wre PIE HERRIN ir, BEN HIRRCHILRE } NEIN DIN ; 8 \ wi reit RE N, Sei en nn N I yı HN t NW, ? Aa Kane ARHSAER RR; Mn Su Y HERE A nr Ion, HF Ü ER JardeN „ "% H ula® ANRLURU) in re Ans BEATS int h a! ni Aue Kihadit ad ja HM Er SE ee MR r £ SIE A BIETET ER) + 4 ren Ki BER led 1. nr AR, \ Ruh: A um. Lirt? AbEH hans Ms, RE a the F r - i A N N n' u Y a rm IIEFIN ei Mi AN, Lan „ A \) u UHR? I APR! ! N Ip Ü 1 ir Anl N “fr Kl N h j = entad- a f on nn iM " NT l Br N ir Be I 1 \ ı% Be | N ) e fi {i U jan | YarLE " el ‚AR Van Ph fh N! Nr aa ) j i Ir } } { h AL j Ma 1 Mi e Po it M d I T I N" | | » ve RN vor I j W HT nr f A! 1 in \ 1 h on Be. | f Nam. l Br Up ! Ki “a [’ } u } In TEL ) on \ j N LH f DER Ak 14,7 Klar f ) p u AM N u DR Y ui \ NEE 1 (ai 2 | Rene Fi f 7 ! IM raeT Ne VE N Fin, I N AN a {U EN, u Nun J' . ME, Tun I un AU j M en at un Hi Dun u Aa 8) Ri 7 h Uyah ‚MR N! nk ham IN x u) LER Ba Bun ir Neluay, N An De Muwılen ) : ae z 7 Hr KOSMON. Zeitschrift für die gesamte Entwickelungslehre, unter Mitwirkung zahlreicher namhafter Forscher heraussereben ol =) von Di BB, Vetter. Jahrgang 1884. Erster Band. Januar — Juni. (Der ganzen Reihe VIII. Jahrgang. X1V. Band.) Mit mehreren Holzschnitten. STUTTGART. E. Schweizerbart’sche Verlaeshandlung (E. Koch). 1834. un ap Er an 7 Pa Tal Bas Abhandlungen. Seite Blytt, Prof. A., Einige Bemerkungen zu Ol. König’s „Untersuchungen über die Theorie der wechselnden kontinentalen und insularen Klimate“ 2a Kosmos. 1883 . 0% EEE pe tn ad Brandt, Dr. K., Über Chlorophyll im ra U ee er a C, Breitenbach, Dr. NV EMimieryicbeimseebieren! LAd LET TRIER — — Zoologische Heisen per Segelschift . ... .. 133 — — Einige Fälle von schützender Ähnlichkeit aus der brasilianischen Bro vinz Rio Grande do Sul. (Mit3 Holzschnitten) . . . 2.2.2... 204 Rear Dranmen und Wachen „u u. an re 1 - Von der Macht des Geistes . . FB EAITT REGEN ER MAR E ee 3 — — Die Entwickelung der Sittlichkeitsideo. ala 401 Dellingshausen, Baron N., Die Schwere oder das Wirkskimwenden der potentiellen Energie, na Artikel 2 un Do en. DRM HAW2BT. 330. 22T Eisig, Dr. Hugo, Biologische Studien, angestellt in der Zoologischen Station Neapel, VIH—XI.: .. „2% s 303 Focke, W. O., Nägeli’s Einwände gegen die Eiimsnfheoue erläutert, a an den Nichtfalterbiumen MIR SI RE AR SER Forsyth Major, (. J., ne Überg gangsregionenn. 1. 20.0 22.00102 Herzen, Prof. Dr. A., Die Veränderungen des Selhsthewußiseins BSR) En Page | Hoifer, Prof. Dr. Eduard, Einige bisher unbekannte oder wenig bekannte Hummelnester . . . RS Hu DE TEE TA Ihering, Dr. H. von, Mehrzelige Pferde. " (Mit 1 Holzsehnitt) va ratlen 2.99 Johow, Dr. Fr., Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. I. Die Mangrove-Sümpfe . . . » 5; Keller, Dr. Conrad, Die nass erhulldtege Her Pilähzenfieie ee) Koch, Prof. Dr. G. von, Erkennung und Fixierung organischer Formen . . 20) König, Clemens, Moor und Torf. Ein Beitrag zur Untersuchung über die Theorie der wechselnden kontinentalen und insularen Klimate . . . 368 — — Entgegnung auf Blytt’s „Bemerkungen“ etc. . 2. rn mono 444 Ludwig, Dr. F., Biologische Mitteilungen. . . 40 Schmidt, Dr. E. Die Moundbuilders und ihr Merhaline zu ach ikteeisthen n Indianern . . . 3slaa 181.165 Spencer, Herbert, Die Bon, in era one RR Zukunft re rd IV Inhalt. Seite Spengel, Dr. J. W., Darmlose Strudelwürmer . . . x ee Wagner, Moritz, Daramehcche Streitfragen, III. Zw ecke und Fort- schritt ir organischen Gebilde . . . . 25 Zehnder, L., Über den Bau der Kometen. (Mit 5 Holzsehnitten) u, ilkels Wissenschaftliche Rundschau. Anatomie: Keller, Dr. Rob., Zur Histologie der Nervenzentren . . . 44 Physiologie: Die mechanische anime der Nahrungsmittel in der Deen) Schleimhaut ... 2. 0 138 Anthropologie: Vorschläge zur ee ler Menschenpesaklechls il Ethnologie: Fligier, Dr., Graf Geza Kuun über die Urbevölkerung Sieben- bürgens und die aka der ‚Agathyrsen 1... zu) uk er Fligier, Dr., Die Abstammung der Tiroler . . . . RS Ei: „ Der Streit um die Abstammung der Maria aren.'.ı a es „‘ Die quaternären Rassen Portugals. . .. '. 2. Maps Zoologie: Über die Vorfahrenform der Wirbeltiere . » » 2 2.2.2... Die Entstehung der Korallenriffe. . . . ee =. Die Verwandtschaftsbeziehungen der Malnköskraken he Bergh, R. S., Neue Untersuchungen über Cilioflagellaten . . . . 384 Müller, Heil, Jugendgeschichte der Wurzelkrebse . . . . .. . 454 Zur Entwicke ai: der Echinodermen . . Ko ee Reichenbach, Dr. Wilh., Über pelagische Insekten ne... . 464 Müller, Fritz, Die Zwie er der Männchen der nordanerikan Flußkr ehe. Auen er ©. Botanik: Die Wegsamkeit der Zellhänte Re: er Keller, Rob., Hybridogener Ursprung der Arten er. le: r Ein neues Pflanzensystem . . . Ti. Geologie: Die Eiszeit in den deutschen Alpen, ei, = on u ze Chemie: Goldberg, Dr. A., Über den Ursprung des auf der Erde vor- handenen gebundenen Stickstoffs . ET 2 er De EEE Goldberg, Dr. A., Über blau gefärbtes Stornsalz Ar . 154 Meyer, Ernst von, Ze Entwickelungsgeschichte der modernen Chase 390 Be rahlıene Reisen: .Die Expedition des „Talisman® .. ...,..@2 Litteratur und Kritik. Credner, Dr. H., Elemente der Geologie. , 5. Auflage . .... „Em Preyer, Prof. W., Spezielle Physiologie des Embryo. Untersuchungen über die Tehenserchäntaeee vor derö&eburt.. 1.,Tiekı ee ne Seubert, Prof. Dr. Moritz, Grundriss der Botanik 5. Aufl. von W. v. Mes 13 Inhalt. Richter, M. M., Tabellen der Kohlenstoff-Verbindungen . Die Encyklonädie der Naturwissenschaften im Jahr 1883 . E Penka, Karl, ÖOrigines Ariacae. Linguistisch-ethnologische nen zur ältesten Geschichte der arischen Völker und Sprachen ; Bachmann, Otto, Unsere modernen Mikroskope und deren sämtliche Hilts- und elta für wissenschaftliche Forschungen . Engelmann, Dr. G. J., Die Geburt bei den Urvölkern. Eine Darsielne der Er ikelung der heutigen Geburtskunde aus den natürlichen und unbewußten Gebräuchen aller Rassen. A. d. Engl. von Prof. Dr. AED or ee RE ee Fa a re Nehring, Dr. A., Fossile Pferde aus deutschen Diluvialablagerungen und “ihre Beziehungen zu den lebenden Pferden. Ein Beitrag zur Ge- schichte des Hauspferdes - £ Hörnes, Dr. R., Elemente der eloallet (Palsksoolorie) - Internationale Zeikechrikt für Br Sprachwissenschaft, herausgegeben von Dr. F. Techmer . EN STERN TREE GE Rieger, Dr. Konrad, Der sh Psychiatrische Beiträge zur Kenntnis der sog. hypnotischen Zustände. Nebst e. physiognom. Beitrag von Dr. Hans Virchow : Mach, Dr. Ernst, Die Mechanik in en Bus Bel Leunis’ Synopsis. I. Teil: Zoologie. 3. Aufl., herausg. v. Prof. De H. 16% ie Darwin, Ch., Entstehung der Arten. Aus dem schen von J. V. Bee Dnehnge se NER NE Rabenhorst’s Kryptogamen- on von Dee hand ie I. Bd. Die Pilze von Dr. G.. Winter. EM Jäger, Dr. Gustav, Entdeckung der Beole. 3. Aufl. Briefliche Mitteilungen: Breitenbach, Dr. W., Dichogamie zwittriger Tiere s : Aufruf zu einer Hermann Müller-Stiftung Anfrage, Chr. K. Spengel betreffend Berichtigung, betr. die brasilian. Marantaceen. Von Fritz Müller. Quittung über eingegangene Beiträge zur Hermann Müller-Stiftung. V Seite 80 157 231 238 239 314 316 318 397 468 470 470 471 471 Autoren-Register. A. bedeutet Abhandlungen. der unter „Litteratur und Kritik“ besprochenen Werke. R. Autoren der unter „Wissenschaftliche Rundschau“, Vf. M. Verfasser von Mitteilungen L. Autoren in der „Wissenschaftlichen Rundschau“, Vf.L. Verfasser von Litteraturbesprechungen. Die hier nicht aufgeführten Beiträge zu stammen vom Heraus geber. Agassiz, A. und L., Korallenriffe von Florida und Westindien 213, Ahles, Prof. W. von, Seubert’s Grundriß der Botanik, 5. Aufl. L. Bachmann, Otto, Unsere modernen Mikroskope ete. L. a Barrande, Primordialfauna Bergh,R. S., Neue Untersuchungen über Cilioflagellaten. Vf.M.. Blytt, Prof. A., Einige Bemerk- ungen zu Cl. König's „Unter- suchungen“ etc. A. Boas,J. E. V., Die Verw andtschafts- beziehungen der Malakostraken. M. Bower, F. O., Die Wegsamkeit der Zellhäute. R. Brandt, Dr. K., Das Chlorophyıl im Tierreich, A. : Breitenbach, Dr. W., Mimiery bei Seetieren. A. — Zoologische Reisen per Segel- schiff. Eine Anregung. A.. — Dichogamie zwittriger Tiere — Einige Fälle schützender Ähn- lichkeit aus der brasilianischen Provinz Rio Grande do Sul. Mit 3 Holzschnitten. A. — Über pelagische Insekten. V.M. Brückner, Ed., Die Eiszeit in den deutschen” Alpen, nach A.Penck. Va M% 148: Carneri, B., Träumen und Wa- chen. A. RR: — Von der Macht des Geistes. A. — Die Entwickelung der Sittlich- keitsidee. A. ”aruel, 1, Ein neues Pflanzen- system. R. Seite 217 79 Credner, Dr. H., Elemente der Geologie. 5. Aufl. L. SE Dana, über Koralleninseln 213, Darwin, Ch., Entstehung der Ko- rallenriffe, Einteilung etc. — Entstehung der Arten. 7. Aufl. L. Delage, Yves, Jugendgeschichte der Wurzelkrebse. R.. Dellingshausen, Baron N.., Die Schwere oder das Wirksamwer- den der potentiellen Energie. A. 267, 336, Dohrn, A., Entstehung der Hypo- physis bei Petromyzon.. . Du Prel, Dr. Carl, Bedeutung des Traumes Gr Eisig, Dr. Hugo, Biologische Stu- dien, ang estellt in der zoologischen Station in Neapel. VIII—XI. A. Elsberg, Dr. L., Bau der pflanz- lichen Zeilkani. Ir Engelhardt, H., Elemente De Geologie von Credner. V£.L. — Elemente der Paläontologie von Dr“R. Hiörnesı Veel Engelmann, Th., Chlorophy 1 Engelmann, Dr. 6. J., Die Ge- burt bei den Urvölkern. L. Entz, Geza, Chlorophyll Faxon, Walter, Dimorphismus des nordamerikanischen Flußkrebses. R. Fligier, Dr., Über die Urbevölker- ung Siebenbürgens u.s.w. Vf. M. — Die Abstammung d. Tiroler. Vf.M. — Der Streit um die Abstammung der Magyaren. Vf.M. ß — Die quaternären Rassen Portu- gals. Vf. M. „Wissenschaftliche Rundschau“ und „Litteratur und Kritik“ Seite 2 219 211 470 454 427 Fligier. Autoren-Register. Major, v1 Seite Seite Fligier, Dr., Origines Ariacae, Ihering, Dr. H. von, Mehrzehige von Karl Penka. Vf. L. 231| Pferde. (Mit 1 Holzschnitt.) A. 99 — Die Geburt bei den Urvölkern, Jäger, Prof. Dr. G., Entdeckung yon. Dr..:@. J. Engelmann. der Seele. 3. Aufl. L. . . 471 Y£.L. 239|Johow, Dr.Fr., Vegetationsbilder Focke, w. O,, Hybridogener Ur- aus West-Indien und Venezuela. sprung der Arten. R.. 144 | I. Die Mangrove-Sümpfe. A.. . 415 _ Nägeli’ s Einwände gegen "die Keller, Dr. Conrad, Die Abstamm- Blumentheorie,, erläutert an den ungsverhältnisse der Pflanzentiere. Nachtfalterblumen. A... 291 120 Forsyth Major, €. J., Zoogeogra- Keller, "Dr. R., Zur Histologie der phische Übergangsregionen. A. 102| Nervenzentren. Vf. M.. . 44 Galton, Franeis, Inquiries into — Die Expedition des Talisman. Human Faculty and its Develope- VI 2: 12 ment. A 2 Hybridogener Ursprung der Ar- Gardiner, Protoplasmafäden in ten. M.. 144 den Zellwänden . 5 66 | — Ein neues Pflanzensy stem. V{.M. 309 Geddes, Patrik, Chlorophyll > 177 | — Fossile Pferde aus deutschen Dilu- Geikie, Rt, Die Entstehung der vialablagerungen etc. (von Dr. A, Korallenriffe. R... 21 FE Nehrme). Vi. 1. ol4 Göbel, Prof. Dr. K. . Vergleichende Kenngott, A., Handwörterbuch Entwickelungsgeschichte der Pflan- der Mineralogie ete. I 159 zenorgane. ig 155|Klebs, G., Cilioflagellaten. "R 384 Goldberg, Dr. A., “Über den Ur. Koch, Prof. Dr. G. von, Erkennung sprung de auf der Erde vor- und Fixierung organischer Pormen. handenen gebundenen Stickstoffs. ae ee NEM. 5; 69 Könige, Clemens, Kritik seiner —_ Tabellen der Kohlenstoffverbind- „Untersuchungen“ etc. j 254 ungen von Richter. Vf. L. . 80) — Moor und Torf, ein Beitrag zur — Über blaugefärbtes Steinsalz. Vf. Untersuchung u.s.w. A.. . 363 2 154 | — Entgegnung auf Blytt’s s „Be- Golgi, Zur Histologie der Nerven. merkungen“ u.s.w. A. . 444 zentren (Forts). R. Lie: . 44|Kuun, Graf Geza, Über die Ur- — Verteilung der Ganglien . . 242 bevölkerung Siebenbürgens und Goltz, Prof. Friedr., Funktionen die Religion der Agathyrsen. R. 54 der Nervenzentren . . - 243 Ladenburg, Prof., Handwörter- Gourret, P., Cilioflagellaten. R. 384| buch der Chemie. L. 160 Graff, T von, Monographie der Lasaulx, A. von, Handwörterbuch Turbellarien . 13| der Mineralogie etc. L. 294,159 -— Rüssel der Rhabdocoelen . 60 Leuckart, Ba, Begründung des Griesinger, W., Umwandlung des Coelenteratentypus 122 Ich : 328 | — Polymorphismus ; ee 5} Haeckel, E. , System der. Medusen 125 Leunis’ Synopsis, I. Zoologie. Hagen, Prof. H. A., Äußerung 3. Aufl. bearbeitet vonLudwig.L. 470 über Chr. K. Sprengel SL 320 | Ludwig, Dr. F., Biologische Mit- Herzen, Prof. Dr. A., Die Ver- teilungen. A. . 40 änderungen des Selbstbewußt- Ludwig, Prof. Dr. er, Entwickel- seins. A. 321| ung der Echinodermen. R. . 457 Hoffer, Prof. Dr. Ed., Einige bis- — Leunis’ Synopsis, I. Zoologie. hör unbekannte oder wenig be- 3. gänzlich umgearbeitete Aufl. kannte Hummelnester. A. . 114 1 Ba., 2. Hälfte. L. nr ee TN) Hörnes, Dr. R., Elemente der Luerssen, Dr. Chr., Raben- Paläontologie (Paläozoologie). L 8316| horst's ml ri III. Hubrecht, Prof. A. A. W., Die Farnpflanzen. L.. LRARENT Vorfahrenform der Wirbeltiere. RR 59/Mach, Prof. Dr. Ernst, "Die Me- Hunfälvy, Paul, Abstammung chanik in ihrer Entwickelung der Magyaren. R. 142 | historisch-kritisch dargestellt. L. 468 Huxley, Über Darmlosigkeit m man- Major, Forsyth, siehe Forsyth cher Parasiten . 12| Major. VII Marc Aurel. Autoren-Register. Zopf. Seite MarcAuneli: „u. ale waal 2 Martins, Charles, Moränen- und Schotterbildungen . . 150 Meyer, Ernst von, Zur Entwicke- lüngsgeschichte der modernen Che- mie. Vf. M. 390 Milne-Edwar ds, An, Die Expe- dition des „Talisman“. BR: 12 Müller, Fritz, Anfrage, Chr. ® Sprengel betreffend . . .. 320 — Jugendgeschichte der Wurzel- krebse. V£M. - . 454 — Die Zwiegestalt der Menschen des nordamerikanischen Flub- krebsesn VE .M2 re .. 467 — Berichtigung . 472 Müller, Hermann, Aufruf zu einer Stiftung fürs... 161 _,— Stiftung, eingegangene Bei- träge zur — 472 M üntz u% Aubain, Bildung \ von Stickstoffverbinden. durch Elek- trzitätee 71 Murray, Über Korallenriffe und ozeanische Insen ! . . 214 Nägeli, C. von, Einwände gegen die Blamerneonel Sn Se Nathorst, Flora Spitzbergens . 257 Nehring, Prot..A,, Die. Kegel- robbe (Halichoerus grypus). m. 64 — Fossile Pferde aus deutschen Dilu- vialablagerungen etc. R.. . . 314 Passow, A., Vorschläge zur Ver- besserung d. Menschengeschlechts. VER Nee ea 449 Paula e Olivera, Francisco de, Die quaternären Rassen Por- tugals. Risesisste hc Bm Penck, Dr. A., Die Eiszeit in den deutschen Alpen. R. . . 148, 224 Penka, Karl, Origines Ariacae, linguistisch - ethnologische Unter- suchungen. I % 231 Berrier, Bi; Die Expedition des 5 Talisman“. R. 12 Böonuichet..G,, Cilioflagellaten. Sn: 384 Preyer, Prof. WE Spezielle Phy- siologie des Embryo. IBpV2 78 — Die "Mechanik i in ihrer rc ung etc. (von 1 Miach), Vf. 1.22 7408 Rabenhorst’s Kryptogamenflora, Is bes 471 Rau, Albrecht, Dre en er ailsansa nen. Ir 390 Reichenow, Dr. A., en Richter, M.M., Tabellen der Koh- lenstoffverbindungen. Ih. Rieger, 2Dr;® Der Hypnotismus, psychiatrische Beiträge u.s.w. L. Rolle, F. ‚ Handwörterbuch der Mi- neralogie a .. -- Schmidt, Dr. E., Die Moundbuil- ders und ihr Verhältnis zu den hi- storischen Indianern. I, II. A. 81, Selenka, Prof. Dr. E., Die Keim- blätter der Echinodermen. R. Semper, (., über Korallenriffe 212, 213, Seubert’s Grundriß der Botanik, 5. Aufl. von W. v. Ablesaies Spencer, Herbert, Die Religion in Vergangenheit und Zukunft. A. — Definition A Lebens . Spengel, JEW Darmlose a A. : Sprengel, Chr.!K,, Anfrage, —_ betreffend, von Fritz Müller . Stein, Fr. von, Cilioflagellaten. R. Tappeiner, Dr. Franz, Die Ab- stammung der Tiroler. R. Techmer,.Dr ER Internationale Zeitschrift für allgemeine Sprach- wissenschaft. 1. Heft. L. ö Vambery, Herm. Panne der Magyaren. Virchow, Dr, Hans, "Phy siogno- mischer Beitragzu: Rieger, Hyp- notismus. L. | Wagner, Moritz, über Mimiery . Wagner, Prof. Dr. Moritz, Dar- winistische Streitfragen Il. A. ı Wallace, Tiergeographische Re- gionen . War ming, Prof. E., über Bestäub- ung von errlodenin on . W hite, Buchanan, Pelagische Bi sekten des 6 hallenger“. Ron Wiedersheim, Prof. Ri Die mechanische Ieriee der Nam ungsmittel in der Darmschleim- haut. Dr: Winter, Dr+G, Rabe S Kryptogamenflora, I. Pilze Wittjen u. Precht, Über blau gefärbtes Steinsalz. ‘Bl K Wittstein, Prof. '@., Handeere buch der Pharmakognosie des Pflanzenreichs. L. Zehnder, L., Über den‘ Bau der Koma buch der Zoologie u. 58 | Zopf,. DrW. ‚ Die Spaltpilze. h. Seite 80 397 159 359 186 157 Sach-Register. Abstammung der Magyaren 142. Abstammungsverhältnisse, Die, der Pflan- zentiere 120. Ackerbau der Moundbuilders 92. Acoela (ULJANIN) 12, 13. Ähnlichkeit, schützende, bei brasilianischen Insekten 204. Ätherstoßtheorien 268. Afrika, tertiäre Landverbindungen 104. Agathyrsen, Religion der, 54. Arptasia diaphana 181. Aktinien, von Nacktschnecken nachge- ahmt 20, Ernährung durch einzellige Al- gen 180, Sauerstoffentwickelung” der- selben 184. Algen, einzellige, in Tieren 177, in Ak- tinien 180, Art der Verw alten 183, Bedeutung ihrer Sauer stoffentwickelung 184. Algerien, Herpetologie 108. Alpen, Die Eiszeit in den deutschen — 148, 224. Alter der nordamerikanischen Mounds 97. Amaryllideae 300. Ammonshorn, Histologie des, 49, Anfrage, Chr. K. Sprengel betr. 320. Antennarius pietus, laicht auf Sargassum- Büscheln 74. Anthea cereus 182. Anthospermae 309, 313. Aphanostoma ÖORST. 13. Apocynum hypericifolium, Blüteneinricht- ung, 42. Arier, älteste Geschichte der — 231, Ur- sitz 233. Arten, durch Hybridation entstehend 144. | Arthrodele Flagellaten Stein's 385. Arthrostraken 221. Aspidium Filix-mas 66. Asterina gibbosa, Entwickelung 458. Atolls, Bildung von — durch submarine Aufschüttung 215. Atomverkettung 394. Auflösung als Gegensatz zur Entwickelung 30. Aufruf zu einer an Stiftung 161. ! Austro-orientalische Über gangsregion 113. Avicennia 416, 422. Banyanenform '418. Bastardierung, liefert neue Arten 144, Bau der Kometen 186. Beharrungsvermögen 343. Beleuchtung, Einfluß künstlicher, — auf verschiedene Seetiere 303. Berichtigung, Marantaceen betr. 472. Bewegungsmoment der Körper 431, inneres — 433. Bewußtsein, physisches Gesetz des —, v. A. Herzen 322, doppeltes — 329. Biologische Mitteilungen v. Dr. F. Lud- wig 40. Biologische Studien aus der Zoologischen Station in Neapel. VIII—XI. 303. Blaue Färbung von Steinsalz 154. Blumenkronenröhren, Verlängerung durch Insektenreiz 292. Blumentheorie, Einwände Nägeli’ s gegen die — 291, — Sprengel’s 320. Bombus pratorum 114, B. Latreillelus 115, mastrucatus 116, cognatus 117, hortorum 118, soroönsis 119. Botanik, Grundriß der — (Seubert — Wr Ahles)779. Botanik, Handbuch der, 157. Bryogamae 310, 311. Cambarus, Dimorphismus der Männchen 467, Campanula medium 43. Canis antarcticus, Falklandsinseln 360, Carinella, Rüsselscheide 62. Cassiopea borbonica 305, 306. Cereactis aurantiaca 182. Cerebratulus, Rüsselscheide 62. Cereus grandiflorus 299. Certhidea 361. Müller- Characeen. x Sach-Register. Hügelmounds. Characeen (Schistogamae) 310, 311, 313. Chemie, Handwörterbuch der — 160. Chemie, Zur Entwickelungsgeschichte der modernen — 390. Chlorophyll im Tierreich 176, physiolo- gische Bedeutung 179. Chorda dorsalis 59, von der Rüsselscheide der Nemertinen abgeleitet 62. Chromodoris gracilis 21. Chromophyll 178. Cilioflagellaten, Neue Untersuchungen über — 384. Cladopyxiden 387. Coelenteraten, Begründung des Typus 122. Coelomsäcke 461. Cönästhesie (Gemeingefühl) 325. Coma der Kometen 187, 195, Ringform derselben 199. Conidiophorae 310, 314. Convoluta 12, 13. Convolvulus sepium 299. Crenilabrus-Arten 306, Eiablage 308. Ctenophoren 126. Cumaceen 222. Cyrtomorpha v. Gr. 13. Dacier — Agathyrsen 53. Darmlosigkeit mancher Strudelwürmer 12. Darwinistische Streitfragen III. 355. Dekapoden 222. Dichogamie zwittriger Tiere 156. Dichtigkeit der Körper 427, 440. Diluvialpferd, deutsches, französisches etc. | 315. Dimorphe Pflanzen 311. Dinophysiden 385. Drepanophorus, Nervenstämme 61. Echiniden, Furchung 459. Echinodermen, Zur Entwickelungsge- schichte der — 457. Einheit des Ich 323, 335. Eiszeit, Die, in den deutschen Alpen, nach A.Penck 148, 224, Ursachen der — 229. Elastische Körper 347. Embryo, Spezielle Physiologie des — (W. Preyer) 78. Empis aestiva 42, 44. Eneyklopädie d. Naturwissenschaften, Die, 12. 18831717. Energie, potentielle 267, 336, 427. Entdeckung der Seele (G. Jäger) 471. Enterocoel bei Nemertinen 63. Entstehung der Arten, Darwin’'s, 7. Aufl. 470. Equus caballus in Südamerika 100, — fossilis 314. Erkennung u. Fixierung organ. Formen 209. Ethik 404, 411. Euphausiiden 221. Explosivstoffe 69. Exzentrizität der Erdbahn 265, 447. Fallen, Das, der Körper 350. Farnpflanzen (Dr. Chr. Luerssen) 471. Ficus elastica, Blattstiel 69. Ficus indica 418. Finken auf den Galapagos 360. Fische des Sargassomeeres 23. Fische, Verhalten gegen künstl. Beleuch- tung 303, medusenfressende — 30. Flimmerepithel, neue Auffassung des — 141. Floren Norwegens 254, 257, 446, — Spitz- bergens 257. Florida, Korallenriffe 217. Flügellosigkeit pelagischer Insekten 469. Flußkrebs , nordamerikan., Zwiegestalt der Männchen 467. ö Freiheit, Problem der — 247. Furchung des Echinodermeneies 458, 463. Galapagos, Finkenarten 360. Geburt, Die, bei den Urvölkern 239. Gedächtnis 323, 327. Geist, Von der Macht des — 241, Wesen des — 245. Geistertheorie Spencer’s 25. Gelbe Zellen in Meerestieren 178 Genetische Darstellung der Entwickelung der Mechanik 468. Geologie, Elemente der — (H. Credner) 0: Geospiza 360. Geraniaceae 301. (Germanen, nordische Urheimat 234, Geschlechtsorgane der Acölen 17. Gewicht, spezifisches 427, 438, 440. Glazialformation 149. Gletschererosion 227. Golfstrom, Ursachen des — 264, 448. Gonochorismus, successiver 18, 156. Graphik 319. Gravitationstheorien 267, 336. Gravitationswellen 336, 341. Gymnogamae 310, 312. Gynospermae 309, 313. Halichoerus grypus 64. Halobates, Halobatodes, pelagische Hemi- pteren 464, Lebensweise 466. Handwörterbuch der Zoologie etc. 158, — der Pharmakognosie des Pflanzen- reichs 158, — der Mineralogie etc. 159, — der Chemie 160. Hauspferd, Beitrag zur Geschichte des — 314. Hellenen, Urheimat und Urtypus 255. Heuschrecke, Spinnen nachahmend 208. Hilfsmännchen von Saceulina 456. Histologie, Zur, der Nervenzentren 44. Holarktische Region 111. Hügelmounds 84. Hummelnester. Sach-Register. Moral. ENT Hummelnester, nicht od. wenig bekannte — 114. Huyghens’sches Prinzip 275, 277, 455. Hybridogener Ursprung der Arten 144. Hydrocoel 461. Hypnotismus, Entdeckung des — 2. Psy- chiatrische Beiträge zur Kenntnis des — 397. Hypophysis cerebri 59, vom Rüssel der Nemertinen abgeleitet 60. Ich, Bewußtsein von der Kontinuität des — 323. Idioplasmatheorie Nägeli’s 291. Indianer, historische, ihr Verhältnis zu den Moundbuilders 81, 163, Ackerbau 163, feste Plätze und Häuser 164, Mounds 166, Geräte 168, Kupfer 169, Töpferei u. s. w. 170, Schädel 171, Vorgeschichte und Traditionen 172, Sprache 175. Innthal, Das, zur Eiszeit 151, 224. Insekten, pelagische 464. Intracelluläre Verdauung 138. Intussusceptionslehre, beschränkte Berech- tigung der, 68. Irideae 300. Isolierung, Einflub der — 358. Italiens Säugetiere 105, Reptilien und Amphibien 106. Kapverdische Inseln, marine Fauna 74. Katalepsie 398. Kegelrobbe 64. - Keimblätter der Echinodermen 457, mitt- leres — 463. Kentrogoniden (Wurzelkrebse) 454. Kinetische Naturlehre 270, 338. Kjökkenmödinger in Portugal 211. Kleinhirn, Histologie seiner Windungen 44. Klimaschwankungen 230. Klimawechsel 254. Kohlenstoffverbindungen, Tabellen der — (M. Richter) 80. Kometen, Über den Bau der — 186, Zu- sammensetzung aus Meteoriden 192, Atmosphären derselben 193, Schweif 195, Spektrum 201, Temperatur 201, Verkleinerung durch andere Himmels- | körper 202. Kometenschweif, eine Lichtzone 19, all- mähliche Entwickelung 198. Kometentheorie, elektrische 187. Kontinentalklima 255, 446. Kopf der Kometen 186, 192. Kopfspalten der Nemertinen 64. Korallenriffe, Die Entstehung der — 211, frühere Theorien 212, Resultate der Challengerexpedition 214, submarine Aufschüttungen 215, Bildung v. Atolls 215, Einfluß d. Meeresströmungen 216, Riffe von Florida 217, neuere Hebungen in Westindien 218, Aufbau der Ko- ralleninseln 220. Krabben im Tang 22, auf Holz 23. Kryptogamenflora, Rabenhorst's, 1. Pilze 471, III. Farne 471. Labrax lupus, Eiablage 306. Ladiner in Tirol 56. Langia, Nervenstämme 61. Lebendiggebärende Pflanzen 415, 421, 422. Lebensprozeß, Definition des — 356. Lichtliebende Seetiere 303. Liliaceae 299. Lippfische, Eiablage 306, 308. Lymphkörperchen, binden die Peptone 139, nehmen Fettmoleküle auf 140. Magnetismus, tierischer 2. Magyaren, Der Streit um die Abstammung der — 142. Makrelen, Medusen anfressend 306. Malakophilie v. Philodendron 40. Malakostraken, Verwandtschaftsbezieh- ungen der — 220. Mangrove-Sümpfe 415, -Bäume 416, Tier- welt der — 424. Männchen, Dimorphismus der — des nord- amerik. Flußkrebses 467. Marantaceen, brasilianische 472. Marokko, marine Fauna der Westküste 72, Herpetologie 107. Masse und Dichtigkeit der Körper, Be- deutung der, 427. Massendruck, Theorie des — 269, 338. Materie, Wesen der — 272. Mechanik, Die, in ihrer Entwickelung 468. Mechanische Aufnahme, Die, der Nahr- ungsmittel in der Darmschleimhaut 138. Meduse, Homologie mit dem Hydropolyp 123. Medusenfressende Fische 305. Meeresströmungen, Einfluß auf die Ko- rallenriffe 216. Meeresströmungen 264. Mehrzehige Pferde (Dr. H. v. Ihering) 39 Melasomen 361. Menschengeschlecht, Verbesserung des — 449. Mesenchym der Echinodermen 460, mor- pholog. Bedeutung 469. Mesostoma Ehrenbergi 17. Migrationstheorie 356. Mikroskope, Unsere modernen — 288. Mimiery bei Seetieren 19. Mineralogie ete., Handwörterbuch der — 159. Mittelmeergebiet, tiergeographisch 103. Moor und Torf 363, ökonom. Bedeutung der Moore 364, Aufbau 366. Moral in der Volksschule 251. Moral, Unterschied von Sittlichkeit 411. Moränenwälle. X Sach-Register. Rubus-Arten. Moränenwälle 152, Zerstörung durch Glet- scherwässer 153, nördlichste Grenze 225, Bildungszeit 226. Moundbuilders, Die, und ihr Verhältnis z. d. histor. Indianern 81, 163, Form u. Verbreitung ihrer Bauten 84, Technik, Ackerbau 91, Knochenreste 96, Alters- bestimmungen der Mounds 97, Tradition darüber 98, Vergleichung mit d. histor, Indianern 163, Sagen der letzteren 171, Linguistik 175. Mund der Acölen 13. Mysideen 221. Mysis-Larven mit leuchtenden Augen 73. Nachtfalterblumen 291, 297, 298. Nacktschnecken, Aktinien u. Tang nach- ahmend 20, 21. Nadina ULs. 13. Nahrungsmittel, mechanische Aufnahme der — 138. & Nearktisch-neotropische Übergangsregion Nebalia 221. Nemertinen, als Vorläufer der Wirbeltiere 59! Nephrodium villosum 66. Nervensystem, Mangel des, bei Acölen 16. Nervensystem der Nemertinen u. Wirbel- tiere 61. Nerventhätigkeit, Beziehungen zum Be- wußtsein 321. Nervenzentren, zur Histologie der — 44. Noktilueiden 387. Nordamerika, Vorgeschichte von, durch die Mounds erläutert83, nach Traditionen der Indianer 98, 172. Nordtirol, letzte Vergletscherung 149, | ältere Vergletscherungen 224. Norwegen, Klima 254, 444, Torfinoore 365, 447, Flora 254, 257, 446, Muschelbänke und Terrassen 263, 372, Einfluß der Meeresströmungen 264, 448. Oberbayern, letzte Vergletscherung 149, ältere Vergletscherungen 224, Bildung der Seen 227. Octopus vulgaris: lichtscheu 303, Selbst- verstümmelung 304. Oedipoda 207. Ohrenrobben, Gebib 65. ÖOphiuriden, Furchung 459. Örchideae 300. Organische Formen, Erkennung u. Fixier- ung der — 209. Örigines Ariacae 231. Östgoten, Reste der, in Tirol 58. Otariidae, Gebib 65. Paläontologie (Paläozoologie) , der — 316. Palau-Archipel, Korallenriffe 217. Panästhesie (Gesamtgefühl) 325. Elemente Patholog. Erscheinungen bei Seetieren 304, Pelagische Insekten 464. Peltogaster socialis 456. Peptone, Bindung der — durch die Lymph- zellen des Darms 139. Peridiniden 386. Pferde, mehrzehige 99, fossile — aus deutschem Diluvium 314. Pflanzenorgane, Vergleichende Entwickel- ungsgeschichte der (Prof. Göbel) 158. Pflanzensystem, Ein neues — 509. Pflanzentiere, Die Abstammungsverhält- nisse der — 120. Pharmakognosie, Handwörterbuch der — des Pflanzenreichs 158. Phasma, Nlügellose Art 207. Philodendron bipinnatifidum SCHOTT, zur Anpassung des, 40. Phonetik 318. Phosphoreszenz von Meerestieren 72. Phylloperta lanceolata, blätternachahmend 204. : Physiologie, Spezielle, des Embryo (W. Preyer) 78. Pikermifauna 104. Pilze (Dr. G.. Winter) 471. Plasmodicae (Myxomyceten) 310, 313. Plasmolyse 66. Pollen, mischkörnig bei Rubus-Arten 147. Polydaktylie lebender Pferde 99. Polyp, Homologie mit der Meduse 123. Portugal, die quaternären Rassen von— 211. Primordialfauna, nach Barrande und Hörnes 317. Proporus ©. SCHM. 13. Prorocentrinen 385. Proscopia, Grashalme nachahmend 206. Prothallogamae 310, 311. Psychiatrische Beiträge zur Kenntnis des Hypnotismus 397. Pterochroza, einem grünen Blatt ähnlich 204. Puterae (Characeen) 310, 313. Rätier, Räto-Romanen 56. Rechtspflege 248. Reisen, Zoologische, per Segelschiff 133. Reliefbildermounds 87. Religion, die, in Vergangenheit und Zu- kunft 25. hybridogenen | Restitutions-, Retentions-Atavismus 101. Rhizophora Mangle 416, Wurzelgerüst 417, Höhe 419, Blattstellung 419, Keim- ung 420, Trichoblasten 423. Rhizostoma pulmo 305. Rio, Grande do Sul, Fälle schützender Ahnlichkeit aus — 204. Rubiaceae 301. Rubus-Arten, Verschiedenheit des Pollens 145, Fruchtbarkeit ihrer Bastarde 146. Rüssel. Sach-Register. Vergletscherung. XI Rüssel der Nemertinen 60. Rüsselscheide der Nemertinen 62. Ruta graveolens, Dysparaphyt von Apo- eynum 43. Sacculina Careini, Entwickelung 454. Sargassomeer 19, 74, Beschaffenheit des Grundes 75. Sargassum, Herkunft des — im Sargasso- meer 75. Schädel etc, der Moundbuilders 96. Schistogamae (Characeen) 310, 311, 313. Schizoprora 13. Schizosporophorae 310. Schmetterlingspuppe, einen dürren Zweig nachahmend 208. Schraubenförmige Kurven 278, 346. Schrittweise Wanderung der Pflanzen 255, 446. Schwere, Die, oder das Wirksamwerden der potentiellen Energie 267, 336, 427. Schwere, Die, der Körper 343, 437. Scyphopolypen 126, 128. Seebarsche, Eiablage 306. Seele, Feststellung des Begriffes 243, Ver- hältnis zum Geist 245. Seele, Entdeckung der, (G. Jäger) 471. Seen Oberbayerns, ‚ durch Gletscher erodiert 228. Seetiere, Mimiery bei — 19. Segelschiffreisen 24. Sehkraft, geistige 452. Selbstbewußtsein, Die Veränderungen des 321. Selbstentzündung 375. Senkungstheorie Darwin’s zur Erklärung der Korallenriffe 211. Siebenbürgen, Urbevölkerung von, 54. Sileneae 302. Sinneswahrnehmungen, Schärfe der 451. Siphonophoren 126. Sittlichkeitsidee, die Entwickelung der — 401. Skandinavien als Urheimat der Arier 233. Solaneae 300. Spaltpilze (Dr. W. Zopf) 157. Sphaerozoum punctatum 182. Sphagnum 366, 377. Spongien, Verhältnis zu den Coelenteraten 131 Sprachwissenschaft, Internationale Zeit- schrift für allgemeine — 318. Squilliden 222. Stäbchenzellen der Turbellarien 14. Steinsalz, Über blau gefürbtes 154. Steppentiere im deutschen Diluvium 314, 316. Stickstoff, Ursprung des auf der Erde vorhandenen gebundenen — 69. Stiftung , Herm. Müller —, Beiträge zur — 472, Strudelwürmer, darmlose 12. Strukturtheorie 392, 394. Stützwurzeln der Mangrovebäume 417, 423. Symbiose 184. Synapta digitata, Furchung 458, Ent- stehung des Nervensystems 462. Synopsis von Leunis, I. Zoologie 470. Tagfalterblumen 297, 298, Tahiti, Korallenriff von — 215. „Talisman“, die Expedition des — 72. Technik der Moundbuilders 91, Geräte aus Stein, Kupfer 93, aus Thon 94, Tabakspfeifen mit Tierbildern 95. Tempelmounds 85. Tetrasporophorae 310, 314. Thallodeae (Thallophyten p. p.) 310, 313. Theorien, die, der modernen Chemie 390. Tiefseefauna westlich von Marokko 73, im Sargassomeer 76. Tiere mit Chlorophylikörpern 176, selbsterzeugtem Chlorophyll 179. Tiergeographische Regionen, nach W al- lace 102. Tierleben der Mangrovewälder 424. Tiroler, Die Abstammung der — 56. Torf, Moor und — 363, Zusammensetzung des — 367, Verkohlung 372, 374, Be- dingungen zur Bildung von — 378, Wachstumsgeschwindiekeit 382. 365, 447, — an der Nord- mit Torfmoore Norwegens 263, Aufbau der — 366, seeküste 380. Totalenergie der Körper 283, 339. Trägheit der Körper 434, 437. Traumorgan du Prel’s 8,5. Träumen und Wachen 1. Trichoblasten 423. Trimorphe Pflanzen 310. Tumuli (Begräbnismounds) in Nordamerika 9. Turbellarien 12. Türkischer Ursprung der Magyaren 143. Typentheorie Gerhardt’s 39. Ubergangsregionen, zoogeographische 102. Übernatürliches, Scheidung vom Natür- lichen 28. Übung, zweckthätige, der Organe 362. Unbewußte, das, 3, 8. Urvölker, Die Geburt bei den — 239. Urzellen des Mesenchyms 460, 463. Vegetationsbilder aus Westindien Venezuela 415. Venezuela, Vegetationsbilder aus — 415. Veränderungen, Die, des Selbstbewußt- seins 321. Verbesserung des Menschengeschlechts, Vorschläge zur — 449. Verdienst, Verantwortlichkeit 248. Vergletscherung, letzte, von Oberbayern und Nordtirol 149, ältere — 224, und XIV Verwandtschaftsbeziehgn. Sach-Register. Zwittrige Tiere. Verwandtschaftsbeziehungen, Die, der Ma- lakostraken 220. Vorfahrenform, Uber die, der Wirbel- tiere 59. Vorschläge zur Verbesserung des Men- schengeschlechts 449. Waldreste im Torf 366, 368. Wallmounds 84. Wanderung, schrittweise, der Pflanzen 255, 446, Wanderzellen, ein uraltes Erbstück 140. Wechsel extremer Klimate 254, 444. Wechselwirkung von Blumen und In- sekten 293. Wegsamkeit, Die, der Zellhäute 65. Wellen, stehende 278. Weltäther 268, 336. Westindien, Vegetationsbilder aus — 415. Windblüten 298. Wirbeltiere, Über die Vorfahrenform der — 59. Xenia fuscescens 128. Zeitschrift, Internationale, für allgemeine Sprachwissenschaft 318. Zellhäute, Die Wegsamkeit der — 69. Zoogeographische Übergangsregionen 102. Zoologie, Handbuch der (Leunis-Lud- wig) 470. Zoologie u. s. w., Handwörterbuch der — 158. Zoologische Reisen per Segelschiff 133. Zoosporophorae 300, 314. Zooxanthellen 178. Zweckmäßigkeit organischer Gebilde 355. Zweckmäßigkeitslehre 401. Zwiegestalt, Die, der Männchen des nord- amerikanischen Flußkrebses 467. Zwittrige Tiere, Dichogamie 156. Träumen und Wachen. Von B. Carneri. Es gibt wenig Schriftsteller, die so fesselnd auf uns wirken, wie CARL DU Prer. Mit seiner hohen Begabung, seinen tiefen Kenntnissen und seiner ausgebreiteten Belesenheit verbindet er eine so lebendige, ganz dem Gegenstande sich hingebende und dabei doch eine gewisse Besonnenheit niemals verlierende Darstellungsweise, dass man selbst dort- hin gern ihm folgt, allwo man nicht verweilen zu können mit vollster Bestimmtheit gleich voraussieht. Dessen kann man bei ihm versichert sein, jedesmal etwas zu lernen. Darin liegt die Verführung und mit ihr die Gefahr. Damit man uns aber nicht missverstehe und gleich wisse, welche Gefahr wir meinen — nicht jeder wird in dem eine Gefahr erblicken, was uns als eine solche erscheint — wollen wir unverweilt eine Linie ziehen, welche unseres Erachtens das Denken nicht überschreiten darf, solang es einen kritischen Wert anspricht. Es ist nicht genug, dass wir an- erkennen, es gebe für den Menschen keine transcendente Welt und da- mit auch kein absolut Wahres: wir müssen auch darüber mit uns im klaren sein, dass es für den Menschen keinerlei Weg gibt, welcher ihm das absolut Wahre erschliessen könnte; denn gäbe es einen Weg zum Ansich der Dinge, dann gäbe es eben überhaupt eine transcendente Welt. Diese kann man dann nennen wie man will: was sich begreifen, aber nicht auf sinnliche Wahrnehmung und Erfahrung zurückführen liesse, wäre transcendent; und dass wir da nicht eine bloss empirische, sondern nur eine streng kritische, den Denkgesetzen ent- sprechende Erfahrung im Auge haben, ist selbstverständlich. Diesen Grundsatz dürfen wir nie aus den Augen verlieren, wenn wir in objektiver Weise den Wert der Träume untersuchen wollen; und dieser Grundsatz war es, der gleich beim ersten Artikel pu Prers »Über die wissenschaftliche Bedeutung des Traumes« (Kosmos, Band XII, S. 23) uns gezwungen hat, unsern Bedenken Ausdruck zu geben. Seither hat er zwei weitere Artikel veröffentlicht: >»Sind Träume Schäume?« (Kosmos, Band XII, S. 161) und: »Die dramatische Spaltung des Ich im Traume« (Kosmos, Band XIII, $. 44). Weit entfernt, unsere anfänglichen Be- denken zu beschwichtigen, nötigt uns die Fortsetzung dieser unstreitig Kosmos 1884, I. Bd. (VII. Jahrgang, Bd. XIV). il 2 B. Carneri, Träumen und Wachen. sehr interessanten Arbeit die Frage auf: Wo will das hinaus? — Du PreEr, der von Haus aus ein kritischer Geist ist, wenngleich eine Art metaphysischen Bedürfnisses von Zeit zu Zeit die Oberhand gewinnen zu wollen scheint, ist viel zu vorsichtig, um darüber eine bestimmte An- deutung zu geben, und geht darin vielmehr so weit, die Hauptfrage: ob wir überhaupt in der Mitte des Schlafes träumen? —- offen zu lassen. Wir hätten keinen Grund zu bezweifeln, dass wir auch in der Mitte des Schlafes träumen oder wenigstens träumen können, und geben auch gerne zu, dass diese Träume die logisch zusammenhängendsten, sozusagen ver- nünftigsten sein müssten, weil sie nicht wie die im Beginn oder am Aus- gang des Schlafes gestört werden durch äussere Einwirkungen auf die vom Schlaf noch nicht bewältigten oder dem Schlaf sich wieder ent- windenden Sinne, was zur Genüge das Unsinnige der meisten Träume erklärt. Wir wissen zwar nicht, inwiefern »einige Hoffnung« vorhanden sei, dass es »der Experimentalpsychologie einst gelingen wird, die Träume unseres tiefen Schlafes der Erinnerung zugänglich zu machen«, (Band XII, S. 174) — aber auch das könnten wir nicht als unmöglich erklären. Wir fragen nur: was vermögen solche Träume aus der Mitte des Schlafes uns zu bieten ? Im Anschlusse an die in dem Aufsatze: »Die gegebene Welt« (Kosmos, Band XH, S. 401) entwickelten Anschauungen können wir nur antworten: im günstigsten Fall eine klare Erinnerung an Er- fahrenes und ein richtiges Urteil darüber. Wir geben zu, dass es unangemessen sei, die Träume als blosse Schäume zu erklären, und wäre es aus keinem anderen Grunde, als weil sie thatsächlich der Aus- druck eines inneren Fortlebens sind, das oft nur zu fühlbar uns affıziert und dadurch die Wohlthat des ruhigen Schlafes beeinträchtigt. Dagegen könnten wir durchaus nicht einem im Traum gefällten Urteile einen höheren Wert beilegen als dem eines wachen Denkens, bei welchem wir gehörig konzentriert sind und dabei über unsere gesamte Sinnes- thätigkeit und die klare Kontrolle der Aussenwelt verfügen. Was immer man uns da einwenden mag durch eine Berufung auf die Intuition, die wie der Takt auf einem durch vorzügliche Anlage und grosse Übung bedingten abgekürzten Verfahren beruht, vermag unsere Überzeugung so wenig zu erschüttern als der Vergleich mit dem sogenannten tierischen Magnetismus, welchem die Entdeckung des Hypnotismus den Hals gebrochen hat. Diejenigen, welche WILHELM PrEyERS vortreffliche Schrift über die Werke des Arztes James Bram nicht zur Hand haben, bitten wir, unsere Besprechung derselben im Band XII dieser Zeitschrift, S. 12, nachzusehen. Hier ist der schwächste Punkt der sonst so tief durch- dachten Arbeit pu Prers. Er spricht von Heilungen durch Mittel, welche von Somnambulen angegeben werden, wie von ausgemachten Dingen, und citiert gleichzeitig spiritistische Schriftsteller, bei welchen es ihm doch auch aufgefallen sein muss, dass sie die Thatsache des Nichtüberhandnehmens magnetischer Kuren damit bemänteln, es gestatte Gott nicht die Benutzung der Medien zu praktischen Zwecken. Ent- schuldigen sie doch damit auch die Verweigerung aller Aufschlüsse über das Jenseits. B. Carneri, Träumen und Wachen. 3 Die Wichtigkeit der Träume würde sich aber nach der Darstellung Du PRELS aus einem ganz anderen Umstand ergeben, der ein bestimmtes Licht wirft auf seine Auffassung der ganzen Frage. Es ist dies die Heranziehung eines eigenen Traumorgans, das er dem Organ des Wachens entgegensetzt. Wir kennen diese beiden Organe nicht, und bei unserer Auffassung des Bewusstseins bedürfen wir ihrer auch gar nicht zur Erklärung, oder wenn man lieber will, zur Beschreibung der psychischen Erscheinungen. Du Prer, der die psychischen Erscheinungen nicht als Wirkungen physiologischer Funktionen, sondern diese nur als Begleiterscheinungen jener gelten lassen kann, bedarf zu seiner Psy- chologie einer Art Seele. Wir finden dies logisch, und da wir, um ihn zu verstehen, auf seinen Standpunkt uns stellen müssen, so geben wir ihm diese Art Seele als Hypothese zu, uns vorbehaltend, diese Hypothese später zu prüfen. Und wenn wir ihm auch, offen gestanden, nicht gänzlich durch die Ausführungen zu folgen vermögen, welche die Annahme einer solchen Seele, wie seiner ganzen Metaphysik, als ver- einbar darthun sollen mit einem echten Monismus; so wollen wir ihm auch dieses zugestehen. Wir zweifeln nicht, dass es ihm Ernst ist mit dem Monismus, und das ist uns die Hauptsache. Auch jene zwei Organe sollen zu keinem Dualismus führen; denn er erklärt sie aus- drücklich als die Spaltung Eines Stammes, nicht als zwei Seelen, von welchen etwa die eine eine körperliche, die andere eine geistige wäre. Kurz, wie weit wir auch mit unseren Anschauungen auseinander gehen, wir können es vermeiden, einen prinzipiellen Widerspruch zu konstatieren, und geben daher die Hoffnung auf eine Beachtung unserer Einwendungen und auf eine dadurch mögliche Verständigung nicht auf. Auch sind wir gerne bereit, eines Bessern uns belehren zu lassen, wenn wir etwas missverstanden haben oder unsere Gegengründe nicht stichhaltig sein sollten. Besehen wir uns also die zwei genannten Organe genauer. Das eine stellt sich uns dar als das Organ des Bewusstseins, das andere als das Organ des Unbewussten. Damit geraten wir gleich auf eine grosse Schwierigkeit. Du Preu erklärt zwar (Band XII, S. 49) aus- drücklich, dass er das Unbewusste nicht im Sinne Harrmanns auf- fasse; allein er fasst es auf »als individuellen metaphysischen Hintergrund des Ich«e. Stossen wir uns nicht an dem Ausdruck »metaphysisch<, der nach dem bereits Gesagten nicht etwas Übernatür- liches bezeichnen muss, und fragen wir uns einfach, was wir unter dem Unbewussten verstehen? Uns gilt es als etwas nach keiner Richtung hin Aktives, als ein passiver Zustand, der nicht ins Aktive übergehen kann, ohne zu etwas anderem zu werden. Als unbewusst gilt uns die ganze Natur mit Ausschluss der zu bewusst werdender Empfindung organi- sierten Tiere. Bei diesen, den Menschen, um den es hier hauptsächlich sich handelt, mit inbegriffen, geschieht alles das unbewusst, was rein mechanisch sich vollzieht, d. h. ohne dass bei der Übersetzung der Bewegung von einer sensorischen auf eine motorische Bahn eine Vor- stellung ausgelöst würde, durch welche die betreffende Empfindung zum Gefühl, zur bewussten Empfindung sich erhebt. Ausser den von keinem Bewusstsein begleiteten Vorgängen können wir auch die Vorstellungen 4 B. Carneri, Träumen und Wachen. überhaupt zum Unbewussten rechnen, insofern wir sie als schlummernd denken, nämlich bis zum Moment, in welchem sie entweder durch einen direkten Reiz oder indirekt auf dem Wege der Association wieder erweckt und in Thätigkeit gesetzt werden, wodurch eine Empfindung dem betreffen- den Wesen ueuerdings sich vorstellt, sein eigen, ihm bewusst wird. Die derart angehäuft gedachten Vorstellungen sind offenbar das, was Du PrEu als den »individuellen metaphysischen Hintergrund des Ich« bezeichnet. Dass nach unserer Ausdrucksweise dieser Hintergrund kein metaphysi- scher sein könne und ein physiologischer sein müsse, brauchen wir nicht weiter auszuführen. Dagegen haben wir ausdrücklich hervor- zuheben, dass auch wir diesen Hintergrund als einen >»individuellen« betrachten, insofern er nach Menge, Beschaffenheit und Anordnung je nach den Individuen ein sehr verschiedener sein kann und auf ihm die Entwicklung der betreffenden Individualität grossenteils beruht. Soweit gehen wir in dieser Beziehung mit dem geehrten Verfasser, und er kann seinerseits nur mit uns gehen, wenn wir sagen, dass, was aus diesem Hintergrund erwachend in den Vordergrund tritt, zu etwas Bewusstem wird und als solches nicht mehr zum Unbewussten gehört. Wohin er aber auf Grund seiner Darstellung nicht leicht uns folgt, ist, dass wir dabei zwischen einem Wachenden und einem Schlafen- den keinen wesentlichen Unterschied machen. Wir können einen Ohn- mächtigen, der auf sehr starke Reizungen nicht mehr reagiert, bewusstlos nennen. Nicht so einen Schlafenden, weil wir uns sonst als bewusstlos bezeichnen müssten, wenn wir mit geschlossenen Augen und ganz in uns versunken unseren Gedanken in solcher Konzentration nachhängen, dass wir von dem, was um uns her geschieht, keinerlei Notiz nehmen. Selbst der Ohnmächtige ist oft — die Scheintoten dürften grossenteils in das Gebiet der Märchen gehören — nur scheinbar bewusstlos. Dass beim Schlafenden die Bewusstseinsprozesse nur innerlich vor sich gehen, kann auf diese modifizierend wirken — wie alle Funktionen unseres Orga- nismus besonders während des tiefen Schlafes, der oft so heilsam auf sie wirkt, modifiziert sein müssen — aber zu wesentlich anderen können sie dadurch nicht werden. Dass die Natur unserer Traumvorstellungen dieselbe ist wie die unserer Vorstellungen im wachen Zustande, beweist uns beim Erwachen die Erinnerung, in welcher wir ihrer ganz klar uns bewusst werden. Sie verschwinden nur bald, weil die Welt, in welcher sie aus dem Schlummer erwacht sind, eine eingebildete war, nicht that- sächlich vorhanden ist oder fortdauert. Da eine vollendete Ruhe der Nerven, folglich der Gehirn- und Sinnesthätigkeit, nur im Tode denkbar ist, so kann im Schlafe der leiseste Anstoss, mag er dann von aussen oder von innen kommen, vollauf genügen, um ganze Reihen von Empfind- ungen, Vorstellungen und Gefühlen in Bewegung zu setzen: die Führung ihres Ganges besorgt dabei das Ich, als die letzte, charakteristisch unver- änderliche Zusammenfassung des Individuums. Dass diese Führung oft eine sehr abweichende ist von der, welche dasselbe Ich bei wachendem Individuum zuwege bringt, erklärt sich ganz natürlich aus dem Mangel der Kontrolle, welche die äussere Welt unerbittlich auf den Wachenden ausübt. Um das Verhalten des Ich im Traume zu begreifen, bedürfen - B.-Carneri, Träumen und Wachen. 5 wir daher so wenig eines eigenen Traumorgans, als wir, um sein Verhalten im wachen Zustande zu begreifen, ein eigenes Organ des Wachens nötig haben. Versteht nun pu PrEL unter diesen zwei Organen nichts als Modi- fikationen desselben Ich, so haben wir nichts dagegen einzuwenden. Schreibt er aber dem Traumorgan eine gewisse Selbständigkeit zu, so befinden wir uns da vor einer Hypothese, welche uns als eine ‚wissenschaftlich nicht gestattete erscheint; denn einerseits ist sie zur Herstellung des Zusammenhangs der gegebenen Thatsachen, was wissen- schaftlich allein der Zweck einer Hypothese sein darf, überflüssig, und anderseits bahnt sie die Erklärung von Thatsachen an, welche über die gegebenen hinausliegen. Es ist dies sehr gefährlich, und die Gefahr besteht in der Versuchung, Erklärungen, die keine sind, als solche zu betrachten. Wir glauben nicht zu weit zu gehen, wenn wir sagen, dass der geistvolle Verfasser teilweise dieser Versuchung auch thatsächlich erliegt. Nicht nur der Wert, den er dem tierischen Magnetis- mus und dem Somnambulismus beilegt, macht uns stutzen, sondern der Ernst, mit welchem er den Umstand hervorhebt, dass im Traume Raum und Zeit ihre Verhältnisse vollständig ändern, namentlich die Zeit zu etwas herabsinkt, womit kaum mehr gerechnet wird. Es ist dies ganz richtig; allein darin bringt es auch die blosse Phantasie ohne allen Schlaf erklecklich weit, und was für wache Träumer die Neuzeit in diesem Stück aufzuweisen hat, ist weltbekannt. Bislang haben sie sich allerdings . erst über die Dimensionen des Raums gewagt und die Zeit, soviel uns bekannt ist, in Ruhe gelassen. Fiele die Entscheidung dieser Frage den. schlafenden Träumern zu — es kann ja, wie gesagt, sein, dass eine künftige Experimentalpsychologie den Inhalt der tiefsten Träume uns aufdeckt — dann könnte A. Rırrnz, welcher erklärt hat, mit der vierten Raumdimension ernster sich beschäftigen zu wollen, erst wann man ihm eine Krümmung der Zeit nachweisen wird, es noch erleben, beim Wort genommen zu werden. Gewiss kann man sagen, dass die Raum- und Zeitanschauungen der Träumenden in der Traumwelt zur Erscheinung kommen; allein gerade dieser Umstand macht uns die Welt der Träume besonders verdächtig, so lang uns nicht klar bewiesen wird, dass bei der Spaltung unseres Ich in zwei Organe auf jede Seite des- seiben ein gleicher Verlass sei. Dass das entscheidende Moment in dieser Spaltung liege, konnte einem kritisch geschulten Denker, wie pu Preu einer ist, nicht entgehen. Darum hat er auch der dramatischen Spaltung des Ich im Traume einen eigenen Artikel gewidmet. Doch will es uns bedünken, dass er durch die Zurückführung dieser Spaltung auf die Verschiebung der Em- pfindungsschwelle oder der psychophysischen Schwelle die ganze Frage eher verwirrt. Wir möchten überhaupt lieber von einer Zurückschiebung dieser Schwelle reden. Bei einer Verschiebung weiss man nicht, wohin und in welchem Sinn geschoben wird; während man die Zurückschiebung leicht vereinbaren kann mit der im Schlafe eintretenden und zunehmen- den Unempfindlichkeit der sensorischen Apparate. Dass sich innerlich eine Art Demarkationslinie bildet zwischen dem Bewussten und Un- 6 B. Carneri, Träumen und Wachen. bewussten, geben wir anstandslos zu. Das geträumte Vorstellungsleben lässt sich in der That als ein inneres Bewusstsein bezeichnen — als bewusstlos gilt ja auch uns der Schlafende nicht — und das darüber Hinausliegende ist das Unbewusste. Dieses Unbewusste liegt aber nicht diesseits, sondern jenseits der Empfindungsschwelle, insofern für den Träumenden die Reize der Aussenwelt nicht existieren, und zwar nach Massgabe der Abstumpfung seiner Empfindlichkeit. Die Grenze des Un- bewussten ist die Grenze des Vergangenen, im Traume wie im Wachen, und die Grenze des Traums ist der Grenze des Wachens genau nach- gebildet. Immer enthält dieses Unbewusste unsere Erinnerungen, alles was wir erfahren und uns angeeignet haben; es ist der Fonds unseres Gedächtnisses. Wenn pu Preu sagt: »Aus der Region des Unbewussten tauchen die Traumbilder auf« (Band XII, S. 162); so gilt das ebenso von unserem wachen Denken. Nach denselben Gesetzen wie hier werden dort, nur ohne alle Kontrolle und Möglichkeit einer Berichtigung, daher oft sehr regellos und in Sprüngen die schlummernden Vorstellungen ge- weckt. Aus den im Traume zur Aktivität berufenen Vorstellungen:bildet sich die Welt, die dem Träumenden als wirklich gilt und, wie DU PrEL (Band XIII, S. 47) ganz richtig bemerkt, zu seinem Nicht-Ich wird. Der Prozess, durch welchen der Träumende diesem Nicht-Ich sein Ich entgegensetzt, dürfte aber nicht so kompliziert sein, als er von DU PrEL uns geschildert wird, und die Annahme einer Spaltung ist dabei ganz überflüssig. Wir brauchen nicht einmal der Spaltung zu gedenken, die vielleicht im Selbstbewusstsein liegt: es genügt zu dieser Erklärung die einfache Gegenüberstellung des Bewusstseins; träumen doch auch Tiere, welchen wir kein Selbstbewusstsein zuschreiben. Zudem sind alle Wahrnehmungen im Grunde innere Wahrnehmungen, und befin- den wir uns daher im Traume nicht in einer ungewohnten Situation: sobald die äussere Welt ins Unbewusste versinkt, für uns nicht mehr existiert, können wir gar nicht umhin, die erträumte Welt für eine wirk- liche zu halten. Im Schlafe leben wir ja fort. Ebenso einfach verhält sich’s mit der dramatischen Spaltung unseres Ich in manchen Träumen. Wir wiederholen dabei nur, was wir im Wachen thun, wenn wir uns einen Freund oder einen Feind ver- gegenwärtigen und mit ihm ein Gespräch führen. Wir können auf diese Weise auch mit verschiedenen Personen verkehren und jede einzelne so sprechen lassen, wie sie unseres Erachtens sprechen würde, sie alle wider- legen, aber ebenso gut auch uns von ihnen widerlegen lassen. Bei einiger Phantasie können wir fingieren, eines Verbrechens angeklagt zu sein, und im Geiste eine ganze Schwurgerichtsszene durchmachen, bei welcher wir nicht nur unsern Verteidiger, sondern auch den Ankläger, die Richter, die Zeugen und einzelne Geschworene reden lassen, ohne dass es dabei im geringsten uns anstössig wäre, dass eigentlich wir immer für alle reden. Warum sollten wir nicht derlei Szenen träumen können, wenn irgend eine Ideenassociation uns darauf bringt? Wie nichts uns daran hindert, bei solchen Gelegenheiten Witze zu machen, so hin- dert uns auch nichts, die besseren Witze — wenn nur auch solche uns einfallen — unseren Widersachern in den Mund zu legen. Wem ist es —] B. Carneri, Träumen und Wachen. aber nicht schon geschehen, im Traume ganz entzückt gewesen zu sein über einen Witz, der im Erwachen als die abscheulichste Plattheit, oder über einen Vers, der im Erwachen als alles eher, denn als ein Vers, sich herausgestellt hat? Wer hat nicht schon im Traum zu seinem höchsten Erstaunen mit beispielloser Geläufigkeit eine fremde Sprache gesprochen, und erwachend bei einem sinnlosen Gallimathias sich ertappt? Wer hat nicht schon wiederholt im Traum seiner Beerdigung beigewohnt, das eine Mal die Sache ganz natürlich findend, das andere Mal nicht recht begreifend, wie er dabei unter die Leidtragenden geraten sei, und dass diese ihn weder bedauerten noch beglückwünschten ? Gerade diese Spaltungen, nicht nur des Ich, sondern des Verstandes unseres Ich, und die mit den Störungen um die Zeit des Erwachens gar nichts gemein haben, stimmen unsere Erwartungen betreffs der Träume aus der Mitte des Schlafes sehr herab. Das Höchste, was wir bei ihnen erwarten, ist, wie wir bereits erwähnt haben, ein vernünftigerer Vorstellungsverlauf und ein richtigeres Urteil, als durchschnittlich bei den Träumen zu beob- achten uns gegönnt ist. Wenn der geehrte Verfasser der in Rede stehen- den Abhandlungen die Geduld gehabt hat, bis hierher unseren Betracht- ungen zu folgen, so wird er uns nicht nur zugeben, dass wir uns red- lich bemüht haben, auf seine Gedanken einzugehen, sondern auch dass die Entscheidung der Frage, ob den Träumen Wichtigkeit beizulegen sei, von der Beantwortung folgender drei Vorfragen abhängt. Es müssen nicht alle drei in einer der Wichtigkeit der Träume günstigen Weise beantwortet werden. Die günstige Beantwortung einer einzigen, gleich- viel welcher, genügt. Die Fragen sind folgende. Gibt es eine Seele, welche unabhängig von den Sinnen Wahr- nehmungen machen, Erfahrungen sammeln, oder was dasselbe ist, auf dem Wege reiner Intuition zu klaren Begriffen, Urteilen und Schlüssen gelangen kann? Wenn Ja, so kann der Wert der tieferen Träume ein ganz ausserordentlicher sein. Wir können aber ein solches absolut selb- ständiges Wesen im Menschen mit einer echt einheitlichen Weltanschau- ung nicht in Einklag setzen, und bei jeder andern Lösung der Seelen- frage vermögen wir nicht den Traum über den Zustand des Wachens zu stellen. Eine solche Seele hält auch pu Preu mit einer einheitlichen Welt- anschauung für unverträglich. Darum greift er nach einem Traumorgan, das er sozusagen nur negativ näher bestimmt, insoweit es ihm nämlich nötig scheint, um zu zeigen, dass er dabei nicht in Widerspruch gerät mit seinen monistischen Grundsätzen. Darum können wir unsere zweite Frage nur dahin formulieren: Gibt es eine Wahrnehmung, die der sinnlichen Auffassung entraten kann, bei der ein inneres Organ die äusseren Organe nicht nur ersetzt, sondern an Klarheit der Auffassung derart überbietet, dass die Kenntnisse, die es dem Menschen zuführt, alles weit hinter sich lassen, was er im Wege der gemeinen Erfahrung sich anzueignen vermag? Wenn Ja, wie oben. Allein diese Hypothese gehört zu denjenigen, die wir bereits als unstatthaft erklärt haben, und wir sind zudem überzeugt, dass vu PreL, wie sehr auch eine solche Wahrnehmung, die in den meisten Werken über Träume zahlreiche 8 B. Carneri, Träumen und Wachen. Bestätigungen findet, dem höchsten Ziel seiner Wünsche entsprechen würde, in dieser präzisen Form sie ebenso entschieden, als wir es thun, ablehnt. Mit einer verschwommenen Formulierung ist uns aber nicht gedient. Es bleibt demnach nur mehr ein Drittes übrig, das unglückselige Unbewusste, und da erklären wir kurz und bündig: dass es für ein kritisches Denken nichts anderes sein kann, als die einfache Nega- tion des Bewussten. Über diesen Punkt kommen wir nicht hinaus; aber zugeben müssen wir, dass es genügt, dem Unbewussten einen po- sitiven Wert zu vindizieren und seiner Passivität Aktivität zuzuschreiben, um dem Werte der Träume im Gegensatz zum erfahrungsmässigen Wissen zum Sieg zu verhelfen. Was wäre aber das für ein Sieg, d.h. was wäre damit gewonnen, und um welchen Preis? Im günstigsten Fall wäre es ein dunkler Sieg des Mystizismus. Wir sagen dunkel, weil das Unbewusste im Dunkel liegt, der Heimat des Mystizismus, und wir betonen diesen, weil das Geheimnisvolle des Magnetismus, des Somnambulismus, des Spi- ritismus u. Ss. w. zur Herrschaft gelangen würde. Das Geheimnisvolle aber flösst uns ebensowenig Respekt ein, als Interesse: es ist etwas, das wir nicht kennen. Je verlässlicher die Mittel wären, durch welche wir zu einem Einblick in die tiefen Träume gelangen würden; je unzwei- deutiger die Aussprüche dieser letzteren sich vernehmen liessen: desto näher kämen wir einer unvermittelten Erfahrung und durch diese einem Seelenbegriff, vor dem alle echte Wissenschaft, die mit dem Grundsatz der Kausalität steht und fällt, die Segel streichen müsste. Gilt einmal der Satz, dass, weil die Kausalität, das Übergehen der Ursache in die Wirkung, nicht mit Händen zu greifen ist, die physiologischen Funktionen, aus welchen die psychologischen Vorgänge sich ergeben, nur Begleit- erscheinungen sind — so gibt es nur Einen Schritt zu der Annahme, dass übernatürliche Funktionen sie bewirken könnten, und das Denken ohne Gehirn, das denkende Weltall, das Unbewusste der Philosophie des Unbewussten würde zum obersten Prinzip. Entweder erfasst man das Unbewusste als das einfach Nichtbewusste, oder man wird von ihm erfasst, und gerät bei der besten Absicht, zu einer Vertiefung des Wissens zu gelangen, in eine Untiefe, in der man rettungslos stecken bleibt. Das wäre der Sieg auf dieser Fahrt. Und der Preis dieses Sieges wäre die Wissenschaft. Das Wissen wäre geopfert dem Glauben, aber nicht etwa dem reinen Glauben, der keine Beweise verlangt — dessen wir nicht fähig sind, den wir aber verstehen — dem uns unverständlichen Aberglauben wäre die Wissenschaft geopfert. Nicht um Wunder, die im Geiste sich vollziehen, um Wunder handelte sich’s, bei welchen ein mystischer Hokus- pokus als wissenschaftliche Methode auftritt und dem Unsinn einen tiefen Sinn aufprägt. Darum genügt es nicht zu erkennen, dass es für den Menschen kein absolutes Wissen gibt, und hat man auch mit der Erkenntnis sich zu befreunden, dass es keinen Weg dahin gibt: jeder Schritt auf einem angeblich dahin führenden Wege entfernt uns von dem Wissen, das den Menschen zu dem gemacht hat, was er ist, und auf B. Carneri, Träumen und Wachen. 9 das mit Stolz zu blicken er allen Grund hat. So gewiss es ist, dass die Erweiterung des menschlichen Wissens, so oft sie zu einer Vertiefung desselben führt, eine Verengerung des Wissenskreises zur Folge hat: ebenso gewiss ist es, dass jede neue Vertiefung eine Erweiterung auf soliderer Unterlage anbahnt. Man kann dies nicht vortrefflicher aus- führen, als dies pu Preu selbst gethan hat in der Abhandlung: Über die Entwicklungsfähigkeit der Wissenschaft (Kosmos, Band XI, S. 401), welche wir als eine Einleitung der Aufsätze über Träume betrachten zu können glauben. Man vergleiche nur die Begriffe der Naturkräfte ältester, älterer, neuerer und neuester Zeit, und man sieht mit einem einzigen Blick, wie der Fortschritt von der Botmässigkeit der Naturkräfte uns befreit und sie uns unterthan gemacht hat. Und worin besteht der Fortschritt? Etwa darin, dass wir einen Einblick in ihre Wesenheit gewonnen haben? Im Gegenteil: der Gewinn besteht darin, dass der an der Hand der Erfahrung fort und fort sich klärende Verstand fort und fort Anschauungen über Wesenheiten beseitigt hat, welche von einer träumerischen Intuition ausgeheckt worden waren. Allen Fortschritt verdanken wir der Wissenschaft und deren eigenem Fortschritt auf dem kritischen Gebiete. Nicht das Wesen der Erscheinungen sucht die kri- tische Wissenschaft aufzudecken, sondern ihre Verhältnisse zu einander und zur menschlichen Erscheinung. Ihre Gewissheiten drehen sich nur um relative Grössen und deren relatives Verhalten zu einander; allein die Relativität ist für den Menschen, wie er uns erscheint, von positivem Wert, und die positiven Gewissheiten, welchen das menschliche Streben seine glänzendsten Triumphe und die allein sichere Grundlage einer steigenden Wohlfahrt verdankt, sollen wir hingeben für die lockenden, aber durch die W#lkürlichkeit ihres Ausgangspunktes wie durch die Aben- teuerlichkeit ihres Zieles notwendigerweise haltlosen Elukubrationen einer mondsüchtigen Philosophie? Das Wachen sollen wir hingeben für das Träumen? Den hellen Tag sollen wir hingeben für eine dunkle Nacht, im günstigsten Fall für ein dämmerndes Zwielicht ? Und warum sollten wir das? Bringt dieses Dämmern den Tag, so bleiben wir lieber gleich beim Tag, da er schon unser ist. Wozu mit einem Dämmern es wagen, das auch das Dämmern sein kann einer hereinbrechenden Nacht? Wir kennen die Antwort: das Licht unseres Tages ist nur das vergängliche Licht sterblicher Augen; das Licht, das jene Dämmerung uns verheisst, ist das Licht des ewigen Geistes. Aber wir kennen nicht nur diese Antwort, wir wissen auch, dass sie nicht das letzte Wort unserer Gegner ist. Diese kennen so gut als wir die dem Menschen und seiner Erkenntnis gezogenen Schranken und deren Unübersteiglichkeit. Wir haben es ja hier mit gelehrten Gegnern zu thun. Sie würden uns gar nicht zum Wort kommen lassen, wenn wir Miene machen wollten, ihnen die Fruchtlosigkeit ihres Strebens klar- zulegen, und kämen uns gleich auf halbem Wege entgegen mit einer herzzerreissenden Schilderung der Glaubensbedürftigen, die einen unaus- löschlichen Durst nach absoluter Wahrheit im Herzen tragen und in der Wüste, als welche unser unabsehbares, kein letztes Ziel anstrebendes Wissen sie umschliesst, elendiglich verschmachten müssten, wenn ihnen 10 B. Carneri, Träumen und Wachen. nicht, und wär’ es auch noch so von ferne, eine Oase philosophischen Glaubens winkte. Wären wir nicht selbst diesen Weg gegangen, so könnten wir vielleicht durch diesen Schmerzensruf uns erweichen lassen. Wir haben das durchgemacht. Es gibt keine grössere Täuschung, als die da meint, auf diesem Wege zu wahrer Beruhigung zu gelangen. In der Verbindung: philosophischer Glaube, — begegnet ein falscher Glaube einer falschen Philosophie. Wie bei allen Kompromissen kommen beide Teile dabei zu kurz. Was wir da sagen, liegt ganz gleich in beider Interesse. Auch hier gilt ScuißLers Wort: »Wer dieser Blumen Eine brach, be- gehre die andre Schwester nicht.< Beide erlangt niemand, weil man die andere nur erlangen könnte, die erste verlierend. Ist es eine Barbarei, den Gläubigen in seinen heiligsten Gefühlen zu kränken: so ist es nicht minder eine Barbarei, Grundsätze, aus deren Klarheit das Gemüt des Glaubenslosen seine erfrischendste Labung schöpft, durch halbgläubige Zusätze zu trüben. In allen ernsten Dingen sind die Halbheiten das Verderblichste. Der glauben kann und im Glauben Trost und Stärkung findet, der glaube voll und ganz; denn es ist für ihn alle Weisheit der Welt eitel Geplauder, sein eigentliches Element die Religion. Der aber nicht glauben kann und der Philosophie sich zuwendet, der hat ebenso voll und ganz sich ikr zuzuwenden. Darunter verstehen wir so wenig eine fortwährende Beschäftigung mit fachmännischen Studien, als wir im anderen Falle fordern, dass Einer zum Theologen werde. Für den Gläu- bigen sind Vorsehung und Unsterblichkeit die unwandelbaren Pole, um deren Achse seine ganze Welt sich bewegt; und weiss er dabei unter allen Widerwärtigkeiten des Lebens das Banner der Menschenliebe hochzuhalten und in Ergebung einen edlen Gleichmut sich zu bewahren: so kann er am Schluss seines Lebens hingehen mit dem Bewusstsein, in würdiger Weise seine Aufgabe gelöst zu haben. Die Aufgabe des Philosophen ist genau dieselbe; nur die Pole, um welche die Achse seiner Welt sich bewegt, sind andere und heissen Kausalität und Not- wendigkeit. An diesen Grundsätzen darf nicht gerüttelt werden; denn gerade in ihrer Unwandelbarkeit liegt ihr hoher Wert. Dass alles, was ge- schieht, mit unabänderlicher Notwendigkeit geschieht, und dass nichts geschehen kann, wozu die erforderlichen Bedingungen mangeln, sind zwei nie versiegende Quellen der Beruhigung und Ermutigung, wenn wir unsere ganze Weltanschauung rückhaltlos danach einrichten und im Vollgefühl alles Guten und Edlen, das jeder findet, der es ernstlich sucht, das Unvermeidliche als eben unvermeidlich mit in den Kauf nehmen. Nicht nur ertragen wir jeden Schicksalsschlag leichter, bei welchem wir wissen, dass kein höherer Wille ihn uns zugefügt hat, und einsehen, dass es unter den gegebenen Verhältnissen nicht anders kommen konnte; nicht nur beurteilen wir unsere Mitmenschen milder, wenn wir den notwendigen Zusammenhang ihres Handelns mit dem allgemeinen Ge- schehen nie ausser acht lassen; nicht nur ist die klare Erkenntnis dieses allgemeinen Zusammenhangs der Dinge die festeste Schutzwehr gegen das trostlose Gefühl der Vereinsamung: die blosse Naturbetrachtung B. Carneri, Träumen und Wachen, 41 auf Grund der Gesetzmässigkeit, mit welcher alles entsteht, vergeht und zu höheren Stufen sich fortentwickelt, wie überhaupt die Beschäftigung mit wissenschaftlichen Dingen gehört zu den höchsten und reinsten Ge- nüssen, zu den seltenen Genüssen, die uns bereichern und darum in der Erinnerung uns noch beglücken. Überblicken wir von diesem Stand- punkt die Entwicklung des ethischen Menschen: wie er unter der Herrschaft der unerbittlichen, aber auch keiner Willkür zugänglichen Kausalität Ideale sich geschaffen hat, für die er selbst sein Leben aufs Spiel setzt, weil sie ihm die Befriedigung seines unvertilgbaren Glück- seligkeitstriebes verbürgen; — so entrollt sich vor unseren Augen ein Bild der Menschheit, das mit seinen Freuden und Leiden, mit seinen Hoffnungen und Entsagungen, mit den zahllosen Fällen, in welchen Hilfe not thut und Rettung möglich ist, das grösste Herz auszufüllen vermag. Den Bedürfnissen des Gemütes, wenn sie nur nicht irregeleitet sind durch falsche Sentimentalität oder überspannte Anforderungen, weiss dieses irdische Leben so vielseitig gerecht zu werden, dass es eine leere Ausflucht ist, wenn man die Armseligkeit dieser Existenz als den Grund bezeichnet, der die Menschen immer wieder getrieben hat, in der Traum- welt eine Zuflucht zu suchen und vielleicht einen Ausblick in ein besseres Leben. Wir haben uns hier so viel mit dem Träumen beschäftigt, dass es zum Schluss uns gestattet sein mag, noch ein paar Worte, welchen Du Pren gewiss zustimmt, dem Wachen zu widmen. Wir halten es mit dem Wachen. Möglich, dass uns für das Träumen der richtige Sinn fehlt. Vielleicht auch ist es die durchschnittliche Eigenart der Leute, die viel auf Träume geben, was uns von diesen keinen sonderlichen Begriff beigebracht hat. Jedenfalls hat uns immer zu sehr die Arbeit gefreut, als dass wir nicht täglich auf einen guten Schlaf uns gefreut hätten; und als ein guter, gesunder Schlaf hat uns immer der gegolten, bei welchem wir möglichst wenig von Träumen wussten, und von dem nichts uns zurückblieb als das Gefühl erneuter Kraft. Bei voller Kraft arbeiten ist Genuss. Auch haben wir viel zu viel gelitten, um nicht zu wissen, dass die Nacht Qualen bringen kann, die der Tag nicht kennt. Jeden neuen Tag mit Freuden zu begrüssen, ist das Kennzeichen des Glücklichen. Mit klarem Auge dem jungen Tag ins klare Auge sehen, kann nur der Tüchtige. Die Nacht zu bevorzugen, ist krankhaft. Die dunkle Nacht ist die Schwester des Todes; der Tag ist das Licht, das Leben. Darum wollen wir’s auch fürderhin mit dem Wachen halten und unserer vollen Sinnesthätigkeit uns erfreuen, als der eigentlichen Vermittlerin zwischen unserem winzigen Ich und der riesigen Welt. Wenn es etwas gibt, wodurch unser Ich, das schier uns verschwinden will, wenn wir mit ihm uns beschäftigen, eine nennenswerte Bedeutung er- langt, so war es immer die Arbeit. Gegen einen tiefen Kummer hilft nur Arbeit bis zur Ermüdung. Jede Stunde, die wir länger gewacht, erschien uns immer als gewonnen. Nur wachend sind wir ganz unser eigen: im Traum sind wir gefesselt. Dem Träumer scheint selbst das Wachen ein Traum; darum will er immer tiefer träumen, weil er sich sehnt, endlich einmal wirklich zu erwachen. Jeder kann nur den 12 J. W. Spengel, Darmlose Strudelwürmer. Weg gehen, den seine Individualität ihm vorschreibt. Aber uns will es scheinen, als gingen wir den sichereren Weg, indem wir’s mit dem Wachen halten und nach Kräften leben und arbeiten, bis wir Eines Tages ganz müde sind, und recht von Herzen uns sehnen nach einem endlos guten, traumlosen Schlaf. Wildhaus. 22. Mai 1883. Darmlose Strudelwürmer. Von Dr. J. W. Spengel (Bremen). Huxtey hat an mehreren Stellen seines bekannten »Lehrbuches der Anatomie der wirbellosen Tiere« ausgesprochen, man müsse bei der Beurteilung der Darmlosigkeit mancher Schmarotzer, so namentlich der Bandwürmer und der Kratzer (Akanthocephalen) an die Möglichkeit denken, dass dieselben nicht durch Umbildung freilebender, mit einem Darme ausgestatteter Formen entstanden seien, sondern von Tieren ab- stammen möchten, die nie einen Darm besessen haben. Er weist in Zu- sammenhang mit dieser Frage besonders auf die durch van BENEDENS treffliche Untersuchung so gut bekannt gewordenen Dieyemiden hin, jene in den Nieren der Cephalopoden lebenden wurmförmigen Schmarotzer, welche von den oben genannten Parasiten zwar in der mangelnden Aus- bildung eines Mesoderms abweichen, ihnen jedoch in dem gänzlichen Mangel eines Darmkanales gleichen. Anderseits ist wohl nie zuvor die Bedeutung der Strudelwürmer oder Turbellarien für die phylogenetische Verknüpfung höherer Formen mit niederen mit solchem Nachdruck her- vorgehoben worden wie in eben diesem Werke Huxrrys, und es würde nicht haben überraschen können, wenn der Verf. es versucht hätte, das, was man damals über die Darmlosigkeit gewisser Turbellarien wusste, im Sinne seiner Annahme eines primären Darmmangels zu deuten und zu verwerten. Huxtey sagt indessen über diesen Punkt nur fol- gendes: »Bei den niedersten Turbellarien (z. B. Convoluta) kann von einer eigentlichen Verdauungshöhle kaum die Rede sein; hier sind die Endodermzellen nicht so angeordnet, dass sie eine Darmhöhle begrenzen, sondern die Nahrung durchsetzt die Lücken eines Endoderm-Parenchyms. « Man muss danach annehmen, dass ihm entweder die Abhandlung Uwsanıns über »die Turbellarien der Bucht von Sebastopol« (in: Be- richte Ver. Freunde d. Naturw. Moskau 1870), in welcher der Begriff der >Acölie« aufgestellt wurde, nicht bekannt geworden war, oder dass er aus den Beobachtungen des russischen Forschers ebenso wie manche andere Zoologen doch keinen andern Schluss zu ziehen wagte, als den in den oben citierten Worten enthaltenen, wonach anzunehmen wäre, dass J. W. Spengel, Darmlose Strudelwürmer. 13 bei Convoluta und verwandten Turbellarien nicht der Darm, sondern nur eine Darmhöhle fehle. In Wirklichkeit wurde durch ULsanıns Unter- suchungen der gänzliche Mangel eines Darmes bei den Gattungen Con- voluta und Schizoprora dargethan. Im Jahre 1878 erhielten seine An- gaben eine vollgültige Bestätigung durch GrAFF, der in einem »kurzen Bericht über fortgesetzte Turbellarienstudien« (in: Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. 30 Suppl.) nach seinen Beobachtungen an Schizoprora venenosa OÖ. SCHM. aussprach, es gebe »innerhalb der Gruppe der Turbellarien gänzlich darm- lose Formen (Acoela ULsanıns), bei denen die Nahrung durch eine kleine Hautstelle eintritt, um in einer vakuolenreichen, von Fetttröpfchen durch- setzten weichen Marksubstanz, gleichwie bei Infusorien, herumgetrieben zu werden.« Es ist ohne weiteres einleuchtend, von wie grosser Bedeutung es ist, die Thatsache der Darmlosigkeit gewisser freilebender (nicht schma- rotzender) Turbellarien mit vollkommener Sicherheit und in den Einzel- heiten ihrer Erscheinung genau kennen zu lernen und auch über die übrige Organisation dieser Tiere so viel wie möglich zu erfahren, dass jede Bereicherung unserer Kenntnisse auf diesem Gebiete mit Freuden willkommen zu heissen ist, und es ist gewiss nicht das geringste Ver- dienst der ausgezeichneten »Monographie der Turbellarien« *, mit der L. vox GrAFF vor kurzem die Wissenschaft beschenkt hat, dass er in derselben die Anatomie der »Acölen« auf Grund umfassender und sorg- fältiger Studien in eingehendster Weise behandelt hat. Es dürfte daher ein Auszug aus dem betreffenden Abschnitte der Monographie freund- licher Aufnahme bei den Lesern des »Kosmos« sicher sein. Die hierher zu rechnenden Formen gehören ohne Ausnahme dem Meere an und verteilen sich auf die Gattungen Proporus O. Schu. (Schizo- prora O. Schu.), Aphanostoma Ö., Nadina Uus., Cyrtomorpha v. Gr. und Convoluta Ö., von denen v. Grarr 22 sicher bekannte und 2 hinsicht- lich ihrer Zugehörigkeit sehr zweifelhafte Arten aufzählt und 9 selbst untersucht hat. Er ist der Erste, welcher sich bei seinen Untersuchungen der Hilfsmittel der modernen zootomischen Technik, besonders der Zer- legung in feine Schnitte und der Tinktion der Gewebe bedient hat, und diesem Umstande ist es zu verdanken, dass seine Studien gerade in bezug auf die wichtigste Frage, diejenige nach der Beschaffenheit des Verdauungsapparats, so erfolgreich geworden sind. Ehe wir die übrige Organisation betrachten, wollen wir uns mit den auf diesen Punkt be- züglichen Beobachtungen bekannt machen. Obwohl den Acölen ein Darm fehlt, besitzen sie doch alle einen Mund, mittels dessen sie ihre vorwiegend aus animalischen Stoffen (Krustaceen und anderen Turbellarien) bestehende Nahrung ins Leibes- innere aufnehmen. In den meisten Fällen ist dieser Mund nur ein ein- facher Spalt der Haut, an den sich von allen Seiten radiär angeordnete Muskelfasern anheften, vermittelst deren die Öffnung erweitert werden kann. Der Mund liegt entweder an der vordern Spitze des Körpers oder an der Bauchseite. Nur bei der Gattung Convoluta ist die Bildung * Leipzig, Wilh. Engelmann. 1 Band Folio mit einem Atlas von 20 Tafeln. 14 J. W. Spengel, Darmlose Strudelwürmer. etwas komplizierter, indem sich hier um die Mundöffnung das Integument zu einem einfachen kurzen Schlundrohre einsenkt, das selbständiger, von Längs- und Ringmuskeln ausgeführter Bewegungen fähig ist. Weder an das Schlundrohr noch an den einfachen Mundspalt setzt sich indessen ein Darmkanal an, sondern die Öffnung jener führt in eine weiche fein- körnige Masse hinein, welche den ganzen Körper ausfüllt und die übrigen Organe umschliesst. v. GRAFF nennt diese Masse »Parenchym« und schildert sie als ein grössere und kleinere Lücken enthaltendes Maschen- werk, in das zahllose runde oder ovale Kerne und daneben noch in- differente Zellen, Pigmentzellen und Stäbchenzellen eingebettet sind. An verschiedenen Stellen des Körpers hat sie ungleiche Dichtigkeit, und auch die Festigkeit ist bei verschiedenen Arten eine ungleiche. Es kann auf diese Weise bei der Beobachtung des lebenden Objektes die Täuschung entstehen, als sei ein verdauender Hohlraum vorhanden, zumal da sich die Nahrungsstoffe besonders im centralen Teil anzuhäufen pflegen. Man kann sich aber auch dort schon überzeugen, dass sie innerhalb des Parenchyms liegen und alle die charakteristischen, an das Strömen des Rhizopoden-Protoplasmaserinnernden Bewegungen desselben mitmachen. In physiologischer Beziehung besteht somit in der That, wie dies v. Grarr mit Recht hervorhebt, eine vollständige Übereinstimmung zwischen dem Endoplasma der Infusorien und dem Parenchym der Acölen; aber natürlich auch nur in physiologischer, nicht in morphologischer Hinsicht, und es bedarf keines besondern Beweises, dass der Satz, »die Turbellarien erscheinen dadurch den Infusorien wesentlich näher. gerückte, den v. GRAFF in einer seiner früheren Publikationen aufgestellt hatte, nur in dem soeben begrenzten Sinne seine Bedeutung behält. Dieser Modus der Verdauung ist jedenfalls sehr eigentümlich und durchaus abweichend von demjenigen bei den Wirbeltieren. Während bei diesen Drüsen verschiedener Art verdauende Sekrete erzeugen, welche die Nahrungsstoffe umfliessen und auflösen und sie dadurch in einen Zustand überführen, in dem sie in den Stoffwechsel eintreten können, nimmt bei den Acölen die Protoplasmamasse des Parenchyms dieselben in festem Zustande auf und wirkt auf diese ein. Allein wir wissen jetzt, namentlich durch die Untersuchungen von METSCHNIKOFF, dass bei niederen Wirbellosen die Darmzellen keineswegs immer einen Verdauungs- saft absondern, sondern sich wesentlich ebenso verhalten wie das Paren- chym der Acölen oder das Endoplasma der Infusorien, also die festen Nahrungsobjekte in ihren Körper aufnehmen und dort zersetzen. Was in dem einen Falle wirkliche, eine Höhle begrenzende Darmzellen leisten, vollführt bei den Acölen das solide Parenchym, und man möchte sich wohl denken, dasselbe stelle nichts weiter dar als einen des Hohlraums entbehrenden Darm, ein Gebilde, dessen Existenz nach dem obigen nicht schwer zu begreifen wäre. Wie dann aber mit den bereits erwähnten Einschlüssen, den Pigment- und den Stäbchenzellen? Pigment findet sich nicht selten im Darmepithel und würde dieser Auffassung kein be- sonderes Hindernis bereiten. Die Stäbchenzellen aber, d. h. Zellen, die mit Paketen kleiner stäbchenförmiger Körper erfüllt sind, gehören nach allem, was wir über ihre morphologischen Beziehungen und auch über J. W. Spengel, Darmlose Strudelwürmer. 15 ihre Entwicklung wissen, ohne Zweifel zur Haut. Sie finden sich auch bei den gewöhnlichen, mit einem Darm ausgestatteten Turbellarien und liegen hier entweder in der Epidermis oder im Mesoderm, d. h. dem in den meisten Eigenschaften dem Parenchym der Acölen gleichenden Ge- webe, das den Raum zwischen Darm und Haut ausfüllt. Und mehr noch als das Verhalten der Pigment- und Stäbchenzellen spricht dasjenige der Geschlechtsorgane gegen die Deutung des Parenchyms als eines soliden Darmes; auch diese sind vollständig in das Parenchym eingebettet, wie bei den darmführenden Formen in das Mesoderm. So gelangt man also von einem typischen Strudelwurm ausgehend zu einer Acöle, indem man jenem den Darm nimmt und die Leistungen desselben dem Mesoderm über- lässt. Danach besässen die Acölen nur zwei Körperschichten, nämlich ein Ektoderm und das Parenchym. Ist dies Parenchym wirklich dem Mesoderm der übrigen Turbellarien gleichwertig, wie es nach unserer eben an- gestellten Betrachtung den Anschein hat, oder entspricht es auch mor- phologisch dem Mesoderm und dem Endoderm zusammengenommen, wie es dies in physiologischer Beziehung thut? v. Grarr spricht darüber keine bestimmte Ansicht aus, scheint sich indessen mehr der letztern Alternative zuzuneigen. So sagt er: »Bei den Acölen ist es noch nicht zur Scheidung von Darmepithel und Parenchymgewebe gekommen.« Und anderseits frägt es sich, ob die Acölie eine primäre Erscheinung oder ein Rückbildungsprodukt ist, mit anderen Worten, ob die Acölen eine ursprünglich darmlose Tiergruppe darstellen oder Nachkommen darm- tragender Formen sind, die den Darm eingebüsst haben. Wir werden gewiss mit v. GRAFF entwicklungsgeschichtlichen Untersuchungen in dieser Frage das erste Wort lassen und wollen wünschen, dass es v. GRAFF selbst bald möglich sein wird, diese empfindliche Lücke in unserer Kenntnis der Acölen auszufüllen. Allein es wird doch nicht ganz unnütz sein, wenn wir uns einige nicht unwesentliche Unterschiede vergegenwärtigen, die zwischen der Darmlosigkeit der acölen Turbellarien und der Band- würmer und Kratzer bestehen. Wie wir gesehen haben, besitzen die Acölen eine Mundöffnung und nehmen mittels dieser feste Nahrung auf, um sie im Innern ihres Paren- chyms zu verdauen. Dagegen fehlt sowohl den Bandwürmern als auch den Kratzern nicht nur der Darm, sondern auch der Mund. Sie leben als Parasiten mitten in dem Speisebrei, für dessen Verdauung nicht sie selber sorgen, sondern ihr Wirt. Wir wissen nicht genau, auf welche Weise diese Schmarotzer sich ernähren; aber wir nehmen mit Grund an, dass sie die von ihrem Wirte in flüssigen Zustand übergeführte Nah- rung auf osmotischem Wege durch die Haut hindurch sich einverleiben. Jedenfalls steht es fest, dass weder Bandwürmer noch Kratzer je feste Nahrung aufnehmen und dass sie kein verdauendes Parenchym in dem Sinne wie die acölen Turbellarien besitzen. Wir erkennen also in den besonderen Lebensverhältnissen dieser Schmarotzer das Moment, das uns den Schwund des Darmes begreiflich erscheinen liesse: wenn der Wirt gewissermassen für die Parasiten verdaut, so können diese eines Ver- dauungsapparates entbehren. Ganz anders liegt der Fall aber bei den Turbellarien: die Acölen sind nicht Schmarotzer, und wir sehen, dass sie 16 J. W. Spengel, Darmlose Strudelwürmer. wirklich selbst verdauen, obwohl sie keinen Darm haben. Es ist zu- nächst gar nicht einzusehen, wie sie einen Darm hätten verlieren können, wenn sie ihn einmal besassen: derselbe wurde ja nie nutzlos für sie. Es scheint mir also kaum möglich, sich die Acölie als eine Rückbil- dungserscheinung zu denken. In diesem Sinne muss sie eine primäre sein. Aber sie könnte immerhin nur scheinbar sein, und ich möchte in dieser Beziehung eine Vermutung aussprechen; es versteht sich von selbst, dass ich derselben keinen höheren Wert beilege als den eines Winkes für eine spätere entwicklungsgeschichtliche Untersuchung. Wenn ich sage, die Acölie könnte vielleicht eine scheinbare sein, so meine ich damit, dass man sich den Darm als einen diffusen denken kann, der- art, dass die Zellen des ursprünglichen Endoderms keinen geschlossenen Haufen oder kein geschlossenes Blatt bilden, sondern sich in amöboidem. Zustande, wahrscheinlich zu einem plasmodiumartigen Syneytium zer- flossen, zwischen die Mesodermelemente verteilt und so zwar ihre Funktion beibehalten, aber ihre Gestalt aufgegeben haben. Ich will keinen Ver- such machen, die Ursachen aufzudecken, die zu diesem Prozess geführt haben mögen; doch liessen sich zu diesem Zweck leicht allerlei Hypo- thesen aufstellen. Mag es indessen damit genug sein über die Acölie und wenden wir uns der Betrachtung der übrigen Organisation zu. In dieser Beziehung ist als eine der auffälligsten Erscheinungen der Mangel des Nervensystems hervorzuheben. Wenigstens ist es v. GRAFF ebensowenig wie irgend einem seiner Vorgänger gelungen, auch nur eine Spur eines solchen nachzuweisen. Es ist nicht ganz leicht, sich mit diesem negativen Befunde abzufinden; denn einerseits kennen wir jetzt von allen Metazoen und so auch von allen übrigen Turbellarien ein wenn auch oftmals sehr primitiv gebildetes Nervensystem, und anderseits sind alle Acölen mit Sinnesorganen ausgestattet. Es wird daher unzweifelhaft noch gelingen, auch die Existenz eines Nerven- systems für dieselben darzuthun, mag dies nun als eine Faserschicht mit spärlichen oder zahlreicheren Ganglienzellen unter der Epidermis liegen wie bei Echinodermen und gewissen Würmern, oder sich in Gestalt zer- streuter Zellen und Fasern unter den Elementen des Parenchyms finden, also ähnlich wie bei gewissen Öölenteraten, namentlich den Rippenquallen. Für letzteren Fall spricht augenscheinlich das Verhalten des Nerven- systems bei den übrigen Turbellarien. So deutliche Beziehungen zur Epi- dermis das Nervensystem bei den meisten anderen Würmern zeigt, so wenig ist es bei den Turbellarien gelungen, auch nur die geringste Spur davon nachzuweisen; sowohl die anatomische als die entwicklungsgeschicht- liche Untersuchung ergibt eine völlige Unabhängigkeit des Nervensystems von der Epidermis, das Gehirn liegt vielmehr von seiner ersten Entstehung an mitten im Mesoderm, so dass es von O. und R. Herrwıie als meso- dermales Nervensystem in Anspruch genommen wird. Ein solcher Zu- stand könnte recht wohl durch gesteigerte Konzentrierung etwaiger ner- vöser Elemente des Acölenparenchyms zustandekommen. Die Sinnesorgane sind bei den Acölen durch Augen und Ge- hörorgane vertreten, und eine grosse Empfindlichkeit gegen Berührung weist auf die Existenz auch des Tastsinnes hin. Augen kommen bei J. W. Spengel, Darmlose Strudelwürmer. 