Drüsenpaar, das Balfour als Schleimdrüsen bezeichnet hat, und nicht etwa die Speicheldrüsen, wie auch aus dem folgenden hervorgeht. Litteratur nnd Kritik. 473 durch Berührung mit den Tentakeln wahrgenommen, mit seinem Leim bespritzt und dann gemächlich diesen und jene zusammen aufzehrt. In Gefangenschaft halten die Tiere lange Zeit ohne Nahrung aus, dagegen ist Mangel an Feuchtigkeit sicherer Tod für sie: nur dieser war schuld, daß Verf. von mehreren Dutzend Exemplaren, die er lebend mit- genommen, bloß eines wohlbehalten bis Würzburg brachte, wo es in einem Gewächshaus die ihm zusagenden Verhältnisse wiederfand. Noch besser gelang der Import lebender Landplanarien, Regenwürmer (Peri- chaeta), \euchtender Elateren, der zierlichen Subulinen, der großen Bulimus u. s. w. Nimmt man hinzu, wie oft schon früher durch Zufall kleine Tiere aus den Tropen bei uns eingeschleppt worden sind, wie viele Rau- pen, Käferlarven, Puppen etc. alljährlich nur im Blauholz und ähnlichen Handelsgegenständen noch lebend aufgefunden werden, so erscheint aller- dings der Wunsch und die Hoffnung des Verf. durchaus gerechtfertigt, es möchte die Einfuhr solcher Tiere, zunächst im Interesse der zoologi- schen Institute, mit größeren Mitteln betrieben und auch deren Züchtung ernstlich versucht werden; und wir stimmen ihm nicht bloß darin bei, daß auf diese Weise leicht mehr geleistet werden könnte, als unsere mit so großen Kosten verknüpften zoologischen Gärten bisher für Förderung der Zoologie selbst zu leisten vermochten, sondern meinen auch, es dürfte sich unter den hier in Betracht kommenden Tieren gar manche Form finden, die auch für größere Kreise interessant wäre und einen neuen Anziehungspunkt in zoologischen Gärten, Aquarien und ähnlichen Instituten bilden würde. Litteratur und Kritik. Werden und Vergehen. Eine Entwickelungsgeschichte des Natur- ganzen in gemeinverständlicher Fassung. Von CARUS STERNE. Dritte, in Text und Abbildungen vermehrte und verbesserte Aufl. Mit ca. 450 Holzschn. im Text und 25 teils farbigen Tafeln. Berlin 1SS4, Gebr. Borntraeger (E. Eggers). Vollständig in 15 Lfg. a 1 M. Daß dieses vortreffliche Werk unseres hochgeschätzten Vorgängers in der Redaktion dieser Zeitschrift bereits zum drittenmal in stattlicher Auflage seinen Gang in die weite Welt antreten kann, erfüllt uns mit aufrichtiger Freude. Keiner von den zahlreichen Versuchen, weitere Kreise in die neue, durch die Entwickelungslehre ins Leben gerufene Ideenwelt einzuführen und sie den ganzen Reiz der unter diesem grohß- artigen Gesichtspunkt gruppierten Thatsachenfülle mitempfinden zu lassen, hat es so wie dieser verstanden, die rechte Mitte zwischen strenger Sachlichkeit und gefälliger Unterhaltung, zwischen energischer Wahrung des darwinistischen Standpunktes und ruhigem Erwägen des Für und Wider zu finden. Man merkt eben auf jeder Seite: es ist dem Verf. nicht darum zu thun, daß seine Leser einen neuen Glauben für einen 474 Litteratur und Kritik. alten eintauschen, sondern er will sie zu eigener Kenntnis der Dinge, von dieser zu selbständigem Denken und Vergleichen und so zu sicheren Überzeugungen von dauerndem Werte emporleiten. Das beweisen nament- lich auch die mit Sorgfalt ausgewählten Abbildungen. Und daß auch hierin die neue Auflage mit Recht sich als vermehrt und verbessert be- zeichnen darf, lehrt schon ein Blick in die vorliegende erste Lieferung, welche außer einer großen Zahl instruktiver Holzschnitte zwei litho- graphische und eine Farbendrucktafel in ausgezeichneter Ausführung ent- hält: Die Entwickelung des Hirschgeweihs in Vergangenheit und Gegen- wart (unseren Lesern bereits aus Kosmos XI, 1882 bekannt), Die Riesen- schachtelhalme bei San Nikolas, Ecuador, und Maskierung bei Krebs- tieren darstellend. Wir glauben denjenigen, welche das Werk nicht schon kennen, eine Vorstellung von dem reichen Inhalt wie von der geschick- ten anregenden Darstellungsweise des Verf. in Kürze nicht besser geben zu können, als indem wir noch die charakteristischen Kapitelüberschriften hersetzen: Einleitung. — Im Reiche des Lichtstrahls. — Aus dem Tage- buche der Erde. — Die Gestalten der Krystalle und Edelsteine. — Das Reich der Protisten oder Urwesen. — Die Jugend der Pflanzenwelt (Meerpflanzen). — Die Vorläufer der höheren Tierformen (Würmer und Wurmverwandte). — Das Reich der Einträchtigen (Pflanzentiere). — Die ersten Hausbesitzer (Weichtiere). — In Wehr und Waffen (Stachel- häuter). — Das Kleid der Erde (Landpflanzen). — Die Chinesen der Tierwelt (Gliedertiere). — Die Patriarchen der Naturherrscher (Fische). — Zwischen Wasser und Land (Amphibien). — Von der Erde zum Himmel (Reptil und Vogel). — Die Verkettung von Mutter und Kind (Säugetiere). — Der Haß- und Verachtungsparagraph im Naturgesetze (Affe und Mensch). — Die Entwickelung der Gesellschaftstriebe und Sprachen. — Die An- fänge der Kultur. — Die Entwickelung des Schrifttums. — Religionen und Weltanschauungen. — Die Deszendenztheorie. — Ein Ausblick in die Zukunft (Erdende und Weltende). — Wir wüßten dem deutschen Volke in der That keine erfreulichere Weihnachtsgabe zu empfehlen als dieses farbenreiche Gemälde des Weltganzen. BaN: Der Atomaufbau in den chemischen Verbindungen und sein Einfluß auf die Erscheinungen, von L. Mann. (90 S. 8°. mit 1 Tafel.) Berlin, Verlag von Fr. Luckhardt, 1884. Ein Büchlein ganz absonderlicher Art! Man weiß nicht, ob es be- stimmt ist, erheiternd zu wirken oder ernst zu stimmen. — Der Titel desselben erweckt in dem mit der heutigen Chemie vertrauten Leser die Erwartung, dab ihm die landläufigen strukturchemischen Vorstellungen in besonderer Zubereitung dargeboten werden. Diese Erwartung geht nicht in Erfüllung. Der Verf. bringt ungeahnt viel Neues und doch blickt überall Bekanntes hindurch: nämlich die Naturphilosophie seligen An- denkens, welche in diesem Schriftchen sich mit der modernen Chemie zu kopulieren strebt. Litteratur und Kritik. 475 Eine eingehende Besprechung des Büchleins wird niemand erwarten, wenn er im folgenden einige Proben daraus kennen gelernt hat. Zu- vor sei bemerkt, daß den Atomen ganz bestimmte Gestalt zugeschrieben wird, daß sie aber anderseits in Wirbel aufgelöst werden (Anknüpfung an CArresıus)". Die brutal körperliche Auffassung der Atome erhellt aus folgenden Sätzen: S. 6. >Man sieht leicht, daß die Geeignetheit der Elementar- atome zum Eingehen solcher Verbindungen lediglich auf ihrer Gestalt und speziell der Größe der Spitzenwinkel beruht, daß der Charakter bei irregulärer Atomgestalt von der Bildungsweise der Moleküle abhängige ist, und daß zwei aus gleichartigen oder ungleichartigen Atomen zu- sammengesetzte Moleküle um so größere Verwandtschaft zu einander haben oder sich gegenseitig um so völliger zu sättigen vermögen, je besser das eine als Füllstück in den Ausschnitt des zweiten paßt. In dem Ausfüllen der vorhandenen Lücken, Verdrängen lose sitzender Keile, im Austausch von Einsatzstücken, im Einhaken und Aushaken der Vorsprünge und Zähne finden wir eine vollkommen begreifliche und anschauliche Erklärung für das ganze Getriebe, die Verbindungen, Zer- setzungen, Umwandlungen und sonstigen chemischen Reaktionen, welche