17 allen Gattungen mit Ausnahme von Aphanostoma vor, fehlen aber bei manchen Arten und zeigen sich auch dort, wo sie vorhanden sind, in ungleicher Ausbildung. Es sind zwei nahe dem Vorderende gelegene und der Epidermis angehörige, bald scharf begrenzte, bald diffuse Pigment- flecke. Nur in einem einzigen Falle, bei Proporus venenosus O. SCHM., besitzt jedes Auge eine kegelförmige Linse, die aus dem schwarzen Pigment- becher weit hervortritt. Dagegen kommt allen Acölen ein Gehörorgan in Gestalt einer unpaarigen Blase oder »Otocyste< zu, die in ihrem Innern ein Gehörsteinchen oder einen »Otolithen« enthält. Ebenso wie das Nervensystem fehlt den Acölen der Exkretions- apparat. Durch eine Anzahl neuerer Untersuchungen, besonders von FrAIPoNT und Pıntner, sind die Exkretionsorgane der Plattwürmer sehr gut bekannt geworden, und v. Grarrs Beobachtungen schliessen sich für die Rhabdocölen, von denen er namentlich das glashelle Mesostoma Ehrenbergi genau untersuchte, denselben in allen wesentlichen Punkten an. Bei den Acölen gelang es ihm aber nicht, Exkretionsorgane nachzu- weisen. Was die Geschlechtsorgane betrifft, so ist zuerst hervorzu- heben, dass die Acölen wie alle Turbellarien Zwitter sind, also männ- liche und weibliche Organe in einem Individuum vereinigt enthalten. Die letzteren bestehen in zwei Ovarien oder Keimlagern, die rechts und links nahe der Bauchseite im Parenchym liegen. Nur bei Proporus und Apha- nostoma sind sie von diesem durch eine Membran getrennt; in der Regel aber entbehren sie einer solchen gänzlich und stehen mit dem Parenchym in direkter Berührung. Den ventralen und vorderen Teil jedes dieser Keimlager nimmt eine homogene Protoplasmamasse mit zahlreichen ein- gelagerten Kernen ein, den Keimbläschen der zukünftigen Eier, während weiter nach dem Rücken und hinten hin die Protoplasmamasse in einzelne, je ein Keimbläschen umschliessende Portionen zerklüftet erscheint, die nach und nach zu Eiern heranwachsen und sich mit Dotterkörnchen an- füllen. Bei denjenigen Formen, welche einer Membran um die Ovarien entbehren, wie Cyrtomorpha und Convoluta, häufen sich die reifenden und reifen Eier in unregelmässiger Weise im Parenchym an. v. Grarr zählte bei Convoluta paradoxa bis zu 47 reife Eier. Wo dagegen eine Mem- bran das Keimlager begrenzt, da reihen sich die reifen Eier regelmässig jJederseits auf. Die eben genannte Convoluta paradoxa zeichnet sich da- durch aus, dass bei ihr die Keimlager vor dem Munde mit ihren Vorder- enden zusammenstossen und verschmelzen. Die Hoden treten in einer Form auf, die v. GraArr als »follikulär« den bei den Rhabdocölen vorhandenen »kompakten« Hoden gegenüber- stellt. Dieselben bestehen aus zahlreichen Bläschen, die durch das Parenchym namentlich der Rückenregion zerstreut sind und nur dadurch untereinander zusammenhängen, »dass die von den einzelnen Bläschen ausgehenden Spermazüge schliesslich jederseits zu einem gemeinsamen Vas deferens zusaämmenfliessen«. Diese führen zu einem sehr einfach ge- bauten, bald birn- oder retortenförmigen, bald lang cylindrischen Kopu- lationsorgan, das aus einer taschenartigen Einsenkung der Haut hervor- gestülpt werden kann. Bei der Begattung wird das Sperma in eine Kosmos 1884, I. Bd. (VII. Jahrgang, Bd. XIV). 2 18 J. W. Spengel, Darmlose Strudelwürmer. Blase des andern Individuums, ein Bursa seminalis, übertragen, die nur bei Proporus fehlt. In dem Zustande, wie die Geschlechtsorgane hier geschildert sind, pflegt man sie indessen bei einem einzigen Individuum nicht anzutreffen. Wie nämlich bereits CLararkoe (1861) entdeckt hat, tritt bei Acölen die Reife der männlichen und weiblichen Organe nicht gleichzeitig ein, sondern nach einander. CLAPAREDE bedient sich für diese Erscheinung des Ausdrucks »successiver Hermaphroditismus«, einer, wie mir scheint, nicht besonders treffenden Bezeichnung, da es sich hier eher um einen »successiven Gonochorismus«, eine temporäre Geschlechtertrennung zwittrig angelegter Tiere handelt. Durch v. Grarrs Untersuchungen sind die Angaben des berühmten Genfer Forschers im wesentlichen bestätigt; doch fand jener, dass die Trennung zwischen männlicher und weiblicher Reife nicht so scharf ist, wie es sein Vorgänger angenommen hatte, dass vielmehr ein allmählicher Übergang von »männlichen< zu »weiblichen Individuen« stattfindet. Bei Individuen von mittlerer Grösse werden stets Eier und Spermatozoen zugleich gefunden. Untersucht man aber ganz junge Tiere, so trifft man in denselben ausschliesslich die männ- lichen Organe entwickelt. Erst nachdem die Samenmasse zum grossen Teil entleert ist und die Bursa seminalis sich damit angefüllt hat, treten Eier auf. Die völlige weibliche Reife kennzeichnet sich durch gänzlichen Mangel von Spermaanhäufungen und Schwund des Kopulationsorganes bei gleichzeitiger Erfüllung des Leibes mit zahlreichen reifen Eiern. Mimicry bei Seetieren, Von Dr. Wilhelm Breitenbach. Unter Mimiery wollen wir nicht nur die schützende oder täuschende Ähnlichkeit zwischen verschiedenen Tieren verstehen, sondern auch die täuschende Ähnlichkeit mit leblosen Gegenständen und die Gleichfarbig- keit mit der Umgebung. Biologisch ist diese von der gewöhnlichen etwas abweichende, weitere Fassung des Begriffes der »Mimicry« wohl begründet; denn auch in den letztgenannten Fällen dient die Ähnlichkeit eines Tieres mit irgend einem Gegenstande dem Tiere selbst zum Schutz, sei es, dass es sich unbemerkt seiner Beute nähern oder seinen Feinden sich entziehen kann, sei es endlich, dass es durch die Ähnlichkeit viel- leicht mit ungeniessbaren Objekten vor feindlichen Angriffen gesichert ist. Über diese Gruppe interessanter Erscheinungen, die bekanntlich eine der festesten Stützen der Selektionstheorie darstellen, sind in Büchern und Zeitschriften schon eine Menge von Beobachtungen veröffentlicht worden, von denen ich nur auf die von Bares, WaArLAcE, Fritz und Herm. MÜLLER hinzuweisen brauche. Die bisher bekannt gewordenen Beobachtungen beziehen sich zum grössten Teil auf Landtiere, während über Mimiery bei Seetieren bisher nur vereinzelte Angaben gemacht worden sind. Ich verweise z. B. auf E. Hazrcrers »Natürliche Schöpfungs- geschichte«e und Carus STERNES »Werden und Vergehen«. Und doch haben die Fälle von Mimicry bei Seetieren ein nicht minder hohes Interesse. Auf meiner Reise von Brasilien nach England mit einem hol- ländischen Schoner in den Monaten Juli, August, September 1883 hatte ich vielfach Gelegenheit, pelagische Seetiere zu fangen und näher anzu- sehen. Vom 30. August bis zum 5. September durchkreuzten wir einen Teil des sogenannten Sargassomeers. Am 30. August mittags befanden wir uns auf 25° 12° n. B. und 33° 52° w. L. von Greenwich; am 5. Sept. mittags auf 34° 39° n. B. und 35° 52‘ w. L. Die Tange traten nicht in zusammenhängenden ausgedehnten Feldern auf, sondern in einzelnen mehr oder minder grossen Büschen, die vom Winde in langen fast geraden Linien zusammengetrieben waren, so dass man sie weit mit dem Auge verfolgen konnte. Diese linienförmige Anordnung ist mir auch 20 Wilhelm Breitenbach, Mimiery bei Seetieren. an pelagischen Tieren aufgefallen, namentlich bei den grossen Radio- larien-Kolonien oder Polycyttarien, Salpen und anderen Tieren. So finde ich in meinen Reisenotizen folgende Bemerkungen darüber: Am 3. Sept. grosse Polycyttarien in ganz kolossalen Mengen; meilenweit zogen sich dichte, breite Streifen derselben hin; am 14. Sept. ungeheure Mengen kleiner Salpen und Polyeyttarien, so dass das Wasser streifen- weise milchig aussah. Ich versäumte natürlich nicht, mir täglich grosse Mengen des Sargasso-Tangs auf Deck heraufzuholen und dieselben auf die an und zwischen den Pflanzen befindlichen Tierchen zu durchmustern. Bei dieser Gelegenheit boten sich mir denn einige so auffallende Fälle von Mimicery dar, dass sie wohl der Mitteilung wert erscheinen. Die Farbe der Tang- büsche in der Jugend ist ein gelbliches Grün, während ältere Zweige meistens mehr oder weniger dunkelbraun sind. Auf den Zweigen, Blättern und Luftbehältern des Sargassum gedeiht ein überaus üppiges tierisches Leben. Sehr zahlreich waren an den meisten der von mir untersuchten Büsche kleine Aktinien, von einer bald etwas helleren, bald etwas dunk- leren braunen Farbe. An manchen Stellen waren diese kleinen Aktinien so häufig, dass die Zweige dicht mit ihnen bedeckt erschienen. An den- selben Büschen nun, welche diese Aktinien trugen, die sich ziemlich gut von der Stelle zu bewegen vermögen, fand ich regelmässig kleine Nacktschnecken in ziemlich vielen Exemplaren vor. Diese kleinen, im ausgestreckten Zustande 1—1,5 cm langen Schnecken tragen auf dem Rücken zahlreiche retraktile Tentakeln, die in mehreren, in kleineren Ab- ständen von einander stehenden Querreihen hintereinander liegen. Die Farbe der Schnecken ist ein verschieden intensives Braun, ganz ähnlich der Farbe der eben erwähnten Aktinien. Wenn sich die Schnecken etwas stark zusammenziehen, so dass die Tentakeln dicht aneinanderrücken, so sehen sie den Aktinien so ähnlich, dass es für einen Nichtkenner der beiden Tierklassen anfangs mit Schwierigkeiten verknüpft ist, dieselben zu unterscheiden. Ich habe mich davon wiederholt beim Kapitän unseres Schoners überzeugt, der die Tierchen lange miteinander verwechselte und mir oft eine Schnecke gab, wenn ich ihn ersucht hatte, mir eine Aktinie zu reichen. Vielleicht noch täuschender wie diese ahmt eine andere kleine Nacktschnecke die Aktinien nach; bei dieser stehen die retraktilen Tentakeln nicht in hintereinanderliegenden Querreihen auf dem Rücken, sondern in zwei Längsreihen, je eine an jeder Rückenseite. Die Aktinien- Ähnlichkeit tritt selbstverständlich auch hier nur dann hervor, wenn sich die Schnecke stark zusammenzieht, also etwa in Zeiten der Gefahr. Welchen Nutzen kann nun wohl die Aktinien-Ähnlichkeit für die kleinen Nacktschnecken, deren Namen ich leider nicht anzugeben vermag, haben? Thatsache ist zunächst, dass die Schnecken die Aktinien fressen, und zwar in ziemlich grosser Anzahl; ich habe beobachtet, dass eine einzige Schnecke innerhalb einer Stunde etwa 4—5 Aktinien verzehrte. Dass durch die Ähnlichkeit mit den Aktinien den Schnecken möglich ge- macht würde, sich unbemerkt ihrer Beute nähern zu können, diese An- sicht ist natürlich von vornherein ausgeschlossen, da ja die Aktinien bei der beschränkten Ortsbewegung, deren sie fähig sind, ihren viel schnelleren Wilhelm Breitenbach, Mimiery bei Seetieren. Al . Feinden doch nicht entwischen können. So bleibt nur die eine Ver- mutung übrig, nämlich dass wir es hier mit echter Mimiery zu thun haben, dass durch die Ähnlichkeit mit Aktinien die Schnecken mit ersteren verwechselt werden können. Tiere also z. B., welche Nackt- schnecken verzehren, Aktinien dagegen, vielleicht wegen der in ihrer Körperoberfläche zahlreich zerstreuten Nesselzellen, verschmähen, würden diese Schnecken, zumal wenn sie in zusammengezogenem Zustande sich befinden, nicht selten mit Aktinien verwechseln, und die Schnecken selbst würden den Angriffen ihrer Feinde weniger ausgesetzt sein, um so un- gestörter aber ihrer eigenen Beute, den Aktinien nachgehen können. Da ich leider nicht habe konstatieren können, welche speziellen Feinde die Schnecken haben und ob diese auch in der That die Aktinien ver- schmähen, so bleibt die versuchte Erklärung eben nur ein Versuch, den ich aber doch hier vorlegen möchte; vielleicht hat ein anderer Gelegen- heit, bei längerem Aufenthalt im Sargassomeer die Frage entgültig zu entscheiden. Bei Nacktschnecken scheinen übrigens Fälle von Mimiery schon mehrfach zur Beobachtung gekommen zu sein. So lebt die Ohromodoris gracilis nach Dr. H. v. IuErING zusammen mit einem Schwamm (Suberites). »Dem eben erwähnten Schwamm (blaugefärbt) gleicht unsere Chromodoride hinsichtlich der Farbe in einer Weise, dass es sehr nahe liegt, darin einen Fall von Mimicry zu erblicken.< (Dr. H. v. Inerme: Beiträge zur Kenntnis der Nudibranchien des Mittelmeeres. Malakozool. Blätter. N. F. Band 2, pag. 12.) Auch hier gleicht die Schnecke merkwürdiger- weise einem Zoophyten. Ob solche Fälle wohl mehr vorkommen mögen ? Es würde sich gewiss der Mühe lohnen, darauf zu achten. Auf denselben Tangbüschen findet man andere, etwas grössere Nackt- schnecken, die aber nicht anderen Tieren ähnlich sind, sondern die Formen der Tangzweige und Blätter oft so täuschend nachahmen, dass man in dem Gewirr von durcheinanderlaufenden Zweigen und Blättern die grösste Mühe hat, sie aufzufinden. Die Nacktschnecken haben seitlich, vorn und hinten lappenförmige Auswüchse des Körpers, und zwar bei einer von mir gezeichneten Art zwei am Kopfende, zwei an jeder Bauchseite des Körpers, einen am hinteren Ende desselben. Diese Lappen-Auswüchse sind an den Rändern unregelmässig gezähnelt, die Spitzen der Zähne sind von brauner Farbe, genau so wie an älteren Tangzweigen. Die Oberfläche der Lappen und auch ein Teil des übrigen Körpers ist mit vielen kleinen, gleichfalls braun gefärbten spitzen Zähnchen besetzt. Die Farbe des ganzen Tieres ist ein Olivengrün, vollkommen gleich dem- jenigen der Tangzweige, zwischen denen es sich aufhält. Leider vermag ich den Namen dieser Tierchen nicht anzugeben. Da ich aber noch einige Exemplare derselben in Weingeist aufbewahrt habe, so würde ich mit Freuden einem Zoologen, der auf diesem Gebiete bewandert ist, je eines derselben abtreten können, wofür derselbe dann event. die Namen bekannt machen müsste. Morırz WAGner erklärt die Erscheinungen der Mimicry für die Folge eines den Tieren selbst inne wohnenden Schutztriebes, der sie veranlasse, gerade solche Plätze zum Aufenthalt zu wählen, mit denen sie in der 22 | Wilhelm Breitenbach, Mimicry bei Seetieren. Farbe am meisten übereinstimmten. Er sagt: »Die Erscheinung der Mimicry halte ich für die einfache Folge des allen Tieren angeborenen Schutztriebes, der sie in dem Suchen und der Wahl eines passenden Standortes oder sichern Versteckes mit richtigem Instinkt leitet.«< Oder an einer andern Stelle: »Der allen Tieren angeborene Erhaltungstrieb, welcher gegenüber den rastlos drohenden Gefahren ihre Sinne schärft, drängt Seetiere so gut wie Landtiere, den passendsten Standort zu suchen, der ihrer Farbe und Form entspricht«. (Kosmos, Bd. VII, pag. 90 u. 97.) Wer wie ich Gelegenheit gehabt hat, die kleinen Krabben und Garneelen, welche sich in den Tangbüschen des Sargassomeers herumtreiben, halbe Tage lang andauernd zu beobachten, der muss gestehen, dass die Wagnersche Ansicht sehr viel für sich hat, wenn auch dadurch keines- wegs der Selektionstheorie der Abschied gegeben wird. Ob die von mir beobachtete Krabbe dieselbe ist, die WAGNER erwähnt, also Nautilograpsus minutus, kann ich nicht sagen. Ich habe mehrere Hundert derselben ge- sammelt, glaube aber nach flüchtigem Durchsehen mehrere Spezies unter- scheiden zu müssen, wenngleich die Variabilität namentlich in der Färbung eine ganz erstaunliche ist. Es ist geradezu wunderbar, in welchem Grade jede einzelne der zahllosen Farben-Variationen der Farbe des Tangs an- gepasst ist. Die kleinen hellgrünen, jungen Krabben, sowie kleine hell- grüne Garneelen findet man immer an jungen, grün gefärbten Tang- blättern. Ältere braun gefärbte Krabben sitzen an älteren Tangteilen. Diese älteren braunen Tangzweige sind gewöhnlich mit mancherlei weissen Krusten bedeckt, den Gehäusezellen von Bryozoen. Diesen weissen Flecken entsprechend findet man auch auf dem braunen Panzer der Krabben weisse Flecke; die Beine sind manchmal von olivengrüner Grundfarbe mit bräunlichen Flecken, täuschend ähnlich dünnen, schmalen Tang- blättern, die eben anfangen sich zu bräunen. Wenn man, wie ich es that, einen Tangbusch mit einem Haken auf Deck holt, ihn in ein grosses Fass mit Seewasser legt und eine Zeit lang, etwa eine Stunde, unberührt lässt und dann denselben auf Krabben durchmustert, ohne aber den Busch selbst zu berühren, so hält es ungemein schwer, auch nur 3 oder 4 Krabben zu entdecken, trotzdem man von der Anwesenheit eines Viertelhundert fest überzeugt ist. Sobald man dann aber den Tang- busch tüchtig schüttelt, namentlich auch ausser Wasser, jedoch so, dass die etwa sich ablösenden Tiere in das Fass fallen, entdeckt man gleich eine Anzahl verschiedenster Krabben und Garneelen, und nun kann man bei aufmerksamer Betrachtung Beobachtungen anstellen, welche in der That für die oben citierte Ansicht Morırz WAGNnERsS sprechen. Fassen wir z. B. eine kleine grüne Garneele ins Auge, die ein Stück vom Tang- busch entfernt im klaren Wasser umherschwimmt: Sie sucht die Pflanzen natürlich möglichst bald wieder zu erreichen und immer setzt sie sich an ganz junge, schön grüne Blätter, mit deren Farbe ihre eigene voll- kommen harmoniert. Ich habe diese Beobachtung wohl 40—-50 mal gemacht, habe aber niemals gesehen, dass sich die kleine grüne Garneele an dunkelbraune Zweige setzt. Die jungen, gleichfalls grünlich gefärbten Krabben verhalten sich gerade so; die alten, braunen Tiere können sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit durch das dichteste Geflecht von Wilhelm Breitenbach, Mimiery bei Seetieren. 93 Zweigen und Blättern hindurchwinden und sind sehr bald in einem mög- lichst dichten Knäuel brauner Tangzweige verschwunden, in dem man sie nur schwer entdeckt. Ein auffallendes Beispiel von Mimicry bei Krabben, resp. von Gleich- artigkeit der Färbung mit der Umgebung, sollte ich am 11. September kennen lernen, als wir schon längst aus dem Bereiche der Sargasso- büsche waren; nur einzelne kleine Bruchstücke schwammen noch hin und wieder an uns vorbei. Es war auf 37° 58° n. B. und 32° 51 w. L. bei vollkommen ruhiger See. Gegen Abend dieses Tages schwamm in unmittelbarer Nähe des Schiffes ein etwa Hand grosses Stück Bast eines Baumes von braun-schwarzer Farbe vorbei. Da ich an demselben Hy- droid-Polypen vermutete, so fischte ich dasselbe mit einem Schöpflöftel, den ich mir zu ähnlichen Zwecken gemacht hatte und den ich sehr brauchbar gefunden habe, auf und legte es in einen Eimer mit frischem Seewasser, um mir die an demselben sitzenden Polypen anzusehen. Wie ich so vor dem Eimer stehe und das Objekt beschaue, entdecke ich an den Bewegungen der Beine und Fühler eine Krabbe, welche ganz genau so gefärbt ist wie das Holzstück. Würde das Tier sich nicht bewegt haben, so hätte es wohl noch eine Weile gedauert, bis ich es entdeckt hätte, so auffallend war die Ähnlichkeit. Mein Kapitän hat später auf meine Veranlassung mehrere Male nach der Krabbe gesucht; es dauerte stets circa zwei Minuten, bis er sie deutlich sah, vorausgesetzt natürlich, dass das Tier selbst sich nicht bewegte und dass das Baststück ruhig im Wasser lag. Wie kommt diese braune Krabbe gerade an dieses vollkommen gleich gefärbte Stückchen Holz inmitten des Ozeans? An die Ausprägung dieser Gleichfarbigkeit durch Zuchtwahl ist wohl nicht zu denken. Oder soll man annehmen, dass früher auf diesem Holzstück sich mehrere Krabben befanden, unter diesen auch die braune, und dass diese letztere in dem entstandenen Kampf ums Dasein die allein überlebende geblieben ist? Damit wäre noch immer nicht erklärt, wie gerade die braune Krabbe an das gleichfarbige Holz gekommen. Ich glaube, es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns der Ansicht WAGNnErs anzuschliessen und ein be- wusstes oder vielleicht :instinktives Aufsuchen des gleichfarbigen Bast- stückes von seiten der Krabbe anzunehmen. Das Baststück wird zwischen Tangbüschen umhergeschwommen sein und hier hat sich eine braune Krabbe an dasselbe angesetzt; nachher ist das Holz mit der Krabbe weg- getrieben worden und so konnte ich mitten im offenen Ozean dieses merk- würdige Beispiel von Mimicery beobachten. Zahlreiche kleine, dünne Fische habe ich zwischen den Tangbüschen des Sargassomeeres angetroffen, welche durch ihre braun-graue Farbe sehr geschützt waren vor Erkanntwerden. Ich erinnere mich, dass ich eines Nachmittags einen kleinen Tangbusch sehr sorgfältig nach Krabben absuchte und mit dieser Beschäftigung wohl eine Stunde Zeit verbrauchte. Als ich dann den Busch aus dem Eimer nahm, um ihn über Deck zu werfen, fiel ein solcher dünner Fisch etwa von der Dicke eines Bleistiftes heraus. Ich hatte ihn also vorher nicht bemerkt, ein Zeichen, dass er gut geschützt war. Natürlich setzte ich den Fisch nun in einen andern Eimer, in dem sich gleichfalls ein Tangbusch befand; sofort war das 24 Wilhelm Breitenbach, Mimiery bei Seetieren. ad linke Tierchen meinen Augen entschwunden und in dem dichten Gezweig konnte ich lange suchen, bis ich es wieder fand. Ich weiss nicht, ob ein ausführlicher Bericht über die Fauna des Sargassomeeres von den Gelehrten der Challenger - Expedition heraus- _ gegeben worden ist. Durch meinen mehrjährigen Aufenthalt in Brasilien bin ich mit der neueren zoologischen Litteratur auf einen sehr gespannten Fuss gekommen. Sollte ich daher etwas schon Bekanntes gesagt haben, so bitte ich den Leser, dies freundlichst entschuldigen zu wollen. Jeden- falls aber dürfte ein Ausflug ins Sargassomeer für jeden Zoologen sehr lohnend sein. Eine solche Reise ist ziemlich leicht auszuführen und würde auch gar nicht so sehr viel kosten. Man kann sich z. B. auf einem Segelschiff, am besten einem Schoner oder einer Barke, einen Platz nach Westindien mieten. Wie billig verhältnismässig solche Segelschiffreisen sind, habe ich selbst erfahren; ich habe von Porto Alegre (Süd-Bra- silien) bis nach Falmouth (England) 300 Mark mit voller Verpflegung bezahlt; die Reise dauerte vom 15. Juni bis zum 25. September. Wenn das Wetter einigermassen gut ist, so kann man viel sammeln. Zugleich würde bei einer solchen Segelschiffreise nach Westindien z. B. Gelegen- heit geboten, auch die Fauna und Flora des Landes etwas kennen zu lernen — während der Zeit, in der das Schiff zum Aus- und Einladen im Hafen liegt. Kurz ich glaube, eine solche Reise würde sich, wenig- stens für Sammler, lohnender gestalten wie die meisten der jetzigen Aus- flüge etwa an die Küsten des Mittelmeeres oder des Roten Meeres. Die Religion in Vergangenheit und Zukunft. * Von Herbert Spencer. Im Gegensatz zum gewöhnlichen Bewusstsein beschäftigt sich das religiöse Bewusstsein mit dem, was über den Bereich der Sinne hinaus- geht. Ein Tier denkt nur an Dinge, die getastet, gesehen, gehört, geschmeckt werden können u. s. w., und gleiches gilt von dem noch unentwickelten Kind, vom Taubstummen und vom niedrigsten Wilden. Der höher entwickelte Mensch aber hat Gedanken über Wesen, die er für in der Regel unberührbar, unhörbar, unsichtbar hält und denen er gleichwohl Einwirkungen auf sich zuschreibt. Was ruft diese Vorstellung von das Wahrnehmungsvermögen übersteigenden Agentien hervor? Wie entwickeln sich diese Ideen vom Übernatürlichen aus den Ideen vom Natürlichen? Der Übergang kann kein plötzlicher, unvermittelter sein; jede Schilderung des Entstehens der Religion muss daher zunächst die einzelnen Stufen aufzudecken suchen, welche jenen Übergang ermöglicht haben. Die Geistertheorie lässt uns diese Stufen ganz deutlich erkennen. Sie zeigt uns, dass die Differenzierung unsichtbarer und ungreifbarer Wesen aus sichtbaren und greifbaren Wesen wirklich ganz langsam und unmerklich weiterschreitet. Aus dem Umstande, dass das andere Ich, wenn es im Traume auf seine vermeintliche Wanderschaft geht, alles, wovon geträumt wird, thatsächlich gethan und gesehen haben soll — aus dem Umstande, dass das andere Ich im Tode von dannen zieht, aber baldigst zurückerwartet und als ein Doppelwesen aufgefasst wird, das ebenso körperlich wie sein Original — ergibt sich klar genug, wie unbedeutend das übernatürliche Etwas in seiner ursprünglichsten Form vom natürlichen Wesen abweicht — wie es einfach der irdische Mensch * Dieser Artikel soll später das Schlusskapitel der „Kirchlichen Einriehtungen“ — als des VI. Teils der „Prineipien der Sociologie“ — bilden. Die thatsächlichen Angaben in der ersten Hälfte desselben gründen sich allerdings auf den Inhalt der unmittelbar vorhergehenden Kapitel; jedoch findet der Leser Belege für beinahe alle diese Folgerungen auch in dem bereits erschienenen I. Teil der „Prineipien der Sociologie“ (Stuttgart, E. Schweizerbart, 1877). 26 Herbert Spencer, Die Religion in Vergangenheit und Zukunft. selber ist, nur ausgerüstet mit dem Vermögen, heimlich herumzuwandern und Gutes oder Böses zu thun. Und wenn diejenigen, die den Toten kannten, sobald sie nicht mehr von ihm träumen, aus seinem Nicht- erscheinen in ihren Traumphantasien den Schluss ziehen, dass er nun ganz und unwiderruflich tot sei, so zeigt dieser Glaube, dass solchen frühesten übernatürlichen Wesen auch nur eine vorübergehende zeitliche Existenz zugeschrieben wird: die ersten Ansätze zu einem dauernden, unzerstörbaren Bewusstsein vom Übernatürlichen schlagen noch gänz- lich fehl*. In vielen Fällen ist es überhaupt zu keiner höhern Entwicklungs- stufe gekommen. Das Geisterheer rekrutiert sich zwar auf der einen Seite beständig durch neue Todesfälle, verliert aber auf der andern Seite an älteren Mannschaften in dem Masse, als die Erinnerung an sie erlischt und sie aus den Träumen der Lebenden verschwinden. So nimmt es im ganzen weder zu noch ab und keines seiner Mitglieder erringt eine her- vorragendere Stellung als von mehreren Generationen anerkannte über- natürliche Macht. Bei den Zulu z. B. wird der Unkulunkulu oder der Ururalte, der Stammvater des Volkes, für unwiderruflich oder vollkommen tot gehalten und sie suchen daher auch nur Geister aus neuerer Zeit durch Opfer zu versöhnen. Wo aber die Umstände eine Fortdauer der Darbringungen an den Gräbern begünstigen, wo auch die Vertreter jeder neuen Generation daran teilnehmen, sich von den Toten erzählen lassen und diese Überlieferung weiter übermitteln, da entsteht allmählich die Vorstellung von einem stetig fortlebenden Geist oder Gespenst. Damit prägt sich denn auch im Denken ein schärferer Gegensatz zwischen übernatürlichen und natürlichen Wesen aus. Gleichzeitig erfolgt eine bedeutende Vermehrung der Anzahl dieser vermeintlichen übernatürlichen Wesen, indem nun immer neue zur früheren Schar hinzukommen, und immer mehr tritt die Neigung hervor, zu glauben, dass sie überall gegen- wärtig und die Ursache jedes ungewöhnlichen Ereignisses seien. Bald werden sodann den verschiedenen Geistern auch verschiedene Kräfte zugeschrieben, was eine ganz natürliche Folge der beobachteten Unterschiede zwischen den Kräften lebender Menschen ist. Wenn daher die Versöhnung gewöhnlicher Geister nur deren unmittelbaren Nachkommen obliegt, so erscheint es doch gelegentlich einfach aus Klugheit geboten, * Für diejenigen unter unseren geehrten Lesern, denen der I. Band der „Prin- eipien der Sociologie“ noch nicht bekannt sein sollte, sei beigefügt, dass dort auch eine hochwichtige Vorfrage zu den oben angedeuteten Verallgemeinerungen in überzeugender Weise erledigt wird, — die Frage nämlich, wie der primitive Mensch überhaupt dazu kam, Totes und Lebendiges miteinander zu verwechseln oder besser ohne scharfe Grenze ineinander übergehen zu lassen. Mehrere Kapitel beschäftigen sich mit den „Ideen vom Belebten und Leblosen“, von „Schlaf und Traum“, von „Ohnmacht, Apoplexie, Katalepsie, Ekstase und anderen Formen der Bewusstlosigkeit“, „von Tod und Auferstehung“ u. s. w. und zeigen, wie notwendig der Glaube ent- stehen musste, dass alle möglichen Dinge, insbesondere auch der Mensch selber, unter verschiedenen Umständen, oft nur an ganz bestimmten Örtlichkeiten u. dgl., im stande seien, willkürlich aus dem sichtbaren in den unsichtbaren, aus dem lebendigen in den leblosen Zustand und umgekehrt überzugehen, und wie daraus erst die Idee von einem andern Ich, von einem besondern, für sich ablösbaren Doppelwesen des Menschen sich differenziert hat. Anm. d. Red. Herbert Spencer, Die Religion in Vergangenheit und Zukunft. 237 auch die Geister von anderen, besonders gefürchteten Männern durch Opfer zu besänftigen, obgleich dieselben keine blutsverwandtschaftlichen Ansprüche darauf haben. So zeigen sich schon sehr frühe die ersten Anfänge jener Abstufungen der übernatürlichen Wesen, die später so schroff hervortreten. Fortwährende Kriege, die mehr als jede andere Ursache den Anstoss zu diesen ersten Differenzierungen geben, bewirken auch fernerhin eine entschiedenere Ausprägung derselben. Denn indem als häufige und not- wendige Folge der Kriege kleine Gesellschaften zu grossen und diese zu noch grösseren verschmelzen und damit auch die Machtbefugnisse der lebenden Menschen sich immer mannigfaltiger abstufen, muss die Vor- stellung von einer ähnlichen Verschiedenartigkeit des Ranges und der Gewalt unter ihren Geistern auftauchen. So entwickeln sich im Laufe der Zeit die Begriffe von grossen Geistern oder Göttern, von zahlreichen sekundären Geistern oder Halbgöttern und so noch weiter abwärts — ein ganzes Pantheon; doch besteht immer noch kein wesentlicher Unter- schied der Art oder Beschaffenheit zwischen ihnen, wie schon daraus zu ersehen ist, dass die gewöhnlichen Geister von den Römern manes- Götter und von den Hebräern elohim genannt wurden. Da ferner das Leben in der andern Welt nur eine Wiederholung des Lebens in dieser Welt, seiner Bedürfnisse, Beschäftigungen und sozialen Einrichtungen ist, so bezieht sich jene Differenzierung verschiedener Rangklassen der übernatürlichen Wesen bald nicht mehr bloss auf ihre Kräfte, sondern auch auf ihren Charakter und die ganze Art ihrer Thätigkeit. Es gibt jetzt Lokalgötter, Gottheiten, welche dieser oder jener Gruppe von Er- scheinungen vorstehen, vor allem gute und böse Geister der mannig- fachsten Art, und wo durch Eroberungskriege zwei oder mehrere Gesell- schaften übereinander geschichtet worden sind, die eine jede ihr eigenes System von aus dem Geisterglauben entsprungenen Dogmen haben, da entsteht eine verwickelte Kombination solcher Glaubenssätze, eine förm- liche Mythologie. Da nun die Geister ursprünglich einfache Wiederbilder ihrer Originale darstellen und denselben in allen Stücken gleichen und die Götter (wenn nicht gar die lebenden Glieder eines siegreichen und herrschenden Volkes) nichts anderes als Doppelwesen der verstorbenen Mächtigen sind, so können letztere zunächst in ihrer physischen Beschaffenheit, ihren Leiden- schaften und ihrem ganzen Denken und Fühlen natürlich auch nicht weniger menschlich erscheinen als andere Geister. Gleich den Doppel- wesen der gewöhnlichen Toten schreibt auch ihnen der fromme Glaube das Vermögen zu, Fleisch, Blut, Brot, Wein oder was man ihnen dar- gebracht, zu verzehren — ursprünglich in durchaus grobstofflichem Sinne, später jedoch auf etwas geistigere Weise, indem sie nur die Essenz, das Wesen der Dinge sich aneignen sollen. Sie erweisen sich nicht bloss als sichtbare und greifbare Persönlichkeiten, sondern lassen sich auch mit den Menschen in Kämpfe ein; sie werden verwundet und leiden Schmerzen — nur mit dem Unterschiede, dass sie wunderbare Kräfte zur Heilung der Wunden und dem entsprechend Unsterblichkeit besitzen. Letzteres gilt jedoch nur mit einem gewissen Vorbehalt; denn nicht allein, dass a Herbert Spencer, Die Religion in Vergangenheit und Zukunft. wir bei den verschiedensten Völkern den Glauben finden, die Götter stürben einen ersten Tod (was da sehr natürlich ist, wo diese einem herrschenden Volke angehören, dessen Anführer ‚von den Unterjochten wegen ihrer höheren Gewalt Götter genannt werden), sondern es kommt auch unter Kulturvölkern vor, dass ein zweiter und endgültiger Tod eines Gottes für möglich gehalten wird, wie dies z. B. von Pan bekannt ist — ein Tod gleich jenem zweiten und endgültigen Tode jedes Menschen, wie ihn viele heute lebende Wilde annehmen. Mit dem Fortschritt der Zivilisation vollzieht sich eine immer be- stimmtere Scheidung des Übernatürlichen vom Natürlichen. Nichts hindert die allmähliche Entkörperlichung des Geistes und des Gottes, und dieser Prozess wird unvermerkt durch jeden Versuch gefördert, die Vorstellungen von übernatürlichem Geschehen und Handeln konsequent auszugestalten: der Gott ist bald nicht mehr greifbar, und später entzieht er sich auch den Augen und Ohren der Sterblichen. Neben dieser Differenzierung seiner körperlichen Attribute von denen des Menschen geht, aber erheblich langsamer, eine Differenzierung seiner geistigen Eigenschaften einher. Dem Gott des Wilden wird ein Verstand zugeschrieben, der kaum oder gar nicht grösser ist als der des lebenden Menschen, und mit Leichtig- keit kann er hintergangen werden. Auch die Götter von halbzivilisierten Völkern lassen sich noch betrügen, sie selbst begehen Fehler und es reuen sie ihre Absichten, und erst nach langer, langer Zeit erhebt sich die Vorstellung von unbegrenzter Einsicht und Allwissenheit. Eine ganz entsprechende Umgestaltung erfährt gleichzeitig die Gefühlsseite des Gottes. Die gröberen Leidenschaften, ursprünglich sehr stark entwickelt und von den gläubigen Verehrern ängstlich berücksichtigt, schwächen sich immer mehr ab, bis nur noch solche Erregungen übrig bleiben, die weniger auf die Befriedigung körperlicher Begierden gerichtet sind, und zuletzt werden auch diese teilweise von ihrem menschlichen Beigeschmack gereinigt. Fortwährend aber und stets von neuem wirken die Erfordernisse des sozialen Zustandes darauf hin, die den Gottheiten zugeschriebenen Eigenschaften mit diesem selbst in Einklang zu bringen. Während der rein kriegerischen Thätigkeitsphase eines Volkes ist sein oberster Gott ein dräuender Herrscher, dem Ungehorsam für das grösste Verbrechen gilt, der unversöhnlich ist in seinem Grimm und erbarmungslos im Strafen, und was ihm etwa daneben von milderen Eigenschaften zuerkannt wird, das nimmt doch im sozialen Bewusstsein nur eine ganz bescheidene Stelle ein. Wo aber der Militarismus zurücktritt und die ihm entsprechende harte despotische Regierungsform allmählich einer andern Platz macht, welche dem Industrialismus angepasst ist, da drängen sich immer mehr und ausschliesslicher in den Vordergrund des religiösen Bewusstseins jene Besonderheiten der göttlichen Natur, welche mit der Ethik des Friedens in Übereinstimmung stehen: göttliche Liebe, göttliche Vergebung, göttliche Barmherzigkeit — diese Charakterzüge bilden nun vorzugsweise den Gegenstand frommer. Betrachtungen. Um den Einfluss des geistigen Fortschritts und der Veränderungen im sozialen Leben, der hier abstrakt dargestellt wurde, ganz klar zu erkennen, müssen wir auch noch einen Blick auf ihre konkrete Erscheinung Herbert Spencer, Die Religion in Vergangenheit und Zukunft. 29 werfen. Überschauen wir ohne alle Rücksicht auf die bereits gezogenen Folgerungen die Urkunden, Denkmäler und Überlieferungen der alten Ägypter, so sehen wir ‘deutlich, wie aus ihren primitiven Vorstellungen von rohen tier- oder menschenähnlichen Göttern allmählich vergeistigte Ideen von Göttern und schliesslich von einem Gott sich entwickelten: erst die Priesterschaft der späteren Zeiten wies den Glauben ihrer Vor- gänger zurück und stellte ihn als Verderbnis dar, indem sie sich von der allgemeinen Tendenz, den frühesten Zustand für den vollkommensten zu halten, beherrschen liess — eine Tendenz, die unschwer bis auf die Theorien unserer heutigen Theologen und Mythologen herab zu verfolgen ist. Setzen wir abermals jede Spekulation beiseite und fragen wir nicht danach, welchen historischen Wert die Ilias haben möchte, sondern nehmen wir sie einfach als Zeugnis des frühern griechischen Begriffes von Zeus und vergleichen wir diesen mit den in Praros Gesprächen niedergelegten Ideen, so zeigt sich unverkennbar, wie bedeutend die griechische Zivilisation (in den besseren Geistern wenigstens) jene noch rein anthropomorphische Auffassung des höchsten Gottes verändert hat: seine niedrigeren menschlichen Attribute sind ganz beseitigt, seine höheren wesentlich geläutert und verklärt. Ebenso wenn wir den Gott der Juden, wie er in den ältesten Überlieferungen dargestellt ist, dem Menschen gleich im Aussehen, in seinen Begierden und Gemütsbewegungen, ver- gleichen mit dem Gott aus der Zeit der Propheten: sein Machtgebiet erweitert sich in gleichem Masse, als sein ganzes Wesen sich immer mehr von dem des Menschen entfernt. Und halten wir die Vorstellungen von ihm dagegen, die heutzutage herrschen, so bemerken wir erst die ausserordentliche Umgestaltung, welche mit denselben vor sich gegangen ist. Vermöge einer wohl angebrachten Vergesslichkeit ist es soweit ge- kommen, dass derselbe Gott, von dem die alten Sagen erzählen, er habe die Herzen der Menschen verhärtet, damit sie strafbare Dinge verüben sollten, und einen Lügengeist ausgesandt, sie zu betrügen, in unseren Tagen der Mehrzahl als eine Verkörperung von Tugenden erscheint, die unsere höchsten Vorstellungen übersteigen. Wir haben also die Thatsache anzuerkennen, dass im Geiste des primitiven Menschen weder eine religiöse Idee noch ein religiöses Gefühl existiert, finden aber zugleich, wie im Laufe der sozialen Entwicklung und der sie begleitenden Entwicklung des Verstandes sowohl die Ideen als die Gefühle ins Leben gerufen werden, die wir als religiöse unterscheiden, und dass dieselben unter dem Einfluss einer deutlich übersehbaren Kette von Ursachen alle jene oben angedeuteten Stadien durchlaufen haben, um endlich bei den zivilisierten Völkern ihre gegenwärtigen Formen zu erreichen. Und nun, welchen Schluss dürfen wir daraus in bezug auf die Entwicklung religiöser Ideen und Gefühle in der Zukunft ziehen? Auf der einen Seite wäre es unverständig, anzunehmen, dass jener Prozess, welcher das religiöse Bewusstsein bis zu seiner heutigen Form empor- geführt hat, jetzt plötzlich aufhören werde. Nicht minder ungereimt 30 Herbert Spencer, Die Religion in Vergangenheit und Zukunft. wäre aber anderseits die Meinung, dieses religiöse Bewusstsein, das sich doch, wie wir gesehen haben, auf ganz natürliche Weise entwickelt hat, werde etwa völlig verschwinden und eine klaffende Lücke hinterlassen. Offenbar muss es noch weitere Umgestaltungen erfahren und dabei, wenn auch noch so sehr verändert, doch zu existieren fortfahren. Welche Veränderungen sind nun wohl zu erwarten? Wenn wir den oben angedeu- teten Prozess auf seine einfachsten Ausdrücke zurückführen, wird sich uns die Möglichkeit einer befriedigenden Antwort eröffnen. Wie in den »Grundlagen der Philosophie«, $. 96 dargelegt wurde, wird die Entwicklung in ihrem ganzen Verlaufe begleitet und in der Regel abgeändert durch die Auflösung, welche sie schliesslich wieder aufhebt und zu nichte macht; und die zu tage tretenden Ver- änderungen sind gewöhnlich nur das Differenzergebnis aus dem Wider- streit des Strebens nach Integration und Desintegration. Diese allgemeine Wahrheit müssen wir im Auge behalten, um Entstehung und Verfall von Religionssystemen richtig zu verstehen und die Zukunft derjenigen unserer Zeit mit einiger Wahrscheinlichkeit vorausbestimmen zu können. Wäh- rend jener früheren Stadien, welche eine Hierarchie von Göttern, Halb- göttern, Manen und Geistern verschiedener Art und Rangabstufung erzeugen, pflegt die Entwicklung mit nur unbedeutender Beeinträchtigung weiter zu schreiten. Indem das so entstandene wohlgefugte mythologische Gebäude an Bestandteilen zunimmt, d. h. die Menge seiner übernatür- lichen Wesen vermehrt, erlangt es zugleich immer grössere Ungleichartig- keit und grössere Bestimmtheit in der Anordnung seiner Teile und in den Attributen eines jeden derselben. Allein die entgegenwirkende Auf- lösung gewinnt doch schliesslich die Oberhand. Je weiter die Erkenntnis von der natürlichen Verursachung alles Geschehens sich verbreitet, in desto lebhafteren Widerspruch tritt sie mit dieser mythologischen Ent- wicklung, bis sie ganz unmerklich diejenigen ihrer Glaubenssätze unter- graben hat, die am wenigsten mit dem fortschreitenden Wissen vereinbar sind. Von Dämonen und all’ den untergeordneten Gottheiten, welche je ihr besonderes Teilgebiet der Natur zu verwalten haben, ist immer weniger die Rede, je allgemeiner die Beobachtung lehrt, dass die ihnen zugeschrie- benen Erscheinungen einer gesetzmässigen Ordnung folgen, und auf solche Weise verflüchtigen sich allmählich diese minder bedeutenden Elemente der Mythologie. Zu gleicher Zeit wächst die Überlegenheit des grossen Gottes, welcher an der Spitze des ganzen Gebäudes steht, und immer weiter greift die Neigung um sich, ihm Wirkungen zuzuschreiben, die früher auf eine grosse Zahl übernatürlicher Wesen verteilt waren: es findet eine Integration der Kräfte statt. Und indem sich daraus folge- richtig die Vorstellung von einer allmächtigen und allgegenwärtigen Gott- heit entwickelt, gehen in demselben Masse auch nach und nach die ihr beigelegten menschlichen Attribute verloren: die Auflösung beginnt selbst die höchste Persönlichkeit in Hinsicht auf die ihr zugeschriebene Form und Wesensbeschaffenheit anzugreifen. Bereits ist dieser Prozess, wie wir sahen, in den fortgeschritteneren Gesellschaften und besonders bei ihren höher stehenden Vertretern soweit gediehen, dass alle geringeren übernatürlichen Kräfte in einer einzigen Herbert Spencer, Die Religion in Vergangenheit und Zukunft. 31 übernatürlichen Macht aufgegangen sind, und schon jetzt hat diese eine Macht durch »De-Anthropomorphosierung«, wie es Herr Fısk& treffend nennt, alle gröberen menschlichen Attribute abgestreift. Sofern die Dinge auch fortan denselben allgemeinen Verlauf nehmen wie bisher, so ist vorauszusehen, dass diese Abstreifung menschlicher Attribute noch weiter- gehen wird. Fragen wir uns, was für positive Veränderungen hiernach zu gewärtigen sind. Zwei Faktoren müssen zusammenwirken, um solche hervorzubringen. Es sind dies einmal die Ausbildung jener höheren Gefühle, welche nicht länger dulden, dass einer Gottheit niedrigere Gefühle zugeschrieben werden, und zweitens die intellektuelle Entwicklung, welche bei den früher aner- kannten rohen Erklärungen keine Befriedigung mehr finden kann. Natür- lich werde ich, um die Wirkungen dieser Faktoren darzulegen, auch auf einige zurückkommen müssen, die allbekannt sind, allein dieselben fordern im Zusammenhang mit anderen wenigstens eine kurze Berücksichtigung. Die Grausamkeit eines fidschianischen Gottes, der die Seelen der Toten verzehrt und sie dabei grässlich martert, ist klein im Vergleich zu derjenigen eines Gottes, der die Menschen zu ewigen Qualen verdammt; und dass man ihm diese Grausamkeit zuschreiben soll — obschon es in kirchlichen Formeln regelmässig geschieht, in Predigten noch gelegent- lich wiederholt und immer noch hie und da durch bildliche Darstellungen bekräftigt wird — fängt doch allmählich an für die feiner Fühlenden so unerträglich zu werden, dass manche Theologen dies entschieden in Abrede stellen, andere diesen Punkt in ihren Betrachtungen wenigstens mit Stillschweigen übergehen. Offenbar kann diese Veränderung nicht eher aufhören, als bis der Glaube an Hölle und Verdammnis gänzlich verschwunden ist. I Nicht wenig wird zu seinem Verschwinden auch ein wachsender Abscheu vor Ungerechtigkeit beitragen. Adams Kinder alle durch Hun- derte von Generationen hindurch mit schrecklichen Strafen heimzusuchen, für ein kleines Vergehen, an dem sie gar keine Schuld tragen; jeden Menschen zu verdämmen, der sich nicht des vorgeschriebenen Mittels bedient, um die Vergebung seiner Sünden zu erlangen, eines Mittels, von dem die allermeisten Menschen nie etwas gehört haben, und die Ver- söhnung dadurch zu bewerkstelligen, dass ein Sohn hingeopfert wird, der vollkommen schuldlos war, nur um der vermeintlichen Notwendigkeit eines Sühnopfers genüge zu leisten — das ist ein Verfahren, von dem wir uns, wenn es einen menschlichen Herrscher beträfe, mit dem Ausdruck des grössten Entsetzens abwenden würden; und es kann wohl kaum mehr lange dauern, bis es einfach unmöglich wird, der Höchsten Ursache aller Dinge so etwas zuzuschreiben, wie denn auch jetzt schon die Schwierig- keit lebhaft genug empfunden wird. Ebenso muss endlich die Ansicht aussterben, dass eine Macht, die in unzähligen Welten im ganzen unermesslichen Raum gegenwärtig ist und die während der früheren Existenz der Erde Millionen von Jahren hindurch keiner Verehrung von seiten ihrer Bewohner bedurfte, auf einmal 32 Herbert Spencer, Die Religion in Vergangenheit und Zukunft. = von einer wunderbaren Gier nach Ruhm ergriffen worden sei und nun, nachdem sie die Menschen erschaffen, denselben zürne, wenn sie ihr nicht beständig zurufen, wie gross sie ist. Wenn nur erst die Menschen sich dem verblendenden Zauber alt überlieferter Eindrücke, der sie am Denken verhindert, einigermassen entzogen haben, so werden sie gewiss gegen einen solchen Charakterzug im Bilde Gottes protestieren, der nichts weniger als verehrungswürdig ist. Gleiches gilt aber auch von mancherlei logischen Unzuträglich- keiten, welche für den heranreifenden Verstand mehr und mehr auffällig werden. Sehen wir auch ganz ab von den längst erörterten Schwierig- keiten, dass verschiedene der Wesenseigenschaften Gottes mit den ander- weitig ihm beigelegten Attributen in Widerspruch stehen — dass es z.B. einem Gott, der bereut, was er gethan hat, entweder an Macht oder an Voraussicht mangelt, oder dass sein Zorn ein Ereignis voraussetzt, das seinen Absichten zuwiderlief und dadurch die Unvollkommenheit seiner Einrichtungen beweist — so stossen wir doch auf die tieferliegende Schwierigkeit, dass solche Gemütsbewegungen ebenso wie alle anderen nur in einem Bewusstsein möglich sind, das begrenzt ist. Jeder Gemüts- bewegung gehen gewisse Gedanken voraus und solche Gedanken pflegt man Gott allgemein zuzuschreiben: es wird berichtet, wie er dies oder jenes höre und dadurch emotionell beeinflusst werde. Mit anderen Worten, die Vorstellung von einer Gottheit, welche diese Charakterzüge aufweist, bleibt notwendig anthropomorphisch, nicht bloss in dem Sinne, dass die ihr zugeschriebenen Emotionen dieselben sind wie die eines Menschen, sondern auch insofern, als sie Bestandteile eines Bewusstseins bilden, das sich gleich dem menschlichen Bewusstsein aus aufeinanderfolgenden Zuständen zusammensetzt. Und eine solche Vorstellung vom göttlichen Bewusstsein ist unvereinbar mit dem anderweitig aufgestellten Dogma von der Unveränderlichkeit sowohl als von der Allwissenheit Gottes. Denn ein Bewusstsein, das aus durch äussere Dinge und Geschehnisse verursachten Ideen und Gefühlen besteht, kann sich nicht zu gleicher Zeit mit allen Dingen und allem Geschehen im ganzen Weltall beschäftigen. Wenn der Mensch an ein göttliches Bewusstsein glauben will, so muss er davon absehen, sich dabei das zu denken, was mäan gewöhnlich unter Bewusstsein versteht — er muss sich mit Sätzen begnügen, die aus leeren Worten aufgebaut sind; und solche blosse Behauptungen, welche sich gar nicht in wirkliche Gedanken übertragen lassen, werden ihn gewiss immer weniger und weniger zu befriedigen vermögen. Ganz ähnliche Ungereimtheiten kommen natürlich zum Vorschein, sobald wir den Willen Gottes etwas näher betrachten. So lange man darauf verzichtet, dem Worte Wille eine bestimmte Bedeutung unterzulegen, kann man wohl sagen, dass die Ursache aller Dinge Willen besitze, wenigstens ebenso gut wie man etwa sagen könnte, ein Kreis besitze Gefallsucht; geht man aber von den Wörtern zu den Gedanken über, die sie ausdrücken sollen, so zeigt sich, dass wir die Glieder des einen Satzes ebensowenig im Bewusstsein zu vereinigen im stande sind als die des andern. Wer sich von irgend einem fremden Willen einen Begriff zu machen wünscht, der muss dies in den Formen seines eigenen Willens Herbert Spencer, Die Religion in Vergangenheit und Zukunft. 33 thun, denn dieser ist ja der einzige ihm unmittelbar bekannte Wille — alle anderen Willen kennt er nur aus Analogieschlüssen. Der Wille aber, wie ein jeder sich desselben bewusst ist, setzt einen Beweggrund voraus — einen treibenden Wunsch nach irgend etwas; vollkommene Indifferenz schliesst die Vorstellung vom Willen einfach aus. Überdies ist mit dem Worte Wille, da er eben einen treibenden Wunsch voraussetzt, auch die Mitbezeichnung von einem Zweck gegeben, den es zu erreichen gilt und mit dessen Erreichung der Wille selbst aufhört, um einem andern Willen Platz zu machen, der auf einen andern Zweck gerichtet ist. Mit anderen Worten: Wille hat ebenso wie Gemütsbewegung eine Reihe von Bewusstseinszuständen zur notwendigen Voraussetzung. Die Vorstellung von einem göttlichen Willen involviert also gleich derjenigen vom mensch- lichen Willen, von welcher sie ja auch abgeleitet ist, Lokalisierung in Raum und Zeit, indem eben das Wollen jedes einzelnen Zweckes für eine Zeit lang das Wollen anderer Zwecke aus dem Bewusstsein ausschliesst und daher unvereinbar ist mit jener allgegenwärtigen Thätigkeit, welche gleichzeitig auf eine unendliche Zahl von Zwecken hinarbeiten soll. Nicht anders steht es mit dem Verstande, den man Gott zuzu- schreiben pflegt. Ohne uns bei dem reihenartigen Charakter und der Beschränktheit aufzuhalten, die hier wie bei den vorigen Eigenschaften notwendig gegeben sind, sei nur darauf hingewiesen, dass Verstand in der Form, wie er für uns allein vorstellbar ist, andere Existenzen voraus- setzt, welche unabhängig von ihm sind und sich ihm als Objekte dar- stellen. Er beruht ja darauf, dass zunächst durch ausser ihm liegende Thätigkeiten Veränderungen in ihm hervorgerufen werden — dass Dinge ausserhalb des Bewusstseins Eindrücke erzeugen und von diesen Ein- drücken Ideen abgeleitet werden. Wer von einem Verstande spricht, der in Abwesenheit aller solchen fremden Thätigkeiten existieren soll, der verwendet ein sinnloses Wort. Der weiteren Folgerung, dass die erste Ursache, wenn man ihr Verstand zuschreiben will, beständig durch von ihr unabhängige objektive Thätigkeiten affıziert werden müsste, wird vielleicht entgegengehalten werden, dass diese erst durch den Schöpfungs- akt zu solchen geworden und früher in der ersten Ursache einbeschlossen gewesen seien. Darauf antworte ich aber einfach: in diesem Falle würde der ersten Ursache vor jenem Schöpfungsakte jeder Anstoss dazu gefehlt haben, in sich derartige Veränderungen zu erzeugen, wie sie nach unserem Sprachgebrauch den Verstand ausmachen; sie müsste also gerade zu der Zeit verstandeslos gewesen sein, wo sie des Verstandes am allermeisten bedurfte. Es ist somit wohl klar genug, dass der vom höchsten Wesen ausgesagte Verstand in keiner Hinsicht dem entspricht, was wir unter diesem Worte verstehen. Es ist ein Verstand, dem alle seine Wesens- eigenschaften genommen sind. . Diese und viele andere Schwierigkeiten, die z. T. schon oft be- sprochen, nie aber gelöst worden sind, müssen die Menschen über kurz oder lang dazu zwingen, die erste Ursache allmählich auch der höheren anthropomorphischen Züge ebenso zu entkleiden, wie sie es in betreff der niederen schon längst gethan haben. Jene Vorstellung, die von Anfang an in beständiger Erweiterung begriffen war, muss sich auch fernerhin Kosmos 1884, I. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XIV). 3 34 Herbert Spencer, Die Religion in Vergangenheit und Zukunft. noch immer mehr erweitern, bis sie durch Verfiüchtigung ihrer letzten Grenzen zu einem Bewusstsein wird, das weit über die Formen des bestimmten Denkens hinausgeht, obgleich es nie aufhören wird, ein Bewusstsein zu bleiben. »Wie soll denn aber, wird man fragen, zuletzt ein solches Bewusst- sein vom Unerkennbaren, dessen Wahrheit und Richtigkeit doch hier stillschweigend angenommen wird, erreicht werden können durch allmäh- liche Umgestaltung einer Vorstellung, die selber grundfalsch war? Der Geistertheorie des Wilden fehlt jeder thatsächliche Anhalt. Das körperliche Doppelwesen des Toten, an das er so fest glaubt, hat nie und unter keiner Form existiert. Und wenn durch allmähliche Entkörperlichung dieses Doppelwesens die Vorstellung von übernatürlichen Agentien im allgemeinen entstanden ist — wenn die Vorstellung von einer Gottheit durch Fortsetzung dieses Prozesses sich ausbildete, indem einzelne der menschlichen Attribute verloren gingen und andere gänzlich umgewandelt und verklärtt wurden — muss nicht auch jene hochentwickelte und völlig geläuterte Vorstellung, welche sich ergeben wird, wenn der erwähnte Prozess bis zu seiner äussersten Grenze fortgeführt wird, gleichfalls ein Truggebilde sein? Wenn der ursprüngliche Glaube absolut falsch war, so muss sicherlich auch jeder davon abgeleitete Glaube ebenso absolut falsch sein.« Dieser Einwand sieht sehr gefährlich aus, und er wäre es jedenfalls, wenn seine Prämisse richtig wäre. So unerwartet dies auch der Mehr- zahl unserer Leser kommen mag, wir haben doch nichts anderes darauf zu antworten, als dass von Anfang an ein Körnchen Wahrheit in der primitiven Vorstellung enthalten war — der Wahrheit nämlich, dass die Macht, welche sich im Bewusstsein kundgibt, nur eine anders bedingte Form der Macht ist, welche sich ausserhalb des Bewusstseins kundgibt. Jede willkürliche Handlung liefert dem primitiven Menschen den Beweis für eine Quelle von Kraft in seinem Ich. Nicht als ob er über seine inneren Erfahrungen nachdächte; aber in diesen Erfahrungen liegt auf alle Fälle dieser Begriff verborgen. Wenn er in seinen Gliedern und durch sie auch in anderen Dingen Bewegung erzeugt, so wird er sich des begleitenden Gefühls einer Anstrengung bewusst. Und dieses Gefühl von Anstrengung, welches als empfundenes Antecedens von durch ihn hervor- gerufenen Veränderungen erscheint, wird zum vorgestellten Antecedens auch von solchen Veränderungen, die er nicht selbst bewirkt hat — es liefert ihm das Denkelement, vermittelst dessen er sich. die Entstehung dieser objektiven Veränderungen vorstellen kann. Anfänglich zieht diese Idee, dass Muskelkraft das Antecedens aller ungewöhnlichen Ereignisse in seiner Umgebung sei, noch das ganze Heer der damit verknüpften Ideen nach sich. Er denkt sich die vermeintliche Anstrengung ausgeübt von einem Wesen, das ihm aufs Haar gleicht. Im Laufe der Zeit werden diese Doppelwesen der Toten, welche der Glaube als treibende Gewalten hinter jedem Ereignis mit Ausnahme nur der alltäglichsten Vorgänge erblickt, in der Vorstellung bedeutend umgestaltet. Nicht nur dass sie Herbert Spencer, Die Religion in Vergangenheit und Zukunft. 35 eine weniger grobmaterielle Beschaffenheit erlangen: einige von ihnen entwickeln sich auch zu wichtigeren Persönlichkeiten und werden die Leiter und Verwalter ganzer Gruppen von Erscheinungen, welche, indem sie einen vergleichsweise regelmässigen Gang einhalten, den Glauben an solche Wesen veranlassen und begünstigen, die mächtiger als der Mensch und zugleich in ihrer Handlungsweise viel weniger schwankend sind. So kommt es denn, dass die Idee von Kraft, als Ausfluss solcher Wesen gedacht, sich immer weniger innig mit der Idee von einem menschlichen Geist verknüpft. Weitere Fortschritte lassen zahlreiche geringere über- natürliche Agentien in eine allgemeine Macht zusammenfliessen, machen die Umrisse der Persönlichkeit dieser letzteren immer unbestimmter, während sie dieselbe zugleich ins Unbegrenzte ausdehnen, und wirken auf diese Weise beständig dahin, den objektiven Kraftbegriff noch schärfer von der Kraft zu trennen, die als solche unmittelbar im Bewusstsein erkannt wird, bis diese Scheidung ihr Extrem im Geiste des Mannes der Wissenschaft erreicht, welcher zur Erklärung nicht allein der sichtbaren Veränderungen greifbarer Körper, sondern alles physischen Geschehens überhaupt bis hinauf zu den Schwingungen des ätherischen Mediums nur das Denkelement Kraft verwendet. Nichtsdestoweniger aber schwebt ihm, so oft er an diese Kraft denkt (sei es Kraft in jener statischen Form, vermöge deren die Materie Widerstand leistet, sei es in jener dynamischen Form, die wir als Energie oder lebendige Kraft unterscheiden), als Urbild stets jene innere Energie vor, deren er sich als Muskelanstrengung be- wusst ist: sein Denken bewegt sich in der Sprache dieser inneren Erfahrung — er kann es nicht vermeiden, die objektive Kraft in Ausdrücken, die von subjektiver Kraft hergenommen sind, darzustellen, da ihm jedes andere Symbol mangelt. Welche Bedeutung hat dies nun für uns? Jene innere Energie, welche nach den Erfahrungen des primitiven Menschen stets das unmittel- bare Antecedens der von ihm bewirkten Veränderungen war —- jene Energie, die er, wenn es sich um die Erklärung äusserer Vorgänge han- delte, in seinem Denken stets mit denselben Attributen einer menschlichen Persönlichkeit in Zusammenhang brachte, mit denen sie in ihm selbst verbunden erschien, ist dieselbe Energie, welche, von allen menschlichen und menschenähnlichen Zuthaten befreit, nun als die Ursache sämtlicher äusseren Erscheinungen dargestellt wird. Das letzte Stadium, das wir erreicht haben, ist Anerkennung der Wahrheit, dass Kraft, wie sie ausser- halb des Bewusstseins existiert, nicht dem gleich sein kann, was wir als Kraft innerhalb desselben kennen, und dass trotzdem beide, da jede von ihnen die andere zu erzeugen im stande ist, nur verschiedene Äusserungen eines und desselben Prinzips sein können. Das Endergebnis jener vom primitiven Menschen schon begonnenen Spekulation ist also, dass die Macht, welche sich im ganzen als materielle Welt unterschie- denen Universum kundgibt, eins ist mit der Macht, die in der Form von Bewusstsein aus unserm eigenen Innern hervorquillt. Es trifft daher keineswegs zu, dass die obige Darstellung darauf hinauslaufe, aus einem Glauben, der grundfalsch war, eine richtige An- sicht hervorentwickeln zu wollen. Vielmehr erweist sich die höchste und 36 Herbert Spencer, Die Religion in Vergangenheit und Zukunft. letzte Form des religiösen Bewusstseins als abschliessendes Entwickelungs- produkt eines Bewusstseins, das von Anfang an einen allerdings durch mancherlei Irrtümer verdunkelten Keim von Wahrheit enthielt. Wer der Meinung ist, dass die Wissenschaft religiöse Überzeugungen und Gefühle untergrabe oder zerstöre, der scheint ganz übersehen zu haben, dass der Charakter des Geheimnisvollen in demselben Masse, als er der alten Erklärung genommen wird, sich auf die neue überträgt. Ja man könnte sogar eher behaupten, dass er bei dieser Übertragung noch verstärkt werde, denn an Stelle einer Erklärung, die scheinbar sehr wohl begreiflich ist, setzt die Wissenschaft eine andere, die uns nur ein bischen tiefer auf den Grund der Dinge führt, um uns hier vor dem ausgesprochen Unerklärbaren stehen zu lassen. Der Fortschritt der Wissenschaften ist in gewissem Sinne eine unaufhörliche Verwandlung der Natur. Wo die gewöhnliche Wahrnehmung nur die reinste Einfachheit erblickte, da offenbaren sie uns die grösste Verwickeltheit; wo absolute Ruhe zu herrschen schien, da enthüllen sie intensives Leben, und wo für das ungeschulte Auge der leere Raum aus- gebreitet war, da finden sie ein wunderbares Spiel von Kräften. Jede Generation der Physiker entdeckt in der sogenannten »rohen Materie« neue Kräfte, die nur wenige Jahre früher der kenntnisreichste Forscher für unglaublich erklärt haben würde, wie z. B. das Vermögen einer ein- fachen Eisenplatte, die durch artikuliertes Sprechen erzeugten verwickelten Luftschwingungen aufzunehmen, um sie in eine Unzahl der verschieden- artigsten elektrischen Wellen zu verwandeln, die tausend Meilen weiter durch eine andere Eisenplatte zurückübersetzt und abermals als artiku- lierte Laute hörbar gemacht werden. Wenn der Erforscher der Natur sieht, wie die ihn umgebenden festen Körper, so tot sie auch erscheinen, sich doch gegen unendlich schwache Kräfte empfindlich zeigen — wenn das Spektroskop ihm beweist, dass gewisse Moleküle auf der Erde har- monisch schwingen mit solchen auf fernen Gestirnen — wenn sich ihm die Überzeugung aufdrängt, dass jeder Punkt im Raume von unzähligen Schwingungen erfüllt ist, die ihn jeden Augenblick nach allen Richtungen durcheilen — dann neigt er gewiss viel weniger zu der Vorstellung von einem Universum, das nur aus toter Materie besteht, als zu der Vor- stellung von einem Universum, das allüberall belebt ist — nicht zwar belebt in dem gewöhnlichen beschränkten, wohl aber belebt in einem allgemeineren Sinne. Diese Verwandlung der Natur, welche die Untersuchungen der Phy- siker in stets zunehmendem Masse fördern, wird unterstützt durch jene andere Verwandlung, welche das Ergebnis metaphysischer Untersuchungen ist. Die subjektive Analyse nötigt uns zu dem Geständnis, dass alle unsere wissenschaftlichen Erklärungen der Erscheinungen, welche die Objekte darbieten, gleichsam immer nur in der Sprache unserer mannig- fach kombinierten Empfindungen und Ideen wiedergegeben sind, d. h. dass zum Ausdruck derselben lauter unserm eigenen Bewusstsein ange- hörende Elemente dienen, die blosse Symbole des jenseits des Bewusst- Herbert Spencer, Die Religion in Vergangenheit und Zukunft. 37 seins liegenden Etwas sind. Wenn auch unsere ursprünglichen Anschau- ungen im weiteren durch die Analyse wieder in ihre Rechte eingesetzt werden, insofern nämlich, als dieselbe zeigt, dass hinter jeder Gruppe von Erscheinungskundgebungen stets ein »Nexus«, ein kausaler Zusammen- hang existiert, jene Realität, die inmitten des Wechsels der Erscheinungen unverändert bleibt, so erkennen wir doch zugleich, dass dieser Nexus der Realität unserem Bewusstsein auf ewig unzugänglich sein wird. Erinnern wir uns ferner nochmals, dass die Thätigkeiten oder Vorgänge, welche das Bewusstsein ausmachen, da sie streng in ihre Grenzen gebannt sind, unmöglich die jenseits dieser Grenzen liegenden Vorgänge in oder zwischen sich aufzunehmen im stande sind, dass letztere aus diesem Grunde un- bewusst erscheinen, obgleich der Umstand, dass die einen durch die anderen hervorgerufen werden können, darauf hinweist, ihnen dieselbe wesentliche Natur zuzuschreiben — so verleiht diese Notwendigkeit, in der wir uns befinden, unsere auf die äussere Energie bezüglichen Gedanken in Ausdrücke der inneren Energie zu kleiden, dem Universum wahrlich eher ein spiritualistisches als ein materialistisches Aussehen; bei weiterem Nachdenken jedoch überzeugen wir uns endlich, dass eine in Erscheinungs- kundgebungen dieser höchsten Energie ausgedrückte Vorstellung in keiner Weise uns über deren wahres Wesen aufklären kann. Wenn also die Ansichten, zu denen die wissenschaftliche Analyse führt, jedenfalls nicht geeignet erscheinen, den eigentlichen Gegenstand der Religion zu vernichten, sondern denselben einfach umgestalten und läutern, so strebt die Wissenschaft in ihren konkreten Formen stets das Wirkungsgebiet für das religiöse Gefühl zu erweitern. Von jeher ist der Fortschritt des Wissens verbunden gewesen mit einer Zunahme des Fassungsvermögens für das Wunderbare. Unter den heutigen Wilden sind es gerade die am tiefsten stehenden, welche die geringste Über- raschung verraten, wenn man ihnen merkwürdige Kunsterzeugnisse der Zivilisation zeigt; allgemein ist das Staunen der Reisenden über ihre Gleichgültigkeit. Und so wenig werden sie des Wunderbaren in den grossartigsten Naturerscheinungen gewahr, dass sie jede Frage hierüber für kindische Spielerei halten. — Dieser Gegensatz in der geistigen Ver- fassung zwischen den niedrigsten menschlichen Wesen und den uns um- gebenden höherstehenden wiederholt sich einigermassen bei diesen letzteren selbst in Gestalt verschiedener Abstufungen. Weder der Bauer noch der Handwerker noch der Kaufmann pflegt im Ausbrüten eines Hühn- chens mehr als etwas ganz Selbstverständliches zu erblicken; der Biologe aber gerät in das höchste Erstaunen, wenn er mit seiner Untersuchung der Lebenserscheinungen soweit als irgend möglich vorgedrungen ist und nun an einem Klümpchen Protoplasma unter dem Mikroskop Leben in seiner einfachsten Form vor sich sieht: er erkennt, dass, wie immer er die Vorgänge desselben formulieren mag, das eigentliche Spiel der Kräfte für ihn ein unvorstellbares Geheimnis bleibt. Eine Alpenschlucht wird in einem gewöhnlichen Touristen oder in dem Gemsjäger, der über ihm auf den Bergen herumklettert, kaum andere Ideen hervorrufen, als die sich auf die Jagd oder die Schönheit der Landschaft beziehen. In dem Geologen aber, der beobachtet, dass der durch Gletschereis geglättete 38 Herbert Spencer, Die Religion in Vergangenheit und Zukunft. Fels, auf dem er sitzt, seit jener weit hinter den Anfängen der mensch- lichen Zivilisation zurückliegenden Zeit durch Verwitterung kaum einen halben Zoll von seiner Oberfläche werloren hat, und nun den langsamen Verlauf der Auswaschung, welche das ganze Thal ausgehöhlt hat, sich vorzustellen sucht, steigen Gedanken über Zeiten und Kräfte auf, die jenen völlig fremd sind — Gedanken freilich, deren gänzliche Unzuläng- lichkeit ihrem Gegenstande gegenüber er bereits sehr lebhaft empfindet, die ihm jedoch erst recht als vergebliches ‚Beginnen erscheinen, wenn sein Blick auf die gewundenen Gneisschichten zu seinen Füssen fällt, welche ihm von einer unmessbar ferner liegenden Vergangenheit erzählen, wo sie noch in halb flüssigem Zustande weit unter der Erdoberfläche begraben lagen, und welche auf eine noch unendlich viel frühere Zeit zurückweisen, wo ihre Bestandteile in Form von Sand und Schlamm an den Ufern eines Urmeeres abgelagert waren. Ebensowenig sind es etwa jene alten Völker, welche glaubten, dass der Himmel auf den Bergspitzen aufruhe, noch auch die modernen Erben ihrer Kosmogonie, welche es wiederholen, dass »die Himmel verkündigen die Ehre Gottes«, bei denen wir die grossartigsten Vorstellungen vom Weltganzen oder die höchste Stufe einer durch dessen Betrachtung erzeugten wahren Bewunderung antreffen. Diese haben wir vielmehr bei dem Astronomen zu suchen, welcher in der Sonne eine Masse von solcher Grösse erkennt, dass unsere ganze Erde selbst in einen ihrer Flecken versenkt werden könnte, ohne auch nur seine Ränder zu berühren, und welchem jede Verbesserung des Teleskops eine neue Menge solcher Sonnen zum Teil von noch viel bedeu- tenderem Umfang enthüllt. Auch in Zukunft wie bisher werden höhere Begabung und tiefere Einsicht dieses Gefühl eher verstärken als abschwächen. Gegenwärtig besitzt auch der umfassendste und gelehrteste Geist weder die Kenntnis noch die Fähigkeit, die nötig wären, um die Gesamtheit der Dinge in Gedanken wiederzugeben. Mit der einen oder andern Seite der Natur vollauf beschäftigt, weiss der Mann der Wissenschaft gewöhnlich lange nicht genug von ihren übrigen Gebieten, um sich auch nur eine rohe Vorstellung von dem Umfang und der Verwickeltheit aller ihrer Erschein - ungen machen zu können; und selbst wenn wir annehmen dürften, jemand habe genügende Kenntnisse von allen Gebieten, so wäre er doch deshalb noch nicht im stande, sie als ein Ganzes zu denken. In späterer Zeit mag er vielleicht, mit einem erweiterten und gekräftigten Verstande ausgerüstet, fähig werden, sich ein unbestimmtes Bewusstsein von ihrer Gesamtheit zu bilden. Wir können uns dies ungefähr so denken: gleichwie ein musikalisch ungebildeter Mensch, der höchstens eine einfache Melodie zu geniessen versteht, unmöglich die mannigfaltig verschlungenen Perioden und Harmonien einer Symphonie erfassen kann, während dieselben doch im Geiste des Komponisten wie des Dirigenten sich zu verwickelten musikalischen Effekten verbunden haben, die ein weit grossartigeres Gefühl wachrufen, als es für den Unmusikalischen jemals erreichbar wäre — so mag in Zukunft ein höher entwickelter Verstand den Lauf der Dinge, den wir jetzt nur stückweise übersehen, in seinem vollen Umfang zu erfassen im stande sein, und das ein solches Denken begleitende Gefühl Herbert Spencer, Die Religion in Vergangenheit und Zukunft. 39 wird ebenso hoch über dem des heutigen gebildeten Menschen stehen, wie dieses über das Fühlen des Wilden sich erhebt. Und dieses Gefühl wird kaum vermindert, sondern vielmehr gesteigert werden durch die erkenntnistheoretische Untersuchung, welche ihn zwar zum Agnostizismus nötigt, gleichwohl aber ihn fortwährend dazu drängt, wenigstens mit Hilfe der Einbildungskraft irgend eine Lösung des grossen Welträtsels zu versuchen, das doch, wie er weiss, nie gelöst werden kann. Dies muss ihm besonders lebhaft zum Bewusstsein kommen, wenn er sich erinnert, dass gerade die Begriffe von Anfang und Ende, Ursache und Zweck bloss relative, dem menschlichen Denken eigentümliche Begriffe sind, welche höchstwahrscheinlich für die alles menschliche Denken über- steigende höchste Realität gar keine Bedeutung haben, und wenn er anderseits, obschon nahezu überzeugt, dass »Erklärung« ein Wort ist, das keinen Sinn mehr hat, sobald es auf diese höchste Realität angewendet wird, dennoch den inneren Zwang empfindet, zu denken, es müsse irgend eine Erklärung zu finden sein. Inmitten dieser Geheimnisse aber, die um so geheimnisvoller werden, je mehr man über sie nachdenkt, bleibt ihm stets die eine unbedingte Gewissheit, ‚dass er sich in jedem Augenblicke einer unendlichen und ewigen Energie gegenüber befindet, der alles Dasein entströmt. Biologische Mitteilungen. Von Dr. F. Ludwig (Greiz). I. Zur Anpassung des Philodendron bipinnatifidum Schott. Im 11. Bde. dieser Zeitschrift p. 347—351 habe ich die Vermutung ausgesprochen, dass Philodendron bipinnatifidum Scnorr eine im höchsten Grade der Schneckenbefruchtung angepasste Blüteneinrichtung habe. Herr Prof. EuGen WArMmInG in Stockholm hat nun in einer besondern Ab- handlung »Tropische Fragmente I. Die Bestäubung von Philodendron bipin- natifidum ScHhorr« (EnGLers bot. Jahrb. IV. Bd. 3. Heft 1883, p. 328 bis 340) meine Ansicht zu widerlegen gesucht auf Grund seiner um Lagoa Santa in Brasilien gemachten Beobachtungen!. Ich hatte nur durch Ver- gleichung des sehr ausgeprägten, auf eine hohe Entwickelungsstufe hin- deutenden Blütenmechanismus mit dem der von Derrıso als malakophil bezeichneten Pflanzen die Überzeugung gewonnen, dass man es hier mit einem Schneckenblütler zu thun habe, und zwar schienen mir die von Derrıno den Malakophilen beigelegten Eigenschaften bei dem genannten Philodendron in potenzierter Form vorhanden zu sein. Wenn die von Herm. MÜLLER u. a. begründete Blumenlehre richtig ist, so konnten nach meiner Auffassung unter den jetzt lebenden Tieren keine anderen als die Schnecken zur Erklärung jener Blüteneinrichtung herangezogen werden. Prof. Warnmıse hat das Verdienst, zuerst den thatsächlichen Besuch der Pflanze durch Tiere konstatiert zu haben, und zwar hat er gegen meine Erwartung nur Insekten, nämlich schwarze Bienen, rötliche Kakerlaken und kleine Maikäfer gefunden. Der ausführlichen Beschreibung nach haben wir es höchst wahrscheinlich beide mit derselben Varietät von Ph. bipin- natifidum, nämlich mit der var. Lundiü EnGLer zu thun gehabt, und es würde mich die interessante Beobachtung Prof. WAarnmısgs sicher veran- lassen, meine Auffassung der Blüteneinrichtung fallen zu lassen, wenn ich mir dieselbe nicht so genau angesehen hätte, dass ich eine Anpassung an Insekten für unmöglich halten müsste. Aus Prof. Warnmıngs Beobacht- ungen, denen zufolge die Pflanze um Lagoa Santa, wie nach Frrrz MÜLLERS Mitteilungen auch andere Philodendren in Brasilien in den Wipfeln hoher ! Vergl. auch das Referat über Warmings und Englers bezügliche Ar- beiten in Kosmos XIII, S. 676, URRe F. Ludwig, Biologische Mitteilungen. 41 Waldbäume, aus denen sie oft 50 und mehr Fuss lange Luftwurzeln zu Boden senden, nicht gesellig, sondern sehr zerstreut wächst, geht aller- dings hervor, dass die Schnecken den Pollentransport bei dem von ihm beobachteten Standort nicht vollziehen können (wenn er auch die Häufig- keit der Schnecken in Brasilien unterschätzt '). Eine Wechselbestäubung kann aber eben des zerstreuten Vorkommens halber durch Insekten eben- sowenig vollzogen werden, es scheint sogar, dass das von Prof. War- MInG beobachtete Philodendron durch Selbstbestäubung befruchtet werden könnte. Nun ist es mir völlig undenkbar einmal, dass sich eine so vollkommene Blüteneinrichtung ausgebildet haben könnte, damit sie nur einseitig in der beschriebenen Weise durch Insekten ausgenutzt würde oder gar der Selbstbestäubung diente, sodann dass unter Verhältnissen, wie sie gegen- wärtig in Brasilien thatsächlich bestehen, wo das Vorkommen der Pflanze ein sehr zerstreutes ist, überhaupt nach den unter den heutigen Biologen herrschenden Anschauungen von der Entstehung der Blumen jene Blumen- form, wie ich sie beobachtet und beschrieben habe, entstanden sein kann. Es drängt sich mir hiernach die Vorstellung auf, dass die heutige brasi- lianische Pflanze sich überhaupt unter wesentlich veränderten Lebens- bedingungen befindet und sich diesen bereits bezüglich der Fortpflanzungs- verhältnisse mehr oder weniger angepasst hat. H. MürLzer u. a. haben ja zahlreiche Fälle aufgeführt, in denen bei Mangel der ursprünglich den Pollentransport vermittelnden Tiere die Pflanzen mit bereits ausgeprägten Anpassungen an die bisherigen Bestäuber partielle Anpassungen an ihre neuen Freunde oder als Notbehelf selbst Rückbildungen bis zur regel- mässigen Selbstbefruchtung erlitten haben. — Sei es, dass die von mir im Gewächshaus beobachtete Pflanze Anpassungen an die Kakerlaken etc. noch nicht erhalten hatte, als sie in Kultur genommen wurde, oder dass sie durch Rückschlag ihr altes Gepräge noch einmal erhielt, immerhin scheint sie nicht unwesentliche Abweichungen von der Warmingschen zu zeigen: bei ihr liegt im nämlichen Stadium die Spatha so dicht an den Staminodien an, dass Wasser nicht eindringen kann, geschweige durch Tiere etc. Blütenstaub in den weiblichen Kessel gelangen könnte, und vor allem setzt sie durch eigenen Blütenstaub bestäubt keine Frucht an, scheint völlig selbststeril zu sein, während, wie ich 1. c. mitteilte, Ver- wandte auch im Gewächshaus regelmässig autokarp sind und auch die Warmingsche Form durch eigenen Blütenstaub befruchtet zu werden scheint. Auch dieses dürfte darauf hindeuten, dass der von mir beobachtete, eine Anpassung zur Malakophilie, auch noch meiner jetzigen Meinung nach, vorstellende Blütenmechanismus der entwickeltere und ursprüng- lichere, der von Prof. WAarnmınG beobachtete aber eine unter der Fremd- bestäubung ungünstigen Verhältnissen entstandene Abänderung derselben darstellt ?. ! Nach einer brieflichen Mitteilung Fritz Müllers gibt es z. B. verschiedene Arten von Helix, Bulimus, Clausilia, und verschiedene z. T. sehr grosse Nackt- schnecken (Vaginulus), und kleinere Helis und Nacktschnecken werden sogar zu Zeiten in Gemüsegärten recht lästig. — ? Auf die persönlichen Angriffe Warmings hier näher einzugehen, verbietet mir der bei deutschen Botanikern übliche gute Ton. 42 F. Ludwig, Biologische Mitteilungen. 2. Apocynum hypericifolium. » Die eigentümliche Blüteneinrichtung und Insektenfalle von Apocynum hypericifolium, welche mit der im »Kosmos« VII, p. 182 ff. besprochenen bei Ap. androsaemifolium grosse Ähnlichkeit hat, habe ich im Botan. Centrbl. VII, Nr. 45 (zur Biologie der Apocyneen) beschrieben. Es ist bei dieser Art die Blumenkrone viel kleiner und unscheinbarer als bei Ap. androsaemifolium, der gewöhnlichen Fliegenfalle. Und während die letztere in den grossglockigen Blumen ein besonderes aus roten Strichen bestehendes Saftmal besitzt, hat sie eine schmutzig gelblichweisse Blüte ohne Saftmal und von widerlicherem Geruch. Eben dadurch sind aber gewisse Bestäuber der gewönlichen Fliegenfalle hier ausgeschlossen, ist der Besucherkreis ein engerer. Diese ausgewähltere Fliegengesellschaft stattet aber der Pflanze einen zum mindesten ebenso reichen Besuch ab, als er dem Ap. androsaemifolium zu teil wird, wie meine durch 3 Jahre fortgesetzte Beobachtung ergibt, und es werden die Blüten von ebenso zahlreichen, wenig blumenkundigen, thörichten, unberufenen Gästen auf- gesucht. So wurden z. B. am 7. Juli 1883 von früh bis Nachmittag 3 Uhr nicht weniger als S8 kleinere Syrphiden und Musciden (darunter besonders häufig Empis aestiva) in 56 Blüten gefangen und getötet (in einzelnen Blüten bis 5 kleine Fliegen). Bei der Kleinheit der Blüte und der Zartheit ihrer Teile würden die Blüten (eventuell auch die befruchteten) durch die Menge verwesender Fliegenkadaver offenbar zu Grunde gehen, wenn sie nicht eine weitere Eigentümlichkeit besässen, die wir fast als Schutzvorkehrung deuten möchten, dass sich die Blüten nämlich schliessen. Ich habe in vielen Fällen beobachtet, dass Fliegen, besonders grössere, bei dem festen Zusammenschluss der Blütenzipfel aus der Blüte herausgequetscht und entfernt wurden, und dies veranlasste mich im letzten Jahre, der Ursache des Schliessens nachzuspüren. Meine Beobachtungen wurden durch un- günstige Witterung so oft unterbrochen, dass ich ein völlig abgeschlossenes Resultat noch nicht erhielt. Einiges scheint mir aber aus diesen Beobach- tungen sicher hervorzugehen: dass das Schliessen zwar zuletzt nach 1 bis 2 Tagen auch ohne Zuthun der Insekten erfolgen kann (von 27 unter einem Netz befindlichen frischen ! Blüten vom 8. VII. 83 fingen einzelne erst am 10. VII. mittags an, sich zu schliessen, andere schienen offen zu welken), dass es aber gewöhnlich und oft unmittelbar nach dem ersten Aufblühen die Folge eines durch die gefangenen Fliegen verursachten Reizes ist. Einzelne Blüten scheinen trotz der gefangenen Insekten offen zu bleiben, andere sich nach Entledigung der Fliegen wieder zu öffnen, (so hatte sich u. a. eine am 8. VII. gekennzeichnete frisch geöffnete Blüte nach Fang dreier Fliegen geschlossen, am 9. VII. waren die vorher getöteten Fliegen entfernt und die Blüte öffnete sich wieder), noch andere nach einmaligem Schliessen infolge Fliegenfanges für immer geschlossen zu bleiben. Unabhängig ist das Schliessen der Blüten von Witterung und Tageszeit, wie unter dem Netz gehaltene Blüten bewiesen. Ob etwa auch die nur von berufenen Bestäubern besuchten Blüten nach erfolgter Befruchtung sich schliessen, konnte ich nicht beobachten, da meine zahl- ! Die älteren wurden sämtlich entfernt. F. Ludwig, Biologische Mitteilungen. 43 reichen von einem Wurzelstock abstammenden Pflanzen trotz des guten Insektenbesuchs nicht eine einzige Frucht ansetzten. Es dürfte hiernach auch Apocynum hypericifolium selbststeril sein, wie es Ap. androsaemi- folium ist. Abgesehen von der Reizbarkeit der Blüte, deren Bedeutung erst durch weitere Beobachtung festzustellen ist, fiel mir eine eigentümliche Abhängigkeit unserer Pflanze von anderen Blütenpflanzen auf. Während im Jahre 1881 (und auch 1883) zahlreiche Fliegen gefangen wurden, fand ich zu meinem Erstaunen 1882 in den ersten 2 bis 3 Wochen der Blütezeit keine einzige Fliege in den Blütenfallen. Dagegen wurden einige üppigblühende Stöcke von Ruta graveolens auf demselben Beet sehr eifrig von Fliegen besucht. Am 15. Juli wurden die Blütenstengel von Ruta (andere Pflanzen blühten nicht auf dem Beet) sämtlich abgeschnitten und entfernt. Hierauf wurden in den folgenden Tagen die Apocynum- Blüten von Fliegen besucht und z. B. an einem Stocke in den auf einander folgenden Tagen S, 7, 7, 5 etc. Fliegen gefangen. Die übrigen Ver- hältnisse waren vor und nach der Beseitigung von Ruta so gleichartig, dass es keinem Zweifel unterlag, dass Ruta graveolens ein Dysparaphyt von Apocymum hypericifolium ist. Zwischen beiden Pflanzen besteht eine ähnliche Konkurrenz in bezug auf die bestäubenden Insekten, wie sie Herm. MÜLLER für Geum rivale (Kosmos 1881, IX, p. 432) und Pulmonaria offieinalis (in »Befruchtung d. Bl.«) einer- und für Primula elatior anderseits erwähnt hat (Primula wird begierig von Hummeln besucht; sobald aber Geum rivale in der Nähe steht, gehen die Hummeln nur an diese Pflanze, und die Wiesenhummel, Bombus pratorum, lässt die Primeln ebenso unbeachtet, wenn das Lungenkraut daneben steht) oder wie sie von Doper-Porr zwischen der Feuerbohne und einer Anzahl anderer Pflanzen (Cerinthe major, Calendula offieinalis, Centaurea COyanus, Bidens Leucanthemum, Oichorium pumilum etc.) beobachtet wurde in bezug auf die zur Bestäubung der Bohnenblüten nötigen Hummeln. So lange die erwähnten Pflanzen im botanischen Garten in Zürich blühten, setzten die Bohnen daselbst keine Früchte an, während in anderen Gärten, und nach dem Verblühen jener Pflanzen auch im botanischen Garten, reichliche Bohnen gezogen wurden. 3. Campanula medium. Nach Derrıno wird diese Pflanze von Cetonien bestäubt, während H. MüLter als vorwiegende Besucher der Campanula-Arten die Bienen bezeichnet. Die Staubgefässe dieser Pflanze bilden wie die aller Glocken- blumen einen Hohlcylinder, der zuerst der Griffelbürste angedrückt ist und an diese den Blütenstaub abgibt, ehe sich die Narbenäste entfalten. Beim Aufblühen der weiten Blumenglocken sind dann meist die Staub- gefässe schon verschrumpft auf den Blütenboden zurückgesunken und es gehören eben jene grösseren Insekten dazu, um beim Besuch der Nektarien den Blütenstaub da abzustreifen, wo sie in älteren Blüten die empfängnisfähige Narbe antreffen. Kleinere Insekten, die an dem Griffel selbst hin und her kriechen, können auch im zweiten Stadium eine Selbstbestäubung vollziehen. Ein Schutzmittel gegen diese ungebetenen 44 Wissenschaftliche Rundschau. Gäste besitzt die Pflanze an den ausserordentlich klebrigen Narbenästen. Bei einer weissblühenden Campanula medium in meinem Garten wurde so viel Klebstoff abgesondert, dass der ganze Griffel für kleinere Insekten zur förmlichen Leimrute wurde und kaum ein einziges ungestraft aus der Blüte herausliess. Besonders eine winzige Fliege, die mir von Herrn Kowarz in Franzensbad als Empis aestiva Lwv. bestimmt wurde, — die auch dem Apocynum mit zum Opfer fiel — wurde in Unmenge gefangen. Von den untersuchten Blüten enthielten z. B. am 28. VI. 83 12 Blüten 29 Exemplare, am 1. VII. 15 Blüten 34, am 4. VII. 17 Blüten 23 Exemplare der genannten Art. Wissenschaftliche Rundschau. Anatomie. Zur Histologie der Nervenzentren. (Fortsetzung.) Gousı dehnte seine Untersuchungen auch auf die Histologie der Windungen des Kleinhirns aus. An einem vertikalen Schnitt lassen sich schon von blossem Auge durch die Verschiedenheit der Färbung drei Schichten beobachten, eine äussere grau-rötliche, eine mittlere stärker rote und eine innere weisse und blassrote. Dieselben drei Schichten sind auch von histologischem Standpunkte aus aufrecht zu halten. Die äussere nennt Gorcı die Molekularschicht, die mittlere die granulierte, die innere die Faserschicht. Viererlei histologische Elemente sind in der Molekularschicht zu erkennen. In erster Linie fallen bei der mikroskopischen Untersuchung grosse Nervenzellen, die Purkinjeschen Zellen auf. Sie sind rund- lich oder nierenförmig und mit Fortsätzen versehen. Die Behandlung derselben mit einer Mischung von Kaliumbichromat und Silbernitrat beweist die nervöse Natur eines der Fortsätze; die übrigen sind proto- plasmatisch. Der erstere verläuft nach der granulierten Schicht, die letzteren oft der Oberfläche fast parallel in der Molekularschicht selbst. Diese geben zahlreiche Zweige ab, die sich ihrerseits wieder verzweigen u.s. f. Die so entstehenden ausserordentlich feinen Verzweigungen setzen sich, ähnlich wie wir es früher schon sahen, mit dem Gewebe der Gefässwände in Verbindung oder auch mit den Bindegewebezellen der Randschicht. Zeigen diese Protoplasmafäden im allgemeinen die Tendenz, nach der Oberfläche sich zu wenden, so liess sich auch noch ein Verzweigungs- system dieser protoplasmatischen Fortsätze konstatieren, das sich sehr unregelmässig verzweigt und nach allen Richtungen hin den noch freien Wissenschaftliche Rundschau. 