jetzt auf Wahlverwandtschaft, Avidität, Rapport, Verwandtschaft der Gegensätze, der Säuren und Basen, auf den elektrochemischen Charakter, auf amieitia, gılta, und auf die verschiedensten Prinzipien und mystischen Eigenschaften zurückgeführt werden. « S. 7. »Das einwertige naszierende Sauerstoffatom besitzt eine weit vorragende schlanke Spitze (!), in welcher der eine freie Pol liegt. — — Zwei in ihren Spitzen zusammenhaftende Atome aber bilden das aktive (?) Sauerstoffmolekül, welches sich nicht chemisch mit andern Elementen zu ‘verbinden vermag, sondern durch seine Struktur, die nach der Mitte zu sich verjüngende Gestalt geeignet ist, sich in vorhandene Ausschnitte anderer Gebilde leicht einzuhängen und selbst enge Spalten auszu- füllen. — —« Die Atome werden also von dem Verf. zu Einsatz- oder Füllstücken degradiert, der Sauerstoff, dieses nach BErzELıus wichtigste Element, um welches sich die ganze Chemie dreht, erscheint als Lückenbüßer. N Man liest S. 9: »Bei dem Dimethyl-Aggregat ( e. ei) sind die beiden Wasserstoffzonen durch eine breite Hohlkehle getrennt, in welche leicht aktive Sauerstoffmoleküle, Wassermoleküle und andere schmale Partikel eindringen können etc.« S. 12 wird dem Schwefelwasserstoff eine »zerklüftete Form« zugeschrieben. S. 14 findet sich von dem Anhydrid der unterchlorigen Säure die Behauptung, daß es einen sehr weiten Ausschnitt enthalte, »in welchem sich Wassermoleküle, Chlor und aktive Sauerstoffmoleküle, sogar breite (!) Metalloxyde lagern können«. Wollte man alle Wunderlichkeiten des Büchleins zusammenstellen, so müßte man dasselbe vollständig reproduzieren. Um nur noch auf ! Seine Anschauungen über Form, Beschaffenheit, Lagerung u. s. w. der Atome hat der Verf. ausführlich dargelegt in der Schrift: „Die Atomgestalt der chemischen Grundstoffe,“ m. 1 Taf. Berlin, Luckhardt, 1883. D. Red. 476 Litteratur und Kritik. eine Blüte der lebhaften Phantasie des Verf. hinzuweisen, sei die be- stimmt behauptete Beziehung zwischen elektrochemischem Charakter der Elemente und ihrer Form erwähnt (S. 15). Möge der Herr Verf. dem aufs höchste gespannten Leser baldigst mitteilen, mittels welcher Hilfsmittel er in den Besitz solcher, bisher keinem Sterblichen zu teil gewordenen Kenntnisse von der Form der Atome und von allem, was er damit in Zusammenhang bringt, gelangt ist! Ref. hat es für angemessen gehalten, die Leser dieser Zeitschrift auf obige Schrift aufmerksam zu machen, obwohl sie ernste Beachtung nicht verdient. Eine symptomatische Bedeutung ist derselben gewiß nicht abzusprechen. Dem Leser wird sich vielleicht die Frage aufdrängen: Sollte Herr L. Mans sich einen großartigen Scherz erlaubt haben, durch welchen er beabsichtigt, dem Strukturchemiker, welcher seine Phantasie oft zu wenig zügelt, einen Spiegel vorzuhalten und ihm zu zeigen, wohin man durch zu weit gehende räumliche Vorstellungen von der Lagerung der Atome gelangt? Ich lasse diese Frage unbeantwortet. Leipzig. E. v. MEYER. Im Anschluß hieran sei noch einer anderen kürzlich uns zuge- gangenen Schrift desselben Verfassers gedacht: Die Entstehung der Epidemien, besondersder Pestund der Cholera. Berlin, Luckhardt, 1883. 