45 Raum ausfüllt. Ebensowenig wie in früheren Fällen liess die obengenannte Reaktion auf die Nervenelemente einen Zusammenhang solcher mit diesen Protoplasmafäden erkennen. Die Nervenverlängerung zeigte, wie bereits angedeutet wurde, einen andern Verlauf. Gorcı beobachtete, wie sie die Molekularschicht bald in gerader, bald in vielfach gewundener Linie durchzieht. Auch von den Nervenfortsätzen gehen Seitenzweige ab, die sich selbst wieder ver- zweigen. Besonders reichlich sind die Zweige während des Verlaufs durch die erste Hälfte der granulierten Schicht. Zahlreiche dieser Fasern biegen gegen die Oberfläche der Windungen zurück, dringen wieder in die Molekularschicht, aus der sie kamen, ein, um sich dort mit dem komplizierten Nervennetz zu vermischen. Kleine Zellen bilden das zweite histologische Element der Mole- kularschicht. Die angewandten Reaktionen lassen in ihnen ebenfalls Nervenzellen erkennen. Was ihre Zahl betrifft, so sind sie, auf den gleichen Raum verteilt, hier nur wenig spärlicher vorhanden als an der Grosshirnrinde. Sie sind in ihrem Vorkommen nicht etwa auf einen bestimmten Teil der Molekularschicht beschränkt, so dass also nicht nach dem Vorkommen und der Verteilung der histologischen Elemente die Molekularschicht wieder in besondere Zonen zu teilen wäre. Sie sind vielmehr durch deren ganze Dicke verbreitet, finden sich im Grunde der Schicht, wo die Purkinjeschen Zellen der Hauptsache nach liegen, ebensowohl wie gegen die Oberfläche zu, wo sie an die Bindegewebezellen grenzen. Ihr Durchmesser ist etwa 6—12 «. Sind sie auch meistens rundlich oder oval, so ist doch ihre Form keine durchaus bestimmte. Denn bisweilen sind sie auch kegelförmig oder spindelförmig. Sie haben 4—6 Verlängerungen, in selteneren Fällen auch mehr. Diese Fortsätze zeigen eine dichotomische Verzweigung. Ihrer Natur nach sind alle mit Ausnahme von einem protoplasmatisch. Nehmen sie in tiefer gelegenen Zellen ihren Ursprung, so richten sie sich gegen die Oberfläche und gelangen bisweilen bis in die obersten Teile. Die aus oberflächlich gelegenen Zellen entspringenden zeigen dagegen einen gerade umgekehrten Verlauf und gelangen so aus der Molekularschicht in die granulierte. Was den Ursprung der Nervenverlängerung betrifft, so lässt sich dafür keine bestimmte Regel aufstellen. Bald sehen wir sie an der Seite ‚des Zellkörpers abgehen, bald am unteren, bald am oberen Ende. 6—10 u nach ihrem Ursprung aus der Nervenzelle geben diese Fortsätze ausserordentlich feine Fäden ab, welche sich wieder teilen. So verliert also die Nervenverlängerung bald ihre Individualität und vermischt sich mit dem diffusen Nervenfasernetz. Doch steigt auch in einzelnen Fällen die Faser bis zu den Purkinjeschen Zellen abwärts, um sich henkelartig umzubiegen, und auf dem ganzen Verlauf gibt sie seitliche Fasern ab. Wieder in anderen Fällen bilden sie bizarre Krümmungen. Oft, nament- lich in den tieferen Lagen der Schicht, treten sie in horizontaler Richtung aus der Zelle aus und behalten diese Richtung lange während ihres Ver- laufes bei. Zahlreiche aufsteigende Fibrillen, die aus der granulierten Schicht hervorgehen, vereinigen sich in diesen Fällen mit ihnen. Bis- weilen endlich zerfallen sie fast unmittelbar nach ihrem Ursprung in 4, 46 Wissenschaftliche Rundschau. 5 oder 6 Fasern, die sich wieder verzweigen und nach der granulierten Schicht absteigend sich verlieren. Die Bindegewebesubstanz, teils Zellen, teils Fasern, bildet das dritte histologische Element der Molekularschicht. Die Fasern namentlich sind in reichlicher Menge vorhanden. Sie gehen z, T. aus einem Zellnetz hervor, welches die freie Oberfläche der Windungen be- deckt, und senden in das Innere der granulierten Schicht zahlreiche Fibrillen. Ein anderer Teil entspringt aus Bindegewebezellen, die in der oberflächlichen Zone der granulierten Schicht, z. T. auch etwas tiefer liegen. Zahlreich sind die Nervenfasern, das vierte Element dieser Schicht. Auch sie sind in ihrem Vorkommen durchaus nicht auf eine bestimmte Stelle begrenzt. Sie finden sich in der Tiefe und oberflächlich zahlreich. Auf ihr spezielleres Verhalten haben wir später einzutreten. Die mittlere Schicht nennt GoLcI, wie wir bereits sagten, die granulierte. Dieser schon von anderen Histologen gebrauchte Name stützt sich auf die Voraussetzung, dass Bindegewebezellen, die Granula, das für diese Schicht charakteristische Element seien. Erweisen nun auch Gotsıs Untersuchungen diese Voraussetzung vieler Histologen als nicht zutreffend, so liegt doch, da ja diese mittlere Schicht ein körniges Aussehen hat, kein Grund zur Änderung des Namens vor. Die histo- logischen Elemente sind denen der Molekularschicht analog: wir finden kleine Nervenzellen, die Granula, grosse Nervenzellen, Bindegewebesub- stanz und Nervenfasern. Behandelt man einen Schnitt mit der Mischung von Kaliumbichromat und Silbernitrat, so färben sich die Granula, die bisher der Binde- gewebesubstanz zugezählt wurden, schwarz, zeigen also die für Nerven- elemente charakteristische Reaktion. Es sind demnach »wahre Nerven- zellen<, aber die »kleinsten, welche sich in unserem Organismus finden«. Sie sind gewöhnlich rundlich und haben 3—6 Fortsätze. Auch hier ist einer nervöser Art. Derselbe ist durch seine ausserordentliche Feinheit ausgezeichnet. Eine genaue Verfolgung seines Verlaufs wird dadurch sehr erschwert. Immerhin ist für einzelne Fälle nachgewiesen, dass auch von ihm seitliche Fortsätze abgehen und dass er die Schicht vollkommen durchdringt, um sich mit Nervenfasern zu vereinigen. Die von den Granula abgehenden protoplasmatischen Fortsätze teilen sich dichotomisch. Bald jedoch lösen sich die einzelnen Fasern in einen Haufen feiner Körnchen auf. Die grossen Nervenzellen treten in zwei Formen auf. Sie sind spindelförmig oder rundlich bis polygonal. Die ersteren trifft man fast ausschliesslich im Kleinhirn des Menschen an. In ihrem Vorkommen sind sie hier jedoch nicht an einen bestimmten Ort dieser Schicht ge- bunden. Ihr Durchmesser beträgt 20 u. Die von der Zelle abgehende Nervenverlängerung löst sich in feine Fäden auf und verliert sich in dem sehr komplizierten Netze, das die Nervenfasern bilden. Die rundlichen Zellen sind vornehmlich an der peripheren Zone der Schicht zu beobachten und lassen sich selbst bis in die Höhe der Purkinjeschen Zellen verfolgen. Die zahlreichen protoplasmatischen Wissenschaftliche Rundschau. 47 Fortsätze sind gegen die freie Oberfläche gerichtet und dringen oft in die Molekularschicht ein, durchdringen diese bisweilen vollkommen. Nicht unmittelbar nach dem Abgang von der Zelle lassen sich an der Nerven- verlängerung Verzweigungen beobachten, sondern diese treten erst etwa 20—30 wu nach dem Ursprung auf. Das Verzweigungssystem ist hier komplizierter als an anderen Stellen. Es liess sich bisweilen beobachten, wie aus ihm ein Netz hervorging, welches in vertikaler Richtung die Schicht in ihrer ganzen Dicke durchdrang und in horizontaler die be- deutende Ausdehnung von 200 wu gewann. Die Bindegewebezellen treten hier in grösserer Zahl auf als in der Molekularschicht. Sie sind sternförmig und ihre Fortsätze gehen nach allen Richtungen, verzweigen sich vielfach und bilden so das Stütz- gewebe der Nervenelemente. Sie treten mit den Blutgefässen in innigere Verbindung. Von dem vierten Element können wir absehen, da dasselbe bei der näheren Darlegung der dritten Schicht wieder berührt werden muss. Die innere Schicht, welche auf dem Vertikalschnitt durch weisse oder blassrote Farbe ausgezeichnet ist, wird in der Hauptsache von Nervenfasern gebildet und nach diesen benannt. Neben diesen findet man, jedoch nur in ganz untergeordnetem Grade, Nervenzellen und Bindegewebefasern. Die Nervenfasern sind zum grössten Teil durch den hohen Grad ihrer Feinheit ausgezeichnet und stimmen in ihrem histologischen Charakter mit markhaltigen Nervenfasern überein. Ohne Anwendung stärkerer Vergrösserungen lässt sich in betreff des Verlaufs und der Beziehung zu den beiden besprochenen Schichten folgendes konstatieren: Die Nervenbündel der verschiedenen Markstrahlen treten fächerartig auseinander, sobald sie in die granulierte Schicht eindringen. Sie bilden so Interstitien, in welchen die Granula liegen. In ihrem Verlauf haben inzwischen viele Fasern ihre Markscheiden verloren; andere jedoch behalten sie bei bis in die Höhe der Purkinjeschen Zellen, dringen selbst ohne sie zu verlieren in die Molekularschicht ein, wo sie sich jedoch bald der Beobachtung entziehen. Die genaue Untersuchung lehrt nun allerdings, dass die Verhältnisse nicht so einfach liegen, wie sie die Vorprüfung anzudeuten schien. Durch zahlreich abgehende Zweige wird ein kompliziertes Verzweigungssystem gebildet. Es entsteht so ein derartiger Wirrwarr von Fasern, dass es ganz unmöglich ist, die einzelnen Fasern genau zu verfolgen. Soviel jedoch ist sicher, dass die zahlreichen Zweige, welche eine Faser während ihres Verlaufs durch die granulierte Schicht abgibt, zwischen den von einander entfernt liegenden Zellgruppen bestimmte Verbindungen her- stellen. Für andere Fasern liegen übrigens die Verhältnisse einfacher. Diese biegen aus dem Bündel, zu welchem sie gehören, ab und dringen in die granulierte Schicht ein. Ihre Richtung ist nicht die unregelmässige der Mehrzahl der übrigen Fasern. Sie behalten vielmehr genau die Richtung nach der Molekularschicht bei und geben in ihrem Verlauf auch nur wenig Fasern ab. 48 Wissenschaftliche Rundschau. Es gibt also zwei Kategorien von Nervenfasern: 1) sehr kompliziert sich verzweigende, die ein wirres Fasernetz bilden, und 2) solche, die direkt von ihrem Ursprung nach ihrem Bestimmungsort verlaufen. In der Grenzzone zwischen der granulierten Schicht und der äussern Rindenschicht bildet sich ebenfalls ein eigentliches Wirrnis von Fasern, die bald zu Bündeln vereint sind, bald isoliert, bald von ganz besonderer Feinheit, bald von relativ bedeutender Stärke. In vielfachen Windungen verlaufen sie und umschliessen häufig netzartig die Zellkörper der Purkinjeschen Zellen. In reichlicher Zahl gehen Zweige von ihnen ab und dringen in die Molekularschicht ein. Dort setzen sie sich mit horizontal verlaufenden Fasern in Verbindung oder sie biegen um und nehmen nun selbst einen horizontalen Verlauf an. Die Gesamtheit dieser Fasern tritt dann endlich in Verbindung mit dem Fasernetz der Molekularschicht. Die Fasern, welche diesen Plexus bilden, gehen aus der granulierten Schicht und zum kleinern Teil aus den Purkinjeschen Zellen hervor. In verschiedenen Fällen beobachtete Gousı die Vereinigung dieser Fasern mit solchen andern Ursprungs. Ebenso war der Zusammenhang der Fibrillen und des Nervenfasergeflechtes mit den kleinen Zellen der Molekularschicht oder dann umgekehrt der Fäden, welche aus der Teilung der Nervenverlängerung dieser Zellen entstehen, mit den zum Plexus gehörigen nachweisbar. So nehmen also dreierlei Fasern an der Bildung dieses Geflechtes teil, 1) Fasern, die aus den Markstrahlen kommen, 2) solche, die aus der Nervenverlängerung der Purkinjeschen Zellen hervorgehen, 3) die Nervenverlängerungen der kleinen Zellen der Molekularschicht. Die tiefere Zone besteht hauptsächlich aus starken Fasern mit horizontalem Verlauf, die oberflächliche aus feinen unregelmässig verlaufenden. Fragen wir nach den Beziehungen zwischen den Nervenzellen und Nervenfasern in den Windungen des Kleinhirns, so muss man sich daran erinnern, dass man nach der Form der nervösen Verlängerung die viererlei Zellen, die wir unterscheiden konnten, die Purkinjeschen, diekleinen Zellen der Molekularschicht, die Granula und die grossen Zellendergranulierten Schicht, in zwei Gruppen bringen kann. Denn die Nervenverlängerung der Purkinjeschen Zellen ist von denen der anderen Zellkategorien dadurch verschieden, dass sie in ihrem Verlauf ihre Individualität beibehält, wenn schon auch von ihr seitliche Zweige abgehen, und dass sie direkt eine Faser der Markstrahlen bildet. Dieses verschiedene Verhalten der Zellen bezw. ihrer Nervenver- längerung steht zweifellos mit der physiologischen Differenz in Verbindung. Goucı hält dafür, dass die Zellen, welche sich direkt mit Fasern in Verbindung setzen, als dieOrgane der Motilität aufzufassen sind, die anderen als solche der Sensibilität. Diese zwei Organsysteme werden aber durch das Nervennetz mit einander in Beziehung gebracht. In einem V. Artikel wird uns das Resultat der histologischen Unter- suchung des »grossen Seepferdefusses«, pes hippocampi major sive cornu ammonis, dargelegt. Wissenschaftliche Rundschau. 49 Zum Verständnis des folgenden ist eine anatomische Orientierung dieses Hirnteiles notwendig. Die Anatomen verstehen unter dem Ammons- horn einen Wulst in den seitlichen Hirnhöhlen. Derselbe wird dadurch gebildet, dass die äussere Hirnsubstanz in das Innere der ventriculi laterales einstülpt, indem die Windung des Hippocampus in der Wandung des absteigenden Hornes umbiegt. Gegen die Mittellinie hin ist dieser Wulst konkav. Dieser innere Teil ist mit einem 3seitigen, scharfen Rand, dem Saum (fimbria sive taenia hippocampi) versehen, einer Fortsetzung deshintern Schenkels des Gewölbes. Mit dem Namen subiculum eornu ammonis bezeichnet man denjenigen Teil der Seepferdefusswindung, welcher sich direkt in das Ammonshorn fortsetzt. Die Fortsetzung der Rindenschicht des subiculum nennt man das stratum convolutum. Die Gewölbewindung, der gyrus fornicatus, richtet sich von dem Punkte, wo sie um den Balkenwulst herumbiegt, abwärts und führt den Namen Seepferdefusswindung. Bis zum uncus ist die ganze Oberfläche mit einem zarten Netz weisser Substanz, der substantia reticularis alba, bedeckt. Auf einem Schnitte durch das Ammonshorn sieht man in Form einer weissen Linie die sog. Jamina medullaris circonvoluta. Sie liegt zwischen der grauen Schicht, welche in das subiculum übergeht, und der grauen Substanz der gezähnten Leiste (fascia dentata). Mit diesem Namen bezeichnet man eine Lamelle grauer Substanz, an deren Oberfläche eine Reihe von Vertiefungen zu beobachten sind. Sie geht aus der untern Oberfläche des Balkens hervor, etwas unterhalb des Wulstes, tritt tief in die Rinne ein, welche durch die Falte der See- pferdefusswindung gebildet wird, und endet in der Höhe des uncus. Mulde (alveus) nennt man die aus weisser Substanz bestehende Schicht, welche die ganze ventrikulare Oberfläche des Ammonshornes bedeckt. Dieses Geflecht von Nervenfasern vereinigt sich zu dem Mark- strang, welcher die ganze innere Seite des grossen Seepferdefusses begrenzt, zu der fimbria, welche dann, wie wir bereits sagten, einen Teil des Gewölbes bildet. Folgendes ist nunmehr das Resultat der einlässlichen histologischen Untersuchungen dieses bis dahin noch ziemlich wenig erforschten Hirn- teiles. Den bisherigen Darstellungen zufolge, die sich in der Hauptsache auf eine Untersuchung von KurrrEr, »>de cornu ammonis textura« und eine solche Mryserts, »der Bau der Grosshirnrinde und seine örtlichen Verschiedenheiten nebst einem pathologisch-anatomischen Corollarium«, stützen, musste man sich die histologischen Verhältnisse des grossen See- pferdefusses ungleich komplizierter denken als die anderer Hirnteile. GovcI hat nun freilich dargethan, dass die Komplikationen mehr in der Art der Darstellung, als im Wesen des Organes liegen. Die Einteilung in zahlreiche Schichten dürfte, da sie zumeist nur auf sekundäre Unter- schiede und nicht auf wesentliche histologische Differenzen sich stützt, kaum begründet sein. Gosı fasst, wesentlich auf seine histologischen Untersuchungen sich stützend, das Ammonshorn nicht einfach als eine Umbiegung einer Windung auf, glaubt vielmehr, dass deren zwei an seiner Bildung teil- Kosmos 1884, I. Bd. (VII, Jahrgang, Bd. XIV), 4 50 Wissenschaftliche Rundschau. nehmen, die durch ganz wesentliche Strukturverhältnisse von einander abweichen. So lassen sich also 4 Schichten unterscheiden, zwei, die aus grauer Substanz bestehen, die jeder Hirnwindung zukommen, und zwei Faserschichten, die hier wie überall aus den Zellen entspringen, welche in der grauen Substanz zerstreut liegen. Dabei darf man nun allerdings nicht vergessen, dass, wie wir schon mehrfach sagten, die Schichten um- biegen, wodurch natürlich ihre Zahl vermehrt wird, indem die gleichen Schichten sich wiederholen. Folgendes sind nach Gorsı diese 4 Schichten: 1) Die Markumkleidung an der Seite der ventriculi late- rales (alveus). Diese Schicht steht mit dem Gewölbe und der weissen Substanz der Seepferdefusswindung in Zusammenhang. 2) Die graue Schicht des stratum convolutum. Dieselbe ist die Fortsetzung der Rinde der Seepferdefusswindung oder des subi- culum des Ammonshornes. 3) Das die äussere Oberfläche der vorigen Schicht be- grenzende Fasergewebe. Sie ist die Fortsetzung der substantia reticularis alba der Seepferdefusswindung, die hier den Namen lamina medullaris circonvoluta führt. 4) Die graue Schicht, welche die fascia dentata bildet. Sie ist die Fortsetzung des Streifens grauer Substanz, welcher sich längs der Medianlinie des Balkens hinzieht. Von rein histologischen Momenten ausgehend, benennt GoLcı diese Schichten 1) innere Nervenfaserschicht oder alveus, 2) Schicht der grossen Nervenzellen oder stratum convolutum, 3) äussere Nerven- faserschicht oder lamina medullaris circonvoluta, 4) Schicht der kleinen Nervenzellen oder fascia dentata. Sehen wir von der durch die Faltung verursachten Komplikation ab, so können bisweilen die histologischen Verhältnisse dadurch ver- wickelter erscheinen, dass die einzelnen Schichten nicht selten in ver- schiedenen Teilen Ungleichheiten ihres Aussehens zeigen, Ungleichheiten, die allerdings durch mehr nebensächliche Dinge veranlasst werden. Die mehr oder weniger dichte Lage der Zellen, die ungleiche Zahl der Binde- gewebselemente u. s. f. können natürlich leicht solche äusserliche Ver- schiedenheiten bedingen. Sobald aber die Strukturveränderungen nicht wesentlicher Art sind, sagt Goucı, und das mit vollstem Rechte, liegt kein Grund vor, die einzelnen Schichtenteile als besondere Schichten aufzufassen und dadurch die Sache unnatürlich zu komplizieren. Gorsıs Untersuchungen basieren auf dem Studium des grossen See- pferdefusses einer Anzahl von Säugetierhirnen und dem menschlichen. Die nachfolgenden Erörterungen beziehen sich speziell auf die Verhält- nisse des Kaninchenhirns, an welchem das Ammonshorn einen hohen Grad der Entwickelung zeigt. 1) Innere Schicht oder alveus. Entgegen den Angaben von Kurrrer gibt GowLsı an — und die verfeinerte Untersuchungsmethode dieses Forschers lässt den Zweifel an seinen Angaben unbegründet er- scheinen — dass diese Schicht mit der grauen Schicht, auf welcher sie liegt, durch zahlreiche Fasern in Verbindung steht. Zahlreiche Nerven- Wissenschaftliche Rundschau. 51 fasern treten in schiefer Richtung aus dieser Schicht aus und setzen sich mit den Nervenfortsätzen der Zellen der grauen Schicht in Ver- bindung oder mit den Fasern, die dem Verzweigungssystem dieser Fort- sätze angehören. So wird die innere Schicht von Fasern gebildet, welche direkt aus den Zellen der inneren grauen Schicht hervorgehen, zweitens von Fasern, welche indirekt in den gleichen Zellen ihren Ursprung haben, welche also aus dem diffusen Netz hervorgehen, das durch die Verzweigung der Nervenfortsätze entsteht. Dazu kommen dann noch Fasern, die sich auf die graue Substanz der Seepferdefusswindung zurückführen lassen. Diese Schicht zeigt nun folgenden feinern Bau: Eine sehr grosse Zahl markhaltiger, meist dünner Fasern bildet dieselbe. In ihrem Innern begegnet man da und dort isolierten Zellen verschiedener Form, ovalen, spindelförmigen, polygonalen und ganz unregelmässigen, die in vielen Fällen mit Protoplasmafortsätzen versehen sind. Auch die einzige Nerven- verlängerung ist zu beobachten. Diese verzweigt sich dann nicht selten. 'Govsı hält diese Zellen für embryonale Überreste, die ausserhalb der regelmässigen Zellreihe blieben, die man in der darunter liegenden grauen Schicht beobachten kann, die aber, sowohl was ihren histologischen Charakter als ihre Beziehung zu anderen Elementen betrifft, wie diese sich verhalten. Die ventrikulare Oberfläche dieser Schicht ist von einem Epithel bedeckt. Von den Zellen desselben gehen nicht, wie man bisher be- schrieb, eine, sondern mehrere dicke und sich verzweigende Fortsätze ab, die in die Schicht eindringen. Zum Teil inserieren sie sich an den Gefässwänden, zum Teil verlieren sie sich in grosser Entfernung von ihrem Ursprung, ohne dass man ihr Ende genau bestimmen könnte. Unter diesem Epithel liegt eine Bindegewebeschicht, die aus sternförmigen Zellen besteht. Die Fortsätze derselben setzen sich mit den Wänden der Blutgefässe .in Verbindung. 2) Schicht der grossen Zellen oder stratum convolutum. Die meisten Zellen dieser Schicht sind Modifikationen der pyramiden- förmigen Zellen der Rinde der Seepferdefusswindung, als deren Fort- setzung wir ja schon früher diese Schicht kennen lernten. Diese Modi- fikationen beziehen sich in erster Linie auf die Lagerung. Während nämlich in der Windung die Zellen ziemlich gleichförmig durch die ganze Rindenschicht verteilt sind, häufen sie sich beim Übergang ins Ammons- horn allmählich in einer begrenzten Zone an der Peripherie der Schicht an. Mit überraschender Regelmässigkeit ordnen sie sich zu einer, bis- weilen auch wohl zu zwei oder drei Reihen an. Diese Beschränkung auf eine bestimmte engumgrenzte Zone ist jedoch nach Gorcı nur bei Tieren mit relativ wenig voluminösem Gehirn zu beobachten (Kaninchen, Meerschweinchen, Katze u. s. f.). Bei grösseren Organismen (Hund, Rind, Schaf, Pferd u. s. f., ebenso beim Menschen) beobachtet man nicht diese auffallend regelmässige Anordnung. Betreffend die Modifikationen der Form ist zu beobachten, dass die Pyramidenform allmählich zu einer ovalen oder Spindelform wird. Die Fortsätze gehen gewöhnlich von der ursprünglichen Pyramidenbasis 52 Wissenschaftliche Rundschau. ab. Der Querdurchmesser der Zellen schwankt zwischen 15—350 u. In der Länge entsprechen sie meistens der Dicke der Schicht. Welches auch die Form des Zellenkörpers sei, immer sieht man von ihm aus gegen die äussere Oberfläche des stratum convolutum einen starken Fortsatz abgehen. Bald teilt er sich in 2 oder 3 Zweige. Diese selbst verzweigen sich weiter und werden gegen die Grenze der Schicht ausserordentlich fein. In einzelnen Fällen bleibt dieser Fortsatz lange fast gleich breit. Erst spät gehen in diesem Fall sekundäre Fäden von ihm aus. Nach der ventrikularen Seite zu geben die Zellen ein ganzes. Fadenbüschel ab. Die einzelnen Fäden verzweigen sich dichotomisch und dringen in die hinter den Zellkörpern gelegene Zone ein, um schliess- lich das unter dem Epithel gelegene Bindegewebe zu erreichen. Auf den ersten Blick ist unter diesen Fortsätzen der nervöse zu erkennen, ob- gleich er durchaus nicht immer aus dem gleichen Teil der Zelle abgeht. In der Mehrzahl der Fälle entspringt er an dem gegen die innere Mark- schicht gerichteten Teil der Zellen mitten in dem Pinsel der protoplasma- tischen Fortsätze. Doch geht er gelegentlich auch an der Seite des Zellkörpers ab, in seltenen Fällen sogar von dem entgegengesetzten Ende. In den beiden letzten Fällen biegt er fast unmittelbar nach sei- nem Ursprung um und verbindet sich mit der Faserschicht des alveus. 10—20 u entfernt gehen von dem Nervenfortsatz sekundäre Fäden ab, die sich in komplizierter Weise verzweigen. Geht er aus dem äussern Zellenende hervor, so treten die Verzweigungen zum Teil in die Faser- schicht ein, zum Teil bleiben sie in der grauen Schicht. Geht er, wie es zumeist geschieht, aus dem äussern Zellende hervor, dann biegen seine Zweige in die graue Schicht um. So nehmen also alle Nervenfortsätze an der Bildung des diffusen Netzes des stratum convolutum Anteil. Die protoplasmatischen Fortsätze, die pinselartig am innern Ende des Zellkörpers abgehen, setzen sich mit den Bindegewebezellen des Ependyms in Verbindung und mit denen, die zerstreut in der korrespondierenden Schicht der Nervenfasern liegen. Die auf der entgegengesetzten Seite abgehenden durchdringen die graue Schicht und bilden so das stratum radiatum der Autoren. Sie teilen sich dann nahe dem äussern Ende der Schicht in feinere Zweige, die zum Teil an die zahlreichen Bindegewebselemente der Grenzzone, zum Teil an diejenigen der Faserschicht gehen. Wegen der reichlichen Bindegewebselemente, der grössern Zahl der Gefässe und dem Wirrwarr der feiner gewordenen protoplasmatischen Fortsätze hat das äussere Viertel der Schicht ein etwas anderes Aus- sehen als der übrige Teil, so dass sich für diesen Teil, ohne dass man jedoch mit dem Namen einen wesentlichen Unterschied andeuten will, die Bezeichnung Bindegewebezone rechtfertigt. 3) Äussere Nervenfaserschicht oder lamina medul- laris circonvoluta. Wie durch den Namen angedeutet wird, be- steht diese Schicht der Hauptsache nach aus markhaltigen Fasern, die der äussern Oberfläche der Schicht der grossen Zellen parallel laufen. Nervenzellen fehlen vollständig. (MEYNERT spricht von der Anwesenheit spindelförmiger Zellen.) Wissenschaftliche Rundschau. 53 Dieses Fasernetz ist mit dem stratum convolutum sehr innig ver- bunden. Transversalschnitte durch den grossen Seepferdefuss zeigen, dass es sich längs der Furche, welche das stratum convolutum von der fascia dentata trennt, hinzieht. Allmählich werden die Fasern dieses Netzes feiner, weil die Fibrillen ihre Bündel verlassen. Schliesslich ver- lieren sie sich in der grauen Schicht. Der Rest dringt in den Raum ein, welcher durch die zwei Zweige der fascia dentata begrenzt wird. Dort zerstreut er sich zwischen den unregelmässig liegenden Zellen, welche noch zum stratum convolutum gehören. 4) Schicht der kleinen Zellen oder fascia dentata. Mit diesem Namen bezeichnet GoLscı das, was von andern Autoren als Molekularschicht und granulierte Schicht beschrieben wurde. Die Nervenzellen, die wir in dieser Schicht treffen, sind fast aus- aahmslos rundlich oder oval. Ihr Breitendurchmesser schwankt zwischen 10—20 u, der Längsdurchmesser zwischen 15—30 w. Mit ihren Proto- plasmafortsätzen nehmen sie die ganze Dicke der Schicht ein. Die Zell- körper sind regelmässig angeordnet und finden sich wieder in einer eng umgrenzten Zone. Da bilden sie eine oder auch 2—3, in seltenen Fällen auch 4 Reihen. Doch nicht alle Kerne, die man in dieser Schicht be- obachtet, gehören Nervenzellen an. Wie die Reaktionen beweisen, ist ein Teil auch Bindegewebe. Sehr charakteristisch ist die Art, wie die Fortsätze abgehen. An einer Seite sieht man zahlreichere, 2—6, Fortsätze entspringen, es sind die protoplasmatischen, an der andern nur einen, den Nervenfortsatz. Die protoplasmatischen verlaufen gegen das stratum convolutum. Sie teilen sich dichotomisch, durchdringen die Schicht der kleinen Nervenzellen und enden an ihrer Grenze da, wo sie an das strat. convolutum anstösst, ebenso aber auch an ihrem freien Teil. Der Nerven- fortsatz dagegen verläuft nach der entgegengesetzten Seite und dringt in den Teil des stratum convolutum ein, welcher umbiegt, um den durch die fascia dentata begrenzten Raum einzunehmen. Die Nervenverlängerung entspringt aus dem vom stratum convo- lutum entfernten Pol und geht direkt oder etwas schief verlaufend in die Grenzzone dieser Schicht. 25—350 u nach seinem Ursprung gibt er sehr feine Seitenfäden ab, die sich wieder verzweigen, ein wirres Netz bilden und vielleicht mit solchen Fäden, die von andern Fortsätzen ab- gehen, anastomosieren, so dass auf diesem Wege ein sehr kompliziertes Netz von ungefähr 50—60 u Dicke entsteht.‘ Dennoch lassen sich die einzelnen Fäden oft ein beträchtliches Stück weit in dieses Fasergewebe hinein verfolgen. Bisweilen lässt sich sogar deren Zusammenhang mit Fasern der fimbria oder des alveus konstatieren. In andern Fällen scheint er sich allerdings in dem genannten Fasernetz zu verlieren. So bestehen also, um die angegebenen histologischen Verhältnisse nochmals kurz zusammenzufassen, folgende Beziehungen zwischen den Fasern und Zellen des grossen Seepferdefusses: 1) Die Nervenfasern, welche das äussere Fasernetz, die lamina medullaris circonvoluta bilden, entspringen in der Rindensubstanz der Seepferdefusswindung des subiculum und des stratum convolutum. 54 Wissenschaftliche Rundschau. 2) Sie setzen sich nicht direkt mit den Zellen in Verbind- ung, sondern indirekt durch das diffuse Netz, welches teils durch die Teilung dieser Fasern selbst, teils durch die Nerven- fortsätze der Zellen der grauen Schicht gebildet wird. 3) Die Fasern des alveus und der fimbria gehen direkt aus den Zellen des stratum convolutum, die in regelmässigen Reihen angeordnet sind, hervor. 4) Zum Teil entspringen diese Fasern auch ausden kleinen Zellen der fascia dentata. Daraus geht also hervor, dass der isolierte Verlauf jeder Fiber zu einer korrespondierenden Zelle nicht angenommen werden darf. Im Gegen- teil ist es ganz augenscheinlich, dass in der grauen Substanz die Nerven- fasern unter sich zahlreiche Kommunikationen eingehen, bevor sie zu den Zellen gelangen, dass jede Faser zweifellos sich mit mehreren Zellen in Verbindung setzt, mit Zellen, die weit auseinanderliegen können, dass man endlich, weil ja immerhin eine grosse Zahl von Nervenfortsätzen ihre Individualität bis in die Faserschicht beibehält, die Existenz einer Hauptleitung zwischen bestimmten Zellen oder Zellgruppen und be- stimmten peripheren Regionen annehmen muss. Die histologische Anordnung dürfte folgende physiologische Schluss- folgerungen gestatten: Die Fibern der lamina circonvoluta, die sich in dem diffusen Nervenfasernetz verlieren, dürften der sensitiven Sphäre an- gehören, während die Fasern des alveus und der fimbria, deren direkte Kommunikation mit den Zellen des stratum convolutum und der fascia dentata erkennbar ist, zu der motorischen oder psychomotorischen Sphäre zu zählen wären. Winterthur. Dr. RoBERT KELLER. Ethnologie. 1. Graf Geza Kuun über die Urbevölkerung Siebenbürgens und die Religion der Agathyrsen*. Während Heropor behauptet, dass die Agathyrsen, die ältesten Bewohner Siebenbürgens, Überfluss an Gold besassen, hat Fräulein Soruıs von TormA bis jetzt keinen Gegenstand aus Gold oder Silber in den alten Ansiedelungsstätten an der Marosch gefunden. Graf Kuun macht indessen darauf aufmerksam, dass Mykenae von Hour, Od. II. 305 veich an Gold (2040x0voog) genannt wird, während ScHLısmann nach- gewiesen hat, dass Gold einzig und allein nur in den Königsgräbern Mykenaes gefunden wurde. Wenn einmal die Gräber der Könige der Agathyrsen entdeckt sein werden, so wird man in diesen auch Gold und andere Kostbarkeiten finden. Ich stimme mit Herrn Grafen Kuun vollständig überein, wenn er die Agathyrsen für einen thrakischen Stamm hält, und ich glaube, dass Agathyrsoi nur der ältere Name * Nuova Antologia di scienze etc. 2. ser. XXI. p. 554 u. f. Wissenschaftliche Rundschau. 5 (SR der Dacier sei, die ja gleichfalls thrakischen Ursprungs waren. HERODOT IV, 19 _ verbindet die Agathyrsen mit den Neuren, in welchen ich gleich SaraRık und Grafen Kuun ein slavisches Volk vermute (noch jetzt haftet dieser Name in denselben Gegenden, polnisch >ziemia nurska«). In dieser Hinsicht wäre die Entdeckung MÜLLENHOFFs in einem Artikel der Eneyklopädie von Ersc# und GRUBER recht interessant, dass in der Sprache der Urbewohner Transsylvaniens ähnliche Nasallaute wie die polnischen a und c vorkamen. Den Beweis suchte er aus Orts- und Völkernamen des alten Daciens zu führen. Ich glaube indessen, dass hier zwei analoge, aber von einander ganz und gar unabhängige sprach- liche Erscheinungen vorliegen. Die polnischen Nasallaute haben sich erst nach der Abtrennung von den übrigen Slaven durch Abwerfung der Konsonanten m und n gebildet (vergl. Mavxckı, Gramatyka jezyka pols- kiego mniejsza — Lwöw 1872, p. 4) und in der Epoche, von welcher hier die Rede ist, dürften die einzelnen slavischen Sprachen sich kaum bereits ausgebildet haben. Die Entscheidung über die letztere Frage überlasse ich indessen kompetenten Slavisten. Was die Religion der Agathyrsen anbetrifft, so weist Graf Kuun auf eine merkwürdige Stelle bei Hrropor IV, 119 hin, die, mit den archäologischen Funden des Fräulein vov Torma in Zusammenhang gebracht, ein Licht auf die Religion dieses alten Volkes wirft. Es heisst dort, dass die Skythen während des Krieges mit den Persern die Könige der benachbarten Völker zu einer feierlichen Ver- sammlung eingeladen hätten, um ein Bündnis gegen den gemeinsamen Feind zu schliessen. Die Agathyrsen und Neuren machten die Skythen darauf aufmerksam, dass sie die Perser früher angegriffen hätten, und verwiesen sie auf die Strafe Gottes. Graf Kuux schliesst hieraus, dass den Agathyrsen die Idee einer Gottheit, welche die Schicksale der Völker lenkt, bekannt war. Graf Kuun bemerkt ferner, dass Fräulein Sornız von TormA ein Skelett einer sitzenden, mit dem Gesicht gegen Osten gewendeten Frau gefunden hat. Es scheint, dass die Agathyrsen als ihren höchsten Gott die Sonne verehrten. Man findet das Bild der Sonne auf einer grossen Zahl von Thonscherben und Vasen. Ähnliche Gegenstände wurden in Troja gefunden. Das Kreuz scheint ein Symbol zu sein, welches die Sonne mit den nach den vier Weltgegenden ausgehenden Strahlen darstellen soll. Das Wort »suasti« *, von welchem >suastica« abgeleitet ist, bedeutet Glück, Wohlstand, und im Persischen bedeutet hör: 1. Sonne, 2. Glück. Fräulein von TormA erwähnt einen Herd und eine Hütte, die oberhalb eines Grabes errichtet waren, um die Ruhe des Toten besser , sichern zu können, woraus Graf Kuun den Schluss zieht, dass der Glaube an die Unsterblichkeit den Agathyrsen gleichfalls nicht fremd war. Er macht überdies noch auf die Ähnlichkeit einzelner Funde aus Tordos (Siebenbürgen) mit denjenigen aus Mykenae aufmerksam. Graz. Dr. FLIGIER. * So benannte bekanntlich Schliemann die Kreuzeszeichen auf den troja- nischen Funden. 56 Wissenschaftliche Rundschau. 2. Die Abstammung der Tiroler. Als die erste historische und jedenfalls prähistorische Bevölkerung Tirols können unzweifelhaft die Rätier betrachtet werden. Diese Rätier wurden durch die römische Eroberung mehr oder weniger oder auch gar nicht vermischt, aber in Sprache und Kultur jedenfalls im Laufe der Jahrhunderte ganz romanisiett. Diese Räto-Romanen bilden noch heute den quantitativ überwiegenden Grundstock des tiroler Volkes, welchem die germanischen Elemente in verschiedenen Mengen beigemischt sind. Nur ein kleiner Teil dieser alten fast oder ganz romanisierten Rätier hat sich in den abgelegenen Thälern um die übergletscherte Marmolada-Spitze und im Münsterthale und in der Nähe des Ortlers in wahrscheinlich urrätisch physischer Beschaffenheit bis auf den heutigen Tag erhalten — es sind die Ladiner. Die weit überwiegende Mehr- zahl der Räto-Romanen wurde germanisiert oder italianisiert. Es ist merkwürdig, dass die deutsch-tirolischen Köpfe und Schädel am wenigsten den germanischen Typus zeigen, dass aber, je tiefer man nach Wälsch- tirol geht, die Köpfe und Schädel desto germanischer werden. Dieses überraschende Resultat verdanken wir einem umfangreichen Werke »Stu- dien zur Anthropologie Tirols und der Sette Comuni von Dr. Fraxz Tar- PEINER, Innsbruck 1885«. Der in Kurkreisen in Meran wohlbekannte Arzt Dr. Tarpeıner hat das Verdienst, seit 1878 anthropologische Reisen durch die Hauptthäler des Landes unternommen, sie auch auf die deutschen Enklaven, die im Vicentinischen zwischen der Brenta und dem Astico gelegen sind, ausgedehnt und im ganzen die Messung von 4935 Schädeln und 3185 Köpfen vorgenommen zu haben. Unter den Ladinern allein hat er 441 Schädel und 351 Köpfe gemessen. Darunter befindet sich kein einziger Dolichokephale, die Zahl der Mesokephalen beläuft sich auf 13,5 °/o, der Brachykephalen auf 47,9 °/o, der Hyperbrachykephalen da- gegen auf 38,6/o. Die Schädel der Ladiner sind daher vorwiegend kurz und hoch. Ein vorrömischer, mit der Certosa-Fibel gefundener Schädel war gleichfalls hyperbrachykephal, woraus man vielleicht den Schluss ziehen kann, dass die alten Rätier hyperbrachykephal waren. Nach- dem Dr. Tarreıner den definitiven Beweis geführt, dass die Rätier sowohl von den Etruskern wie den Kelten verschieden waren, weist er auf die grösste Ähnlichkeit der tirolischen Ladiner-Schädel mit den Abbildungen der brachykephalen Schädel des südlichen Baden und Württemberg, welche Ecker und v. HöLper veröffentlicht haben, hin. Bei der Betrachtung dieser Eckerschen Schwarzwälder und Hölderschen Württemberger Schädel sprang ihm die überraschende Ähnlichkeit der- selben mit den tirolischen Ladiner-Schädeln so augenfällig hervor, dass er diese Abbildungen als naturgemässe Porträts der Ladiner-Schädel an- sehen konnte. Wer waren dieses vor der römischen Herrschaft und während derselben in dem Gebiete zwischen Donau und Alpen, östlich vom Rhein alt-ansässige Volk, in dem die alten Alemannen und Sueven zum grösseren Teile aufgegangen sind? Ecker spricht sich nicht bestimmt aus, dagegen bezeichnet Raukr diese Brachykephalen als Nachkommen Zu =] Wissenschaftliche Rundschau. der römischen Provinzialen. Diese Provinzialen waren aber ein von kel- tischen Stämmen überschichtetes rätisches Volk. Da die tirolischen Ladiner und ihre Urahnen, die Rätier, nach Tarrrıser kraniologisch zu demselben Volke gehören, so kann man wohl mit Dr. Tarreıwer auf die rätische Natur der Urbewohner Süddeutschlands schliessen. Nach den Berichten des Lıvıus, Justınus und STEPHAN von Byzanz sollen die Rätier eine der Etruskischen verwandte Sprache gesprochen haben. Die Etrusker waren keine Indoeuropäer, folglich auch die Rätier nicht. Dieser uralte rätische Typus ist noch heute bei der deutsch sprech- enden Bevölkerung Tirols der vorherrschende. Die Gruppe Ultenthal- Tisens steht kraniologisch den Ladinern am nächsten. Die Eisack- thaler sind geographisch die nächsten Nachbarn der Ladiner, da das Grödenthal ein Seitenthal des Eisackthales bildet; aber anthropologisch sind sie schon verschieden von den Ladinern. In Hinsicht der Farbe der Haare und Augen sind die Eisackthaler heller, d. h. germanischer ‚als die Ladiner; dagegen ist ihre Kopfbildung entschieden ungermanisch, indem sie an Brachykephalie die Ladiner noch übertreffen, ein Rätsel, das sich Dr. TArreıner nicht erklären kann. Auch die Westpuster- thaler sind noch brachykephaler als die Ladiner. Die Westpuster- thaler sind nach Tarrzeıner eine Mischung von Räto-Romanen, Römern und eingewanderten Bajuwaren. Der Typus der Deutsch- Nonsberger gleicht dagegen vollständig dem der benachbarten Ulten- Tilsener. Dieselbe sind somit ziemlich reine Räto-Romanen. Auf der höchsten Stufe.der Brachykephalie stehen die Passeyrer, obwohl man dieselben lange Zeit für Nachkommen der Ostgoten gehalten hat, die wir uns nach Analogie der übrigen germanischen Stämme der Völker- wanderungszeit als dolichokephal vorstellen müssen. Es sei hier noch be- merkt, dass die erwähnten Deutsch-Nonsberger mit so auffallend ladinischem Typus nach der Sage als Nachkommen aus Sachsen einge- wanderter Bergknappen gelten. Der kraniologische Typus der Lechthaler ist noch kurzköpfiger als der der Ladiner; aber ihr physisches Aus- sehen ist germanischer. TArpzıner bezeichnet sie als eine Mischung von Räto-Romanen und Alemannen. Jedem, der die Bewohner des Burggrafenamtes an Sonn- und Festtagen in grösseren Massen beisammen sieht, fällt das urdeutsche Aussehen und Wesen derselben auf, so dass selbst Lupwıc Streu und Feuıx Dann in ihnen die Nachkommen der edlen Ostgoten zu erkennen glaubten. Nach den exakten Forschungen TAprEıners sind diese eben germanisierte Räto-Romanen mit relativ ge- ringer germanischer Beimischung. Die Wippthaler sind dagegen mit etwas mehr germanischen Elementen versetzt. Auch die Untervintsch- gauer sind in körperlicher Beschaffenheit, Sprache und Tracht sehr ver- wandt mit den Burggrafenämtlern. Die Obervintschgauer sind wiederum eine Mischung von Räto-Romanen und Alemannen. Bei den Bewohnern der Gruppe Neumarkt-Truden sieht man, dass diese aus Räto-Ro- manen und Bajuwaren zusammengewachsen sind, aber der höhere Pro- zentsatz der Dolichoiden sagt dem Anthropologen, dass der germanische Mischungsanteil entschieden grösser ist als im oberen Etsch- und Eisack- thale. Einen höheren Prozentsatz des germanischen Blutes finden wir Wissenschaftliche Rundschau, bei den Ostpusterthalern, ebenso ist der Gesamttypus der Sarnthaler- Haflinger ein mehr germanischer als im Burggrafenamte und im Eisack- thale. TArrEınerR vermutet dort noch Reste der Ostgoten. In dem jetzt fast ganz italienischen Valsugna sehen wir plötzlich den Prozent- satz der germanischen Dolichokephalen steigen. Die kraniologische Analyse der heutigen Bevölkerung lässt unzweifelhaft auf eine zahlreiche germani- sche Beimischung zu den Räto-Romanen schliessen. Die linguistischen Forschungen des österreichischen Postdirektors WIELTER in Vicenza und des Schulinspektors Dr. SCHNELLER haben erwiesen, dass das grosse Gebiet zwischen der Etsch und der Brenta und der Ebene zwischen Verona, Vicenza und Padua nach der Völkerwanderungszeit von zahlreichen deut- schen Ansiedelungen durchzogen war, dass noch im frühen Mittelalter in diesen Gegenden deutsch gesprochen wurde, dass Trient selbst noch zur Zeit des Konzils deutsch war, und dass erst im Laufe der Jahr- hunderte die italienische Sprache dieses ganze Gebiet bis auf wenige deutsche Sprachinseln erobert hat. Die Lusarner und Lafrauner mit den Bewohnern der Valsugna und der Sette Comuni gehören kraniologisch und ethnologisch zu demselben Volke und sind eine Mischung von Räto- Romanen mit vielen germanischen Elementen. Die Bewohner der Judi- karien (Sarca- und Chiesa-Thal) haben mit den Leuten der Valsugna einen ziemlich ähnlichen kraniologischen und ethnologischen Typus. Aber der Prozentsatz der Dolichoiden ist noch grösser und dennoch sprechen die Bewohner der Judikarien seit Jahrhunderten nur die italienische Sprache. Zahlreiche Dolichoiden (Nachkommen der Longobarden?) finden sich bei den Wälsch-Nonsbergern, obwohl sie mit Ausnahme von + deutschen Dörfern eine wälsche Mundart sprechen, welche zwischen dem Ladinischen und Italienischen in der Mitte stehen soll. Noch zahl- reichere Dolichoiden finden sich bei den nur italienisch sprechenden Fleimsern. Wir können diese um so eher den Longobarden zu- zählen, als es urkundlich feststeht, dass die Fleimser einst nur nach longobardischem Recht leben wollten. Die Deutschen der Sette Comuni sind nach den Forschungen TArrzınErs bei weitem keine reinen Germanen, sondern mit alemannischem und longobardischem Blute durchsetzte Räto- homanen. Nach der Berechnung Dr. TArrEıners tragen von 800 000 Tirolern 665 000 zumeist deutsch sprechende Individuen den brachy- kephalen und hyperbrachykephalen Typus ihrer Vorfahren, der uralten Rä- tier noch an sich. Die Mesokephalen, 127 200 an der Zahl, sind aus einer Mischung räto-romanischer Elemente mit bajuwarischen, alemannischen und longobardischen Dolichokephalen entstanden. Nur etwa 8800 zumeist italienisch sprechender Dolichokephalen erinnern an Longobarden und andere germanische Elemente. Die Tiroler sind also vorwiegend Nach- kommen der alten Bewohner Rätiens. Die anthropologische Wissen- schaft ist Herrn Dr. TArrEıner für diese ebenso wichtigen wie interessanten Forschungen zu besonderem Danke verbunden. Graz. Dr. FLIGIER. Wissenschaftliche Rundschau, 59 Zoologie. 1. Über die Vorfahrenform der Wirbeltiere. Unter den zahlreichen »Übergangsformen« zwischen verschiedenen Ordnungen, Klassen, ja sogar Stämmen des Tierreichs, die in neuerer Zeit bekannt geworden sind, befindet sich leider keine, die unzweifelhaft oder auch nur mit einiger Wahrscheinlichkeit als Mittelglied zwischen irgend einer Abteilung der Wirbellosen und den eigentlichen Wirbel- tieren angesprochen werden dürfte. Denn Amphioxus ist und bleibt bei aller Einfachheit seines Baues doch ein echtes Wirbeltier oder besser ein Chordat, und die Ascidien, durch deren merkwürdige Larven- entwickelung man früher (nach KowaArrvsky) die Abstammung der Chor- daten aufhellen zu können glaubte, sind jetzt wohl allgemein als ver- kümmerte, wenngleich von jeher sehr primitiv gebliebene Glieder dieses Stammes anerkannt. Sodann sind nach Dourss Vorgang von verschie- denen Seiten sehr wertvolle Zeugnisse beigebracht worden, welche auf die Chätopoden oder überhaupt auf gegliederte Würmer als die ge- suchten Vorfahren hinzuweisen schienen; und diese Ableitung ist auch gar nicht so sehr schwierig, wenn man sich nur, wie weiland G. St. HILAIRE, einen solchen Wurm mit der Bauchseite nach oben gedreht und mit einem neuen Mund auf der nunmehrigen Ventralseite ausgerüstet denkt. Allein selbst abgesehen von diesen etwas gewaltsamen Forderungen ver- mochte diese Hypothese so wenig wie eine frühere die Frage zu be- antworten, woher das auszeichnendste Organ der Chordaten, die Chorda dorsalis stamme; und doch darf man jedenfalls, wie BALFOUR mit vollem Recht bemerkt (vergl. Embryologie II, 292), »keiner Gruppe der Wirbel- losen eine genetische Beziehung zu den Chordaten zuerkennen, so lange nicht nachgewiesen ist, dass dieselbe irgend ein entweder von einer Chorda abgeleitetes oder der Entwicklung zu einer Chorda fähiges Organ besitzt. Bisher aber ist ein solches Organ noch bei keinem Wirbel- losen aufgefunden worden.hat den Vorzug, dass die Ohrenrobben, welche den carnivoren Landsäugetieren offenbar am nächsten stehen, sich un- mittelbar an diese anschliessen, während die Elefantenrobben und die Walrosse zu den Probosciden hinüberführen, welche ich zunächst auf ‚die Pinnipedia folgen lassen würde.< (? Red.) (Sitz.-Ber. Ges. naturf. ‘Freunde, Berlin 1883, Nr. 8.) Botanik. Die Wegsamkeit der Zellhäute hat in jüngster Zeit eine grosse Anzahl von Forschern beschäftigt. Bis dahin hatte man der pflanzlichen Zellhaut unter allen Umständen eine vollkommene Kontinuität zugeschrieben, welche höchstens nachträglich durch Auflösung eng begrenzter Bezirke aufgehoben werden könne. Selbst angesichts der einfachen und gehöften Tüpfel hielt man an dieser Auf- fassung fest: obgleich die von beiden Seiten einander entgegenlaufenden Tüpfelkanäle stets genau auf entsprechende Stellen der dünnen Zwischen- lamelle treffen und das ganze Bild den Eindruck macht, als ob diese Kosmos 1884, I. Bd. (VIII, Jahrgang, Bd. XIV). 5) 66 Wissenschaftliche Rundschau. Kanäle jedenfalls einem lebhaften Stoffaustausch zwischen den Zellen zu dienen hätten, so blieb man doch dabei, dass alle festen Stoffe, an der Zwischenmembran angelangt, erst in Lösung übergeführt und so auf diosmotischem Wege durch jene hindurch befördert werden müssten — eine Ansicht, für die sich auch in ‘der That zahlreiche Analogien bei- bringen lassen. Allein mit der Vervollkommnung der optischen und chemischen Untersuchungsmethoden mehrten sich die Stimmen, welche da und dort eine von anfang an bestehende offene Kommunikation durch allerdings äusserst feine Porenkanäle zwischen benachbarten Zellen be- zeugten. Wir haben in der Besprechung des Buches von Prof. StrAs- BURGER >Über den Bau und das Wachstum der Zellhäute« (Kosmos XIII, 1883, S. 228) mit besonderem Nachdruck auf seine Mitteilungen über den eben erwähnten Punkt hingewiesen, die auf eigenen Beobachtungen und Schlüssen, sowie auf solchen von Ü. FROMMANN, CORNU, VAN TIEGHEM, WoronIn, TanGL u. a. beruhen, und dabei die allgemeinere Bedeutung dieser Thatsachen für das Verständnis des gesamten pflanzlichen und tierischen Organismus hervorgehoben. Seit dem Erscheinen des Stras- burgerschen Werkes hat GARDINER im (Quart. Journ. of Micr. Science, Okt. 1382, einen ähnlichen Fall von unzweifelhafter Verbindung der Zellen durch feine Protoplasmafäden im Parenchym des Blattkissens von Mi- mosa pudica beschrieben und gleiches für einige andere Gebilde höchst wahrscheinlich gemacht. Eine ausführliche Schilderung zahlreicher Befunde dieser Art gibt endlich F. 0. Bower in derselben Zeitschrift» Jan. 1583. Er wendet zur Untersuchung hauptsächlich das Verfahren der »Plasmolyse« an, welches einfach darin besteht, dass vermittelst eines stärker oder schwächer: wasserentziehenden Reagens, z. B. einer 1 bis 10°/oigen Kochsalzlösung, der protoplasmatische Wandbeleg der lebenden Zellen, der »Primordial- schlauch« der früheren Autoren, zur Zusammenziehung gebracht wird, wobei dann solche von Zelle zu Zelle gehende Verbindungsstränge, falls- sie wirklich vorhanden sind, als radiär von dem kontrahierten Plasma- ballen ausstrahlende Fäden sichtbar werden müssen. Durch dasselbe Verfahren hatten auch schon Prinss#eim (1854), NÄserı und HoFMEISTER Bilder bekommen, welche ihnen deutlich zeigten, dass der Primordial- schlauch keineswegs überall gleich fest an der Zellwand anliegt oder anhaftet, sondern, auch nachdem er sich von dieser zurückgezogen hat, noch durch gröbere und feinere Fäden mit ihr verbunden bleibt; die bestimmte Angabe von H. pe Vrıes jedoch (1877), dass solche Ver- bindungen nicht bestünden, lenkte die Aufmerksamkeit wieder von diesen Wahrnehmungen ab. Bower untersuchte zunächst die Prothallien von Nephrodium villosum und Aspidium Filix-mas. Bei Anwendung einer 2 bis 5"/oigen Kochsalz- lösung vollzieht sich die Sonderung des Plasmas von der Zellwand sehr langsam und regelmässig, so dass alle Phasen des Vorgangs leicht zu verfolgen sind. Derselbe beginnt an den Ecken der Zellen und führt. erst nach längerer Zeit zur Bildung einer fast genau kugeligen Plasma- masse. Häufig ist in den ersten Stadien, selbst bei starker Vergrösserung, noch keine Spur einer Verbindung zwischen dieser und der Zellwand zu sehen; Wissenschaftliche Rundschau. 67 in der Regel aber zeigt sich in dem freigewordenen Raum eine äusserst feine radiäre Streifung, in der einzelne Linien kaum zu erkennen sind. Nach einiger Zeit (etwa nach Verlauf einer Viertelstunde) werden in jedem Falle bestimmte Fädchen sichtbar, die ganz gerade und straff gespannt erscheinen; nur selten sind sie mit feinen knötchenartigen Verdickungen versehen. Später jedoch, während sie noch etwas dicker und deutlicher sichtbar werden, kann man sie rasche und mehr oder weniger unregel- mässige schwingende Bewegungen ausführen sehen, ihre Länge muss also gleichzeitig zugenommen haben, so dass sie jetzt nicht mehr straff aus- gespannt sind. Was die Verteilung dieser Fädchen betrifft, so gehen sie allseitig in nahezu gleicher Menge vom Plasmakörper ab und treten daher nicht nur an die zwischen zwei Zellen befindlichen, sondern auch an die frei nach vorn, oben oder unten sehenden Zellwände heran. Poren konnten in allen diesen Wänden, da sie sehr dünn sind, nicht wahrgenommen werden, dagegen liess sich leicht konstatieren, dass die in zwei Nachbar- zellen nach der Grenzwand zwischen ihnen verlaufenden Fäden häufig an genau einander gegenüberliegenden Stellen an diese herantreten, wenn auch für die Mehrzahl ein solches sich Begegnen nicht nachzuweisen war. — Am deutlichsten zeigten sich alle diese Erscheinungen in den Zellen von mittlerem Alter an der eigentlichen Prothalliummasse, weniger klar, aber immerhin ebenso unzweifelhaft in den jüngsten Zellen der Scheitelregion wie in den ältesten Zellen der Wurzelhaare. Dass die beschriebenen Fäden aus lebendem Protoplasma bestehen, lässt sich kaum bezweifeln. Den Beweis dafür liefern weniger die Re- aktionen, durch welche gewöhnliches Protoplasma sich charakterisiert, indem dieselben hier gar zu leicht ein Absterben und Zerreissen der zarten Gebilde verursachen, als das weitere Verhalten der letzteren bei ungestörtem Fortgang der Kontraktion des Protoplasmas. Die Fäden nehmen, wie bereits erwähnt, mit der Zeit etwas an Dicke zu. Dies beruht zum Teil auf der Zufuhr neuer Substanz vom zentralen Plasma- körper aus, was sich deutlich zeigt, wenn man z. B. die oben erwähnten knötchenartigen Verdickungen längere Zeit genau beobachtet: dieselben rücken stets, allerdings sehr langsam, in zentrifugaler Richtung weiter und befördern so neues Material nach dem peripherischen Ende der Fäden. Auf den gleichen Vorgang deuten auch das allmähliche Schlaffer- werden der Fäden und ihr Hin- und Herschwingen hin. Gleichzeitig aber scheint auch ein seitliches Zusammenfliessen der Fäden stattzufinden, wenn man wenigstens das in den späteren Stadien nicht seltene Vor- kommen von gegen die Zellwand hin ein- bis mehrfach sich verzweigen- den Fäden so auffassen darf. Vielleicht ist diese Erscheinung noch ein- facher so zu deuten, dass zwei oder mehrere, ursprünglich getrennte, aber nahe beisammen am Plasmakörper entspringende Fäden sich ver- kürzt bez. aus dem letzteren neue Zufuhr erhalten haben, wobei sich aus demselben ein gemeinsamer Strang erhob, an welchem sie nun als Zweige erscheinen. Beim allmählichen Absterben des Plasmas, das wir hier nur kurz berühren, beginnen die Fäden klebrig und schlaff zu werden und zu 58 Wissenschaftliche Rundschau. zerreissen; dabei führen ıhre freigewordenen Enden oft unregelmässige Bewegungen aus, während sie sich nach dem Plasmakörper wie nach der Zellwand hin langsam zusammenziehen. Nach derselben Methode wurden sodann noch Teile verschiedener anderer Pflanzen untersucht, so junge Blütenstiele von Cephalaria leucantha und rigida, das Fleisch der Runkelrübe und eines reifen Apfels, Blätter von Vallisneria spiralis, besonders auch die Diaphragmen der Intercellularräume in den Blattstielen von Wasserpflanzen, wie ZLimno- charis sp., Aponogeton distachyon, Alisma Plantayo, Pontederia (Eichhornia) coerulea u. s. w.; stets wiederholte sich mit geringen Abänderungen das oben geschilderte Bild. Ausserdem prüfte BowEr auch seinerseits das Verhalten getüpfelter Zellen, an denen GARDINER die Kontinuität des Protoplasmas durch die Tüpfel hindurch nachgewiesen hatte. Auch hier jedoch fand Verfasser eine allseitig (auch nach den freien, der Tüpfel entbehrenden Zellwänden hin) gleich starke Entwickelung der feinen Proto- plasmafäden, und beim allmählichen Zusammentliessen derselben zeigten sich die Wandstellen zwischen den Tüpfeln ebenso reichlich mit solchen besetzt wie die Tüpfel selbst. Aus diesen Beobachtungen, welche sich auf Vertreter der verschie- densten Pflanzengruppen erstrecken, geht also wohl mit Sicherheit hervor, dass der Zusammenhang zwischen Protoplasma und Zellwand in der lebenden Zelle ein viel innigerer und gleichmässigerer ist, als man bisher gewöhnlich annahm. Die Cellulosewand erscheint im Lichte derselben nicht mehr bloss als totes Ausscheidungsprodukt des aktiven Inhalts, sondern als integrierender, überall in lebhafter Wechselwirkung mit dem- selben stehender Teil des Ganzen. Welch’ grosse Bedeutung diesen Ver- suchen, das Verhältnis zwischen Zellwand und Protoplasma aufzuklären, innewohnt, ist namentlich im Hinblick auf StrAsBurGers Darstellung vom Aufbau der Zellhaut aus aufgelagerten und vefschmolzenen »Mikrosomen« klar genug. Der eigentliche Kern der Frage bleibt freilich, wie Verfasser selbst hervorhebt, noch dunkel und kann auch nicht durch plasmolytische Beobachtungen aufgehellt werden, das Problem nämlich, ob die Mikro- somen zu einer kontinuierlichen, porenlosen Masse verschmelzen, indem das sie verkittende Protoplasma dabei selbst in festen Zustand übergeht, oder ob letzteres sich als lebendige Zwischensubstanz forterhält, welche denn also ein äusserst feines Maschenwerk zartester Fädchen durch die ganze Zellwand hindurch darstellen würde und wohl im stande sein dürfte, eine Kommunikation von einer Zelle zur andern zu vermitteln, ja sogar in der Zellwand selbst Um- und Weiterbildungen hervorzurufen. Von diesem letzteren Standpunkt aus würde, wie leicht einzusehen, die Intussus- ceptionslehre in allerdings bedeutend eingeschränktem Sinne wieder in ihr Recht eingesetzt werden können, und es lässt sich nicht in Abrede stellen, dass die oben berichteten Angaben Bowzrs wesentlich zu gunsten einer solchen Auffassung sprechen. Dieser Punkt gibt uns den Anlass, hier noch kurz einer Reihe von Beobachtungen über den Bau der pflanzlichen Zellhaut zu gedenken, welche Dr. L. Ersper@ aus New-York in demselben Hefte des Quart. Journ. of Micr. Science veröffentlicht hat. Dieselben haben uns offen Wissenschaftliche Rundschau. 69 gestanden keinen sehr vertrauenswürdigen Eindruck gemacht, besonders weil ihre Resultate sich vorzugsweise auf die Anwendung desjenigen Reagens stützen, das am allerhäufigsten trügerische mikroskopische Bilder liefert und in der Histologie, namentlich früher, viel Unheil angerichtet hat, des Silbernitrats nämlich. Er bildet u. a. einen Schnitt durch den Blattstiel von Ficus elastica ab, der allerdings in der Dicke der Zellwände, deren Substanz tiefbraun gefärbt ist, ein wunderschönes unregelmässiges Netz von weissen Linien zeigt, Kanäle andeutend, welche gegen das Lumen der Zelle hin offen zu sein scheinen und mit einer ähnlich beschaffenen intercellularen Masse (der »Mittellamelle« der Autoren ent- sprechend) zusammenhängt. Diese sowohl als der Inhalt des Maschen- werkes in der Zellwand wird von ErsBere als »Bioplasson«, wie er das Protoplasma nennt, in Anspruch genommen und mit ähnlichen gleichfalls von ihm entdeckten Erscheinungen in der Kittsubstanz tierischer Epithelien oder den schon länger bekannten feinen verzweigten Kanälen im hyalinen Knorpel verglichen. Wenn wir auch wie gesagt einige Zweifel an der Zuverlässigkeit dieser Darstellung hegen zu müssen elauben, so wollen wir doch nicht verfehlen, unsere Leser auf die merkwürdige Überein- stimmung der hier geschilderten Wahrnehmungen mit dem, was die Er- gebnisse Bowrrs und im Grunde auch diejenigen STRASBURGERS als not- wendige Ergänzung fordern, aufmerksam zu machen. Chemie. Über den Ursprung des auf der Erde vorhandenen gebundenen Stickstoffs. Bekanntlich vermag ‘der Stickstoff infolge seiner chemischen In- differenz nur mit einer geringen Anzahl anderer Elemente direkt eine chemische Verbindung einzugehen, und es zeigen die meisten der auf in- direktem Wege erhaltenen stickstoffhaltigen Körper, sowohl anorganischer als organischer Natur, nicht nur im allgemeinen eine geringe Stabilität, sondern sie haben auch eine ausgesprochene Neigung, gerade unter Ab- scheidung elementaren Stickstoffes zu zerfallen. Aus den stickstoffhaltigen Explosivstoffen*, aus den Diazoverbindungen und den meisten organischen Nitroverbindungen wird der Stickstoff unter explosionsartiger Zersetzung der Substanz mitunter schon durch Stoss oder Druck, auf jeden Fall beim Erhitzen frei gemacht. Salpetrigsaures Ammon zerfällt bereits beim Erhitzen in wässeriger Lösung in freien Stickstoff und Wasser: NH«ıNO> = Na —+ 2H20. Bei der Einwirkung von salpetriger Säure auf Monamine der Fett- reihe, wobei wir die Bildung von organisch substituierten Ammonnitriten zu erwarten hätten, z. B. entsprechend der Gleichung: NH> C2H5 4 HN O2 — NH3 . C2H5 . NO3 * Nach Versuchen bilden sich beim Abbrennen von 100 ko Pulver ca. 8,9 ko Stickstoffgas. 70 Wissenschaftliche Rundschau. erhalten wir statt deren neben Alkoholbildung lebhafte Stickstoffent- wickelung und werden dabei belehrt, dass jene vorausgesehenen Körper bei gewöhnlichen Verhältnissen bereits nicht existenzfähig sind, sondern im Sinne folgender Gleichung zerfallen: NH3 . CeH5 . NO2 = C2H5 OH — N> — H20. Ähnliche Prozesse, wenn auch nicht mit derselben Ausgiebigkeit an elementarem Stickstoff wie in den vorgenannten Fällen, spielen sich auch von selbst in der Natur ab, und wir erhalten bei der Fäulnis! stickstoffhaltiger Körper immer einen geringen Teil, bei der Verbrennung derselben aber den bei weitem grössten Teil des gebundenen Stickstoffs in den freien Zustand übergeführt. Nachdem Dierzern? das Auftreten freier salpetriger Säure beim Fäulnisprozesse nachgewiesen, dürfte übrigens für die gleichzeitige Ent- bindung freien Stickstoffs die Ursache zunächst wohl wiederum in der Unbeständigkeit des salpetrigsauren Ammons und in der Nichtexistenz- fähigkeit organisch substituierter Ammoniumnitrite zu suchen sein. Da ferner alle unsere Brennmaterialien immerhin nicht unbeträcht- liche Mengen stickstoffhaltiger Substanzen enthalten, haben wir in den Verbrennungsprozessen jedenfalls die bedeutendste Quelle des Verlustes von auf der Erde befindlichem gebundenem Stickstoff; und wenn es bei allen diesen Zersetzungen durch Fäulnis oder Verbrennung zunächst auch nur geringe Mengen Stickstoff sind, die sich in jedem einzelnen Falle im freien Zustande abscheiden, so werden doch schliesslich ganz bedeutende Quantitäten desselben frei gemacht, indem sich jene Prozesse fort und fort und überall auf der Erde vollziehen. Behufs Ausgleiches dieser Verluste an gebundenem Stickstoff wird nun aber auch durch verschiedene in der Natur sich abspielende Prozesse freier Stickstoff aus der Luft in den gebundenen Zustand übergeführt. Durch elektrische Entladungen wird aus Stickstoff, Sauerstoff und Wasser- dampf der Atmosphäre Salpetersäure, resp. salpetersaures Ammon ? gebildet. Korsn* fand, dass salpetrige Säure entsteht, wenn man eine Wasser- stoffflamme in dem offenen Halse eines mit Sauerstoff gefüllten Kolbens brennen lässt. Beim Verbrennen von Wasserstoff in einer Atmosphäre von Sauerstoff und Stickstoff erhielten Tr. Saussurz, BERZELIUS und Bunsen® salpetersaures Ammon. Bxxcz Joxz&s® beobachtete das Auftreten von Salpetersäure und BörrcHer das von salpetriger Säure beim Ver- brennen von Weingeist, Kohle, Wachs, Leuchtgas und anderen organischen ı Jules Reiset, Compt. rend. 42,53. — Lawes u. Gilbert, Philosoph. Transact. 1861, Part II, 497. — J. König, Chem. u. techn. Untersuchungen der landwirtsch. Versuchsstation Münster i. W. in den Jahren 1871—1877, S. 215. ? Dietzell, Ber. der deutschen chem. Gesellsch. zu Berlin 15, 551. ® Die stellenweise starke Salpeterbildung in den Tropen erklärt.sich dann aus der reichlicheren Bildung der Salpetersäure infolge der daselbst stärkeren und häufigeren elektrischen Entladungen. * Ann. Chem. Pharm. 119, 176. ® Gmelin-Krauts Handb. der Chemie. Bd. I, 2. Abt. S. 470, ° Philos. Transact. 1851. 3. 299. “ Journ. f. prakt. Chem. 85, 396. Wissenschaftliche Rundschau. zu Stoffen an der Luft. A. W. Hormanx! erhielt beim Verbrennen des Wasserstoffs auf Kosten des Sauerstoffs der Luft in 30 g gebildeten Wassers soviel Salpetersäure, dass sich nach Neutralisation des Wassers mit Ammo- niak und Eindampfen deutliche Krystalle von salpetersaurem Ammon ab- schieden. Auch sollen sich nach Versuchen verschiedener Chemiker bei der Oxydation von Blei und Eisen an feuchter Luft stets geringe Mengen von Ammoniak bilden, entsprechend der Gleichung’: Fee + 3H20 — N» = Fee03 — 2NH:». Alle diese synthetischen Prozesse, von denen der zuerst aufgeführte ‚der wichtigste und quantitativ ergiebigste ist, vollziehen sich unaufhörlich in der Atmosphäre. Die gebildete Salpetersäure sowie das Ammoniak werden von dem Wasser aufgenommen und dem Boden zugeführt, um den Pflanzen zunächst als Nährstoffe zu dienen und von denselben zu komplizierteren organischen Verbindungen verarbeitet zu werden. Welcher von den beiden Prozessen — Überführung des freien Stick- stoffs in den gebundenen Zustand und Zurückführung des gebundenen Stickstoffs in den elementaren Zustand — überwiegt, dürfte sich wohl, solange noch keine einzige direkte Beobachtung aus tropischen Gegenden vorliegt, welche uns die Menge der dort durch die Regenwässer hinzu- geführten Salpetersäure resp. Ammonnitrat” angibt, ‘nicht so ohne weiteres entscheiden lassen. A. Müntz und E. Ausaın*, welche diese Frage neuer- dings wieder diskutierten, sind allerdings der Ansicht, dass, wenn nirgends auf der Erdoberfläche die Mengen des durch die Elektrizität in Verbindung tretenden Stickstoffs beträchtlich grösser seien als etwa in Mitteleuropa, durch dieselben der Verlust an gebundenem Stickstoff bei der Verbrennung, Fäulnis u. s. w. nicht wohl gedeckt werden könne. Sie nehmen deshalb auch nicht an, dass die Hauptmasse der vorhandenen Stickstoffverbindungen durch Vermittelung der Elektrizität aus freiem Stickstoff entstanden sei, sondern meinen, dass der bei weitem grösste Teil des gebundenen Stick- stoffs entsprechend den oben erwähnten Beobachtungen von Kouse, SAUSSURE, BERZELIUS, Bussen, A. W. Hormann und anderen bei der Verbrennung der Elemente in einer früheren Erdbildungsperiode zu Salpeter- säure oxydiert worden sei. Sie selbst beobachteten bei der Verbrennung von 1 g Wasserstoff die Bildung von 0,001 & Salpetersäure und erhielten bei der Verbrennung von 1 g Magnesium sogar 0,1 g Salpetersäure. Vor dem Auftreten der Vegetation auf der Erdoberfläche müsste es dem- nach einen beträchtlichen Vorrat an salpetersauren Verbindungen gegeben ! Ber. der deutschen chem. Gesellsch. 1870, 363. ® Uber die Einwirkung des Lichtes auf Wasser. Von Arm. Müller, Zürich 1874. ® Nach vielen Bestimmungen des Gehaltes von Regenwässern an Salpeter- säure und Ammoniak kann man annehmen, dass in unseren Breitegraden durch Regen und Schnee einem Hektar pro Jahr etwa 1,5 ko Stickstoff in Form von Salpetersäure und. 23... nn a „ Ammoniak zugeführt werden (J. König, Chem.-techn. Unters. d. landw. Versuchsst. Münster in den Jahren 1871—1877, S. 210). * Compt. rend. 97, 240; im Auszuge Ber. d. deutschen chem. Gesellsch. zu Berlin 16. 2489. 19 Wissenschaftliche Rundschau. haben, welcher aber allmählich aufgezehrt werden dürfte, wenn die Elek- trizität nicht hinreichend Ersatz zu schaffen im stande ist. Chemnitz. Dr. A. GOLDBERG. Wissenschaftliche Reisen. Die Expedition des „Talisman“. Die überraschenden Resultate der Challengerexpedition wie die Ergebnisse der Tiefseeforschungen des Travailleur waren die Veranlass- ung, dass vom französischen Marine- und Unterrichtsministerium und von der Akademie der Wissenschaften der Schraubendampfer »Talisman« für eine dreimonatliche zoologische Expedition ausgerüstet wurde. Es galt vor allem die faunistischen Verhältnisse längs der Westküste Afrikas bis zum Senegal zu erforschen. In zweiter Linie hatte die Expedition die Meeresfauna um die Kapverdischen und Kanarischen Inseln und um die Azoren zu untersuchen. Endlich sollten die immer noch zweifelhaften Verhältnisse des Sargassomeeres genauester Prüfung unterzogen werden. Folgende faunistische Resultate ergab die Erforschung des Meeres westlich von Marokko und der Sahara: In einer Tiefe von 500 bis 600 m leben zahlreiche Fische aus der Familie der Macrurida GüxTH., Pleuronectida C. und Bercyda G., und zwar sind hauptsächlich die Genera Maerurus, Malacocephalus, Pleuronectes und Hoplostetus vertreten. In ihrer Gesellschaft leben Garneelen aus den Geschlechtern der Pandalen, Pe- naeen, Pasiphaeen. Dazu kommen einige kleine Krabben (Oxy- rhyncha, Portunus u. s. f.). Rosenrote Holothurien gesellen sich bei, ferner Echinoidea, darunter einige seltene Exemplare der Calveria, jenes früher nur im fossilen Zustand bekannten Tiefseetieres. Auch Schwämme, zum. Teil von bedeutenden Dimensionen, bewohnen diese Tiefen. In grösseren Tiefen, gegen 1000—1800 m, sind die Fische in reich- licherer Menge vorhanden. Ausser Macrurus und Malacocephalus sind vor allem die nachfolgenden Gattungen vertreten: Bathynectes, Corypho- noides, bathygadus, Argyropelecus, Chauliodus, Bathypterois, Stomias, Mala- costeus, Alepocephalus. Im allgemeinen sind diese Tiefseebewohner durch matte Farben ausgezeichnet. Ihr Fleisch ist gelatinös, ihre Haut von einer dicken Schleimschicht überzogen. Mehrere sind mit phosphores- zierenden Flecken versehen. PERRIER äussert sich über diese merkwürdigen Verhältnisse ausführlicher. Die natürliche Phosphoreszenz, schreibt er, hatten wir mehrmals zu beobachten Gelegenheit. Besonders majestätisch war das Schauspiel in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli. Doch auch die folgenden Tage zeigten sich an den Seiten des Schiffes und in seiner Furche grosse Feuer- kugeln. Das Schiff durchschnitt eine Medusenbank. Am 28. Juli nahm die Phosphoreszenz einen neuen Charakter an. Rings um das Schiff schienen Sterne im Meer ausgesät. Augenscheinlich haben wir es nicht Wissenschaftliche Rundschau. A s8) mehr mit Noctiluciden oder Medusen zu thun. Oft schon habe ich gehört, dass die Augen von Tieren aus grossen Tiefen leuchtend seien. Es schien mir, ich muss es gestehen, ganz paradox. Sehen wir doch bei den gewöhnlichen Tieren die minutiösesten Einrichtungen getroffen, deren Bestimmung ist, eine Erhellung des Auges zu verhindern. Die schwarze Pigmentschicht absorbiert das Licht, welches die Retina der Wirbeltiere durchdringt. Das Tapetum, welches man bei vielen Säugetieren trifft, reflektiert das Licht, welches auf die Retina fällt, gegen die Pupille, und beugt so der Diffusion desselben im Augapfel vor, verhindert so dessen Erhellung. Wie sollte also das Auge, das derart gegen eine innere Beleuchtung geschützt ist, selbst zur Lichtquelle werden? Wir erfuhren es an diesem Tage. Das Meer enthält eine unendliche Zahl Mysis-Larven. Die Sterne, welche wir wahrnahmen, sind nichts anderes als die Augen dieser Larven. Die mikroskopische Untersuchung zeigte, dass diese Augen den gewöhnlichen Bau hatten. Jedes von ihnen war aber in eine leuchtende Kalotte eingesenkt und nur diese phosphoreszierte. Das Sehen selbst wurde durch sie in keiner Weise beeinträchtigt, weil sie ganz ausserhalb des Auges war. Übrigens gibt es zahlreiche Fische und einige Krustaceen, wo die Phosphoreszenz auf Spezialorgane beschränkt ist. Bald sind es wie bei Astronesthes grosse Flecken von bleichgrüner Farbe, die hinter den Augen gelegen sind; bald wieder wie bei Malacocephalus, Scopelius, gewissen Chauliodus-Arten Organe, welche paarweise seitlich gelagerten Augen ähnlich sehen. Es ist dies übrigens eine einfache Lokalisation einer sehr verbreiteten Eigenschaft der Gewebe gewisser Seetiere, deren Bestimmung ist, die Finsternis, in der sie leben, zu erhellen*. Folgen wir wieder dem Berichte MiıLse-EnwAros. Die Krustaceen waren in diesen beträchtlichen Tiefen reichlich vertreten. Neben bekannten Formen wurde auch eine Reihe neuer Gattungen und Arten entdeckt, so gewaltige Garneelen mit rotem Blut und unverhältnismässig langen Antennen. Blinde Krebse von schön roter Farbe finden sich reichlich in diesen Tiefen, Tiere von sehr weiter Verbreitung. Die blinden Poly- chelen, welche in der lebenden Fauna die Stelle der jurassischen Eryonen einnehmen, verbergen sich im Schlamm. Nur ihre langen gekrümmten Scheren, mit welchen sie ihre Beute festhalten, ragen aus dem Schlamm hervor. Auch Krabben leben in dieser Tiefe. Auch aus dieser Ordnung wurde eine Reihe neuer Arten bekannt. Vor allem entdeckte man Litho- dinen, die bisher nur aus australischen und nördlichen Meeren bekannt waren. Zahlreiche zu der Familie der Galatheida Larr. gehörige Arten vervollständigen diese Tiefseefauna. Mehrere unter ihnen sind dadurch charakterisiert, dass ihre Augen inDornen umgewandeltsind. DieSchwämme sind sehr gemein und die Mehrzahl gehört zu den Kieselschwämmen. In reichem Masse wurden Rosella und Holtenia in mehreren Arten gefischt. Die schon in geringeren Tiefen vorkommende Seeigelgattung Calveria tritt reichlicher auf, die Holothurien kriechen zwischen Asterien, Ophiu- ren und Brisingiden auf dem Boden umher. So reichlich füllten sich oft die Netze, dass ein Tag nicht hinreichte, das Material einzuordnen. ® Vgl. hierzu Kosmos IX, 433: Dr. E. Krause, die „augenähnlichen“ Organe der Fische ete. 74 Wissenschaftliche Rundschau. ® In einer Tiefe von 2000—2800 m zwischen dem Kap Gir und Kap Nun fand man wieder den im vorigen Jahr vom Travailleur ent- deckten Fisch Eurypharynx pelecanoides. Vor allem wurde der Fischfang durch eine reiche Ausbeute prächtiger Schwämme belohnt. Sie gehören in die Nähe der bekannten Zuplectella superba. Grosse violette Holo- thurien aus der Gattung Deuthodytes und eine Reihe durch ihre Dor- salanhänge charakterisierter Arten derselben Gattung fanden sich hier. Eine neue Calveria und Brisinga, Korallen von seltener Schönheit (Flabellum, Stephanotrochus), neue Arten der Gattungen Democrinus und Bathycrinus, zahlreiche, fast durchweg neue Krustaceen der Familie Cala- theida vervollständigen die Fauna der wirbellosen Tiere. Die Fische fielen im allgemeinen durch ihre verschiedenartigen Formen auf und waren zum Teil wieder durch das Vorhandensein phosphoreszierender Scheiben ausgezeichnet. Zwischen Senegal und den Kapverdischen Inseln ergaben die Lotungen eine Tiefe von 5200—3655 m. Die meisten der bereits ge- nannten Gattungen und Arten fanden sich auch in diesen Tiefen wieder. Dazu kamen allerdings auch zahlreiche neue Gattungen und Arten (Kru- staceen, Mollusken, Zoophyten und Schwämme). Von erstaunlichem Reichtum ist die Tiefe des die Kapverdischen Inseln umspülenden Meeres. In einem einzigen Zug, schreibt MiıLxeE- EpwArps, fingen wir über tausend Fische, welche zum grössten Teil der Gattung Melanocephalus angehörten, mehr als 1000 Pandalen, 500 Garneelen einer neuen Art. Am 30. Juli richtete der »Talisman« seinen Lauf gegen das viel- genannte Sargassomeer. Wir folgen dem Berichte PERRIERs. Zwanzig Tage hielten wir uns im Sargassomeer auf und wir müssen der Wahrheit gemäss erklären, dass wir nie, durchaus nie die geringste Unregelmässig- keit im Gang der Schraube unseres Schiffes wahrnehmen konnten. Zahl- reiche Orte passierten wir, wo auf den Karten »viel Sargassum« ver- zeichnet war. Wir sahen auch viel, aber immer nur isolierte sphärische Büschel ungefähr von der Grösse eines Elsternestes. Nicht dass sie einen zusammenhängenden Teppich gebildet hätten. Sie lagen meist etwa einen Meter weit auseinander. Nur selten waren diese Büschel so nahe an einander, dass sie einem Streifen von einigen Quadratmetern Oberfläche glichen. Bei der geringsten Bewegung des Wassers fuhr das Ganze in einzelne Büschel auseinander. Dass diese kleinen Bänke jedoch nur Ausnahmen sind, lässt sich aus dem Instinkt der Tiere schliessen, welche die Sargassumbündel bewohnen. Ein Fisch, Antennarius pietus, laicht auf diesen Büscheln. Er beginnt damit, die Büschel mit grosser Sorgfalt zu Bündeln zu vereinigen, eine Vorsichtsmassregel, die höchst überflüssig wäre, wenn das Tier gewöhnlich weit ausgedehnte genügend fest vereinigte Sargassumrasen zu seiner Verfügung hätte. Ein anderer Fisch verbarg sich unter den Sargassumbüscheln. Wie unser Fischer- boot sich näherte, floh er. Er ging aber nicht weit, zögerte auch keinen Moment, welche Richtung er wohl einschlagen sollte. Geschickt flüchtete er unter ein anderes Sargassumbündel, hielt aber auch sofort unter dem ersten, welches er erreichte, in aller Ruhe sich verborgen. Offenbar war Wissenschaftliche Rundschau. 15 das Tier mit diesem Manöver, gleichsam einer stossweisen Flucht, wohl vertraut. Mit solcher Sicherheit hätte es dasselbe kaum ausführen können, wenn es gewohnt wäre, inmitten einer nur einigermassen aus- gedehnten Sargassumbank zu leben. — Vielleicht dass die in diesen Gegenden nicht seltenen Cyklonen zufällig Sargassumbüschel in hin- länglicher Zahl so mit einander vereinen, dass sie auf weite Strecken hin mit einander in Berührung stehen. Doch das ist zweifellos nur eine Ausnahme und die in unseren Geographiebüchern behauptete Existenz ungeheurer schwimmender Algenwiesen in den tropischen Gegenden darf füglich ins Reich der Fabeln verwiesen werden. So bestätigen also diese neuesten Forschungen durchaus die von Kuntze in Eneuers bot. Jahrbüchern aufgestellte Ansicht. Indem PERRIER den Ursprung dieser Sargassumbüschel zu erklären sucht, ver- teidigt er aber eine Ansicht, welche Kuxrze an demselben Ort als un- haltbar erwies. Die Sonde zeigt im Sargassomeer eine Tiefe von vier, fünf bis sechstausend Meter. Vegetabilische Gebilde werden in diesen Tiefen keine getroffen. Das Sargassum kann also nicht vom Meeresgrund aus an die Oberfläche aufsteigen. Zudem sind zahlreiche Luftblasen an der Pflanze wahrzunehmen. Natürlich müssten diese zerspringen, wenn das Sargassum aus grossen Tiefen aufstiege. Das nächstliegende Festland zeigt an seinen Küsten nirgends (?) solche Mengen von Sargassum, dass diese zahlreichen Büschel sich als losgerissene Überreste des die Küsten bewohnenden Sargassım auffassen liessen. Überdies sind diese Algen in voller Vegetation. Ihre Frische ist bemerkenswert und die fast genau sphärische Form jedes Büschels beweist, dass es in einem Medium wuchs, in welchem es allseitig sich gleich ausdehnen konnte, wo es vom Boden durchaus unabhängig war. Es scheint klar zu sein, dass jedes Büschel von einem losgerissenen Spross eines andern Büschels stammt, so dass also diese Alge durch eigentliche Ableger sich vermehrt. Die Gesamtheit aller dieser Sargassumbüschel lässt sich also als ein gewaltiges Indivi- duum auffassen. Übrigens ist noch zu bemerken, dass bis jetzt niemand an den schwimmenden Sargassım wohlentwickelte Reproduktionsorgane ähnlich wie an den anderen Feus-Arten nachweisen konnte. Nichts steht jedoch der Annahme entgegen, dass die ersten Fucus-Sprosse, welche durch die Äquatorialströme in diese Region der Kalmen gelangten, von einer der Sargassumarten herstammten, welche an der amerikanischen Küste wachsen. Für die meisten der jetzigen schwimmenden Sargassum kann aber dieser Ursprung nicht angenommen werden. Wir halten dafür, dass, wenn von den vielen Forschern, welche diesen schwimmenden Algen ihre Aufmerksamkeit zugewandt haben, noch kein einziger den Teilungs- prozess, die Sprossung oder die Vermehrung durch Ableger wirklich beobachtete, wenn immer nur das unvermeidliche »es scheint« die be- züglichen Ansichten einleiten kann, die gemutmasste ungeschlechtliche Vermehrung gar nicht existiert. Trotz PErrıers Auseinandersetzungen halten wir die Annahme Kuntzes für ungleich wahrscheinlicher. Von geologischem Interesse sind die Forschungen über die Natur des Grundes des Sargassomeeres. Überall sonst wies die Sonde auf 76 Wissenschaftliche Rundschau. schlammigen Grund hin. Hier trat der Schlamm sehr zurück. Dagegen fand man Lavatrümmer und Bimsstein. Man muss also die Kana- rischen Inseln, ebenso die Kapverdischen und die Azoren als die höchsten Gipfel einer weitausgedehnten vulkanischen Gegend auffassen. Zahlreich und jungen Datums dürften die submarinen Eruptionen sein, denn nur so begreifen wir die weite Ausdehnung der Lava und dass sie nicht von einer Schlammschicht bedeckt ist. Was nun die Fauna betrifft, so ist eine reiche pelagische Be- völkerung im Sargassomeer zu treffen, eine Tierwelt, deren Farben merk- würdig mit denen der Algen, die ihr als Zufluchtsstätte dienen, harmonieren. Die Tiefseefauna ist arm. Sie besteht aus seltenen Fischen, einigen Krustaceen, z. B. Paguren, welche auf Epizoanthenkolonien wohnen, und Garneelen, einigen seltenen Weichtieren (Fuss, Plewrotoma und .Leda). Gegen Norden steigt der Boden aus den gewaltigen Tiefen (Maximal- tiefe 6267 m) wieder zu mässigeren an und in demselben Grade wird auch die Ausbeute wieder eine bessere. Aus diesen Gegenden stammt eine Gnathophausia aus der Familie der Schizopoda, ein Riese seines Ge- schlechtes (0,25 m lang). Auf der Rückreise des Talisman wurde noch eine grössere Zahl von bisher unbekannten Pagurus- und Galathea-Arten entdeckt, Formen, die in einer Tiefe von 4000—5000 m leben. Vor allem aber wird diese Tief- seefauna durch die grosse Mannigfaltigkeit und Individuenzahl von Holothurien charakterisiert. Schon aus diesen kurzen Notizen ersehen wir, dass der Zoologe die Ergebnisse der Talismanexpedition sehr begrüssen darf. Stehen sie auch naturgemäss hinter denen der Challengerexpedition zurück, so sind sie doch im Vergleich zur angewandten Zeit nicht minder reichlich zu nennen“. RI * Vorstehender Bericht ist zum Teil eine wörtliche Wiedergabe eines Vortrages von E.Perrier und eines vorläufigen Berichtes an die Akademie der Wissenschaften von A. Milne-Edwards. Vergl. Revue scientifigque vom 15. u. 22. Dez. 1883. Litteratur und Kritik. Elemente der Geologie von Dr. H. Crrpxer. Leipzig 1883. Dieses vortreffliche Werk, das soeben in fünfter neubearbeiteter Auflage erschienen ist, verdient auch an dieser Stelle eine Erwähnung, da es, entgegengesetzt anderen Arbeiten gleicher Art, auf die Entwickelungs- lehre Rücksicht nimmt. So stellt der Verf. als Entwickelungsgesetz der Erde hin: »Die je- weilige Erscheinungsweise unseres Planeten ist das Gesamtresultat aller früheren Einzelvorgänge auf demselben, — deshalb nimmt die Mannig- faltigkeit in der Gliederung der Erdoberfläche zu, je länger sich die ver- schiedenartigen Einwirkungen auf diese letztere bethätigen konnten. Zu- gleich aber eröffnet diese allmähliche Summierung der Einzelvorgänge und ihrer Resultate bis dahin schlummernden Naturkräften ein Feld für ihre Thätigkeit und bringt dadurch grössere Mannigfaltigkeit in die umge- staltenden Ursachen. < An einem Beispiele wird dasselbe eingehend er- läutert und darauf betont, dass es »in einem gewissen Zusammenhange mit den Resultaten der gesamten morphologischen Wissenschaften und der Entwickelungsgeschichte der tierischen und pflanzlichen Einzelwesen « stehe. Hierauf bietet der Verf. in knapper Form die Grundzüge der Transmutations- und Deszendenztheorie Darwıns, von der er sagt, dass die Geologie sie im »allgemeinen« bestätige, wenn auch nicht im entferntesten im stande sei, die »zahllosen Übergangsformen und Ver- bindungsglieder zwischen den Tier- und Pflanzengruppen weder der auf- einanderfolgenden Perioden, noch ein und desselben Zeitalters nachzu- weisen«, »da uns nur ein ausserordentlich kleiner Bruchteil der früheren Tier- und Pflanzenwelten überliefert worden und von diesen Resten nur ein verschwindend kleiner Teil zu unserer Kenntnis gekommen« sei. Weiterhin tritt er auf Grund der durch die Oszillationen der Erdober- fläche bedingten Wanderungen der Faunen der Ansicht entgegen, dass die Verbindungsglieder einer Tierform und ihrer Urahnen in vertikaler Rich- tung zu suchen seien; er hält es, und jedenfalls mit Recht, für richtiger, dies >in einer flach in die Tiefe geneigten, der Unregelmässigkeit der Oszillationen wegen vielleicht flach zickzackartig gebrochenen Linie« zu thun. Er bekennt sich somit als Anhänger der von BARRANDE zuerst aufgestellten Lehre von den Kolonien. Als wesentliche Stützpunkte der Darwinschen Theorie gelten ihm die Kollektivtypen. In der Einleit- ung finden wir übrigens noch folgende Stelle: »Die Paläontologie hat 718 Litteratur und Kritik. durch überraschende Funde nicht nur auf ausländischem, sondern auch auf deutschem Boden das Gesetz von der einheitlichen Entwickelung der Tier- und Pflanzenwelt gekräftigt.« Dresden. H. ENGELHARDT. Spezielle Physiologie des Embryo. Untersuchungen über die Lebens- erscheinungen vor der Geburt, von W. PREYER, o. ö. Prof. Erste Lieferung, mit 3 Tafeln und Holzschn. im Text. Leipzig, Th. Griebens Verlag, 1883,.160 8.83%. Während die »Allgemeine Physiologie« desselben Autors, die wir vor kurzem hier besprachen, darauf ausgeht, die Einheit des Lebens in grossen Zügen darzustellen, die Gesetze alles organischen Daseins so- weit möglich zu formulieren und die Grenzen ihrer Wirksamkeit ab- zustecken, hat der Verfasser mit diesem Werke eine nicht minder selb- ständige und neue Bahn eröffnet, indem er das weite Gebiet der embryo- logischen Physiologie, bisher geradezu eine terra incognita, zum ersten- mal gründlich zu bebauen unternimmt. Wer seinen Arbeiten seit längerer Zeit gefolgt ist, der weiss, dass er schon viele Jahre hindurch dem wichtigen und zumeist ganz vernachlässigten Problem der ersten Ent- stehung der Funktionen seine ganze Kraft gewidmet und mit unermüd- licher Ausdauer die zahllosen Schwierigkeiten, welche sich dem Vor- dringen auf diesem wie auf jedem neuen Felde, hier aber in ganz be- sonderem Masse entgegenstellen, zu besiegen verstanden hat. Ausführlicher werden wir auf den Inhalt dieses ausserordentlich verdienstvollen Werkes zurückkommen, wenn dasselbe vollständig vorliegt, was schon im Früh- ling dieses Jahres mit 4 Lieferungen der Fall sein soll; wir wollen aber nicht versäumen, unsere Leser wenigstens noch mit der Disposition des ganzen Buches bekannt zu machen. — Die Einleitung bespricht, nachdem die allgemeine Aufgabe der Untersuchungen präzisiert worden, das denselben zugängliche Material, das naturnotwendig ein sehr be- schränktes ist, und die hauptsächlichsten der auf dasselbe anwendbaren Methoden, begrenzt den Stoff dahin, dass hier nur die Lebensthätigkeiten des Embryos und seiner Teile von der ersten Organanlage an bis zum Augenblick der Geburt behandelt werden sollen, und gibt die Einteilung des ganzen Werkes. Danach wird mit der Blutbewegung des Embryos. begonnen; hieran schliesst sich die embryonale Atmung, an diese die embryonale Ernährung mit den Absonderungen und der Wärmebildung. Dann folgen die Elektrizität, Motilität und Sensibilität des Embryos. Den Schluss sollen einige Angaben über das embryonale Wachstum und übersichtliche Zusammenstellungen bilden. Hinsichtlich der psychischen Äusserungen und Anlagen des neugebornen Menschen und dessen weiterer Entwickelung kann Verfasser bereits auf sein interessantes Buch über »Die Seele des Kindes« (Leipzig 1882) verweisen, von dem schon eine zweite Auflage in Vorbereitung ist. — Welch’ weitreichende Bedeutung diese Forschungen für das Verständnis des Menschen, insbesondere auch für seine psychische Seite haben werden, lässt sich gegenwärtig noch kaum ahnen, und wir können nur wünschen, dass sie recht lebhafte Nacheiferung Litteratur und Kritik. 79 finden mögen; der schönste Erfolg kann, nachdem so trefflich Bahn ge- brochen worden ist, auf diesem jungfräulichen Boden nicht ausbleiben. NV. SEUBERT, Prof. Dr. Morımz, Grundriss der Botanik. Zum Schul- gebrauch und als Grundlage für Vorlesungen an höheren Lehranstalten bearbeitet von Dr. W. v. Auuzs, Prof. am Polytechnikum in Stuttgart. 5. Aufl., m. vielen Holzschn. Leipzig, C. F. Winter, 1883. 290 S. 8°. MRNS0: Pi. Der Seubertsche Grundriss hat sich ebenso wie das grössere Lehr- buch desselben Verf. in seinen früheren Auflagen so viele Freunde er- worben, dass es wohl angemessen erscheint, dasselbe in verjüngter Gestalt wieder aufleben zu lassen. Der Herausgeber hat dabei, wie er selbst sagt, »schon aus Pietät nur solche Änderungen vorgenommen, die durch- aus infolge neuer Anschauungen und Untersuchungen, sowie des er- weiterten Leserkreises geboten erschienen«. In der That kann und muss man sich mit diesem Standpunkt und seiner Durchführung ganz einver- standen erklären, so lange man die Aufgabe des botanischen Unterrichts an niederen und höheren Schulen nur darin erblickt, dem Schüler vor allem eine tüchtige Kenntnis des Systems und der einheimischen Flora beizubringen und ihn zu befähigen, die unterscheidenden Merkmale selbst aufzufinden und zu verstehen. Der Vertreter dieses Prinzips wird zwar die wissenschaftliche Morphologie, Physiologie und Entwickelungsgeschichte auch als sehr wertvolle Wissenszweige gelten lassen, dieselben aber, soweit sie überhaupt in den Schulunterricht einbezogen werden können, nicht anders behandeln als die Systematik auch: als eine Reihe interes- santer Thatsachen, die der Schüler zu »lernen« hat. Und für solche An- sprüche ist das Büchlein eine treffliche Gabe: der Stil knapp und klar, der Stoff mit hinlänglicher Ausführlichkeit und doch nicht weitschweifig behandelt, die Anordnung übersichtlich, die Resultate neuerer Forschungen da, wo sich Gelegenheit dazu bot (wir nennen beispielsweise die Kapitel über Zellbildung und über Ernährung und Wachstum der Pflanzen) ge- wissenhaft berücksichtigt und mit anerkennenswerter Kritik benützt. — "Wir brauchen jedoch kaum zu sagen, dass unser Standpunkt ein anderer ist, dass wir uns einen fruchtbringenden und dauernd anregenden Unter- richt in der Botanik nur auf dem Boden der Deszendenz- und Selektions- lehre denken können. Inwiefern das vorliegende Werk den solcher Auf- fassung entspringenden Ansprüchen zu genügen vermag, darüber klärt u. a. schon die einzige Thatsache hinreichend auf, dass die Anpassung der Blumen an Insektenbestäubung und alles, was damit zusammenhängt, auf einer halben Seite oder streng genommen durch den einen Satz er- ledigt wird: »Bei dieser Gelegenheit |beim Aufsuchen des Honigs] kommt der behaarte Leib der verschiedensten Insekten infolge der darauf ein- gerichteten Blütenform mit dem klebrigen ...... Pollen in Berührung und wird beim Besuch einer andern Blüte der gleichen Art an der kleinen klebrigen Narbe abgesetzt, um sich von neuem mit Pollen zu bestäuben« — nebenbei gesagt eine fatale Ausnahme von der sonst einfachen und logischen Ausdrucksweise des Herausgebers, dem doch wohl hier die ganze s0 Litteratur und Kritik. Verantwortlichkeit zufällt. Nach dem Gesagten können wir das Buch nur insofern interessant finden, als es uns zeigt, wie sich die moderne Wissenschaft in einem Gemälde ausnimmt, dem jegliche (phylogenetische) Perspektive fehlt. N. Tabellen der Kohlenstoff-Verbindungen. Nach deren empirischer Zusammensetzung geordnet von M. M. "Rıcarar. Berlin, Verlag von Robert Oppenheim, 1884. Das handliche Buch bietet auf ca. 500 Seiten nebst Hinweis auf Quellen und Originalarbeiten, sowie Angabe des Namens und des Schmelz- und Siedepunktes etc., eine Zusammenstellung sämtlicher z. Z. bekannten Kohlenstoffverbindungen mit Einschluss und gerade spezieller Berück- sichtigung der selteneren und weniger erforschten Körper und zwar ledig- lich nach den Formeln, resp. nach der Zahl der Kohlenstoff-, Wasser- stoff-, Sauerstoff-, Stickstoff- ete. Atome geordnet. Wenn nun auch der moderne Chemiker wegen des ihm eigenen horror vor empirischen Formeln das Buch nicht ohne Voreingenommen- heit gegen dasselbe in die Hand nehmen wird, so dürfte er sich bei genauerer Durchsicht desselben doch bald davon überzeugen, dass gerade die vom Verfasser gewählte Anordnung es ermöglicht, einerseits mit Um- gehung so mancher Schwierigkeiten der Nomenklatur das scheinbar kaum zu bewältigende Material auf möglichst knappen Raum zusammen- zudrängen, anderseits jede z. Z. bekannte und untersuchte Verbindung mit Angabe der Schmelzpunkte, Siedepunkte und möglichst vollständiger Litteratur sofort aufzufinden. In manchen, allerdings sehr vereinzelten Fällen, sobald es sich nämlich um chemisch reine, organische Substanzen handelt, dürfte die Zusammenstellung sogar dem Analytiker recht nützlich sein. Wesentliche Dienste leistet sie aber sicher jedem, der sich über das Vorhandensein resp. Nichtvorhandensein von Verbindungen, über Isomeriefälle, bezügliche Litteratur etc. zu orientieren hat. Um den Umfang nicht unnötig zu vermehren, hat Verf. die Litteratur bei wohlbekannten Verbindungen weggelassen; dafür fand ich die mir gerade geläufige Litteratur einiger seltenerer Körper um so gewissen- hafter zusammengestellt. Auch die äussere Ausstattung des Buches lässt nichts zu wünschen übrig. Nach alledem darf wohl behauptet werden, dass die dargebotenen Tabellen, wie es auch Verf. hofft, das wertvolle Beilsteinsche Werk in gewisser Richtung ergänzen und besonders allen denen willkommen sein werden, welchen gleichzeitig eine gute fachwissenschaftliche Bibliothek zu Gebote steht. Chemnitz. Dr. GOLDBERG. Ausgegeben den 31. Januar 1884. Die Moundbuilders und ihr Verhältnis zu den historischen Indianern. Von Dr. E. Schmidt (Leipzig). T. Überblickt man die Arbeiten der amerikanischen Anthropologie, so findet man auf fast allen Gebieten derselben eine rege Thätigkeit. Am wenigsten ausgedehnt vielleicht auf dem Felde der physischen Anthropo- logie, wo es nach Morrons’, Wymans, Mexıcs’, Orıs’ Tode jetzt fast nur noch der treffliche CArr ist, der sich diesem Zweig der Anthropologie zugewandt hat. Weit breiter ist das Feld der ethnographischen Diszi- plinen angebaut: hier ist es vor allem das bureau of ethnology, PoweEnn an der Spitze, und neben ihm ein Stab wissenschaftlich hervorragender Männer, die reiche Früchte einernten. Keinem Fach aber hat sich das Interesse in ausgedehnterem Masse zugewandt, als dem der amerikanischen Archäologie. Durchblättern wir nur z. B. die Smithsonian reports, so finden wir in allen Jahrgängen eine ausserordentlich grosse Summe von archäologischen Mitteilungen. Mounds, Mounds, und immer wieder Mounds! Hervorragende Männer sind es auch hier wieder, die an der Spitze stehen; ich brauche nur zu nennen einen RAu, Mason, PurnAam, CARR, Namen, welche es verbürgen, dass auch hier in ernstem wissenschaftlichem Sinne gearbeitet wird. Es liegt aber in der Natur der Sache, dass bei dem ausgedehnten Interesse, das den Mounds zugewandt ist, auch manches laienhafte, nicht immer streng wissenschaftliche Bemühen mit unterläuft, das sich ausspricht sowohl in der oberflächlichen Beobachtung als auch im Mangel gesunder Kritik, in der Neigung zu übertreiben, alles für sehr alt, sehr bedeutend, sehr wunderbar zu halten. Neben der nüch- ternen, exakten Arbeit geht eine laienhafte Neigung zu mystischen Vor- stellungen in der Moundforschung einher. Wir können beides zurück- verfolgen, solange als die Mounds überhaupt Gegenstand der Beobachtung und der Spekulation gewesen sind. Als vor jetzt fast genau hundert ‚Jahren nach Beendigung des Unabhängigkeitskrieges die erste europäische Ansiedelung unter Pursam sich an den Gewässern des Ohio festsetzte Kosmos 1884, I. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XIV). 6 82 E. Schmidt, Die Moundbuilders und ihr Verhältnis (1788), konnte es nicht fehlen, dass die gewaltigen alten Erdhügel und Wälle am Muskingum, Scioto, Miami, Paint creek etc. die Aufmerksamkeit der Ansiedler auf sich zogen. Schon 1791 sprach Capt. Hrarr Sätze aus, die bis jetzt fast die Macht eines Dogmas behauptet haben: diese grossen Erdwerke könnten nicht das Produkt von Jägervölkern sein, sondern nur das Werk festsitzender volkreicher, unter festen Gesetzen und geordneter Regierung lebender Kulturstämme; der Zustand der Erd- werke und der Bäume auf ihnen wiesen sie in die Zeit vor Kolumbus. zurück und das Fehlen von Traditionen der Indianer über sie beweise, dass sie weder von den jetzigen Indianern noch von deren Vorfahren errichtet worden sein könnten. Bei den ersten Erforschern Ohios, nüchternen vorurteilsfreien Männern, kam kein Zweifel darüber auf, dass die gerade in diesem Staat so häufigen Ringwälle einst feste Plätze gewesen waren. Erst weit später, 1803, fand ein Bischof, MApıson, heraus, dass die Umwallungen nicht für militärische Zwecke gedient haben könnten; er wies darauf hin, dass sie für Festungen zu zahlreich, zu verschieden an Gestalt und Grösse, oft zu ungünstig, z. B. unter beherrschenden Höhen gelegen seien; die geringe Höhe der Wälle, der Umstand, dass der Graben oft nach innen vom Wall liege, sprächen dagegen. Damit waren die Wälle für viele ihres defensiven Charakters entkleidet und man beeilte sich, in die amerikanische Archäo- logie die »sacred inclosures<, die »Temple mounds«, die »sacrificial mounds« einzuführen. Soldat und Bischof, nüchterne Beobachtung und mystisches Ergehen! So sind schon frühzeitig die beiden Richtungen fixiert, die bis jetzt in der amerikanischen Archäologie nebeneinander be- standen. Vielleicht war es gerade dieser geheimnisvolle Zug, der die Mounds bei der grossen Laienwelt so populär machte. Die grosse Mehr- zahl aller derer, welche Mounds durchwühlen und über Mounds sprechen und schreiben,, steht wenigstens auf dem reiz- und geheimnisvolleren Standpunkt des höheren Ursprungs der Mounds. So der verdienstvolle ATWATER, der zuerst 1320 eine umfassende Zusammenstellung gab, so SquIER, der energische, federgewandte Redakteur des Chillicothe Pioneer in seinen vortrefflich ausgestatteten, durch die Autorität des Smithsonian | Institution empfohlenen Ancient Monuments, so die vielen Handbücher bis herab auf die in allerneuster Zeit erschienenen von BAtLpwın, FOoSTER, McLean, Conant und SHoRT. Die Geschichte aller Erfahrungswissenschaften läuft in zwei abwech- selnden Phasen ab: in der einen werden die Thatsachen gesammelt, in der zweiten kritisch verarbeitet und zu einem System verbunden. Die ganze bisherige Moundforschung trägt den Stempel intensivsten, oder vielmehr extensivsten Sammelns. Alljährlich werden Hunderte von Mounds topographisch festgelegt, zum grossen Teil ausgegraben, in vielen Fällen. dabei leider auch zerstört. Aber es mehren sich die Anzeichen, dass die kritische Verarbeitung und Sichtung mehr in den Vordergrund treten wird; von allen Seiten tritt man an die Rätsel der Mounds heran, selbst von sagengeschichtlicher und linguistischer Seite ist die Frage aufgenommen worden, und so dürfen wir hoffen, dass diesen konzentrischen Angriffen das Dunkel weichen und dass das vom ersten wissenschaftlichen Institut zu den historischen Indianern. s3 Amerikas, dem Smithsonian Institution geplante zusammenfassende Werk über die Altertümer Nordamerikas eine neue Epoche inaugurieren wird, frei von dem mystischen Beigeschmack, den die bisherige Moundforschung nicht ganz überwinden konnte. Die Vorgeschichte Nordamerikas steht noch nach der Meinung der meisten unvermittelt, als etwas wundersam Fremdartiges der historischen Indianerwelt gegenüber: eine Art Kataklysma hat den Moundbuilder hin- weggerafft und der moderne Indianer ist als etwas ganz Neues an seine Stelle getreten. Erinnert diese Auffassung nicht an jene Zeiten der Geo- logie, in welchen man den Zusammenhang geologischer Geschichte durch die Erdumwälzungen gewaltsam auseinanderriss? Aber gerade wie an die Stelle der Erdrevolutionen die allmähliche Entwickelung, wie an Stelle der Neuschöpfungen von Arten der Transformismus trat, so wird auch die Theorie der Moundkataklysmen durch die Erkenntnis des historisch-gene- tischen Zusammenhangs von Sonst und Jetzt ersetzt werden. 1. Die überwiegende Mehrheit der amerikanischen Archäologen sieht in den Erbauern der Mounds eine bestimmte ethnologische Einheit, ver- schieden von den historischen Indianern durch körperliche Merkmale und durch weit höhere Kultur. Diese »Moundbuilders« bevölkerten in dicht- gedrängten Ansiedelungen die Thäler des Mississippibeckens, eine des- potische Herrschergewalt regierte das Volk, dessen Religion eine Sonnen- anbetung war mit heiligen Kultusstätten, Tempeln und Opferplätzen, auf denen Menschenopfer dargebracht wurden. Die Subsistenz der Mound- builders beruhte auf ausgedehntem Feldbau, in Handwerk und Kunst waren sie weit fortgeschritten, sie verstanden es zu spinnen und zu weben, der Erde ihre Mineralschätze, Kupfer, Glimmer etc. etc. abzugewinnen, den Thon in kunstvolles Gerät zu formen, in Stein Tier und Mensch mit hoher Kunstvollendung darzustellen. Zum Schutz des Landes waren auf Anhöhen feste Plätze angelegt, Erdhügel waren die Begräbnisplätze ihrer Toten. Ihre Zeit reicht Jahrtausende weit zurück, ihr Ursprung ist unbekannt, nach langer Besiedelung des Landes wurden sie von barbarischeren Stämmen viele Jahrhunderte, nach manchen sogar Jahr- tausende vor der Entdeckung Amerikas vertrieben. Den Einfluss ihrer Kultur glauben viele in den Kulturstaaten Mexikos, Central-Amerikas und Perus wieder zu erkennen. Werfen wir einen Blick auf die Thatsachen und prüfen wir, wie weit sich diese Theorie mit denselben in Einklang bringen lässt. Wir müssen dabei freilich sogleich bekennen, dass uns die Thatsachen trotz des fast hundertjährigen Studiums der Mounds doch immer noch sehr ungenügend bekannt sind. Ungenügend nicht sowohl extensiv, denn die Menge angesammelten Materials ist eine überreiche, als vielmehr intensiv. Der Mounduntersuchung fehlt es zum grössten Teil an Methode, sie ist bisher im ganzen mehr Altertümer-Jägerei, als wissenschaftlich gründliche Forschung gewesen. Eine glänzende Ausnahme macht hier vor allem die Schule von Cambridge: sie hat uns mit wenigen Ausgrabungen weit 84 E. Schmidt, Die Moundbuilders und ihr Verhältnis tieferen Einblick in die Entstehungsgeschichte vieler Mounds gegeben, als Tausende von Moundsdurchwühlungen vor ihnen. Die Mounds (jede grössere künstliche Erhebung aus Erde oder Steinen heisst Mound im weiteren Sinn) finden sich in Nord-Amerika nicht überall in gleicher Verbreitung. In den Neu-Englandstaaten nur in sehr geringer Anzahl vorkommend, werden sie in den südlichen atlantischen Staaten häufiger; ihre grösste Dichtigkeit erreichen sie zwischen den grossen Seen und dem mexikanischen Golf. Auch jenseits des Mississippi, an den Ufern des Missouri, Kansas, Platte, Arkansas sind sie noch häufig. Als ihre Westgrenze werden die Felsengebirge, als Nordgrenze die Breite der grossen Seen angenommen. Es lassen sich zwei grössere Gruppen von Mounds unterscheiden, die Wallmounds (inclosures) und die Hügelmounds (Mounds im engeren Sinn). Die ersteren stehen bald auf mehr oder weniger steilen Anhöhen, bald in der Ebene. Dass die Bergwälle Verteidigungszwecken dienten, ist so klar, dass niemand einen Zweifel darüber ausgesprochen hat: es sind offenbare defensive Anpassungen an günstige Bodenverhältnisse. Gewöhn- lich wird eine steile isolierte Höhe oder auch eine nur durch einen einzigen Zugang leicht erreichbare Bergzunge gewählt, die Abhänge sind nach Massgabe der Steilheit von höheren oder niederen Stein- oder Erdwällen überragt, an den ebenen Zugängen zur Wallburg sind besonders starke Wälle und tiefe Gräben angelegt, oft in mehrfacher Reihe, und die Thoröffnungen derselben sind noch durch eigene, oft mit grossem Raffinement angelegte Verstärkungen besonders geschützt. In der Nähe der Umwallung, oft am Bergabhang selbst, findet man in der Regel eine Quelle, innerhalb der Wälle die sogenannten Caches, d. h. Vorratsgruben für Lebensmittel. Die Grösse dieser Wallburgen ist sehr verschieden: die kleinsten umschliessen kaum eine Fläche von fünf Acres, während die grösseren (weniger häufigen) bis zu 140 Acres gross sind. Auch bei manchen Wällen der Ebene liest die defensive Bedeutung auf der Hand: es sind solche, die sich an ein steiles Flussufer anlehnen oder eine Landzunge zwischen zwei sich vereinigenden Flüssen mit ein- fachem oder doppeltem Wall und Graben abschneiden. Bei der Mehrzahl der Umwallungen der Ebene weichen dagegen die Meinungen über ihre Bedeutung weit auseinander: es handelt sich hier meist um runde oder quadratische, seltener um elliptische, länglich rechteckige oder achteckige Bauten, die einzeln oder in Gruppen zusammen stehen und dann oft durch ein System von Parallelwällen miteinander verbunden sind. Sie stehen gewöhnlich in der Nähe, oft auch am Zusammenfluss von grösseren Bächen und Flüssen, doch vermeiden sie die unterste Thalsoble und ziehen sich auf die nächsthöheren Thalterrassen zurück. Ihre Grösse ist sehr wechselnd: nach Squrizr und Davıs hat die Mehrzahl der Kreiswälle einen Durchmesser von 250 oder 300 Fuss, doch gibt es daneben auch solche, die eine Fläche von 25, ja selbst bis zu 50 Acres einschliessen. Aus der angeblich gleichen Grösse vieler dieser Ringwälle hat man auf die Existenz eines allgemein angenommenen genauen Masssystems schliessen wollen — gewiss mit Unrecht, da die Grössenangaben der Autoren fast stets nur ungefähre Schätzungen sind, zu den historischen Indianern. 35 wie schon daraus hervorgeht, dass sie meist in runden Zahlen gemacht werden. Ebenso war es ein zu kühner Schluss, wenn man, gestützt auf die Angaben über ganz regelmässige Kreis- und Quadratformen der Um- wallungen, ihren Erbauern höhere mathematische Kenntnisse zugeschrieben hat. Wenn man selbst alle diese Angaben als richtig annehmen wollte (was sie sicherlich nicht immer sind), so lässt sich ein Kreis von 125 oder 150 Fuss Radius sehr leicht mit einem entsprechend langen Strick oder Riemen ohne höheres mathematisches Wissen ziehen, und ebenso dürfte die Konstruktion eines Quadrates mit den allerprimitivsten Hilfsmitteln keine allzugrossen Schwierigkeiten bereiten. In Wirklichkeit sind übrigens die Abweichungen von reinen geometrischen Formen bei den Ringwällen weit häufiger als richtig gezeichnete Quadrate oder Kreise. Man hat sich seit langem daran gewöhnt, diese in sich geschlossenen Wälle der Ebene für »sacred inclosures« zu halten, freilich mit schwachen, aber doch immer wiederholten Gründen. Als solche werden angegeben: ihre oft von benachbarten Höhen beherrschte Lage, das häufige Vor- kommen der Verbindung mehrerer Ringwälle zu einem grossen Ganzen, die Niedrigkeit der Wälle, das öftere Fehlen eines Grabens, der, wenn er vorkommt, innerhalb des Walles liegen soll, endlich das Vorhandensein von sogenannten Tempelmounds oder Opfermounds, die man selbst wieder für heilige Stellen ansah, innerhalb der Umwallung. Keiner dieser Gründe ist bei unbefangener Prüfung stichhaltig. Was man beherrschende Höhen genannt hat, ist es wohl im Sinn der modernen Artillerie, nicht aber für barbarische Völker, deren Distanz-Angriffswaffen sich nicht über die Leistungen von Bogen und Pfeil erhoben haben; die Niedrigkeit der Wälle konnte durch Palissadierung, wie sie nachweislich bei den Indianerbefestigungen in hoher Vollkommenheit bestand, aus- geglichen werden; sie ist übrigens in Wirklichkeit gar nicht so unbedeutend, sondern beträgt im Mittel 3—7 Fuss, ja einzelne Wälle, wie z. B. der grosse Kreiswall von Newark, erreichen 12 Fuss senkrechte Höhe, wozu noch die 7 Fuss betragende Tiefe des Innengrabens kommt. Warum man aus der Gruppierung mehrerer benachbarter Ringwälle zu einem grösseren Ganzen auf die religiöse Bedeutung dieser Bauten schliessen wollte, ist ganz unerfindlich. Man hat es hier augenscheinlich mit der Verbindung einer Anzahl kleinerer Ringwälle zu einem einzigen festen Platz, einer Festung mit einer Anzahl Einzelforts zu thun. Ebenso schwer zu ver- stehen ist es, wenn man in dem Vorhandensein eines inneren Grabens einen Grund zur Annahme von »sacred inclosures« finden wollte. Bot denn eine solche Einrichtung dem Verteidiger nicht eine stärkere Deckung, als wenn der Graben aussen lag? Darum haben ja gerade die unbe- zweifelt defensiven Bergwälle den Graben innen, wie selbst SQuIER zu- geben muss. Auch das Vorhandensein von sogenannten Tempelmounds und Opfer- altären innerhalb der Wälle wurde als Grund gegen die defensive Natur der letzteren angeführt. Dabei ist freilich zu bemerken, dass die Deutung solcher heiligen Bauten doch selbst mehr als fraglich ist. Aber selbst die Richtigkeit einer solchen Auffassung zugegeben, würde dann die An- wesenheit heiliger Stätten in den befestigten Dörfern gegen den fortifi- s6 E. Schmidt, Die Moundbuilders und ihr Verhältnis katorischen Zweck der Umwallung sprechen? Sind Strassburg, Köln ete. deshalb keine Festungen, weil auch in ihnen Kirchen und Don aufragen ? Den angeführten Gründen können wir somit kein grosses Gewicht beilegen, um so weniger, als diese >sacred inclosures< manche Züge auf- weisen, die entschieden fortifikatorischer Natur sind. Dahin gehört die Verdoppelung des Walles an schwächeren, exponierteren Stellen, wie z. B. in den von SQUIER beschriebenen Hopeton works, Cedar Bank works etc. Die Gruppierung mehrerer kleinerer Forts zu einer grösseren Festung haben wir bereits erwähnt. Eine unzweifelhaft defensive Bedeutung hat ferner die Verstärkung der Eingänge durch mannigfache Mittel, durch vorgesetzte Mounds, durch Terrassenmounds hinter ihnen, durch besondere Führung des Walles an den Thoren etc. Ja nach Brackenkipge haben die ersten Ansiedler der Ohiogegenden auf manchen dieser Ringwälle noch »the remains of pallisadoes« (Reste von Palissaden) gefunden. Dass diese »sacred inclosures« nicht Heiligtümer, sondern ganz profane Dörfer um- schlossen, hat schliesslich Pummam in einer sehr gründlichen Untersuchung eines Walldorfes bei Lebanon in Tennessee unzweifelhaft dargethan. Auch hier lag der Wall aussen, der Graben innen, beide umschlossen aber ausser einigen kleineren und grösseren, konischen Mounds etwa hundert kreisrunde Wälle von 15 bis 40 Fuss Durchmesser. In diesen wurden ganz konstant abgenutztes Hausgerät, Feuerstellen und Küchenabfälle, in dem Boden unter ihnen bisweilen auch Gräber gefunden. Pursam hat jeden Zweifel beseitigt, dass diese kleinen Wälle Ruinen alter, wahr- scheinlich mit Erde und Rasen gedeckter Hütten innerhalb des festen Walles waren. Wir haben damit eine richtige Deutung der kleinen Kreis- wälle gewonnen, die auf den Plänen Sqursrs und anderer so häufig wiederkehren und die gewöhnlich als kleinste »heilige Wälle« aufgefasst wurden. Andere kleine viereckige Schuttwälle in solchen Wallburgen, wie z. B. die am Stoner’s creek in Kentucky zeigen, dass nicht nur runde, sondern auch viereckige Häuser gebaut wurden. In Verbindung mit den Ringwällen stehen in vielen Fällen Längs- wälle, bald einfach, bald als doppelter Parallelwall. Oft verbinden sie die kleineren Werke wie eine Festungsmauer die einzelnen Forts, in anderen Fällen führen sie zu einer Quelle oder einem Fluss hinab; meistens liegt auch hier der defensive Zweck dieser Wälle klar vor Augen. Einzelne dieser Parallel-Wälle mögen auch zu geselligen gymnastischen Spielen gedient haben, wenn man wenigstens aus den Beobachtungen von Reisenden einen Rückschluss machen darf auf jene vorgeschichtlichen Zeiten. Darf man auch aus der Zahl und Ausdehnung der Walldörfer auf eine verhältnismässig dichte Besiedelung des Landes, auf eine sesshafte Bevölkerung mit geordneten sozialen Verhältnissen schliessen, so beweist doch nichts die überschwenglichen Vorstellungen, welche die staatlichen Einrichtungen der »Moundbuilders« denjenigen Ehe pyramidenbauenden Ägyptens an die Seite setzen wollten. Man hat von unbedingter Herr- schaft über Leben und Tod, von Sklaverei der Massen etc. gesprochen, man wollte das Staatswesen der Moundbuilders mit den despotischen Zuständen vergleichen, wie sie nach den Berichten spanischer Abenteurer - zu den historischen Indianern. 87 in Mexiko, Peru etc. geherrscht hätten*. Alles reine Phantasiegebilde! In Wirklichkeit sagen uns die Mounds über die staatlichen Einrichtungen ihrer Bewohner nichts. Wenden wir uns zu den eigentlichen Erdhügeln, den Mounds im engeren Sinn, so treten uns auch hier wieder verschiedene Formen ent- gegen. Wir können danach drei Hauptgruppen unterscheiden, einfache spitze Erdhügel, Mounds, die oben von einer ebenen Fläche begrenzt werden, und Reliefbildermounds, die sogenannten effigy-, symbolice oder emblematic mounds. Von allen Mounds sind die der letzteren Gruppe zugehörigen die rätselhaftesten. Sie sind Piktographien im grössten Stil, auf den felsen- leeren, ebenen Boden der nördlichen Prairien in Riesenzügen hingeschrie- bene, 50—200 Fuss und mehr lange, nur wenige Fuss hohe Relief- darstellungen irgend eines Vierfüsslers, Vogels oder des Menschen, im Profil aufgefasst, aber gewöhnlich nur in so allgemein schematischer Zeichnung, dass die Deutung eines bestimmten Tieres fast immer unmög- lich ist, so dass man Bezeichnungen wie lizard-, turtle-, bear-, alliga- tor- ete. Mound immer mit grossem Vorbehalt aufnehmen muss. Dasselbe gilt vom sogenannten Mammut-Mound in Wisconsin, an welchen die abenteuerlichsten Vorstellungen über das Alter der Moundbuilders geknüpft worden sind. Selten stehen diese Relieffiguren isoliert, gewöhnlich sind sie gruppen-, oft reihenweise angeordnet. Das Material ist die Erde und der Lehm der Umgebung; es wurde ringsherum von der Oberfläche, nicht aus besonderen Gruben entnommen. Nachgrabungen in diesen Mounds haben in der Regel ein negatives Resultat in bezug auf beson- dere Einschlüsse ergeben, in einzelnen Fällen fand man Menschenknochen in ihnen, die aber wahrscheinlich von späteren Begräbnissen herrührten. Eine vollkommen befriedigende Erklärung dieser Mounds ist bisher noch nicht gelungen; dass sie bei dem alle sozialen Verhältnisse der Völker Amerikas beherrschenden System der nach Tieren benannten Geschlechter in irgend welcher Beziehung zu diesen standen, ist mindestens wahrscheinlich; möglicherweise deutet eine noch später zu erwähnende Notiz CHuaruevoix’ darauf hin, dass wir sie als Fundamente von Häusern der verschiedenen gentes anzusehen hätten, doch ist eine Theorie über ihre Bedeutung jetzt noch mindestens verfrüht, vielleicht für immer unmöglich. Eine zweite Gruppe von Erdhügeln ist dadurch charakterisiert, dass ihre Spitze stets abgestutzt und geebnet ist. Ihr Umriss bildet stets eine regelmässige Figur, einen Kreis, ein Quadrat, ein längliches Recht- = Bis in die neueste Zeit hinein wird von Geschlecht zu Geschlecht die Fabel über die politischen und religiösen Institutionen der Mexikaner und Peruaner ver- erbt, so wie sie die spanischen Schilderungen geschaffen haben. -Die Sucht jener Abenteurer, Wunderbares zu berichten, und anderseits die Unmöglichkeit, grund- verschiedene soziale Einrichtungen anders aufzufassen als mit dem Massstab des Spaniers, der nichts Höheres kannte als des Königs Majestät und des Priesters Allmacht und der diese deshalb überall suchte und natürlich auch fand, haben uns über die Einrichtungen der amerikanischen Kulturstaaten die falschesten Zerrbilder hinterlassen, die bei der eigenartigen Kulturentwickelung der amerikanischen Völker einfach eine Unmöglichkeit sind. 88 E. Schmidt, Die Moundbuilders und ihr Verhältnis eck etc., ihre Grösse ist meist ansehnlich, die Höhe verschieden von nur wenigen Fuss bis zu 90 Fuss, die der Riese aller Mounds, der sogenannte Cahokia Mound in St. Louis, misst. Rampenartige Wege führen zur Höhe hinan, bisweilen ist die Böschung durch Terrassen stufenartig unterbrochen. Häufig stehen sie mit anderen Terrassenmounds oder mit gewöhnlichen konischen Mounds zu Gruppen vereinigt, die dann bisweilen von einem Ringwall umschlossen werden. Man hat aus der Ähnlichkeit mit den Teocallis, den Stufenpyramiden, auf welchen die mexikanischen Tempel standen, geschlossen, dass auch diese Mounds Tempel getragen hätten, und dieser Gedanke wurde mit Vorliebe gepflegt und bis ins einzelne mit mehr Phantasie als vorsich- tigem Urteil ausgeschmückt. Kein einziger Fund weist darauf hin, dass gerade Tempel auf ihnen standen, wenn auch ihre Deutung als Sub- struktionen von Gebäuden gewiss in den meisten Fällen richtig ist. Be- sonders lehrreich war hierfür die Ausgrabung eines solchen Terrassen- mounds in Lee County, Virginia, durch L. Carr: die untere Hälfte dieses Mound bestand aus fast ganz reiner, lehmiger Erde, die nur sehr spärlich hie und da etwas Asche, ein Stückchen Kohle etc. enthielt; der obere Teil dieses Mounds dagegen war dicht durchsetzt von kleinen Häufchen Asche, Kohle, Stücken gebrannten Thones, aufgeschlagenen Markknochen von Säugetieren, Vogelknochen (zum Teil kaleiniert) und Fragmenten gebrauchten und abgenutzten Hausgeräts. Es unterliegt wohl keinem Zweifel, dass dieser Mound Wohnungen trug: ursprünglich als Fundamentmound für eine Hütte bis zu einer Höhe von 10 Fuss rasch aufgeführt, wuchs er später durch allmähliche Anhäufung von Küchenabfällen, durch Erneuerung von Feuerherden aus Thon, vielleicht auch durch herabfallende Erde und Rasen, mit denen das Dach gedeckt war, langsam bis zu seiner jetzigen Grösse empor. Auch der gewaltige Cahokia-Mound scheint, so riesig auch seine Dimensionen sind (er war eine abgestutzte vierseitige Pyramide von 750:500 Fuss Grundfläche, 300 ::160 Fuss Kopffläche und 90 Fuss Höhe), eine gleiche Entstehungs- geschichte zu haben, wenigstens so weit er nicht ursprünglich ein natür- licher Hügel war; da wo Regengüsse durch tiefe Rinnen das Innere dieses Mound blossgelest haben, fand Pursam überall in ihm zerstreute Topf- scherben, Steingerätfragmente, Kohle und Asche, zerschlagene Tierknochen, Feuerherde von gebranntem Thon etc. Und wenn wir in so vielen Aus- grabungsberichten von häufigen Feuerspuren, Asche etc. in solchen Mounds lesen, wenn z. B. der hierhin gehörige grosse Mound am Etowah in Georgia aus schwarzer Erde bestand, in welcher Whirtuesey zahlreiche Klumpen rotgebrannten Thones fand, so spricht das doch wohl, so wenig vollständig auch meist diese Beobachtungen sind, für eine gleiche Ent- stehungsgeschichte und gleiche Bedeutung dieser Mounds. Die Steilheit der Böschung machte die darauf stehenden Hütten zu kleinen Festungen, deren Verteidigungsfähigkeit noch gelegentlich durch Palissaden erhöht wurde, wie sie z. B. Carr auf dem obenerwähnten Mound in Lee County S—10 Fuss unter dem oberen Rand rings um den Mound herum nach- gewiesen hat. Wir kommen zur dritten Gruppe der konischen Erdhügel, der ein- zu den historischen Indianern. 89 fachsten in ihrer äusseren Form, der mannigfachsten in ihrer Deutung. Auch hier hat man natürlich die interessante Würze nicht entbehren können: man hat eine ganze Anzahl derselben als Altar- oder Opfer- mounds bezeichnet. Manche derselben haben nämlich nahe am Boden einen sogenannten >Altar«, d.h. eine flach-schüsselförmige oder auch ebene Masse von hartgebranntem Thon, seltener von Steinen, von ver- schiedener Gestalt, bald rund, bald elliptisch, quadratisch, länglich rechteckig etc. Auch die Grösse dieser »Altäre« zeigt kein konstantes Verhalten, es sind solche von nur 2 Fuss und wieder andere von 50 Fuss Länge erwähnt. Sie sind niedrig und stehen meist direkt auf dem gewachsenen Boden, seltener auf einer kleinen Erhöhung von Sand. Auf ihnen fand man Menschengebeine, Geräte, Schmucksachen (in einem Falle z. B. Kupferringe, die noch zu je 5 vereinigt die Knochen beider Arme eines Skeletts umspannten), ferner Glimmerplatten, besonders schön ge- arbeitete Tabakspfeifen etc., alle mit Spuren intensiver Feuereinwirkung. Der Mound, welcher diese »Altäre« bedeckt, ist aus konzentrischen, mit- einander abwechselnden Schichten von Kies, Erde, Sand etc. aufgebaut — wenigstens in der Theorie. Denn wenn man der Methode dieser Ausgrabungen näher nachforscht, so findet man, dass immer nur in der Axe des Mound ein verhältnismässig enger Schacht bis zur Fundschicht niedergebracht wurde, die bei weitem grössere Masse des Mound wurde von der Ausgrabung gar nicht berührt und die konzentrische Schichtung des ganzen Mound ist daher in den allermeisten Fällen mindestens frag- lich. Das berühmteste Vorkommen dieser Mounds trafen Davıs und SquIER am Scioto, drei Meilen nördlich von Chillicothe, in der von ihnen sogenannten Mound-city, einem Ringwall, der 26 Mounds umschloss, die sämtlich geöffnet wurden und zum grossen Teil sogenannte Altäre enthielten. Auf einzelnen dieser letzteren waren nur Gegenstände einer bestimmten Art niedergelegt, auf einem Altar z. B. nur Pfeifen, auf anderen nur Lanzenspitzen etc. Alle diese Funde beweisen aber doch nur, dass hier Leichen ver- brannt und dass dabei als Leichengabe wertvolle Gegenstände dem Toten mitgegeben wurden. Die Annahme eines »Altars<, auf welchem den Göttern Menschenopfer dargebracht wurden, ist eine pikante Ausschmück- ung, die vor besonnener Betrachtung nicht bestehen kann. Würde man denn einen Altar mit Kies und Sand und Lehm zugedeckt haben? Und zu welchem Zweck? Und ist anderseits Leichenbrand mit reicher Leichengabe und nachträglicher Häufung eines Grabhügels nicht bei allen barbarischen Völkern ein ganz allgemeines Vorkommen? Der Herd, auf welchem man den Toten verbrannte, war nur eine grössere Wiederholung des Herdes, der im Hause in täglichem Gebrauch war. Auch die schicht- weise Aufhäufung des Grabhügels, selbst wenn ihre Regelmässigkeit besser konstatiert wäre, als sie es ist, hat im Widerspruch mit Sauer ihre genaue Analogie in vielen Grabhügeln der alten Welt; sie erklärt sich einfach dadurch, dass man den Mound nicht auf einmal bis zu seiner defini- tiven Grösse aufhäufte, sondern dass man zu verschiedenen Zeiten (viel- leicht an besonderen Erinnerungstagen) neue Schichten überdeckte, wobei nicht immer das gleichartige Material genommen wurde. 90 E. Schmidt, Die Moundbuilders und ihr Verhältnis Wir können die sogenannten sacrificial mounds für nichts anderes halten als für Grabhügel mit Leichenbrand. Mit dieser Deutung, sowie mit der profanen Auffassung der temple-Mounds und der »sacred inclo- sures« fallen auch die Phantasiebilder in sich zusammen, mit welchen man ihre Bestimmung sowie das ganze religiöse und priesterliche Wesen der Moundbuilders ausmalte. Man wusste davon noch viel Wunderbareres zu berichten als von den staatlichen Einrichtungen. Wie genau man unterrichtet war, mag das eine Beispiel zeigen, dass ein Autor von ein- zelnen Mounds ganz genau angeben konnte, wie hier im Frühjahr alljährlich der älteste Mann des Stammes geopfert wurde, dem es eine besondere Ehre war, geschlachtet zu werden, so dass er sich immer freiwillig als Schlachtkandidat anbot. Im Herbst dagegen wurde auf denselben Altären ein Weib den Göttern dargebracht! — Es ist besser, durch alle solchen Fabeleien über die staatlichen und religiösen Institutionen der Mound- builders einen Strich zu machen; wir machen einen entschiedenen Fort- schritt in der Kenntnis derselben, wenn wir offen eingestehen, dass wir darüber nichts wissen. Ausser den Grabhügeln mit Leichenbrand kommen, und zwar in weit grösserer Anzahl, Grabhügel ohne Leichenbrand vor, die von den amerikanischen Archäologen als sepulchral mounds bezeichneten Tumuli. Sie sind konisch, von meist kreisförmigem Grundriss, bald isoliert, bald gruppenweise zusammenstehend, in ihrer Grösse sehr wechselnd, von nur wenigen Fuss bis zu 80 Fuss, im Mittel 15 bis 25 Fuss hoch. Gewöhnlich findet sich noch am Boden in ausgestreckter Lage ein Skelett, eingehüllt in Rinde, Matten, rohes Gewebe oder Felle, neben ihm die später zu betrachtenden Grabbeigaben. Näher an der Oberfläche stösst man oft auf spätere, sekundäre Begräbnisse, die sich durch Störung der Erd- schichten sowie durch die abweichende Art der Beisetzung, in manchen Fällen auch durch Beigaben europäischer Herkunft von den eigentlichen Moundbuilder-Begräbnissen unterscheiden sollen. So verhält sich der früher als typisch betrachtete Sepulchral Mound Ohios. Mit der Ausdehnung der Mound-Untersuchungen stellte sich jedoch heraus, dass die Verhältnisse nicht immer so einfach sind, sondern dass eine sehr grosse Mannigfaltigkeit in der Art der Beisetzung vorkommt: statt eines Skeletts findet man oft eine grössere Anzahl in regelmässigen Reihen, die Leichen sind bisweilen radial um einen Mittelpunkt gelegt, mit dem Kopf nach innen, oder umgekehrt, in anderen Fällen liegen die Menschengebeine eines Massenbegräbnisses in wüsten Haufen durcheinander; die Leichen sind öfters in besonderen, aus Holzblöcken grob hergestellten Kammern beigesetzt, Leichenkammern aus Luftmauern ohne Mörtel kommen in Mounds von Missouri vor; am häufigsten aber sind die Stein- plattengräber, Totenkammern, die durch Steinplatten gebildet sind, welche Boden und Dach und beide Seitenwände und die schmale Kopf- und Fusswand umschliessen. Sie kommen bald einzeln bald in grösserer Anzahl und dann oft in mehrfachen Stockwerken übereinander in einem Mound vor. So sind die sepulcralen Mounds gerade wie bei uns in der alten Welt äusserst mannigfache Gebilde. zu den historischen Indianern. 91 Ausser den bisher betrachteten Moundgruppen hat man noch eine Anzahl anderer Kategorien aufgestellt, so die Befestigungsmounds, welche wir bereits bei der Besprechung der Ringwälle kennen lernten, die soge- nannten Beobachtungsmounds (Mounds of observation), d. h. hoch auf weithin sichtbaren Anhöhen gelegene, Feuereinwirkung zeigende Mounds, die jedoch bei Ausgrabungen gewöhnlich Menschenknochen enthielten und daher wohl meist den Begräbnismounds zugerechnet werden müssen, ferner die Stone Mounds, aus Steinen roh aufgeworfene Hügel, die übrigens SqQuIER für zu roh hält, als dass sie den Produkten der hochzivilisirten Moundbuilders zugerechnet werden könnten, endlich die von SQUIER sogenannten anomalen Mounds, die nicht recht in irgend eine Gruppe seines Systems hineinpassen wollen. Wenn wir jetzt noch einmal zurückblicken auf die geographische Verbreitung der Mounds, so finden wir, dass die verschiedenen Arten derselben nicht in gleichmässiger Verteilung überall vorkommen, sondern dass sich eine Gegend durch das Vorherrschen oder ausschliessliche Vor- kommen einzelner Formen auszeichnet, die in einer anderen Gegend fehlen, während andere Moundformen an ihre Stelle treten. Die nördlichen Prairieebenen zwischen Prairie du chien und Michigan-See, in Missouri, Iowa, Michigan, besonders aber in Wisconsin, wimmeln geradezu von Tiermounds, während sich in ganz Ohio nur 4 bis 6 und weiter südlich nur noch in Georgia zwei Tiermounds von ganz verschiedenem Charakter finden. Umgekehrt sind Bergfesten in Wisconsin äusserst selten, in Nord- Ohio dagegen die häufigsten archäologischen Denkmäler und Süd-Ohio hat neben ihnen noch eine stattliche Anzahl von Walldörfern in der Ebene aufzuweisen. Platform-Mounds, im Norden nicht häufig, begegnen uns um so öfter, je mehr wir südwärts vordringen. Die früher als typischer Begräbnismound angesehene Form ist die in Ohio vorherr- schende, Tennessee dagegen ist ausgezeichnet durch seinen grossen Reich- tum an Steingräbern, die in dem Masse seltener werden, als wir nördlich und östlich gehen, die sich aber noch bis Illinois, Pennsylvanien und selbst noch bis nach New-York hinein verfolgen lassen. Diese ungleiche geographische Verteilung der einzelnen Mound- gruppen zeigt uns, dass es sich bei ihren Erbauern nicht um eine einzige ethnologische Einheit gehandelt haben kann, sie weist auf grosse Ver- schiedenheiten im äusseren und inneren Leben derselben hin. Über die Kulturmittel und die Kulturleistungen der Moundbuilders erhalten wir bis zu einem gewissen Grad Kunde durch die Einschlüsse, mit welchen die Mounds bisher in reichem Masse die Mühe ihres Durch- wühlens belohnt haben. Es ist leicht zu verstehen, dass in den Mounds alle solchen Gegen- stände fast vollständig fehlen, die den Einwirkungen der Verwitterung oder des Feuers nur wenig Widerstand entgegensetzen konnten. Nur unter besonders günstigen Umständen ist uns ein Stückchen ‚Gewebe, in Kohle verwandelt oder imprägniert von den Salzen des Kupfergerätes, dem es zur Umhüllung diente, erhalten. Immerhin sehen wir daraus, dass die Kunst des Webens einfacher Stoffe bekannt war: wir finden eine hanfähnliche Pflanzenfaser, ganz von ihren holzigen Teilen befreit, in “ 2 E. Schmidt, Die Moundbuilders und ihr Verhältnis Fäden gesponnen, mit je zwei einzelnen Fäden zu Garn zusammengedreht, und dies letztere zu solidem, derbem Zeug gewoben (das mit seinem aus zwei Fäden bestehenden Zettel und seinem einfachen Einschlag manchen Geweben der schweizer Pfahlbauten gleicht). Wenn die Mound- builders sonach die Kunst des Webens kannten, so dürfen wir auf der andern Seite diese Kunst doch nicht als hochentwickelt uns vorstellen. Wir haben hierfür den negativen Grund, dass nur die allereinfachsten Flechtmotive als Ornament auch auf die Thongefässe übergegangen sind, während wir nirgends einen Einfluss reicherer, schwierigerer Gewebs- motive auf den Schönheitssinn und das Ornament der Moundbuilders erkennen können. Dieser Mangel lässt wohl mit Sicherheit eine höhere Ausbildung der Technik und des Geschmacks in der Weberei ausschliessen. Schon die Existenz der Weberei setzt eine regelmässige Disposition über faserliefernde Pflanzen voraus, macht also schon für sich regel- mässige Bodenkultur wahrscheinlich. Von direkten Erzeugnissen des Ackerbaus ist uns jedoch nur wenig erhalten. Hie und da freilich finden sich in den Aschenhäufchen der Fundamentmounds halbverkohlte Reste von Maiskolben und auch in der ÖOrnamentierung der Thongefässe ist der Abdruck solcher Kolben ein beliebtes Motiv. Auch das ziemlich häufige Vorkommen von grossen platten Steinwerkzeugen, die man kaum für etwas anderes halten kann als für landwirtschaftliche Geräte, spricht für den Ackerbau der Moundbuilders. Die grosse Anzahl der in den Mounds gefundenen Pfeifen endlich weist gleichfalls auf Feldbau hin; wo so viel geraucht wurde, ist mit grosser Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass der Tabak eine systematisch angebaute Pflanze war. Aber mit einer Luxuspflanze, deren Anbau noch dazu ein ziemlich umständlicher und beschwerlicher ist, fängt die Bodenkultur nirgends an; erst wenn die Landwirtschaft in der Kultur der für die Nahrung wichtigsten Pflanzen geschult ist, geht sie zur Kultur von Genusspflanzen über. Deshalb dürfen wir aus den Funden so zahlreicher Pfeifen indirekt auf Kultur von Nährpflanzen zurückschliessen. Aber wenn auch alle diese Gründe nicht vorhanden wären, wir würden doch zu der Annahme einer in grosser Ausdehnung betriebenen Bodenkultur genötigt werden durch die Grösse und Anzahl der befestigten Dörfer, die ohne eine relativ grosse Volksdichtigkeit der Bewohner nicht zu verstehen wäre. Man hat berechnet, dass bei ausschliesslich von der Jagd lebenden Völkern zur Subsistenz eines einzigen Menschen ein Ge- biet von 50 000 Acres erforderlich ist; danach würde ganz Ohio, das einen Flächenraum von 25 446 707 Acres hat, nur 509 Menschen aus- schliesslich von der Jagd ernähren können. Man braucht nur einen Blick zu werfen auf die Ausdehnung einzelner fester Mounddörfer in Ohio, z. B. die von Newark, Portsmouth, Marietta, um zu sehen, dass jedes derselben eine weit grössere Einwohnerzahl hatte. Auch da, wo uns keine Überreste grosser Gemeinwesen Kunde geben von einer einst dichten Bevölkerung, wie auf den weiten Flächen Michi- gans und Wisconsins, dürfen wir doch auf die frühere Anwesenheit einer sesshaften Bevölkerung zurückschliessen aus den unmittelbaren Spuren ausgedehnten Ackerbaues, die dort in den sogenannten garden beds weit zu den historischen Indianern. 93 verbreitet sich finden. Es sind ganz unsern deutschen Hochäckern glei- chende Felder mit abwechselnden parallelen Erhebungen und Einsenk- ungen, Beete und Furchen, die 5—16 Fuss breit, bis zu mehreren hundert Fuss lang und zwischen 6 und 18 Zoll hoch sind. Eigentliche Mounds sind in diesen Gegenden sehr selten, über einzelne derselben gehen Hoch- äcker hinweg, so dass man daraus schliessen wollte, dass die Hochäcker- periode jünger gewesen sei als die der Moundbuilders. Wir haben schon vorhin angedeutet, dass man die Moundbuilders überhaupt nicht als ein- heitliches Volk ansehen kann; meint man aber damit speziell das Volk, welches die Ringwälle und Erdhügel Ohios erbaute, so muss man ein- gestehen, dass bei dem gegenwärtigen Stand unserer archäologischen Kenntnis jeder Anhalt für einen Vergleich der Zeit der Garden beds und jener der Moundbuilders abgeht. Jedenfalls aber beweisen die Garden beds des Nordens ebenso wie die grossen Walldörfer am Ohio, dass im Mississippigebiete schon vor der Entdeckung Amerikas ausgedehnter Ackerbau betrieben wurde. Die weniger vergänglichen Produkte der Moundbuilders an Watien, Geräten und Schmuck bestehen aus Stein, Kupfer, gebranntem Thon, Knochen, Glimmer, Muschelschalen ete. Über die in den Mounds gefundenen Steingeräte können wir uns kurz fassen: Squrer selbst, der doch sonst überall die Superiorität der Moundbuilders hervorzuheben bemüht ist, muss bekennen: »Wir besitzen nur wenige Anhaltspunkte, um die Reste der Moundbuilders — soweit es sich bloss um ihre Steingeräte handelt — von denen der auf sie folgen- den Völker zu unterscheiden.< Und dasselbe gilt im allgemeinen von den Schmuckgegenständen der Moundbuilders, von denen SQUIER sagt: „Bei allen diesen Dingen beobachten wir merkwürdige Übereinstimmungen mit den Schmucksachen der heutigen Indianerstämme, welche sich mit Glasperlen und Öhrgehängen förmlich überladen.« Hervorzuheben ist, dass oft Material benutzt wurde, was nur von fernen Gegenden hergebracht wor- den sein kann, so Obsidian aus Mexiko oder von den kalifornischen Vul- kanen, Glimmer aus den Alleghanies, Schalen von Seeschnecken, z. B. Marginella, Oliva, Natica ete. aus dem mexikanischen Golf. Wir dürfen daraus wohl auf ausgedehnten Handelsverkehr schliessen, der die Pro- dukte jener fernen Gegenden den Bewohnern der Walldörfer am Ohio zuführte. An die Erwähnung der Geräte aus Stein reiht sich folgerichtig die Betrachtung derjenigen aus Kupfer, denn auch dies Material war den Moundbuilders nur ein hämmerbarer Stein: die Kunst, das Metall zu schmelzen und es in Formen zu giessen, blieb ihnen verborgen. Was man früher für Gussnähte, für Abdrücke des Sandes der Gussformen hielt, hat sich als Verwitterungsprodukt herausgestellt, die Form der Geräte zeigt nirgends ein der Gusstechnik entlehntes Motiv (Hohlcelt, Paalstab, Henkelöse), sondern ist, wie z. B. die meist bogenförmige Ge- stalt der Schneide bei Äxten, Messern etc. oder die Umbiegung des Handgriffteils zur Befestigung an den Stiel, ein Produkt der Bearbeitung mit dem Hammer; auch die auf Kupfergeräten vorkommenden Silber- körnchen zeigen, dass eine Schmelzung nicht stattgefunden haben kann, 94 E. Schmidt, Die Moundbuilders und ihr Verhältnis weil sich sonst beide Metalle hierbei zu einer Legierung verbunden hätten. Die Kupfergeräte, welche in den Mounds gefunden worden sind, sind Lanzen- und Pfeilspitzen, Beile, Meissel, Messer, Pfriemen, ferner allerlei Schmuckgegenstände, Platten, Armringe, Röhrchen, Perlen, dünne plat- tierte Gegenstände etc. Gediegen Kupfer kommt in vorzüglicher Reinheit und in grosser Mächtigkeit am Südufer und auf den Inseln des Lake superior vor: hier ist auch ein ausgedehnter vorhistorischer Bergbau auf die reichen Metall- gänge nachgewiesen, und es liegt nahe, die Kupferfunde in den Ohio- Mounds mit den alten Kupfergruben in Verbindung zu bringen. Doch darf man dabei nicht vergessen, dass auch in der Drift am Ohio noch immerhin ziemlich häufig erratische Massen von gediegen Kupfer vor- kommen, aus welchen manche der doch immer verhältnismässig seltenen Kupfergeräte angefertigt worden sein mögen; auch durch den Handel, der sicherlich bei den Moundbuilders bestand, mag manches Stück seinen Weg zu den Dörfern am Ohio gefunden haben. Jedenfalls besitzen die Museen der näher an der Kupferregion des Lake superior gelegenen Staaten ein bei weitem reicheres Kupfergerät - Inventar als diejenigen. Ohios und es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass wir die alten Kupfer- arbeiter eher in Wisconsin und Iowa zu suchen haben als an den weit entfernten Ufern des Ohio. Kupfer war übrigens nicht das einzige bergmännisch gesuchte und. gewonnene Mineral des vorgeschichtlichen Amerika: Zahlreiche Steatit- brüche in den Ufergebirgen beider Ozeane, Gruben auf Glimmer in den Alleghanies, Steinbrüche auf den Quarxzit der flint ridge in Ohio beweisen, dass die verschiedensten Mineralien bergbaulich gewonnen wurden. Wir dürfen uns indessen die Fortschritte in der Entwickelung des Bergbaus nicht allzugross denken: er ist nirgends mehr als Steinbruchsarbeit, selbst in den schmalen Gängen der Kupferadern von Keweenaw ist er offener Taghbau geblieben, der mit groben Steinhämmern und mit Hilfe von Feuer, um die Gesteine mürber zu machen, in recht primitiver Weise, wenn auch auf sehr ausgedehnte Strecken hin betrieben wurde. Die aus den Mounds stammenden keramischen Produkte sind oft mit grosser Sorgfalt gearbeitet, kein einziges Stück aber ist bekannt, das mit Hilfe der Drehscheibe angefertigt worden wäre. Der Thon wurde gewöhnlich mit Körnchen von feingestossenem Quarz, von Granit mit schön schillerndem Muscovit oder rötlichem Lithionglimmer, manchmal auch mit gestossenen Muschelschalen versetzt. Ächte Glasur fehlt stets; wo eine solche vorhanden ist, handelt es sich um europäische Gefässe, die in Mounds gefunden worden waren (z. B. in Florida). Die Gefässe zeigen sämtlich eine mangelhafte Fuss- und Halsbildung. Wo Henkel anzubringen versucht werden, sind sie nicht grösser, als dass man eben einen dünnen Strick durch sie hindurchführen kann; häufig vertreten knopfähnliche Hervorragungen, bisweilen als Gesichter geformt, die Stelle der Henkel. Die Gefässe sind Wasserkrüge, grössere und kleinere Schüsseln, - Vasen, Urnen ete., die oft die Gestalten von Vögeln, Vierfüsslern, nicht selten auch des Menschen darstellen. Das Flächenornament ist selten plan- und kunstvoll; oft ist die ganze Fläche mit Punkt-, Kreis- und zu den historischen Indianern. 95 Strichverzierungen überdeckt. Flechtmotive sind bei manchen Gefässen direkt vom Flechtwerk auf den Thon übertragen, indem der Topf inner- halb eines Korbes geformt wurde. Wenn sie aus freier Hand aufgezeichnet wurden, sind sie immer roh und ungeschickt. Wellenförmige Verzierungen werden gern gewählt, einzelne Gefässe zeichnen sich durch schöne, spi- ralige Zeichnungen aus, kompliziertere Gewebsmotive kommen nicht vor. Von besonderem Interesse sind die Tabakspfeifen, welche uns die Mounds in grösserer Zahl hinterlassen haben. Die typische Moundpfeife besteht aus einem breiten und flachen, leichtgekrümmten länglichen Bodenstück und dem auf der Mitte desselben aufsitzenden Pfeifenkopf. Letzterer hat eine bis in das Bodenstück hinab- reichende Höhlung, die mit der engeren, durch die Achse der einen Basis- hälfte gelegten Bohrung kommuniziert; die andere Basishälfte ist un- durchbohrt und diente als Handgriff. Als Material der Pfeifen wurde mit Vorliebe der Catlinit (Pfeifenstein), ferner andere Arten von bunten Gesteinen, besonders ein rötlicher Porphyr, auch gebrannter Thon be- nutzt. Der Pfeifenkopf ist immer der künstlerisch bearbeitete Teil der Pfeife: Gegenstand der Darstellung sind Menschenköpfe (vier zum Teil recht charakteristische Darstellungen aus dem Pipe-mound in Mound city), ferner sehr verschiedene Tiere, wie Biber, Otter, Wildkatze, Adler, Habicht, Reiher, Eule, Rabe, Papagei (der auch noch in Ohio wild vor- kommen soll), Frosch etc. Andere Tiere sind weniger sicher zu identi- fizieren; am meisten Aufsehen machte darunter eine in 7 Exemplaren aus Mound city vorkommende Form, die man als Manati deutete. Sie stellte offenbar ein aus dem Wasser auftauchendes Tier vor, ob dies aber gerade ein Manati sein soll, wie SQquUIER annimmt, dürfte doch noch der Entscheidung eines Zoologen vom Fach zu überlassen sein. Ohne Zweifel beweisen diese Pfeifen eine sehr bemerkenswerte Künstlerschaft ihrer Verfertiger; wir müssen oft ebensosehr die natur- wahre Auffassung des dargestellten Gegenstandes als die technische Sicherheit der Hand und die liebevolle Ausführung bewundern; es ist als ob sich alle künstlerische Begabung und Handfertigkeit auf diese eine Spezialität konzentriert habe. Die betreffenden Tiere sind in Form, Aus- druck und Bewegung oft äusserst lebendig erfasst und charakteristisch, dargestellt. Um das richtige Mass für die Bedeutung dieser kleinen Kunstwerke zu finden, dürfen wir aber nicht vergessen, dass sie zum grössten Teil (gegen 200 Stück) in einem einzigen, dem sogenannten Opfer- Mound in der erwähnten Mound eity gefunden wurden. Wir dürfen die- selben also wohl alle unbedenklich auf einen gemeinsamen Ursprung, vielleicht auf eine einzige Künstlerfamilie oder selbst auf eine einzige Hand zurückführen, die ganz besonders in ihrer Kunst hervorragte. Sehen wir ab von den Pfeifen dieses einen Mound, so bleibt nur ein Rest übrig, den man im Vergleich zu jenen höchstens als handwerks- mässiges, Mittelgut bezeichnen darf, der aber sicherlich einen richtigeren Massstab für das durchschnittliche künstlerische Können der Moundbuilders gibt als die weit vollendeteren Produkte eines hervorragenden Künstlers, mit welchen ein günstiges Geschick die hochverdienten Moundforscher wie mit einer Prämie ausgezeichnet hat. 96 E. Schmidt, Die Moundbuilders und ihr Verhältnis Wir müssen gleichsam als Anhang zu den kleineren Altertümern der Mounds noch der >»inscribed tablets« gedenken, flacher Steine mit eingeritzten rohen Bildern oder alphabetähnlichen Zeichen, die der Zu- fall oder Betrug von Zeit zu Zeit allzu begeisterten Moundforschern in die Hände spielt. Was ist nicht alles aus diesen Steinchen herausgelesen worden! Der Fleiss (weniger der Scharfsinn) ist staunenswert, mit dem man sich abmühte, alle bekannten Alphabete der Welt durchzumustern, um einen Zusammenhang der Moundbuilders mit Völkern der alten Welt herauszufinden. Und wie schön wurde dieser Fleiss belohnt! Man hat glücklich: griechische, etruskische, altgallische, altpersische, phönizische, altbritische, keltiberische, hebräische, cypriotische, hittitische, ja selbst koreanische Zeichen auf diesen Steinchen herausgelesen, lange Inschriften Wort für Wort entziffert, die tiefsinnigsten Spekulationen über die ethno- logische Zugehörigkeit der Moundbuilders und ihrer Kultur daraus abgeleitet. Es braucht wohl kaum besonders hervorgehoben zu werden, dass keines dieser berüchtigten tablets unverdächtig ist, und dass alle, mit welchen sich die Kritik bisher ernstlich beschäftigt hat, sich als grobe Fälschungen erwiesen haben. Gehen wir nach der Betrachtung der Mound-Artefakte zu den uns erhaltenen Resten der Moundbuilders selbst über und zwar zunächst zu den Schädeln, so fällt uns sofort eine grosse Verschiedenheit in den An- sichten der einzelnen Moundkraniologen auf: so viel Autoren, so viel Meinungen! Jeder, der über Moundschädel geschrieben hat, schildert seine charakteristischen Eigenschaften anders; von dem in den Ancient Monuments Squiers abgebildeten Scioto-Moundschädel sagt Foster, dass er »vom echten Moundbuilderschädel in seinen charakteristischsten Zügen weit verschieden ist. Morroxs Moundschädel haben wieder andere Eigen- schaften, die zu Fosters Moundbuildertypus nicht passen, der Schädel des Grave creek mound »entspricht dem indianischen Typus«. Leider gibt Foster selbst kaum ein genügendes Bild von dem, was er unter dem echten Moundtypus versteht. Welcher Geist seine Behandlung dieser Fragen beherrscht, mag daraus hervorgehen, dass er uns an der Schädel- bildung demonstriert: »es ist zweifellos, dass die Moundbuilders sich weder durch grosse Tugenden, noch durch grosse Laster auszeichneten, sondern ein sanftes, friedfertiges Volk waren, das einem hinterlistigen, grau- samen Feind leicht unterliegen musste.« An einer anderen Stelle sagt er: »all’ diese Beispiele deuten auf niedrige intellektuelle Begabung, die nur wenig über die des Idioten hinausragte«, ganz im Widerspruch mit der hohen Meinung, die er sonst von den Trägern dieser Schädel hat. Alle früheren Beschreibungen der Moundschädel sind so vag, dass wir nicht viel damit anfangen können. Wirklich gute Arbeiten über Moundkraniologie besitzen wir nur von WymaAn, über 24 Moundschädel aus Kentucky, und von L. Carr, der eine grössere Anzahl (67) aus den Steingräbern Tennessees stammende Schädel untersucht und beschrieben hat. Beide Arbeiten beweisen uns eine ausserordentlich grosse Variabi- lität der Form, Breiten- und Höhen-Index schwanken in einem Masse, dass wir diese Schädel, obgleich an derselben Lokalität gefunden, doch nicht für einer einzigen Rasse zugehörig ansehen könnten, wenn nicht zu den historischen Indianern. 97 die Mehrzahl derselben offenbare Spuren künstlicher Verbildung aufwiese, so dass wir es bei ihnen nicht mehr mit natürlichen Formen zu thun haben. Die Mehrzahl der Moundschädel sind Kunstprodukte, unterworfen der Laune der Mode und des Zufalls, und daher in so hohem Grade variierend. Damit erklären sich auch einfach die einander so sehr wider- sprechenden Angaben früherer Autoren. Von den übrigen osteologischen Eigentümlichkeiten ist nur hervor- zuheben eine an vielen Tibien weit auseinander liegender Bezirke (Flo- rida, Kentucky, Tennessee und Michigan) beobachtete Abflachung, die besonders in Michigan stellenweise als hochgradige Platyknemie auftritt. Sehr kräftige Muskelansätze hat WymAan bei den Schädeln alter Florida- Indianer gefunden, und unser Ecker hat ausserdem noch an einer An- zahl vom Verfasser in Florida ausgegrabener Moundschädel das häufige Vorkommen eines torus occipitalis konstatiert. Es bleibt uns noch übrig, die Thatsachen ins Auge zu fassen, welche geeignet erscheinen könnten, Licht über das Alter der Mounds zu verbreiten. Auch hier ist man nicht immer ganz frei von vor- gefasster Meinung zu Werke gegangen: dieselbe Neigung, in den Mounds etwas sehr grossartiges zu erblicken, liess auch die zeitlichen Thatsachen bedeutender erscheinen, als sie es in der That sind: ist man doch so weit gegangen, die Mounds in eine geologisch abgeschlossene Periode hinauf- rücken zu wollen, eine Annahme, die man damit beweisen wollte, dass die Mounds sich nie auf der untersten Thalstufe befänden, sondern immer nur auf den höheren Terrassen der Thäler; man glaubte daher, dass seit der Errichtung der Mounds die ganze, sehr lange Zeit verstrichen sei, während welcher sich der Fluss bis zu seinem jetzigen Niveau all- mählich eingeschnitten habe. Eine einfachere Erklärung liegt viel näher: bei den starken Überschwemmungen jener Bezirke wird die unterste Thalsohle sehr gewöhnlich ganz mit Wasser bedeckt. Als ich im Früh- jahr 1870 die Thäler des Scioto, Miami etc. durchwanderte, war über- haupt von der untersten Thalterrasse nichts zu sehen, sie war eine einzige grosse Wasserfläche. Es war sehr natürlich, wenn die früheren Bewohner der Ringwälle ihre Hütten und ihre Gräber nicht den immer wiederkehrenden Zerstörungen des Wassers aussetzen wollten und sich aus diesem Grund auf den höheren Thalstufen ansiedelten. Etwas positiveren Anhalt für die Altersbestimmung der Mounds gewähren die auf ihnen wachsenden Bäume, bei welchen in manchen Fällen mehrere hundert, ja bis zu 800 Jahresringe gezählt worden sein sollen (wobei freilich in den meisten Fällen mehr eine hochgegriffene Schätzung, als eine exakte Zählung stattgefunden haben mag). Man war aber auch damit noch nicht zufrieden, sondern berechnete, dass nach der Verödung der Wälle zuerst lange Zeit verstrichen sein müsse, während welcher sie überhaupt keinen Baumwuchs getragen hätten; darauf sei eine Anzahl von Generationen aller möglichen gemischten Baumarten gekommen, und die auf den Mounds angetroffenen Bäume seien erst das Ergebnis einer, viele Generationen hindurch fortgesetzten natürlichen Auslese. Hier ist der Wunsch, den Mounds ein fabelhaftes Alter zu geben, der Vater des Gedankens gewesen. Es ist wohl kaum Kosmos 1884. I. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XIV.) 7 98 E. Schmidt, Die Moundbuilders ete. nötig, näher auf diese Ausführungen einzugehen; die Thatsachen sagen uns nur, dass auf einzelnen Mounds Bäume von hohem Alter standen; über das Alter der vielen Wälle und Mounds, welche keine grossen Bäume trugen, erfahren wir durch jene einzelnen Fälle nichts. Von vornherein aber ist es ja wahrscheinlich, dass die ganze Periode, innerhalb welcher Mounds gebaut wurden, nicht in einer kurzen Spanne Zeit eingeschlossen ist; es gibt selbstverständlich ältere und jüngere Mounds, und die ältesten mögen wohl manches Jahrhundert vorüberziehen gesehen haben. Das schliesst aber doch nicht aus, dass nicht lange nachher, ja bis in die historische Zeit hinein, Mounds gebaut worden sein können. Auch der Erhaltungszustand der in den Mounds bestatteten Skelette ist nur ein ganz unzuverlässiges Mittel zur Schätzung des Alters. Der geringe Gehalt der Knochen an organischer Substanz ist ein um so wert- loseres Kriterium, als in den Mounds sehr häufig Feuereinwirkung zu er- kennen ist. Und überdies sind die Knochen noch gar nicht einmal immer so stark verwittert, als man nach den häufigen Angaben von Antiquitätenjägern glauben sollte: gute Forscher, wie PUTNAM, CARR etc. haben ganz stattliche Reihen von wohlerhaltenen Schädeln und anderen Knochen den Mounds entnommen. Für die Annahme eines hohen Alters der Mounds hat man endlich noch den Grund ins Feld geführt, dass sich keine europäischen Artikel in den Mounds fänden, sowie dass die Tradition vollständig schweige über diese Erdwerke. Es sei uns gestattet, später noch näher auf die Frage nach dem Alter zurückzukommen; hier genüge nur die Andeutung, dass beides nicht richtig ist: bei den verschiedensten Indianern haben sich Traditionen über die Moundvölker erhalten, und in den Gegenden, in welchen frühzeitig ein Verkehr mit den Weissen stattfand, sind euro- päische Waren, glasierte Töpfe, Metallgegenstände, Glasperlen etc. keine Seltenheit in den Mounds. Ja noch mehr: sehr zahlreich sind die Fälle, wo uns europäische Reisende Augenzeugnis hinterlassen haben von der Errichtung von Mounds aller Kategorien. /iehen wir das Fazit aus dem, was uns die Beobachtung lehrt: Die Mounds wurden von ganz verschiedenen, sesshaften Stämmen errichtet; diese hatten die mehr zentralen Teile des Mississippi-Gebietes, z. B. in Ohio dicht besiedelt, sie wohnten hier in befestigten Dörfern. Über die ‘Form ihres Staatswesens sowie über ihr religiöses Leben geben uns die Mounds keine Aufschlüsse. Die Kulturstufe der Erbauer der Mounds ist charakterisiert einerseits durch die Ausübung eines ausgedehnten Feld- baues, anderseits durch den Mangel der Kenntnis, Metall zu giessen. In der Kunst des Webens und der Töpferei waren einige Fortschritte gemacht; einzelne künstlerische Leistungen, besonders in kleinern Stein- skulpturen, ragen weit über das nur mittelmässige Durchschnittsniveau ihrer bildenden Kunst hinaus. Die Schädel sind zum grössten Teil Arte- fakte, künstlich verunstaltet, wie so viele Schädel Amerikas. Die Zeit der Mounds reicht wahrscheinlich eine Reihe von Jahrhunderten über die Entdeckung der neuen Welt zurück, anderseits aber bis in die historische Epoche Nordamerikas herab. (Schluss folgt.) Mehrzehige Pferde. Von Dr. H. von Ihering. (Hierzu 1 Holzschnitt.) Die Frage der Polydaktylie lebender Pferde ist im »Kosmos« wieder- holt und eingehend behandelt worden. Der im folgenden erwähnte, von mir beobachtete Fall würde daher kaum zu einer speziellen Mitteilung mich haben veranlassen können, wenn nicht einige besondere und wohl neue Momente hierbei geltend gemacht werden könnten. Es ist mir in den 3!/a Jahren meines Verweilens in Rio Grande die Polydaktylie der Pferde so häufig entgegengetreten, dass ich not- wendig auf die Idee kommen musste, dieselbe sei hier, resp. in den ge- mässigten Teilen von Südamerika, relativ viel häufiger anzutreffen als in Europa. Ich habe in der That kaum mit irgend einem vielgereisten Kenner des Landes hier über diese Angelegenheit verhandeln können, der nicht mehrere hierher gehörige Fälle, zum Teil bis 6 und mehr der- selben beobachtet hätte. Mir selbst kam nur der umstehend abgebildete Fall zur Beobachtung. Die Vermehrung betraf die Vorderfüsse und es war die 2. Zehe, also die innere, welche überzählig ausgebildet war. Diese abnormen Gebilde waren verhältnismässig sehr stark entwickelt, indem die Nebenhufe 87 mm lang und 35 mm breit waren. Sie be- rührten den Boden nicht und schlotterten ziemlich locker am Haupthufe herum. Der Mann, ein Passant vom Hochlande, bot mir, als er mein Interesse an der für ihn nichts weniger als erwünschten Abnormität be- merkte, das Tier zum Kauf an, und es reizte mich wohl momentan der Gedanke, dass solch’ ein »Cavallo a seis cascos« ein ganz passendes Leibross für einen Jünger Darwıns sein müsse. Doch machte rasch der Gedanke, dass hier das utile cum dulei sich nicht decke, der Lust ein Ende. In der That ist nach übereinstimmender Versicherung aller, die solche Tiere kannten oder ritten, das Reiten, zumal in hohem Grase, mit ihnen lästig und selbst unsicher. In den meisten Fällen ist die Polydaktylie die gleiche wie die hier beschriebene, aber ein Fall wurde mir von einem achtzehigen Pferde berichtet. Dass es immer die innere Zehe des Vorderfusses ist, welche wieder erscheint, spricht für Hexseus Ansicht, wonach die innere Zehe des Vorderfusses zuletzt verloren gegangen sei. Niemals wurde hier Polydaktylie am Maultier ‘gesehen, trotzdem die Zahl der mulas (Esel- hengst und Pferdestute) zumal auf dem Hochlande, wo ihre Zucht noch 100 H. von Ihering, Mehrzehige Pferde. in Blüte steht, eine sehr grosse ist. Dagegen sind an den hiesigen Maultieren auffallend die schwarzen Zeichnungen, der fast regelmässig vorhandene breite mediane Rückenstreifen und die häufig zu beobach- tenden schwarzen Ringel an den Vorderbeinen. Streifen an der Körper- seite, über den Rippen, kommen aber soviel ich weiss nicht vor. Wenn ich die verhältnismässig grosse Zahl der sechszehigen Pferde, von denen ich erfuhr, und die mutmassliche Gesamtzahl der Pferde Rio Grandes in betracht ziehe, so muss ich die Häufigkeit des Vorkom- mens der Polydaktylie auf etwa 1 zu 100000 taxieren. Das ist ein relativ hohes Verhältnis. Wenn man auch nur auf 200 000 Pferde einen Fall zugeben wollte, so würde das, auf deutsche Verhältnisse übertragen, immerhin voraussetzen, dass solcher 6zehiger Pferde zur Zeit in Deutsch- land mindestens 20 existieren, was schwerlich auch nur annähernd der // Wirklichkeit entsprechen möchte. Es drängt sich hierdurch der Gedanke auf, ob das nur Zufall sei oder ob nicht doch hier eine Kontinuität in der Lebensreihe von Eguus, wenn auch nur in wenigen Gegenden und in beschränktem Masse bestanden habe, welche den Entdeckern und ersten Besiedlern des Landes, durch welche Pferde eingeführt wurden, entgangen sein könnte. Jedenfalls existierte im Pleistocän das Pferd noch in Rio Grande, da ich aus alluvialem Boden Pferdezähne erhielt, die beim Graben eines Brunnens gefunden worden und bis in die kleinsten Details mit den entsprechenden Zähnen von Equus caballus übereinstim- mend waren. Möglich wäre es ja immerhin, dass unter den für »ver- wildert« gehaltenen Pferden Südamerikas auch noch Reste des alluvialen einheimischen Pferdes sich befunden hätten. Sei es zum Schluss noch gestattet, die Atavismusfrage kurz zu berühren. Die Wiederkehr der in der Stammesgeschichte des Pferdes H, von Ihering, Mehrzehige Pferde, 101 uns entgegentretenden inneren (zweiten) Zehe ist an und für sich ohne Zweifel als Atavismus aufzufassen. Gleichwohl wird man das nicht in so weitem Umfange anzunehmen haben, dass man auch Grösse, Form ete. dieser accessorischen Zehe als genau mit der einst vorhandenen über- einstimmend anzusehen hätte. Es ist schwerlich anzunehmen, dass die verschwundene zweite Zehe der Vorfahren unseres Pferdes ein so unbe- quemes und störendes Glied gewesen, wie die abnorm wiederkehrende es ist. Die Wiederanlage dieser Zehe ist demnach ein Fall von Resti- tutions-Atavismus, da sie ja normaler Weise beim Embryo nicht angelegt ist. Da meine bezüglichen Erörterungen über Atavismus an einer Stelle sich finden, wo sie wenige suchen würden, nämlich in der Vorrede zu meinem Werke über »das peripherische Nervensystem der Wirbeltiere und die Regionenbildung der Wirbelsäule< (Leipzig 1878), so lasse ich hier den betreffenden Passus in Wiederholung folgen. Es zeigt sich nämlich, heisst es da bezüglich der Homologie der Segmente, dass bei einem Individuum einer Art ein ganzes Segment vor- handen sein kann, welches bei dem anderen überhaupt kein Homologon besitzt, etwa wie einer der Arme eines sechsarmigen Seesterns bei den mit 5 Antimeren versehenen Individuen kein Homologon hat. Häufig ist der Ausfall oder das Auftreten des betreffenden Segmentes in ata- vistischem Sinne zu verstehen. So ist für die Säugetiere die ursprüng- liche Zahl der dorsolumbalen Wirbel 19 und zwar ist für die placentalen Säugetiere das bei den Beuteltieren bestehende Verhalten der Ausgangs- punkt, wobei 13 dorsale und 6 lumbale Wirbel existieren. Wenn nun für eine beliebige Art das Vorhandensein von 12 dorsalen und 6 lum- balen Wirbeln die Regel bildet, so ist das ausnahmsweise Wiederkehren des 13. Dorsalwirbels als Atavismus zu deuten. So z. B. beim Lemming. Ich bezeichne diese Form des Atavismus als Restitutions-Atavis- mus, bei welchem es also zur ausnahmsweisen Ausbildung eines für ge- wöhnlich nicht vorhandenen und auch embryonal nicht angelegten Teiles kommt. Ihm steht entgegen der Retentions-Atavismus, bei wel- chem durch Persistenz und Weiterbildung eines normalen Embryonal- stadiums die frühere phylogenetische Stufe wieder erscheint. Hierhin ist z. B. zu rechnen die Ausbildung des 13. Rippenpaares des Menschen oder die Ausbildung des ersten Sakralwirbels des Menschen als letzten oder 6. Lendenwirbel.. Die meisten Atavismen sind Retentions-Atavis- men. Die Zahl der mir bekannten Fälle von Restitutions-Atavismen ist bis jetzt nicht gross, doch sei hier daran erinnert, dass das Auf- treten von links gewundenen Schnecken in sonst rechtsgewundenen Gat- tungen und Arten eine auf Situs inversus zurückzuführende Abnormität darstellt, wogegen das Auftreten rechtsgewundener Exemplare in links- gewundenen Arten als Restitutions-Atavismus zu bezeichnen ist. Taquara do Mundo novo. Prov. Rio Grande do Sul (Brasilien). 28. November 1883. Zoogeographische Übergangsregionen. Von C. J. Forsyth Major in Porto Santo Stefano, Toscana. Es verhält sich mit organogeographischen Regionen ähnlich wie mit den Abteilungen der Systematik; je nach dem Standpunkt des be- treffenden Forschers und je nach dem Standpunkte des Wissens werden dieselben mehr oder weniger natürlich ausfallen. Die heute ziemlich allgemein von den Zoologen angenommenen tiergeographischen Regionen sind die bereits 1857 von SCLATER vor- geschlagenen ornithologischen Provinzen, welche von WALLACE in seinem grossen Werke »The Geographical Distribution of Animals« mit geringen Modifikationen adoptiert wurden und sich infolge dessen rasch in der zoologischen Litteratur eingebürgert haben. Es sind die folgenden sechs: 1) Die paläarktische Region: Europa, gemässigtes Afrika bis zum Wendekreis des Krebses, gemässigtes Asien. 2) Die äthiopische Region: Afrika und Arabien südlich vom Wendekreis des Krebses, Madagaskar und die Maskarenen. 3) Die orientalische Region (indische ScLArErs): Indien südlich vom Himalaya, Sundainseln bis Bali, Borneo, Philippinen. 4) Die australische Region: Von Gelebes und Lombok an nach Osten: Australien, Neuseeland und Polynesien. 5) Die neoarktische Region: Grönland, Nordamerika bis Nord- mexiko. 6) Die neotropische Region: Tropisches Nordamerika, West- indien und Südamerika. Was die Grenzen der einzelnen Regionen betrifft, so geht schon aus den Prinzipien, auf welchen die neuere Organogeographie beruht, hervor, dass in den meisten Fällen von scharfer Abgrenzung derselben gegen einander keine Rede sein kann. Aber, wie En. v. MARTENS sagt, »der menschliche Verstand sucht für seine Abstraktionen bestimmte Gren- zene. WarvacE hat überall scharfe Grenzen gezogen. Dabei stützt er sich in einzelnen Fällen allerdings auf die Annahme einer durchgreifenden Verschiedenheit der diesseits und jenseits der Grenzlinie befindlichen Fau- nen. So in dem berühmt gewordenen Beispiel von Bali und Lombok, zwei Inseln des malaiischen Archipels, die am schmälsten Punkte des sie trennenden Kanals nicht mehr als 15 engl. Meilen von einander ent- fernt sind und dennoch nach Warvack grosse Verschiedenheit der beider- Forsyth Major, Zoogeographische Übergangsregionen. 103 seitigen Faunen, namentlich der Vögel darbieten. Demgemäss zieht WALLACE auch die Grenze zwischen australischer und orientalischer Region zwischen diesen beiden kleinen Inseln durch; und weiterhin westwärts von Celebes. In andern Fällen ist die Annahme einer bestimmten Grenz- linie mehr aus praktischen Gründen motiviert; so bei der Verteilung der arktischen zirkumpolaren Fauna auf die paläarktische und die neoark- tische Region; oder bei der Annahme des Wendekreises des Krebses für die Trennung der paläarktischen von der äthiopischen Region; obwohl den ersteren Fall betreffend zugestanden wird, dass die Zirkumpolarzone paläarktischer und neoarktischer Region gemeinsam sei!; und in betreff des letztern, dass die grosse vom Atlantischen Ozean durch Arabien nach Zentralasien sich erstreckende Wüstenzone ein Verbindungsslied sei zwi- schen den paläarktischen, äthiopischen und orientalischen Regionen und eine Anzahl von ganz oder doch fast ganz auf dieses Gebiet be- schränkten Wüstenformen enthalte. Unsere Ansicht geht dahin, dass, wo solche Übergangsgebiete exi- stieren, dieselben gebührend De werden sollten, auch auf den organogeographischen Karten, da sonst ganz unrichtige Vorstellungen von geographischer rel der Organismen verbreitet werden. Prak- tische Gründe sollten dabei in letzter Linie in Betracht kommen. Wenn eine Einteilung auf die Bezeichnung >»natürlich« Anspruch haben soll, so können keine Bedenken äusserer Natur, wie Zahl oder Ausdehnung der einzelnen Regionen, Übersichtlichkeit derselben auf den betreffenden Karten u. s. w. in Berücksichtigung kommen. Was letzteren Punkt betrifft, so sollte durch die Farbe des Übergangsgebietes angedeutet sein, zwischen welchen Regionen dasselbe intermediär ist. Alle Einzelheiten können selbstverständlich auf einer Karte nicht zur Darstellung kommen, ganz abgesehen davon, dass die Menge des darzustellenden Details sich nach den Dimensionen jener wird zu richten haben. Wie viel in dieser Be- ziehung bei einiger Geschicklichkeit des Kartenstechers geleistet werden kann, beweist die Karte der zoologischen Regionen in WaruAczs Is- land Life®, die, in Kleinoktavformat, durch verschiedene Schraffierung einer einzigen Farbe (Sepia) die sechs zoologischen Regionen in der an- schaulichsten Weise darstellt. Das Mittelmeergebiet wird von WALLACE als Unterregion der paläarktischen Region betrachtet und demselben folgende Ausdehnung gegeben: Alle Länder Europas südlich der Pyrenäen, der Alpen, des Balkans und des Kaukasus; alle südlichen Mittelmeerküsten bis zum Atlas und über denselben hinaus, einschliesslich des extratropischen Ge- biets der Sahara und des zweiten Nilkatarakts. Nach Osten die Nord- hälfte Arabiens, ganz Persien, Beludschistan und Afghanistan bis zu den Ufern des Indus. Heutigen Tages kann die Organogeographie, so wenig als die Sy- stematik, der Paläontologie entraten, welche uns für viele rätselhaft erscheinende Fälle heutiger Verbreitung den Schlüssel in die Hand gibt ! Geographical Distribution of Animals II, p. 135. — ? id. ib. I, p. 69—71. ® p. 30-31. ur 104 Forsyth Major, Zoogeographische Übergangsregionen. und welche uns daher auch als Ausgangspunkt bei der folgenden Be- trachtung dient. Noch zur Pliocänzeit erstreckte sich die orientalische Region in weiter Ausdehnung nach Westen, wohl über den grössten Teil der heu- tigen paläarktischen Region. Die ältere siwalische Säugetierfauna kann über Nordafrika und Europa bis nach Spanien verfolgt werden; aber auch die jüngere siwalische Fauna, welche wenig Abweichung zeigt von der heutzutage in der orientalischen Region und — für eine Anzahl Formen — speziell in der indomalaiischen Unterabteilung derselben noch fort- dauernden Säugetierfauna!, ist identisch mit der Valdarnofauna, die ihrerseits, ausser in Oberitalien (Asti), noch in Frankreich (Auvergne) und England vertreten und auch in Nordafrika neuerdings zum Vorschein gekommen ist und Überreste, in etwas veränderter Form, im Quaternär von ganz Europa und Nordafrika zurückgelassen hat?. Zum Teil der Eiszeit, zum Teil dem direkten und indirekten Einfluss des Menschen müssen wir es zuschreiben, dass die Säugetiere von pliocänem Typus fast ganz vom Boden des heutigen Europa und teilweise aus der Mittel- meerregion überhaupt verschwanden, während sie einerseits im Süden, wo sie fast den ganzen afrikanischen Kontinent überschwemmt haben, anderseits im Osten, in der orientalischen Region fortexistieren. Die gegenwärtig bestehende fast vollständige Trennung dieser beiden Gebiete datiert aus relativ sehr junger Zeit, infolge stattgefundener Versenkungen im heutigen Mittelmeere® und der sehr späten Bildung des Golfs von Suez und des roten Meeres‘. Es wird gewöhnlich angenommen, das tropische Afrika habe wäh- rend des Eocäns einen Insel-Kontinent gebildet, ähnlich wie heute Neu- holland, sei demnach von Europa und Asien durch das Meer getrennt gewesen®. Durch Hebung des Nummuliten-Meeres während der Miocän- Periode soll dann eine Verbindung zwischen Dekkan und Afrika, etwa in der Richtung einer Linie zwischen Abessinien und der Gangesmündung hergestellt worden sein, wodurch den miocänen Säugetieren ermöglicht wurde, Afrika zu besiedeln ®. Dagegen ist zu bemerken, dass die hier in erster Linie in Betracht kommenden Säugetiere Afrikas und Asiens unter sich und mit den plio- cänen, ja selbst postpliocänen Faunen Europas, Nordafrikas und Indiens mehr Übereinstimmung zeigen als mit den miocänen. Ebensowenig ist der Hinweis auf die Pikermifauna, von der ein Teil der heutigen äthio- pischen Säugetierfauna abgeleitet wird, statthaft, obgleich wir demselben oft begegnen; denn einmal haben wir Pikermisäugetiere viel näher (in Spanien, Italien, Oran, Constantine), und zweitens steht, wie ich schon an ! cf. Forsyth Major, Die Tyrrhenis u. s. w., „Kosmos“ Bd. XIH, 1883, 3 4. r 2 „Tyrrhenis“, p. 4, 5. ® jb. passim. — M. Neumayr, Zur Geschichte d. östl. Mittelmeerbeckens. Berlin 1882, p. 13 fgg. * Neumayr, ib. p. 19 fgg. ° Wallace, Island Life, p. 390. s>Huxley, "Anniversary" Address to the Geological Society, 1870. Forsyth Major, Zoogeographische Übergangsregionen. 105 einem andern Orte hervorgehoben habe!, die Pikermifauna den heute lebenden afrikanischen und indischen Säugetieren zeitlich und morpho- logisch ferner als diese den jüngerpliocänen (Valdarnofauna) und post- pliocänen. Die pikermischen Antilopen sind fast sämtlich ausgestorbene Typen; Camelopardalis attica weicht von der lebenden Giraffe mehr ab als die jünger tertiären Formen dieses Genus; Zlephas und Equus sind im Horizonte von Pikermi noch nicht vorhanden, sie erscheinen zum erstenmal in dem Horizont der Valdarnofauna. In ersterem sind aller- dings die Genera Fhinoceros, Sus, Hippopotamus, Hyaena, Felis etc. be- reits vertreten, aber die in Afrika und Asien lebenden Repräsentanten dieser Genera finden sich daselbst unter Formen, die den gleichnamigen des Pliocäns im Valdarno und gleichaltrigen Ablagerungen näher stehen als denen von Pikermi. Ebenso müssen wir eine vollständige Trennung des tropischen Afrikas von Nordafrika und Europa während des Eocäns, als nicht im Einklang stehend mit den jetzt bekannten Thatsachen, ablehnen. Denn wie wäre sonst das Vorkommen lebender Säugetiere von eocänem Ge- präge in der äthiopischen Region und hauptsächlich in Westafrika zu erklären ? Der grösste Teil der Sahara war seit dem Ende der Kreide trocken gelegt, das rote Meer, wie schon erwähnt, bis zur jüngsten Ver- gangenheit nicht vorhanden. Seit Ende der Kreide bestand also eine Verbindung der äthiopischen Region mit Europa und Asien und war somit ein Austausch der beiderseitigen Tierbevölkerungen möglich”; und es müssen diese Verhältnisse ohne oder doch nur mit kurzen Unter- brechungen bis zum Postpliocän bestanden haben. Demgemäss finden wir auch in der heutigen äthiopischen Fauna, wie in der orientalischen, eocäne, miocäne und pliocäne Typen. Zu letztern, die über die miocänen weit vorwiegen, sind zu rechnen unter Säugetieren die afrikanischen Formen von Hystrix, Camelopardalis, Bu- balus, Antilopen, Elephas, Equus, Rhinoceros, Sus, Hippopotamus, Hyaena, Felis etc. Wir sagten oben, die Säugetiere von pliocänem Typus seien fast ganz aus Europa verschwunden. In der heutigen terrestren Säugetier- fauna Italiens zähle ich, mit Absehen von den zum Teil kosmopolitischen Fledermäusen, 5l Arten, von welchen 10, also 19,6 °/o, nördlich der Alpen nicht einheimisch sind. Wir dürfen also wohl annehmen, dass diese 10 kein paläarktisches Element der Fauna Italiens sind; um so mehr, da die Mehrzahl derselben ihre Erhaltung offenbar nur den isolier- ten Wohnorten verdanken? und durch ihre sonstige Verbreitung und Verwandtschaften teilweise sowohl nach Süden als nach Osten weisen. Es sind die 10 folgenden: Schakal (Dalmatien), Boccamela, sardisches Wildschwein, sardischer Hase, Kaninchen, Stachelschwein, Pachyura suaveolens, Cervus corsicanus, Damhirsch, Mouflon. ! Studien zur Geschichte der Wildschweine (Gen. Sus). Sep.-Abdruck aus Zoolog. Anzeiger 1883. Nr. 140. p. 5. ® Hauptsächliches Hindernis eines ungestörten Austausches war und ist die Wüste; in absoluter Weise aber wohl nur für wenige Formen, wie Ursus und Cervus. ® Vergl. „Tyrrhenis“, p. 2—10. 106 Forsyth Major, Zoogeographische Übergangsregionen. Unsere Kenntnis von der Säugetierfauna der übrigen Mittelmeer- länder ist einstweilen, was die kleinern Formen betrifft, noch zu lücken- haft, als dass es mir möglich wäre, in ähnlicher Weise wie für Italien auf Genauigkeit Anspruch machende Prozentzahlen zu liefern. Aus Gründen, die anderswo dargelegt wurden!, ergibt sich, dass für Italien die Bedingungen für Erhaltung alter Formen ungünstiger sind als für die übrigen Mittelmeerländer. Spanien z. B. hat mit Italien die grosse Mehrzahl der oben genannten Säugetiere gemein; sicher fehlen ihm der Schakal und der Mouflon, welch’ letzterer seit PLivıus, aber mit Unrecht, als in Spanien lebend genannt wird. Dazu kommen noch der Affe von Gibraltar, eine oder vielleicht zwei Arten von Herpestes, die Viverre, zwei Formen einheimischer Steinböcke, und ohne Zweifel bei genauerer Durchsuchung noch andere Formen. Zur herpetologischen Fauna übergehend, können wir auch für diese einstweilen keine genaue Statistik der ganzen Mittelmeerregion geben. Wir müssen uns daher auf einige genauer erforschte Gebiete beschränken; für unsern Zweck wird dies aber genügen. Mit Absehung von den Meerschildkröten zähle ich in Italien 53 Reptilien und Amphibien (40 Reptilien, 13 Amphibien), von welchen beinahe die Hälfte, d. h. 26, die Mittelmeerregion nach Norden nicht überschreiten. Es sind die folgenden: 1. Coelopeltis lacertina. 14. Lacerta ocellata. 2. Elaphis cervone. 15. Notopholis Fitzingeri. 3. Zamemis (Periops) hippoerepis. 16. Phyllodactylus euwropaeus. 4. Callopeltis quadrilineatus. 17. Hemidactylus verruculatus. 5. Rhinechis scalaris. 15. Platydactylus facetanus. 6. Coronella cucullata. 19. Testudo graeca. 7. Coronella girondieca. 20. Proteus anguinus (Dalmatien). 8. Seps chalcides. 21. Euproctus Rusconü. 9. Seps (Gongylus) ocellatus. 22. Geotriton fuscus. 10. Acanthodactylus vulgaris. 23. Salamandrina perspicillata. 11. Psammodromus hispanicus. 24. Salamandra corsica. 12. Lacerta oxycephala. 25. Pelodytes punctatus. 13. Lacerta taurica”. 26. Discoglossus pictus. Von diesen 26 Arten werden die folgenden fünf auch aus der äthiopischen Region citiert: 1) COoelopeltis lacertina: Westafrika (GÜNTHER). 2) Seps chaleides: Südsahara (TrısrrAam). 3) Seps (Gongylus) ocellatus: Arabien, Sennär (DE Berta); Abessi- nien (LICHTENSTEIN, GÜNTHER). 4) Hemidactylus verruculatus: Sennär (DE Berra). 