20 S. 8°. Hier erfahren wir nun, daß die Elektrizität an allem schuld ist. Unsere Bakterienforscher mögen nur einpacken: auf das Übermaß oder den Mangel an positiver Elektrizität, was gleichbedeutend ist mit Mole- külhitze und -kälte, kommt es an und die Bacillen entstehen nur neben- bei. Was insbesondere die beiden im Titel genannten Krankheiten be- trifft, so stehen sie als Typen der durch das eine oder andere Extrem der Elektrizitätsverteilung verursachten Veränderungen einander diametral gegenüber. Der eigentliche Herd beider »ist Ostindien, wo wegen der schroffen Temperaturwechsel, der Bodenbeschaffenheit und der Einschließ- ung der Tiefebenen durch schlecht leitende Mittel — das Hochgebirge im Norden und das Meer im Süden (!) — ihre Entstehung begünstigt und gerade das Latentwerden der Wärme, d. h. die Umwandelung derselben... in Molekülhitze stattfinden muß.< Und wie die Erdströme meist von Ost gen West bezw. Nordwest ziehen, so verbreiten sich auch die Epi- demien von dort gegen das Mittelmeer hin; »wie bei einem elektrischen Strome findet an allen Knotenpunkten, Flußbiegungen und den Stellen, wo die Leitungsfähigkeit sich ändert, ein längeres Verweilen und eine gröbere Ausbreitung statt«. Ebenso einfach und zweifelsohne erklärt sich der Charakter und Verlauf dieser Krankheiten bis herab zum klein- sten Symptom ; die Wirksamkeit gewisser Mittel beruht auf ihrem Elek- trizität entziehenden bezw. verdichtenden Vermögen’etc. etc. Wir denken, der Leser wird sich hiernach schon eine Vorstellung von der Forschungs- methode und dem Gedankengang des Verf. bilden können. So bodenlos, willkürlich und verkehrt nun auch alle die in dieser Schrift zusammengedrängten Behauptungen sind — in einer Hinsicht Litteratur und Kritik. ATT empfinden wir doch eine aufrichtige Sympathie mit derselben. Sie ist ein Protest gegen die als solide Wissenschaft sich breitmachende Medizin unserer Zeit, gegen die kraß materialistische Richtung in ihr wie in den Naturwissenschaften, gegen die Anmaßung derselben, alles, was sie mit ihren heutigen Hilfsmitteln nicht zu wägen und zu messen vermag, vor- nehm als nicht vorhanden zu ignorieren und jedes ehrliche Streben, das über die tonangebende Plattheit hinauszukommen sucht, unbesehen als »dummes Zeug«< zu verdammen. Wohl ist der uns vorliegende Pro- test gründlich verfehlt und fällt derselbe mit vollem Rechte dem öffent- lichen Gelächter anheim, aber die offizielle »Wissenschaft« würde sehr wohl daran thun, wenn sie bei diesem Anlaß sich selbst genauer prüfte, wie viel Aberglauben, unerwiesene Behauptungen und kurzsichtige Über- hebung noch in ihr stecken. In diesem Sinne wünschen wir dem wunder- lichen Elaborat des Verf. recht viele verständnisvolle und lernbereite Leser. B. VerteR. Hermann Lorze’s Mikrokosmos. Band I. (XX. u. 453 8.) Leipzig bei S. Hirzel. 1884. 4. Auflage. Die Aufgabe, welche sich HERDER in seinen »Ideen zur Geschichte der Menschheit« stellte, gestattet keine ein für allemal abschließende Lösung und wird deshalb immer und immer wieder einer erneuten Bearbeitung bedürfen: es handelt sich um die Bedeutung, welche der Mensch und das menschliche Leben mit seinen beständigen Erscheinungen und dem ver- änderlichen Laufe seiner Geschichte in dem großen Ganzen der Natur hat. Auch Hermann Lorze, der uns im Jahre 1881 auf der Höhe seines fruchtbringenden Schaffens dnrch den Tod entrissen wurde, hat uns in seinem »Mikrokosmos« eine Anthropologie im Geiste HErDEr’s zu geben versucht: indem er den uralten Streit »zwischen den Bedürfnissen des Gemütes und den Ergebnissen menschlicher Wissenschaft« einer tief- gehenden Analyse unterwarf und auf Grund dieser Untersuchungen zu einem von dem Wissen unserer Zeit getragenen Systeme fortschritt, ver- mied er alle verfrühten und oberflächlichen Vermittelungen, um erst am Ende seiner Arbeit die scheinbaren Dissonanzen der Gegenwart in eine wohlberechnete Harmonie aufzulösen. Von welchem Geiste diese Bemühungen getragen waren, wird man