5) Platydactylus facetanus: Südsahara (Trısrram), Abessinien (LicH- TENSTEIN). . Wahrscheinlich überschreiten den Wendekreis auch Coronella cucul- lata, Lacerta ocellata und Bufo viridis, die von Trıstram in der Süd- sahara gefunden worden sind. ! „Tyrrhenis“, p. 1. — ? Es scheint mir natürlicher, die Krim zur Mittelmeer- region zu rechnen. Forsyth Major, Zoogeographische Übergangsregionen. 107 In demjenigen Gebiete der Mittelmeerprovinz also, welches durch seine Säugetiere und unzweifelhaft auch in anderer Beziehung noch am meisten Züge mit der übrigen paläarktischen Region gemein hat, finden wir beinahe 50 °/o seiner herpetologischen Fauna von jener ausgeschlossen, und jedenfalls 9,43 °/o, wahrscheinlich aber 15,09 °/o mit der äthiopi- schen Region gemeinsam. Wenden wir uns nun zu einem zweiten Gebiet der Mittelmeer- provinz, welches der äthiopischen Region näher liegt. Von Marokko sind in bezug auf seine herpetologische Fauna einstweilen nur erforscht die Küstengegenden Tanger, Tetuan, Casablanca, Mogador, sowie die Route zwischen Mogador und Marokko. Der Atlas, Südmarokko und somit die Wüstenregion sind so gut wie unbekannt. So erklärt es sich auch, warum die Wüstenformen und überhaupt äthiopische Arten so spärlich in den bisherigen Publikationen figurieren. Die neueste Ab- handlung Börrerrs! weist 40 Reptilien und Amphibien (33 Reptilien, 7 Amphibien) in Marokko nach, von welchen 27, also 55 °/o zugleich Bewohner des südlichen Spaniens sind”. Über das Mediterrangebiet hin- aus nach der übrigen paläarktischen Region sind die folgenden sieben verbreitet (17,5 °/o) und also 82,5 °/o von derselben ausgeschlossen. 1. Zamenis viridiflavus. 5. Bufo vulgaris. 2. Tropidonotus viperinus. 6. Hyla viridis. 3. Lacerta muralis. 7. Rana eseulenta. 4. Bufo viridis. Von den soeben genannten hat die Mehrzahl eine sehr weite Ver- breitung in der alten Welt. Bufo wiridis und Rana esculenta greifen wahrscheinlich auch auf die äthiopische Region über, da sie von TRISTRAM in der Südsahara gefunden worden sind, anderseits sind diese beiden, sowie auch Bufo vulgaris und Hyla viridis, bis China und Japan ver- breitet. Mit Sicherheit aus der äthiopischen Region bekannt sind einstweilen nur die folgenden acht Mitglieder der marokkanischen herpetologischen Fauna: 1) Zamenis (Periops) Cliffordi: Nubien (Lıcatenstein), Westafrika (GÜNTHER). 2) Ooelopeltis lacertina: Westafrika. 3) Naja haje: Nubien (Lic#renstei), Sennär (Prrers), weisser Nil (Dumsrın u. Bıeron), Kapland (Surrm, F. Müuver), Goldküste (Jan), Guineaküste (A. Dum.), Gabon (Hannowerr), Senegal (Dum. u. BIBRoON, STEINDACHNER etc.). 4) Vipera arietans: In Marokko aus dem Thal Sus südlich vom Atlas, Senegal (Dum. u. BiBR., STEINDACHNER), Sierra Leone (Surra), Goldküste (SchLEGEL), Unter-Guinea (Güntuer, BARBOZA), ganz Südafrika (Surr#), Kapland (ScHhuegen, F. MüLLer) ete. ı 0. Böttger, Die Reptilien und Amphibien von Marokko, II. Abhandl. d. Senkenb. naturf. Gesellsch. Bd. XIII. 1. Frankfurt a. M. 1883, p. 93—146. — Siehe auch O. Böttger, Reptilien von Marokko und von den Kanarischen Inseln. ib. Bd. IX. Frankfurt a. M. 1874. 2... c.,pr 146. 108 Forsyth Major, Zoogeographische Übergangsregionen. 5) Seps (Gongylus) ocellatus: Sennär, Abessinien. 6) Seps chaleides: Südsahara. 7) Platydactylus facetanus: Südsahara, Abessinien. 8) Chamaeleo vulgaris: Südsahara (Trıstram), Nubien (LicHTENSTEIN), Abessinien (Rürrrn und A. Dumsrıv), Gebiet des weissen Nil (A. Dumskın). Aber wie gesagt ist die Wüstenregion Marokkos im Süden des Atlas noch gänzlich unerforscht und die vorstehenden acht Formen können demnach keineswegs als der prozentische Ausdruck des äthiopischen Ele- ments in der marokkanischen Fauna gelten. Das besser erforschte Algerien gibt uns schon einen ganz an- dern Massstab an die Hand. Die herpetologische Fauna Algeriens ist von Strauch bearbeitet worden!; bei der folgenden Darstellung ist Srrauchs Abhandlung zu Grunde gelegt, mit Berücksichtigung der seither dazu gekommenen neuen Formen und der kritischen Bemerkungen Börrgers?. Ich zähle, nach Hinweglassung der Meerschildkröte, Chelonia corticat« Ronp., 76 Reptilien und Amphibien in Algerien. Von diesen hat die algerische Fauna mit der Italiens gemeinsam die folgenden 27, also 35,52 /o: 1. Cistudo europaea. 15. Tropidonotus natrix. 2. Platydactylus facetanus. 16. Tropidonotus viperinus. 3. Hemidactylus verruculatus. 17. Periops hippoerepis. 4, Phyllodactylus europaeus. 13. Rhinechis scalaris. 5. Lacerta ocellata. 19. COoelopeltis lacertina. 6. Lacerta muralis. Vipera aspis. 7. Acanthodactylus vulgaris. 8 W z 21. Rana_ esculenta. . Pseudopus Pallasii. 22. Discoglossus pietus. 9. Seps (Gongylus) ocellatus. 23. Hyla arborea. 10. Seps chalcides. 24. Bufo vulgaris. 11. Anguis fragilis. 25. Bufo wiridis. 12. Psammodromus hispanicus. 26. Salamandra corsica. [00) un | 13. Coronella girondica. Euproctus Rusconit. 14, Coronella cueullata. Die mediterrane Provinz überschreiten nach Norden und finden sich auch in der übrigen paläarktischen Region die folgenden zehn: 1. Cistudo europaea. 6. Vipera aspis. 2. Lacerta muralis. 7. Rana esculenta. 3. Anguis fragilis. S. Hyla arborea. 4. Tropidonotus natrix. 9. Bufo vulgaris. 5. Tropidonotus viperinus. 10. Bufo viridıs. Also sind, wenn von der mediterranen Provinz abgesehen wird, nicht weniger als 66 Vertreter der algerischen herpetologischen Fauna, oder 86,84 °/o von der übrigen paläarktischen Region ausgeschlossen, während doch Algerien zu dieser gezählt wird®. ' Alexandre Strauch, Essai d’une Erpetologie de l’Algerie (M&moires de l’Acad. Imper. des Sciences de St. Petersbourg, VII. Serie, Tome IV, Nr. 7, 1862). ® Abh. d. Senkenb. naturf. Gesellschaft XIII. 1. Frankfurt a. M. 1883, p. 141. ® Ich gebe im folgenden das Verzeichnis der erwähnten 66 Arten: 1. Teestudo campanulata. 2. T. ibera. 3. Clemmys caspia. 4. Chamaeleo vulgaris. 5. Platy- Forsyth Major, Zoogeographische Übergangsregionen. 109 Die folgenden 11 werden ausdrücklich als auch innerhalb der äthio- pischen Region lebend aufgeführt: 1) Chamaeleo vulgaris. 2) Platydactylus facetanus. 3) Hemidactylus verruculatus. 4) Agama colonorum Daup.: Senegal, Guinea, Abessinien!. 5) Acanthodactylus Savignyi Aup.: Senegal. 6) Seincus offieinalis Laur.: Südalgerien (Trıstram), Nubien, Abes- sinien. 7) Sphenops capistratus Fırz.: Senegal. 8) Seps (Gongylus) ocellatus. 9) Coelopeltis lacertina. 10) Seps chaleides. 11) Zamenis (Periops) Cliffordi ScHu£c. Diese 11 Arten repräsentieren aber ohne Zweifel nicht die Prozent- zahl der Algerien mit der äthiopischen Region gemeinsamen Formen. Es ist bei der Gleichförmigkeit der Wüstenfauna von vornherein im höchsten Grade wahrscheinlich, dass sämtliche aus dem Süden Alge- riens bekannten Wüstenformen auch die konventionelle Grenze zwischen paläarktischer und äthiopischer Region überschreiten, so dass voraus- sichtlich noch die folgenden 18 südalgerischen Reptilien und Amphibien sich auch südlich vom Wendekreis finden werden: 1. Varanus Seineus. 10. Acanthodactylus lineo-maculatus. 2. Ayama Bibroni. 11. Eremias pardalıs. 3. Agama agilis. 12. Euprepes vittatus OLLIv. 4. Ayama ruderata. 15. Euprepes Savignyi. 5. Agama Tournevillei LATASTE. 14. Simotes diadema. 6. Uromastix spinipes. 15. Coronella cucullata. 7. Uromastix acanthinurus. 16. Zamenis florulentus SCHLEG. 8. Lacerta ocellata. 17. Psammophis sibilans. 9. Acanthodactylus scutellatus. 18. Bufo viridis. dactylus facetanus. 6. Hemidactylus verruculatus. T. Phyllodactylus europaeus. 8. Gymnodactylus mauritanicus. 9. Stenodaciylus guttatus. 10. Varanus Scineus. 11. Agama colonorum. 12. A. Bibroni. 13. A. agilis. 14. A. ruderata. 15. A. Tour- nevillei LAT. 16. Uromastix spinipes. 17. U. acanthinurus. 18. Tropidosaura algira. 19. Lacerta ocellata. 20. L. perspieillata. 21. Acanthodactylus vulgaris. 22. A. scu- tellatus. 23. A. Savignyi. 24. A. lineo-maculatus. 25. Eremias guttulata. 26. E. pardalis. 27. Pseudopus Pallasi. 28. Seineus officinalis. 29. Sphenops capistratus. 30. Gongylus ocellatus. 31. Euprepes vittatus. 32. E. Savignyi. 33. Plestiodon ceyprium. 34. Seps chalcides. 35. Heteromeles mauritanicus. 36. Ophiomorus mi- liaris. 37. Trogonophis Wiegmanni. 38. Amphisbaena cinerea. 39. Ophiops elegans. 40. Psammodromus hispanicus. 41. Algira (Zerzumia) Blanci LAT. 42. Sceincopus fasciatus. 43. Eumeces pavimentatus. 44. Ptyodactylus Hasselquisti. 45. Pleurodeles Hagenmülleri. 46. Eryx jaculus. 47. Simotes diadema. 48. Coronella girondica. 49. C. cucullata. 50. Zamenis Chiffordi. 51. Periops hippocrepis. 52. Zamenis florulentus. 53. Z. ater. 54. Rhinechis scalarıs. 55. Psammophis sibilans. 56. Coe- lopeltis lacertina. 57. C. producta. 58. Vipera lebetina. 59. V. Avicennae. 60. V. Cerastes. 61. V. carinata. 62. Discoglossus pictus. 63. Bufo pantherinus. 64. Salamandra corsica Savı. 65. Euproctus Rusconü. 66. E. Poireti GERYV. (letztere übrigens wahrscheinlich Synonym von E. Rusconüi). ı Vergl. Böttger, 1. c. p. 129. 110 Forsyth Major, Zoogeographische Übergangsregionen. Ausserdem ist zu berücksichtigen, dass der Süden Algeriens der am wenigsten erforschte Teil dieses Landes ist, so dass wir wohl nicht irren, wenn wir annehmen, dass sich bei genauerer Kenntnis wohl die Hälfte der Mitglieder der herpetologischen Fauna Algeriens als zugleich der äthiopischen Region angehörig herausstellen werden. Zweck der vorstehenden Auseinandersetzung war, nachzuweisen, dass die Auffassung der Mittelmeerregion als Subregion der paläarktischen ungerechtfertigt ist, da sie mit ebensoviel Berechtigung zu der orienta- lischen oder der äthiopischen als Unterregion gestellt zu werden verdient. Auf die Beziehungen der Mittelmeerregion zur äthiopischen wurde speziell eingegangen, da dieselben am wenigsten anerkannt sind. Für die Beziehungen zur orientalischen Region mag es, nach den obigen Ausführungen über die Säugetierfaunen, genügen, daran zu er- innern, dass manche Autoren die orientalische Region bis über Afgha- nistan, Beludschistan hinaus nach Westen ausgedehnt wissen wollen; und dass umgekehrt das Grenzgebiet der orientalischen Region, die in- dische Subregion von Wauvacz (Hindostan), wegen ihrer paläarktischen und äthiopischen Affinitäten anerkanntermassen die am wenigsten charak- teristische Provinz der orientalischen Region ist. Sobald man aber zugeben muss, dass nicht nur die Wüstendistrikte, wie WarzAce will‘, sondern die ganze Mittelmeerregion ein vermittelndes Glied ist zwischen den drei primären altweltlichen Regionen, scheint es naturgemässer, dieselbe, statt als Unterregion der einen oder andern, als Übergangsregion von allen dreien aufzufassen. Erst so werden die bekannten Beziehungen der äthiopischen zur orientalischen Region in das wahre Licht gestellt, während dieselben bei der gegenwärtig üblichen Trennung dieser beiden primären Regionen durch eine dritte, die palä- arktische, durchaus nicht zur Anschauung kamen und darum auch die Phantasie zum Schlagen einer durchaus entbehrlichen künstlichen Brücke, der Lemuria, auffordern mussten. Die auch Japan einschliessende mandschurische Unterregion wird von WALLACE zur paläarktischen Region gestellt, hat aber ebenso viele Affinitäten mit der orientalischen, und wird daher wohl richtiger als Übergangsregion zwischen beiden aufgefasst. Wenn das gesamte Tibet so vollständig erforscht sein wird, wie der nordöstliche Teil desselben dank den Sammlungen des Pere Davıp es ist, wird sich voraussichtlich ein un- unterbrochener Zusammenhang der Mittelmeerregion mit der mandschuri- schen und somit ein grosses altweltliches Übergangsgebiet herausstellen, dessen östlichster Teil selbstverständlich die wenigsten Beziehungen zu der äthiopischen Region hat. Es ist nicht meine Absicht, die übrigen Übergangsregionen mit gleicher Einlässlichkeit zu besprechen, wie dies für die Mittelmeerregion geschehen ist; ich begnüge mich daher mit den folgenden Andeutungen. Die Berechtigung zur Aufstellung einer intermediären Region zwi- ! Geographical Distribution I. p. 322. Forsyth Major, Zoogeographische Übergangsregionen. Far schen zwei andern primären von SCLATER und WALLACE, der neoarkti- schen und der neotropischen, ergibt sich schon daraus, dass mehrere Gebiete, die WAutacE der neoarktischen Region einverleibt, von anderer Seite in die neotropische versetzt worden, nämlich die Sonora-Subregion von Copz (Teile von Nevada, Neu-Mexiko, Arizona und Sonora), Nieder- Kalifornien, nebst Teilen von Kalifornien, Texas und Florida. Beiden Anschauungen wird ihr Recht, wenn wir diese Gebiete mit zwei Unterregionen der neotropischen Region, der mexikanischen und antillischen, als neoarktisch-neotropische Übergangsregion auf- fassen. In der Art reduziert hat dann aber die neoarktische Region keinen Anspruch mehr auf die Bezeichnung einer primären Region, sondern ist mit dem im Sinne der obigen Ausführung ebenfalls reduzierten paläark- tischen Gebiet zu vereinigen. Beide werden Subregionen einer einzigen primären, die wir mit dem von Nzwron und HkıLprın”? vorgeschlagenen passenden Namen Holarktische Region bezeichnen können. Bei solcher Auffassung einer einzigen holarktischen Region fallen die Bedenken weg, die Wauuacz schon früher? und auch kürzlich wieder * gegen eine Vereinigung der paläarktischen mit der neoarktischen Region geäussert hat; denn 1) ist die holarktische Region in der hier vertre- tenen Beschränkung nicht mehr übermässig gross im Vergleich mit den andern primären Regionen; und 2) verschwinden durch Ablösung einer mediterranen Übergangsregion und einer eben solchen neoarktisch-neotro- pischen im Westen, hüben und drüben eine Anzahl heterogener Elemente der holarktischen Region. So wird namentlich das neuerdings von WALLACE gegen HEILPRIN geltend gemachte Argument, die Abwesenheit weit verbreiteter paläark- tischer Gruppen in der neoarktischen Region, zum Teil hinfällig. Von den daselbst namhaft gemachten Säugetiergattungen Meles, Equus, Bos, Gazella, Mus, Cricetus, Meriones, Dipus und Hystrix, gehören Gazella, Meriones und Hystrix zur mediterranen intermediären Region und fallen somit aus der holarktischen weg. Warraczes Einwand wird aber auch ausserdem noch abgeschwächt durch die Erwägung, dass wenigstens ein ferneres der genannten Genera, Egquus und vielleicht auch Bos, noch während des Postpliocäns in Nord- amerika existierten und zwar offenbar nicht als Einwanderer während der Eiszeit, sondern als alteinheimische Elemente. Endlich bietet auch die hier vorgeschlagene Einteilung den Vor- teil, dass wir nicht eine besondere zirkumpolare primäre Region einer paläarktischen und neoarktischen entgegen zu stellen brauchen, sondern die erstere wird Unterregion der holarktischen oder erscheint vielmehr als Verbindungsglied zwischen paläarktischer und neoarktischer Unterregion. ! Angelo Heilprin, On the value of the „Nearctic“ as one of the primary Zoological Regions (Proceed. of the Academy of Natural Sciences of Philadelphia Part. III, p. 316—334. Philadelphia 1883). ® s. „Nature“ Bd. 27 Nr. 704 (26. April 1883), p. 606. ® Geograph. Distribution of Animals I, p. 58 fgg. * In „Nature“, Bd. 27, Nr. 699 (22. März 1883), p. 482, 483. u) Forsyth Major, Zoogeographische Übergangsregionen. Die Aufgabe, eine Übergangsregion zwischen orientalischer und australischer Region nachzuweisen, ist eine leichte, da im Grunde kein Zoologe eine solche in Abrede stellt. Schon SALOMON MÜLLER bezeichnete den zwischen beiden liegenden Archipel als ein vermittelndes Glied zwischen indischem Kontinent und Australien, und die Inseln Celebes, Flores, Timor und Buru im spe- ziellen als »den Übergangsstrich bildend«!. RÜTIMEYER bemerkt über dieses Gebiet: »Es ist... . nicht zu gewagt, wenn man vermutet, dass die gesamte Inselwelt zwischen Asien und Australien ihre Säugetiere von aussen her, und zwar von diesen beiden Continenten abgetreten erhalten hat, und ursprünglich so gut, wie noch vor kurzem Neu-Seeland, derselben entbehrte, oder mit anderen Worten, dass die Säugetiere dieser grösstenteils durch mechanische Wirkungen heraufgehobenen Inselgruppe als nachträgliche Modifikationen älterer kontinentaler Formen anzusehen sind. Dem entspricht auch das gegenseitige allmähliche Erlöschen der Spezieszahl, sowie wir uns von der einen oder der andern Mutterfauna entfernen — —«?. Die von WaArrAcE zwischen Bali und Lombok durchgeführte Grenze der orientalischen und australischen Region ist nach Ep. v. MARTENS wenig natürlich. >In geradem Widerspruche damit stehen die Land- schnecken, welche H. ZOLLINnGER vor längerer Zeit bei Bima (auf Sum- bawa, östlich von Lombok) gesammelt hat und die zum grossen Teil dieselben Arten wie im östlichen Java sind®. In seiner »Geograph. Distribution of Mammals« zieht WALLACE Celebes zur australischen Region, indem er die Grenze beider Regionen westlich von dieser Insel durchführt. In seinem neuern Werke aber sagt der gleiche Autor in bezug auf Celebes: »Celebes nimmt — so- wohl durch das, was es hat, als durch das, was ihm fehlt — eine so ge- nau vermittelnde Stellung zwischen der orientalischen und der australischen Region ein, dass es vielleicht stets eine blosse Geschmackssache bleiben wird, zu welcher von beiden man es rechnen will. Allerdings bildet es die Westgrenze so typisch australischer Gruppen, wie es die Marsupialien unter den Säugetieren und die Trichoglossidae und Meliphagidae unter den Vögeln sind, während es anderseits in auffälliger Weise aller besonders charakteristischen orientalischen Familien und Gattungen aus beiden Klassen entbehrt, und ich habe es deshalb stets in die australische Region einbezogen; allein mit demselben Rechte könnte man es wohl aus beiden weglassen, bis eine genauere Kenntnis seiner Geologie uns in den Stand setzt, seine frühere Geschichte mit grösserer Sicherheit zu bestimmen.« Man könnte kaum ein besseres Argument zu gunsten von Über- ! Zoologie der Nederlandsche overzeesche bezittingen. Leiden 1839 —44. ® L.Rütimeyer, Über die Herkunft unserer Tierwelt. Eine zoogeographische Skizze. Basel und Genf 1867, p. 11. ® Die Preuss. Expedition nach Ost-Asien. Nach amtl. Quellen. Zoologischer Teil, 1. Bd. Allgemeines und Wirbeltiere. Bearbeitet von Prof. Dr. Eduard von Martens. Berlin 1876, p. 247. * Island Life or the Phenomena and Causes of Insular Faunas and Floras ete. London 1880, p. 432. Forsyth Major, Zoogeographische Übergangsregionen. 113 gangsregionen beibringen, als dieses Zugeständniss gerade desjenigen Forschers, welcher der Urheber scharfer zoogeographischer Grenzen ist. Es scheint demnach naturgemässer, die indo-malaiische Provinz der orientalischen Region mit einem Teil der austro-malaiischen Provinz der australischen Region als austro-orientale Übergangsregion zusammenzufassen und bei einer kartographischen Darstellung auch durch eine intermediäre Farbe zu kennzeichnen. Es liegt auf der Hand, dass die Übergangsregionen ebensowenig scharfe Grenzen haben als die primären Regionen. Das Übergreifen, Ausstrahlen von Formen einer primären Region selbst über das Über- gangsgebiet hinaus in eine andere wird sich selbst auf Karten kleineren Formats in ähnlicher anschaulicher Weise darstellen lassen, wie auf der Rürıneyers oben ceitierter Abhandlung beigegebenen Karte. Als Ergebnis des Vorstehenden erhalten wir die folgenden fünf primären und drei intermediären Regionen. | a. zirkumpolarer Unterregion, 1) Holarktische Region mit | b. paläarktischer | c. neoarktischer , 2) Orientalische Region. 3) Äthiopische Region. 4) Australische Region. 5) Neotropische Region. 6) Mediterrane Übergangsregion: Zwischen holarktischer, äthiopischer und orientalischer Region. 7) Austro-orientale Übergangsregion: Zwischen orientali- scher und australischer Region. 8) Neoarktisch-neotropische Übergangsregion: Zwi- schen holarktischer und neotropischer Region. Kosmos 1884, I. Bd. (VII. Jahrgang, Bd. XIV). 3 Einige bisher unbekannte oder wenig bekannte Hummelnester. Von Prof. Dr. Eduard Hoffer. Im letzten Sommer war ich so glücklich, Nester von einzelnen Hummelspezies zu bekommen, über die man bisher so viel wie nichts wusste. Zuerst (16. Juni) entdeckte mein ältester Sohn Eduard das Nest von bombus pratorum L. Während es sonst heisst, dass dasselbe unter Moos und Gestrüpp ober der Erde zu finden sei, wo ich es Jahre lang umsonst gesucht hatte, verhielt sich hier die Sache ganz anders Es befand sich nämlich ziemlich tief unter der Erde auf einem Kleeacker auf dem Rosenberg bei Graz. Das Flugloch war geräumig, jedenfalls das verlassene Schlupfloch einer Feldmaus; es zog sich etwa 4 dm weit in horizontaler Richtung, war plötzlich umgebogen und am Ende desselben in einer Tiefe von circa 2!/2 dm war das Nest; dasselbe hatte eine Hülle von fein zerbissenen Gräsern und Wachs und füllte den geräumigen Kessel nicht vollständig aus. In einer kleinen Nebenhöhle befanden sich einige 20 junge @ und 5—8 d, von welch’ letzteren ein Paar entflogen. Aber auch im Nest zwischen und auf den Zellen waren mehrere @ und d. Die Gesamtzahl der Individuen betrug, wie wir uns gleich nach dem Ausgraben im geschlossenen Zimmer überzeugten, circa 100, es lebte nämlich: 1) die alte Königin (noch recht frisch), 2) 27 junge 9, 3) 9—12 d (da einige beim Ausnehmen entflogen waren) und 4) etwa 60 3. Im Zuchtkästehen krochen noch mehrere 9, @ und d aus; der schöne zusammenhängende Wabenbau enthält 50 Zellen für 9, 63 für d und 125 für $. Später bekam ich ein zweites Nest dieser Spezies von Herrn ArxHarp aus Mürzsteg, es war in einem hohlen Baum gefunden worden und enthielt weniger Bewohner als das obige. Am 1. August entdeckte wieder Eduard eines auf dem Geierkogel, nord- westlich von Graz in einer Höhe von 950 m. Es war ebenfalls ziemlich tief unter der Erde, die Waben waren beinahe ganz von Aphonia Oolonella zerfressen und es wimmelte von Larven der Volucella bombilans; ein Be- weis dafür, dass B. pratorum äusserst früh zur Entwickelung gelangt, dass aber auch äusserst früh (schon im Juni und Juli) die jungen © sich in die Winterquartiere begeben und das Nest ausstirbt. Eduard Hoffer, Einige bisher unbekannte oder wenig bekannte Hummelnester. 115 bombus Latreillelus Kırzey gehört überall zu den Seltenheiten, deshalb ist auch sein Nest wenig bekannt. Im Jahre 1882 hatte ich wohl das Flugloch dieser Art entdeckt, aber trotz stundenlangen wieder- holten Grabens nicht zu den Waben kommen können. Heuer (Ende Juli) sah mein Schüler W. Kuckn, ein geschickter und glücklicher Hummel- nestersucher, im Vorbeigehen eine Hummel unter der Erde verschwinden. Wir suchten nun an der betreffenden Stelle und fanden nach langem Hin- und Hergraben endlich die rechte, mehr als 2 m lange Flugröhre, in deren Mitte etwa sich das Nest von Vespa vulgaris L. (bestehend aus dem Mantel und der ersten Wabe mit den auskriechenden jungen ?) be- fand; offenbar war das alte 9 verunglückt, entweder im Freien oder vielleicht im Kampfe mit den die Stelle passierenden Hummeln: einzelne ? waren eben daran, auszuschlüpfen, und einen ganz jungen, noch sehr liehten, fanden wir im Hummelneste selbst. Am Ende dieser Flugröhre, die mit mehreren anderen kommunizierte, war das steile, weite, '/„—”/ı m tiefe Zugangsloch zum Nest. Dieses war in einem gewaltigen Kessel, den irgend ein unterirdisch lebendes Säugetier (ein Maulwurf oder eine grössere Mausart) vielleicht als warmes Lager für die Jungen gegraben und mit einer ungeheuren Menge von Gras angefüllt hatte. Das aus- genommene Gras würde wenigstens zwei unserer gewöhnlichen Hüte füllen. Das an der Peripherie befindliche war schon ganz morsch, während das in der Mitte vollkommen frisch und fein zerbissen erschien. Im innersten Teile der Graskugel befanden sich die Waben der seltenen Hummel. Die Temperatur in dieser Tiefe (das Nest war mindestens °/s m tief unter der Erdoberfläche) war jedenfalls sehr gleichmässig, und das scheint die Hauptbedingung für das Gedeihen dieser Spezies zu sein, denn die zu Hause freifliegenden zerstreuten sich infolge der Kälte, obwohl das Nest in einem bis auf das Flugloch festverschlossenen, aus dicken Brettern konstruierten Kästchen sich befand, äusserst schnell, so dass ich den Rest nicht mehr fliegen liess, sondern eingesperrt hielt, um die noch in den Zellen befindlichen jungen Tiere zum Auskriechen zu bringen. Höchst auffallend ist die starke Bevölkerung dieses Nestes, da ja die Art zu den seltenen gehört. Es befanden sich nämlich neben der noch ziemlich frischen alten Königin etwa 35 junge 9, über 60 2 und merkwürdiger Weise nur 6—8 Ö darin; die Zahl der Zellen beträgt: 46 für die @ (teils leer, teils noch gefüllt), 52 für die d und eirca 60—70 für die 9; und das war schon im Juli der Fall; nun fliegt aber die Art noch im Monat September, in welchem ich auch die meisten d auf den Blumen fing. Wie gross muss dann das Nest sein! — und doch gehört die Art überall zu den seltenen. Es mag sein, dass sie wie 5. hypnorum 1. sehr ungleichmässig auftritt, in manchen Jahren in Menge, in anderen wieder selten. Herr Hexprık schreibt mir, dass sie in diesem Jahre bei Hermannstadt in Siebenbürgen massenhaft anzutreffen war, während sie in anderen Jahren geradezu als eine Rarität anzu- sehen ist. Mein grösster Wunsch beim Besteigen des Geierkogels, unseres beliebtesten Berges, wenn es sich um Insekten oder Pflanzen handelt, denn er liegt zum Glück nicht auf der Heerstrasse der Touristen (es 116 Eduard Hoffer, Einige bisher unbekannte befindet sich nämlich auf dem ganzen Berg kein Wirtshaus), war es, das Nest des Bombus mastrucatus GersT. zu finden. Im Frühling hatten wir sehr viele 2 gesehen und eine Menge von durchbissenen Blüten als sichtbare Zeichen seiner unheilvollen Thätigkeit angetroffen, im Monate Juli wimmelte es von 3, bei welcher Gelegenheit uns die ausserordentliche Grösse derselben auffiel, denn sie sind in der Mehrzahl so gross als die @ von D. Rajellus K. (es gibt übrigens auch unter ihnen Zwergexemplare, die nicht viel grösser sind als eine Fliege), allein trotz des eifrigsten Suchens konnten wir kein Nest finden, während wir von dem sonst so seltenen D. pomorum Pz. mehrere entdeckten. Erst nachdem die Alpenwiesen abgemäht waren, fand Freund KuckH das erste Nest dieser Art. Es war beinahe gerade auf der Spitze des Geierkogels, auf der Ostseite desselben, 947 m hoch. Meine Vermutung, dass die Nester des B. mastrucatus sehr volkreich seien (trotz einer gegenteiligen Beob- achtung DarvAa Torkes), wurde durch diesen Fund nicht bestätigt; denn ausser der alten Königin, die am Tage nach der Ausnahme des Nestes starb, waren darin nur 21 d und circa 30 3 (darunter die Mehrzahl sogenannte kleine 9), einige 10 ? mögen zurückgeblieben sein. Da es bis damals das einzige Nest dieser Art in meiner Sammlung war, so liess ich zu Hause die Tiere nicht frei fliegen, sondern hielt sie eingesperrt, und es entwickelten sich noch etwa 11 3 und 18 d, aber kein ein- ziges 9. Als Schmarotzer lebten darin Larven von Volucella bombilans und die schöne Mautilla europaca, von der 1 d und 6 9 auskrochen, alle entsprechend der Grösse der Hummellarven von riesigen Dimen- sionen. Zu meiner freudigen Überraschung erhielt ich ein paar Tage später von Fräulein Hörzer ein zweites Nest derselben Art aus Übelbach zu- geschickt. Beim Ausnehmen zeichneten sich diese Hummeln, wie das liebenswürdige Fräulein schreibt, durch ihre grosse Stechlust aus, und auch zu Hause machten sie dieser ihrer Eigenschaft alle Ehre; bei jeder Störung fuhren sie einem in die Haare. Dieses Nest war bedeutend grösser; obwohl beim Ausnehmen fast alle d und viele 3 verloren ge- gangen waren, enthält es jetzt das alte 9, 60 junge 9, 70 d und cirea 80 ?, welche letztere aber in der Gefangenschaft rasch abstarben, so dass zuletzt im Neste beinahe nur d und 9 lebten. Das vollkommen ent- wickelte Wabengewirre zeigt jetzt in der Sammlung bei 300 Zellen für die ?, 110 für die d und etwa 100 für die 9. Ganz genau lässt sich die Zahl nur in wenigen Nestern angeben, weil 1) die alten $Zellen zum grössten Teile zerbissen und als Neststoff verwendet werden (auffallend war die Sache heuer in einem Neste von B. ayrorum Fap.: jeder Zell- haufen, aus dem die jungen Hummeln ausgekrochen waren, wurde von dem mit Eiern, Larven, Puppen oder Honig gefüllten Hauptwabenstück abgetrennt, weggewälzt und sodann zerbissen), und weil 2) auch so manche Zelle von d und Q demselben Schicksale verfällt. Und die mastrucatus mit ihren starken Kiefern arbeiten gar schnell an der Zer- störung des nicht mehr brauchbaren Materials. In der Blütezeit dürfte die Zahl der ? circa 150—180 betragen haben, so dass immerhin dieses Nest als ein recht volkreiches bezeichnet werden muss. oder wenig bekannte Hummelnester. oT Noch viel stärker aber ist das Nest, das wir am 6. September ebenfalls auf dem Geierkogel, aber tiefer unten, etwa 900 m hoch aus- nahmen. Kuck# hatte dasselbe einige Tage früher gefunden, aber trotz angestrengten Grabens nicht ausnehmen können, da die Flugröhre zuletzt scheinbar in zu grosse Tiefe sich verlor. Nach längerem Untersuchen wurden wir endlich durch eine heimkehrende Hummel auf die richtige Spur geleitet. Eine sehr bemerkenswerte Thatsache darf ich hier nicht mit Stillschweigen übergehen. So lange ich nicht in die Seitenröhre eingriff, die unmittelbar zum Neste führte, konnten wir die Hummeln auf keine Weise dazu bringen, dass sie ihre Anwesenheit auf die be- kannte Weise durch das heftige Aufbrummen verraten hätten. Wir hatten in der Hauptröhre und in einer grossen Anzahl von Seitenröhren mit der Hand und mit Stöcken gestöbert, auf den Boden an den mannig- faltigsten Stellen, unter anderen auch gerade an der, wo sich das Nest befand, geklopft; alles umsonst, sie blieben ganz still; kaum hatte ich aber in die rechte Röhre mit der Hand gegriffen, so hörte man ein Auf- brausen wie von einem Bienenschwarm und einige gut gezielte Stiche zwangen mich, so schnell als möglich das Ätherfläschehen zu Hilfe zu nehmen, damit wir ungestört arbeiten konnten. Das Nest selbst war in einem herrlichen Maulwurfsbau angelegt; es war das verlassene Wochen- bett eines Tieres, das ganz regelmässig alle Röhren in der bekannten Weise konstruiert und den Kessel mit ungeheuren Quantitäten von Moos ausge- polstert hatte. Die Grösse des Zellklumpens war zu vergleichen dem des B. terrestris oder argillaceus. Die Zahl der Zellen beträgt bei 180 für die 9, über 200 für die d und über 500 für die $. Es gehört dieses Nest somit zu den grössten und volkreichsten Hummelbauten, die es überhaupt gibt, und hat sich also meine Meinung, dass die Nester des B. mastrucatus sehr gross seien, bei den zwei zuletzt angegebenen bestätigt. Bis in die neueste Zeit hatte nur Dauza TorrkE ein Nest dieser Art gefunden, aber es war wenig volkreich, denn es hatte nur circa 60 Bewohner. Da aber B. mastrucatus auf den Alpen (wenigstens bei uns) viel häufiger ist als selbst B. terrestris oder lapidarius, so dass man ihm auf Schritt und Tritt begegnet, so hatte ich nicht mit Unrecht die Meinung gefasst, dass er sehr grosse Nester baue. Man trifft zwar den 5. agrorum beinahe gerade so häufig, dafür aber auch seine Nester überall, und auch diese sind mitunter ausserordentlich volkreich. Die Zellen des B. mastrucatus sind durch ihre Grösse und im frischen Zustande dunkle Färbung ausserordentlich leicht kenntlich. Nachdem erst in der neuesten Zeit durch SCHMIEDEKNECHTS aus- gezeichnete Arbeiten völlige Klarheit in die früher so dunkle Trias: B. agrorum Fap., cognatus SrErH. (muscorum FAB.) und variabilis SCHMIEDER. gebracht worden ist, so kann man sich nicht wundern, dass man über den Nestbau der seltensten derselben, des B. coynatus, nichts weiss. Ich war so glücklich, am 6. August 1. J. ein prächtiges Nest dieser wunderschönen Hummel unter merkwürdigen Umständen zu bekommen. Es war nämlich einige Tage. hindurch starker Wind gewesen und derselbe hatte mehrere Eichhörnchennester herabgeworfen, und in einem derselben 118 Eduard Hoffer, Einige bisher unbekannte war das Nest dieser prächtigen Hummel. Das Nest war jedenfalls noch in diesem Jahre vom Eichhörnchen benutzt worden, denn es war auch aussen im besten Zustande und in dem vielen Moose und Grase desselben lebten noch die bekannten Eichhörnchenflöhe. Die Gesellschaft bestand aus der alten, noch ganz frischen Königin, die mir später leider durchging, 25 kleinen Weibchen und circa 40 ge- wöhnlichen 9, von denen einige kaum so gross waren als eine Stuben- fliege, während einzelne kleine Weibchen die Grösse der @ des B. va- viabilis hatten. Wegen der ausserordentlichen Seltenheit dieser Hummeln liess ich sie anfangs nicht frei fliegen, sondern hielt sie in einem Käst- chen von circa '/% cbm Rauminhalt eingesperrt. Aber obwohl ich ihnen alle möglichen Blumen, gelbe und anders gefärbte, im frischen Zustande in wassergefüllten Behältern vorsetzte, so sammelten sie doch keinen Pollen, sondern tranken nur den ihnen vorgelegten Bienenhonig. Die Folge davon war, dass alle jüngeren Larven, für welche die Pollen- nahrung unumgänglich notwendig ist, abstarben und hinaus geworfen wurden, während sich die ältesten, beinahe ausgewachsenen zu Puppen und diese wieder zu Imagines entwickelten, so dass nach 3 Wochen alle Zellen nur Honig enthielten. Die Königin legte im Anfang noch Eier, aber alle wurden von den Arbeitern aufgefressen; später sah ich sie nicht mehr Eier legen. Nach 3 Wochen entnahm ich dem Neste die schönsten Exemplare für die Sammlung, 30 3 aber und die Königin samt den Waben that ich in ein anderes Kistchen und gab ihnen nun die Freiheit. Das erste Exemplar flog, nachdem es sich die Wohnung ordentlich angesehen, geraden Weges auf eine gegenüber befindliche Sonnenblume, sammelte dort und später auf anderen Blüten (Trifolium repens, Cytisus etc.) hauptsächlich Pollen und flog nach 20 Minuten mit reich beladenen Höschen nach Hause. Tags darauf legte die Königin wieder Eier, aus denen sich $ und 2 d entwickelten; leider ging sie während eines Ausfluges zu Grunde. Wie gross das Bedürfnis nach frischem Pollen ist, zeigt ein anderes Beispiel. Ein schönes Nest von BD. hortorum L. (Stammform) hielt ich, um eine Kollektion von d zu bekommen, ebenfalls in einem sehr grossen Raume eingesperrt; Pollen sammelten sie nur von ganz frischen Blüten. Eines Tages ging mir ein 9 beim Füttern durch, kam aber, dabei das Vorhaus und einen kleinen Gang passierend, nach einer halben Stunde mit dicken Pollenballen beladen, wieder ins Zimmer. Ich fing ihn schnell ab und wollte ihn ins Kästchen stecken, verfuhr aber dabei etwas un- geschickt und so entfloh er mir durchs offene Fenster, kam jedoch trotz- dem nach einigen Minuten auf dem früheren Wege wieder ins Zimmer. Kaum hatte ich ihn ins Nest geworfen, so kamen schon mehrere andere 9 herbei und frassen ihm den Pollen von den Füssen weg, ohne dass er Zeit gehabt hätte, denselben wie gewöhnlich in ein Puppentönnchen abzustreifen. — Was übrigens den Nestbau des D. cognatus STEPH. an- belangt, so bin ich überzeugt, dass diese Hummel öfters grössere mit Moos ausgefütterte Nester auf Bäumen dazu benutzt, denn in meiner Kindheit fanden wir einigemal Zellen von gelben Hummeln in Eichhörnchennestern und einmal in einem Siebenschläfernest. Freilich kann ich jetzt nicht oder wenig bekannte Hummelnester. 119 sagen, ob es 5. cognatus oder der häufige DB. agrorum FA. war, dessen Extravaganzen in bezug auf die Anlage des Nestes ich an einer andern Stelle (Naturhistoriker 1881, Wien) beleuchtet habe ; möglich ist es auch, dass er das Nest in etwas höher gelegenen Baumlöchern anlegt. Das Nest des 5. soroönsis FAr., nach dem der berühmte englische Hymenopterologe Smit# 50 Jahre lang in den drei Königreichen erfolglos gefahndet hatte, bekam ich Mitte August durch Fräulein HörTzen aus Übelbach. Dasselbe war unter der Erde angelegt. Das Flugloch be- fand sich versteckt zwischen den Wurzeln eines Waldbaumes, das Nest unter einer grossen Steinplatte; nach dem Nestmaterial (dürrem Buchen- laub) zu schliessen, hatte es ursprünglich einer Waldmaus zur Wohnung gedient. Wieder ein Beweis dafür, dass die unterirdisch bauenden Hummeln am liebsten dort ihr Nest anlegen, wo sich bereits Neststoffe vorfinden. Das Nest war ziemlich stark bewohnt; die alte Königin war nicht mehr da, aber circa 30 kleine Weibchen, 50 gewöhnliche ? und 10 &; später krochen noch ausserordentlich viele d und 5 9 aus, bis das Ende der Ferien dem muntern Treiben ein Ende machte. Der Fär- bung nach waren alle rotafterig (Proteus Gersr.), die d übrigens von der einfachsten Färbung bis zu solchen mit den schönsten gelben Binden auf Thorax und Abdomen und reichlichst eingemischten gelben Haaren auf dem Clypeus. Dr. SCHMIEDEKNECHT hatte in einem hohlen Baum- stumpf ein Nest dieser Art mit rot- und weissafterigen Varietäten ge- funden, bei uns aber kommt die weissafterige immer nur vereinzelt vor. In den nächsten Jahren heisst es die Nestverhältnisse haupt- sächlich solcher Arten festzustellen, die bei uns auf den höchsten Bergen als grosse Seltenheiten vorkommen. Graz, im Dezember 1883. Die Abstammungsverhältnisse der Pflanzentiere. Von Dr. Conrad Keller (Zürich). Es ist kein blosser Zufall, wenn eine überraschend grosse Zahl von Zoologen sich mit dem Studium der Coelenteraten oder Pflanzen- tiere befasst. Ihre überraschende Fülle einerseits, ihre seltsamen Lebens- erscheinungen, Gestalt und Farbenpracht anderseits machen naturgemäss diese Tiere zum Lieblingsgegenstand der marinen Forschung. Die Lebensäusserungen, namentlich ihre Entwickelung sind für das Verständnis der Tierwelt von einer fundamentalen Bedeutung, und Mor- phologie wie Physiologie sind durch die Kenntnis einer an der untersten Grenze der Metazoen oder gewebebildenden Tiere stehenden Organismen- gruppe in fruchtbarster Weise bereichert worden. Thatsachen und einzelne Ergebnisse bleiben jedoch nur wissen- schaftliche Fragmente — als letzten und höchsten Zweck der Forschung können wir sie nicht betrachten, sie sind uns nur Mittel zur Erkenntnis des vielverschlungenen Entwickelungsganges, welcher sich in der Natur abgespielt hat und noch heute abspielt. Wenige Tiergruppen gewähren uns in dieser Hinsicht einen so klaren und vollständigen Einblick, wie gerade die Pflanzentiere. Es sind noch nicht anderthalb Jahrhunderte verflossen, seit man anfing, diesen Wesen allgemein den tierischen Charakter zuzugestehen!. Diese Erkenntnis ist aufs innigste mit den Entdeckungen von TrEa- sLEYy (1744) an unserm grünen Armpolypen des Süsswassers verknüpft. Der scharfsinnige Beobachter entdeckte dieses nachher zu grosser Be- rühmtheit gelangte Wesen an Wasserpflanzen. Es enthüllt sich uns ein Stück echter physiologischer Forschung aus dem vorigen Jahr- hundert, wenn wir die kritische Art verfolgen, wie TremeLey Schritt um Schritt die tierische Natur der Hydra nachweist und sich durch ! Die Geschichte der Pflanzentiere hat Rudolf Leuckart eingehend und kritisch in seiner Arbeit: „Die Zoophyten. Ein Beitrag zur Geschichte der Zoologie“ behandelt. Die treflliche Darstellung findet sich als Programmschrift der Universität Leipzig und ist in Troschels Archiv für Naturgeschichte 1875 ab- gedruckt. Conrad Keller, Die Abstammungsverhältnisse der Pflanzentiere. oT den pflanzlichen Charakter nicht beirren lässt, sondern die Bewegungs- vorgänge, die Empfindlichkeit gegen Licht und die merkwürdige Teil- barkeit erkennt. Seine Resultate mussten für die Beurteilung der im Meere lebenden Korallentiere die grössten Konsequenzen haben. Sie verhalfen indirekt auch den Entdeckungen eines hoffnungsvollen, aber durch Misserfolge entmutigten Beobachters zu ihrem Rechte. Noch im Jahre 1725 brachte der Graf MarsıcLı in seiner »Histoire physique de la mer« neue und gewichtige Stützen für die Pflanzennatur der Korallen bei. Er hatte bei gewissen Arten (Alcyonium, Isis) die »Blüten« aufgefunden. Ein eingewurzeltes und durch Scheingründe gestütztes Dogma ist bekanntlich sehr schwer zu beseitigen. Das war im vorigen Jahrhundert noch viel schwieriger als heute. Und doch ist die Zeit noch nicht lange hinter uns, wo eine andere Doktrin, die Lehre von der Urzeugung, nur mit Mühe und mit dem Aufwand einer umsichtigen experimentellen Me- thode zu verbannen war. Hat sich dieses Dogma ja noch an den letzten Anker — an die Eingeweidewürmer — angeklammert. Zwei Jahre, nachdem MarsıcrLı die Blüten der Korallenpflanzen entdeckt hatte, trat der Marseiller Arzt Pryssoxen auf Grund vorurteilsfreier Forschung mit der Behauptung auf, die Korallen seien keine Pflanzen, ihre sogenannten Blüten seien echte Tiere. Er war in vollem Rechte, der Autoritätenglauben war aber noch so mächtig, dass seine Behauptung auf den grössten Widerstand stiess. Die Entdeckung Pryssoxeus ist heute nach ihrer vollen Bedeutung gewürdigt und für die Wissenschaft ist es nur zu bedauern, dass ein so weitblickender Beobachter sich durch einen ersten Misserfolg derart einschüchtern liess, dass er den wissenschaftlichen Beruf mit dem des Broterwerbes vertauschte. Es ist ja hinlänglich bekannt, dass seine Arbeit im Schosse der Pariser Akademie keine günstige Aufnahme fand und dass Reaumur die angeführten Beweisgründe nicht für beweiskräftig hielt. Als Tremstey die tierische Natur des von ihm entdeckten Süss- wasserpolypen nachgewiesen, hat auch R£Aunur sein Unrecht gut ge- macht und der Entdeckung des Marseiller Arztes Gerechtigkeit wider- fahren lassen. Aber man begann sich doch nur sehr allmählich in die neuen An- schauungen einzuleben und noch zu den Zeiten von Lısx& und PALLAS erblickte man in den Pflanzentieren >jene wunderbaren Geschöpfe, in denen tierische und pflanzliche Eigenschaften derart gemischt sind, dass es oft schwer hält, die wahre Natur zu erkennen«. Noch im Jahre 1766 gibt Paruas in seinem Elenchus zoophytorum diesem Gedanken Aus- druck: »Zoophyta sunt animalia vere vegetantia; sunt plantae quasi animatae.« Dagegen betrachtet Cuvier die Zoophyten als unzweifelhafte Tiere, ihres strahligen Baues wegen weist er ihnen einen Platz neben den Echinodermen oder Stachelhäutern an; beide figurieren ja unter den Cuvierschen Radiaten. 122 Conrad Keller, Die Abstammungsverhältnisse der Pflanzentiere. Wir halten zwar noch heute an dem Typusbegriff fest, jedoch ge- schieht dies mit der reservatio mentalis, dass die einzelnen zum Typus ver- einigten Formengruppen nicht nur eine symbolische, sondern eine wirkliche Stammesverwandtschaft besitzen. Pflanzentiere und Echinodermen stehen nun aber durchaus in keiner näheren Beziehung, gewisse gemeinsame Züge in der äusseren Erscheinung sind nur auf sehr entfernte Analogien zurückzuführen. Wenn später in den Rippenquallen eine Gruppe erkannt werden wollte, welche gewissermassen ein Bindeglied zwischen beiden Abteilungen darstellen sollte, so kann diese Auffassung heute um so weniger Gültig- keit beanspruchen, als die Stellung und Abstammung der Ütenophoren nunmehr in völlig befriedigender Weise erkannt ist. Der Kreis der Radiaten ist um die Mitte dieses Jahrhunderts un- haltbar geworden. Schon frühzeitig wurden die einzelligen Infusorien und verwandte Wesen als Urtiere oder Protozoen von ihm losgelöst. Dann machte Rupotr LeuckArr 1847 und 1849 auf den fundamentalen Unterschied zwischen der Organisation der Pflanzentiere und Stachel- häuter aufmerksam: letztere besitzen neben der Darmhöhle noch eine Leibeshöhle, erstere dagegen nicht. Diese Scheidung und die Begründung des neuen Typus der Coe- lenteraten bildet ein Hauptverdienst LeuckAarıs!. Es figurieren in dieser Äbteilung jene teils schwimmenden, teils festsitzenden Formen, welche wir als Medusen, Korallen, Hydroiden, Röhrenquallen und Rippen- quallen kennen. — Die glückliche Neuerung fand unter.den Zoologen bald allgemeinen Eingang. Seither sind mehr als drei Jahrzehnte verflossen und diese sind für die Erkenntnis der Organisation in den einzelnen Abteilungen ausserordentlich fruchtbar gewesen. Ihre Lebensverhältnisse wurden ein- gehender verfolgt, ihre Anatomie und ihre oft so komplizierte Ent- wickelungsgeschichte eminent gefördert. Auch die vergleichende Gewebe- lehre hat noch in der jüngsten Zeit die schönsten und fruchtbarsten Entdeckungen auf dem Gebiete der Pflanzentiere gemacht. Die vielen und gewichtigen Namen deutscher und ausländischer Forscher, welche unsere Kenntnisse der Coelenteraten förderten, mögen hier übergangen werden; es sind zu viele, um sie einzeln aufzuzählen. Eine Reihe von umfangreichen und bahnbrechenden Monographien legen Zeugnis ab von der regen Thätigkeit, welche sich auf dem Gebiete der Coelenteratenkunde entwickelte. Dieselben enthalten ein so reiches Aktenmaterial, dass nicht nur für kleinere Formenkreise, sondern auch für grosse Abteilungen ein Urteil über die gegenseitigen Affinitäten er- langt werden konnte. Zunächst hält es nicht schwer, bei allen Abweichungen in der ! Die Begründung der Coelenteraten erfolgte zum erstenmal in den von Frey und Leuckart 1847 veröffentlichten Beiträgen zur Kenntnis wirbelloser Tiere und es werden wohl auch beide Autoren als Begründer der Coelenteraten genannt. Da Frey später wieder an den Cuvierschen Radiaten festhielt und Leuekart wiederholt betont, dass der betreffende Abschnitt ausschliesslich von ihm herrühre, so bleibt ihm dies Verdienst ungeschmälert. Conrad Keller, Die Abstammungsverhältnisse der Pflanzentiere. 123 Organisation die Ähnlichkeit zwischen einem Hydropolyp und einem Korallenpolyp festzustellen. Die einzellebenden wie die koloniebildenden Gattungen stimmen im äusseren Habitus vielfach überein. Durch die Bildung eines Mund- rohres, durch die Entwickelung von Septen und Mesenterialfäden, so- wie durch eine weiter gediehene histologische Komplikation steht der Anthozoenkreis über demjenigen der Hydroiden, aber niemand wird be- zweifeln, dass die Wurzel beider eine gemeinsame ist. Viel langsamer gelangte die völlige Übereinstimmung oder Homologie zwischen Polyp und Meduse zu allgemeiner Anerkennung — und doch hängt von der Bejahung oder Verneinung dieser Übereinstimmung die Beurteilung zahlreicher Abstammungsfragen ab. Auf den ersten Blick scheint die Meduse grundverschieden von einem Polyp. Die verschiedenen Bedingungen, unter welchen beide leben, sind auf die Ausbildung des Körpers von dem allergrössten Einfluss ge- wesen, allein wir werden nicht den Habitus, nicht die Unterschiede der physiologischen Leistung zum leitenden Motiv nehmen, sondern Wesent- liches vom Unwesentlichen trennen müssen und so einen richtigen Mass- stab für die Beurteilung der gemeinsamen Züge gewinnen. Dass gewisse Polypengattungen im stande sind, Medusen aufzuammen, spricht für die nahe Zusammengehörigkeit beider. Ist nun die Meduse, welche Geschlechtszellen zur Reife bringt, ein einfaches Organ oder muss sie als Polypenperson aufgefasst werden? Im Laufe der Zeit haben beide Deutungen ihre Vertreter gefunden, noch im Beginne des vorigen Dezenniums standen diese durchaus ver- schiedenen Auffassungen einander gänzlich unvermittelt gegenüber. Die Übereinstimmung zwischen Polyp und Meduse erkannt zu haben, ist ein Verdienst des Begründers der Coelenteraten. RupoLr LEUCKART hat diese Auffassung schon im Jahre 1851, als er den Polymorphismus der Röhrenquallen erklärte, zu vertreten unternommen. Er erklärte diese sonderbaren und physiologisch hochinteressanten Pflanzentiere als freibewegliche Hydroidenstöcke, als schwimmende Tierkolonien, bei denen eine hochausgebildete Arbeitsteilung zwischen den einzelnen Tieren sehr weitgehende Körperunterschiede hervorgerufen hat. Die an einem gemeinsamen Stamme, welcher sehr muskulös ist, angehefteten Tiere zeigen je nach ihrer besonderen Leistung bald einen polypenähnlichen, bald einen medusenähnlichen Charakter. Die ver- schiedenen Anhangsgebilde des muskulösen Stammes, den verschiedensten Leistungen angepasst, erscheinen uns zwar als blosse Organe, aber mor- phologisch genommen und auch mit bezug auf ihre Abstammung müssen wir ihnen eine höhere Dignität zuerkennen, es sind einzelne Polypenpersonen. LeuckArr konnte sich mit dieser einleuchtenden und naturgemässen Deutung auf die koloniebildenden Hydroiden berufen, wo das Prinzip der Arbeitsteilung ebenfalls einer Verschiedenheit der Einzeltiere gerufen hat. Nicht allein tritt häufig ein Gegensatz zwischen Nährpolypen und Fort- pflanzungspolypen auf, sondern gelegentlich, wie z. B. bei der Gattung Podocoryne, finden sich noch tentakelartige Spiralzooiden und skelett- bildende Individuen. 124 Conrad Keller, Die Abstammungsverhältnisse der Pflanzentiere. Die Lehre vom Polymorphismus und das Gegenüberstellen von medusoiden und polypoiden Individuen involviert eine ganz be- stimmte Auffassung der Medusengruppe. Es sind, wie wir uns heute ausdrücken, die Medusen nichts anderes als Einzelpolypen, welche speziell für ihre schwimmende Lebensweise angepasst erscheinen. Damit musste auch der Generationswechsel, in welchem eine Po- Iypenamme Medusen hervorbringt, vieles von seiner Wunderbarkeit verlieren. Die Leuckartsche Deutung blieb keineswegs ohne Widerspruch, sondern wurde von zwei gewichtigen Seiten in Frage gestellt. In Eng- land vertrat Huxtey eine Auffassung der Röhrenpolypen, welche in ihnen nicht einen Tierstock, sondern ein einzelnes Individuum erkennen wollte. Die einzelnen Anhänge wurden auf die Teile einer Scheibenqualle be- zogen, womit auch der Gegensatz von medusenähnlichen und polypen- ähnlichen Individuen fallen gelassen wurde. In Deutschland vertrat CARL GEGENBAUR eine Deutung des Medusenkörpers, welche vom Standpunkte der Entwickelungslehre aus Berechtigung und grosses Interesse darzubieten geeignet war. Er vergleicht die Geschlechtsorgane des Süsswasserpolypen und die festsitzenden Geschlechtsknospen verschiedener Hydroidpolypen des Meeres mit den von Polypen aufgeammten Medusen und erblickt in allen diesen Formzuständen die Glieder einer zusammenhängenden Entwickelungsreihe. — Diese Medusentheorie findet sich am genauesten entwickelt in seinen »Grundzügen der vergleichenden Anatomie« vom Jahre 1870. An schema- tischen Figuren wird der Entwickelungsgang genauer versinnlicht. Huldigt man dieser Auffassung, so ist die Meduse nicht ein Polypen- individuum, sondern ein auf die Stufe selbständiger Individualität ge- hobenes Geschlechtsorgan. Dieser Fall wäre jedoch insofern merkwürdig, als er zum erstenmale in der Tierwelt uns den Prozess vor Augen führte, dass ein Organ sich zu einer Individualität höheren Grades erhebt. Aber einmal konnte man den Einwand erheben, dass in der Tier- welt häufiger der umgekehrte Prozess stattfindet und das Individuum häufig genug auf die physiologische Bedeutung eines Organes oder doch sehr weniger Organe herabsinkt. Solche Erscheinungen hat der Para- sitismus im Gefolge und wohl den merkwürdigsten Fall bieten die Donellia- Männchen dar, welche im Schlunde des Weibchens schmarotzen und physiologisch auf die Stufe eines blossen Geschlechtsorganes herabsinken. Die Gegenbaursche Entwickelungsreihe der Meduse konnte recht gut bestehen, aber den umgekehrten Entwickelungsgang durchgemacht haben. In den letzten Jahren hat sich dann in der That auf Grund er- neuter Untersuchungen der Entscheid allgemein zu gunsten einer Über- einstimmung zwischen Meduse und Polyp vollzogen. Neben HAEcKEL sind auch ALuLman uud CrAus sowie die Gebrüder Herrwic für diese Übereinstimmung eingetreten. Einer dieser Forscher äussert sich in sehr zutreffender Weise da- hin: »In Wahrheit besteht ein fundamentaler Gegensatz von Scheiben- >qualle und Polyp überhaupt nicht. Die Meduse ist eben ein breiter, Conrad Keller, Die Abstammungsverhältnisse der Pflanzentiere. 125 »scheibenförmig abgeflachter Polyp, der seine Befestigung aufgegeben »und durch den Muskelbelag der als Schwimmsack eingebuchteten Mund- »scheibe zur schwimmenden Bewegung befähigt ist. Die Fangfäden sind »>die Tentakeln des Randes. Der Mundkegel des Hydroiden oder das »Magenrohr des Anthozoenpolypen ist der Mundstiel der Qualle. Die »Gallertscheibe erscheint als eine besondere Mesodermlage, die bei den »Hydroiden als feste Stützlamelle, bei den Anthozoen als mächtige, von >Safträumen durchsetzte skelettbildende Unterhaut auftritt.< (Vergl. Craus, Studien über Polypen und Quallen der Adria. 1878.) Zu demselben hesultat gelangten O. und R. Hrrrwiıs bei ihren Untersuchungen über den Organismus der Medusen vom Jahre 1878. Dieselben haben in sehr vollständiger Weise die gegenseitigen Beziehungen zwischen Meduse und Polyp erörtert. Inzwischen wusste man in der wissenschaftlichen Welt, dass Erxsr HAECKEL ein grosses und umfangreiches Werk über die Medusenklasse vorbereitete, und man durfte mit grosser Spannung der Publikation dieser Monographie entgegensehen, zumal darin ja eine Fülle von Ma- terial für die Deszendenz einzelner Zweige der Pflanzentiere zu er- warten war. Das Werk liegt seit einiger Zeit abgeschlossen vor uns und wir lernen hier eine unserer elegantesten Tiergruppen auch von einer mor- phologisch interessanten Seite kennen. HaEcKELs >System der Medusen« ist nicht nur ein für den Syste- matiker unentbehrliches Werk, es gebührt ihm auch vom Standpunkte der allgemeinen tierischen Morphologie aus ein hervorstehender Platz in unserer zoologischen Litteratur, indem es über die gegenseitigen Bezieh- ungen der Medusen die klarsten Einblicke gewährt und — wir rechnen dies jedem Autor als hohes Verdienst an — zu vielen neuen Unter- suchungen anregt. Vor allen Dingen hat ein Resultat überrascht. Bisher wurden nur schüchterne Zweifel an der Einheit des Medusenstammes laut. In der äusseren Erscheinung sind fast alle Medusen von so übereinstimmendem Habitus, dass ihre systematische Zusammengehörigkeit im Ernste nicht bezweifelt wurde. Zwar ist ein Gegensatz der beiden grossen Medusen- legionen, der mit Velum versehenen Craspedota und der ihnen gegenüber- stehenden Acraspeda frühzeitig erkannt worden. Sie zeigen auch Ab- weichungen in der Beschaffenheit der Randkörper. Aber das den Üras- pedoten eigentümliche Velum ist ja auch bei einem Teil der höheren Medusen vorhanden (Charybdaca), und so lag es nahe, in diesen Fällen Übergangsbildungen zwischen beiden Gruppen zu erblicken. Nach Hazereı besteht trotz vielfacher äusserlicher Übereinstim- mung eine tiefe Kluft zwischen den kleinen Craspedoten und den grösseren Medusen, beispielsweise den bekannten Scheibenquallen. Ihre Herkunft oder Abstammung ist eine durchaus verschiedene, trotzdem auch die Entwickelung scheinbar gemeinsame Züge darbietet und der Generations- wechsel in beiden Gruppen auftritt. Dass nur die grösseren Medusen in ihrem Magenraum Filament- gruppen entwickeln, welche die allernächsten Beziehungen zu den Mesen- 126 Conrad Keller, Die Abstammungsverhältnisse der Pflanzentiere. terialfilamenten der Korallen aufweisen, ist jedenfalls von der allergrössten Bedeutung. Die Gebrüder Herrwıs machen ferner auf den durch- greifenden Unterschied in bezug auf die Entstehung der Geschlechts- produkte aufmerksam. Bei den Craspedoten stammen sie wie bei den Hydroiden aus dem oberflächlichen Blatte ab — sie sind Ektokarpen. Bei den Scheibenquallen muss ihr Ursprung dagegen aus dem Entoderm hergeleitet werden — sie sind wie die Korallen Entokarpen. Der Generationswechsel, wo er bisher beobachtet wurde, zeigt trotz der gemeinsamen Züge tiefgreifende Unterschiede. Die Ammen der Cras- pedoten sind Hydropolypen, die Scheibenquallen entwickeln sich dagegen aus Scyphopolypen, deren Magenwand in 4 Längswülste oder Täniolen vorspringt. Zwar ist das Vorkommen von solchen Längs- wülsten auch schon für Hydropolypen angegeben worden, allein mir scheint deren Nachweis keineswegs gesichert. Alle diese Thatsachen ran HAECcKEL, welcher die phyleti- schen Verhältnisse der Medusen schon in seiner »generellen Morphologie« vom Jahre 1566 als sehr verwickelt bezeichnet hatte, zu der Schluss- folgerung, dass ein gemeinsamer Ursprung und eine genetische Zusammen- gehörigkeit aller Medusen nicht angenommen werden darf. Eine Abteilung, nämlich die mit echtem Velum versehenen Cras- pedoten-Medusen, steht in den engsten verwandtschaftlichen Beziehungen zu den Hydroidpolypen, während die Stellung der höheren Acraspeda eine ziemlich isolierte ist, jedenfalls nicht in den Hydroiden wurzelt. Aber auch die Craspedoten besitzen keineswegs einen einheitlichen Ursprung, wie uns ihr Generationswechsel lehrt. Ein Teil geht aus Tu- bularien hervor, ein anderer aus Campanularien. Der Rest, bei welchen gar kein Generationswechsel mehr vorkommt, kann in seinem Ursprung schwieriger erkannt werden. Aus diesem durch verwandtschaftliche Bande sehr innig verknüpften Formenkreise haben sich noch zwei schärfer ausgeprägte Seitenlinien entwickelt. Es sind dies die Röhrenquallen und die Rippen- quallen oder Ctenophoren. Für die Siphonophoren war es naheliegend, sie direkt aus Hydroid- kolonien hervorgehen zu lassen — ob sie einen einheitlichen oder poly- phyletischen Ursprung besitzen, muss vorläufig noch unentschieden ge- lassen werden. Es ist aber die Vermutung nicht ausgeschlossen, dass die Röhrenquallen umgewandelte Kolonien von craspedoten Medusen darstellen. Ernst Hazcren beschreibt mehrere Anthomedusen, welche diese Auffassung zu unterstützen geeignet sind. Die merkwürdigste ist wohl seine Sarsia siphonophora, welche mit ungewöhnlich langem Magenstiele versehen ist, auf dem zahlreiche Medusenknospen aufsitzen. So viel darf zur Zeit als feststehend angenommen werden, dass. die Röhrenquallen nicht Individuen, sondern Tierstöcke mit Arbeitsteilung der Einzeltiere darstellen und dass sie mit den Hydromedusen in engsten Verwandtschafts- resp. Stammesbeziehungen stehen. Viel schwankender gestaltete sich früher die Stellung der Rippen- quallen. Diese Pflanzentiergruppe steht in ihrer Organisation ziemlich Conrad Keller, Die Abstammungsverhältnisse der Pflanzentiere. 127 abgeschlossen und eigenartig da. Die Bewegung mit Hilfe von schwin- genden Ruderplättchen, welche in Reihen angeordnet sind, zeichnet sie vor den Medusen aus, ebenso eine auffällige Hinneigung zur symme- trischen Körpergestalt. Der Gastralraum wird komplizierter, als dies bei den schwimmenden Medusen der Fall ist. Daher finden wir bei dem völligen Mangel an Zwischenformen die Stellung der Rippenquallen verschieden beurteilt. Louıs AGcAssız verwies sie unter die Akalephen, während Huxrry sie mit den Korallen vereinigte. In sehr erfreulicher Weise ist unlängst die Verwandtschaft der ge- nannten Tiergruppe erkannt worden und zwei verschiedene Forscher sind hierüber fast gleichzeitig und auf ganz verschiedenen Wegen zu über- einstimmenden Resultaten gelangt. Im Jahre 1879 veröffentlichte Erxst HAEcREL in der »Jenaischen Zeitschrift für Naturwissenschaft« die Beschreibung einer in hohem Grade merkwürdigen Meduse aus der Gruppe der Cladonemiden, welche er als Otenaria ctenophora bezeichnete. Fasst man ihre Körpereigentümlich- keiten zusammen, so stellen sie sozusagen das arithmetische Mittel zwischen den Kennzeichen einer Rippenqualle und einer craspedoten Meduse dar: es ist eine Zwischenform mit Velum, Trichter, Senkfäden und acht Nesselrippen. Hacker stellt auf Grund dieser Üfenaria die Homologien zwischen Medusen und Rippenquallen her. Kurz darauf erschien die schöne Monographie von Ü. Unux, in welcher die Haeckelsche Auffassung der Rippenquallen vollkommen be- stätigt wurde. Auf embryologischem Wege konnte dieser Forscher die meisten von HAEcKEL gezogenen Schlussfolgerungen bestätigen. Über die Herkunft kann also kein Zweifel mehr obwalten!. Der ziemlich vielgestaltige und morphologisch so interessante Stamm der Hydro- medusen ist demnach bezüglich seiner Entwickelung genügend erkannt. Aus den obigen Erörterungen geht aber hervor, dass für die zweite Legion der Medusen, für die höher organisierten Scheibenquallen kein Platz in demselben ist. Sie müssen an anderer Stelle untergebracht werden, und so seltsam es auf den ersten Blick erscheinen mag, so finden wir bei näherer Umschau die nächsten Beziehungen zu den Ko- rallentieren oder Anthozoen. Dieser Gedanke ist in der Neuzeit mehr- fach ausgesprochen worden. Neben Hascken haben auch Craus und Herrwis diese Ansicht betont und näher zu begründen versucht. Das Auftreten von Magenfilamenten bei Medusen und Korallen ist sicher bedeutungsvoll. Deren Bau ist näher bekannt geworden, in beiden Gruppen sind es Verlängerungen in die Magenhöhle hinein, welche durch eine Mesodermachse gestützt werden und mit Entodermzellen überzogen erscheinen. In beiden Gruppen kommen auf denselben neben Nessel- zellen auch Drüsenzellen vor, ihre physiologische Bedeutung ist in beiden Abteilungen dieselbe, weshalb sie von Hrrrwıc als homologe Bildungen aufgefasst werden. — Auch mit bezug auf die Herkunft der Geschlechts- zellen zeigen die Scheibenquallen, wie schon erwähnt, nahe Beziehungen zu den Korallen — beide sind Entokarpen. BR. ı Vol. jedoch die abweichende Darstellung dieser Frage durch B. Vetter in Kosmos XII, 673. A.d.R. 128 Conrad Keller, Die Abstammungsverhältnisse der Pflanzentiere. Will man noch weiter gehen, so finden sich in der Entwickelung verwandte Züge. Es mag vielleicht auf den eigenartigen Generations- wechsel der Steinkorallen hingewiesen werden, welcher von SEMPER im Jahre 1872 bekannt gemacht wurde. Bei den Pilzkorallen oder Fungien tritt er in einer Form auf, welche lebhaft an die bei den Scheiben- quallen vorkommende Strobilabildung erinnert. Es kommen noch weitere gegenseitige Beziehungen vor, welche ich an Korallentieren des Roten Meeres beobachtete und unlängst vor- gebracht habe. Ich traf vor zwei Jahren im erythräischen Gebiete zahl- reiche Rasen einer braunen Xenia (X. fuscescens Eur.) und konnte an der lebenden Koralle folgende Beobachtungen machen: 1) Die Einzelpolypen führen mit ihrer Mundscheibe und den am Rande befindlichen Fangarmen rhythmische Bewegungen aus, welche augenfällig an die Schirmkontraktionen einer Meduse erinnern. Die Tentakel klappen regelmässig zusammen und führen per Minute etwa 30 Bewegungen aus. 2) Die Kontraktionen erfolgen bei den einzelnen Individuen eines Stockes nicht gleichzeitig, sondern sind völlig unabhängig von einander. 3) Diese Kontraktionen nehmen auch dann ihren ungestörten Fort- gang, wenn man das Mauerblatt des Tieres bis an die Tentakelbasis heran abträgt. 4) Wird der Einzelpolyp durch einen Längsschnitt halbiert, so ziehen sich die beiden Hälften unabhängig von einander zusammen. Diese Beobachtungen wurden von mir kürzlich in der »Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie« veröffentlicht und ich glaubte auf Grund derselben auf gemeinsame Beziehungen im Nervensystem von Koralle und Meduse folgern zu dürfen. Aus den Hertwigschen Untersuchungen über das Nervensystem der Anthozoen geht nämlich hervor, dass im Bereiche der Mundscheibe und besonders auch in der Nähe der Fangarme nervöse Zentralgebilde vor- handen sind. Bei den Medusen liegen die Nervenzentra an einer ähn- lichen Stelle, nämlich in den Randkörpern, welche genetisch als um- gewandelte Tentakeln zu deuten sind. So mehren sich also die Thatsachen, welche für eine Zusammen- gehörigkeit der Korallen und acraspeden Medusen sprechen. Wir begnügen uns indessen nicht mit der blossen Konstatierung von gemeinsamen Charakteren, sondern suchen den Weg auf, welchen die organische Umbildung und Entwickelung in beiden Gruppen ge- nommen hat. Über diesen Vorgang spricht sich auch HAEckEL in seinem Medusenwerke aus. Nach ihm haben sich die höheren Medusen und Anthozoen sehr frühzeitig von einander entfernt; als Ausgangsform beider betrachtet er die Scyphopolypen. Es sprechen gewichtige Gründe für eine frühzeitige Divergenz beider Gruppen. Geologisch sind die Medusen offenbar ziemlich alte Geschöpfe. Ihre Abdrücke finden sich wundervoll im lithographischen Schiefer von Solenhofen erhalten. Es gibt aber noch einen anderen Weg, auf welchem die Verwandt- schaft erklärt werden kann und für den sich Argumente beibringen lassen. Conrad Keller, Die Abstammungsverhältnisse der Pflanzentiere. 129 Ich halte nämlich die acraspeden Medusen für die ältere Gruppe, aus der die Korallen durch den Übergang von der freischwimmenden in die festsitzende Lebensweise entstanden sein können. Im folgenden gebe ich die Gründe an, welche mir diese Auffassung zu rechtfertigen scheinen. Es muss zunächst auffallen, dass die Scyphopolypen, welche Me- dusen aufammen, zwar die Längswülste des Magens besitzen, dass aber die Filamentgruppen in der Entwickelung verhältnismässig spät auf- treten. Ich gebe zu, dass man im Einzelfalle mit der Anwendung des biogenetischen Grundgesetzes sehr vorsichtig zu Werke gehen muss, aber immerhin scheint mir obige Thatsache sehr von Bedeutung. Sind Me- dusen und Anthozoen aus Scyphopolypen hervorgegangen, so haben sich möglicherweise die Filamentgruppen der Medusen und die Mesenterial- filamente der Korallen unabhängig von einander entwickelt und sind dann streng genommen keine homologen Organe mehr. Sodann muss auf die Thatsache hingewiesen werden, dass die Medusen in vielen Fällen ihre schwimmende Lebensweise aufgeben und in den sesshaften Zustand übergehen, wobei sie sich umkehren und die Exumbrella als Fussscheibe benutzen. Derartige Thatsachen mehren sich in den letzten Jahren. Nach Acassız lebt eine Scheibenqualle (Polyclonia frondosa) herden- weise auf den Korallenriffen und während der Challengerfahrt sind an ‚den Küsten der Philippinen Scharen von festsitzenden Medusen beob- achtet worden, wie uns Moserer in seinem anziehenden Reisewerke »Notes by a naturalist on the Challenger« berichtet: »In the shallow water were a large number of Medusae all lying on the tops of their umbrellass. They looked thus posed like a lot of See-Anemones and I took them for such at first.« Ähnliches habe ich auf den Riffen des Roten Meeres an der süd- ägyptischen Küste beobachten können. Hunderte von grossen Medusen aus der Gattung Cassiopea sind dort unbeweglich im Korallensand ver- ankert, indem sie mit der Exumbrella aufsitzen, und ich hielt sie an- fänglich ebenfalls für Seerosen!. Unter den niederen Acraspeda entwickeln die Gattungen Zucernaria und Depastrella einen Stiel, welcher zum Anheften an verschiedene ‘Gegenstände dient. Ich kann noch einen weiteren Fall hinzufügen, welcher die honig- ‚gelbe Mittelmeerqualle Cotylorhiza tubereulata (Cassiopea borbonica) betrifft. Im Herbst 1885 machte ich mit dieser Qualle Versuche, über welche ich demnächst an anderer Stelle ausführlicher berichten werde. Die Meduse (. borbonica zeichnet sich durch ihr regelmässiges periodisches Erscheinen aus. Man kann oft bis auf wenige Tage genau den Zeitpunkt bestimmen, wann sie eine Lokalität besucht. Im Golf von Neapel er- ‚scheint sie in der Regel um die Mitte des Monats August und verschwindet im Dezember wieder. Es hat bisher niemand die Frage zu beantworten gesucht, wo die ı Vgl. das Referat über die betreffende Arbeit des Verf. in Kosmos XII, 701. A.d. R. Kosmos 1884, I. Bd. (VII. Jahrgang, Bd. XIV). J 130 Conrad Keller, Die Abstammungsverhältnisse der Pflanzentiere. Meduse die übrige Zeit des Jahres sich aufhält und aus welcher Region sie plötzlich herkommt, um an der Oberfläche des Meeres zu erscheinen. Aus den von mir angestellten Versuchen muss ich schliessen, dass diese Meduse den grössten Teil des Jahres in bedeutender Tiefe lebt, als Tiefseebewohner mit der Exumbrella auf dem Grunde aufsitzt und nur zeitweise zum Zwecke der Fortpflanzung in die pelagische Region auf- steigt. Es gelang mir in Neapel, zahlreiche Exemplare von Cassiopea borbonica in der genannten Weise in den festsitzenden Zustand über- zuführen, bei jungen Exemplaren schon nach 12 Stunden, bei älteren erst nach 24— 30 Stunden. Alle unverletzten und lebenskräftigen Tiere setzen sich in der Weise fest, dass die Exumbrella als Fussscheibe benutzt wird und man den Eindruck einer Aktinie erhält. In diesem Zustande und ohne sich von der Stelle zu bewegen, leben die Medusen nicht nur tagelang, son- dern wochenlang weiter. Sind diese bei Medusen aus verschiedenen Gattungen auftretenden Erscheinungen zufällig oder nicht? Ich glaube, sie geben uns einen Wink über die Entstehung der Korallen. Da nun Anthozoen bereits in silurischen Ablagerungen auftreten, so erforderte meine Ableitung ein sehr hohes geologisches Alter der Medusen, und allerdings lassen sich die bisher bekannt gewordenen Thatsachen der Paläontologie auch zu meinen Gunsten verwerten. Dass die Medusen geologisch alt sind, beweist ihr Auftreten im lithographischen Schiefer von Solenhofen. Es sind aber auch Medusen aus den uralten cam- brischen Ablagerungen bekannt gemacht worden. Unlängst hat G@. NArHorRsT solche Abdrücke beschrieben und abgebildet (vgl. Om Aftrik af Medusor. 18551). Wenn man die getreuen Abbildungen näher durchgeht, so scheint in der That die Deutung als Medusen keineswegs gewagt. Insbesondere gilt dies für Medusites Lindströmi. Dagegen will ich nicht verhehlen, dass mir eine andere Art, Medusites favosus, keineswegs eine Meduse zu sein scheint, sondern vielleicht eher als Spongie gedeutet werden dürfte. Wenn somit verschiedene Momente es wahrscheinlich machen, dass. die Anthozoen aus Medusen hervorgingen, so fehlen uns zur Zeit noch nähere Anhaltspunkte, wie die Einzelheiten in der Entwickelung vor sich gingen. Bei dem gänzlichen Mangel von Zwischenformen müssen wir uns über diese Punkte eines Urteils enthalten. — Ob dieser Übergang nur einmal oder wiederholt erfolgte, hleibt ebenfalls noch eine offene Frage. Es ist nicht undenkbar, dass die grösseren Abteilungen der Anthozoenklasse ähnlich wie die Craspedoten einen verschiedenartigen Ursprung besitzen. Bei der Schwierigkeit, ein natürliches System der Korallen aufzustellen, kann die Affinität der einzelnen Korallenzweige erst dann mit Sicherheit bestimmt werden, wenn die histologischen und entwickelungsgeschichtlichen Thatsachen vollständiger vorliegen. Vor- läufig sind es nur die achtstrahligen Korallen, welche in ihrem Zusam- menhange besser erkannt werden konnten. Ähnliche Anschauungen, wie ich sie mit bezug auf den Zusammen- hang der höheren Medusen und Korallen entwickelte, hat fast gleich- Zeitig und unabhängig von mir kürzlich Carr. Vocr veröffentlicht. In Conrad Keller, Die Abstammungsverhältnisse der Pflanzentiere. 131 seinem im Erscheinen begriffenen »Traite d’anatomie comparee« leitet auch er die Anthozoen von den höheren Medusen ab. Die von ihm angestrebte Beweisführung aber ist eine von der meinigen verschiedene. Vocr geht von dem allgemeinen Gesichtspunkte aus, dass frei- lebende und schwimmende Tierformen phylogenetisch älter sind als fest- sitzende Arten. Für ihn stellen jene einen primären Organisationszustand dar, aus welchem durch parasitäre Lebensweise und anderweitige Ur- sachen die festgesogenen, klammernden und sessilen Arten sich heraus- gebildet haben. Im grossen und ganzen kann die Richtigkeit dieser Annahme nicht geleugnet werden, sie ist in der Mehrzahl der Fälle zutreffend und wirft ein erklärendes Licht auf die freilebenden Jugendstadien zahlreicher fest- sitzender Tiergattungen. Wir ersehen ja aus zahlreichen Übergangsstufen, wie Schmarotzer- krebse aus freilebenden Gattungen hervorgehen. Die Vorläufer der schmarotzenden Saugwürmer und Bandwürmer suchen wir mit aller Be- rechtigung in freibeweglichen Formen. Die gestielten Rankenfüsser hatten freibewegliche Vorfahren, wie uns die Naupliuslarve wahrscheinlich macht. Daher denkt sich Carı Vogr einen Medusenzustand als phylogenetische Vorstufe der sessilen Korallen. So richtig diese Erwägungen im allgemeinen sind, so dürfen sie im speziellen Falle doch nur mit Vorsicht zur Anwendung kommen und müssen noch durch weitere Beweisgründe gestützt werden. Gelegentlich sehen wir in der Tierwelt ja auch den umgekehrten Entwickelungsgang sich vollziehen. So gibt es Anthozoen (gewisse Aktinien), welche schwimmen. Der freibeweglichen Comatıla geht ein festsitzender pentacrinusähnlicher Zustand voraus, welcher sich in der Keimesgeschichte noch erhalten hat. Viele Bestandteile der subpela- gischen Tierwelt sind wahrscheinlich aus sesshaften Bewohnern des Küsten- gebietes hervorgegangen. Wenigstens hat die Annahme am meisten Wahrscheinlichkeit für sich, dass, wie oben gezeigt wurde, die cras- pedoten Medusen genetisch jünger sind als die festsitzenden Stöcke der Hydroiden. Für den speziellen Fall der Anthozoen aber dürfte auch die Vogt- sche Anwendung zulässig erscheinen, nachdem ich seither an Cassiopea borbonica den experimentellen Nachweis erbracht habe, dass die Meduse sich leicht in einen festsitzenden Zustand überführen lässt. Um vollständig zu sein, müssen wir endlich auch noch den letzten grossen Cölenteratenzweig — die Schwämme oder Spongien — näher berücksichtigen. Es ist bekannt, wie vernachlässigt diese Tiergruppe lange Zeit ‘ Wie uns scheinen will, sind gerade die höheren Medusen vortrefflich ge- eignet, den Vogtschen Satz in seiner Allgemeinheit zu widerlegen; denn ihre Ent- wickelung durchläuft nach dem freien Gastrulazustande bekanntlich das festsitzende Seyphistomastadium, das, obgleich die Meduse erst als zweite Generation an diesem entsteht, doch unzweifelhaft als Wiederholung eines Vorfahrenzustandes aufzu- fassen ist. A, dc. 132 Conrad Keller, Die Abstammungsverhältnisse der Pflanzentiere. hindurch blieb und welche systematischen Irrfahrten dieselbe durchzu- machen hatte, bis sie endlich definitiv den heutigen Platz einnehmen konnte. Man hat sie erst bei den Protozoen untergebracht und einen Anschluss in der Nähe der Radiolarien gesucht; dann sind sie wiederum als Kolonien von Flagellaten erklärt worden; es tauchte sogar der Vor- schlag auf, sie zu einem eigenen Typus zu erheben. RupoLr LEuUCKART hat sie zuerst als Pllanzentiere zu deuten ver- sucht und Ersst HAscker hat in der Folge im einzelnen ihre Cölenteraten- natur begründet. In dem letzten Jahrzehnt hat die Kenntnis der Spongien eine erfreuliche Ausdehnung gewonnen, ihr histologischer Aufbau ist bis ins Detail bei ganz verschiedenen Gruppen bekannt geworden und auch die Entwickelungsgeschichte hat sich mehr und mehr aufgehellt. Aber wir müssen uns damit vorläufig zufrieden geben. Die Ab- stammung der Spongien bleibt einstweilen noch in grosses Dunkel ge- hüllt. Alle Annahmen erheben sich nicht über die Stufe unsicherer Hypothesen. Der Aufbau des Körpers aus drei Leibesschichten, das Kanalwerk und die Art der Skelettbildung lassen an eine nähere Beziehung zu den Korallen denken. Aber das vollständige Fehlen von Nesselorganen und Fangarmen sowie der Besitz von Hautporen entfernt sie weit von den Hydrozoen und Anthozoen. Auch die Entstehung der Geschlechts- zellen ist von beiden Gruppen verschieden, denn die Spongien erzeugen wohl alle die Genitalprodukte im Mesoderm. F. Batrour hat den Gedanken geäussert, die Spongien möchten als degenerierte Abkömmlinge gewisser Korallen, möglicherweise der Al- cyonarier, aufzufassen sein. In dieser Korallengruppe haben sich ja auch verzweigte Ausläufer des Gastralraumes ausgebildet. Doch hat nach demselben Autor eine andere Annahme vielleicht noch mehr Be- rechtigung. Mit Rücksicht auf die Larvenform gewinnt die Vermutung Raum, dass die Spongien sich aus vielzelligen Protozoen heraus ent- wickelt haben. In diesem Falle ist man zu der Voraussetzung genötigt, dass die Larven gewisser Spongien die Charaktere eines derartigen Vor- fahrentypus unverfälscht beibehalten haben. Ich gestehe, dass ich mir zur Zeit über die Herkunft der Spongien noch kein sicheres Urteil bilden konnte. Obige Zusammenfassung der Stammesverhältnisse bei Pflanzentieren gebe ich als das, was sie zur Zeit nur sein kann — eine Darlegung des Entwickelungsganges einer grösseren Tiergruppe, wie er sich bei dem heutigen Stande der zoologischen Wissenschaft darbietet. Manches wird im Laufe der Jahre vielleicht noch besser begründet, anderes durch neue Thatsachen klarer gestellt werden. Zoologische Reisen per segelschift. Eine Anregung von Dr. Wilhelm Breitenbach. Als ich im Juni 1853 in Porto-Alegre den Entschluss gefasst hatte, wieder nach Europa zurückzukehren, machte mir ein Freund den Vor- schlag, meine Reise auf einem Segelschiff zu machen. Er selbst sei öfter mit Segelschiffen gefahren und sei fest überzeugt, mein Entschluss würde mich später nicht gereuen. Da es mir auf einige Wochen Zeit gerade nicht ankam, so beschloss ich dem Rate meines Freundes zu folgen und mietete mir von dem mir bekannten Capt. H. Oldenburger einen Platz auf seinem nach Falmouth in England bestimmten Schoner »Goedhart«. Nachdem wir die Lagoa dos Patos durchfahren, uns einige Wochen (wegen der noch zu komplettierenden Ladung) in Pelotas aufgehalten hatten, von wo ich einen Abstecher nach der Kolonie Sao Lourenzo machte, stachen wir, nachdem die Barre von Rio Grande ohne sonderliche Hindernisse passiert war, am 12. Juli nachmittags in See. Trotzdem ich durchaus nicht besonders darauf vorbereitet war, hatte ich mir doch vorgenommen, unterwegs so viel wie möglich Seetiere zu sammeln und zu beobachten. Ich bin im Laufe meiner Reise, die am 25. Sept. zu Ende ging, immer mehr zu der Überzeugung gekommen, dass namentlich jungen Zoologen, welche einige Strapazen und manche Unbequemlichkeiten auf einem kleinen Segelschiffe nicht fürchten, eine solche Reise per Segelschiff zu wissenschaftlichen Zwecken sehr zu empfehlen ist. Ehe ich dazu über- gehe, anzugeben, was und wie man unterwegs sammeln und beobachten kann, will ich die pekuniäre Seite der Frage etwas ins Auge fassen. Am 15. Juni fuhren wir von Porto-Alegre ab und kamen am 25. Sept. in Falmouth an; die Reise hat also mehr als drei Monate gedauert. Für diese ganze Zeit habe ich mit vollständiger Verpflegung 150 Milreis oder etwa 300 Mark bezahlt; jedenfalls ist das ein sehr niedriger Preis für eine dreimonatliche Seereise. Welche reiche Ausbeute könnte man haben, wenn man etwa folgende Reise machte: Von Hamburg aus fährt man auf einem Schoner oder einer Bark nach Rio de Janeiro oder Santa Catharina in Brasilien. Hier angekommen, hält man sich etwa zwei Mo- 134 Wilhelm Breitenbach, Zoologische Reisen per Segelschiff. nate auf; den einen Monat verwendet man auf eine Erforschung der Küstenfauna, die in Brasilien noch wenig bekannt ist, den zweiten Monat benutzt man zu einem weiteren Ausflug ins Innere des Landes, wobei man Gelegenheit genug hat, eine hübsche Sammlung von Pflanzen und Tieren, besonders Insekten, Reptilien, Amphibien und Vögeln anzulegen. Darauf macht man entweder mit demselben Segelschiff oder mit einem andern die Reise nach Europa zurück. Eine solche Reise von einer Dauer von ungefähr sieben Monaten dürfte nicht mehr als 2500 Mark kosten, vorausgesetzt, dass alle unnützen Ausgaben vermieden werden. Unter den jüngeren deutschen Schiffskapitänen gibt es eine ganze Anzahl, die selbst sich auf ihren Reisen mit Sammeln befassen; es würde diesen, falls sie Platz auf dem Schiffe haben, gewiss nur Vergnügen machen, wenn sie einen Jungen Naturforscher mitnehmen könnten. In Falmouth lernte ich einen deutschen Kapitän kennen, der schon Jahre lang nach Östindien fährt und immer fleissig gesammelt hat: derselbe wollte mich unentgeltlich nach Ostindien mitnehmen und auch wieder zurückbringen, nur für Verpflegung wollte er Bezahlung nehmen. Es wäre sein Lieb- lingswunsch, sagte er mir, einmal mit einem Naturforscher zu reisen, jetzt finge und sehe er so manches, was ihm unbekannt sei, anderes wieder, was vielleicht grossen Wert für die Wissenschaft habe, lasse er unbe- rücksichtigt, weil es ihm alltäglich vorkomme. Dazu fehle es ihm auch noch an der nötigen Litteratur-Kenntnis, um sich selbst so weiter zu bilden, wie er gern möchte. Ein junger Naturforscher könnte sich Glück wün- schen, wenn es ihm gelänge, mit solchem Mann eine weite Seereise zu machen. Der holländische Kapitän meines Schoners, der von Zoologie keine Ahnung hatte, hat mir nichtsdestoweniger redlich geholfen und bald war er ganz unermüdlich, mir immer mehr Tiere zu verschaffen: manchen Kunstgriff, auf den ich wohl kaum gekommen wäre, hat er mir gezeigt, viele schöne Tiere, namentlich Siphonophoren hätte ich ohne ihn kaum bekommen. Er wusste die besten und einfachsten Instrumente zu kon- struieren, um selbst bei schneller Fahrt die Tiere zu erwischen. Einige solcher einfachen, aber sehr praktischen Fangmethoden mögen zu Nutz und Frommen etwaiger Kollegen, welche gleich mir eine zoo- logische Segelschiffreise machen wollen, hier mitgeteilt werden. Gleich in den ersten Tagen, als wir auf See waren, hätte ich gern einige der zahlreichen Seevögel gehabt, welche sich in der Nähe des Schiffes um- hertrieben. Aber wie dieselben erhalten? Als ich dem Kapitän meinen Wunsch mitteilte, schüttelte er erst bedenklich den Kopf, dann schien ihm ein Gedanke zu kommen; er ging in die Kajütte und holte eine lange Angelschnur. An die Angel steckte er ein Stückchen Speck und einen Kork, damit sie auf dem Wasser schwämmen, und so warf er die Schnur vom Hinterteil des Decks ins Meer. Es dauerte kaum einige Minuten, da hatten sich an zehn Vögel in der Nähe des Specks nieder- gelassen, und in zehn Minuten hatte ich drei Vögel »geangelt«e. Wir haben das Experiment mit demselben Erfolge oft wiederholt. Wer möchte wohl auf den Gedanken kommen, Vögel mit der Angel zu fangen? Manche der niedlichen Tiere, die wir fingen, haben wir tagelang an Bord gehabt, so dass sich Gelegenheit bot, dieselben lebend zu beobachten. Wilhelm Breitenbach, Zoologische Reisen per Segelschiff. 135 Pelagische Tiere, wie Polyeyttarien, Krustaceen, Medusen, Würmer fing ich mit Oberflächennetzen in der einfachsten Weise. Bei ruhigem Wetter und langsamer Fahrt (nicht mehr als 3 Meilen) liess ich vom Hinterteil des Schiffes aus in der Regel zwei Netze an ziemlich langen Leinen nachschleppen. Durch die Bewegung des Schiffes selbst hielten sich dieselben an der Oberfläche. Von Zeit zu Zeit zog ich die Netze ein, um zu sehen, ob etwas in ihnen sich gefangen hatte. Auf diese höchst einfache und mühelose Art ist es mir gelungen, viele schöne Sachen zu erlangen. Am Abend oder in der Nacht ist diese Fangmethode sehr vorteilhaft anzuwenden und zugleich bietet sie manchen Genuss. An vielen Abenden fuhren wir durch grosse Scharen von Feuerquallen (Pelagia), die wir ohne das Netz kaum bemerkt hätten, da sie fast gar nicht leuch- teten. Sobald aber eine oder mehrere dieser Pelagien in das Netz ge- raten waren und mit den Wandungen desselben oder mit einander in Berührung kamen, leuchteten sie hell auf, so dass man sie aus ziemlich grosser Entfernung innerhalb des Netzes deutlich erkennen konnte. Durch vorsichtiges Aufziehen des Netzes konnte ich mich dann in Besitz der schönen Tiere setzen. So habe ich in den Abendstunden des 14. Sept. unter 39° 44' N. B. und 10,5 Meilen OSO. von der Azoren-Insel Corvo einige zwanzig schöne grosse Pelagien gefangen. Ein andermal, am 8. Sept., unter 36° 26‘ N. B. undetwa 35" W.L. bekam ich innerhalb einer halben Stunde Tausende von Ephyra-Larven auf den verschiedensten Entwickel- ungsstufen. Grössere Oberflächentiere, wie Siphonophoren, Cephalopoden, ver- schiedene schöne Nacktschnecken, Schnecken mit einem eigentümlichen hydrostatischen Apparat, Salpen, ferner Medusen und viele andere Tiere haben wir mit vielem Glück auf folgende höchst einfache Weise trotz bewegter See und ziemlich schneller Fahrt gefangen. An einem Ende einer langen Stange war ein Ring befestigt, an welchem ein kleines grob- maschiges Netz angebracht war; mit diesem Instrument stellte ich mich an den Bugspriet des Schiffes, um namentlich die Physalien und Velella zu erwischen. Kommt z. B. eine schöne rote Physalia auf das Schiff zu, so hält man ihr das kleine Netz entgegen; mit den stark klebrigen Senkfäden bleibt das Tier ausnahmslos in den Maschen des Netzes hängen, so dass man es ohne Mühe und völlig lebensfrisch an Bord holen und in ein bereitstehendes Gefüss mit Wasser bringen kann. Die einzige Beschädigung, die das Tier bei diesem Fang erleidet, ist die, dass Stücke von einzelnen Senkfäden abreissen, was aber wohl kein grosses Unglück ist. Man kann sich bei dieser Gelegenheit aufs schönste von der kolos- salen Länge überzeugen, zu der diese Senkfäden ausgezogen werden können; man legt z. B. die Enden einiger Senkfäden auf die Schiffswand, an der sie sofort fest haften bleiben, und geht dann mit dem Körper des Tieres nach hinten. So konnten wir bei grossen Physalien die Senkfäden fast über die ganze Länge des Schiffes hin ausdehnen. Wenn man die grosse Zahl der Senkfäden bei einer erwachsenen Physalie bedenkt, so begreift man, welchen grossen Raum diese wunderbaren Geschöpfe mit ihren furchtbaren Waffen beherrschen können. Mit diesem selbigen ein- fachen Netz fing ich in der Nähe der ‚Azoren-Insel Öorvo grosse Mengen 136 Wilhelm Breitenbach, Zoologische Reisen per Segelschift. fusslanger Salpen, die zuweilen in Ketten uns entgegentraten von 10 Fuss Länge und darüber. Velellen, selbst kleine, junge Exemplare, bleiben ver- möge der Klebrigkeit der Tentakeln leicht in den Maschen des Netzes- hängen. Wollten wir kleinere Tiere an Bord holen, z. B. Porpita, von denen wir mehreremale zu Tausenden zählende Schwärme angetroffen haben, Würmer, Mollusken, kleinere Medusen etc., so befestigten wir an Stelle des Netzes ein blechernes, nicht zu tiefes Schöpfgefäss an der Stange. Man stellt sich beim Fang aber nicht an den Bug des Schiffes, sondern an die Seitenwand. Das Schöpfgefäss darf nicht zu gross und zu tief sein, da es sonst zu schwer zu handhaben ist. Übrigens erwirbt man sich auch darin bald eine bedeutende Geschicklichkeit. Diesem einfachen Gerät verdanke ich eine Menge wertvoller Sachen, namentlich Hunderte von Porpita, zahlreiche Schnecken, eine Anzahl Dekapoden, kleine Salpen, Medusen, prachtvolle Polycyttarien von oft enormer Grösse und manches. andere. Dass man bei ruhigem Wetter auch Fische mit der Angel fangen kann, dass man grössere Fische mit der Harpune erbeuten kann, braucht wohl kaum besonders hervorgehoben zu werden. Fliegende Fische lässt man sich selbst fangen; sie fliegen nachts in ganzen Scharen gegen die Segel, fallen auf Deck und werden gebraten am andern Morgen zum Frühstück verzehrt. Ich will hier auf den wirklich vorzüglichen Geschmack der fliegenden Fische aufmerksam machen; in der That kenne ich nicht viele Seefische, die in dieser Hinsicht mit denselben wetteifern können, was auch unser schöner grosser Kater, den wir an Bord hatten, sehr wohl einzusehen schien. Dieses Tier schlief den ganzen Tag; sobald es aber Abend wurde, kam es an Deck und setzte sich in das Tauwerk, um jeden fliegenden Fisch sehen zu können, der gegen die Segel flog. Manchmal hat unser Kater in einer Nacht vier oder fünf Fische gefangen und verzehrt und so unser Frühstück nicht wenig geschmälert. Einige praktische Winke mögen hier noch Platz finden. Man wähle zur Reise ein möglichst kleines Schiff, dessen Deck nicht hoch über Wasser ist; je näher man sich an der Meeres-Oberfläche befindet, desto leichter und bequemer kann man natürlich fangen. Die Gläser, in denen man die gefangenen Tiere etwa lebend zur Beobachtung aufbewahren will, muss man, um sie bei dem Schaukeln und Rollen des Schiffes vor dem Umfallen zu bewahren, in eine Vorrichtung stellen, ähnlich den Ge- stellen, in denen in chemischen Laboratorien die Reagenz-Gläser auf- bewahrt werden. Zu mikroskopischen Arbeiten wird man während der Reise kaum kommen; ich habe gänzlich darauf verzichtet. Dagegen kann man sich ein mikroskopisches Laboratorium später im Hafen leicht ein- richten. Zeichnungen von ganzen Tieren oder auch Teilen mit Hilfe einer guten Lupe lassen sich während der Fahrt ganz gut anfertigen; bei Windstille kann man allenfalls auch mikroskopieren. Dass man natürlich nicht versäumt, während der ganzen Reise meteorologische Be- obachtungen anzustellen, ist wohl selbstverständlich. Während unserer Reise befanden wir uns einige Tage in dem so- genannten Sargasso-Meer. Ich habe schon in meinem Aufsatz »Mimiery Wilhelm Breitenbach, Zoologische Reisen per Segelschift. 137 bei Seetieren« (Kosmos 1884, Bd. I, S.24) darauf hingewiesen, dass ein Zoologe auf einer Segelschiffreise etwa nach Westindien die beste Ge- legenheit haben würde, die Sargassofauna eingehend zu studieren. Hat man Fässer zur Verfügung, so kann man grosse Mengen von Sargassum an Bord holen und hat Arbeitsmaterial in Überfluss. Namentlich bio- logische Beobachtungen würden sich im Sargasso-Meer als lohnend erweisen. Da der Mensch von wissenschaftlichen Beobachtungen allein nicht leben kann, sondern auch essen und trinken will, so sind einige Be- merkungen über die Verpflegung auf kleinen Segelschiffen nicht unnötig. Dass die Verpflegung nicht so ist wie auf den luxuriösen transatlantischen Dampfern, ist klar. Wir hatten ein einfaches, aber ausreichendes und nahrhaftes Essen. Übrigens kann sich, wer in dieser Hinsicht etwas ver- wöhnt ist, ja manches mitnehmen, also z. B. Fleisch in Büchsen, Gemüse u. s. w. Auch lässt sich ja der Bestand an lebendem Vieh, der auf kleinen Segelschiffen sich auf ein paar Schweine und einige Hühner zu beschränken pflegt, mit nicht zu grossen Unkosten vermehren, etwa durch zwei Hammel, durch Hühner oder Enten, so dass man das frische Fleisch nicht zu lange zu entbehren braucht. Nach dem, was ich auf meiner Reise von Rio Grande nach England erlebt und beobachtet habe, glaube ich bestimmt, dass sich zoologische Reisen in der vorgeschlagenen Weise sehr dankbar erweisen würden. Schon die billige Art und Weise, in der die Gelegenheit geboten ist, z. B. ein Tropenland zu sehen, müsste zu dem Unternehmen anlocken. Ich möchte wünschen, dass ein jüngerer Zoologe, der über die nötige Zeit verfügt, sich meinen Vorschlag überlegte und eine solche Reise aus- führte. Zu jeder näheren Auskunft, soweit ich sie zu geben vermag, bin ich selbstredend jederzeit bereit. Wissenschaftliche Rundschau. Physiologie. Die mechanische Aufnahme der Nahrungsmittel in der Darmschleimhaut hat Prof. R. WırDErSHEIM zum Gegenstand einer interessanten Mit- teilung gemacht, welche in der Festschrift zur letztjährigen Naturforscher- versammlung in Freiburg i. Br. veröffentlicht wurde. Bekanntlich erregte es vor einigen Jahren nicht geringes Aufsehen, als durch Untersuchungen von GEGENBAUR, JEFFERY PARKER und METSCHNIKOFF festgestellt wurde, dass die sogenannte »intracelluläre Nahrungsaufnahme«, d. h. die Fähig- keit, feste Nahrungspartikelchen durch aktive amöboide Bewegung des Zellkörpers in diesen hineinzubefördern und zum Zwecke der Verdauung darin festzuhalten, nicht, wie man bisher geglaubt, nur auf das freie Protoplasma der Protozoen beschränkt ist, sondern ebenso den Entoderm- zellen der Spongien und der eigentlichen Cölenteraten zukommt. Zum Teil schon vorher waren ganz gleiche Beobachtungen bei zahlreichen Turbellarien gemacht worden: mögen dieselben einen gesonderten Darm- kanal besitzen oder nicht, jedenfalls dringt die Nahrung unmittelbar in die verdauenden Zellen ein, die häufig auch amöboide Bewegungen zeigen. Höhere Strudelwürmer dagegen, Anneliden, Rädertierchen und viele andere Würmer haben diese Erscheinung bisher nicht erkennen lassen, und gleiches gilt von den Arthropoden, Mollusken und Wirbeltieren. Die Frage, wie die Nahrungsaufnahme bei diesen erfolge, wurde früher einfach mit dem Hinweis auf die Verdauungssäfte beantwortet, welche die in den Magen und Darm eingeführten festen Stoffe in Lösung überführen und auf diese Weise befähigen sollten, durch die feste Mauer des Darmepithels hindurch zu diffundieren und in die Chylusgefässe zu gelangen; um jedoch die Aufnahme fester Partikelchen sowie der inner- halb der Epithelzellen und bis in die Lymphbahnen der Submucosa hinein nachgewiesenen Fetttröpfchen zu erklären, sah man sich zu der Annahme genötigt, dass irgendwelche porenartige Öffnungen in dem fein gestri- chelten Basalsaum jener Zellen oder (Brücke) feine protoplasmatische Fortsätze derselben einen solchen Durchtritt ermöglichten, obwohl in bezug auf letzteres sichere Beweise von keinem Wirbeltiere beigebracht Wissenschaftliche Rundschau. 139 werden konnten. Übrigens können auch Eiweisse bekanntlich nur in peptonisiertem Zustand hinlänglich rasch und reichlich diffundieren; um aber Peptone zu bilden, müssen notwendig Pepsindrüsen vorhanden sein. Solche fehlen nun den phyletisch ältesten Wirbeltieren, dem Amphioxus, den Cycelostomen und wahrscheinlich auch den Dipnoern vollständig. Wie geht bei diesen. Tieren die Eiweissresorption vor sich ? Der Lösung dieser Fragen ist man in den letzten Jahren von ver- schiedenen Seiten nähergetreten. Verf. teilt zunächst eine Beobachtung mit, die er selbst schon 1875 an Spelerpes fuscus und ein Jahr später v. Thuan- HOFFER am Frosch gemacht hat. »Zwischen den im Darmkanal ziemlich häufig vorkommenden Flimmerzellen fanden sich auf grosse Strecken hin jene längst bekannten gewöhnlichen Darmepithelien; allein von jenem Basal- saum war im frischen Präparate nichts zu erkennen. Die freien Ränder erschienen im Gegenteil ohne jegliche scharfe Begrenzung, gleichsam offen, unregelmässig gelappt, aufgefasert und da und dort wie eingerissen und in dickere Flimmerhaare zerfallend.< Und diese freien Ränder und Faserfortsätze waren in aktiver Bewegung begriffen, veränderten langsam ihre Form, wurden gelegentlich in den Zellenleib zurückgezogen. Es ist also kaum zu bezweifeln, dass sie in ähnlicher Weise bei der Ernährung mitwirken wie die entsprechenden Zellen der niedersten Metazoen. Fast noch bedeutsamer erscheint eine andere Beobachtungsreihe, welche an die schon längst bekannten Nester von weissen Blutkörperchen oder Lymphzellen in der Submucosa des Säugetierdarmes anknüpft. EpinGEr fand dieselben 1877 auch bei Fischen, und zwar sah er sie von der Submucosa aus zwischen die Epithelzellen emporsteigen, manch- mal unter fadenartiger Ausziehung gegen das Darmlumen sich vordrängen, ja nicht selten waren sie schon ganz hindurchgetreten. Verf. konstatierte seinerseits 15851 durch Versuche an zwei lebenden Selachiern, dass Farbstoffe, welche man der Nahrung beigemischt, massenhaft in jene Lymphzellen des Oesophagus, z. T. auch des Mitteldarmes gelangen und zugleich, allerdings viel später, im Innern einzelner Epithelzellen an- getroffen werden. Hiernach scheinen also bei den Fischen einmal die weissen Blutkörperchen als Wanderzellen ins Darmlumen überzutreten, sich mit festen Nährstoffen zu beladen und damit wieder in jene Nester, welche ganz den Lymphfollikeln der Säugetiere entsprechen, zurückzu- kehren, daneben aber auch die Epithelzellen selbst wie bei Spelerpes und beim Frosch durch amöboide Fortsätze Fremdkörper an sich zu reissen, um sie wahrscheinlich ebenfalls an die Lymphkörperchen ab- zugeben. Drei neuere Arbeiten haben diese Annahme bestätigt. Nach F. Hormzıster bilden die Lymphzellen des Darmes das Mittel, »um die Peptone vor ihrem Übertritt in den Säftestrom festzuhalten und zu binden. Wären sie nicht vorhanden, so würden, wie Experimente beweisen, die direkt in die Blutbahn eingeführten Peptone zu Vergiftungserscheinungen führen und, falls der Weg zur Niere offen ist, schliesslich zum grössten Teil unverändert mit dem Harn wieder ausgeschieden werden.< Genau wie die roten Blutkörperchen zum Sauerstoff, so verhalten sich also die weissen zu den Peptonen, »die sie, ohne ihre charakteristischen Eigen- 140 Wissenschaftliche Rundschau. schaften zu verwischen, toxisch indifferent machen und vor dem Übertritt in den Harn bewahren.< Sodann beobachtete Pr. Stöhr eine massen- hafte Auswanderung lymphoider Zellen aus den Tonsillen, aus den soli- tären und. aggregierten Follikeln des Darmes sowie aus den Balgdrüsen und der Bronchialschleimhaut des Menschen und vieler Säugetiere mit häufigem Austritt in die angrenzenden Hohlräume, glaubte aber, dass es sich bei diesem Vorgang, den man bis dahin nur als Folge gewisser pathologischer Affektionen des Darmes und des Bronchialbaumes an- gesehen hatte, um eine Ausscheidung »verbrauchten Materiales« handle. Endlich vermochte ZawArykın durch geeignete Behandlung von Darm- stücken des Hundes, des Kaninchens und der Ratte den Schluss höchst wahrscheinlich zu machen, dass die ins Darmlumen übergewanderten Lymphzellen insbesondere auch Fettmoleküle aufnehmen und dann wieder zwischen den Darmepithelzellen hindurch in das adenoide Gewebe und in die netzartigen Chylusbahnen und von da schliesslich in den Blut- strom gelangen, wo er sie direkt nachweisen konnte. Damit eröffnet sich uns ein höchst wertvoller Einblick in die all- mähliche Differenzierung der Ernährungsfunktion und ihrer Werkzeuge. Ursprünglich war unzweifelhaft jede Zelle des Metazoenkörpers zur Nahr- ungsaufnahme befähigt und diese bestand, wie schon oben erwähnt wurde, in einem rein mechanischen Ansichreissen fremder Stoffe durch pseudopodienartig ausgestreckte Protoplasmafortsätze (die eigentliche Assimilation hatte natürlich wie bei den Protozoen intracellulär auf chemischem Wege vor sich zu gehen). Sehr früh verloren dann natürlich die Zellen des Ektoderms diese Fähigkeit — wenn auch gewiss in manchen Abteilungen an verschiedenen Stellen der Körperoberfläche eine Modifikation derselben sich erhalten haben mag —; unter den übrigen kam es sodann zu einer zweifachen Arbeitsteilung: einmal trat, für ge- wisse Stoffe wenigstens, die Ausscheidung lösender Säfte und Fermente in das Darmlumen mehr und mehr an die Stelle des primitiven Modus, welcher jedoch daneben bei niederen Würmern und selbst bei niederen Wirbeltieren noch für eine Reihe der wichtigsten Nahrungsbestandteile, die Eiweisse und Fette, fortbesteht; zweitens aber hatte die Entstehung eines eigentlichen Mesoderms, wie wir es bereits unter den Cölenteraten bei Schwämmen und Ctenophoren antreffen, notwendig zur Folge, dass einzelne Zellen desselben die Aufgabe der Nahrungszufuhr übernahmen, indem sie (unter Beibehaltung der ursprünglich sämtlichen Elementen dieser Leibesschicht zukommenden amöboiden Beweglichkeit) als »Wan- derzellen« in das Darmlumen übertraten, um hier in der geschilderten Weise sich vollzufressen und dann, ins Mesoderm zurückgekehrt, ihren Überfluss auf langsamer Wanderschaft wieder an die hungrige Umgebung abzulassen. Die zahllos verschiedenen Stufen und Abänderungen dieses dop- pelten Differenzierungsvorganges sind uns fast alle noch unbekannt; jedenfalls aber dürfen wir die bei niederen Wirbeltieren noch vorhandene amöboide Beweglichkeit der entodermalen Epithelzellen ebenso wie diejenige der mesodermalen Lymphzellen »als ein uraltes Erbstück von den niedersten Wirbellosen her auffassen«. »Von den Knochenfischen Wissenschaftliche Rundschan. all und vielleicht schon von einzelnen Selachiern an verlieren jedoch die Darmepithelien die Fähigkeit, feste Stoffe aufzunehmen ;« sie erscheinen »nur noch zur Aufnahme ganz bestimmter und in bestimmter chemischer Richtung veränderter Stoffe befähigt; kurz die einzelne Zelle verhält sich jetzt, ähnlich wie die Drüsenzellen, der aufzunehmenden Materie gegen- über auswählend.« Es kann nicht überraschen, dass sowohl Durchwanderung von Lymphzellen als Aufnahme fester Partikelchen von seiten der Epithel- zellen in einem anderen Organe sich unverändert erhalten haben, nämlich in der Lunge, deren Vermögen, feine inhalierte Staub- und Kohlen- teilchen durch das Alveolenepithel aufzunehmen und im interstitiellen Gewebe abzulagern, längst bekannt ist. Ihre zellige Auskleidung stammt ja vom Entoderm ab, und dass dieselbe hier ihr ursprüngliches Verhalten bewahrt hat, erklärt sich einfach daraus, dass hier »Alles auf Schaffung einer möglichst grossen und freien Permeabilität für die Gase abzielt«. — Eine gewisse Schwierigkeit ergibt sich noch daraus, dass der Darm- kanal bei Amphioxus und der Larve von Petromyzon in ganzer Ausdeh- nung, bei höheren Formen wenigstens streckenweise, von Flimmer- epithel ausgekleidet ist, während zugleich bei ersteren die Labdrüsen noch gänzlich fehlen, dass also hier die gesamte Nahrungsaufnahme durch die cilientragende Fläche bewirkt werden muss. Von einem solchen Vorgang konnte man sich bisher keinerlei plausible Vorstellung machen; viel eher denkt man ja natürlich überall, wo es sich um die Wirkung von Flimmerhaaren handelt, an die Notwendigkeit der Fortschaffung irgendwelcher Stoffe. Dem begegnet Verf. durch folgende, wie uns scheint, höchst glückliche und wohl begründete Annahme, die wir wört- lich wiedergeben: „Ich fasse, der gewöhnlichen Annahme entgegen, die einzelnen Cilien nicht als kutikulare Abscheidungen des Zellprotoplasmas, sondern als rapid hervor- gestossene Fortsätze des letzteren selbst auf, so dass also das Spiel der Flimmer- haare gewissermassen nur als eine mit rapider Schnelligkeit verlaufende amöboide Bewegung des Zellprotoplasmas und jedes Flimmerhaar als ein blitzschnell hervor- gestossenes Pseudopodium erscheint.“ 5 In der That kann eine solche Auffassung nach den zahlreichen Beispielen des Übergangs von strömendem oder pseudopodienartig vor- gestrecktem Protoplasma zu Flimmerbewegung, welche bereits von Pro- tozoen und niederen Metazoen bekannt geworden sind, kaum mehr be- fremdlich erscheinen; sie wird aber auch durch Beobachtungen von Eimer, Nusspaum und Tu. ExGELmAnN über Spermatozoen- und Flimmer- bewegung bei höheren Tieren gestützt. Ist also das Flimmerhaar ur- sprünglich nackt und resorptionsfähig zu denken, so mag, auch nachdem sich sein Fuss und vielleicht auch eine Randzone verdichtet hat, doch wohl der grösste Teil desselben jene Eigenschaft bewahrt haben und so die Aufnahme von festen Stoffen bewirken können. Im Lichte dieser Anschauung wird sogar der gestrichelte oder wie aus Stäbchen zusammen- gesetzte Basalsaum der meisten Darmepithelzellen verständlich: jene Stäbchen sind hiernach einfach als verklebte Cilien zu betrachten, welche ‘denn auch, wie dies bei Fischen nicht selten und nach ZAwArYkıN sogar bei Säugetieren noch zu beobachten ist, fingerartig auseinandertreten oO 142 Wissenschaftliche Rundschan. können. Man vermag sich daher zuweilen kaum dem Eindruck zu ent- ziehen, »dass zwischen den gewöhnlichen Epithelzellen und den Flimmer- zellen des Darmes ganz allmähliche Übergänge existieren und dass sie in physiologischer Beziehung keine prinzipiellen Unterschiede darbieten.« Ethnologie. Der Streit um die Abstammung der Magyaren. Zwischen den beiden berühmten ungarischen Gelehrten Paun Hux- raLvy und HERMANN VämsEry ist in neuester Zeit über den Ursprung der Magyaren ein wissenschaftlicher Streit entbrannt*, der in Ungarn ein grosses Aufsehen erregt hat und der von den Anhängern beider Gelehrten mit einer Erregtheit weitergeführt wird, als handelte es sich um die Re- putation des ungarischen Volkes. HunräLvy und Bupencz behaupten, die Ungarn seien Finnen, Vänmsery tritt dagegen in neuester Zeit mit grosser Gelehrsamkeit den Beweis an, dass die Ungarn türkischer Ab- stammung sind. Bevor ich in dieser Streitfrage meine Meinung äussere, muss ich etwas weiter zurückgreifen und in kurzem auf die scharfsinnige Beweisführung Huxräuvys näher eingehen. Es unterliegt keinem Zweifel, dass die ältesten Vorfahren der Magyaren einst in einer Gemeinschaft mit den Finno-Ugern gelebt haben. Dafür haben wir in den Zahlen 1—7 den unumstösslichen Beweis, welche in allen finnisch-ugrischen Sprachen identisch sind. Die Ursitze der Magyaren versetzt HunräuLvy in das Flussgebiet der Dwina, Kama, Wolga, Jaik, Irtisch und Ob. In der magyarischen Chronik finden sich sogar dunkle Erinnerungen an eine Urheimat der Magyaren. Die Chronik erwähnt nämlich einen Fluss »Etel«, in welchem wir die Wolga vermuten können, weil diese bei den türkischen Völkern Etil heisst. Weiter erwähnt die Chronik einen To- gata-Fluss, worunter der Irtisch gemeint sein wird, da dieser bei den Östjaken Tangat heisst. Aus den magyarischen Verhältniswörtern er- gibt sich ferner, dass die Magyaren noch lange nach der Trennung von den Finnen in der Nähe der Ostjaken und Syrjänen gewohnt haben. Nach der Trennung von den Ungern kamen die eigentlichen finnischen Völker mit Germanen und Litauern, die ugrischen aber mit türkischen Völkern in Berührung; beide geschichtliche Prozesse spiegeln sich in den betreffenden Sprachen wieder. Wie aus der Sprache her- vorgeht, bildeten Jagd und Fischerei die Hauptbeschäftigung der Ma- gyaren in ihrem Stammlande. Von den türkischen Völkern nahmen sie dagegen die Viehzucht an. Die Bezeichnungen für Ochs, Kalb, junges Rind, junger Stier, Bock, Widder, Schwein im Magyarischen sind türki- * Hunfälvy, Die Ungern. 1881. Wien-Teschen, Prochaska.. Vambery, Der Ursprung der Magyaren. 1882. Leipzig, F. A. Brockhaus, und Hunfälvy, Vamberys Ursprung der Magyaren. 1883. Wien-Teschen, Prochaska. Wissenschaftliche Rundschau. 143 schen Ursprungs, desgleichen die Bezeichnungen für Gerste, Weizen, Erbse, Hanf, Grütze, Ackerland, Obst, Apfel. Huxräwvy gibt auch zu, dass das Blut der Magyaren starke Beimischungen türkischen Blutes er- fahren habe, und verweist auf ein Zeugnis des Coxstantınos PORPHY- ROGENITOS, der um 950 n. Chr. schreibend bezeugt, dass mit den Ma- gyaren sich die Kabaren, ein Zweig der türkischen Chazaren, ver- einigt haben, und dass noch zu seiner Zeit beide Sprachen (die magya- rische und kabarische) nebeneinander bestanden. Zu Ende des IX. Jahr- hunderts bezogen die so türkisierten »Ugern« das Land, das von der Zeit an Unger- oder Ungarland genannt wird. Hier fanden sie überall eine nicht dichte slowenische Bevölkerung, die mit den Ankömmlingen bald verschmolz. Durch diese Slowenen kam die grosse Masse slawischer Nomina (aber kein einziges slawisches Verbum!) in die ungrische Sprache. Diese Resultate der Forschungen Huxräuvys hatten schon allgemein Beifall gefunden, als plötzlich im vorigen Jahre der berühmte Turkologe Pro- fessor Väme£ry in Pesth dieselben in Frage stellte und den Nachweis zu erbringen suchte, dass die Magyaren vorwiegend türkischer Abstam- mang sind. Ich bedauere in mancher Hinsicht mit dem berühmten Ge- lehrten nicht übereinstimmen zu können. In einem früheren, in jeder Hinsicht ausgezeichneten Werke ' hat Vämsery gezeigt, dass die türki- schen Völker mit den arischen Elementen erst in einer verhältnismässig jüngeren Zeit in Berührung traten. Von den alten Sitzen der iranischen Welt, aus den heutigen Oxus- und Jaxartesländern sind die spärlichen Funken einer vorgeschrittenen Bildung zu den Türken in die urheimat- liche Steppenwelt gedrungen, die Lehnwörter sind durchwegs iranischen Ursprungs. Die Urheimat der Türken lag somit nördlich von den Iraniern, in den Steppen Zentralasiens. Im Widerspruch mit diesem ganz richtigen Resultate verlegt Vämg£ry in seinem neuesten Werke die Sitze der türkischen Völker so weit nach Westen, dass er auch die alten Skythen für ein türkisches Volk erklärt. Das ist ganz und gar un- richtig. MÜLLENHOFF hat meiner Ansicht nach den definitiven Beweis geführt, dass die Skythen und ihre Nachbarn, die Sarmaten, Vorfahren der iranischen Osseten des Kaukasus, eine iranische Sprache gesprochen haben. Vängery soll uns einen Kenner altiranischer Sprachen anführen, der den sprachlichen Beweis MüLLENHorFrs nicht für gelungen erklären würde. Die Skythen und Sarmaten waren ein Rest der aus Europa ausgewanderten Iranier. Für die einstige europäische Heimat der Iranier spricht der Umstand, dass den iranischen GalGas in Zen- tralasien die »Weissbirke« mit dem europäischen Namen bekannt ist”. Es ist weiter bekannt, dass den Keilinschriften die Iranier erst im IX. Jahrh. v. Chr. bekannt wurden. Die Iranier haben das Pla- teau von Iran nicht vor dem Anfang des I. Jahrtausends betreten. Die prähistorischen, mit den Akkadiern wahrscheinlich verwandten ı Vambery, Die primitive Kultur des turko-tatarischen Volkes. Leipzig 1879. F. A. Brockhaus. ® Tomäsek, Centralasiatische Studien. Sitzungsberichte der Wiener Aka- demie der Wissenschaften. 1880. 144 Wissenschaftliche Rundschau. Meder’ und Susianer haben zum mindesten 2 Jahrtausende vor der Ankunft der Iranier einen grossen Teil des Plateau von Iran bewohnt und beherrscht”. Es kann wohl als ausgemacht gelten, dass Osteuropa in prähistorischer Zeit von arischen Völkern bewohnt war, die gewiss keinem turanischen Stamm den Durchweg gegen Südwesten erlaubt hätten, und dass die Turanier d. h. Türken in dieser Periode mit den prä- historischen Ariern nicht in den geringsten Kontakt kamen, hat eben Vams£ryY in seinem frühern Werke zur Evidenz nachgewiesen. Vämgery schliesst weiter aus den Eigennamen auf die Sprache der Hunnen und Awaren und hält beide Völker für Türken. So weit auf einem solchen Gebiet ein Resultat überhaupt zu erzielen ist, halte ich seine Ausführungen trotz der Einwendungen HunrätLvys für richtig. Nicht ganz bin ich einverstanden mit seinen Untersuchungen über die Herkunft der alten Bulgaren. Väansery hält sie gleichfalls für Türken. Namen wie Almus (tatarisch Alamus, richtiger Ulumus »der grosse, erhabene«), Krum (türk. korum »Schutz«), Cok (türk. Cok »Machte), sind wohl türkischen Ursprungs, aber Namen werden entlehnt und be- weisen nicht die Herkunft eines Volkes. HuxräLvys Einwendungen halte ich für sehr beachtenswert und glaube mit ihm, dass die alten Bul- garen gleich den Merja- und Mordwa-Völkern, ihren einstigen Nachbarn, finnisch-ugrischer Herkunft waren. Nach den Bulgaren be- handelt Vamgery die Chasaren (Kozaren) und Bissenen (Petsche- negen) und gelangt so zu den Magyaren. Die Gründe, welche Vämgery für das Türkentum der Magyaren vorbringt, erscheinen uns nicht zwingend genug und wir glauben als Resultat des wissenschaftlichen Streites zwischen HuxräuLvy und VäAmBEry folgendes anführen zu können: Die Magyaren waren ursprünglich ein finnisch-ugrisches Volk, haben aber später zahlreiche türkische Volks- elemente und mit diesen zugleich zahlreiche türkische Worte in ihre Sprache aufgenommen. Die Zahl der türkischen Worte ist im Magya- rischen eine weit zahlreichere, als Huxräuvy sie ursprünglich angenommen hatte. Auch die heutigen Ungarn erinnern in ihrem körperlichen Ha- bitus, soweit sie nicht mit slawischem und deutschem Blute gemischt sind, mehr an die Türken als an die Finnen. Die Finnen sind vorwiegend von heller, die Ungarn von dunkler Komplexion. Dr. FLiGIEr. Botanik. Hybridogener Ursprung der Arten. In einem früheren Artikel sagten wir, dass O. Hrer unter den Gründen, die ihn gegen die Annahme einer allmählichen Entwicklung des Pflanzen- und Tierreiches stimmten, auch den angab, »dass seit der ! Vergl. meinen Aufsatz „die Urzeit Vorderasiens“. Gaea 1881, vergl. Delitzsch, Sprache der Kossaeer. Leipzig 1884. Hinrichs. ®? Oppert, Les Medes. Paris 1879. Wissenschaftliche Rundschau. 145 Diluvialzeit keine neuen Arten mehr entstanden seiene. Wir wiesen «damals darauf hin, dass wohl eine Reihe der Schmerzenskinder der Systematiker, vor allem die Gattungen Rubus, Rosa und Hieracium kaum für dieses Dogma von HEER sprechen, dass diese eben deshalb so mancherlei Schwierigkeit bereiten, weil ihre Arten oder doch ein Teil derselben im Fluss seien, weil sie Formen, die in der Artwerdung begriffen sind, in sich fassen. In einer Abhandlung »über polymorphe Formenkreise«“* finden wir nun von einem der besten Kenner der Rubus, von FOckE, diese Ansicht durchaus bestätigt und bewiesen. Den wesent- lichsten Inhalt dieser Abhandlung glauben wir an diesem Orte um so eher darlegen zu sollen, als der Verf. neues und wertvolles Material für ‚die Theorie des Artbildungsprozesses liefert. Es gibt eine Reihe von Pflanzenspezies, die man als »Sammel- ‚arten« auffassen kann. Ein bestimmter Typus tritt in einer Reihe mehr oder weniger divergenter Formen auf, die wenigstens in ihren Extremen so weit von einander differieren, dass sie die Systematiker vielfach und mit Recht als spezifisch verschieden auffassen. Für einen Teil dieser polymorphen Formenkreise dürfte die Verschiedenheit der Lebensbeding- ungen, Anpassung an besondere klimatische und standörtliche Verhält- nisse, die wesentliche Ursache der Vielgestaltigkeit sein. Die Divergenz der kleinblütigen schnellwachsenden und kurzlebigen Formen und der grossblütigen langsam sich entwickelnden langlebigen Formen des Typus der Viola tricolor L. dürften solche durch die Ungleichheit der Lebens- bedingungen entstandene Arten sein, Für andere polymorphe Formenkreise muss man aber andere Ent- stehungsursachen annehmen. »Man wird gern zugeben,« schreibt Focke, »dass z. B. ein grösserer Drüsenreichtum (bei Rubus-Arten) unter ge- wissen Umständen vorteilhaft, unter andern nutzlos sein kann, ohne dass wir bis jetzt im stande sind, dies zu verstehen. Man wird ferner zugeben, dass klimatische und standörtliche Verhältnisse Einflüsse auf die Pflanzengestalt ausüben können, die wir noch nicht richtig auf- zufassen und zu würdigen vermögen. Aber mag man unbekannten um- ‚gestaltenden Einwirkungen eine noch so grosse Bedeutung zuschreiben, so bleibt es doch unmöglich, die Formenmannigfaltigkeit der Rosen und Brombeeren dadurch zu erklären, dass man annimmt, sie seien durch Variation und Auslese aus einem einzelnen Urtypus entstanden. Die ausgeprägtesten Formen sind nicht etwa an ausgeprägte standörtliche Verhältnisse gebunden, sondern sie zeichnen sich umgekehrt durch ihre weite Verbreitung, auffällige Konstanz und verhältnismässig geringe Ab- hängiekeit vom Klima aus.« Was kann also noch diese Vielgestaltigkeit bestimmter Formen- kreise bedingen? — Eine Untersuchung des Pollens der Rubus-Arten führte FockE zu der interessanten Erkenntnis, dass, während sich bei einzelnen Arten stets ein durchaus normaler leistungsfähiger Pollen bildet, bei anderen ein Mischpollen sich entwickelt, der neben guten regelrecht ausgebildeten Pollenkörnern auch verkümmerte enthält. Rubus Idaeus L. * Bot. Jahrb. von Engler, V. 1. Kosmos 1884, I. Bd. (VII. Jahrgang, Bd. XIV). 10 146 Wissenschaftliche Rundschau. und R. saxatilis L., dann aber auch eine Reihe von schwarzfrüchtigen Brombeeren, wie Rubus caesius L., R. ulmifolius Schorr, R. tomentosus BoRK., »Arten, die gegen einander und gegen die andern polymorphen Arten recht gut abgegrenzt sind,« zeigen solchen normalen Pollen. Der Formen- kreis, den wir nach Fockes Vorgehen als Rubus fruticosus bezeichnen, umfasst eine Reihe von Arten, welche mischkörnigen Blütenstaub haben, ähnlich die unter dem Sammelnamen R. glandulosus vereinigten Formen. Ausser diesen weit verbreiteten Formen gibt es noch eine Anzahl lokaler, aber recht gut ausgeprägter, die sich in der Ausbildung des Pollens jenen Arten mit gleichkörnigem Blütenstaub nähern, Formen, welche zwar mischkörnigen Pollen erzeugen, wo aber die verkümmerten Pollenelemente bedeutend zurücktreten. Dahin zählt z. B. der in Nord- westdeutschland heimische Rubus gratus. Was ist nun gewöhnlich die Ursache einer Verkümmerung des Pollens? Es unterliegt keinem Zweifel, dass ungünstige klimatische Verhältnisse, ebenso mangelhafte Ernährung gelegentlich solche abnorme Pollenentwicklung nach sich ziehen können. Wenn aber bei wohlcharak- terisierten und über einen grossen Teil Europas ausgebreiteten Brombeer- arten regelmässig mischkörniger Pollen sich entwickelt, dann darf man doch wohl nicht in diesen äusseren Verhältnissen die Ursache suchen, sondern wird sie vielmehr in der hybriden Abstammung, der »häu- figsten Ursache einer unvollständigen Ausbildung des Pollens« zu sehen haben. Die Rassen oder Arten aber, an denen diese ungleiche Beschaffenheit des Pollens nachweisbar war, sind fruchtbar und samen- beständig, zeigen also Eigenschaften, die man nach der gewöhnlichen Auffassung bei hybriden Formen nicht vermutet. Fockes Untersuch- ungen beweisen, dass die Annahme der Sterilität der Bastarde nicht durchaus richtig ist. Die genaue Untersuchung lehrt vielmehr, dass zwischen »den sterilen Hybriden hin und wieder einzelne Exemplare, die zahlreichere Früchte tragen«, gefunden werden. »Der Rubus caesius X fomentosus 2. B. zeigt an günstigen Plätzen, namentlich an warmen, sonnigen Abhängen oft alle Mittelglieder zwischen den gewöhnlichen sterilen und etwas abgeänderten, ziemlich gut fruchtenden Exemplaren. « Die Nachkommenschaft der Bastarde ist im allgemeinen veränder- lich, kann aber zu beständigen Arten führen. Den nicht zu seltenen I. caesius X Idaeus hat Focke auch künstlich erhalten. Nur selten fruktifiziert er, so dass von etwa 100 000 Karpellen durchschnittlich nur eines zur reifen Frucht sich entwickelt. Durch Aussaat dieser Früchte erhielt er eine Reihe verschiedener Formen, die gewöhnlich nicht besser fruktifizierten als der ursprüngliche Bastard, gelegentlich aber auch besser fruchtende Exemplare erzeugten. Man kennt nun zwei lokale normal fruktifizierende Formen, Kubus pruinosus Arru. und den pom- merschen R. maxrimus Mars. Beide sind von bestimmten abgeänderten Abkömmlingen, die FockE von R. caesius X Idaeus erhielt — abge- sehen eben von der normalen Fruchtbildung — gar nicht zu unter- scheiden. »Da auch anderweitig beobachtet ist, dass Abkömmlinge von wenig fruchtbaren Hybriden gelegentlich wieder völlig fruchtbar werden können, da ferner R. maximus und R. pruinosus durch halb fruchtbare Wissenschaftliche Rundschan. 147 ähnliche Pflanzen, die hie und da in vereinzelten Exemplaren vorkommen, unabgrenzbar in den gewöhnlichen Bastard übergehen, so kann man sich — alle Thatsachen zusammengehalten — schwer der Schlussfol- gerung entziehen, dass die genannten beiden fruchtbaren Lokalrassen Abkömmlinge von Mt. caesius X Idaeus sind.« Analoge Schlüsse liegen für andere Rubus nicht fern. I. pruinosus erinnert an R. fissus, R. masxi- mus an R. suberectus. Beides sind konstante Formen von weiter Ver: breitung, die sich zu Zt. sulcatus und R. plicatus ungefähr verhalten wie R. prwinosus und R. maximus zu R. caesius. So möchte man auch für diese konstanten Formen einen solchen hybridogenen Ursprung an- nehmen, der allerdings — die grosse Verbreitung weist schon darauf hin — ungleich weiter zurückläge als für die beiden oben genannten Formen. Für einen solchen Ursprung spricht namentlich auch der Um- stand, »dass A. fissus und R. suberectus an Fruchtbarkeit den verwandten Rassen bedeutend nachstehen, wenn sie auch weit fruchtbarer sind als gewöhnliche Bastarde zwischen zwei beträchtlich von einander verschie- denen Arten«. Für den Übergang von Bastarden oder genauer Bastardnachkommen in Arten sprechen noch andere Beobachtungen Fockzs. Er hat zwischen R. bifrons und R. yratus künstlich einen Bastard erzeugt. >»Wenn ich ihn wildwachsend angetroffen hätte, würde ich ihn für eine Abänderung des weit verbreiteten R. villicaulis gehalten haben.< Besonders auffällig zeigte sich der Übergang zwischen Bastarden und konstanten Rassen in dem Resultat der Aussaat des wenig fruktifizierenden R. tomentosus X vestitus, indem FockE aus den Samen eine Pflanze erhielt, »die vollkommen fruchtbar war und nicht mehr sicher von dem wildwachsenden R. macro- phyllus hypoleucus unterschieden werden konnte.« So ist es wohl kaum zweifelhaft, dass wir in der Bastardierung ein neues artbildendes Moment haben und dass die Vielgestaltickeit. bei dem einen und andern Typus auf einen hybridogenen Ursprung der unmerklich unter sich verknüpften Rassen und Arten zurückzuführen ist. Allerdings geht nun FockE noch einen Schritt weiter, indem er nicht nur einen Lubus maximus, R. prwinosus, R. fissus etc. als solche hybridogene Ras- sen oder Arten auffasst, sondern ganz allgemein allen jenen Arten, die mischkörnigen Pollen zeigen, diesen hybridogenen Ur- sprung zuschreibt. Die ungleiche Ausbildung des Pollens ist das wichtige Merkmal, welches eine konstant gewordene Form von dem Bastard, von welchem sie abstammt, ererbt hat. Für solche Arten mussten dann selbstverständlich die Stammformen, sofern sie in der jetzigen Flora nicht mehr zu finden waren, als im Kampf ums Dasein untergegangen angenommen werden. Jr. vestitus hat z. B. mischkörnigen Pollen. Trotzdem er nicht durch Bastardierung zweier lebender Arten entstanden sein kann, ist FockE doch von dessen hybridogenem Ursprung überzeugt und denkt sich die hypothetischen Elteın als Glieder der Tertiärflora. — Gegen solche Anschauungen werden sich wesentlich zwei Einwände erheben. Da die Bastardform zweier Arten in ihren Eigenschaften die Mitte zwischen beiden Arten hält, kann die Artbildung durch Bastar- 148 Wissenschaftliche Ruudschau. dierung zwar einer Vermehrung der Formenmannigfaltigkeit dienen, aber nicht zu einem wirklich neuen Typus führen, denn die Gesamtsumme der Eigenschaften der Stammarten übertrifft sie nicht. Wenn ferner eine Art hybridogenen Ursprungs ist, besteht dann irgend welche Wahr- scheinlichkeit, dass sie im Kampf ums Dasein sich zu erhalten vermag, während ihre Stammeltern untergehen? Focke selbst macht auf diese Einwürfe aufmerksam und sucht sie zu widerlegen. Den ersteren be- zeichnet er, gestützt auf seine eigenen Erfahrungen beim Züchten der Bastarde wie auf die Praxis der Gärtner, als Vorurteil. Wohl hält der durch Kreuzung zweier Arten erzielte Bastard die Mitte zwischen seinen Eltern, aber die Nachkommen dieses Bastarden haben in hohem Grade die Neigung, abzuändern. Die Variabilitätsfähigkeit, welche jeder Art zukommt, ist gewissermassen potenziert auf den Bastard übertragen und z. B. in Blattform und Blütenfarbe zeigen sich an den Bastard- nachkommen oft genug neue Eigenschaften. Den zweiten Einwurf hat schon Darwın widerlegt, indem auch er, auf Versuche sich stützend, die im allgemeinen grössere Lebenskraft der Rassenmischlinge hervorhob. Wir halten dafür, dass dieses neue Prinzip der Artbildung die Darwinschen Anschauungen in ähnlicher Weise ergänze, wie es die Migra- tionstheorie Wacners thut. Sollte aber Focke, wie es den Anschein gewinnen will, in dem hybridogenen Ursprung der Arten das wesentlichste Moment der Artbildung und damit der Entwickelung des Pflanzenreiches sehen, so dürfte er sich einer ähnlichen verhängnisvollen Einseitigkeit schuldig machen, wie unseres Dafürhaltens der Begründer der Migra- tionstheorie. Re Geologie. Die Eiszeit in den deutschen Alpen, nach A. Penck“*. Am 26. Juni 1580 stellte die zweite Sektion der philosophischen Fakultät der Universität zu München die Preisaufgabe: Eine eingehende Besprechung der diluvialen Glazialbildungen und Erscheinungen sowohl im Gebiet der südbayerischen Hochebene als auch in den bayerischen Alpen. Prncks Werk löst diese Aufgabe in vorzüglicher und eingehender Weise. Der Verfasser, welcher bereits Gelegenheit hatte, sich mit dem nordischen Glazialphänomen bekannt zu machen, hat sein Gebiet auf Fusswanderungen durchforscht. Obwohl eine vollständig erschöpfende Untersuchung desselben sich der Kürze der Zeit wegen — der Termin der Preisaufgabe war auf den 26. April 1881 festgesetzt — von selbst verbot, obgleich aus demselben Grunde manche Verhältnisse nicht bis in * Die Vergletscherung der deutschen Alpen, ihre Ursachen, periodische Wiederkehr und ihr Einfluss auf die Bodengestaltung, gekrönte Preisschrift von Dr. Albrecht Penck. Leipzig 1882. 483 8. Wissenschaftliche Rundschau. 149 die kleinsten Details verfolgt werden konnten, so vermochte der Verfasser doch ein so ausserordentlich reiches Material zusammenzutragen, dass es ihm gelingt, gestützt auf dasselbe uns in grossen Zügen ein klares, von früheren Anschauungen mannigfach abweichendes Bild der Vergletscherung der bayerischen Alpen im speziellen und der ganzen Alpenkette im all- gemeinen zu unterwerfen. I. Letzte Vergletscherung von Oberbayern und Nordtirol. Als Glazialformation bezeichnet man einen Komplex von Bildungen, welche samt und sonders als die Ablagerungen von Gletschern betrachtet werden müssen; man versteht darunter zunächst das Material, welches der Gletscher selbst erzeugt, nämlich Grundmoränen mit gekritzten Geschieben und den darunter liegenden geschrammten Felsflächen oder gestauchten losen Schichten, ferner die Reste von Oberflächenmoränen aller Art nebst den erratischen Blöcken, die End- und Seitenmoränen, sowie die von Gletschergewässern abgelagerten fluvioglazialen Gebilde. Dazu muss man ferner auch die orographischen Veränderungen rechnen, welche ein Glet- scher in der Konfiguration des Landes erzeugt. — »Dringt man zwischen dem Erdboden und der Unterfläche eines Gletschers vor... ., so trifft man ein Lager von Geschieben und feinem mit Wasser imprägniertem Sand. Entfernt man dieses Lager, so erkennt man, dass das unten liegende Gestein durch Reibung geglättet, poliert, abgenutzt und mit geradlinigen Kritzen bedeckt ist, welche mit einer Grabstichel oder feinen Nadel eingraviert sein könnten... .. Das Lager von Geschieben und Schlamm zwischen Gletscher und Untergrund — die Grundmoräne — ist das Schleifpulver; das Gestein die metallische Fläche, welche poliert werden soll — der Gletscherschliff; die Masse des Glet- schers, welche das Schlammlager fortwährend drückt und bewegt, indem sie selbst sich abwärts bewegt, ist die Hand des Polierers*«. Nur die festen, anstehenden Gesteine, wie Prxck zeigt, werden poliert, die minder festen werden unter der Grundmoräne gestaucht, aufgearbeitet, in dieselbe einverwebt. Dementsprechend wird die Grundmoräne um so mächtiger sein, je grösser die Masse des Gletschers d. h. die aufarbeitende Kraft und je länger der zurückgelegte Weg ist; sie wird ferner, wenn der Glet- scher geschwunden ist, durch ihre Zusammensetzung verraten, welchen Weg derselbe einst genommen, sie wird dem Geologen dadurch der wich- tigste Fingerzeig werden, um die Existenz und Ausdehnung ehemaliger Gletscher zu bestimmen. — Da die Grundmoräne durch die Reibung an der Sohle des Gletschers einerseits abwärts geschoben wird — ganz falsch ist die vielfach verbreitete Ansicht, die Grundmoräne bestehe aus im Eis des Gletschers eingefrorenen Geschieben —, anderseits durch die Reibung am festen Untergrund aufgehalten wird, so ist es klar, dass die obern Schichten derselben sich rascher abwärts bewegen werden als die untern, dass das Material derselben sich aneinander reibt: es entstehen die un- regelmässig gekritzten und geschrammten, gerundeten Geschiebe, welche in keiner Moräne fehlen. = Charles Martins, Revue des deux Mondes 1847, T. I. p. 704. 150 Wissenschaftliche Rundschau. Vor der Eiszeit waren die Gletscher auf ein Minimum reduziert; an ihrem Ende wurden Endmoränen aufgehäuft, wie an den heutigen Gletschern, gebildet zum grössern Teil aus den Oberflächenmoränen, welche sich aus den zahlreichen, von den über der Eisfläche emporragenden Felsen abgestürzten Gesteinsmassen zusammen setzten, zum kleineren Teil aus der Grundmoräne, welche gemäss der geringen Mächtigkeit und ge- ringen Länge des präglazialen Gletschers nur wenig entwickelt sein konnte. Die aus dem Gletscherthor fortwährend hervorströmenden Gewässer bemäch- tigten sich eines Teiles des vom Gletscher herbeigeschafften Materials und führten dasselbe thalabwärts; es bildeten sich durch Ablagerung dieser Ge- schiebe horizontal geschichtete Schotter, wie man sie noch heute an Glet- scherbächen beobachten kann. So oft der Gletscher oszillierte, so oft wurde der Angriffspunkt der Gewässer verlegt: wo der Gletscher vor kurzem noch seine Endmoräne aufschüttete, da nagen jetzt die Gewässer, tragen Teile ab, andere lassen sie stehen und bald vielleicht, wenn der Gletscher wieder vorgerückt ist, schüttet er auf die von den Gletscherwassern ab- gelagerten Schotter wieder Moränen auf. Auf diesen Konnex zwischen ungeschichteten Moränenbildungen und geschichteten Schottern in seiner ganzen Bedeutung für die Glazialfrage hingewiesen zu haben, ist das grosse Verdienst CHARLES Marrıns”. Die Glazialzeit trat ein, als die Zufuhr von Gletschereis den durch das Tauen am Gletscherende veranlassten Abfluss überwog. Der Gletscher begann daher in tiefere Regionen herabzusteigen, er begann zu »stossen«. Seine Endmoräne geriet unter ihn und wurde der Grundmoräne einver- leibt; dasselbe geschah mit den früher abgelagerten Schottermassen, so- weit nicht eine allzumächtige Entwickelung derselben es unmöglich machte. Alles lose Material, welches der Gletscher auf seinem Wege vorfand, gelangte unter und zum Teil allmählich in die Grundmoräne und wurde dann in derselben abwärts bewegt, um am Rande des Gletschers von den Gewässern erfasst und weiter unten als Schotter abgelagert zu werden. Mit solchen Schottern wurde beim Herannahen der Vergletscherung das Innthal erfüllt und noch jetzt sieht man in seinen Terrassen Überreste derselben. Auch diese oft ausserordentlich mächtigen Schotter wurden vom Gletscher erreicht, überschritten und unter günstigen Verhältnissen teilweise der Grundmoräne einverleibt und fortgeschaftt, so vorzüglich an allen Punkten, wo die Gletscher auf die bayerische Hochebene heraus- traten und wo die Schotter gänzlich fehlen, während sie sich sonst im Innthal selbst sowie in der Ebene weithin verfolgen lassen. Die Region der Schotterverlegte sich, solange der Gletscher vorrückte, immer tiefer und tiefer, bis sie die Hochebene erreichte. Noch jetzt findet man die kleinen Thäler der Hochebene nördlich von dem frühern Gletscherende erfüllt mit solchen Schottern, die sich vielfach unter die Endmoränen fortsetzen. Geschiebe aus dem Material der Grundmoränen, vor allem aber der Umstand, dass sie in nächster Nähe der Moränen gekritzte Geschiebe führen, verraten hier ihren Ursprung. Mit Unrecht wurden diese Schotter daher bis jetzt präglazial genannt; Prxck, der ihren glazialen Ursprung zuerst nachweist, schlägt für dieselben den Namen »untere Glazialschotter« vor, da die- selben im Gebiete der Vergletscherung nie das Hangende, sondern immer Wissenschaftliche Rundschau. 151 nur das Liegende der Moränen bilden und im Gegensatz zu PExcks »oberen Glazialschottern« stehen, welche, beim Rückzug des Gletschers gebildet, die Moränen überlagern. — Sobald der Gletscher den unteren Glazialschottern folgend die Hochebene erreicht hatte, breitete er sich fächerförmig aus; dieses gilt von sämtlichen Gletschern, welche aus dem Gebirge auf die Ebene heraustreten. Die Eiszeit hatte jetzt ihren Höhepunkt erreicht. Da die deutschen Alpen von zahlreichen Längs- und Querthälern durchzogen werden, welche vor allem die Ketten der nördlichen Kalk- alpen in einzelne Berggruppen auflösen, so ergossen sich die Eismassen, die ihr Haupteinzugsgebiet in den Zentralalpen hatten und verhältnis- mässig wenig von kleinen Gletschern der Kalkalpen genährt wurden, aus ihrem Sammelthal, dem Innthal, über viele Pässe in andere Thäler. Das Innthal selbst erfüllten sie an dem damals, wie Prnck wahrschein- lich macht, noch nicht in seiner gegenwärtigen Gestalt existierenden Fernpass und am Seefelder Pass bis 1200 m und bei Kufstein noch 900 m Höhe über der jetzigen Thalsohle; denn bis zu dieser Höhe finden sich am linken Gehänge des Innthals Urgebirgsgeschiebe. Das erratische Auf- treten solcher Geschiebe weist überall in den Kalkalpen und auf der Hochebene, wo es sich unmöglich durch fliessendes Wasser erklären lässt, auf Gletscherthätigkeit zurück. Da nun aber fliessendes Wasser un- möglich Urgebirgsgeschiebe am Nordgehänge des Innthals in 1200 oder 300 m Höhe über der Thalsohle abgelagert haben kann, so muss der Glet- scher sie von dem rechten Thalgehänge, wo allein anstehende Urgebirgs- gesteine sich finden, hinübergeschafft, also bis zu jener Höhe gereicht haben. Die Wasserscheiden der Thäler waren daher auf den Lauf der Gletscher von geringerem Einfluss als gegenwärtig auf den Lauf der Flüsse: die Entwässerung des Gebietes durch die Thäler geschah damals auf direktem Wege. Das Thal von Hessereit, der Seefelder Pass, der Achenseepass, das Felepthal dienten dem Gletscher als Eintrittsthore aus dem Innthal in die nördlichen Kalkalpen. Es gelang Penck, dieses überall durch Auffinden von Urgebirgsgeschieben zu beweisen. Ein zu- sammenhängendes Netz von Eisströmen, ein Inlandeis, wie man es gegen- wärtig nur in Grönland kennt, erfüllte die Thäler der Kalkalpen und der Lech-, Loisach- und Isargletscher können als Dependenzen des Inn- gletschers betrachtet werden. Einzig und allein die höchsten Spitzen der Kalkalpen ragten als Inseln über dieses Meer von Eis empor und konnten Material für die Oberflächenmoräne liefern, welche daher fehlen oder doch verschwindend klein sein musste. Die bei weitem grössten Teile der Gehänge waren unter Eis vergraben und wurden durch dessen Bewegung abgenutzt, gerundet. So entstanden die Rundhöcker, die Roches moutonnees der Franzosen. Auf der Hochebene fehlen Berge und Thäler, welche im Gebirge den Gletscherstrom eindämmten. Sobald daher die Gletscher am Fuss des Gebirges anlangten, verschmolzen sie zu einer einzigen zusammenhängenden Masse; doch bewahrten die ein- zelnen Gletscherströme dabei ihre Individualität, indem jeder sich fächer- förmig vor sein Thal legte und nur mit den Seiten seine Nachbarn berührte. 152 Wissenschaftliche Rundschau. Bald nachdem die Eismassen die oberbayerische Hochebene erreicht hatten, trat Stillstand ein — die Vergletscherung hatte ihren Höhepunkt erreicht. Die Gletscher konnten jetzt mit dem Material ihrer Grund- moräne gewaltige, im Mittel bis zu 20—30 m, dazwischen bis 50 m Höhe ansteigende End- und Seitenmoränen aufschütten, welche sich genau der Konfiguration des Eises anschmiegen mussten. In grossen Bogen umziehen daher die Moränenwälle die Mündungen der Gletscher in die Ebene. Sie sind es, welche die Grenze der ehemaligen Eis- bedeckung bestimmen lassen, mögen sie noch jetzt deutlich in der »Mo- ränenlandschaft« uns entgegentreten, wie an der Isar und am Inn bei Wasserburg, oder mögen sie ‚bereits der zerstörenden Kraft des rinnenden Wassers bis auf wenige Ueberreste anheim gefallen sein. Solcher Endmoränenwälle gibt es mehrere, die sich alle konzen- trisch um die Mündung der Thäler gruppieren, aus denen Gletscher auf die Hochebene heraustraten. Es ist klar, dass eine Endmoräne sich nur bilden kann, wenn der Gletscher still steht, und dass die Endmoräne um so grösser wird, je länger der Gletscher still steht und an ihrer Aufschüttung arbeitet. Moränenwälle, die sich etwa in Zeiten des Still- standes bildeten, welche das Vorrücken des Gletschers unterbrachen, können nicht erhalten geblieben sein, da sie bei erneuertem Vorschreiten sofort wieder unter den Gletscher gerieten und Teile der Grundmoräne wurden. Die zahlreichen konzentrischen Moränenzüge der Moränenland- schaft sind also Rückzugsmoränen; sie selbst stellen ebenso viele Perioden des Stillstands des Gletschers während seines Rückzuges, die Zwischen- räume zwischen denselben Perioden einer sehr intensiven Rückwärts- bewegung dar. — Der äusserste Moränenwall gibt uns die Linie an, bis zu welcher bei ihrer grössten Entwickelung die Gletscher reichten. Dieselbe ver- läuft nach Prxnck ungefähr von Traunstein über Gars und Egmating, einen Bogen um die Mündung des Inns in die Hochebene beschreibend, bis südöstlich von Miesbach, biegt hier nach West um, trifft den Tegernsee in der Mitte, um sich von hier in einem Bogen der Isar zuzuwenden, welche sie unterhalb Schäftlarn überschreitet. Eine ähnliche Ausbucht- ung nach Norden lehrt uns das Gebiet kennen, welches der Lech- und der Ammergletscher einst bedeckten; weiter westlich macht sich der Wertachgletscher durch eine kleine Ausstülpung bei Kaufbeuren geltend und ebenso der Illergletscher, der seinerseits bis Grönenbach vordrang. In einer dem Lauf der Iller parallelen Linie zog sich dann die Grenze der Eismassen nach Staufen, um hier in die Grenze des Rheingletschers überzugehen. Während die Eismassen Material zum Aufbau der Endmoränen unter sich herbeischafften, ruhte auch nicht die Arbeit der den Gletschern entströmenden Gewässer. Alle herbeigeführten Gesteinsmassen konnten sie zwar nicht bewältigen, doch reichte ihre Kraft aus, die bereits be- stehenden Thäler bayerisch Schwabens mit Schottern zu füllen, die ganze auch in jener Zeit ungegliederte Ebene, auf welcher München steht, über und über mit Schottern zu bedecken, welche nach Art eines Schutt- kegels nach Norden zu sich verflachen. Die Wasserwirkung erreichte Wissenschaftliche Rundschan. 153 ein Maximum, als die Gletscher sich zurückzuziehen begannen. Die End- und Grundmoränen, welche beim Weichen der Eisbedeckung zurück- blieben, wurden stark erodiert: an geschützten, dem Wasser schwer zu- gänglichen Punkten blieben sie erhalten; vielfach wurden sie abgetragen, um an andern Stellen als Schotter, die oberen Glazialschotter PExcks, wieder abgelagert zu werden, welche sich an vielen Stellen als Hangendes der zurückgebliebenen Moränen sowohl in der Ebene wie im Gebirge finden. Doch konnten diese Schotter nur eine weit weniger mächtige Schicht über den Moränen bilden als die untern Glazialschotter. Denn die Wassermasse, welche sie ablagerte, war viel grösser als die Gewässer, denen die untern Glazialschotter ihre Aufschüttung verdanken, wie eine einfache Überlegung lehrt, und daher vermochten sie die Geschiebe weiter fortzuschaffen und auf einer grössern Fläche zu verbreiten, so dass nur verhältnismässig wenig Material auf dem vom Eis verlassenen Gebiete selbst zurückblieb. Die Gletscher gingen zurück und erhielten ihre heutige Gestalt; die erodierenden Kräfte des Wassers bemächtigten sich wieder des Gebietes, aus dem das Eis sie verdrängt hatte, und nur geringe Spuren verraten noch die einstige Ausdehnung und Wirkung der Gletscher. — Wenn man die Gesamtheit dieser Spuren überblickt, so fällt ein grosser Gegensatz zwischen dem Glazialphänomen im Gebirge und in der Hochebene auf. Im Gebirge, dessen Thäler präglazial sind, treten die Wirkungen des Eises gegen die grossartige Umgebung zurück. Ganz anders auf der Hochebene: hier sind es die Gletscher, welche der Land- schaft das Gepräge geben, sei es dass sie eine Moränenlandschaft auf- schütten, sei es dass sie mit ihren Schottern die Thäler füllen und ebnen. Im Gebirge beherrscht die Bodenkontiguration das Eis, in der Ebene das Eis die Bodenkonfiguration. — Vergleicht man das gewonnene Bild der Vergletscherung der deut- schen Alpen mit der Ausdehnung der Vergletscherung in der Schweiz sowie in Norditalien, so ergeben sich wesentliche Unterschiede. Der Gletscher des Rhöne- und Iserethales breitete sich ungleich weiter auf dem alpinen Vorland aus als der weiter östlich gelegene Rheingletscher, und der Inngletscher bedeckte auf der bayerischen Hochebene ein ge- ringeres Areal als der Rheingletscher am Fusse der Alpen, obwohl er das grösste Einzugsgebiet besass und gerade die höchsten Partien des nordalpinen Vorlandes einnahm, während der Rhönegletscher die tiefsten Partien desselben bedeckte. Mit andern Worten, die Entfaltung der Gletscher am Nordfuss der Alpen nimmt von West nach Ost ab, obwohl in dieser Richtung die Einzugsgebiete der einzelnen Eisströme an Grösse, sowie die Bezirke, über welche sie sich verbreiteten, an Erhebung über dem Meeresspiegel zunehmen. — Während sich am Nordabhang der Alpen ein ununterbrochenes Meer von Eis ausdehnte, schoben sich die Gletscher des Südabfalles zwar ein Stück in die Poebene hinein, be- rührten aber einander nicht. Die Hypothese von einem Meer in der Poebene, wie sie Drsor und Srorranı aufstellten, erklärt diesen Unter- schied nicht. Prxck macht darauf aufmerksam, dass wir ganz ähnliche Verschiedenheiten an den jetzigen Gletschern erblicken: sie nehmen von 154 Wissenschaftliche Rundschau. West nach Ost an Grösse ab und sind an der Nordseite der Alpen be- deutender entwickelt als an der Südseite. Es hängen nun die gegen- wärtigen Verhältnisse teils von der Verschiedenheit der Temperatur im Norden und Süden der Alpenkette, teils von der Abnahme der Nieder- schlagsmengen von West nach Ost ab, welche in den grossen llöhen fast ausschliesslich als Schnee niederfallen. Man wird kaum fehlgehen, wenn man in den gleichen Ursachen den Grund für die verschiedene Entwickelung der eiszeitlichen Gletscher in den Alpen sucht. Die Ent- wickelung der diluvialen Gletscher erscheint also als eine Potenzierung der heutigen und der Unterschied zwischen der Vergletscherung der Schweiz, Oberbayerns und der Poebene ist ein rein quantitativer. Wenn man das nordische Glazialphänomen im Gebirge einerseits, in der Ebene anderseits mit dem alpinen Glazialphänomen im Gebirge bezüglich in der Ebene vergleicht, so zeigt sich, dass der Unterschied gleichfalls nur ein quantitativer ist. (Schluss folet.) Chemie. Über blau gefärbtes Steinsalz. In vielen Steinsalzlagern, besonders aber im Liegenden von Neu- Stassfurt und daselbst meist in der Nähe von solchen Punkten, wo die Verwerfungen des Anhydrits Veranlassung zur Bildung von Spalten und Hohlräumen gaben, tritt bisweilen in klaren durchsichtigen Krystallmassen matt- bis dunkelblau, selten violett gefärbtes Steinsalz auf, dessen Bild- ung einer später erfolgten Ausfüllung der Spalten und Hohlräume zu- zuschreiben sein dürfte. Bei näherer Betrachtung der Spaltstücke desselben lassen sich parallel den Oktaeder- oder Würfelflächen öfters dunklere blaue Linien oder Streifen erkennen, die ganz besonders dadurch interessant sind, dass sie im durchfallenden Lichte betrachtet bei einer gewissen Stellung des Spaltungsstückes verschwinden, bei der Drehung desselben zunächst als Linien auftreten, intensiver werden, darauf abnehmen, bis sie schliess- lich wieder verschwinden u. s. w. Seiner chemischen Zusammensetzung nach ist das blau gefärbte Steinsalz fast absolut reines Chlornatrium, und gerade weil nie auch nur die geringste Spur einer direkt färbenden Materie darin nachgewiesen werden konnte, hat es von jeher die Aufmerksamkeit der Mineralogen und Chemiker in hohem Grade in Anspruch genommen. S. W. Jounson! war der Ansicht, dass die Färbung von Natrium- subchlorid herrühre, welches, für sich nicht isolierbar und in geringen Quantitäten dem Chlornatrium beigemengt, das Analysenresultat kaum merklich beeinflussen könne. Wenn nun auch die bereits von F. BıscHor ” 5 Gmelin-Krauts Handbuch. Bd. II, 204. ® F. Bischof, Die Steinsalzlager bei Stassfurt. S. 29. Wissenschaftliche Rundschau. 155 und anderen gemachten Beobachtungen, dass sich die blaue Färbung nicht auch der Lösung mitteilt, dass die Lösung beim Eindampfen farb- loses Salz hinterlässt und derselben beim Ausschütteln mit Äther, Schwefelkohlenstoff u. s. w. keine Spur eines Farbstoffes entzogen werden kann, nicht direkt dagegen sprechen, so ist diese Ansicht gleichwohl unhaltbar geworden, nachdem O. Wrrrwsen und H. Precmhr durch wieder- holte Versuche festgestellt haben, dass beim Überleiten eines Chlorstromes über gepulvertes Salz sowohl bei gewöhnlicher Temperatur als auch bei 100° C. die blaue Farbe desselben nicht im geringsten verändert wird. Auch reagiert die wässerige Lösung des blauen Salzes durchaus nicht alkalisch, wie es doch bei Gegenwart eines Subchlorides erwartet wer- den dürfte. Ocusensus! schrieb die Blaufärbung der Anwesenheit geringer Mengen freien Schwefels zu; doch ist abgesehen von anderen berechtigten Einwänden auch diese Annahme bereits durch die oben erwähnten Beob- achtungen von Wırrsen und PrecHt genügend widerlegt. F. Bıschor? sprach zuerst die Ansicht aus, dass die Blaufärbung durch einen Gehalt des Salzes an Gasen und speziell an Kohlenwasser- stoffen bedingt sei, und zwar auf Grund der Beobachtungen, dass das blaue Salz zu staubfeinem Pulver zerrieben schneeweiss erscheint? und dass die Blaufärbung auch beim Erhitzen verschwindet, ohne dass sich sonst in der äusseren Beschaffenheit des Salzes die geringste Veränder- ung bemerkbar macht. Die Temperatur, bei welcher diese Farbenver- änderung eintritt, liegt nach Wırrsex und PrrcHt, welche das Verhalten des blauen Steinsalzes beim Erhitzen gleichfalls genauer studierten, unter 280° C.; scharf lässt sie sich nicht ermitteln, da der Übergang zum farb- losen allmählich erfolgt. Bei 120° C. bleibt die Färbung erhalten. Die Gewichtsabnahme beim Erhitzen intensiv blau gefärbter, zuvor sorgfältig getrockneter Spaltungsstücke bis zum Farbloswerden betrug 0,02°/o. Um die Menge der etwa eingeschlossenen Kohlenwasserstoffe zu bestimmen, unterwarfen letztgenannte Forscher die beim Erwärmen entweichenden Gase, nachdem dieselben zuvor getrocknet und von ur- sprünglich vorhandenem Kohlendioxyd befreit worden waren, der Ele- mentaranalyse. Sie erhielten dabei aus 90 gr intensiv blau gefärbter Spaltungsstücke 6 mgr Wasser und 5,5 mgr Kohlendioxyd, und es würden diese Zahlen 2 mgr Sumpfgas (Methan) und 0,17 mgr Wasserstoff ent- sprechen, Mengen, die so gering sind, dass es allerdings zum mindesten gewagt erscheinen muss, die blaue Färbung, wie es BıscHor annimmt, ausschliesslich auf einen Gehalt an Kohlenwasserstoffen zurückzuführen. Wirtsex und PrecHr neigen deswegen auch der Ansicht zu, dass die Blaufärbung im wesentlichen durch rein optische Verhältnisse bedingt sei. ! Ochsenius, Die Bildung der Salzlager und ihrer Mutterlaugensalze. S. 117. =. 16.18. 29: > Beim Zerreiben von Kupfersulfatkrystallen zu feinem Pulver bleibt die Farbe, wenn auch erheblich geschwächt, erhalten; namentlich tritt sie beim Be- feuchten des Pulvers mit Wasser wieder lebhaft auf, während das blaue fein zer- riebene Steinsalz, in gleicher Weise behandelt, auch nicht den geringsten bläulichen Farbenton erkennen lässt. 156 Wissenschaftliche Rundschau. Sie fanden ferner im Mittel mehrerer Bestimmungen das spezifische Gewicht des blauen Salzes zu 2,141 und das des farblosen zu 2,143 und halten es nun für wahrscheinlich, dass diese allerdings geringe Differenz auf vorhandene mit Luft oder anderen Gasen angefüllte Hohl- räume im blauen Steinsalze zurückzuführen sei, welche zugleich die op- tischen Verhältnisse derartig modifizieren, dass nur die blauen Licht- strahlen reflektiert werden. (Nach B. Wırmsen und H. Prec#Ht: Zur Kenntnis des blau ge- färbten Steinsalzes, in: Ber. d. deutschen chem. Gesellsch. z. Berlin 16, 1454.) Dr. A. GoLDBERG. Briefliche Mitteilungen. Dichogamie zwittriger Tiere. In seinem Aufsatz: »Darmlose Strudelwürmer« im »Kosmos 1884 Band I, Heft 1« sagt Herr Dr. Spenee: »Bei Acölen tritt die Reife der männlichen und weiblichen Organe nicht gleichzeitig ein, sondern nach- einander. ÜtAararkpe bedient sich für diese Erscheinung des Ausdrucks »successiver Hermaphroditismus«, einer wie mir scheint nicht besonders treffenden Bezeichnung, da es sich hier eher um einen »successiven Go- nochorismus«, um eine temporäre Geschlechtertrennung zwittrig angelegter Tiere handelt. « Bekanntlich gibt es sehr zahlreiche zwittrige Blüten, welche da- durch sich auszeichnen, dass Staubgefässe und Narben nicht zu gleicher Zeit reifen, sondern nacheinander. Dieses ungleichzeitige Reifen der Ge- schlechtsteile bezeichnet man in der Botanik als Dichogamie; wenn die Antheren vor den Stigmen reif sind, so spricht man von Proterandrie, wenn das Umgekehrte der Fall ist, so hat man es mit Proterogynie zu thun. Wäre es nun nicht viel einfacher, diese Bezeichnungen auch für das Tierreich anzuwenden? Die Erscheinungen sind in beiden Fällen die- selben, und auch der physiologische »Zweck« ist der gleiche: durch un- gleichzeitiges Reifen der Geschlechtsteile zwittriger Blumen oder Tiere soll augenscheinlich eine Selbstbefruchtung verhindert, dagegen Fremdbefrucht- ung begünstigt werden. Wenn wir den Darwinschen Satz von den günstigen Wirkungen der Fremdbefruchtung auf das Tierreich übertragen, was meiner Meinung nach wohl gestattet ist, und wenn wir sehen, wie oft im Pflanzenreich bei Zwitterblumen Fremdbefruchtung durch Dichogamie herbeigeführt wird, so darf man wohl vielleicht erwarten, auch bei den zwittrigen Tieren öfter Dichogamie anzutreffen, als man dies jetzt annimmt. Untersuch- ungen nach dieser Richtung hin wären nicht ohne Interesse. Jedenfalls aber meine ich, würde es sich empfehlen, die oben angegebenen botanischen Ausdrücke auch für die entsprechenden Verhältnisse im Tierreich zu ge- Litteratur und Kritik. 157 brauchen, anstatt der von CLAPAREDE oder SPENGEL vorgeschlagenen. Warum für dieselbe Erscheinung zwei verschiedene Namen, durch die doch sicher- lich nicht die Einheitlichkeit der Naturauffassung gefördert wird ? Unna. 15. II. 1884. Dr. W. BREITENBACH, Litteratur und Kritik. Die Eneyklopädie der Naturwissenschaften im Jahr 1833 (Ver- lag von Eduard Trewendt, Breslau). Dieses grossartige Unternehmen ist, seitdem in diesen Blättern zum letztenmal darauf hingewiesen wurde, rüstig vorwärtsgeschritten. Beginnen wir unsere Übersicht mit dem Handbuch der Botanik (Herausgeber Prof. Dr. Schexk), von welchem der Ill. Band beinahe vollständig vorliegt. Derselbe enthält: »Die Spaltpilze Wirk- ungen auf das Substrat< auch über ihre, für den Menschen so unmittel- bar wichtigen krankheitserregenden Einflüsse belehrt zu werden; es ist aber allerdings selbstversändlich, dass die Berücksichtigung dieser weit- schichtigen Fragen den Verf. bedeutend über den ihm gesteckten Rahmen hinausgeführt haben würde. In sehr zeitgemässer Ausführlichkeit werden dann die Methoden der Untersuchung behandelt; den grössten Raum nimmt aber natürlich die Entwickelungsgeschichte und Systematik ein. 158 Litteratur und Kritik. Die genauer bekannten Formen werden in die vier Gruppen der Cocca- ceen, Bacteriaceen, Leptothricheen und Cladothricheen verteilt, und daran reiht sich die leider noch recht erhebliche Zahl der unvollständig er- forschten Formen, zu denen gerade einige der wichtigsten Krankheits- erreger, wie der Pilz des hückfallstyphus, der Diphtheritis, der Pocken, der Hühnercholera, des Eırysipels, des Aussatzes u. s. w. gehören. Die ganze, seither auch separat erschienene verdienstvolle Arbeit ist vor- züglich geeignet, eine gründliche und auf die neuesten Forschungen ge- stützte Kenntnis der Spaltpilze zu vermitteln. Als höchst stattliche, durchaus selbständige Leistung präsentiert sich GößELs vergleichende Entwickelungsgeschichte der Pflanzenorgane. Der Verf. stellt sich entschieden auf den Boden der Deszendenztheorie und be- seitigt unbarmherzig auch die letzten Auswüchse jener früheren >»ver- gleichenden« Richtung, welche, hauptsächlich von GoETHE in die Botanik ein- geführt und noch von Au. Braun mit Energie vertreten, darauf ausging, alle Einzelbildungen auf ein »Urbild« zurückzuführen, das doch nur eine pure Abstraktion und im Grunde nichts anderes war als eine »Idee« im echt platonischen Sinne, eine besondere Wesenheit mit ihr eigentümlichen Strebungen und Lebensäusserungen. Wir möchten in dieser Hinsicht namentlich auf die musterhaft klare Darstellung der Metamorphosenlehre in ihren verschiedenen Fassungen aufmerksam machen, wobei die gesunde realistische Anschauungsweise des Verf. am deutlichsten zum Ausdruck kommt. Den speziellen Teil, dessen 1. Abteilung: Entwickelungsgeschichte der Vegetationsorgane (und zwar des Laubsprosses, des Sexualsprosses, der Anhangsgebilde und der Wurzel, nebst Anhang über die Parasiten) beinahe vollständig vorliegt, während die 2. Abteilung (Fortpflanzungs- organe) noch aussteht, können wir hier nicht eingehend analysieren; es genüge zu bemerken, dass er eine würdige Fortsetzung des Handbuchs der Botanik bildet und durch seine anziehende lebendige Darstellung selbst den dieser Wissenschaft Fernerstehenden zu fesseln vermag. Einen etwas langsameren Fortschritt hat das »Handwörterbuch der Zoologie, Anthropologie und Ethnologie« zu verzeichnen, wie es bei der umfassenden Aufgabe dieses Werkes und der Schwierigkeit, die zahlreichen Mitarbeiter zu gleichzeitigem und harmonischem Zusammenwirken zu bringen, kaum anders sein kann. Dasselbe ist bis zum Beginn des Buch- stabens (+ vorgerückt. Von F' an ist die Redaktion in die Hände von Dr. A. Rricnenow übergegangen, zugleich und zum Teil schon früher sind mehrere andere Mitarbeiter neu hinzugetreten, so dass zu hoffen ist, das nicht allzu glücklich angelegte Werk werde wenigstens durch immer grössere Vollständigkeit und Einheitlichkeit der Behandlung an innerem- Werte gewinnen und zu einem so brauchbaren Repertorium werden, wie es gerade für die genannten Wissenschaften so sehr zu wünschen wäre. . Von der II. Abteilung der »Encyklopädie«, die überhaupt erst im Februar 1582 zu erscheinen begann, liegen gegenwärtig vor: 1) Das»HandwörterbuchderPharmakognosiedesPflanzen- reichs« vollständig. Dasselbe (994 S. in 7 Lfgen.) ist von Prof. G. Wrersrein allein bearbeitet (nur der eine grosse Artikel »Chinarinden« Litteratur und Kritik. 159 stammt von Prof. GarckE) und steht daher natürlich, was Konsequenz der Durchführung betrifft, allen anderen Teilen des Werkes voran. Die einzelnen Artikel bringen, nach den gebräuchlichsten deutschen bez. Handelsnamen alphabetisch geordnet, ausser der offizinellen lateinischen Benennung, dem systematischen Namen der Mutterpflanze und deren Stellung im Pflanzensystem je eine kurze Charakteristik der Mutterpflanze mit Angabe ihres Vorkommens, eine gründliche Beschreibung der davon im Gebrauch stehenden Teile, deren wesentliche chemische Bestandteile, die Merkmale der Echtheit resp. der Verwechselungen und Verfälschungen, die medizinische oder sonstige Anwendung und endlich Bemerkungen über die Zeit und Art der Einführung des Stoffes, geschichtliche und etymologische Notizen. Dadurch hat das Buch nicht bloss für den Phar- mazeuten, sondern auch für den Arzt, den Botaniker, ja selbst für den Philologen und Historiker grosses Interesse gewonnen, und dass es in ‚jeder Hinsicht gründlich und zuverlässig ist, dafür bürgt hinlänglich der Name seines Verfassers. Im Anhang finden sich einmal sämtliche zur Sprache gekommenen Pflanzengattungen, nach Karsrens natürlichem Sy- stem geordnet, dann die genannten Droguen nach den betreffenden Pflanzen- teilen u. dergl. gruppiert, z. B. Balsame, Blätter, Blüten u. s. w., und endlich drei Register über deutsche und lateinische Droguennamen und die Namen der Mutterpflanzen. 2) Vom »Handwörterbuch der Mineralogie, Geologie und Paläontologie<« erschienen 5 Lieferungen. Hier wie bei der Chemie ist aber, trotzdem das Ganze als Nachschlagewerk bequem zu verwenden ist, doch nicht eine streng lexikalische Anordnung des Stoffes befolgt worden, die nur zur Folge haben kann, dass Zusammengehöriges auseinander gerissen, wirkliche Belehrung fast unmöglich gemacht und Wiederholungen veranlasst werden, sondern eine verhältnismässig geringe Anzahl meist längerer Artikel oder Abhandlungen, welche je ein ziemlich abgeschlossenes Ganzes bilden, führt uns das reiche Material in über- sichtlicher und anziehender Gliederung vor. Dadurch ist es denn auch möglich geworden, von vornherein die Aufgabe jedes Mitarbeiters und den Bereich der einzelnen Artikel genau abzugrenzen. Im »Handwörter- buch der Mineralogie ete.« ist dies sogar in der Weise geschehen, dass die von jedem der drei Autoren A. Krxsscorr, v. Lasaurx und F. Route bearbeiteten Artikel zugleich, wenn in eine entsprechende Reihenfolge gebracht (worüber eine besondere Abhandlung Aufschluss gibt), sich zu einer zusammenhängenden und systematischen Darstellung der betreffenden Wissenschaft zusammenfügen. Besonders wertvoll scheinen uns die geo- logischen Beiträge zu sein, welche bei durchaus gemeinverständlicher Darstellung doch den neuesten wissenschaftlichen Standpunkt wahren und auch solide Kritik nicht vermissen lassen; wir nennen- bloss die schönen Artikel Atmosphäre, Chemische Prozesse in der Geologie, Deltabildungen, Erdball, Erdbeben, Gebirge, Gletscher. Weniger dürfte die paläontolo- gische Abteilung diesen Anforderungen entsprechen, wobei allerdings auch der fast gänzliche Mangel von Abbildungen bedeutend ins Gewicht fällt. Dieser Mangel ist hier sowie im zoologischen Teil des Unternehmens um so auffallender, als beide doch ausdrücklich »jedem allgemein gebildeten 160 Litteratur und Kritik. Leser zur Belehrung dienen sollen«. Es wäre im Interesse der Sache sehr zu wünschen, dass der bildlichen Darstellung, die ja oft so un- endlich viel mehr wahren Nutzen schafft als lange Beschreibungen, in Zukunft grössere Aufmerksamkeit zugewendet würde. 3) Das »Handwörterbuch der Chemie«, dessen Plan wir bereits besprachen, ist bis zur sechsten Lieferung vorgeschritten. Der Herausgeber Prof. LapzxzurG und seine zahlreichen Mitarbeiter haben sich, wie es der Stoff verlangte, wenn eine irgendwie eingehende Dar- stellung desselben gegeben werden sollte, viel ausschliesslicher an »Che- miker und andere mit der Chemie einigermassen vertraute Naturforscher« gewendet und ihre Abhandlungen daher in ein etwas strenger wissenschaft- liches Gewand gekleidet. Die Ordnung des wie bekannt in unendliches Detail zersplitterten Stoffes folgt einem wohl überdachten Schema, das man freilich im Kopf haben muss, um das Werk (das mindestens auf 20 Bände von je 700 S. anschwellen wird, denn der 1. Bd. reicht bloss bis »Anthracen«!) mit Leichtigkeit benutzen zu können; doch tragen dazu auch wesentlich die vollständigen alphabetischen Register aller in den einzelnen Bänden überhaupt erwähnten chemischen Körper bei, die jedem Bande beigegeben sind und am Schluss wohl noch durch ein General- register ergänzt werden dürften. Sicherlich wird das Ganze, namentlich wenn es im bisherigen raschen Tempo fortschreitet, bald eine in ihrer Art einzig dastehende Fundgrube für alles auf Chemie bezügliche bilden und die immense Entwickelung dieser jugendlichen Wissenschaft in die Breite wie in die Tiefe getreulich zum Ausdruck bringen. Wie aus dem Gesagten hervorgeht, hat die gesamte Encyklopädie auch im verflossenen Jahre höchst erfreuliche Fortschritte und Erfolge zu verzeichnen gehabt, welche zu der Hoffnung berechtigen, dass auch die noch ausstehenden Teile (Astronomie und Physik) bald in Angriff ge- nommen und samt den übrigen rasch zum Abschluss gebracht werden können. Die zum grössten Teil so trefflich gelungene Ausführung des ursprünglichen Planes lässt zugleich den lebhaften Wunsch entstehen, der- selbe möchte noch auf andere Disziplinen ausgedehnt werden und. es möchten namentlich spezielle Physiologie, Psychologie und Sociologie eine ähnliche Bearbeitung erfahren. N. Ausgegeben den 29. Februar 1884. ArıTr UT Am 25. August 1883 starb nach kaum dreitägiger Krankheit, im Begriffe von einer in die Alpen unternommenen Forschungsreise in seine Heimat zurückzukehren, zu Prad in Tirol der Oberlehrer Professor Dr. Hermann Müller im Alter von beinahe 54 Jahren, von denen er 28 Jahre ununterbrochen am jetzigen Realgymnasium in Lippstadt als Lehrer der Naturwissenschaften in ganz hervorragend erfolgreicher Weise gewirkt und sich nicht allein die Liebe und Hochachtung seiner vielen Schüler und seiner Spezialkollegen und Mitbürger in hohem Masse erworben, sondern auch als einer der scharfsinnigsten und dabei gewissenhaftesten Naturforscher der Jetztzeit durch seine vielfachen Beobachtungen und schriftstellerischen Arbeiten auf dem naturwissenschaftlichen Gebiete unter seinen Fachgenossen auf der ganzen Erde hohes und wohlverdientes An- sehen sich errungen hat. — Welche vortreffliche Eigenschaften den Ver- storbenen als Familienvater zierten, wissen vor allen seine tiefbetrübten Hinterbliebenen zu würdigen, deren Wohl er stets in der aufopferndsten Weise und unter eigenen Entbehrungen zu fördern beflissen war und die durch sein allzufrühes Hinscheiden ihres treuen und liebevoll sorgenden Ernährers beraubt worden sind. Was das Realgymnasium zu Lippstadt und dessen Schüler an MüLuer, dem ausgezeichneten Jugendlehrer, ver- loren, erscheint geradezu unersetzlich. Seine Freunde, Kollegen und Mit- bürger betrauern ihrerseits tief den Verlust des zuverlässigen, charakter- vollen, überzeugungstreuen, für das Gemeinwohl ohne Sonderinteresse strebenden, so hochbegabten und doch so rührend einfachen und be- scheidenen Mannes, und wird derselbe in dem, was er als Vorsitzender und geistiger Leiter des Lippstädter »Bürger-Vereins« für die Hebung der Bildung dessen Mitglieder in der anspruchslosesten Weise gethan hat, unvergessen sein. Was endlich der Dahingeschiedene als Forscher “und Schriftsteller in der Naturwissenschaft geleistet hat, beweisen seine grösseren und kleineren Werke, Aufsätze, Rezensionen etc., deren Zahl sich auf mehr als 200 beläuft, und seine Korrespondenzen mit gegen 150 Naturforschern, unter denen sich die bedeutendsten des In- und Auslandes befinden, und von denen z B. Csaruzs Darwıv in der Zeit vom 28. Februar 1867 bis zum 6. August 1881 46 und FEDERICO DEL- PIno in Genua in der Zeit vom 12. Mai 1868 bis zu Mürrer’s Hin- scheiden 29 teils sehr ausführliche Schreiben an denselben gerichtet haben, worin sie für dessen Leistungen die höchste Anerkennung, ja Bewun- derung aussprechen. Die Erinnerung an diese vielen und hervorragenden Verdienste, Herzens-, Charakter- und Geisteseigenschaften legte es seinen in Lipp- stadt, dem Mittelpunkte seines langjährigen erfolg- und segensreichen Wirkens, wohnhaften Schülern, Freunden und Verehrern nahe, dahin zu wirken, dass das Angedenken des leider so früh Verblichenen zugleich Kosmos 1884, I. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XIV). 11 162 Aufruf. unter angemessener Berücksichtigung seiner Hinterbliebenen in würdiger und dauernder Weise geehrt werde. Es bildete sich daher in Lippstadt zunächst ein aus neun Personen bestehendes provisorisches Komitee, welches inmittelst durch Auswärtige auf die Zahl von 26 Personen sich verstärkt hat, um Sammlungen in Lippstadt zu veranstalten und Gelder von auswärts zusammenzubringen, deren Gesamtertrag dazu dienen soll, nach Möglichkeit: >das Andenken des Professors MÜLLER in geeigneter Weise sicher- »zustellen, den Hinterbliebenen die erforderlich erscheinende Unter- >»stützung zu gewähren, und unter dem Namen »Müller-Stiftung« »eine Stiftung zu errichten, welche in nähere Beziehung zu dem »jetzigen Lippstädter Realgymnasium gebracht werden und deren »Revenuen bei Lebzeiten der hinterbliebenen Witwe Professor MÜLLER »letzterer zufliessen, nach deren Ableben aber dazu dienen sollen, »dürftige und würdige Schüler der Anstalt, welche Naturwissenschaft »zu studieren beabsichtigen, zu unterstützen, wobei jedoch die »Müllersche Nachkommenschaft auch ohne Rücksicht auf Bedürf- »tigkeit in erster Linie berücksichtigt werden soll.« Ob und inwieweit diese ins Auge gefassten Ziele erreicht werden können, hängt selbstverständlich von dem Ertrage der Sammlungen ab. Die Endesunterzeichneten ersuchen daher alle früheren Schüler, Freunde und Verehrer MürtEr’s, sowie alle diejenigen, die grosse und bleibende Verdienste auch durch die That zu würdigen gesonnen sind, durch Ge- währung und Sammlung reichlicher Gaben dem Komitee die Erreichung aller oben gedachten Zwecke zu ermöglichen und die selbstgeleisteten oder gesammelten Beiträge unter Beifügung der Namen der einzelnen Geber, welche demnächst eine Biographie Müurter’s mit Bildnis zugesandt erhalten werden, dem Schatzmeister des Komitees Stadtkämmerer WILHELM THURMANN in Lippstadt einzusenden. Im Januar 1884. Dr. Wilhelm Julius Behrens in Göttingen, Alfred W. Bennet in London, Dr. W. Cramer in Barr, Franeis Darwin in Cambridge, Dr. Arnold Dodel- Port in Zürich, Dr. Ernst Haeckel in Jena, Dr. Ernst Krause in Berlin, Dr. Alfred Kirchhoff in Halle a. d. S., Professor Dr. Karsch in Münster i. W., Dr. phil. Friedr. Ludwig in Greiz, Thür., Dr. Landois in Münster i. W., Dr. P. Magnus in Berlin, D’Arcy W. Thompson in Cambridge, Dr. Perceval E. Wright in Dublin — und zahlreiche andere Unterschriften. Indem wir mit Freuden der an uns ergangenen Aufforderung, diesen Aufruf im »Kosmos« zu veröffentlichen, hiermit nachkommen, erklären wir uns zugleich bereit, Beiträge für die Hermann Müller-Stiftung entgegenzunehmen. Wir sind überzeugt, dass unsere Leser gerne diese schöne Gelegenheit ergreifen werden, um das Andenken des unvergess- lichen Forschers und Lehrers nach ihren Kräften zu ehren! Über die eingelaufenen Beiträge wird seiner Zeit an dieser Stelle quittiert werden. Prof. B. Vetter in Dresden-Blasewitz. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung, Stuttgart. Die Moundbuilders und ihr Verhältnis zu den historischen Indianern. Von Dr. E. Schmidt (Leipzig). (Schluss. IM. Es wurde bisher nur die negative Seite des Resultates hervor- gehoben, welches uns eine unbefangene Prüfung der Thatsachen geliefert hat: die Moundbuilders waren nicht ein einheitliches Volk, und sie be- sassen nicht die hohe Kulturstufe, welche ihnen eine enthusiastische Auffassung zuschreiben wollte. Wenn sie aber das nicht waren, wofür man sie gehalten hat, was waren sie denn? Der erste Schritt auf dem Wege, diese Frage zu beantworten, muss der sein, dass wir die Kulturleistungen der Indianer, so wie sie sich noch möglichst unberührt von europäischen Einflüssen darstellen, mit denen der Moundbuilders vergleichen. Wir finden dabei, dass man, gerade wie man das Niveau der Moundbuilders sehr überschätzt hat, so auch auf der anderen Seite der Kulturhöhe der historischen In- dianer nicht gerecht geworden ist. Überreich fliessen uns die histo- rischen Quellen über die Kulturzustände der Indianer, soweit sie im Ver- gleich mit den Altertümern der Mounds in Betracht kommen; in neuester Zeit haben BauLpwın und Carr eine grosse Menge einschlägiger That- sachen zusammengestellt. Es würde eine ermüdende Wiederholung sein, wollten wir eine grössere Anzahl entsprechender Angaben anführen, und wir wollen uns daher beim Nachweis der Analogie zwischen den Leist- ungen der Moundbuilders und der Indianer immer nur auf wenige Citate beschränken. In den meisten Schriften über Mounds findet man mit einem ge- wissen Behagen den Gegensatz ausgemalt zwischen den sesshaften, un- gemein volkreichen, blühenden Ackerbau treibenden hochzivilisierten Moundbuilders und den in kleinen Horden hin- und herziehenden, vor- zugsweise von der Jagd lebenden und nur sehr armseligen Feldbau trei- benden Indianern. Das ist nach beiden Seiten hin eine Übertreibung. Alle alten Beobachter wissen davon zu erzählen, dass der Ackerbau bei 164 E. Schmidt, Die Moundbuilders und ihr Verhältnis den Indianern in hoher Blüte stand, dass auch sie eine weit grössere Volkszahl hatten, als es lediglich durch die Jagd möglich gewesen wäre, dass auch sie in kleineren und grösseren Dörfern ein sesshaftes Leben führten. Ja um die ganze europäische Kolonisation von Amerika stünde es schlecht, die ersten Ansiedler wären fast überall verhungert, wären nicht die reichen Kornspeicher der Indianer gewesen, aus welchen sich die Europäer den Mais kauften, erbettelten oder stahlen. Schon De Brr gibt uns bildliche Darstellungen üppiger Felder und Beschreibungen des Landbaues der Indianer. Hupsox fand im jetzigen Staat New-York in einem einzigen Dorfe so viel Bohnen und Mais aufgestapelt, dass er da- mit drei Schiffe hätte befrachten können. Apaır und BARTRAM versichern uns, dass die Maisfelder der südlichen Indianer nicht nach Acres, son- dern nach Meilen gemessen wurden. Wie bedeutend der Feldbau selbst im Norden noch in den beiden letzten Jahrhunderten, also nach langer, nicht gerade zur Hebung des Indianers dienender Anwesenheit der Euro- päer in Amerika, war, beweisen folgende Thatsachen: als die Franzosen unter DrnonvisLEe 1687 vier Dörfer der Senecas verbrannten, wurden dabei 1 200 000 Bushels Mais vernichtet; die französische Mannschaft musste sieben Tage lang mähen, um den noch auf den Feldern stehenden Mais dieser vier Dörfer zu zerstören. Um dieselbe Zeit (1696) sah Fontenac in der Nähe der Irokesendörfer 1'/g bis 2 lieues grosse Mais- felder. Fast hundert Jahre später zerstörte SuLLıvan bei einem Einfall ins Land der Irokesen 160 000 Bushels Mais, in einem einzigen Baum- garten hieben seine Soldaten 1500 Äpfelbäume ab, und noch 1794 konnte General WAyne aus den Öhiogegenden schreiben: »an den Ufern des Miami und des Au Glaize scheint sich meilenweit ein zusammen- hängendes Dorf hinzuziehen: nirgends in Amerika, von Canada bis nach Florida hinunter habe ich je zuvor so endlose Maisfelder gesehen.« Diese wenigen Beispiele mögen genügen, um zu zeigen, dass auch die Indianer zum grossen Teil sesshafte, landbautreibende, volkreiche Stämme waren, gerade wie wir dies von den Moundbuilders annehmen mussten. Aber bauten sie denn, wie diese, auch feste Plätze auf Bergen und in der Ebene? Ja! Auch hierfür sind sehr zahlreiche direkte Nachrichten vorhanden. Und zwar finden wir alle Eigentümlichkeiten der festen Mounddörfer in den Beschreibungen dieser Indianerfestungen wieder. Starke Bergwälle, bis zu 50 Acres gross, hatten die Indianer New-Yorks; die Wälle umschlossen oft 20—30 »Langhäuser«, jedes 180 Yards lang und 20 Fuss breit. Solche starke Bergforts werden bei fast allen Indianerstämmen erwähnt. Ausserdem hatten sie aber auch noch befestigte Dörfer in der Ebene: »Ausser jenen festen Plätzen haben sie noch andere Dörfer und Städte, welche gleichfalls umwallt sind,« wie v. D. Donck von den Indianern am Hudson berichtet, und LA- FITEAU erzählt von den indianischen Befestigungen im allgemeinen: »Die Beschaffenheit des Bodens bestimmt die Form ihrer Umwallung. Es gibt darunter vieleckige, die meisten aber sind rundlich und kreisförmig.« Le Moyxz hat uns Zeichnungen solcher kreisförmigen Palissadendörfer, nach der Natur aufgenommen, hinterlassen. Fast alle Berichterstatter stimmen zu den historischen Indianern. 