leicht erkennen, wenn man sich einerseits daran erinnert, daß LortzE durch seinen bekannten Artikel über die »Lebenskraft< das physische Leben des Organismus nach allgemeinen Naturgesetzen begreifen lehrte und zugleich in seiner »medizinischen Psychologie« die Grundlage für eine sachgemäße Beurteilung der psychischen Erscheinungen mit errichten half, während man anderseits im Gedächtnis behält, daß derselbe LorzeE allen ethischen Fragen stets mit besonderer Neigung entgegenkam und das ı Vgl. Lotze's Mikr. I. XVI. 478 Litteratur und Kritik. alte Reich des Sein-Sollenden als eine Welt der Werte! dem Gebiete d Thatsächlichen gegenüberstellte. ? Lortze suchte nachzuweisen’, wie ausnahmslos universell die Au dehnung, und zugleich wie völlig untergeordnet die Bedeutung der Sendui| ist, welche der Mechanismus in dem Baue der Welt zu erfüllen hat, d. | er betonte mit den Vertretern der modernen Naturwissenschaft, daß d ganze Gewebe der physischen Erscheinungen zunächst durchaus naı Analogie eines Mechanismus aufgefaßt werden müsse und daß diese Av) fassung in ihrer ganzen Ausdehnung auch durch keine höhere Einsie'| irgendwie durchbrochen werden könne; er fügte aber hinzu, daß dies: äußere Mechanismus nur der einseitige Ausdruck eines inneren Leber des Weltganzen sei und daß erst das Studium dieses inneren Lebens d letzten Probleme der Philosophie ihrer relativen Lösung zuführen könn Lorze sagt (1. S. VII): Könnte es der menschlichen Forschung m darauf ankommen, den Bestand der vorhandenen Welt erkennend al zubilden, welchen Wert hätte dann doch ihre ganze Mühe? ....ı handelt sich darum, zu erforschen, was wir als den wahren Sinn di Daseins zu ehren, was wir zu thun, was wir zu hoffen haben. Die Vermittelung zwischen den beiden hiermit gegebenen Forde: ungen, welche durch die Ansprüche der Wissenschaft und durch d: Bedürfnisse des Gemüts bedingt werden, gelingt nun nach LorzE durc eine genauere Analyse der Grundlagen, auf welchen die moderne Natu» wissenschaft ihre Betrachtungen aufbaut: Lorze erkennt zunächst d: Moleküle und Atome der Physiker und Chemiker als Elemente der Materi an, bemerkt aber bald, daß die philosophische Analyse diesen Elemente zwar die Brauchbarkeit ihrer Verwendung im Gebiete der Naturwisser schaften unbedenklich zugestehen kann, daß sie aber darüber hinaus ein weitere Auflösung vorzunehmen hat und erst beim punktuellen Kraft zentrum zu einem vorläufigen Ruhepunkt gelangt. | Mit dieser Voraussetzung unräumlicher Atome, sagt Lorzz (I. 40 u. 406), haben wir die einzige Schwierigkeit beseitigt, die uns hinder: konnte, jenem Gedanken eines inneren geistigen Lebens nachzuhänger welches alle Materie durchdringe. Kein Teil des Seienden ist mehr unbeleb und unbeseelt; nur ein Teil des Geschehens, jene Bewegungen, welch die Zustände des einen mit denen des anderen vermitteln, schlingen sie: als ein äußerlicher Mechanismus durch die Fülle des Beseelten un führen allem die Gelegenheiten und Anregungen zu wechselnder Entfaltun; des inneren Lebens zu. Lorzz ist sich wohl bewußt, daß er für diese Ansicht nur da Zugeständnis erwarten darf (I. 406), daß sein Traum unter den Träumer die unsere Phantasie sich entwerfen kann, einer von denen sei, di nicht im Widerspruch mit dem Wirklichen stehen; ........ . der Traur kann sich erst bewähren, wenn er seine Brauchbarkeit für die Gestaltung des Weltbildes erweist, in welchem der Mensch seine Stellung sucheı und finden soll. | * Lotze a.a. O. I, 447. Vgl. außerdem meine Schrift „Die Philosophie alı deskriptive Wissenschaft“ IV, auch im Hinblick auf die dortigen Citate. | ia. 0. RR VE Litteratur und Kritik. 