165 darin überein, dass die Ringwälle mit Palissaden oft in zwei- oder drei- facher Reihe besetzt waren (in letzterem Fall wurde zwischen den Palis- saden oft Erde aufgehäuft); ein Graben liegt bald vor, bald hinter der Palissadenlinie, und in einzelnen Fällen wird berichtet, dass die Ver- teidiger in diesen brusthohen Gräben selbst gegen die Kugeln der Europäer geschützt waren. Die Gruppierung kleinerer Forts oder fester Häuser auf Fundamentmounds zu einem grösseren Ganzen, wie wir sie bei manchen Mounds ÖOhios und der südlichen Staaten angetroffen haben, finden wir bei dem Ritter von Elvas auf pE Soros’ Zug in den »grossen umwallten Städten« wieder, die von vielen, Bogenschussweite von einander entfernten Häusern umgeben waren; ja selbst die Parallelwälle, welche von alten Umwallungen Ohios aus häufig den Zugang zu einem benach- barten Fluss beschützen, haben ihr Gegenstück in den »gedeckten Gängen«, welche nach den Beschreibungen neuerer indianischer Walldörfer von diesen zum Wasser hinabführen. Dass die Indianer (gerade wie die Mound- builders) sich mit Vorliebe in den fruchtbaren Thälern ansiedelten, erzählt uns Loskıen: »Zu Welschkornfeldern nehmen sie das niedrige fette Land an den Flüssen und Bächen, welches viele Jahre hintereinander trägt. Ist aber ein Feld ausgesogen, so legen sie ein neues an; denn vom Düngen wissen sie nichts und an Land fehlt es ihnen nicht.< Die Lage der Dörfer auf den höheren Thalterrassen, die zu so viel Spekulation Veran- lassung gegeben hat, wird in den Berichten von GARCILASSO, CHARLEVOIX, LAFITEAU, LoSKIEL etc. ausdrücklich motiviert. »Der Überschwemmungen wegen siedeln sich die Indianern soviel als möglich auf höhergelegenen Stellen an« (Garcıv). »Daher findet man ihre Dörfer gemeiniglich an einem Landsee oder Flusse oder Bache, doch an erhabenen Orten, um bei dem hohen Wasser, das im Frühjahr gewöhnlich ist, nicht in Gefahr zu kommen« (LoskıEL). Zugleich geben uns diese Autoren einen Finger- zeig, der uns die Bedeutung der grossen Anzahl von alten Walldörfern in den Seitenthälern des Mississippi auf ihr richtiges Mass zurückführen lässt. So schreibt LarırEau: »Da die Wilden ihre Felder nicht düngen und sie nicht einmal brach liegen lassen, so erschöpfen sich dieselben bald und veröden, weshalb sie genötigt sind, ihre Dörfer anderswohin zu verlegen und auf noch unbebauten Strecken neue Felder herzurichten. « Auch der bald in der Nähe einer grösseren Niederlassung auftretende Holzmangel zwingt die Indianer nach LarttEAuU zu öfterem Wechsel der Wohnsitze. LoskıEL führt gleichfalls den Holzmangel durch Abholzung der Nachbarwälder sowie durch häufige Waldbrände als Ursache hierfür an. Die Häuserform der Moundbuilders war, wie die kleineren Schutt- wälle und Haufen innerhalb der Wälle gezeigt haben, bald rund, bald viereckig, Das stimmt genau mit der Beschreibung der indianischen Häuser, wie sie uns alle Reisenden geben. Schon in den Abbildungen von L£ Moyxz finden wir beide Formen in demselben Dorf vereinigt. LArıtEAu berichtet: >»Was die Form betrifft, so sind manche rund, ander- seits erfahren wir von Du Prarz: »Die Hütten der Natchez bilden stets ein vollkommenes Quadrat.« Auch die Sitte, die Toten im Boden der Hütte zu begraben, die wir in manchen alten Walldörfern Tennessees antreffen, findet sich häufig bei den neueren Indianern; so berichtet es BARrTRAN 166 E. Schmidt, Die Moundbuilders und ihr Verhältnis von den Muscogulges in Carolina, ScooLcRAFT von den Creeks und Se- minolen, BERNARD Roman von den Chickasaws, und selbst jenseits der Felsengebirge kommt diese Sitte vor, bei den Navajos, den Round valley Indians Californiens etc. Gehen wir über zur Vergleichung der alten und der modernen Erd- hügel. Als erste Gruppe der Mounds haben wir kennen gelernt die Reliefmounds Wisconsins, Michigans etc. Sie sind ein lokal beschränktes Vorkommen, für das wir fast im ganzen übrigen Moundbezirk jede Ana- logie vermissen. In derselben Lage befinden wir uns auch, wenn wir bei den modernen Indianern ähnliche Bauten suchen. Nur eine, wie es scheint, bisher unbeachtet gebliebene Notiz bei CHartL£vorx (Journal d’un voyage VI. p. 51) ist vielleicht geeignet, etwas Licht zu werfen auf Zweck und Bedeutung dieser Reliefmounds. Er sagt: »Früher bauten die Irokesen ihre Hütten viel sorgfältiger als die andern Stämme und als sie selber es gegenwärtig thun; man fand bei ihnen Figuren in Relief dargestellt, obwohl die Ausführung derselben allerdings sehr grob war; seitdem man aber bei verschiedenen Expeditionen fast alle ihre festen Dörfer verbrannt hat, haben sie sich nicht mehr die Mühe genommen, dieselben im früheren Zustand wiederherzustellen.«aus dem verdauenden Endoplasma durch die nachfolgenden in das Ektoplasma gedrängt wurden, wo sie nach glücklich überstandener Gefahr des Ver- dautwerdens durch sich schnell wiederholenden Teilungsakt in Pseudo- chlorophylikörperchen zerfielen und das Ektoplasma zu ihrem Vegetations- gebiete okkupierten.< Ferner gelang es mir und meinem Freunde Kessuer, chlorophyllfreie Infusorien mit den grünen Körpern zerquetschter Süss- wasserschwämme oder abgestorbener Armpolypen direkt zu infizieren. Endlich hat v. Grarr neuerdings die wichtige Beobachtung gemacht, dass sich aus Eiern des grünen Süsswasserstrudelwurmes (Vortex viridis), die in filtriertem Wasser gezüchtet wurden, ausnahmslos farblose Individuen ohne grüne Zellen entwickelten. Aus allen diesen Beobachtungen und Experimenten folgt mit Sicherheit, dass die grünen Körper oder Pseudo- chlorophylikörper der Tiere einzellige Algen sind, die von aussen in die Tiere einwandern. Wie bereits erwähnt, kommen diese grünen Algen vorzugsweise in Süsswassertieren vor, und zwar bei sehr zahlreichen Urtieren, z. B. Amö- ben, Sonnentierchen, Infusorien, ferner bei Spongilla, beim Armpolypen, einigen Strudelwürmern und einem Süsswasser-Regenwurm (Aeolosoma). Kosmos 1884. I. Bd. (VIH. Jahrgang, Bd. XIV). 12 178 K. Brandt, Über Chlorophyll im Tierreich. Seltener finden sie sich in Meerestieren, z. B. in der Nacktschnecke Elysia und in dem Strudelwurm Convoluta Schultzüi. Die Meerestiere sind vorzugsweise mit einer anderen Algenart ver- sehen, die statt des echten grünen Chlorophylis eine gelbe oder bräun- liche Modifikation des Chlorophyllfarbstoffes enthalten und schon seit mehr als 30 Jahren unter dem Namen der »gelben Zellen« bekannt sind. Während bei den grünen Körpern der Nachweis der Zellnatur die Hauptschwierigkeit bereitete, das Vorhandensein des Chlorophylis aber kaum jemals ernstlich bezweifelt wurde, lag umgekehrt bei den gelben Zellen die cellulare Beschaffenheit klar zu Tage, während man erst sehr spät auf den Gedanken kam, dass der Farbstoff ein Chromophyll, d.h. ein chlorophyllartiger Farbstoff, sein könne. Die gelben Zellen wurden zunächst als Pigmentzellen, in manchen Fällen auch als Leberzellen an- gesprochen; man hielt sie aber stets für selbstgebildete Teile der Tiere. Erst als Cırykowskı (1871) die Zugehörigkeit der gelben Zellen zu den Radiolarien, in denen sie vorkommen, durch den Nachweis, dass sie im isolierten Zustande wochenlang weiter leben und sich durch Teilung noch vermehren, höchst unwahrscheinlich gemacht hatte, wurden immer mehr Gründe für die Algennatur der gelben Zellen durch O. u. R. Hrrrwısc, den Verfasser und GEppES beigebracht und durch diese und andere Forscher die weite Verbreitung dieser Algen im Tierreiche gezeigt. Die gelben Zellen oder Zooxanthellen zeigen eine weit grössere Mannigfaltigkeit des Baues als die grünen Körper. Bei allen lässt sich aber ein Zellkern, gelbes oder braunes Chromophyll neben dem farblosen Protoplasma, ein oder mehrere, meist ausgehöhlte Körner eines Stärke-artigen Assimila- tionsproduktes und fast immer auch eine Cellulosemembran mit Sicherheit nachweisen. Ausserdem konnte ihre Selbständigkeit auch durch Kultur isolierter gelber Zellen dargethan werden. Sie gehen dabei entweder durch starke Verquellung der Zellmembran in einen Palmella-artigen Zu- stand über oder nehmen — bei Anwendung grösserer Wassermengen — die Form von Schwärmsporen an. Die weitere Entwickelung ist leider noch unbekannt, so dass es vorläufig auch nicht möglich ist, sie in einer der bekannten Gruppen von Algen unterzubringen. »Gelbe Zellen« finden sich in der Klasse der Urtiere bei einigen Foraminiferen, Geissel- und Wimperinfusorien und bei den meisten Radio- larien, ferner bei einigen Schwämmen, zahlreichen Coelenteraten, und zwar sowohl bei Hydroidpolypen, Medusen und Ctenophoren, als bei Aktinien und Korallen, endlich noch bei einigen Echinodermen, Bryozoen, Strudelwürmern und sogar bei einem Borstenwurme (Eunice). Ausser den grünen und gelben oder braunen Algen kommen endlich noch in der Klasse der Schwämme nach den Untersuchungen von LiEBERKÜHN, CARTER, F. E. SCHULZE, SEMPER, MARSHALL und mir auch blaugrüne und violette Fadenalgen, also Oscillarien und Florideen vor. LiEBERKÜHN (1859) war auch, soweit bis jetzt festgestellt ist, der erste Forscher, welcher Algen in Tieren sicher nachwies. Er entdeckte in verschiedenen Schwämmen zwei neue Florideen, die N. PRINGSHEIM als Callithamnia und Polysiphonia bestimmte. Lange vor ihm hatte zwar schon Bory pe Sr. Vincent (1824) die kurze Angabe gemacht, dass die K. Brandt, Über Chlorophyll im Tierreich. 179 Färbung von Spongillen durch eine Alge, Anabaina impalpabilis, bedingt wird und dass die Schwämme nur ergrünen, wenn Anabaina in der Nähe vorkommt. Da aber aus der dürftigen Notiz nicht zu ersehen ist, ob der Autor sich für seine Behauptung genügende Beweise verschafft habe, so wurde ihr nur wenig Beachtung geschenkt. Ähnlich erging es auch den Angaben einiger späterer Forscher über gelegentlich gemachte Funde von Algen in der einen oder der andern Tierspezies; ihre Mitteilungen wurden entweder nicht beachtet oder bald vergessen oder auch durch entgegengesetzte Behauptungen anderer abgeschwächt. Von allgemeiner Bedeutung wurden erst die zielbewussten Untersuchungen der letzten Jahre. Sie ergaben für Hunderte von Tierarten, die man bis dahin grossenteils für chlorophylifreie gehalten hatte, dass sie zwar Chlorophyll enthalten, dass aber der grüne Farbstoff nicht von den Tieren selbst erzeugt ist, sondern eingewanderten Pflanzen, einzelligen Algen, sein Dasein verdankt. In Süsswassertieren sind bisher nur grüne, in Meeres- tieren ausserdem auch blaugrüne, rote, violette, gelbe und braune Algen aufgefunden worden. Mit dem Vorhandensein oder Fehlen selbsterzeugten Chlorophyllis schien ein ebenso wichtiger wie durchgreifender Unterschied zwischen Tieren und Pilzen einerseits und den Pflanzen anderseits gefunden und die Möglichkeit gegeben zu sein, in schwierigen Fällen zu entscheiden, ob ein Organismus zu den Tieren oder zu den Pflanzen gehört. Im letzten Jahre haben aber EnGELmann für ein Glockentierchen (Vorticella campanula) und Krees für eine Anzahl von unzweifelhaft tierischen Geisselinfusorien gezeigt, dass es echte Tiere gibt, die eigenes, an ihr lebendiges Körper- plasma gebundenes, funktionierendes Chlorophyll besitzen. Das Vorhanden- sein von selbstgebildetem Chlorophyll ist allerdings in höherem Grade, als man früher glaubte, ein pflanzlicher Charakter; zur sicheren Grenz- bestimmung zwischen Tier- und Pflanzenreich kann es aber ebensowenig wie irgend ein anderes Unterscheidungsmittel verwertet werden*. — Es galt weiter festzustellen, wie sich die Algen in den Tieren ver- halten und ob wirklich, wie man früher in betreff der grünen Körper glaubte, das in Tieren vorkommende Chlorophyll dieselbe wichtige Be- deutung für die Ernährung hat wie das pflanzliche Chlorophyll. Wie oben erwähnt, sind die Pflanzen im stande, vermöge ihrer Chlorophyll- körper bei Einwirkung von Sonnenlicht aus unorganischen Stoffen, wie Wasser, Kohlensäure u. s. w., organische Substanzen, besonders Stärke, zu bilden und Sauerstoff dabei auszuscheiden. Auch die in Tieren leben- den Algen können assimilieren, denn sie kommen nur in durchsichtigen Wassertieren vor und finden an ihrem Aufenthaltsort reichliche Mengen von * In neuester Zeit ist von Macchiati, Mac Munn und Tschirch m grünen Insekten (Aphiden, Kanthariden), von Mac Munn auch in Lebern von Krebsen, Mollusken und Eehinodermen „Chlorophyll“ gefunden worden. Die An- „gaben beruhen nur auf spektroskopischen Untersuchungen. Es ist unwahr- scheinlich und bisher durchaus nicht bewiesen, dass es sich in einem dieser Fälle um lebendes und von den Tieren selbst erzeugtes Chlorophyll handelt, da keiner der Forscher die Art des Vorkommens und die Assimilationsfähigkeit des grünen Farbstoffes nachgewiesen hat. 180 K. Brandt, Über Chlorophyll im Tierreich. Kohlensäure und Wasser, In der That bilden auch, wie man seit Jahren weiss, die gelben und grünen Algen ein Stärke-artiges Assimilationspro- dukt, dessen Menge und Färbbarkeit mit Jod, wie ich neuerdings zeigte, von dem Grade der Belichtung abhängt. Ausserdem ist zuerst von GEDDEs, bald darauf auch von ExGELMmANnN und mir, der Nachweis geliefert wor- den, dass die algenführenden Tiere bei gehöriger Belichtung bedeutende Quantitäten Sauerstoff ausscheiden. Dadurch war es wahrscheinlich ge- macht, dass die grünen und gelben Algen der Tiere ihren Bedarf an Nährmaterial selbst durch Assimilationsthätigkeit produzieren, und es er- gab sich nun die weitere Frage, ob die Algen nur soviel Stoffe bilden, wie sie selbst brauchen, oder ob sie noch an ihre Wirte davon abliefern. Beobachtungen machen es wahrscheinlich, dass in gewissen Fällen die Algen ihre Wirttiere ernähren. Enxtz macht darauf aufmerksam, dass manche Wimperinfusorien, wie Vorticella, Vaginicola, Stichotricha u. s. w., und das Sonnentierchen Acanthocystis keine Nahrung mehr zu sich nehmen, wenn sie genügende Mengen grüner Algen beherbergen. Ich fand bei Stentor und anderen Wimperinfusorien dasselbe und konnte ausserdem bei koloniebildenden Radiolarien, wie Collozoum etc., konstatieren, dass dieselben nur im Jugendzustande, solange sie noch gar keine oder nur wenige gelbe Zellen enthalten, sich in animalischer Weise, d. h. durch Festhalten und Verdauen von anderen kleinen Organismen ernähren, während sie nach Einwanderung und reichlicher Vermehrung der gelben Zellen wenig oder gar keine festen Stoffe mehr aufnehmen, sondern sich augenscheinlich während der ganzen Dauer ihres späteren Lebens, sicher also mehrere Monate lang, allein von ihren gelben Zellen ernähren lassen. Anderseits gibt es allerdings sehr zahlreiche Tiere (Aktinien, Hydren, viele Infusorien u. s. w.), welche trotz reichlichen Besitzes von einge- mieteten, lebenden Algen noch andere Organismen erbeuten und nach Möglichkeit verdauen; diese Fälle beweisen aber keineswegs, dass die Ernährung der Tiere nicht auch allein durch die Algen stattfinden könnte. Die Armpolypen z. B. verschlingen, nach Jıckeur’s Beobachtung, alles, was sie an entsprechender Nahrung erreichen können und fressen sich dabei häufig zu Tode. Wenn also algenführende Tiere noch Nahrung aufnehmen, so kann das auch aus Fresslust und nicht wegen Hunger geschehen. Eine sichere Entscheidung der Frage, ob die Algen ihre Wirttiere ernähren können, ist überhaupt nicht durch Beobachtungen, sondern allein durch Experimente möglich. Zu den Versuchen in dieser Richtung wählte ich die-Aktinien, die wegen ihrer ausserordentlichen Lebenszähigkeit ganz besonders geeignet erschienen. Die Experimente wurden in der Weise angestellt, dass einige Exemplare dem Lichte ausgesetzt, andere durch Überstülpen eines Holzkastens vollkommen dunkel gehalten wurden. Im ersteren Falle konnten die in den Tieren enthaltenen Algen assimilieren, im letzteren dagegen nicht. Im übrigen wurden die belichteten und die dunkel gehaltenen Tiere denselben Bedingungen unterworfen: sie befanden sich in sehr sorgfältig filtriertem Seewasser und erhielten mittelst der Spengelschen Durchlüftungsapparate grosse Mengen von Luft zugeführt. Da bei der Assimilationsthätigkeit der im Lichte befindlichen Exemplare K. Brandt, Über Chlorophyll im Tierreich. . 181 ausser Eınährungsmaterial auch Sauerstoff produziert wird, bei den dunkel- gehaltenen dagegen weder das eine noch das andere, so wurden in eini- gen Fällen die dunkelgehaltenen Exemplare noch sehr viel stärker als die belichteten mit Luft versorgt: doch hatte diese Anderung des Expe- rimentes gar keinen Einfluss auf die Lebensdauer der Versuchstiere. Das Wasser wurde ausserdem in sämtlichen Versuchsgläsern während der ersten Wochen jeden zweiten oder dritten Tag, später nach S—10 Tagen durch frisches, mehrfach filtriertes Seewasser ersetzt. Unterliess man diese Vorsichtsmassregel, so konnte bei den dunkel gehaltenen Exem- plaren durch das Ausweıfen der abgestorbenen Algen das Wasser faulig werden und vermehrten sich bei den belichteten die ausgeworfenen leben- den Zooxanthellen so stark, dass sie bald die Glaswände mit einem dicken erünbraunen Überzug bedeckten, der das Licht absorbierte und die Assi- milationsthätigkeit der in den Tieren befindlichen Algen schliesslich ganz unmöglich machte. Um ferner zu untersuchen, ob nicht der Aufenthalt im Finstern allein schon schädlich sei, wurden zwei Versuche angestellt. Es wurden mehrere Individuen von Cerianthus membranaceus, einer Aktinie, die gar keine Algen enthält, teils in vollständige Dunkelheit gebracht, teils aber auch gut belichtet. Dabei zeigte sich, dass (bei sonst gleichen Bedingungen) Cerianthus im Dunkeln ziemlich ebensolange wie im Lichte lebt. Alle Exemplare starben bei gänzlichem Ausschluss der Ernährung nach 5—4 Monaten. Ein anderer Versuch wurde mit algenführenden Exemplaren von Aiptasia diaphana in der Weise angestellt, dass einige Exemplare nur gerade so weit verdunkelt wurden, dass ihre gelben Zellen unmöglich assimilieren konnten. Nach achtwöchentlichem Aufenthalt im Halbdunkel waren die Exemplare vollkommen frei von gelben Zellen. Sie wurden nun dem Lichte gut exponiert; doch konnte dadurch der Tod ebensowenig aufgehalten werden wie bei den stets in völliger Dunkelheit gehaltenen Exemplaren. Nachdem durch diese Kontrollversuche festgestellt war, in welcher Weise Experimente anzustellen seien, bei denen die algen- führenden Aktinien entweder ganz fasteten oder ausschliesslich von ihren Algen ernährt werden konnten und bei denen für alle Exemplare eine andere Todesursache als die mangelnde Ernährung ausgeschlossen war, begannen die eigentlichen Versuche. Dieselben wurden an verschiedenen algenführenden Aktinien mit allen Vorsichtsmassregeln angestellt. Stets wurde gut filtriertes, frisches Meerwasser, das häufig erneuert wurde, an- gewendet, und reichlich Luft zugeführt. 1) Von 12 gleichen Exemplaren der Aöptasia diaphana wurden 5 gut belichtet, die anderen 7 im Dunkeln gehalten. Letztere besassen nach 2 Monaten gar keine gelben Zellen mehr und starben sämtlich nach 2!/» bis 6 Monaten. Sie schrumpften allmählich zusammen, stülpten sich, als sie etwa zur Grösse eines Stecknadelknopfes reduziert waren, um und zerfielen schliesslich zu einem Klümpchen, das aus den Hüllen zahl- loser Nesselkapselzellen und krümeligem Detritus bestand. Der Hunger- tod fand bei Aiptasia stets in derselben Weise statt. Von den 7 belich- teten Aiptasien starben 2 im achten, eine dritte im zehnten Monat, während die beiden letzten noch nach 12 Monaten vollkommen normal waren. 182 K. Brandt, Über Chlorophyll im Tierreich. 2) Dasselbe Resultat ergab der entsprechende Versuch mit Anthes cereus var. smaragdina. Zwei belichtete Exemplare lebten noch nach 11 Monaten, während 2 dunkel gehaltene Individuen nach 8 bis St/a Mo- naten starben, und zwar unter ähnlichen Erscheinungen wie verhungernde Aiptasien. 3) Am auffälligsten war der Erfolg des Experimentes bei Cereactis aurantiaca. Zwei Exemplare, die durch mehrwöchentlichen Aufenthalt in einem ungenügend belichteten Becken ihre gelben Zellen vollkommen ein- gebüsst hatten, wurden in filtriertes Wasser gesetzt. Sie starben trotz genügender Belichtung und reichlichster Luftzufuhr unter allmählicher Verkleinerung schon nach 3, bez. 4 Wochen. Dagegen lebten 2 Exem- plare, die aus einem gut belichteten Becken genommen waren und zahl- lose gelbe Zellen enthielten, mehr als 7 Monate in filtriertem Wasser. Als der Versuch im Anfang des achten Monats durch ein Versehen ab- gebrochen wurde, waren beide noch vollkommen lebenskräftig. 4) Ein anderer Versuch wurde mit einigen Exemplaren von Anthea cereus var. plumosa, die nach monatelangem Aufenthalt in einem schwach belichteten Aquarium sich allmählich völlig ihrer gelben Zellen entledigt hatten, in der Weise angestellt, dass alle 5 Tiere in filtriertem Wasser dem Lichte ausgesetzt, aber nur 2 derselben mit kleinen Fischstückchen gefüttert wurden. Diese besonders gefütterten Exemplare lebten noch nach 4 Monaten, während die 3 hungernden Individuen nach 3 bis S Wochen unter allmählicher Reduktion starben. Früher hatte ich bereits festgestellt, dass grüne Spongillen bei Belichtung monatelang von Wasser und Luft zu leben vermögen und dass auch Hydra viridis 4 bis 5 Wochen in belichtetem filtriertem Wasser leben kann. Ferner gibt Grppes an, dass grüne Meeresplanarien im Dunkeln sämtlich in 2 bis 4 Tagen starben, während andere, die dem diffusen Lichte exponiert waren, mindestens 2 Wochen lebten. Ausserdem hat v. Grarr konstatiert, dass grüne Exemplare von Vortex viridis im Dunkeln nach 7 Tagen farblos werden und nach 18 Tagen sämtlich zu Grunde gehen, dass dagegen im Lichte gehaltene Convoluten +4 bis 5 Wochen lang hungern können. Endlich ist es mir auch gelungen, koloniebildende Radiolarien wochenlang in filtriertem Wasser und bei ge- nügendem Luftzutritt am Leben zu erhalten. Zwei Exemplare von Sphar- rozoum punctatum lebten 5!/2 bez. 6 Wochen in einem Glasgefässe, das bis zur Hälfte mit filtriertem Seewasser gefüllt und dann gut verschlossen war. Um Erschütterungen zu vermeiden, wurde das Wasser nicht, wie bei den Versuchen mit Aktinien, durchlüftet. Nach Ablauf der angege- benen Zeit gingen die beiden Kolonien nicht etwa zu Grunde, sondern zerhielen in normale Kristallschwärmer. In den mitgeteilten 4 Experimenten an algenführenden Aktinien blieben die Tiere am Leben, wenn ihren gelben Zellen Gelegenheit zur Assimilationsthätigkeit geboten wurde; sie starben, wenn die Assimilations- thätigkeit ihrer eingemieteten Algen verhindert wurde. Da durch ver- schiedene Versuche festgestellt war, dass bei der von mir gewählten Ver- suchsanordnung der Tod weder infolge von Sauerstoffmangel noch durch Verunreinigungen des Wassers herbeigeführt sein konnte, und da ich mich K. Brandt, Über Chlorophyll im Tierreich. 183 ausserdem davon überzeugt hatte, dass der Aufenthalt im Dunkeln oder im Halbdunkel den Aktinien im allgemeinen nicht schädlich ist, so bleibt nur eine Erklärung für die allmähliche Verkümmerung und das schliess- liche Absterben der dunkel gehaltenen Aktinien: die gänzlich aus- geschlossene Ernährung. Der Tod trat dagegen nicht oder erst viel später ein, wenn man entweder durch Belichtung den Algen die Möglich- keit gewährte, Nährstoffe zu bereiten, oder wenn man die Tiere in rein animalischer Weise ernährte. Die allmähliche Verringerung der Körper- masse, welche ich bei Hydren, Antheen und Aiptasien beobachtete, wenn dieselben ausschliesslich auf die Ernährung seitens ihrer Algen angewiesen waren, scheint aber darauf hinzuweisen, dass diese Tiere nicht dauernd auf jede Fleischnahrung verzichten können. Radiolarien dagegen, ebenso wohl auch viele Süsswasserprotozoen, kommen vollständig mit dem von ihren eingemieteten Algen gelieferten Nährmaterial aus. — Über die Art und Weise, wie die Algen zur Ernährung ihrer Wirt- tiere beitragen, liegen zwei verschiedene Ansichten vor. GEZAa Entz be- obachtete, dass bei Hydren und Infusorien die grünen Körper selbst dem Tiere zu Nahrung dienen können, während ich mich bei Radiolarien be- stimmt davon überzeugen konnte, dass von den gelben Zellen im Über- fluss produzierte Stoffe von den Tieren weiter verarbeitet und verwertet werden. Im ersten Falle gehen die Algen zu Grunde, im letzteren bleiben sie am Leben. Der zweite Modus scheint viel häufiger vorzukommen als der erste. Man kann sich davon überzeugen, dass die gelben und grünen Algen vortrefflich im Tiere gedeihen und sich durch Teilung vermehren, und dass bei Aktinien immer nach Verlauf einiger Tage grössere Klumpen gelber Zellen lebend ausgeworfen werden, die sich im freien Wasser noch weiter vermehren und die belichtete Wand des Glasgefässes mit einer braunen Schicht bedecken. Ferner findet man nur bei sehr jungen Radiolarienkolonien, die nur wenige gelbe Zellen enthalten und sich noch durch Festhalten und Verdauen von Fremdkörpern ernähren, zuweilen einige der Algen in Zerfall begriffen, während die älteren Kolonien nur zahlreiche intakte gelbe Zellen beherbergen. Auch in anderen algen- führenden Tieren begegnet man nur höchst selten gelben Zellen, die der Verdauung unterworfen zu sein scheinen. Einen Beweis dafür, dass die Wirttiere die Assimilationsprodukte, welche ihre Algen im Überfluss bei Belichtung liefern, sich nutzbar machen, die Algen aber am Leben lassen, sehe ich in folgender Beobachtung: Bei koloniebildenden Radiolarien fand ich nach Jodbehandlung zu wiederholten Malen zahlreiche kleine Stärkekörnchen im Protoplasma des Tieres. Sie kamen besonders häufig an der äusseren Oberfläche der gelben Zellen und in der Nähe vollkommen unversehrter gelber Zellen vor und stimmten in Form, Grösse und Mangel der Doppelbrechung so vollkommen mit den innerhalb der gelben Zellen nach Belichtung vorhandenen kleinen Stärkekörnchen überein, dass sie nur als freigewordene Assimilationsprodukte der gelben Zellen aufgefasst werden können. Auch bei Akanthometren konnte ich in unmittelbarer Nähe vollkommen normaler gelber Zellen solche Stärkekörnchen auffinden, dagegen vermisste ich dieselben stets in algenfreien Exemplaren. Endlich habe ich bei Collozoum und Sphaerozoum wiederholt nach Jodbehandlung 184 K. Brandt, Über Chlorophyll im Tierreich. grosse, blassviolette Flecke in der extracapsularen Sarkode bemerkt, welche wohl halbverdaute Stärke darstellen. Aus den mitgeteilten Beobachtungen geht hervor, dass die Assimi- lationsprodukte der lebenden gelben Zellen den Tieren teilweise zu gute kommen und dass die Algen so ihre Wirte ernähren können. In dieser Hinsicht zeigt die Symbiose von Algen und Tieren grosse Ähnlich- keit mit dem Zusammenleben von Algen und Pilzen zu den sogenannten Flechten. Auch bei den Flechten liefern die Algen für die auf ihnen schmarotzenden Pilze das Nährmaterial. Die Algen erzeugen aus anor- ganischen Stoffen, bei deren Zuführung ihre Schmarotzer behilflich sind, organische Substanzen, und die Pilze verbrauchen davon. In beiden Ge- nossenschaftsverhältnissen, sowohl bei den Flechten als bei den mit Algen vergesellschafteten Tieren, erscheinen die Algen wie Gewebsteile der Flechten bez. Tiere und entsprechen in ihrer Hauptfunktion den Chloro- phylikörpern der Pflanzen. Die meisten Forscher, welche sich bisher mit der Symbiose von Algen und Tieren beschäftigt haben, sehen den wesentlichsten Vorteil der Algen für die Wirttiere in der Produktion von Sauerstoff, und GEDDES sucht das sogar zu beweisen. Wie in einem früheren Hefte des »Kosmos« (6. Jahrgang, Bd. 11, p. 223) ausführlicher besprochen ist, fand er, dass Algen, wie Ulwa, Haliseris und Diatomeen, mehr Sauerstoff entwickeln als algenführende Tiere. Daraus kann man aber nicht mit GEpDEs fol- gern, dass die Differenz beim Passieren des Tierkörpers verbraucht und dem Wirte zu gute gekommen ist. Die Gesamtmenge des Chlorophylis, welches Aktinien und andere algenführende Tiere in ihren gelben Zellen besitzen, ist stets erheblich geringer als die in freilebenden Algen. Es ist daher ganz natürlich, dass die algenführenden Tiere weniger Sauerstoff ausscheiden als die Algen, ebenso wie es nicht auffallend ist, dass z. B. Diatomeen weniger Sauerstoff produzieren als Ulven. Obwohl bei den Diatomeen und den Ulven die Differenz der Menge des produzierten Sauer- stoffes viel bedeutender ist, als zwischen algenführenden Tieren und freien Algen, so wird man doch nicht behaupten können, dass die Diatomeen mehr Sauerstoff verbrauchen als die Ulven. Auch die anderen Beweise sind nicht stichhaltig. So ist z. B. die Behauptung entschieden unrichtig, dass die algenführenden Tiere besser als die verwandten algenfreien Spezies in schlechtem Wasser zu leben vermögen. Bei zahlreichen Versuchen, welche ich in dieser Hinsicht anstellte, ergab sich, dass von den Aktinien gerade Anthea cereus var. plumosa, die nach Behauptung von GEDDESs am meisten gelbe Zellen von allen Aktinien enthalten soll, beim Verderben des Wassers zuerst stirbt, während die gänzlich algenfreien Arten Dunodes und Actinia mesembryanthemum kaum durch Ausfaulen des Wassers zu töten sind. GEppES’ weitere Angabe, dass von den Medusen die algen- führende Cassiopea wochenlang, die algenfreie Pelagia aber nur einen oder höchstens zwei Tage im Aquarium leben, ist ebenfalls unrichtig. Zwischen der Lebenszähigkeit der beiden Quallen ist kein nennenswerter Unterschied vorhanden. Endlich glaubt Geppes noch durch eine Be- obachtung an Anthea zeigen zu können, dass den algenführenden Tieren die Sauerstoffproduktion seitens ihrer eingemieteten Algen nützlich und K. Brandt, Über Chlorophyll im Tierreich. 185 angenehm sei. Er beobachtete, dass die Antheen im Sonnenlichte ihre Tentakel schwingen, >wie wenn sie angenehm erregt würden, von dem in ihren Geweben entwickelten Sauerstoff.< Man könnte gewiss mit dem- selben Rechte das Gegenteil behaupten und die Bewegung der Tentakel für Unlust und die Ruhe für Behagen deuten. Versuche zeigen auch, dass die letztere Auffassung berechtigter ist, denn die Erregung ist weder eine Folge der Lichtwirkung, noch ist sie angenehmer Natur. Die leb- haften Bewegungen, welche Aktinien bei direkter Belichtung ausführen, haben vielmehr in der zu starken Erwärmung des Wassers ihre Ursache. Sie finden sowohl bei algenführenden wie bei algenfreien Exemplaren von Anthea u. s. w. statt, und es ist dabei vollkommen gleichgültig, ob man die Temperaturerhöhung durch Einwirkung direkten Sonnenlichtes oder unter möglichstem Liehtabschluss auf dem Wasserbade ge- schehen lässt. Ebenso unbegründet ist die weitere Behauptung, dass den Tieren nur geringe Sauerstoffentwickelung angenehm, starke oder lange fort- gesetzte dagegen lebensgefährlich sei. Zum Beweise führt GEpDES an, dass Aktinien ein »dunkles ungesundes Ansehen« bekommen, wenn sie einen ganzen Tag lang der Einwirkung direkten Sonnenlichts ausgesetzt gewesen sind, und dass Radiolarien in derselben Zeit getötet werden. Damit sei auch die eigentümliche Lebensweise der Radiolarien erklärt. Sie verlassen angeblich früh morgens die Oberfläche des Meeres und sinken in dunklere Tiefen, um allzuschneller Sauerstoffproduktion seitens ihrer gelben Zellen vorzubeugen. Das Untersinken sei noch dadurch be- günstigt, dass durch die in den gelben Zellen erzeugten Stärkemassen das spezifische Gewicht vermehrt wird. Dagegen ist einzuwenden, dass die Radiolarien überhaupt gar nicht das Licht fliehen, sondern im grell- sten Sonnenschein zu Tausenden an der Meeresoberfläche zu finden sind. Weder das Licht noch die Sauerstoffproduktion üben, wie Versuche sofort lehren, einen ungünstigen Einfluss auf die Radiolarien aus. Wenn man die Erwärmung ausschliesst, kann man sie stundenlang dem direkten Sonnenlicht aussetzen, ohne dass sie — trotz reichlicher Sauerstoffent- wickelung und Stärkeproduktion — irgend welche Neigung zum Unter- 'sinken verraten. Auch das »ungesunde Ansehen« der Antheen hat in- folge unrichtiger Versuchsanordnung nur in der zu starken Erwärmung des Wassers seinen Grund. Es ist also weder ein angenehmer und vor- teilhafter, noch ein todbringender Einfluss des von den Algen entwickelten Sauerstoffes bei den Tieren nachzuweisen. Alle bis jetzt bekannten algenführenden Tiere leben in sauerstoff- reichem Wasser, oft aber unter Bedingungen, in welchen sie wenig Ge- legenheit haben, sich nach Art von Tieren durch Aufnahme und Ver- dauung von anderen Lebewesen zu ernähren. So finden sich z. B. die gelben Zellen vorzugsweise in festsitzenden oder in flottierenden pela- gischen Tieren, die nicht im stande sind, ihre Beute zu verfolgen. Ähn- lich ist das Verhältnis bei den Flechten. Sauerstoff finden die Pilze da, wo sie mit Algen zu Flechten vereinigt sind, in mehr als hinreichender Menge. Da sie sich aber nicht, wie die chlorophyllhaltigen Pflanzen, selbst organische Stoffe zu bereiten vermögen und an nackten Felswänden 186 L. Zehnder, Über den Bau der Kometen. weder zu parasitischer noch zu saprophytischer Ernährungsweise Ge- legenheit haben, so sind sie ganz auf die Assimilationsthätigkeit ihrer Algengenossen angewiesen. Bei den Flechten sowohl als bei den algen- führenden Tieren besteht die hauptsächlichste Bedeutung der Algen in der Lieferung von Nährstoffen. Ausserdem kommt auch, wie zuerst v. GrAFrF ausgesprochen hat, in vielen Fällen die durch die ‚Algen her- vorgerufene grüne Färbung als Schutzfärbung dem Wirte zu gute. Dagegen ist die Ansicht, dass eine wesentliche oder sogar die haupt- sächlichste Bedeutung der Algen für die Wirttiere in der Sauerstoffent- wickelung und der dadurch bedingten »günstigen Gewebsrespiration« be- ruhe, ungerechtfertigt. Über den Bau der Kometen.“ Von L. Zehnder (Basel). (Mit 5 Holzschnitten.) Die rätselhaftesten Gebilde unseres Sonnensystems sind unzweifel- haft die Kometen; über ihre Natur ist sozusagen gar nichts bekannt. Das wenige Gewisse, das uns die neuesten genaueren Beobachtungen und die Spektralanalyse an die Hand geben, hat nur zu gewagten Spe- kulationen und zu seltsamen, unglaubwürdigen Hypothesen Anlass gegeben. Eine richtige und unanfechtbare Vorstellung von der Zusammensetzung der Kometen ist bisher nicht veröffentlicht worden. Die gegenwärtig von den meisten Astronomen adoptierte Anschauung ist in kurzen Zügen folgende (nach Ougers, BEsseL, ZÖLLNER, SIEMENS U. a.): Der Kopf des Kometen besteht aus einer wolkenartigen Ansamm- * Bemerkung der Redaktion. Wir verhehlen uns nicht, dass die in vorstehender Arbeit ausgesprochenen Ansichten zu mancherlei Bedenken Anlass geben mögen. Dabei scheint sie uns aber zugleich einige sehr beachtenswerte Ideen zu enthalten, unter denen besonders darauf hingewiesen sei, dass in rascher Bewegung befindliche Himmelskörper von sehr grossen Dimensionen unserem Auge eine andere Gestalt darbieten müssen, als sie wirklich besitzen. Aus diesem Grunde haben wir uns zur Aufnahme der ein so bedeutsames Thema behandelnden Arbeit entschlossen, müssen aber natürlich dem Verfasser die volle Verantwortlichkeit auch für seine thatsächlichen Angaben und Berechnungen überlassen. L. Zehnder, Über den Bau der Kometen. 187 lung von Meteoriden, der Kern ist der dichtere, die Coma der den Kern umhüllende weniger dichte Teil dieser Wolke. Der ganze Komet wird von der Sonne angezogen und gehorcht den Gesetzen der Gravitation, genau wie die übrigen Sonnentrabanten. Wenn nun der Komet in die Nähe der Sonne gelangt, so tritt entsprechende Erwärmung seines Kopfes ein. Ein grosser Teil der Masse verdunstet, erhält eine der Sonnen- Elektrizität gleiche Elektrizität, wird infolge dessen von der Sonne ab- gestossen und erscheint uns als Kometenschweif. Je näher der Komet der Sonne steht, um so stärker ist die Verdunstung, um so grösser auch die elektrische Abstossung: es wird also in der Sonnennähe der Kometen- schweif am glanzvollsten erscheinen müssen. Aus der abstossenden Wirk- ung der Sonne ergibt sich, dass der Schweif immer vom Kern aus an- fangend, der Sonne entgegengesetzt gerichtet erscheinen muss. Wenn unser Jahrhundert schon vielfach das elektrische genannt wurde, so hat dies allerdings gute Gründe. Ausserordentlich viel ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten im elektrischen Gebiete geleistet worden. Dass aber für alle Naturerscheinungen, die man noch auf keine andere Weise erklären kann, die Elektrizität herhalten muss und dass man derselben gar noch Kräfte zuschreibt, deren Vorhandensein allen unsern bekannten und bewährten physikalischen Gesetzen geradezu Hohn sprechen würde, das scheint mir in der That höchst ungerechtfertigt. Die Elektrizität hat ihre ungeheure Wichtigkeit, das ist gewiss, allein ihre Bedeutung überschätzen ist gerade so fehlerhaft wie sie unter- schätzen. In meiner Abhandlung in Dixster’s polytechn. Journal 1883 Bd. 249 S. 395 ff. über die atmosphärische Elektrizität habe ich vorläufig nur durch Aufdecken von Widersprüchen und Verstössen gegen bewährte physikalische Gesetze gezeigt, dass die oben angedeutete Annahme einer Sonnen-Elektrizität von ungeheurer Spannung eine durchaus unrichtige sein muss, nähere Untersuchungen über die notwendige Beschaffenheit der Sonnenoberfläche einer spätern Arbeit überlassend. Mit demselben Rechte frage ich die Urheber der elektrischen Kometentheorie, wie sich auf den Kometen nur die der Sonnenelektrizität gleiche Elektrizität bilden soll, ohne die entgegengesetzte? Es wird hierfür nie ein stichhaltiger Grund erfindbar sein, wenn nicht unsere ganze jetzige Elektrizitätslehre völlig umgestossen wird. Aber noch viele andere Einwände bieten jener Theorie unübersteigliche Schwierigkeiten : Die Sonne soll z. B. von ihrem ungeheuren Vorrat von Elektrizität den Planeten und Kometen abgeben, indem die letztere ähnlich wie das Licht in den Raum ausströmt und so jene Trabanten trifft? Auf unserer Erde sind die Kraftäusserungen dieser Sonnenelektrizität auch mit unseren empfindlichsten Apparaten unmessbar. Wir drehen uns auf unserer Erdkugel herum, sind mittags der Sonne zu, nachts von ihr abgewandt, ohne eine Spur von der un- geheuren elektrischen Wirkung der Sonnenelektrizität zu empfinden, wäh- rend ein Komet, welcher z. B. viermal weiter als die Erde von der Sonne entfernt ist, so sehr von der Sonne influiert werde, dass die den Schweif bildenden Teilchen mit ganz unbegreiflicher Geschwindigkeit vom Kopfe weggetrieben werden, ziemlich in der der Sonne entgegengesetzten 188 L. Zehnder, Über den Bau der Kometen. Richtung! — Sein Kopf selbst werde hingegen weder angezogen noch abgestossen von diesen elektrischen Kräften! Ganz besonders bei der Sonnennähe müsste die abstossende Kraft der Sonne eine unglaublich grosse sein, wenn sie im stande sein sollte, die Kometenmaterie direkt vom Kometenkopf aus in der angenähert der Sonne entgegengesetzten Richtung abzustossen. Wenn irgendwelche Materie in dieser Weise ab- gestossen würde, so müsste bei ihrer Entwickelung aus dem Kometen- kopfe ihre Anfangsgeschwindigkeit (in Beziehung auf den bewegten Kometenkopf als Ausgangspunkt) gleich Null sein und sie würde pro- gressiv mit dem durchlaufenen Wege anwachsen. Der beschriebene Weg der Materie, welche den sichtbaren Schweif darstellt, müsste also im Zentrum des Kometenkopfes die Kometenbahn tangieren, nicht nahezu senkrecht auf ihr stehen. Gesteht man jener elektrischen abstossenden Kraft die grösste von uns beobachtete beschleunigende Wirkung zu, in- folge deren die Kometenmasse allmählich eine Geschwindigkeit von einigen hundert Kilometern per Sekunde annähme, so würde trotz alledem die Schweifkurve sehr deutlich mit der Bahn die gleiche Tangente besitzen und nur allmählich in grosser Kurve eine der Richtung zur Sonne direkt entgegengesetzte Richtung einschlagen. Mit keiner nur denkbaren Ge- schwindigkeit irgend einer Materie gelangen wir zu einem genügenden Resultate und müssen ausserdem noch bedenken, dass eine so leichte, dünne und durchsichtige Masse, wie die Kometenmasse sein soll, in ihrer Geschwindigkeit gewiss viel mehr begrenzt sein muss als die feste Pla- netenmasse, weil vermutlich der Äther, das widerstehende Mittel, ihr grössere Hindernisse bietet als den gewichtigen festen Körpern. Manche Kometen-Beobachter wie HAtrLEey, Doxatı und viele andere wollen gesehen haben, dass sich aus den Kometenkernen eine gasartige Masse entwickelte, die sich zuerst in der Richtung gegen die Sonne be- wegte, nachher sich umwandte und in den Schweif überging, also direkt von der Sonne sich entfernte. Bei diesen Kometen wäre also die Be- wegungsrichtung und Geschwindigkeit der ausströmenden Materie gegeben. Die elektrische Masse müsste sich mit plötzlich eintretender ungeheurer Geschwindigkeit vom Kopf losgelöst und gegen die Sonne bewegt haben. Ihre Geschwindigkeit würde abnehmen, nahezu auf Null heruntersinken und müsste in entgegengesetzter Richtung wieder so schnell anwachsen, dass die Materie bei ihrer Rückkehr den Kometen noch an der nämlichen Stelle anträfe, an welcher sie ihn verlassen. Die Masse würde sich hier- auf zu beiden Seiten des Kopfes an demselben gleichmässig vorbei- bewegen, um in den Schweif überzugehen. An diesem Beispiel lässt sich am besten nachweisen, dass jene Ausströmungshypothese elektrischer Materie zu ganz unmöglichen Geschwindigkeiten führt. Nehmen wir an, der Weg, den die elektrische Materie vom Kopfmittelpunkte aus gegen die Sonne zurückzulegen hätte, betrage 10000 km und ebensoviel der hückweg bis zur Mittellinie der Kometenbahn. Weniger als so viel können wir nicht wohl annehmen, wenn ein wirkliches Ausströmen sicht- bar gewesen sein soll. Ferner habe der Kometenkern 1200 km, die Coma dagegen einen Durchmesser von 20000 km, die Kometen-Ge- schwindigkeit sei 100 km per Sekunde. Wenn die Materie nun 10000 r L. Zehnder, Über den Bau der Kometen. 189 km gegen die Sonne und einen gleichen Rückweg durcheilt hat, so darf der Kometenkopf-Mittelpunkt noch nicht um "/5o seines Durchmessers — 400 km fortgeschritten sein, denn bei einer so grossen Ortsver- änderung würde die eine Hälfte der Coma nur 9000, die andere aber 9800 km breit sein (Fig. 1), also nahezu 10°/o breiter hinter dem Ko- meten (in seiner Bahnrichtung) als vor demselben, welche Differenz un- fehlbar auffallen müsste. 400 km werden aber vom Kometen in 4 Se- kunden zurückgelegt. Die elektrische Materie müsste also in 4 Sekunden den Weg von 10000 gegen die Sonne und 10000 zurück —= 20.000 km zurücklegen, also 20000 :4 —= 5000 km mittlere Geschwindigkeit per Sekunde haben, ein Wert, von welchem die grösste uns bekannte Ge- schwindigkeit wirklicher Materie nur ungefähr den zehnten Teil ausmacht, ganz abgesehen von dem bei weitem grösseren Geschwindigkeitsmaximum, welches erreicht werden muss, weil während verhältnismässig langer Zeit "1200< Flugbehn a NEE ALU TE 0 DENE oem Pl. E Richtung 18000--- K-a= ' R-- 9000-»1200%---9800--—- 2 1 1--9490-- 12008--9400---% 5 En ! K---19000----%- --/0000---a 5 ı i ı | h Sonnen -\, Richtung. Fig. 1. am Anfange der Bewegung und bei der Umkehr in die entgegengesetzte Richtung die Geschwindigkeit = 0 ist. Man wird hier vielleicht ein- wenden, ein Widerstand des Äthers sei absolut nicht möglich und nicht nachgewiesen. Infolge dessen müsse die elektrische Materie ausser der oben betrachteten Bewegung sich noch mit der Geschwindigkeit des Ko- meten selbst in der Richtung seiner Bahn bewegen. Unter Zugrunde- legung dieser Ansicht wollen wir die mittlere Geschwindigkeit berechnen, welche jener elektrischen Materie innewohnen müsste, damit sie einen Kometenschweif in annähernd der Sonne entgegengesetzter Richtung bilden könnte. Würde die Mittellinie des Schweifes mit der Verbindungs- linie von Sonne und Kometenkopf den Winkel « bilden, so wäre un- gefähr cotangens & gleich dem Verhältnis der gesuchten Geschwindigkeit der elektrischen Kometen-Materie zur Kometen-Geschwindigkeit, welche wir wie oben — 100 km per Sekunde annehmen wollen. _ 190 L. Zehnder, Über den Bau der Kometen. Es ist nun annähernd km per Sekunde fire = MU cootg a —= 4 also Geschw. der elektr, Materie = 4%xX100= 1400 N SR er) ‚ = 3x I TE a) — IX IO TIERE ln, — 29% 100 2900 je, 2 ehe — 1x 1038 150° MN, u — 115:X 10 Z1508 U 3 — 344 X 100 —= 34400 Wie oben angedeutet ist die grösste wahrscheinliche, uns bekannte Ge- schwindigkeit wirklicher Materie ca. 570 km per Sekunde, es würde aber die Bedingung, dass der Kometenschweif sich nur um einen Winkel von 7° von der genauen Sonnenrichtung abwenden dürfe, schon auf 800 km, noch kleinere Winkel und grössere Kometengeschwindigkeiten, z. B. 570 km per Sekunde, progressiv auf ganz ungeheure Geschwindigkeiten führen, auf Werte, die nach unseren Begriffen nur von materielosen Erscheinungen wie Licht und Elektrizität erreicht werden. Weil die erwähnte elektrische Materie überhaupt so grosse Ge- schwindigkeiten schon im Momente ihres Entstehens aufweisen müsste, dass unsere intensivsten Explosionen nur ein Kinderspiel dagegen wären, so müsste auch die Repulsivkraft dieser Materie gegen den Kometenkopf während des Ausströmens gegen die Sonne hin eine ungeheure sein, die noch unterstützt würde durch die elektrisch abstossenden Kräfte von Sonne und Kometenkopf, welche beide Körper gleichartige Elektri- zitäten entwickeln sollen. Alle diese Kräfte dürften nicht im stande sein, den Kometen in irgendwelcher Weise aus seiner durch die Gravitation vorgeschriebenen Bahn zu heben. Und doch könnte gewiss die Wirkung jener Repulsivkraft der ausströmenden Materie auf den‘ Kometenkopf keine untergeordnete sein, wenn man in Betracht zieht, dass die Schweif- materie oft einen Millionen und Billionen mal grösseren Kubikinhalt besitzt, als der Kometenkopf selbst. Die Annahme einer zu geringen Dichtigkeit des Schweifes schliesst dessen Sichtbarkeit für uns völlig aus. Wenn man aber auch über alles irgendwie Vorstellbare hinausgeht, so muss doch die Gesamtmasse des Schweifes zur Masse des Kopfes in einem Verhältnis stehen, das sehr fühlbare Kraftäusserungen notwendig macht und das auch unbedingt dem Kometen nur ein Bestehen von einigen Stunden gestatten könnte. Nach dieser Zeit müsste die gesamte Kometenmasse verdunstet und in den Weltraum zerstoben sein. Man sieht aus diesen Erörterungen, dass wir bei näherer Be- trachtung zu Werten gelangen, von denen wir uns absolut keine Vor- stellung mehr machen können. Es bleibt nur übrig einzuwenden, die Kometenmasse habe eben auf der Erde gar kein Analogon; infolge dessen sei es unmöglich, sich die Vorgänge vorzustellen. Aller Wahrscheinlich- keit nach und allen Beobachtungen am besten entsprechend geschehe eben die Ausströmung wie beschrieben und es werden sich wohl nie bessere Erklärungen vorbringen lassen. Die Kometenmasse sei unglaublich gering, die elektrische Materie des Schweifes, welche dem Kopf entströmt, soll wiederum im Vergleich L. Zehnder, Über den Bau der Kometen. 191 zur Kometenkernmasse selbst von unglaublich geringer Dichtigkeit sein und doch müsste sich diese Materie später in so unermesslicher Weise verdichten, dass sich Meteoriden bilden, bestehend aus Eisen, Gesteinen etc. etc., welche ziemlich häufig die Bahn unserer Erde kreuzen und in- folge dessen sich auf dieselbe stürzen. Die elektrische Repulsivkraft des Kometenkopfes auf die Kometenmasse wird unglaublich gross angenommen, dieselbe Repulsivkraft von der Sonne aus desgleichen. Umgekehrt sei die Reaktion der Schweifmaterie auf den Kometenkopf gleich Null und die Wirkung der Sonne auf den Kometenkopf von ganz verschwindendem Einfluss, während doch Kometenkopf und Sonne ungeheure Ladungen gleichartiger Elektrizität haben müssten. Wiederum wäre aber die Geschwindigkeit, mit welcher die elektrische Kometenmaterie in den Weltraum hinausgeschleudert würde, eine so ungeheure, dass sie an diejenige des Lichtes grenzen müsste. Für manchen beneidenswert ist derjenige, welcher alles dieses Un- glaubliche gläubig annimmt und sich damit tröstet, man kenne eben hier auf der Erde kein Analogon für die Kometenmaterie. Noch glück- licher, wer diese Werte so zu ‚kombinieren vermag, dass sich alles zu einem harmonischen Ganzen gestaltet. Wahrhaftig! Mir ist sol- ches nicht möglich und ich begreife auch niemals, wie man bei solchen kläglichen Resultaten in grösster Gemütsruhe und Genügsam- keit stehen bleiben konnte, anstatt fortwährend neue Gesichtspunkte aufzudecken und sein möglichstes zur Aufklärung dieser glanzvollen und doch in ihrem Wesen noch so unergründeten Erscheinungen beizu- tragen. Licht in diese Kometenerscheinungen zu bringen, soll meine jetzige Aufgabe sein und zwar nicht bildliches, sondern wirkliches Licht. Wir kennen die Geschwindigkeit des Lichtes; sie ist ungefähr 300000 km per Sekunde, ein Wert, mit welchem die Geschwindigkeit der Kometen- schweifmaterie vergleichbar wird. Wir kennen die Kometenmaterie: Es ist die Materie der Meteore und Aerolithen, allgemein der Meteoriden. Wir wissen ferner, dass die Masse des Kometenkopfes weder gasförmig noch flüssig, noch auch fest sein kann und dennoch durch starke Kräfte verbunden zu sein scheint. Das Kometenspektrum lässt auf vorhandene feste Materie mit reflektiertem Licht und auch auf selbstleuchtende Gase schliessen. Es ist sogar bereits die bestimmte Vermutung ausgesprochen worden und hat sehr vielfachen Anklang gefunden, die teleskopischen Ko- meten (ohne Schweif) bestehen aus einer ausserordentlich grossen Anzahl diskreter Teilchen, weil die Sterne ohne Lichtbrechung, also ohne schein- bare Ortsveränderung sogar durch den Kometenkern hindurch gesehen werden können. Mehr zu wissen haben wir vorderhand nicht nötig, denn sehr vieles lässt sich durch richtige Kombinationen und Reflexionen aus obigem ableiten. Gehen wir von dem vollständigen Sonnensystem aus: Der Zentral- körper (die Sonne) sei unbeweglich. Um denselben drehen sich in nahezu kreisförmigen Bahnen die Planeten und Planetoiden, deren sämtliche Bahnen mit der Ekliptik nahe zusammenfallen. Quer durch die Ekliptik gravitieren eine Anzahl von Kometen und Meteoridenschwärmen in lang- 192 L. Zehnder, Über den Bau der Kometen, gestreckten Ellipsen ebenfalls um die Sonne. Dieses System lassen wir nun in Gedanken folgende Veränderungen durchmachen: Sämtliche Planetenmasse denke man sich nicht in Gestalt von wenigen Kugeln um die Sonne kreisend, sondern in Form von unzähligen Planetoiden, welche in der ganzen Ekliptik ungefähr gleichmässig verteilt sind. — Die bestehenden Planetoiden beweisen, dass das Sonnensystem diese Form haben könnte, wenn die Bedingungen zur Planetenbildung andere gewesen wären. — Es bestehe auch der Zentralkörper nicht aus einer einzigen grossen Kugel, sondern aus einer sehr grossen Zahl kleinerer Körper, deren Gesamtmasse gleich der Masse des Zentralkörpers_ ist. Gibt man allen diesen Körpern eine Revolutionsbewegung in der Ekliptik um den Mittel- und Schwerpunkt ihrer ganzen Masse, in welchem Mittel- punkt sich eine verhältnismässig etwas grössere Kugel befinden mag, so hat diese Veränderung resp. die Zerteilung des Zentralkörpers in ausser- ordentlich viele kleinere Zentralkörperchen auf die ausserhalb befind- lichen Planetoiden sozusagen absolut keinen Einfluss. Nach diesen Ver- änderungen besitzen wir nun folgendes System: Um eine ganz kleine Zentralsonne kreisen sehr viele noch kleinere Zentralkörper ziemlich nahe beisammen, so dass sie von weitem betrachtet das Aussehen eines zusammenhängenden Körpers haben können. Ihre Gesamtmasse und also die Wirkung nach aussen ist diejenige der Sonne selbst. Um diese Zentralkörper bewegt sich die gesamte Planetenmasse (ca. !/oo der Sonnenmasse) in Form von sehr kleinen Planetoiden. Die Drehung finde nahezu in einer Ebene statt, welche fast senkrecht durch- schnitten wird von einer grossen Zahl von Kometen und Meteoriden- schwärmen. Nach dem bekannten Gravitationsgesetz hat ein solches System unbedingte Existenzberechtigung, so gut wie unser jetziges Sonnensystem. An dieses System legen wir nun den Massstab der Ver- kleinerung an: Die sämtlichen Planetoiden sollen in ganz kleine Körperchen zu- sammengeschrumpft gedacht werden, so klein wie etwa die Meteoriden sein mögen. Es kann dies ihre Revolutionsbewegung um die gemein- samen Zentralkörper in keiner Weise behelligen, noch die Geschwindig- keit in ihrer Bahn verändern. Ferner sei die Masse der Zentralkörper nicht mehr glühend und sende kein Licht mehr aus, sie sei statt dessen erstarrt und kalt. So lange nur ihre Gesamtmasse dieselbe bleibt, ändert sich in der Geschwindigkeit der Planetoiden nichts. Die Attraktionskraft von welcher jene Geschwindigkeit direkt abhängt, ist für jedes Körperchen, für den Fall, dass die Masse aller Planetoiden im Verhältnis zu der Zentralkörpermasse als verschwindend klein angenommen wird, proportional M Masse der Zentralkörper 2 ı? ° Quadrat der Entfernung der betr. Planetoiden vom Schwerpunkt aller Zentralkörper. Wenn wir nun unser ganzes beobachtetes System kleiner und kleiner werden lassen, bis der neue Halbmesser ein Hundertstel des früheren Halbmessers r geworden ist, so wird dadurch r? auf ein Zehntausendstel gebracht. Wenn wir gleichzeitig M auf ein Zehntausendstel des früheren L. Zehnder, Über den Bau der Kometen. 193 Wertes bringen, so bleiben die auf die Planetoiden wirkenden beschleu- nigenden Kräfte dieselben ; bei weiterer Verringerung von M wird nun stets die Geschwindigkeit der die Zentralkörper umkreisenden, nun zu Meteoriden gewordenen Planetoiden abnehmen, aber eine Revolution findet nach wie vor statt. Nach allen diesen Reduktionen habe nun unser betrachtetes System ungefähr folgende Gestalt: Im Schwerpunkt befinde sich ein kalter Körper noch etwas kleiner als die kleinsten der uns jetzt bekannten Planetoiden, also z. B. mit einem Durchmesser von ca. 1—D5 km. Um diesen drehe sich eine Scheibe von ca. 2000 km Durchmesser und ca. 100 km Dicke, bestehend aus den mehrfach erwähnten Zentralkörperchen von ca. 100 bis 1000 m Durchmesser, und ausserhalb dieser Scheibe kreisen in gleicher Ebene die sämtlichen Meteoriden bis in eine Ent- fernung von ca. 50 Millionen km vom Mittelpunkte aus. Die Durch- messer der Meteoriden sollen durchschnittlich nur ca. 1 m betragen. Wir denken uns nun dieses ganze Rotationssystem in zur Ekliptik senk- rechter Richtung ungefähr in die Entfernung des Neptun von unserer Sonne versetzt, so werden wir unmöglich nur eine Spur von demselben wahrnehmen können. Trotzdem übt die Sonne ihre anziehende Kraft auf das System aus, zieht es gegen sich und für den Fall, dass dasselbe keine Anfangsgeschwindigkeit abweichend von der Sonnenrichtung hätte, würde das Zentrum desselben immer schneller gegen die Sonne sich be- wegen und sich schliesslich in dieselbe stürzen. Diesem wirken aber besonders die grossen Planeten Jupiter und Saturn entgegen, indem sie eine kleine seitliche Anziehung auszuüben im stande sind, infolge deren die geradlinige Bahn sich in eine Kurve verwandelt und also das Zentrum des Systems an der Sonne vorbei, um sie herumfliegt und in entgegen- gesetzter Richtung auf angenähert elliptischer Bahn wieder in die Nähe des Ausgangspunktes zu gelangen sucht. Das System wird uns bei grosser Sonnennähe als (teleskopischer) Nebelfleck sichtbar sein, die sehr exzentrische Bahn und deren grosse Neigung sind Anhaltspunkte, dass wir dasselbe als Kometen betrachten und in deren Zahl einreihen. Wir unterscheiden deutlich die Gruppe der grösseren Zentralkörper als Kern, die kleineren sie umkreisenden Meteoriden als Coma des Kometen. Auf einen Kometenschweif könnte aus den bisherigen Betrachtungen ‘nicht geschlossen werden, es sind also weitere Untersuchungen über die Be- schaffenheit des Systems eines solchen Meteoridenschwarmes vorzunehmen. Wir haben uns sowohl Sonne als Planeten in eine unendliche Zahl kleiner Körperchen, der Meteoriden, geteilt gedacht. Es folgt daraus, dass die Atmosphären jener Körper ebenfalls zu teilen sind. Alle ent- standenen Meteoriden haben ihre kleinen Atmosphären, die im Verhältnis sehr dünn und gering wären, wenn die Schwerkraft, welche jeder Körper auf die ihn umgebenden Gase ausübt, z. B. gleich der Schwerkraft un- serer Erde wäre. Dem ist aber nicht so: Die von so kleinen Meteoriden entwickelte Schwerkraft und also ihr Luftdruck auf der Oberfläche ist nahezu gleich Null. Die Gase haben ganz ungehinderte Freiheit, sich ausserordentlich auszudehnen, so dass solche Atmosphären ein bei weitem grösseres Volumen erreichen als die festen Kerne der Meteoriden selbst. Kosmos 1884, I, Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XIV). 13 194 L. Zehnder, Über den Bau der Kometen, Denken wir uns vor allem die den Kometenkern bildenden Zentral- körperchen von sehr umfangreichen Atmosphären umgeben, welche zum mindesten das hundertfache Volumen der festen Körper einnehmen; die dunkel dunkel Punef der Sonnen -Oberfläche Sonne sehr nahe, Sonne sehr weit entfernt Fig. 2. die Coma bildenden mittelgrossen Me- teoriden seien mit verhältnismässig kleineren und die ausserhalb der Coma herumkreisenden ganz kleinen Meteori- den mit noch geringeren Atmosphären ausgestattet. Ein solcher Meteoriden- schwarm mit einer Umlaufszeit von eini- gen hundert Jahren wird in der Sonnen- ferne vollständig die ungeheure Kälte des Weltraums annehmen, seine ein- zelnen Körper haben zu geringe Dimen- sionen, als dass sie der stets einwir- kenden Kälte’ jahrelang zu widerstehen vermöchten. Umgekehrt wirkt aber die Sonne sehr erwärmend auf die einzelnen Körperchen ein, sobald dieselben in ihre Nähe gelangen. Zweifellos sind die festen Teile rasch um einige hundert Grad erwärmt und es werden infolge dessen ausser Wasser und anderen leicht flüch- tigen Stoffen mehrere weniger leicht zu verdampfende unter dem dort sozusagen verschwindenden Luftdrucke gasförmig. Bei der Sonnenannäherung nehmen die einzelnen Atmosphären ganz ausser- ordentlich an Grösse zu, in der Weise, dass die innerhalb derselben befindlichen festen Kerne nur noch einen äusserst ge- ringen Bruchteil des Ganzen ausmachen. Es ist leicht einzusehen, dass eine solche Gaskugel in der Nähe der Sonne wie eine Linse, ein Brennglas wirkt: Die Brechung der aus dem Äther in solche Kugeln von ausserordentlich ge- ringem Drucke und geringer Dichte ein- tretenden Lichtstrahlen kann entspre- chend nur ausserordentlich gering sein, aber eine Brechung aus einem Mittel ins andere findet statt und zwingt ganz besonders das durch die grössten Gas- kugeln der Zentralkörper geströmte Licht, anstatt sich von der Sonne aus gleichmässig auszubreiten, sich stärker zu kontrahieren und eine bedeutend grössere Helligkeit in dem von der Sonne aus gesehen hinter dem Kometenkopf liegenden Raume zu entwickeln (Fig. 2). L. Zehnder, Über den Bau der Kometen. 195 Die kleinsten Meteoriden von ungefähr 1 m Durchmesser, welche wir als in einer äussersten Scheibe um die Zentralkörper kreisend angenommen haben, können von uns auf so ungeheure Entfernungen nur gesehen werden, wenn sie diese helle Lichtzone passieren; sie selbst machen erst die Lichtzone sichtbar, ähnlich wie der feinste im Zimmer herum- fliegende Staub nur gesehen wird, wenn ein heller Lichtstrahl in das völlig dunkel gemachte Zimmer fällt. Ausser der Lichtzone scheinen die kleineren Meteoriden gar nicht vorhanden zu sein. Monde und Planetenringe der mit schnellerer fortschreitender Ge- schwindigkeit versehenen Planeten bewegen sich annähernd in der Ebene der Planetenbahn. Nehmen wir an, auch unser ganzes System der um ein Attraktionszentrum kreisenden Meteoriden, welches den Ko- meten bildet, drehe sich annähernd in derselben Ebene, in welcher ‚die Kometenbahn liegt, so wird dies System dem Erdbewohner als ein beschweifter Komet erscheinen. Die sämtlichen Zentralkörper bil- den zusammen den Kern, die grösseren Meteoriden, welche in beträcht- licher Zahl ganz in der Nähe der Zentralkörper kreisen und welche einen allmählichen Übergang von den grossen Zentralkörpern zu den ganz kleinen Meteoriden bilden, stellen die Coma dar. Alle diese Körper wären einzeln völlig unsichtbar, nur eine ungeheure Anzahl kleinster Lichtpunkte kann unserem Auge auf solche Distanzen sicht- bar werden. Je grösser die Lichtpunkte selbst und je mehr deren in einem kleinen Raume beisammen sind, um so heller ist eben der be- treffende Teil des Kometen. Von den ausserhalb der Coma liegenden Meteoriden sind alle diejenigen wie ein feiner Staub oder Nebel sichtbar, welche die Lichtzone passieren. Es wird daher diese Lichtzone selbst sichtbar. Jeder Lichtstrahl, welcher, durch die Atmosphären der Zen- tralkörper gebrochen, mit der Geschwindigkeit von 300000 km per Sekunde in den Raum flieht, trifft, so lange die Schweifentfaltung stattfindet, fortwährend neue, vorher unbeleuchtete Meteoriden,, erhellt sie und dieses stetige Hellerwerden macht auf unser Auge den Eindruck des Ausströmens. Der Verlauf der hellen Lichtzone ist durchaus nicht derjenige einer Geraden, sondern der einer transcendenten Kurve, die sich sehr bequem und übersichtlich durch Konstruktion der Resultierenden aus Liehtgeschwindigkeit und fortlaufender Geschwindigkeit des Kometen dar- stellen lässt (Fig. 3). Nach dem oben (Seite 190) erläuterten wird diese Schweifkurve nur um ca. 1 Bogenminute von der Sonnenrichtung abweichen, d.h. also der Sonne nahezu genau diametral gegenüberstehen. Während wir aber unter günstigen Verhältnissen einen von uns abge- wendeten Schweif von 150 Millionen km Länge in einem und demselben Moment übersehen, hat das Licht 500 Sekunden oder 8!/s Minuten zur einmaligen Zurücklegung jener Strecke nötig und trifft von den entfern- testen Meteoriden unser Auge beinahe 17 Minuten später als dasjenige von den uns zunächst befindlichen. Durch diese Verzögerung des Lichtes, welches den grossen Weg zweimal durchlaufen muss, bis es unser Auge erreicht, erscheint uns die Schweifkurve doppelt so stark gekrümmt als in Wirklichkeit. Kombinieren wir damit noch die relative Bewegung der 196 L. Zehnder, Über den Bau der Kometen. Erde zum Kometen, so wird sogar die scheinbare Kurve der hellen Licht- zone (des Kometenschweifes) im allgemeinen eine transcendente räum- liche Kurve, welche, von einzelnen Punkten des Sonnensystems aus gesehen, ziemlich scharfe Krümmungen auf- zuweisen hat; doch stimmt sie, so weit sie wenigstens sichtbar sein wird, mit dem Ver- lauf der geraden Linie nahezu überein, weil die Lichtgeschwindigkeit noch über 500 mal grösser als die grösste bekannte fortlaufende Geschwindigkeit eines Kometen ist. In ähnlicher Weise wie ein Ausströmen der Kometenmaterie in den Schweif, soll auch ein Ausströmen gegen die Sonne hin beobachtet worden sein. Ganz analog ist die Erklärung: Die Sonnenstrahlen dringen ein in die Atmo- sphären der Meteoriden; ein ganz kleiner Teil trifft den festen Kern und wird von ihm reflektiert nach allen Seiten, der grössere Teil passiert an demselben vorbei und setzt seinen Weg weiter fort. Der geringe reflektierte Teil lässt uns die betreffenden Meteoriden als Licht- pünktchen erscheinen, die uns nur in un- geheurer Anzahl sichtbar zu werden vermögen. Den Kern erkennen wir am besten, weil dessen Meteoriden am grössten sind und am meisten Licht reflektieren. Es ergibt sich aber unmittel- bar, dass die den Kern bildenden Zentral- körper ihre ganze Umgebung erleuchten müssen, und weil senkrecht auffallendes Licht sehr in- tensiv wirkt und entsprechend stark reflek- tiert werden muss, so werden uns viele zwi- schen Sonne und Kometenkopf sich bewegende Meteoriden sichtbar; denn ihre eine Hälfte wird direkt von der .Sonne, die andere Hälfte in- direkt durch das vom Kern des Kometen reflektierte Licht beleuchtet. Solche Licht- punkte gewinnen dadurch an Umfang und Hellig- keit und erhalten das Ansehen von gegen die Sonne gerichteten Schweifen. Sind die um das Attraktionszentrum kreisenden Meteoriden bald dichter gedrängt, bald spärlicher vorhanden, so scheint der gegen-die Sonne gerichtete Schweif abwechselnd länger und kürzer zu werden. Es bewirkt dies die scheinbare Ausströmung, ein Zurückbiegen, Zurückströmen u. s. w., überhaupt eine gewisse flackernde Bewegung, die eben zu allerlei Deutungen Anlass gegeben hat. Auch scheinbare pendel- artige Schwingungen des gegen die Sonne gerichteten Schweifes wurden L. Zehnder, Über den Bau der Kometen. 197 beobachtet. Sie erklären sich ausserordentlich leicht durch die oben ausgesprochene Annahme, die Meteoridenschwärme seien ringsum nicht von völlig gleichmässiger Dichte. Man sieht z. B. in regelmässigen Intervallen von einigen Tagen (3—7) eine deutliche Bewegung quer über den Schweif weg, und in der richtigen Voraussetzung, eine Bewegung könne nicht plötzlich spurlos verschwinden, gibt man sich der Täuschung hin, auch die Rückwärtsbewegung gesehen zu haben. Rotationsbewegungen von 3—7 Tagen gehören vollständig in das Gebiet der Wahrscheinlichkeit*. Mehrere Satelliten kreisen in diesen Zeiträumen um ihre Planeten. Zwar ist die Planetenmasse unvergleichlich grösser als die Masse eines Kometenkernes; dagegen sind aber auch die Entfernungen jener Monde von ihrem Planetenzentrum ausserordentlich viel grösser als die Entfernung der in 3—7 Tagen eine Rotation vollenden- den Meteoriden von ihrem Attraktionszentrum. Selbstverständlich haben die äussersten Meteoriden eines Kometen, in Distanzen von vielen Millionen Kilometer, entsprechende Umlaufszeiten von Jahrhunderten, so dass während der kurzen Sonnennähe des ganzen Kometen eigentlich nur ihre mit dem Kometen fortschreitende Bewegung in Betracht kommt. Eine wirklich stattfindende Rotation wäre unzweifelhaft schon längst nachgewiesen worden, wenn jene Schwingungen in denselben Perioden und abwechselungs- weise auch hinter dem Kometenkern sichtbar gewesen wären. Der Kometenkern besteht aber wie mehr erwähnt aus einer wesentlich stärkeren Ansammlung von grossen Meteoriden, zwischen welchen hindurch nur ein kleinerer Teil von Lichtstrahlen fallen kann. Es entsteht also gerade hinter dem Kern eine relative Dunkelheit, ein dunkler Streifen, welcher sich gewöhnlich durch den ganzen Kometenschweif hinzieht, und infolge dessen kann das Kreisen der Meteoriden hinter dem Kern weniger leicht erkannt werden. In ähnlicher Weise erklärt sich die Erscheinung eines flammigen Kometenschweifs aus sehr ungleichen Meteoridenansamm- lungen, Meteoridenringen. — Viele Schwierigkeiten in der Bestimmung des Aggregatzustandes der Kometenmasse machte stets der Umstand, dass vom Kometen verdeckte Fixsterne, nur unerheblich geschwächt, durch denselben, sogar durch den eigentlichen Kern hindurch gesehen werden. Als grössten Zentralkörper des Kometen habe ich einen solchen von höchstens 5 km Durchmesser in Betracht gezogen. Wenn dieser Körper mit einer Geschwindigkeit von nur 50 km per Sekunde zwischen uns und einer entfernten Lichtquelle hindurchfliegen würde, so hätte unser Auge eine Lichtunterbrechung von !/ıo Sekunde. Eine solche Unter- brechung, und wenn sie sich in der Sekunde oftmals wiederholen sollte, würde doch höchstens das Licht eines Fixsterns schwächen, dieser würde uns weniger hell erscheinen und schwerlich eine Spur von raschen Licht- änderungen (Funkeln) verraten. Nun sind aber nach unserer An- nahme die Durchmesser der einzelnen Meteoriden im Verhältnis zu ihren Abständen von einander ganz ausserordentlich klein. Es wird also nur im äussersten Zufall genau ein solcher Körper zwischen den betreffenden * Aus der Rotationsdauer lässt sich hier wie bei den Planeten auf die Masse der Zentralkörper schliessen. 198 L. Zehnder, Über den Bau der Kometen. Fixstern und unser Auge treffen. Häufiger kommen uns die Atmosphären der Meteoriden in den Weg. Aber auch diese bewegen sich mit so rasender Geschwindigkeit, dass nie an eine sichtbare Lichtunterbrechung, höchstens an eine Schwächung des Fixstern-Lichtes zu denken ist. Viel- leicht gelingt es späteren sehr genauen Untersuchungen, die Lichtstrahlen eines durch den Kometen verdeckten hellen Fixsternes mittels licht- starker Instrumente so auf ein Photophon zu leiten, dass die angedeuteten Variationen der Lichtintensität sich im Telephon kundgeben, so dass also gewissermassen der Komet gehört werden kann vermittelst der un- zähligen Unterbrechungen, welche seine kleinsten Teilchen, die Meteoriden, auf das konstante Licht der Fixsterne ausüben. Sehr interessant ist die allmähliche Schweifentwickelung bei der Annäherung der Kometen an die Sonne. Bei grossen Entfernungen fallen die Sonnenstrahlen beinahe parallel in die Meteoridenatmosphären ein, werden beim Ein-und Austritt gebrochen und vereinigen sich in einem Brenn- punkte sehr nahe hinter der Kugel, um sich nachher wieder stark zu zerstreuen. (Fig. 2.) Je kleiner dieser Zerstreuungswinkel ist, um so heller wird die Lichtzone. Je mehr also der Komet gegen die Sonne sich bewegt, um so näher rückt diese letztere einem Punkte, von welchem ausgehend das Licht jenseits in parallelen Strahlen austreten wird. Wenn demnach der wirksamste Teil, der Kern, der Sonne sich nähert, rücken die hinter den Atmosphären sich bildenden Brennpunkte, bis zu welchen sich doch mindestens die helle Lichtzone erstrecken muss, weiter und weiter vom Kern weg, die Lichtzone wird fortwährend grösser, der Kometenschweif länger. Das Maximum der Schweiflänge müsste in der Sonnennähe annähernd erreicht werden. Es wirkt aber die Sonne wie oben bemerkt (Seite 194 ff.) bei verhältnismässig so kleinen Distanzen stark verdunstend auf die Meteoriden ein und vergrössert deren Atmosphären sehr beträchtlich. Infolge dessen muss auch erst nach der Sonnennähe, wenn ungefähr der gasförmige Zustand der Materien auf ein Maximum gestiegen ist, die Schweiflänge ein Maximum erreichen. Ähnlich wie die Zunahme der Schweiflänge erfolgt die Abnahme derselben. Wir haben bisher angenommen, die Rotationsebene der Meteoriden liege in der Flugebene des Kometen, es ist dies aber gar nicht absolut notwendig. Wie die Satelliten oft in stark geneigten Ebenen um ihre Planeten sich drehen, so kann auch die Rotationsscheibe des Kometen schief zu der Ebene seiner Flugbahn stehen. In diesem Falle fällt die helle Lichtzone bald aus der Meteoriden-Rotationsscheibe hinaus und es resultiert nur ein sehr mässiger Schweif. Nur einmal tritt die Sonne in die Ebene dieser Scheibe ein — unserer Tag- und Nachtgleiche entsprechend — und in dieser kurzen Zeit muss der Schweif un- glaublich rasch zu- und aber beim Austritt der Sonne ebenso rasch wieder abnehmen. Alle sehr raschen, sozusagen plötzlichen Formänderungen des Schweifs erklären sich am besten aus der erwähnten schiefen Lage der Rotationsebene zur Flugebene. Bei geringer Neigung der Kometen- scheibe gegen die Kometenbahn wird nur ein Teil der hellen Lichtzone im Innern der Meteoridenscheibe bleiben, der Schweif wird also durch einen Bogen abgegrenzt, welcher den Meridian der gesamten Kometen- L. Zehnder, Über den Bau der Kometen. 199 scheibe abzeichnet; die Krümmung des Schweifes kann auf diese Weise je nach der Meridiankurve viel entschiedener ausfallen als nur durch die Lichtverzögerung, wie oben (Seite 195 ff.) beschrieben. (Fig. 4.) Wie unser Sonnensystem die Kometen, so besitzt oft das System eines Kometen eine Unmasse von Meteoriden in senkrechter Richtung zur Revolutionsscheibe. Solche Meteoriden beschreiben in ähnlicher Weise nicht Kreise, sondern langgestreckte Ellipsen und füllen den ganzen Raum zu beiden Seiten der eigentlichen Rotations-Scheibe aus, in verhältnis- mässig geringerer Anzahl, und wenn die Lichtzone zum Teil neben die Rotationsscheibe in den leeren Raum trifft, so beleuchtet sie noch solche weniger dicht gesäte Meteoriden, wodurch ein fast geradliniger, aber ES S ‘Ss RI S: Si Ei Flugbahnrichtung he ee CT ! Sonnen-\ Richtung Fig. A. sehr schwacher Nebenschweif gebildet wird, eine Erscheinung, welche beim Donatischen Kometen sehr deutlich gesehen wurde. — Die in der Nähe der Rotationsaxe stark eingezogene Form der den obigen Betrachtungen zu Grunde gelegten Meteoriden-Rotationsscheibe wird bedingt durch den Mangel aller Zentrifugalkraft auf der Rotationsaxe; infolge dessen hat die Schwerkraft die Oberhand und zieht alle dort befindlichen Meteoriden ins Zentrum. Denken wir uns die den Kern des Kometen bildenden grössten Me- teoriden um den Zentralkörper ähnlich gelagert wie die Saturnringe, also gewissermassen in Schwerringen um ihr gemeinsames Zentrum rotierend, so werden wir diese Ringe bei genügender Vergrösserung als helle Halb- 200 L. Zehnder, Über den Bau der Kometen. kreise erkennen; ihre von der Sonne abgewendete Seite ist verdunkelt, weil sie in der zentralen dunkleren, von dem helleren Lichte umschlos- senen Zone liegt, von welcher wir oben gesprochen (Seite 197). Finden sich ausser diesen Schwerringen noch ähnliche Schwerringe in annähernd zu der gemeinschaftlichen Rotationsebene senkrechten Ebenen (ein Ana- logon zu den Meteoridenschwärmen in unserem Sonnensystem), so er- scheinen uns solche Ringe als radiale helle Linien. In solcher Weise scheint der Kopf des Donatischen Kometen und ähnliche gebildet zu sein. (Fig. 5.) Wenn berichtet wird, diese Ringe haben sich in bestimmten Perioden von einigen Tagen aus dem Kerne entwickelt, einem Ausströmen vergleichbar, so halte ich dies ebensowohl wie die oben erwähnten Aus- strömungen für Selbst-Täuschung, d. h. ungenau beobachtete Thatsache. Nimmt man an, jene erwähnten schweren Ringe seien nicht ringsum von gleicher Dichte, einzelne Massenansammlungen haben gegen gewisse mit- rotierende Attraktionszentra stattgefunden, so muss allerdings das fedes- malige Hindurchtreten der Massen durch die beleuchtete Zone den Eindruck des Fliessens oder Ausströmens aufuns machen. Man könnte einwenden, dass ein gleichzeitiges Bestehen von mehreren der- artigen schweren Ringen in verschiedenen sich schneidenden Ebenen nicht statt- haben könne, weil in der Schnittlinie fort und fort Meteoriden zusammen- stossen und also aus ihrer Ebene heraus- geschleudert werden müssten. Dem steht aber entgegen, dass diese Meteoriden im Verhältnis zu ihrer Entfernung von ein- 5 ander ausserordentlich klein sind und 2 dass infolge dessen nur ganz zufällig zwei in solche genau aufeinander treffen. Über- dies ist zu beachten, dass in der Haupt- rotationsebene nur einige Ringe rotieren, nicht eine einzige kompakte Scheibe. Zwischen diesen Ringen hindurch können ganz wohl in senkrechter Richtung perio- Fig. 5. dische Meteoridenschwärme sich bewegen, um so mehr, als dieselben infolge der längs der Rotationsachse stark kontrahierten Meteoriden-Scheibe (Fig. 4) nur auf ganz kurzen Bahnstrecken Widerstände antreffen. Wenn ein dichterer Schwarm die Zone hellen reflektierten Lichtes vor dem Zen- tralkörper des Kometen passiert, so erscheint er uns, wenn unser Auge sich zufällig nahe der Ebene seiner Flugbahn befindet, als radiale Licht- linie und muss das oft erwähnte Ausströmen täuschend darstellen. Betrachten wir in einem speziellen Falle einen Kometen, dessen Rotationsscheibe von zwei anderen ähnlichen Rotationsscheiben nahezu in einer Linie geschnitten wird. — Es entspricht dieser Fall vollständig dem vorhin erwähnten, in welchem wir verschiedene in ungleichen Ebenen Sonnen !R ichtung. L. Zehnder, Über den Bau der Kometen. 201 liegende Meteoriden-Ringe zunächst dem Zentrum um den gemeinschaft- lichen Zentralkörper kreisen sahen. — Wenn die Verlängerung jener Scehnittlinie der drei Ebenen annähernd durch die Sonne geht und gleich- zeitig eine sehr helle Lichtzone entsteht, welche direkt hinter dem Kern eine dunkle Zone einhüllt, so wird in jeder der 3 Ebenen ein dunkler Streifen, eingeschlossen von zwei hellen Schweifen, gebildet. Es ergeben sich so 6 Schweife, welche den Kometen so lange begleiten, d. h. so lange für uns sichtbar sind, als die Schnittlinie jener 3 Ebenen an- genähert durch die Sonne geht. Nur einmal ist dieses seltene Phänomen bis heute beobachtet worden, so dass es wohl gerechtfertigt ist, dem- selben ganz spezielle zufällige Kombinationen zu Grunde zu legen. Die Kometen zeigen uns meistens ein sehr schwaches kontinuierliches Spektrum, welches wir als Beweis für das Vorhandensein fester Körper, der Meteoriden, im Kometen betrachten dürfen. Diesen Körpern können wir einen glühenden Zustand nicht einräumen. Sie sind sehr klein, brachten Jahrtausende in grössten Sonnenfernen, in äusserst kalten Re- gionen zu, wo sie unbedingt alle ihre eigene Wärme schon vor undenk- licher Zeit verloren haben, und die Sonne selbst wird dieselben im all- gemeinen nicht auf Glühhitze zu bringen vermögen. Es müssen also jene festen Kerne, die Millionen von Meteoriden, das reflektierte Sonnenlicht uns senden und ziemlich genau das Sonnenspektrum, wenn auch sehr schwach und vielleicht mit mehr schwarzen Absorptionslinien, aufweisen. Auffallend sind aber im Kometenspektrum die hellen Banden, welche auf das Vorhandensein von Kohlenstoff, Kohlenwasserstoff und anderen ähnlichen Kohlenstoffverbindungen in glühendem Zustande schliessen lassen. In der Sonnenferne erhalten die kleinen Kometenkörper (Meteoriden) ganz gewiss eine Temperatur von weniger als — 100°, während ihr Atmosphärendruck sozusagen gleich Null ist. Infolge dieses äusserst geringen Luftdrucks bewahren sehr viele Körper ihre Gasform. Nähern sich die Meteoriden der Sonne, so dass sie von ihr Licht und Wärme in ansehnlichen Quantitäten erhalten, so vermehrt sich das Volumen der die festen Kerne umgebenden Gasmassen sehr bedeutend, teils durch Ausdehnung, teils dadurch, dass unter so geringem Drucke weitere Körper ebenfalls gasförmig werden, verdunsten. Je grösser aber die At- mosphären werden, um so mehr Licht und Wärmestrahlen der Sonne konzentrieren sich in den Brennpunkten der linsenartig wirkenden Gas- kugeln. Es ist gar nicht unwahrscheinlich, dass in diesen Brennpunkten und in deren Nähe Stoffe (z. B. leicht entzündliche Gase) von Meteoriden, welche sich zufällig an solcher Stelle befinden, auf Hunderte von Graden erhitzt werden und also sich entzünden müssen. Wegen des geringen Luftdruckes und des daraus folgenden spärlichen Vorhandenseins von Gasen in jenen Meteoriden-Atmosphären wird die Verbrennung nur eine lokale sein, sich nicht durch die ganze Atmosphäre der betreffenden von den Brennstrahlen getroffenen Meteoriden fortsetzen. Es ist ja auch nur eine ausserordentlich geringe Menge wirklich brennender Gase nötig, um schon ein ganz bemerkenswertes Spektrum zu bilden. Wenn wir uns einen Kometen mit 250 Millionen km Schweiflänge vorstellen, nach obigen Auseinandersetzungen, so müssten seine äus- 202 L. Zehnder, Über den Bau der Kometen. sersten, uns noch sichtbaren Trabanten (Meteoriden) einen Kreis von 500 Millionen km Durchmesser durchlaufen, wozu sie selbstverständlich Jahrhunderte und vielleicht Jahrtausende nötig haben. In der kurzen Zeit der Sonnennähe beschreiben demnach alle weiter entfernten Tra- banten einen so kleinen Weg in ihrer Rotation um den gemeinschaft- lichen Kometenkern, dass wir annähernd annehmen dürfen, jeder dieser Einzelkörper durchlaufe eine eigene langgestreckte Ellipse, deren Brenn- punkt von der Sonne um die Distanz des betreffenden Körpers von seinem Rotationszentrum und in gleicher Richtung entfernt liegt. Es erhellt daraus ohne weiteres, dass ein sehr grosser Teil Trabanten die Sonne nie erreicht und nicht dazu gelangt, um dieselbe herum zu kreisen, in der Weise also, dass die Sonne mitten durch alle Kometen-Trabanten hindurch- tritt, einen grossen Teil der ihre Bahn nahezu treffenden an sich zieht und die übrigen sehr nahe an ihr vorbeifliegenden Meteoriden so stark aus ihren Bahnen ablenkt, dass dieselben sich von ihren Kometen los- lösen und ganz neue Bahnen beschreiben, in der Ebene der Kometen- Flugbahn. Alle diese durch die Sonne abgelenkten Meteoriden bewegen sich zukünftig in gleicher Ebene weiter in neuen Ellipsen, bis sie endlich infolge anderer Einflüsse direkt auf die Sonne zustreben und von ihr verschlungen werden, wenn nicht der Komet bei einem nächsten Um- lauf sie wieder an sich zu ziehen vermag. Auf die massigsten Kometen- teile hat die Sonne verhältnismässig weniger störenden Einfluss. Diese Körper bewegen sich beinahe genau in der Bahn ihres Attraktionszentrums, für welches die Sonnen-Attraktionskraft durch die Zentrifugalkraft der Massen ausgeglichen wird, so dass gar keine metallische Dichtigkeit der Kometenmaterie verlangt werden muss, wie Prırcr in Cambridge be- rechnen wollte. Eine schwache Flutbewegung wird sich allerdings auch bei den dem Zentrum nächst liegenden Körpern geltend machen, welche be- strebt ist, alles vom Zentrum zu entfernen. Eine solche Kraft bewirkt eine fortwährende Vergrösserung des Kometenkernes in der Sonnennähe und kurz nachher, infolge deren viele vorher durch einen dichteren Kern verdunkelte Zentralkörper ebenfalls direktes Licht erhalten und ihre Lichtzone entwickeln, so dass der Schweif auch infolge dieser Einwirkung eine grössere Helligkeit entfalten muss. Es ist gezeigt worden, wie der Komet bei jedem Durchgang durch die Sonnennähe eine grosse Zahl seiner Trabanten verliert, indem die Sonne sie teils völlig an sich zu ziehen vermag, teils in andere Bahnen lenkt. Man kennt sogar ein Beispiel, dass die Sonne einen Kometen in der Sonnennähe in zwei annähernd gleiche Teile zertrennte, so dass für die Folge zwei kleinere Kometen in fast derselben Bahn ihren Weg fortsetzten (Bırna’s Komet). Viele andere Kometen mag schon früher ein ähnliches Los getroffen haben, bevor wissenschaftliche Beobachtungen und Forschungen gemacht wurden. — Ebenso wie die Sonne wirken aber auch die Planeten ein. Die daraus folgenden Perturbationen vermögen sowohl die Umlaufszeit der Kometen sehr bedeutend zu ändern, als besonders die ihnen oft sehr nahe kommenden kleineren Trabanten so sehr anzuziehen, dass diese ähnlich wie von der Sonne ganz aus ihrer ursprünglichen Bahn abgelenkt werden. Weil aber die Planeten im all- L. Zehnder, Über den Bau der Kometen. 