479 Diese Bewährung sucht nun Lorzz zu geben, indem er zeigt, dab 4: Problem der Wechselwirkung, welches in der neueren Philosophie ‚fcen- vollauf gewürdigt wurde, erst lösbar wird, wenn man die raumlosen ‚Jome belebt und beseelt denkt und in ihrer Fülle von Wirksamkeiten in sich geschlossenes Ganzes sieht. Der erste Band des »Mikrokosmos«, welcher jetzt (1384) in vierter ıflage vorliegt, enthält drei Bücher, betitelt: 1. Der Leib, 2. die Seele, das Leben; es handelt sich hier im wesentlichen um die Aufstel- lang des anthropologischen Problems, um die Untersuchung des leib- Ichen und geistigen Organismus des Menschen und um deren Zusammen- hluß im psycho-physischen Ganzen des Individuums. Welche Stellung man auch zu den Problemen des Mikrokosmos ein- ehmen“ mag, an Lorze’s Arbeiten wird man nicht vorübergehen können ; as Studium derselben wird auch demjenigen reichen Gewinn bringen, Irelcher ihren Ergebnissen durchaus abweisend gegenübertreten muß. Mit großem Recht bemerkt Tus. Acterıs in seinem Nachrufe? auf orz=e: Nicht nur war es die staunenswerte Fülle der Kenntnisse auf den verschiedenartigsten Gebieten der. Wissenschaft, die Gewandtheit in der Beweisführung und der geradezu klassische Stil seiner Diktion, die ihn zu den Koryphäen unserer geistigen Aristokratie erhoben, sondern wir be- wunderten vor allem die ruhige, rein sachliche Methode seiner Polemik, ie feinsinnige liebenswürdige Persönlichkeit, der es immer nur um die Klärung der fraglichen Gesichtspunkte zu thun war. Braunschweig. Dr. ALEXANDER WERNICKE. FÜRCHTEGOTT GRAESSNER (Rektor der höheren Mädchenschule zu Dortmund), Die Vögel von Mittel-Europa und ihre Eier. Eine Naturgeschichte fast sämtlicher Vögel Europas, mit besonderer Berücksichtigung ihrer Fort- pflanzung. 3. vermehrte und umgearbeitete Auflage. Mit 441 Abbildungen auf 24 kolor. Kupfertafeln. Dresden, Wilh. Baensch, Verlagshandlg. 1884. XXL, 183 S. 4°. (M. 24. —.) Das Werk von NAumAann und BuHLE „Die Eier der Vögel Deutschlands“ war vom Verf. unter dem Titel „Die Vögel Deutschlands und ihre Eier“ in 1. und 2. Aufl. bearbeitet und mit großem Beifall aufgenommen worden. Es erscheint nun. in der vom Titel angedeuteten Weise erweitert und um nicht weniger als 14 Tafeln von ausgezeichnetster Ausführung vermehrt, so daß jetzt im ganzen die Eier von 354 europäischen Vogelarten darauf abgebildet sind. Dagegen „gibt der Text, abweichend von der zweiten Auflage, nur soweit eine allgemeine Naturgeschichte der einzelnen Vögel, als zur Feststellung der Spezies notwendig erschien, stellt das Verbreitungsgebiet nur innerhalb der Grenzen Europas fest, zeichnet sich aber durch eine ausführlichere Beschreibung der Nester und ihrer Gelege vor jener aus“. Das Werk macht einen ungemein tüchtigen, soliden Eindruck und die fein kolo- rierten Tafeln mögen einen Kenner wohl in gelindes Entzücken versetzen. Der Preis ist auffallend niedrig zu nennen. ! Namentlich wird man z. B. die Seele zunächst nur als die innere Einheit des Dinges ansehen können, welches man von außen betrachtet als ihren Körper zu bezeichnen pflegt. ® Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie. Bd. 6. 480 "Notizen. R. CORNELI (Premierleutn. und Bürgermeister a. D., Verf. des Prachtwerkes „Die Jagd und ihre Wandlungen“). Der Fischotter, dessen Naturgeschichte, Jagd und Fang, nebst einer Abhandlung über den Ötterhund und dessen Gebrauch. Mit 30 Holzschn. Berlin 1555, Wilh. Baensch, Verlagshandlg. 148 8. 8°, (M. 3. —.) Bringt außer speziell den Jäger Interessierendem auch eine reiche Zusammen- stellung von Beobachtungen über Lebensweise und Charakter dieses scheuen, von wenigen gekannten Bewohners unserer (rewässer. Notizen. Die Entdeckung der Oviparität von Echidna. Nachdem uns bereits durch Herrn Dr. A. WALTES, Assistenten am zool. In- stitut zu Jena, die freundliche Mitteilung zugegangen war, daß Dr. W. HAACKE, Direktor des Museums zu Adelaide, Süd-Australien, laut brieflicher Nachricht an Herrn Prof. HAECKEL die Ehre der Priorität dieser Entdeckung für sich in An- spruch nehmen dürfe, bringt die soeben eingelaufene Nr. 182 des „Zool. Anzeigers“ vom 1. Dezember eine ausführliche Darstellung der Angelegenheit durch Herrn Dr. HAACKE selbst, welche als bereits am 15. Okt. bei der Redaktion eingegangen bezeichnet und vom 8. Sept. aus Adelaide datiert ist. Hiernach hatte Dr. HAACKE nach längeren vergeblichen Bemühungen endlich Anfang August d. J. ein lebendes Pärchen von Echidna hystrix erhalten, von welchem er nun Junge zu erzielen hoffte. Durch eine Bemerkung GEGENBAUR's im „Morphol. Jahrbuch“ über die vermutliche Periodizität einer Mammartaschenbildung bei Echidna veranlaßt, nahm er am 25. Aug. eine Autopsie des Weibchens vor und konstatierte das Vorhanden- sein des mit zwei seitlichen Ausbuchtungen versehenen Beutels. In dem letzteren konnte er einen kleinen Gegenstand fühlen; in der Hoffnung, eine junge Echidna zu finden, beförderte er denselben ans Tageslicht. Zu seinem nicht geringen Er- staunen erwies sich derselbe aber als ein wirkliches Ei von 1,5 bis 2 cm Durch- messer, mit einer wie bei vielen Reptilieneiern pergamentartigen Schale, welche unter dem Drucke der Finger zerbarst und einen leider in Zersetzung übergegangenen diekflüssigen Inhalt entleerte. Diesen Befund, der ihn nicht länger zweifeln ließ, dab Echidna Eier legt wie die Vögel uud die meisten Reptilien, und der auch die mehrfachen früheren, zwar unbestätigten, aber nie widerlesten Erzählungen über das Eierlegen von Ornithorhynchus rehabilitierte, legte Dr. HAACKE der „Roy. Society of South Australia“ in der Sitzung am 2. Sept: vor. Dieselbe Nummer des „Register“ von Adelaide vom 5. Sept., welche den Bericht über diese Sitzung brachte, enthielt dann auch ein Telegramm aus London, das über den Empfang der CALDWELL’schen Mitteilung an die brit. Naturforscher-Versammlung in Montreal berichtete. Am 7. Sept. endlich erschien im „Register“ ein Telegramm aus Sydney, des Inhalts, daß Mr. W. H. CALDWELL, nachdem er vor etwa einem Jahre nach Australien gekommen und zuletzt in Nord-Queensland zum Zwecke seiner Untersuchungen sich niedergelassen hatte, am 29. Aug. d. J. von dort an Prof. LIiVERSIDGE in Sydney telegraphiert habe, daß „die Monotremen unzweifelhaft Eier legten“. Somit sind beide Forscher ganz unabhängig von einander zu derselben wich- tigen Entdeckung gelangt, und zwar Dr. HAACKE noch um vier Tage früher als der englische Forscher, der diese Frage zum Gegenstande seiner speziellen Unter- suchung gemacht hatte. Daß durch diese für uns sehr erfreuliche Thatsache, zu der wir Herrn Dr. HAACKE aufrichtig beglückwünschen, unsere im Anschluß an die frühere Mitteilung gemachten Bemerkungen keineswegs gegenstandslos werden, bedarf wohl keiner Auseinandersetzung. B. VETTER. Ausgegeben den 15. Dezember 1884. Aa [4 ’ WM, an nr ka ae ln j Bi aan 7 Se u * ! cn AL. IAM ? v en Mi hi: j Re a RT ’ un, A (ae 15 j ® tee Dane BT = E 5 ; u A EIERN Sn, tg. VE ee An 4 Er u u nn Pi Lee f Yu 1 P = Er i BR / y i . & 3 . Be FR %, De ee \ ay 2 zer es BEN 4 Y j u Fa PR. D 0% 3 > E 5 80% N se “ En; u ’t vr f \ = ve By ö 3 9088 00876 3682