203 gemeinen nicht in der Kometen-Flugbahn-Ebene liegen, so entstehen durch stark wirksame Perturbationen Meteoridenschwärme in ganz neuen Ebenen, so dass auf diese Weise der ganze Raum mit Meteoriden bevölkert wird, welche sämtlich in Ellipsen um die Sonne kreisen und ihr Vorhanden- sein vermutlich durch das Zodiakallicht uns verraten. Sonne und Planeten suchen die Kometen zu verkleinern und immer mehr Trabanten von ihnen abzulösen, so dass dieselben im Laufe der Zeit kleiner und kleiner werden müssen. Aber nur diejenigen Teile, welche durch Planetenperturbationen abgelenkt werden, und solche, welche sich direkt in die Sonne stürzen, sind für den Kometen auf immer verloren. Die übrigen bleiben in seiner Flugbahnebene; wenn sie auch neue ganz eigene Bahnen beschreiben, so gelangen sie doch früher oder später wieder einmal in den Bereich ihres Kometen und werden von ihm wieder mit- gerissen. Es erklärt dies, dass sehr langbeschweifte Kometen doch Tau- sende von Malen die Sonnennähe passieren können, bevor sie ihre weiter entfernten Trabanten d. h. also den Schweif völlig verloren haben. Eine Kometen-Schweiflänge von ca. 250 Millionen km ist bis heute so ziemlich das Maximum von beobachteter Länge und Ausdehnung ge- wesen. Es ist aber nicht nötig, nach dem früher Bemerkten einem solchen Kometen ringsum Trabanten in grosser Zahl bis zur Ent- fernung von 250 Millionen km zuzusprechen. Wenn man die Bewegung der Kometen in ihren überaus langgestreckten Bahnen verfolgt, so er- kennt man leicht, dass dieselben, so lange sie noch weit entfernt sind, in beinahe gerader Richtung gegen die Sonne hingezogen werden, mit fortwährend gesteigerter Geschwindigkeit. Diese Steigerung erfahren mehr oder weniger alle Trabanten ringsum. Sobald aber der Komet in seine Sonnennähe gelangt, ist sein schwerster, massigster Teil, der Kern, gezwungen, in scharfem Bogen um die Sonne sich zu drehen, um der ihm vorgeschriebenen elliptischen Bahn Genüge zu leisten. Die weiter entfernten Trabanten hingegen können infolge ihres grösseren Abstandes von der Sonne nicht so schnell in andere Richtungen abgelenkt werden; sie schiessen gewissermassen über das Ziel hinaus und zwar um so mehr, je grösser die fortschreitende Geschwindigkeit des Kometen gewesen ist; das Maximum ihrer Entfernung vom Kometen-Attraktionszentrum tritt etwas nach der Sonnennähe des Kerns ein und trägt also unzweifelhaft ausserordentlich viel zu der in diesem Zeitraum aussergewöhnlich grossen Ausdehnung des Schweifes bei. Betrachtungen über den Ursprung der Kometen würden sich leicht hier beifügen lassen. Ich ziehe aber vor, späterhin über die ganze Ent- wickelung und den ewigen Kreislauf unseres Sonnensystems eingehende Erörterungen zu pflegen und Prinzipien weiter auszuführen, welche in gegenwärtiger Arbeit nur leicht angedeutet sind, aus denen aber mit einigem Scharfblick bereits die fortwährenden Umgestaltungen abgeleitet werden können. Einige Fälle von schützender Ähnlichkeit aus der brasilianischen Provinz Rio Grande do Sul. Von Dr. Wilhelm Breitenbach. (Mit 3 Holzschnitten.) Während meines Aufenthaltes in der süd-brasilianischen Provinz Rio Grande do Sul sind mir ungesucht einige wie mir scheint bisher unbekannt gebliebene oder doch nicht beachtete Fälle von schützender Ähnlichkeit bei Insekten aufgefallen, mit denen ich die Leser dieser Zeitschrift im folgenden bekannt machen möchte. In Carus STERNE'sS >Werden und Vergehen«, II. Aufl. pag. 605, findet sich die Abbildung - einer »ein welkes Blatt nachahmenden Heuschrecke aus Brasiliene. Das Tier gehört der Gattung Pterochroza an, die auch in Rio Grande do Sul vertreten ist. Von meinem Freunde Fr. Hrıyssen, der vor einigen Jahren Direktor der Kolonie Neu-Petropolis war, erhielt ich gelegentlich zwei solcher Tiere. Dieselben waren, wie er mir mitteilte, an einem Figueira- Baum gefunden worden, und in der That waren die Flügel des Tieres sowohl in der Grösse wie in der Form und Farbe den Blättern des ge- nannten Baumes auffallend ähnlich, dazu kamen noch mancherlei braune kleine Flecken, welche unregelmässig auf den Vorderflügeln zerstreut waren und an Flechten oder Pilze erinnerten. Da die Flügel sowie der übrige Körper des Tieres, mit Ausnahme der Hinterflügel, schön saftiggrün gefärbt sind, so darf man wohl kaum sagen, das Tier ahme ein welkes Blatt nach. Das Insekt hält sich in dem Blätterwerk des Baumes auf und entgeht eben durch seine wirklich frappante Ähnlichkeit mit grünen Blättern den Nachstellungen seiner Feinde. Lebend habe ich die Tiere nicht gesehen. auch habe ich trotz vielfachen Bemühens nicht in den Besitz solcher gelangen können;.ich möchte daraus schliessen, dass sie eben nicht sehr häufig sind oder durch ihre Blattähnlichkeit in vorzüglichster Weise ge- schützt werden. Sehr häufig hingegen ist eine andere blätternachahmende Heuschrecke, die der Gattung Phylloperta und speziell Phylloperta lanceolata Burm. nahe steht, wenn sie nicht mit derselben identisch ist. Fig. 1 gibt eine Abbildung des Tieres in natürlicher Grösse. Die pergamentartigen, lebhaft grün gefärbten Vorderflügel erinnern in ihrer Form am meisten an die Blätter W. Breitenbach, Einige Fälle von schützender Ähnlichkeit ete. 205 der Weiden (Salix). Es fehlt nur der gezähnelte Rand derselben. Die dicken, glänzenden Vorderflügel sind 50 mm lang und werden von den etwas spitzer zulaufenden Hinterflügeln um 5 mm überragt. Dieses vor- stehende Stück der Hinterflügel ist wie die Vorderflügel pergamentartig und grün gefärbt, nur etwas weniger intensiv wie die letzteren. Der ganze übrige nicht sichtbare Teil der Hinterflügel ist fast ganz häutig und durchsichtig. Durch die Mitte der Vorderflügel läuft eine an der Basis dicke, nach der Flügelspitze, respektive dem unteren Flügelrande in der Nähe der Spitze zu sich verdünnende Hauptader, die schwach S-förmig gebogen ist und sehr prächtig die Mittelrippe eines Blattes wiedergibt. Von dieser Mittelrippe gehen nun Seitenzweige ab, auf der unteren Seite mehr und in regelmässigerer Anordnung als auf der oberen; diese obere Hälfte der Flügel hat ausserdem noch eine Ader mit wenigen Nebenästen, welche mit der Hauptader in keinem direkten Zusammenhang steht. Die Fig. 1. einander zugekehrten Basalteile der Vorderflügel sind fast rechtwinkelig umgebogen und bilden so übereinanderliegend einen nach hinten spitz zulaufenden Sattel oder Rücken. Durch diese Umbiegung wird bewirkt, dass die Flügel selbst nicht wagerecht liegen, sondern mehr vertikal zu beiden Seiten des Tieres ihren Platz finden. Es ist also eigentlich richtiger zu sagen, die ganzen Flügel mit Ausnahme des kleinen den Sattel bildenden Rückens haben sich so umgebogen, dass sie eine fast senkrechte Lage bekommen haben. Die oberen Ränder der Vorderflügel liegen in ihrer ganzen Ausdehnung dicht aneinander, so dass sie ein sehr spitzwinkeliges Dach bilden, welches, da der Regen in ganz vortrefflicher Weise ablaufen kann, den Hinterflügeln einen guten Schutz gewährt. Wie die Farbe der Flügel, so ist auch die aller anderen sichtbaren Teile ein lebhaftes Grün. Entsprechend der Weidenblatt-Ähnlichkeit habe ich die vorliegende Phylloperta zu sehr wiederholten Malen auf Weiden-Bäumen angetroffen, namentlich an der Strasse von Porto Alegre nach Navegantes und in der Nähe dieses kleinen Fleckens selbst. Das Tier ist in der Umgebung von Porto Alegre so häufig, dass ich an einem einzigen Nach- 206 W. Breitenbach, Einige Fälle von schützender Ähnlichkeit mittag während einer Exkursion mit meinen Schülern oft 20—30 ge- sammelt habe. Zur genaueren Charakteristik gebe ich noch einige weitere Merk- male. Das Pronotum ist oben, wo es die beiden den Sattel bildenden Basalstücke der Flügel in ihrem Endteil überdeckt, halbkreisförmig nach hinten gebogen. Entsprechend dem Basalteil der Hauptader der Vorder- flügel sieht man eine tiefe Ausbuchtung des Pronotums nach vorn. Am zweiten Brustring ist ein grosses deutliches Stigma zu erkennen. Die Trommelfelle sind ziemlich gross, beiderseits symmetrisch und offen. An der Basis der Vorderbeine befindet sich vorn ein spitzer, einen Millimeter langer Dorn. Die Hinterschienen sind vierkantig und an allen vier Kanten mit nach vorn gerichteten Dornen versehen, von denen die der unteren Kanten stärker sind wie die der oberen. Ganz vorzügliche und merkwürdige Beispiele von schützender Ähnlich- keit liefert unter den ÖOrthopteren bekanntlich die Gattung Proscopia. Die Angehörigen dieser Gattung ahmen in manchmal unübertrefflicher Weise trockene Stengel oder besser wohl noch von der Sonne verdorrte Grashalme nach. Von den mir in der unmittelbaren Umgebung von Porto Alegre bekannt gewordenen Proscopia kann ich deutlich drei Spezies und weniger klar noch mehrere Varietäten unterscheiden. Ich führe hier nur die drei Spezies an: 1) Grundfarbe braunrot; der Rücken ist in Form einer schwachen Leiste ein wenig erhoben und dunkler gefärbt. Die Unterseite des Körpers ist mehr grau als braun gefärbt. Länge des ganzen Tieres 65 mm, des Kopfes 15 mm, des Stirnfortsatzes 7 mm. 2) Grundfarbe hellgrau, mit gelblichgrünen Stellen untermischt. Im übrigen ist die ganze Oberfläche fein schwarz gesprenkelt. Körperlänge 35 mm, Kopflänge 9 mm, Stirnfortsatz 4,5 mm. 3) Grundfarbe dunkelgrau bis schwarz; zu beiden Seiten des Thorax zieht sich eine scharfe gelbe Linie hin. Körperlänge 45 mm, Kopflänge 10 mm, Stirnfortsatz 4 mm. Ich fand die Tiere in der Regel auf kleinen steinigen Hügeln, die mit spärlichem, niedrigem Gras bewachsen sind, besonders häufig auf den Hügeln unmittelbar bei Menino Deus bei Porto Alegre. Hier konnte ich mich überzeugen, wie ausgezeichnet die Form und Farbe dieser Tiere schützt. Ging ich ganz vorsichtig vor, sorgsam den niedrigen Graswuchs vor mir musternd, so konnte ich keines der Tiere erblicken. Nur dann und wann, wenn ich z. B. einen Grasbusch mit der Hand oder mit dem Fuss etwas unsanft berührte, blitzte es einen Augenblick vor meinen Augen auf. Es hat ziemlich lange gedauert, bis ich lernte diesem Blitz zu folgen, der eben nichts anderes war als eine kräftig und schnell weg- hüpfende Proscopia. Wenn ein solches Tier in einem etwas trockenen Grasbüschel sitzt, so dürfte es vollkommen geschützt sein. Während diese Proscopien, von denen sich eine Abbildung in CArus STERNE’s >» Werden und Vergehen«, II. Aufl. pag. 606, vorfindet, entsprechend ihrem Aufenthalt und ihrer Farbe dünne Grashalme oder dünne Stengel kleiner Kräuter nachahmen und dadurch geschützt werden, halten sich An- gehörige der Gattung Phasma in grünem Grase oder Buschwerk auf und sind aus der brasilianischen Provinz Rio Grande do Sul. 207 wie dieses grün gefärbt. Unter dieser Abteilung der Orthopteren gibt es wie bei den Proscopien ungeflügelte Arten. Dieselben sind schmal, langgestreckt und etwas plattgedrückt, so dass sie Grasblättern am ähnlichsten sehen. Das Pronotum ist an beiden Seiten sehr regelmässig gezähnelt. Die Vorder- beine haben jene Scherenform, die den Mantiden eigentümlich ist. Da ist mir nun ein Exemplar eines Phasma (?) in die Hand gekommen, welches wegen seiner rudimentären Flügel Interesse haben dürfte; nach BurmEISTER’s Entomologie habe ich das Tier nicht bestimmen können. Das Mittel- stück des Tieres gebe ich in Fig. 2 etwas vergrössert wieder, um die Flügelrudimente zu zeigen. Die Vorderflügel (al. a) sind schwach ziegel- rot gefärbt und zeigen noch deutlich die seitlich liegende Hauptader mit zahlreichen, nach Innen zu abgehenden Nebenadern, die in regel- mässigen Abständen von einan- der verlaufen. Die Hinterflügel, soweit sie unter den Vorder- flügeln hervorsehen, sind so hellgrün gefärbt und liegen dem Körper so dicht an, dass man sie bei oberflächlicher Betrach- tung kaum bemerkt; man über- zeugt sich aber leicht von dem Vorhandensein derselben, in- dem man sie mit einem feinen Messer oder einer Nadel etwas abhebt. Das Tier war 90 mm lang und hatte unter den Flü- geln eine Breite von 4 mm. Die Vorderflügel haben eine Länge von 5 mm, die Hinter- flügel ragen 5 mm über die- selben hinaus. In den Hinter- flügeln selbst sind keine Adern mehr zu erkennen. Die Beine Fig. 2. sind ungewöhnlich lang, so z. B. das Femur der Hinterbeine 25 mm. Dass die vorhandenen Flügel dem Tier nutzlos sind, ist selbstverständlich. Da ich nur dies eine Exemplar mit rudimentären Flügeln gefunden habe, gänzlich flügel- lose dagegen in grosser Anzahl, so bin ich zweifelhaft, ob wir es hier mit einer besonderen Spezies zu thun haben oder ob hier vielleicht nur ein merkwürdiger Fall von Rückschlag vorliegt. Ich habe mehreren Freunden in Rio Grande do Sul den Auftrag gegeben, auf solche Tiere zu fahnden; vielleicht lässt sich die Frage in einiger Zeit entscheiden. Angehörige der Gattung Oedipoda oder doch eines sehr nahe stehen- den Genus zeichnen sich vielfach dadurch aus, dass ihr Hautpanzer eine überaus höckerige Beschaffenheit besitzt und von einer schmutzigbraunen oder braunen Farbe ist. Wenn die Tiere still zwischen Erde oder kleinem Steingeröll sitzen, so ist es sehr schwierig, sie zu erkennen; nur wenn sie weghüpfen, sind sie bemerkbar. Von einigen Spezies sind mir auch 208 W. Breitenbach, Einige Fälle von schützender Ähnlichkeit ete. Jugendformen bekannt geworden; dieselben hatten zwar schon die höckerige Beschaffenheit ihres Chitinpanzers, waren aber grün gefärbt. Vielleicht lässt das darauf schliessen, dass die jetzt braun oder grau gefärbten Spezies früher grün waren oder auch haben wir es vielleicht mit einer sogenannten Larvenanpassung zu thun. Es wäre möglich, dass die jungen Tiere sich mehr zwischen grünem Grase aufhalten, die älteren mehr auf wenig bewachsenem Lande; leider finde ich hierüber in meinen Notizen keine weiteren Aufzeichnungen. Frırz Mürver berichtet (Kosmos, Band V, pag. 104) von einer Heuschrecke, welche Spinnen nachahme. Ich habe einen ebensolchen Fall zu verzeichnen. Unter einer Sammlung von Naturalien, welche ich meinem Freunde Aug. BECKER in Porto Alegre verdanke, der dieselbe aus dem Innern der Provinz, von der Serra, mitgebracht hatte, befanden sich zwei Tiere, welche ich für Spinnen hielt und welche von vielen Personen, denen ich sie zeigte, gleichfalls für Spinnen erklärt wurden. Bei näherem Zusehen entdeckte ich natürlich, dass unsere Tiere nur drei Paar Beine hatten. Mein Beispiel ist aber noch frappanter als das von Frrrz Mürver; denn während das von diesem betrachtete Tier wegflog, hätten die meinigen dies beim besten Willen nicht ge- konnt, da sie keine ausgebildeten Flügel, sondern nur sehr unscheinbare Rudimente hatten. Die Farbe der Tiere war schwarz, die Beine sehr lang, ebenso die Fühler, die man, wenn sie sich mit ihrem vorderen Ende nach unten senkten, allenfalls für ein viertes Beinpaar halten konnte. Ein prachtvolles Beispiel von schützender Ähnlich- keit lieferte mir eine Schmetterlingspuppe, welche ich der Freundlichkeit eines Bekannten in Porto Alegre ver- danke und von der ich in Fig. 3 eine etwa ums dop- pelte vergrösserte Abbildung gebe. Die Puppe ist 30 mm lang und in der Mitte 7,5 mm dick; sowohl was Farbe als Gestalt anbelangt, gleicht sie namentlich in ihrem oberen Teil aufs täuschendste einem abgebrochenen dürren Zweigende. Die Grundfarbe ist ein mitteldunkles Grau bis Gelblich, ähnlich der Rinde von Pappeln und Weiden. Das Kopf- ende der Puppe ist unregelmässig gestaltet, ähnlich wie das Ende eines abgebrochenen trockenen Zweiges. Verschieden geformte Vertiefungen und Erhöhungen, dunklere und hellere Striche und Elecken von unregel- mässiger Gestalt machen die Täuschung noch vollkommener. Alle Einzel- heiten der Skulptur und Farbe, die Höcker, Vertiefungen, Flecken, Striche etc. finden sich an unserer Puppe vollkommen symmetrisch vor. Der Bekannte, dem ich dieses Prachtstück verdanke, sagte mir, es habe in einem Baume gesessen, derart, dass das stumpfe Ende hervorgeschaut habe, während das spitze Ende in dem Baum verborgen gewesen sei. In der That würden wohl die meisten Menschen an der Puppe, wenn sie sich in einer solchen Lage befände, vorbeigehen, ohne sie zu erkennen. Erkennung, und Fixierung organischer Formen, Von Prof. Dr. G. von Koch (Darmstadt). Formen, im allgemeinsten Sinne des Wortes, bilden das wesentliche Material für die vergleichende Anatomie und den morphologischen Teil der Entwickelungsgeschichte, mag es sich dabei um ganze Organismen, ihre einzelnen Organe oder die letzten nur mit dem Mikroskop zu er- kennenden Teile (die Struktur) handeln. Damit diese Formen zur Ver- gleichung, welche allen Folgerungen und Schlüssen vorangehen muss, geschickt seien, erscheint es notwendig, sie dem Auge vollständig klar vorzuführen und eine Veränderung derselben während einer kürzeren oder längeren Zeit zu verhindern. Betrachten wir hinsichtlich der eben ausgesprochenen Forderungen die Objekte beider Disziplinen, so finden wir, dass nur verhältnismässig wenige denselben entsprechen: so vor allem viele ganze Organismen, so- weit es sich um ihre äussere Gestalt handelt, dann die Gehäuse der Konchylien und anderer Tiere. Bei allen übrigen wird es notwendig, durch geeignete Behandlung die interessierenden Gegenstände erst für die Ver- gleichung vorzubereiten, und dies kann bei relativ unveränderlichen Teilen einfach durch Freilegen derselben mittels des Messers oder anderer In- strumente geschehen, wie wir es ja allgemein bei Knochen oder anderen harten Teilen thun. Vielfach erweist sich aber diese Methode als un- zureichend, indem nämlich eine grosse Anzahl organischer Gebilde sich nach dem Freilegen bald verändert. Diese müssen dann durch besondere Präparation, so z. B. durch Einlegen in fäulniswidrige Flüssigkeiten, durch Injektionen etc. erhaltungsfähig gemacht werden oder man kann ihre Form fixieren, ohne ihre Substanz aufzubewahren. Letzteres ge- schieht durch Herstellung von Modellen, die womöglich direkt als Abgüsse angefertigt werden, oder häufiger durch Abbildungen, welche man mit Hilfe der Photographie, durch Zeichnen mittels des Prismas, des Diopter- pantographen oder anderer Apparate ausführt*. Diese Zeichnungen ver- treten dann beim Vergleichen die wirklichen Gegenstände. * Freihandzeichnungen genügen in der Regel nur für mehr schematische Darstellungen. Kosmos 1884, I. Bd. (VIH. Jahrgang, Bd. XIV). 14. 210 G. v. Koch, Erkennung und Fixierung organischer Formen. In vielen Fällen lässt uns aber auch diese Methode im Stiche, nämlich überall da, wo wir es mit Teilen zu thun haben, welche in anderen eingeschlossen sind und sich nicht ohne Schädigung frei legen lassen. Dazu gehören alle eine gewisse Grösse nicht überschreitenden Organe, dann viele weiche Gewebe, welche Höhlungen in harten Körpern auskleiden u. s. w., und ausserdem muss man auch die mikroskopische Struktur organischer Körper hier mit anführen. Die letztere bietet in der Regel noch die wenigsten Schwierigkeiten, indem es meist genügt, sehr dünne Scheiben des betreffenden Körpers anzufertigen, was ent- weder durch Schneiden (bei vielen weichen Organen, Leber etc.) oder Schleifen (bei Knochen) geschieht, und diese mittels des Mikroskops bei passender Vergrösserung zu betrachten und zu zeichnen. Zur Erleich- terung der Übersicht werden diese Scheibchen oder Schnitte häufig mit Farbelösungen behandelt, welche von den verschiedenen Elementarteilen in verschiedener Quantität aufgenommen werden, wodurch eine ver- schiedene Färbung derselben bedingt ist; ausserdem lassen sich dieselben durch stark lichtbrechende Mittel leicht aufhellen und bieten so günstige Objekte für das Mikroskop. Viele von ihnen haben auch die Eigenschaft, bei richtiger Behandlung (Aufbewahrung in Kanadabalsam oder anderen Harzlösungen zwischen zwei Glasplättchen) sich lange Zeit unverändert zu erhalten. — Solche einzelne Schnitte oder die Kombination mehrerer, die dann am besten in verschiedenen Ebenen geführt werden, genügen oft auch zur Aufklärung über die Form eines einfacheren Organs. Ist ein solches aber verwickelter gebaut, so kommt man am einfachsten, manchmal auch nur auf diese Weise, zum Ziel, indem man dasselbe in eine Reihe gleich dicker Schnitte zerlegt (es wird dazu eine Maschine, das Mikrotom angewendet), die gezeichnet werden. Mit Hilfe der Zeich- nungen lassen sich dann entweder Modelle durch Aufeinanderlegen von entsprechend ausgeschnittenen Scheiben darstellen oder man kann aus ihnen durch einfache geometrische Konstruktionen die gesuchte Form in beliebiger Darstellung (als Projektion oder perspektivische Ansicht etc.) gewinnen. — Sehr harte Körper, welche sich durch kein Mittel für Schnitte geeignet machen lassen, kann man in vielen Fällen auf folgende Art behandeln. Sie werden auf eine Unterlage fest aufgekittet und auf der freien Seite angeschliffen, dann die Schlifflläche bei auffallendem Licht gezeichnet, hierauf weiter abgeschliffen und dann wieder gezeichnet, bis man eine genügende Serie von Durchschnittszeichnungen besitzt, um wie vorhin verfahren zu können. Wissenschaftliche Rundschau. Ethnologie. Die quaternären Rassen Portugals. In den Kjoekkenmoedings bei Mugem, in der Nähe des Tajo, in Portugal wurden neuerdings Schädel und Knochen ausgegraben, die nach den Lagerungsverhältnissen und der Fauna zu urteilen der quaternären Epoche fast mit Sicherheit zugezählt werden können. Die erste Rasse war dolichokephal. Derselben gehört eine Anzahl Schädel an, die von bewunderungswert gleichartiger Bildung sind und so wenige oder nur se- xuelle Unterschiede darbieten, dass wir es hier sicherlich mit einer homoge- nen Rasse zu thun haben. Der Prognathismus der Schädel erinnert geradezu an afrikanische Rassen und die Kapazität der Schädel ist eine so geringe, dass sie nur mit derjenigen der Australier verglichen werden kann. An die afrikanischen Rassen erinnert ferner die Länge des Vorderarms, wie sie nur bei den Negern angetroffen wird. Es gibt ferner nur noch wenige Rassen von einer so kleinen Statur, wie es die Urbevölkerung Portugals gewesen ist. (Vergl. As Racas dos Kjoekkenmoedings de Mugem por FRANCISCO DE Paura e Orıvera. Lisboa 1881.) Ich spreche daher die Vermutung aus, dass diese Urbevölkerung Portugals mit den Pygmäen Zentralafrikas, mit den sog. Akka oder Tiki-Tiki, verwandt war. Die Vermutung PEnkA’s, dass Europa die Heimat des Menschengeschlechts ist, hat in den Funden von Mugem eine neue Stütze gefunden (?? Red.). Über die brachykephale Rasse von Mugem kann dagegen nur wenig gesagt werden. Nur drei brachykephale Schädel sind dort gefunden worden. Nach den osteolo- gischen Merkmalen zu urteilen, gehörten diese Brachykephalen einer Rasse von höherer Statur an, als es die Dolichokephalen gewesen sind. Dr. FLIGIER. ZOO1OGTE. Die Entstehung der Korallenriffe schien durch Darwın’s geniale Theorie, wonach Barrieren oder Kanalriffe und Atolls nur verschiedenen Phasen einer lang andauernden säkularen Sen- kung, Küsten- oder Strandriffe dagegen einer ebensolchen Hebung des 212 Wissenschaftliche Rundschau. Meeresbodens entsprechen sollten, ihre abschliessende Erklärung gefunden zu haben. In der That befriedigte dieselbe nicht bloss alle Ansprüche von biolo- gischer Seite, indem sie einen einheitlichen Ausgangszustand für alle Riff- formen nachwies und die bis dahin völlig rätselhafte Erscheinung begreiflich machte, dass man bis in Tiefen von über hundert Faden hinab die Reste von Korallen verfolgen kann, die bestimmt nur in verhältnismässig seichtem Wasser (8 bis höchstens 20 Faden) sich anzusiedeln und zu gedeihen im stand sind — die Theorie empfahl sich namentlich auch der Geologie als eine der glänzendsten Beispiele dafür, wie die in verschiedenen Wissens- gebieten gewonnenen Verallgemeinerungen einander gegenseitig stützen und zu einer höheren umfassenderen Idee führen können. Es hat daher schon aus diesen Gründen und wohl noch mehr um der Pietät und Ver- ehrung willen, die dem Urheber dieser Theorie mit vollstem Rechte über- all gezollt wird, nicht an lebhaftem Widerspruch gefehlt, so oft bisher der Versuch gemacht wurde, die Unzulänglichkeit derselben nachzuweisen oder gar eine andere Erklärung an ihre Stelle zu setzen. In neuester Zeit sind aber so zahlreiche mit ihr direkt unvereinbare Thatsachen und so vielfache genauere Beobachtungen über die Lebensbedingungen und die Verbreitung der Riffkorallen bekannt geworden, dass eine gründliche Prüfung der Darwinschen Prämissen und eine Umgestaltung seiner Theorie unabweisbar erscheint. Wir folgen im nachstehenden hauptsächlich einer Zusammenstellung der einschlägigen Forschungsergebnisse, die Professor A. Grikxıe kürzlich in der »Nature« (Vol. 29, Nr. 735 und 736) ge- geben hat, zum Teil aber auch der ausführlichen Diskussion dieser Frage in Prof. C. SemrEr’s ideenreichem Werke »Die natürlichen Existenz- bedingungen der Tiere« (Internat. wiss. Bibliothek, Bd. 39/40), Leipzig 1880, das dem erstgenannten Autor unbekannt geblieben zu sein scheint, da er wohl die ersten Publikationen Semper’s über diesen Gegenstand, nicht aber jene eingehendste und gründlichste Beleuchtung desselben aus den letzten Jahren eitiert. Von den vor Darwın aufgetauchten Erklärungsversuchen hatte am meisten Anklang jener gefunden, welcher die ringförmigen Riffe im offenen Meere als auf den Rändern unterseeischer Krater senkrecht empor- gewachsene Korallenmauern ansah. Dagegen blieb merkwürdigerweise die schon früher von CHanuiısso ausgesprochene, auf ganz richtige Be- obachtung gegründete und, wie Darwın selbst sagt, »bessere« Ansicht ziemlich unbeachtet, die Ringform beruhe einfach darauf, dass die am Rande eines von Korallen besiedelten Gebietes befindlichen massiveren Formen in der Brandung rascher wachsen könnten als die zentralen. Beide Versuche ignorierten aber die Kanal- und die Küstenriffe vollständig, ebenso auch die allerdings erst später ermittelte Thatsache, dass die echten Riffkorallen nur in sehr geringen Tiefen leben. Indem Darwın diese Lücken ergänzte und zugleich seine Theorie mit der geologischen Folgerung verknüpfte, dass weite Strecken der Erdoberfläche in säkularer Hebung und Senkung begriffen sein können, schien er alle Einwürfe be- seitigt und die interessante Frage definitiv erledigt zu haben, ja die Korallenriffe galten von nun an ihrerseits als die gewichtigsten Zeugen für das Vorkommen und den Verlauf solcher Hebungs- und Senkungs- Wissenschaftliche Rundschau. 213 erscheinungen. — Eine beinahe rückhaltlose Bestätigung erfuhr die Theorie sodann durch Dana, der als Teilnehmer an der Wilkesschen Expedition 1835—42 eine ausserordentlich grosse Anzahl von Koralleninseln zu untersuchen Gelegenheit hatte und Darwın’s Fundamentalsatz, dass sich Atolls und Kanalriffe nur während der Perioden der Senkung bilden können, uneingeschränkt annahm. Während aber nach Darwın Küsten- riffe nur in Perioden der Ruhe oder noch mehr der neuerlichen Hebung entstehen sollen — wie er denn auch durch seine Karte zu veranschau- lichen sucht, dass aktive Vulkane nur in solchen Regionen vorkommen, die nach dem Bau der in ihnen vorhandenen Riffe bloss Hebungsgebiete sein können — fordert Dana als Bedingung für das Entstehen von Küsten- riffen sogar eine noch stärkere Senkung in jüngster Vergangenheit als für die übrigen Formen. Damit war nun freilich einer der Haupt- vorzüge von Darwın's Ansicht in Zweifel gezogen, die Möglichkeit näm- lich, aus dem Charakter eines Riffs die Art der säkularen Bewegung des betreffenden Stückes der Erdrinde zu erschliessen, und in der That er- klärt denn auch Dava den ganzen Stillen Ozean für eine Region der Senkung, während Darwın z. B. die Salomons-, Neu-Hebriden-, Schiffer- und Sandwich-Inseln für Hebungsgebiete hält; nach Dana soll sich das westindische Meer gegenwärtig senken, während Darwın es in seiner ganzen Ausdehnung in der Hebung begriffen sein lässt. Trotz dieses keineswegs unwesentlichen Gegensatzes wurden Dana’s Forschungen, deren Ergebnisse er nachträglich in dem schönen Werke »On Corals and Coräl- Islands«e 1872 einem grösseren Publikum zugänglich machte, doch im allgemeinen als Bestätiguug der längst feststehenden Auffassung gedeutet, die schon früh auch durch Coursouy 1844 auf Grund seiner Unter- suchungen in Westindien und im Stillen Ozean volle Anerkennung ge- funden hatte. Von späteren selbständigen Eıklärungsversuchen verdienen bloss noch diejenigen von L. Acassız und C. SEMPER besondere Erwähnung. Jener zeigte 1851, dass die Senkungstheorie wenigstens nicht für die von ihm untersuchten Riffe an der Küste von Florida genüge, vielmehr baue sich das Südende der Halbinsel selbst aus einer Reihe konzentrischer Kanal- riffe auf, die allmählich mit einander verbunden und verkittet worden seien, und derselbe heute noch stattfindende Vorgang müsse schliesslich auch die sogenannten Keys bis zu den Tortugas-Inseln in festes Land verwandeln. — SEMrER's Anschauungen dagegen gingen von den Riffen der Philippinen und insbesondere des östlich davon gelegenen kleinen Palau-Archipels aus. Hier konstatierte er die wichtige Thatsache, dass auf einer Strecke von S0 Seemeilen alle drei Arten von Riffen neben einander vorkommen, dass überdies auf der Ostseite des schmalen, fast genau in nord-südlicher Richtung ziehenden Hauptarchipels, wo der See- boden sehr sanft abfällt, das Riff ganz nahe an die Küste heranrückt und ein echtes Küstenriff darstellt, während es auf der Westseite trotz des steilen Abfalls des Bodens als breites und ansehnlich mächtiges Kanalriff mit stattlicher Lagune erscheint, und dass endlich nicht nur keine Spuren von Senkung, sondern im südlichen Teile des Archipels sogar sehr auffällige Anzeichen einer Hebung seit der letzten geologischen 914 Wissenschaftliche Rundschau. Epoche zu finden seien, welche die südlichsten Inseln, die wahrscheinlich echte Atolls waren, zu einer Höhe von 400—500 Fuss über dem Meeres- spiegel erhoben habe. — Auf die positive Erklärung Semrer’s, der übri- gens die Senkungstheorie für andere Gebiete gern gelten lassen will und nur ihre allgemeine Anwendbarkeit bestreitet, kommen wir weiter unten zurück und gedenken hier bloss noch 1) des berühmten, nach seinem Ent- decker benannten PourrAuzs-Plateaus im westindischen Meere, einer viele Meilen weiten flachen Erhebung des Meeresbodens, die, in etwa 150 Faden Tiefe liegend und aus Trümmern von Muscheln und Korallen, Sand und Schlamm nebst den Resten dort lebender Tiefseetiere gebildet, mit der Zeit so hoch sich heben muss, dass Riffkorallen darauf weiter bauen und endlich ein wahres Atoll bilden können, und zwar um so schneller, wenn gleichzeitig, wie es wahrscheinlich der Fall ist, eine säkulare Hebung des Meeresbodens stattfindet — und 2) der Bermuda-Inseln, deren Bau sich nach J. Reın (1869) am einfachsten durch die Annahme erklären lässt, dass sie auf die eben angedeutete Weise von einer unterseeischen Bank durch die Thätigkeit der Korallen bis zum Meeresspiegel empor- gewachsen sind. Auch in dieser Frage hat jedoch erst die Challenger-Expedition hin- länglich umfassende Erfahrungen zu Tage gefördert, um die Basis für eine neue Ansicht legen zu können. Ein Bericht von Murray an die Roy. Society von Edinburg (1880) betont namentlich folgende Punkte: 1) Die oZeanischen Inseln sind fast sämtlich vulkanischen Ursprungs und es ist daher höchst wahrscheinlich, dass auch die zahlreichen submarinen Er- hebungen und Spitzen auf gleiche Weise entstanden sein werden. Jeden- falls stellen die vorhandenen Inseln nicht, wie Darwın’s Theorie es fordert, die letzten Reste eines ausgedehnten versunkenen Kontinents dar. Dass so viele vulkanische Aufschüttungen im offenen Meere gerade bis in das Niveau reichen, auf welchem riffbauende Korallen ihre Thätigkeit be- ginnen konnten, ist nicht schwer zu begreifen. Ragten sie ursprünglich über den Meeresspiegel hinaus, so werden sie sehr häufig, weil aus lockerem Material aufgebaut, durch die Brandung bis zur unteren Grenze der Wellenwirkung binab zerstört und so in eine zur Ansiedelung von Korallen trefflich geeignete Plattform umgewandelt worden sein. Blieben sie aber ursprünglich mehr oder weniger tief unterhalb dieses Niveaus, in der Tiefseezone, so trat ein anderer, bisher immer noch weit unter- schätzter Faktor in Wirksamkeit, nämlich 2) die Ablagerung unorganischer Reste von pelagischen und Tiefseetieren. Nach den neueren Forschungen kann man sich gar keine Vorstellung von der Fülle des pelagischen Lebens in den tropischen Meeren machen. Murray berechnet, dass in der oberen Region (bis zu 100 Faden Tiefe) auf jede Quadrat- (See-) Meile über 16000 kg kohlensaurer Kalk in Form von Schalen frei schwimmender Tiere kommen, die denn also nach verhältnismässig kurzer Lebensdauer absterben und als feiner Regen in die Tiefe sinken, um hier zum Teil einer zweiten, ebenfalls sehr reichen und vielfach mit Kalk- schalen versehenen Fauna zur Nahrung zu dienen!. In sehr grosser Tiefe ! Vgl. hierzu auch Kosmos XII, S. 143 u. 369, Wissenschaftliche Rundschau. >21 au (unter ca. 2000 Faden) scheinen die herabsinkenden Kalkschalen aller- dings infolge des grösseren Gehaltes des Seewassers an Kohlensäure bald aufgelöst zu werden, oder sie gelangen gar nicht bis auf den Grund, weil ihnen schon während des langsamen Herabsinkens ein gleiches Schicksal widerfahren ist; in mittleren und geringeren Tiefen aber muss dadurch eine Erhöhung des Bodens und vorzüglich der einzelnen in solche Höhen emporreichenden vulkanischen Kegel erfolgen, die allmählich einer immer reicheren und mannigfaltigeren Fauna von Schwämmen, Hydroiden, Tiefseekorallen, Alceyonarien, Anneliden, Bryozoen, Echinodermen, Mol- lusken u. s. w. geeignete Lebensbedingungen darbietet und ein immer rascheres Höhenwachstum der Kegel ermöglicht. Gelangen sie zuletzt in den Bereich der Riffkorallen, so nehmen hauptsächlich diese den vor- handenen Raum in Anspruch, ohne jedoch die übrigen Ansiedler jemals völlig zu verdrängen. Eine durch das Zusammenwirken der genannten Faktoren bis zum Wasserspiegel aufgeführte Erhebung muss, sie mag auf einem einzelnen Kegel, auf einer breiten vulkanischen Aufschüttung oder auf einem sub- marinen Bergrücken emporgewachsen sein, bald die Gestalt eines kleineren oder grösseren, rundlichen oder länglichen Atolls annehmen, denn wie schon CHAanmisso und namentlich SEMPER betonten und auch Darwın für vereinzelte Fälle zugab, leben die zentralen Teile einer solchen Kolonie unter wesentlich ungünstigeren Verhältnissen als die peripherischen, jene werden absterben und nur einen Kranz von lebhaft gedeihenden und immer weiter sich ausdehnenden Korallen übrig lassen. Die Bildung der La- gune im Innern wird noch wesentlich gefördert durch die auch erst neuer- dings festgestellte lösende Einwirkung des gewöhnlichen Seewassers auf die toten Korallenstöcke; an ihre Stelle treten dann andere langsamer wachsende Gattungen, weichhäutige Anneliden, Hydroiden u. s. w., die mit spärlicherer Nahrung vorlieb nehmen und auch eine gelegentliche Überschüttung mit Schlamm und Sand ohne Schaden ertragen können. Auf solche Weise kann aber auch auf einer langgedehnten sub- marinen Bank eine ganze Reihe von den Rand derselben umsäumenden Atolls entstehen, die je nach der Beschaffenheit ihrer Unterlage mehr oder weniger unregelmässige Formen zeigen, stets jedoch an ihrer peri- pherischen Seite am kräftigsten entwickelt sein werden. In einem spä- teren Stadium werden diese deshalb die Neigung erkennen lassen, zu einem grossen Atoll zusammenzufliessen, in dessen Mitte aus den Resten ihrer zentralen Partien und durch Anhäufung von Sand eine flache Insel entstehen mag. So erklärt Murray insbesondere die Riffe der Malediven, Laccadiven, Carolinen und des Chagos-Archipels, welcher letztere gerade von Darwin als Beispiel eines dem Untergang anheimgefallenen Atolls hervor- gehoben wurde, dessen Senkung allzu rasch erfolgt sei, als dass die Korallen damit hätten Schritt halten können; in Wirklichkeit haben wir es aber hier wohl umgekehrt mit einem erst in der Ausbildung begriffenen Atoll zu thun. Allein auch die Erscheinungen der Kanalriffe lassen sich, wie Mur- RAY zeigt, bei näherem Zusehen ohne Zuhilfenahme hypothetischer Senk- ungen erklären. An dem Riff von Tahiti konstatiert er, dass in der Regel ganz übertriebene Vorstellungen hinsichtlich der Mewestiefe un- 216 Wissenschaftliche Rundschau. mittelbar ausserhalb solcher Riffe und in Zusammenhang damit hinsicht- lich der Mächtigkeit derselben vorherrschen. Der äussere Rand des Riffes stürzt allerdings steil ab, kann sogar etwas überhängen; am Fusse des- selben stösst man aber nicht auf den eigentlichen Meeresboden, sondern auf einen hoch aufgeschütteten Abhang von toten Korallenblöcken, welche durch die Brandung beständig vom oberen Rande losgerissen werden und mit der Zeit eine geeignete Unterlage für weiter seewärts vorgeschobene Korallenbauten darbieten. Jenseits dieses Abhangs senkt sich der Grund, mit Korallensand bedeckt, unter einem Winkel von höchstens 6°, so dass einer allmählichen Ausdehnung der Peripherie des Riffs nach Herstellung der erwähnten Unterlage nichts im Wege steht. Dazu kommt endlich noch, das hier wie anderwärts zahlreiche Beweise von neueren Hebungen des Bodens vorliegen, was ja auch mit der vulkanischen Natur desselben durchaus in Einklang steht, dagegen der Theorie von über ganze Ozeane hin sich erstreckenden Senkungsgebieten direkt widerspricht. Murray glaubt daher die letztere gänzlich verlassen und die Bildung der Korallen- inseln ausschliesslich auf die angedeuteten Einwirkungen zurückführen zu sollen. SEMPER ist, wie schon angedeutet wurde, insofern selbständig zu ganz ähnlichen Ergebnissen gekommen, als auch er die Senkungstheorie für zahlreiche und namentlich für die von ihm genau untersuchten Fälle bestreitet, die Bedeutung der Tiefseetiere als Vorläufer der Riffkorallen auf untermeerischen Erhebungen betont und die vermeintliche ausser- ordentlich grosse Mächtigkeit der meisten Korallenriffe in Abrede stellt; nach ihm sind es aber ausser der Konfiguration des Meeresgrundes vor allem auch die Stärke und die Richtung der vorherrschenden Meeres- strömungen, welche die Gestalt und den Typus der Korallenbauten bedingen. Seine Darlegung geht von der scheinbar gar nicht hierher gehörigen Thatsache aus, dass die so häufig auf lebenden Korallen sich festsetzenden kleinen Krebse zwar von diesen gewöhnlich vollständig um- wachsen werden, sich aber doch einen oder zwei bald trichter-, bald spaltförmige Zugänge zu ihrer Höhle offen zu halten vermögen, indem der von ihnen erregte Atemwasserstrom die Polypenkelche zwingt, ihre regelmässige, senkrecht zur Oberfläche des Stockes orientierte Wachstums- richtung zu verlassen, sich mehr oder weniger schief zur Strömungs- richtung zu stellen und eine derselben im ganzen parallel verlaufende Mauer zu bilden. Die Wirksamkeit dieses Faktors erkannte SEMPER in grossem Massstabe deutlich an der Küste von Mindanao (Philippinen), wo eine konstante ziemlich starke Strömung durch einen schmalen Kanal gerade auf eine kleine Insel zufliesst, vor welcher er sich natürlich teilt, um hinter ihr wieder zusammenzufliessen: an den Küsten jenes Kanals bilden die von Astraeen, Poritiden, Madreporen u. s. w. aufgebauten Korallenriffe schmale, schroff abfallende Mauern, weil sie hier von der Strömung zu senkrecht aufsteigendem Wachstum gezwungen waren; in dem Dreieck vor und ebenso hinter der Insel dagegen, wo das Wasser verhältnismässig ruhig ist, wachsen dieselben Arten nach allen Richtungen hin, meist in isolierten Blöcken, selbst die ästigen Formen gehen un- verkennbar,stark in die Breite; es senkt sich also auch das ganze Riff Wissenschaftliche Rundschau. 37 _ sehr allmählich gegen die Tiefe des Kanals hin, um jedoch zu beiden Seiten der Insel, an denen der Strom vorbeistreicht, abermals zur senk- rechten Mauer zu werden. Wesentlich übereinstimmende Beobachtungen machte SemrEr auch an anderen Stellen der Philippinen und ebenso auf den Palauinseln. Hier stösst der nordäquatoriale ostwestliche Strom des Stillen Ozeans im Verein mit den Flut- und Ebbeströmungen gerade gegen die östliche Breitseite der Inselgruppe, steigt auf dem hier langsam sich hebenden Boden des Meeres gegen die Küste an und verhindert das senk- rechte Emporwachsen der Riffkorallen, und dies ist die einfache Ursache dafür, dass das eigentliche Riff trotz des sanften Abfalls des Grundes doch ganz nahe an die Küste herangerückt ist und dass zwischen beiden keine Lagune entstehen konnte. Nachdem aber der Strom, in viele Arme geteilt, sich zwischen den Inseln hindurch ergossen, wenden sich diese auf der Westseite des Archipels z. T. nord- und südwärts, streichen tangierend an derselben entlang und bedingen dadurch ein steiles Empor- wachsen des Riffs, das sich als auf einer untermeerischen Bank mit schroffem westlichem Abfall aufgeführtes echtes Kanalriff darstellt, trotz- dem besonders an seinem südlichen Ende die sichersten Anzeichen einer Hebung zu finden sind. Die Entstehung der breiten Lagune und der von dieser zum Meere führenden, das Riff durchbrechenden Kanäle, welche 30—45, bei dem kleinen und offenbar jüngeren Atoll Kreiangel nur 6—10 Faden Tiefe haben, ist der lösenden und auswaschenden Ein- wirkung des Wassers auf die zentralen abgestorbenen Partien zuzu- schreiben, was am deutlichsten daraus erhellt, dass die Lagune nicht etwa, wie man sich gewöhnlich vorstellt, ein gleichmässig tiefes, flaches und ruhiges Becken ist, sondern viel eher ein System verästelter, von den Hauptabflusskanälen sich abzweigender und gegen die innere und äussere Peripherie der Lagune hin immer seichter werdender Rinnsale bildet, in denen fast beständig eine starke Strömung herrscht. Nach alledem kann es nicht länger zweifelhaft sein, dass in der That die Strömungsverhältnisse einen wesentlichen Anteil an der Gestaltung und dem Vorkommen der Riffe haben und dass je nach den Besonderheiten dieses Faktors auf ruhendem oder selbst in Hebung begriffenem Boden alle irgend denkbaren Formen von Riffen entstehen können. Die eingehendste und mit allen Hilfsmitteln der Gegenwart durch- geführte Untersuchung haben endlich die Riffe an der Südspitze von Florida durch A. Acassız ! erfahren, der hier das Werk seines Vaters zum schönsten Abschluss brachte. Er stellte mit völliger Sicherheit fest, dass ein Teil von Florida in der späteren Eocänzeit in Form eines langen niedrigen Rückens aus dem Meere gehoben wurde, der sich aber nach Süden weit unter dem Meeresspiegel fortsetzte — ein Vorgang, der nebenbei bemerkt zugleich eine Verschiebung des Golfstroms nach Osten hin zur Folge haben musste. Auf diesem und den angrenzenden Gebieten des Meeresbodens entfaltete sich nun ein ungemein reiches Tierleben, von dessen ausserordentlicher Fülle erst die neuesten Dredgeungen eine Vorstellung gegeben haben. Nicht selten wurden grosse Blöcke eines ganz rezenten Kalksteins herauf- ! On the Tortugas and Florida Reefs“ in: Trans. Amer. Acad. XI. 1883. 218 Wissenschaftliche Rundschau. gebracht, der sich ausschliesslich aus den Resten derselben Arten zusammensetzt, welche heute auf diesem Bezirke leben. Diese über viele tausend Quadratmeilen ausgedehnte Gesteinsbildung mag wohl mehrere hundert Fuss mächtig sein. Unzweifelhaft sind es die von Süd- osten ins Caribische Meer und den mexikanischen Golf eintretenden warmen äquatorialen Meeresströme, welche durch reichliche Zufuhr von pelagischer Nahrung ein solch üppiges Gedeihen der Tiefseefauna ermög- lichen, wie sie denn auch nur an einer Stelle der Erde, im Kuro-Siwo an der japanischen Küste ihresgleichen findet, während umgekehrt die Westküsten aller Kontinente eine auffallend spärliche Littoral- und Tiefen- fauna aufweisen, weil ihnen eben solche warme Wasserströme fehlen. Ganz besonders reichlich musste sich dies Leben natürlich auf den zahlreichen unterseeischen Erhebungen des westindischen Meeres entfalten, die zwischen Zentralamerika und Jamaica, an der Küste von Yukatan, Honduras u. s. w. bis hinüber nach Cuba sich erstrecken und wohl alle vulkanischen Ursprungs sind, wie die vielen Beweise neuerer Hebungen andeuten: auf Martinique steigen rezente vulkanische Gesteine bis 4000 Fuss empor, auf Guadeloupe und den Barbadoes finden sich zahlreiche Terrassen rezenter Kalksteine und auf Cuba liegen einige Korallenriffe nicht weniger als 1100 Fuss ü. M. Sobald nun, durch Hebung allein oder zugleich durch Anhäufung tierischer Reste, die für Riffkorallen geeignete Tiefenzone erreicht ist (welche übrigens, wie Acassız nachweist, in diesen Meeren wenigstens nicht unter 7 bis höchstens 10 Faden hinabgeht), beginnt die Reihe jener Riffbildungen in den verschiedensten Graden der Ent- wickelung aufzutreten, wie sie namentlich an der Südspitze von Florida genau sich verfolgen liessen. Hier zieht eine lange vielfach unterbrochene Linie von Inselchen, Sandbänken und schmalen Landstreifen erst parallel der Küste südwärts, dann allmählich immer stärker umbiegend westwärts, um mit der Riffgruppe der Tortugas zu endigen. Diese eigentümliche Krümmung ist hauptsächlich dem Einfluss einer starken, 10—20 Meilen breiten Gegenströmung zuzuschreiben, welche zwischen der Küste und dem linken Rande des Golfstroms nach Westen zieht und eine Menge organischer Reste mit sich führt, die er in seinem Verlaufe immer weiter westwärts ablagert, während weiter östlich ein Riff ums andere empor- wächst und sich zuletzt dem festen Lande unmittelbar anschliesst. Auf die Beschreibung der einzelnen Etappen dieses beständig weitergreifenden Vorgangs können wir hier nicht eingehen; es sei bloss noch folgendes hervorgehoben. Brandung und Sturmfluten richten gewaltige Verheerungen unter den Riffen an: oft färbt sich die. See sechs bis zehn Meilen weit von den zermalmten Kalkteilchen weisslich. Abgebrochene Knollen und Äste von Korallen, tote Korallinenalgen, Muschel- und Schneckenschalen, Serpularöhren, Gorgonidengerüste und andere Reste werden dann in Form von niedrigen Dämmen längs der Riffe aufgeworfen und bald im Innern derselben als bewegliche Dünen zusammengehäuft, oder sie bilden sub- marine Bänke, welche durch teilweise Auflösung zu festen Massen mit steilem Abfall bis zu 33° zusammenbacken und so die Anlage neuer Riffe begünstigen. Fassen wir alle diese und die oben erwähnten Resultate zusammen, Wissenschaftliche Rundschau. 219 so erhalten wir eine schon sehr zuverlässige Grundlage, um die Ent- stehung und Verbreitung der Korallenriffe erklären zu können. Jeden- falls können Kanalriffe und Atolls auch ohne Senkung des Bodens, ja sogar bei Hebung desselben ebensogut sich entwickeln wie Küstenriffe, und ihre spezielle Form und Anordnung scheint von so zahlreichen Ein- flüssen abzuhängen, dass gewiss 'SEMPER’s Forderung, es müsse jeder ein- zelne Fall besonders geprüft werden, vollberechtigt erscheint. Vom Stand- punkt der Senkungstheorie könnte man nun zwar noch auf manche Schwierig- keiten hinweisen, die scheinbar nur durch sie befriedigend erklärt werden; von allgemeinerer Bedeutung sind jedoch bloss die- folgenden drei Punkte: 1) Nur die Annahme, dass bei langsamer Versenkung eines Kontinents eine Erhöhung, eine Bergspitze um die andere bis ins Niveau des Meeres gelangt und von da an durch die Korallen auf gleicher relativer Höhe erhalten wird, scheint die Existenz so zahlreicher Koralleninseln begreiflich zu machen. Allein wenn wir auch diese Ursache für einen gewissen Bruchteil der Fälle anerkennen, so haben wir zur Erklärung des Restes nicht weniger als drei andere Thatsachen zur Verfügung, welche ver- einzelt oder kombiniert jenes Endresultat herbeigeführt haben können: allgemeine Hebung, insbesondere aber einerseits Reduzierung vulkanisch aufgeschütteter Inseln durch die Atmosphärilien bis aufs Meeresniveau, anderseits Erhöhung submariner Bänke und Spitzen durch organische Reste, was beides schliesslich einen zur Ansiedelung von Riffkorallen ge- eigneten Boden schafft. — 2) Die »unergründliche« Tiefe, in welche der Aussenrand von Kanalriffen und Atolls abstürzen oder aus welcher die Riffmauer fast senkrecht aufsteigen soll, ist freilich nur denkbar, wenn die Basis der Mauer sich einst dicht unter dem Meeresspiegel befand. Allein wo sind die Beweise für jene Tiefe und für den Aufbau dieser ganzen Riffmasse aus an Ort und Stelle gewachsenen Korallen? Wie übertrieben die Vorstellungen über den ersten Punkt zumeist sind, haben wir bereits gesehen. Bezeichnend ist auch, dass das Riff der Gambier- Inseln z. B. von Darwın auf 2000, von DavA dagegen das eine Mal auf 1750, das andere Mal auf 1150 Fuss Mächtigkeit berechnet wird — stets aber unter der gewiss irrigen Voraussetzung, dass die Neigung der Ober- fläche an der Küste sich auch unter dem Meere beliebig weit in gleicher Stärke fortsetze. Noch weniger aber ist in irgend einem Falle der zweite Beweis erbracht worden, während anderseits die Beobachtungen von Agassız und Murray es höchst wahrscheinlich machen, dass ein Riff durch beständige Abbröckelung am Aussenrande und Verkittung der Trümmer mit den Resten anderer Seetiere sich eine beliebig weit hinaus und in die Tiefe reichende Basis zur fortwährenden Vergrösserung seines Umfangs zu schaffen vermag. — 3) Die grosse Tiefe mancher Lagunen von Atolls (bis zu 40 Faden) und vieler Lagunenkanäle endlich würde nur unter An- nahme einer Senkung erklärlich sein, wenn uns nicht die lösende und auswaschende Kraft des strömenden Wassers bekannt wäre, wofür oben schon SEmPrER's Beobachtungen angeführt wurden. Erweisen sich diese Einwände somit den neueren Erfahrungen gegen- über nicht mehr als stichhaltig, so werden wir anderseits durch Verlassen der Senkungstheorie von zwei bedenklichen Unzuträglichkeiten befreit, deren 220 Wissenschaftliche Rundschau. Gewicht man eigentlich schon längst gefühlt hatte, ohne es richtig an- erkennen zu wollen. Wenn die Koralleninseln des Stillen und Indischen Ozeans die letzten Reste versunkener Kontinente sind, warum findet man auf ihnen nirgends die für die kristallinischen Gesteine anderer Festlands- massen so charakteristischen Mineralien? Sie bestehen thatsächlich nur aus vulkanischem Material oder dann aus Korallenkalk. Und zweitens: der unmittelbaren Beweise für Senkungen im Gebiet der Kanalriffe und Atolls sind es so wenige und so lokale und diese lassen sich so ungezwungen auf andere zufällige Ursachen zurückführen (Einsturz von im Korallen- kalk ausgewaschenen Höhlen, Zusammensinken des Schuttwalles, auf dem der äussere Teil des Riffes steht, u. s. w.), dass die Senkungstheorie in der That schon deswegen recht schwach begründet erscheint, während anderseits in direktem Widerspruch mit ihr aus allen Teilen der Korallen- meere eine Menge von Thatsachen bestimmt für neuere Hebungen von sehr verschiedenem Grade und Umfang zeugen — Thatsachen, die teil- weise schon Dana zusammengestellt hat. So dürfen wir denn wohl nicht länger zögern, das schöne ein- heitliche Gebäude von Darwın’s Senkungstheorie zu verlassen und die Riffe als das Ergebnis einer grossen Zahl verschiedener Faktoren auf- zufassen, deren Produkt im einzelnen ebenso mannigfaltig sein kann wie die Art ihres zufälligen Zusammenwirkens.. Am fühlbarsten dürfte die dadurch entstehende Lücke in der Geologie werden, welche sich genötigt sehen wird, ihre Beweise für weit ausgedehnte säkulare Hebungen und Senkungen einer gründlichen Revision zu unterziehen; aber auch der Biologie erwächst daraus die Verpflichtung, mit neuen, jedes Detail berück- sichtigenden Studien in die Lebenserscheinungen jener zierlichen Bau- meister des Meeres einzudringen und dieselben als Glieder der grossen Biocoenose, in welcher sie ihre Existenzbedingungen finden, begreifen zu lernen. Die Verwandtschaftsbeziehungen der Malakostraken. Die unter diesem Namen zusammengefassten höheren Krebse bilden unzweifelhaft, trotz der grossen äusserlichen Verschiedenheit ihrer Ver- treter (Flohkrebs, Assel, Mysis, Flusskrebs, Krabbe ete.), doch eine aus gemeinsamer Wurzel entsprungene Gruppe, was schon die eine Thatsache beweist, das bei ihnen allen, im Gegensatz zu der wechselnden Segment- zahl der niederen Krebse oder Entomostraken, stets 5 Segmente (mit Antennen und eigentlichen Mundgliedmassen) auf den Kopf, 8 auf den Thorax und 7 auf das Abdomen kommen. Innerhalb der Gruppe selbst stellt man gewöhnlich Arthrostraken und Thorakostraken einander gegenüber, neuerdings wird jedoch (von Cuaus) beiden noch die Ab- teilung Leptostraka mit dem einzigen Repräsentanten Nebalia (und Parane- balia) vorangestellt, als Übergangsglied von den Phyllopoden her, mit denen diese Gattung bisher vereinigt worden war. Zu einer wesentlich andern Einteilung ist J. E. V. Boas auf Grund einer genaueren Prüfung der anatomischen Verhältnisse insbesondere der Gliedmassen gekommen Wissenschaftliche Rundschau. 221 (Morphol. Jahrb. VII, 1885). Zunächst erklärt er die ersten oder inneren Antennen (die Antennulae) für nicht zur Reihe der eigentlichen Glied- massen gehörige Gebilde, vielmehr für echte Sinnesorgane ähnlich wie die Stielaugen, die man ja früher auch den Gliedmassen zugezählt hat. Ihre beiden Äste oder Geisseln entsprechen nicht etwa den Ästen des typischen Krustaceenspaltfusses (dem Exo- und Endopodit), denn der äussere Ast entspringt hier stets vom zweiten, bei der ersten Antenne dagegen vom dritten Gliede, ausserdem fehlt das Äquivalent des inneren Astes noch beim Nauplius und allen Entomostraken, dieser stellt also eine neue Erwerbung der Malakostraken dar, während der äussere Ast mit seinen Riechborsten die Fortsetzung des primitiven Anhangs bildet. Nebalia hält Boss für näher mit den Phyllopoden als mit den Malakostraken verwandt, worauf auch in der That die Form ihrer Thorakal- füsse, die gesonderten Brustringe und die Schwanzgabel hinweisen ; dass sie aber dabei eine eigenartige Richtung eingeschlagen hat und also keine reine Ahnenform ist, verrät schon der Umstand, dass sie das Ei nicht als Nauplius, sondern in einem dem fertigen Tiere bis auf die noch rudimentäre Schale sehr ähnlichen Zustand verlässt. — Unter den Thorako- straken selbst pflegt man gegenwärtig zumeist die niederen und jeweils nur durch wenige Formen repräsentierten Ordnungen der Cumaceen, Squilliden und Schizopoden von der höheren und reich gegliederten Gruppe der Dekapoden zu unterscheiden, ja Cvaus vereinigt die beiden letztgenannten Abteilungen als Unterordnungen zu einer gemeinsamen Ordnung der Podophthalmen. Dem gegenüber betont Boas vor allem, dass die Schizopoden keine natürliche Einheit darstellen. Die eine Ab- teilung derselben, die Euphausiiden, umfasst sehr primitive Formen: alle Thorakalfüsse sind noch gleichartig gebildet; 7 Segmente des Thorax bleiben frei; der Embryo verlässt das Ei als Nauplius, der sodann eine sehr vollständige Metamorphose mit Protozoaea-, Zoaea- und noch an- deren Stadien durchläuft; die Spermatozoiden sind einfache Zellen ohne Geisselanhang. Daneben haben sie aber doch auch einige sekundäre Anpassungscharaktere erworben, so die Kleinheit des Rückenpanzers, die mehr oder weniger vollständige Rückbildung des 8. (bei Huphausia auch des 7.) Thorakalfusses u. s. w. — Die andere Abteilung der Schizo- poden dagegen, die Mysideen, repräsentiert einen weiteren Fortschritt, der entschieden zu den Arthrostraken hinüberleitet: von den Brustglied- massen sind die erste oder die beiden ersten zu Kieferfüssen umgestaltet ; die vorderen Brustsegmente verwachsen mit dem Rückenschild, das jedoch verhältnismässig klein bleibt; von den kurzen Basalgliedern der Brustbeine wachsen beim Weibchen breite Brutplatten nach innen, welche wie bei den Isopoden die junge Brut während ihrer ganzen Entwickelung beschützen; letztere ist dementsprechend sehr verkürzt, der Embryo be- sitzt beim Verlassen des Eies ausser den Naupliusanhängen bereits einen langen Schwanz, und endlich haben die Spermatozoiden fadenförmige An- hänge, was beides auch den Isopoden zukommt. Diese lassen sich denn in der That ganz leicht von einem Mysis- artigen Vorfahren ableiten, an welchem sich allmählich der Rückenschild, die Augenstiele, der innere Ast der Antennulae, die Antennenschuppe, die 922 Wissenschaftliche Rundschau. äusseren Äste der Brustgliedmassen und die Schwanzregion mehr oder weniger rückgebildet haben. Dass Sitzaugen und Mangel eines Rücken- schildes primitive Charaktere sein sollen, wie man gewöhnlich annimmt und auf Grund dessen man die Arthrostraken als ursprünglichere Gruppe den Malakostraken voranzustellen pflegt, widerlegt sich durch einen Blick auf so viele Phyllopoden mit gestielten Augen und einem mächtigen tückenschild, den ja auch die paläontologisch ältesten Formen zumeist ausgebildet zeigen. Zur direkten Ableitung der Arthrostraken von phyllo- podenartigen Vorfahren fehlt überdies jeder Anhalt, während die Annahme von Boas, dass Euphausiiden und Mysideen die Übergangsglieder vertreten, sehr plausibel erscheint. Vielleicht dürften auch die merkwürdigen Scherenasseln (Tanaidae), die man früher gern als »stieläugige Edrioph- thalmen« charakterisierte, als vorletztes Glied in diese Übergangsreihe gehören. Die Amphipoden würden hiernach eine noch stärker abweichende Gruppe darstellen, welche denn auch mehrfache Rückbildungen an ein- zelnen Gliedmassen aufweist. Was die oben erwähnten Cumaceen betrifft, so hält Boas auch sie für einen Seitenzweig der Isopodenvorfahren. Allerdings besitzen sie gleichfalls sessile Augen, die sogar zu einem unpaaren Organ verschmelzen, das Weibchen ist mit Brutplatten ausgestattet, der Rückenschild ist klein und lässt 5 (resp. 4) Brustsegmente frei, die Entwickelung stimmt wesentlich mit derjenigen der Isopoden überein; doch zeigen sie auch gewisse Besonderheiten, die zum Teil noch primitiver sind als die ent- sprechenden Verhältnisse der Mysideen. — Die Dekapoden sodann lassen sich trotz ihrer äusserlichen Ähnlichkeit mit Mysideen doch nur mit den viel’ ursprünglicheren Euphausiiden in nähere Beziehung bringen. Besonders wichtig als verknüpfende Form ist Penaeus, bei welchem, wie uns Frırz Müruer gelehrt hat, die freie Nauplius- und die Protozoaea- form noch sich erhalten haben, ebenso die einfache zellige Gestalt der Spermatozoiden und der Besitz von sogenannten Epipoditen an den Thorakalfüssen. Mit den Euphausiiden haben sie ferner die Verwendung des ersten Abdominalfusspaares beim Männchen zum Begattungsorgan und die Befruchtung durch Spermatophoren gemein. Dagegen haben sie allerdings noch sehr wichtige selbständige Neuerwerbungen gemacht: so die Umbildung der drei ersten Brustgliedmassen zu Kieferfüssen, die Ver- wachsung sämtlicher Brustsegmente mit dem Rückenschilde, die Ent- wickelung mächtiger büschelförmiger Kiemen als Auswüchse der Thorax- wand u. Ss. w. Fast am isoliertesten stehen endlich die Squilliden (Stomatopoden) da. Ihr Rückenschild ist kurz, die Brustsegmente bleiben mit Ausnahme des ersten sämtlich frei, die drei letzten Brustgliedmassen sind noch einfache spaltästige Ruderfüsse, die breiten Schwimmfüsse des Abdomens tragen aussen wohlentwickelte Kiemenbüschel, das Herz ist langgestreckt und vielkammerig wie bei Phyllopoden und Nebalia, während es bei allen andern Malakostraken nur drei Ostienpaare besitzt; die Larvenentwickelung überspringt wie es scheint das Naupliusstadium und beginnt gleich mit der sog. Erichthusform, welche von der Zoaea der Dekapoden be- deutend abweicht; die Larve ist mit der für die niederen Krebse charak- Wissenschaftliche Rundschau. 223 teristischen Schalendrüse ausgerüstet, die sonst nur noch bei Sergestes vorkommt. Wenn sich die Squilliden durch alle diese Eigentümlichkeiten als einen sehr alten Zweig des Malakostrakenstammes kennzeichnen, so dokumentieren sie anderseits durch die hohe Differenzierung ihrer fünf vorderen Brustgliedmassen eine Selbständigkeit, welche sie weit von der einfachen Vorfahrenlinie entfernt. Das Gesamtresultat seiner vergleichenden Betrachtung veranschau- licht uns der Verfasser zum Schluss in folgendem Stammbaum der Malako- straken. Amphipoden Isopoden Cumaceen Mysideen Lophogastriden Dekapoden Squilliden Euphausiiden Phyllopoden Wir fügen dem bloss noch die Bemerkung bei, dass diese Gruppierung, abgesehen von der allerdings sehr wichtigen Auflösung der Schizopoden, ziemlich genau zusammenfällt mit derjenigen, zu welcher schon BALFoUR (in der Vergleichenden Embryologie, I. Band, S. 434) auf Grund ent- wickelungsgeschichtlicher Erwägungen gelangt ist, freilich ohne dieselbe eingehender zu motivieren. 294 Wissenschaftliche Rundschau. Geologie. Die Eiszeit in den deutschen Alpen, nach A. Penck. (Schluss.) U. Ältere Vergletscherungen von Oberbayern und Nordtirol. Überblickt man sämtliche Spuren des Glazialphänomens in unserm Gebiet, so erkennt man, dass nicht alle sich auf die oben geschilderte letzte Vergletscherung zurückführen lassen. Nördlich von Innsbruck findet sich eine alte Breccie, die Höttinger Breccie, das verfestigte Material eines alten Schuttkegels. Diese Breccie bildet, wie Penck entdeckte, das Hangende typischer Moränen. Sie selbst führt vielfach Urgebirgsgesteine und es gelang sogar 1383 auf einer Exkursion, an welcher sich Referent beteiligte, einen grossen deut- lich geschrammten Kalkblock in derselben zu entdecken. Nur spärliche und undeutliche Pflanzenreste finden sich in derselben, so dass ihr Alter sich nicht mit Sicherheit bestimmen lässt. Im Höttinger Graben sieht man, dass diese Breccie von dem unverfestigten Schutt eines Wildbachs überlagert wird, welcher gleichfalls reichlich Urgebirgsgeschiebe führt, viel reichlicher, als sie sich in der Breccie nachweisen lassen. Dieser Schutt seinerseits wird wieder von Grundmoränen überlagert. Fasst man diese Verhältnisse ins Auge und bedenkt man, dass das Auftreten von Urgebirgsgeschieben am Nordgehänge des Innthals nur durch Gletscher zu erklären ist, die das Innthal erfüllten, so ergibt sich folgende Ge- schichte der Gegend von Innsbruck: 1) Erste Vergletscherung, welche bei ihrem Rückzuge die Moränen hinterlässt, die heute das Liegende der Breccie bilden. 2) Bildung eines grossen Schuttkegels; die Gehänge des Innthals sind mit Pflanzen bewachsen, deren Reste sich in der Breccie finden; Verfestigung des Schutts zur Höttinger Breccie; Erosion derselben. 3) Vermutliche neue Verbreitung von Gesteinen der Zentralalpen über die nördlichen Kalkalpen, vielleicht durch eine zweite Vergletscherung. 4) Anhäufung von dem Schutte eines Wildbaches über der Breccie, in welchem sich die Urgebirgsgeschiebe der gemutmassten zweiten Ver- gletscherung finden. Vertiefung des Innthals bis zu seiner heutigen Tiefe. 5) Herannahen der letzten Vergletscherung. Anhäufung der untern Glazialschotter; Ablagerung von Moränen auf der Höhe und an den Ge- hängen der Terrasse, Rückzug der Vergletscherung. 6) Erosion des Innthals; Bildung der Schluchten in der Terrasse; Ablagerung von Schuttkegeln auf derselben. Dieser Gang der Ereignisse lehrt, dass die drei verschiedenen Ver- gletscherungen der Gegend von Innsbruck, von denen zwei durch PEnxck nachgewiesen, die dritte wahrscheinlich gemacht. worden ist, durch Zeit- abschnitte nicht geringer Dauer von einander getrennt sind. Es ist daher kaum anzunehmen, dass sie durch Oszillationen einer und derselben Eiszeit erzeugt wurden. Wissenschaftliche Rundschau. 235 Nun finden sich in den Kalkalpen noch mehrere ganz ähnliche Breccien, welche nachweislich in bezug auf die letzte Vergletscherung präglazial sind und teilweise, wie z. B. eine Breccie im Isarthal, zugleich Urgebirgsgeschiebe führen. Pexck hält es daher für sehr wahrscheinlich, dass sie als gleichartige Bildungen auch gleichaltrig mit der Höttinger Brececie, d. h. interglazial sind. Es gelang Prxck, auch für die zweifache Vergletscherung des Iller- thals einen unanfechtbaren stratigraphischen Beweis in einem Lager dilu- vialer Kohlen zu entdecken, welches sich in einer mächtigen Schicht alpinen Gerölls eingebettet findet, die ihrerseits von Grundmoränen über- vagert und unterteuft wird. Die Annahme blosser OÖszillationen einer und derselben Vergletscher- ung erklärt, wie Psrnck ausführt, diese Verhältnisse nur gezwungen, da sie sowohl Voraussetzungen als auch Ergebnisse kompliziert. Alle Schwie- rigkeiten fallen mit der Annahme von mindestens zwei scharf getrennten allgemeinen Vergletscherungen. Dasselbe Resultat, zu welchem HrEr durch paläontologische Gründe geführt wurde, gewann Prnck aus strati- graphischen Verhältnissen. Nicht allein im Gebirge, auch auf der Hochebene finden sich Spuren von älteren Vergletscherungen. Es werden an vielen Stellen die unteren Glazialschotter von einer festverkitteten Nagelfluh unterteuft, welche von denselben durch eine Schicht Verwitterungslehm bald mehr bald weniger deutlich geschieden ist. Ihre Südgrenze verläuft analog der oben gezogenen Nordgrenze der Moränenzone und bildet wie diese der Mündung eines Thales in die Hochebene gegenüber bald mehr bald weniger tiefe Ausbuchtungen nach Norden. Diese Nagelfluh besitzt ganz den Charakter der unteren Glazialschotter: wie diese ist sie eine rein tluviatile Ablagerung; sie führt nicht nur an Stellen, wo sich ein solches Vorkommen nur durch Gletscher erklären lässt, Urgebirgsgesteine, son- dern auch an ihrer Südgrenze gekritzte Geschiebe; ihre Mächtigkeit nimmt wie die der unteren Glazialschotter von Süden nach Norden fort- während ab. Kurz alles weist‘ darauf hin, dass ihre Bildung unter den- selben Verhältnissen vor sich ging wie die der unteren Glazialschotter, dass sie also glazialen Ursprungs ist. Derselben Vergletscherung können aber beide Schottersysteme ihre Entstehung nicht verdanken, denn die Nagel- fluh war nicht allein, wie Gletscherschliffe auf derselben beweisen, schon verfestigt, als die unteren Glazialschotter abgelagert wurden, sondern bereits wieder stark erodiert und oberflächlich verwittert. Ein langer Zeitraum, eine Interglazialzeit muss demnach die Bildung beider getrennt haben. Damit ist die Reihe der Schottersysteme auf der bayerischen Hochebene noch nicht erschöpft: noch ein drittes System glaubt Prxck in Schwaben zwischen Nagelfluh und den unteren Glazialschottern nach- weisen zu können, von gleicher Zusammensetzung wie jene, nicht ver- festigt und von der Nagelfluh und den unteren Glazialschottern durch Erosionserscheinungen und je eine Schicht Verwitterungslehm getrennt. Die Nordgrenze der Moränenlandschaft, deren Verlauf wir oben kurz beschrieben, ist nicht die Nordgrenze aller Moränenvorkommnisse. Es finden sich noch nördlich von derselben Moränen, deren Grenze nach Kosmos 1884, I, Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XIV). 15 236 Wissenschaftliche Rundschau. Norden wieder dieselben Ausstülpungen zeigt wie die der südlicheren Moränen. PrncKk nennt jene Moränenzone die äussere. Während die innere Moränenzone uns die typische Moränenlandschaft darstellt, macht die äussere Moränenzone einen sehr verwaschenen, alten Eindruck: die Gliederung in Wälle fehlt hier bereits; die Erosion hat die Moränen stark zerfetzt; Löss lagert vielfach auf ihnen; die in dieselben einge- schnittenen Thäler sind mit unteren Glazialschottern angefüllt, die mehr- fach sich direkt unter die Moränen der inneren Zone fortsetzen. Mithin sind die Moränen der äusseren Zone älter als die unteren Glazial- schotter, also auch älter als die letzte Vergletscherung. Auf der andern Seite sind sie aber auch weit jünger als die diluviale Nagelfluh, da sie in Thälern derselben eingelagert sind und Bruchstücke derselben führen. Mithin müssen sie der zweiten Vergletscherung zugezählt werden, deren Schotter Prxck (vergl. oben) in Schwaben fand. Im Gebirge wie in der Ebene finden sich also Spuren mehrerer Vergletscherungen. Wenn es auch schwer halten würde, nachzuweisen, dass die Spuren der drei in der Ebene nachgewiesenen Vergletscherungen auch den Spuren der drei im Gebirge erkannten Vergletscherungen ent- sprechen, da sich die Schottersysteme nicht ununterbrochen in die Alpen- thäler hinein verfolgen lassen, sondern am Ausgang derselben gänzlich fehlen, so glaubt Prnck doch berechtigt zu sein, eher eine gleichzeitige Entstehung der entsprechenden Bildungen anzunehmen als das Gegenteil. Nach ihm ergibt sich folgende Chronologie der Glazialzeit für Ober- bayern und Nordtirol: 1) Erste Vergletscherung; Ablagerung der Moränen im Liegenden der Höttinger Breccie bei Innsbruck und der Kohlen im Illerthal; Ver- breitung ausgedehnter Glazialschotter über die Ebene. 2) Erste Interglazialzeit; Verfestigung der Glazialschotter zu der diluvialen Nagelfluh; tief einschneidende Erosion derselben; Bildung von Schuttkegeln in den Alpen und Verfestigung derselben zu Breccien. 3) Zweite Vergletscherung; Ablagerung des mittleren Schottersystems auf der Hochebene und der Moränen der äusseren Zone. 4) Zweite Interglazialzeit; Erosion der Moränen der äusseren Zone; Entstehung des Löss auf denselben; Bildung des Wildbachschuttes bei Höttingen, in welchem sich die Urgebirgsgeschiebe der zweiten Ver- gletscherung finden. 5) Dritte und letzte Vergletscherung, welche an Grösse der vorher- gehenden bedeutend nachsteht, wie der Verlauf der Nordgrenze der von beiden abgelagerten Moränenzonen zeigt. Bei ihrem Eintritt Aufschütt- ung der unteren Glazialschotter, Erfüllung des Innthals mit denselben; Entstehung der Moränen der inneren Zone sowie der Moränen im Han- genden der Innterrassen; beim Rückzug der Vergletscherung Ablagerung der oberen Glazialschotter. 6) Postglazialzeit; weitere Erosion des Innthales; Herstellung des gegenwärtigen Zustandes. Penck glaubt diese seine Resultate auf die gesamte Alpenkette übertragen zu können. Die grosse Analogie, welche die diluviale Nagel- tiuh Südbayerns mit der löcherigen Nagelfluh der Schweiz und ähnlichen Wissenschaftliche Rundschau, 997 Bildungen bei Lyon und in Oberitalien besitzt, lässt ihn vermuten, dass wir auch in ihnen Spuren einer ersten Vergletscherung der alpinen Vor- länder vor uns haben, besonders da die betreffenden Gebilde von man- chen Gelehrten bereits für Anschwemmungen einer ersten Vergletscherung angesprochen wurden. Jener Komplex von Erscheinungen ferner, welcher eine dritte Vergletscherung Oberbayerns beweist, vor allem die Scheidung der Moränen in eine äussere und innere Zone, kehrt rings um die Alpen wieder und führte bereits früher zur Annahme zweier Vergletscherungen der Alpen. Penck gelang zuerst der Nachweis, dass die diluviale Nagel- fluh keiner der zwei Vergletscherungen ihre Entstehung verdankt, welche die Moränen der äusseren und der inneren Zone ablagerten, dass wir mithin eine dreifache Vergletscherung der Alpen anzunehmen haben. II. Gletschererosion und Bildung der oberbayerischen Seen. Die Frage von der Gletschererosion ist vielfach erörtert worden; die Geologen teilen sich in zwei Lager: die einen, wie unter anderem PESCHEL, RECLUS, RÜTIMEYER und Heım, bestreiten die Möglichkeit einer Erosion durch Gletscher vollständig und wollen diesen nur insofern einen Einfluss auf die Bildung der Seen zugestehen, als sie deren Becken durch das Eis vor dem Zugeschüttetwerden bewahren, sie konservieren; die anderen, wie Ramsay, Dana, ÜCRroLL, J. und A. GEIKIE, verfechten die Annahme einer erodierenden Wirkung der Gletscher und lassen die Alpen- seen durch dieselben »ausgepflügt« werden. Den letzteren schliesst sich Prnck auf Grund seiner Beobachtungen mit aller Entschiedenheit an. Man hat die Möglichkeit einer Erosion durch Gletscher vielfach bestritten, indem man nachwies, dass der Gletscher an einer bestimmten Stelle nicht erodiert hat. Aber dass der Gletscher an einer Stelle nicht erodiert hat, beweist noch nicht, dass er nirgends erodiert. Auch das Wasser erodiert nicht überall, je nach den Verhältnissen wirkt es auch anhäufend. Das fliessende Wasser erodiert ferner nicht so sehr durch seine eigene Bewegung, als durch die Bewegung der festen Bestandteile, die es als Geschiebe oder Sand mit sich führt. Ebenso der Gletscher: das Eis selbst erodiert gewiss nur wenig; es erodiert dagegen im höch- sten Grade mit Hilfe des festen Materials, das es an seiner Sohle mit- schleppt: die Grundmoräne ist die Feile, mit welcher der Gletscher ar- beitet; Gletscherschliffe und Rundhöcker sind die Spuren dieser Feile. Wie sollte auch eine Masse wie die Grundmoräne, wenn auf 1 qm ihrer Oberfläche ein Druck von etwa einer Million kgr lastet, während sie ab- wärts bewegt wird, den Untergrund nicht erodieren können? — PENncK führt noch andere Beweise für die Gletschererosion an. Es zeigt sich, dass die Grundmoräne je nach dem Untergrund, den sie überschritten hat, verschieden zusammengesetzt ist. Es fanden sich ferner in ihr Kalk- blöcke, deren eine Seite nach Art der Gletscherschliffe auf anstehendem Gestein poliert und geschrammt war, während die anderen Teile der Oberfläche unregelmässig gestaltet und gekritzt erschienen. Offenbar war der Block ein Teil eines anstehenden Felsen gewesen, zuerst von der Grundmoräne geschrammt, dann losgebröckelt worden und bei der 228 Wissenschaftliche Rundschau. Fortbewegung in derselben war seine zum Teil rauhe Oberfläche ge- glättet und mit den zahlreichen unregelmässigen Kritzen bedeckt worden. Es ist jedenfalls klar, dass der Gletscher unter Umständen erodieren kann. Aber er kann auch anhäufen. Nicht überall bewegt sich der Glet- scher mit gleicher Geschwindigkeit, auch für ihn muss der Satz gelten, dass bei stetigem Fliessen durch jeden Querschnitt des Gletscherbettes in gleichen Zeiten die gleiche Menge Eis hindurchfliesst. Daher wird derselbe Gletscher in engen Thälern rasch, in weiten langsam fliessen, Wo er rasch fliesst, wird er das gesamte Moränenmaterial wie eine Feile über den Boden hinwegschleppen und diesen erodieren; wo er aber nur langsam fliesst, wird er nicht alles Material, das er herbeigeschafft hat, weiter transportieren können; er wird vieles liegen lassen, anhäufend wirken. In den Querthälern der nördlichen Kalkalpen, welche verhält- nismässig starkes Gefälle und geringen Querschnitt haben, mussten die Eismassen sich rasch bewegen; daher finden sich dort nur wenig mächtige Moränen an besonders geschützten Stellen, während in den weiten Längs- thälern mit geringerem Gefälle, vor allem im Innthal Moränen von 60 bis 100 m Mächtigkeit sich finden. Dass sich in der That die unteren Schichten dieser besonders mächtigen Moränen bereits in Ruhe befanden, während die oberen sich noch bewegten, dass also eine Anhäufung von Moränenmaterial unter dem Gletscher möglich ist, gelang P£xck im Inn- thal zu beweisen. Abgesehen von alledem beweist schon die ungeheure Menge von Gesteinsmaterial, welche von den Gletschern über die Hochebene ver- breitet wurde, wie ausserordentlich stark die Gletscher erodierten. PENnck fand, dass alle Glazialablagerungen der Ebene über die Teile des Ge- birges ausgebreitet, über welche die oberbayerischen Gletscher sich er- streckten, dieselben überall um 536 m erhöhen würden. Wenn nun auch die Gletscher erodierten, so sind doch die Thäler, in denen sie flossen, gewiss präglazial und nur in ihren Details von den Gletschern verändert; das zeigen schon die Terrassen des obern und mittlern Innthales, welche, obwohl sie aus untern Glazialschottern be- stehen, also beim Herannahen der letzten Vergletscherung gebildet wurden, doch bis zur gegenwärtigen Thalsohle hinabreichen. Dieses könnte nicht der Fall sein, wenn die letzte Vergletscherung das Innthal wesentlich vertieft hätte. Die Schotter selbst sind freilich von den Kismassen stark erodiert worden, wie das Auftreten von Moränen am Fuss der Terrassen deutlich erkennen lässt. Je weiter man das Innthal abwärts verfolgt, um so mehr nehmen die erhaltenen Reste der unteren Glazialschotter ab, bis sie schliesslich an der Mündung des Thales in die Ebene gänzlich verschwinden. Manche Anzeichen beweisen jedoch, dass sie einst auch hier abgelagert wurden ; wenn sie nun nach dem Schwinden der Eisbedeckung fehlen, so können sie nur während der Vergletscherung fortgeschafft, d. h. vom Eis erodiert worden sein. Der Gletscher beschränkte sich nicht nur auf die Ent- fernung der Schotter, er bildete eine zentrale Depression an seiner Mün- dung aus, welche bis in die anstehenden Gesteinsschichten hinabreicht. Solche Zentraldepressionen finden sich überall, wo ein Gletscher die Wissenschaftliche Rundschau. 229 bayerische Hochebene betrat. -Der Chiemsee, der frühere Rosenheimer See, dessen Spuren wir in dem Rosenheimer Moos erkennen, der Würmsee, der Ammersee sind von den Gletschern ausgehöhlte Becken, Zentral- depressionen; denn nachdem Prnck gezeigt hat, dass die oberbayerischen Alpenseen völlig unabhängig von dem geologischen Bau der Schichten sind, in welche sie eingesenkt sind, dass sie mithin keine Einsturzseen und keine Abdämmungsseen sein können, dass sie ferner auch nicht durch Senkung der Alpenkette oder Hebung der oberbayerischen Hochebene abgesperrte Flussthäler sind, so können sie einzig und allein Erosions- seen sein. Fliessendes Wasser aber kann nie einen See bilden, es ist im Gegenteil der grösste Feind der Seen, indem es deren Abfluss durch Erosion tiefer legt und mit den herbeigeführten Geschieben die Depression auszufüllen bestrebt ist. Einzig und allein die erodierende Kraft der Gletscher kann daher die Seebecken geschaffen haben. IV. Ursachen der Eiszeit. Dreimal sind nach Prxck die Alpen vergletschert gewesen; zwei Vergletscherungen sind von HELLAND, GREWINGK und Prxckx 'in Skan- dinavien, Russland und Deutschland nachgewiesen worden; gerade in Norddeutschland kann man vielfach zwei verschiedene Grundmoränen durch Zwischenbildungen von einander getrennt meilenweit über einander verfolgen ; eine dritte Vergletscherung ist hier freilich noch zu beweisen. Fast in jedem grösseren Gebirge finden sich Spuren einer alten Verglet- scherung: nicht nur die Alpen und Skandinavien, der Schwarzwald, die Vogesen, die Pyrenäen, die Karpathen, Schottland waren vereist, auch die Gebirge Nordamerikas lassen keinen Zweifel daran aufkommen, dass hier einst mächtige Gletscher sich entfalteten. Prxck hält es angesichts solcher Thatsachen für unstatthaft, die Eiszeit als ein. blosses Lokal- phänomen aufzufassen; die Vergletscherung der Alpen ist ihm nur »der lokale Ausdruck einer allgemeinen Erscheinung auf der Erde«, einer all- gemeinen Eiszeit. Alle Hypothesen, welche die Eiszeit aus lokalen Ver- hältnissen zu erklären suchen, weist er dementsprechend von sich. Das ganze diluviale Glazialphänomen war lediglich eine Steigerung des heutigen. Gletscher finden sich heute da, wo die jährlichen Nieder- schläge vorwiegend in Form von Schnee fallen. Eine Vermehrung der Niederschläge muss daher auch ein Anwachsen der Gletscher nach sich ziehen. Doch wird dabei dem Anwachsen durch das Abschmelzen eine gewisse Grenze gesetzt. Die Gletscherverhältnisse Neuseelands zeigen in der That, dass reichliche Niederschläge allein noch nicht zu einer eis- zeitlichen Entwickelung der Gletscher führen. Zwei Momente erachtet daher Prnck zu einer Erklärung der Eiszeit für notwendig, einerseits Mehrung der schneeigen Niederschläge, anderseits Erniedrigung der Temperatur, mit andern Worten einen klimatischen Wechsel. Nun ergeben sich überall da, wo das quartäre Glazialphänomen genau untersucht worden ist, Andeutungen oder Beweise mehrerer wäh- rend der Diluvialzeit stattgehabter Vergletscherungen. Dieses führt not- wendig zur Annahme wiederholter allgemeiner klimatischer Schwankungen. Die meteorologische Forschung hat zwar innerhalb des kurzen Zeitraums 230 Wissenschaftliche Rundschau. ihrer Existenz keine klimatischen Veränderungen nachweisen können, jedoch wenigstens zur Aufdeckung jener Thatsachen geführt, welche das jetzige Klima der Erde beherrschen, durch deren Veränderungen also auch das Klima der Erde Schwankungen erleiden wird. So können Veränderungen in der Verteilung von Wasser und Land gewiss solche klimatische Veränderungen veranlassen; doch kann diese Thatsache zur Erklärung der Eiszeit nicht herbeigezogen werden; denn »die quartären Vergletscherungen haben sich auf dem heutigen Boden entwickelt, sie standen in ihrer Gesamtentwickelung unter den heutigen physiographischen Zügen. Nachweislich hat seit der Quartärperiode keinerlei Verschiebung der Grenzen zwischen Wasser und Land statt- gefunden; das einzige, was sich geltend machte, sind lokale randliche Untertauchungen am Saume der bestehenden Festlandmassen. < Verteilung von Land und Wasser wirken nur indirekt auf das Klima, insofern als sie den Lauf der Meeresströmungen beeinflussen. Es frägt sich also, ob bei der bestehenden Verteilung von Wasser und Land die Meeresströmungen Variationen unterworfen sein können. Die Meeresströmungen sind ein Produkt der herrschenden Winde, speziell der Passate, wie CrorLu und Zöppritz nachgewiesen haben. Eine Änder- ung der herrschenden Winde wird demnach eine Änderung der Meeres- strömungen und dadurch eine Änderung des Klimas nach sich ziehen. Die beiden Zonen der Passate, welche durch die Kalmen von ein- ander getrennt sind, verändern im Laufe eines Jahres fortwährend ihre Lage, indem die Kalmenzone der Sonne folgt. Da die Sonne gegen- wärtig 6 Tage länger auf der nördlichen Hemisphäre verweilt, so liegt auch die Kalmenzone 6 Tage länger auf der nördlichen Hemisphäre als auf der südlichen. Daher greift der Passat der Südhemisphäre 6 Tage länger auf die Nordhemisphäre über als der Passat der Nordhemisphäre auf die Südhemisphäre. Dadurch werden warme Wassermassen der Süd- hemisphäre auf die Nordhemisphäre gepeitscht. Es ist dieses eine der Ursachen, weswegen die Nordhemisphäre gegenüber der Südhemisphäre thermisch begünstigt erscheint. Infolge der Präzession der Tag- und Nachtgleichen ändert sich das Verhältnis zwischen Nord- und Südhemisphäre: nach 10500 Jahren wird die Sonne länger auf der Südhemisphäre verweilen als auf der Nord- hemisphäre; dementsprechend werden die Kalmen sich verlegen und die Passate und Meeresströmungen von der Nordhemisphäre auf die Süd- hemisphäre übergreifen. »Zufolge der schwankenden Exzentrizität der Erdbahn ist die Dauer der Jahreszeiten eine verschiedene, es kann der Fall eintreten, dass die eine Halbkugel 56 Tage länger die Sonne über sich hat als die andere. Da die Sonne am längsten im Zenithe jener Orte steht, welche den Wendekreisen näher liegen als dem Äquator, so wird jener Überschuss von 36 Tagen Insolation zumeist den höheren Breiten zu gute kommen und dementsprechend wird die Kalmenregion nach jenen höheren Breiten zu sich verschieben. Die Halbkugel, welche den längeren Sommer hat und welche demnach auch — wie Prxck annimmt — die Kalmenregion trägt, empfängt durch die Meeresströmungen einen Teil der der anderen Litteratur und Kritik. 231 Halbkugel gespendeten Wärmemenge. Ihre Meere werden erwärmt, wäh- rend die der letzteren Wärme abgeben. So kann in Perioden grosser Exzentrizität der Erdbahn, wenn also die eine Halbkugel beträchtlich länger beschienen ist als die andere, eine noch grössere Temperaturdifferenz zwischen beiden entstehen, als wir heute wahrnehmen. Es werden dann die Meere der einen Halbkugel vorwiegend kalt, die der anderen dagegen warm sein. Die erstere hat dann ein kaltes maritimes Klima. Ein solches ist, wie A. Worıkor zeigt, der Gletscherentfaltung günstig; in der That, es gewährt reichliche Niederschläge und niedere Temperatur, die Existenzbedingungen von Gletschern.«< Damit will Prxck keineswegs sagen, dass eine periodische Wiederkehr von Vergletscherungen in jedem Fall notwendig sei. >Denn abgesehen von einer Störung in der Wärmezirkulation der Erde gehören auch bestimmte geographische Momente zur Erzeugung gewaltiger Vergletscherungen, zu den Existenzbedingungen von Eiszeiten, und wenn man sich erinnert, in welch’ hohem Masse diese Wärmezirku- lation auf der Erde durch geographische Züge bedingt wird, so muss man eingestehen, dass es des wohl äusserst selten vorkommenden Zu- sammenwirkens verschiedenster teils meteorologischer, teils geographischer Thatsachen bedarf, um eine Eiszeit zu erzeugen, und dass, wenn auch die eine Ursache periodisch wiederkehrt, das Glazialphänomen nicht in regelmässigen Intervallen aufzutreten braucht. »Sind aber einmal die geographischen Verhältnisse der Entstehung von Vergletscherungen günstig, so ist in den periodischen Schwankungen der Wärmezirkulation ein wesentliches Moment für deren Wiederkehr gegeben *.« E. B. Litteratur und Kritik. Origines Ariacae. Linguistisch-ethnologische Untersuchungen zur äl- testen Geschichte der arischen Völker und Sprachen von KArı Prnka. Wien und Teschen. 1883. Prochaska. Ein interessantes Buch, das seine Verdienste hat. Wir wünschen, dass es das Studium der Ethnologie in weitere Kreise verbreite. Über die Bedeutung der Ethnologie spricht sich der Verfasser folgendermassen aus: Mit Hilfe der auf den Ergebnissen der Anthropologie und Linguistik fussenden Ethnologie dürfte es nun nützlich sein, die Geschichte in den Kreis der Naturwissenschaften einzuführen und die geschichtlichen Vor- gänge ebenso als gesetzmässige verstehen zu lernen, wie man bereits den grössten Teil der im Bereiche der physischen Natur sich abspielenden * Penck schliesst sich, wie man sieht, Croll’s Theorie vom Wechsel des Klimas an, jedoch nicht ohne dieselbe wesentlich zu modifizieren. 232 Litteratur und Kritik. _ Vorgänge in ihrer strengen Gesetzmässigkeit erkannt hat. Hierbei dürfte der Ethnologie dieselbe Rolle beschieden sein, wie sie innerhalb der Natur- wissenschaften der Chemie zugefallen ist, die ebenfalls vielfach Körper als aus zwei oder mehreren Elementen zusammengesetzt nachgewiesen hat, die man früher als einfache ansehen zu können geglaubt hat. Was für die Chemie die Elemente oder Grundstoffe sind, sind für die Ethnologie die Rassen. Schon jetzt ist es erwiesen, dass eine Reihe von Völkern aus zwei, ja aus drei Rassenelementen zusammengesetzt sind, die man noch vor kurzem als einheitliches Ganzes angesehen hat. Und wie es die Auf- gabe der Chemie ist, die Eigenschaften der verschiedenen Grundstoffe festzustellen und ihr Verhalten zu einander zu erforschen, ebenso ist es Aufgabe der Anthropologie, die somatischen und psychischen Eigenschaften der verschiedenen Rassen kennen zu lernen und die Gestaltungen zu stu- dieren, die sich in physischer, linguistischer und sozial-politischer Hin- sicht ergeben, wenn zwei oder mehrere Rassen zu einander in eine nähere Verbindung treten. Hierauf spricht der Autor von der Zersetzung dieser gemischten Rassen und verweist auf den Zusammenbruch der germanischen Feudalordnung in Frankreich, Deutschland und Österreich, auf den Ver- lust der von Österreich als deutschem Staate ausgeübten politischen Herr- schaft in Italien und Ungarn, auf den Verlust der politischen Selbständig- keit Süddeutschlands u. s. w. und bemerkt: Die Anthropologie allein ist im stande, für die hier berührten Vorgänge die richtige Erklärung zu geben; sie liegt in dem numerischen Rückgange des arisch-germanischen Rassenelements innerhalb der hier zunächst in Betracht kommenden Völker, gewissermassen in ihrer physischen Ent-arisirung, welche, da der anthro- pologischen Umbildung nicht gleichzeitig eine ethnisch-sprachliche Um- bildung zur Seite gegangen, so lange Zeit unbeachtet geblieben. Dass dieser Rückgang stattgefunden hat, hat seine Ursache in dem Umstande, dass die arische Rasse, wie Psxka nachweist, eine eminent nordische Rasse ist, die sich für die Dauer in südlichen Ländern nicht erhält. Das anarische Element, das seiner Hauptmasse nach sowohl in Frankreich wie in Süddeutschland aus der Zeit vor der germanischen Okkupation stammt, bildet die Majorität. Dort aber, wo das arische Element das entsprechende Klima gefunden, bewahrt es seine volle alte Kraft, und daher kommt es, dass die politische Führung Deutschlands von dem weniger germanisch gewordenen Süden nach dem mehr germanisch gebliebenen Norden überging. Aus demselben Grunde bewahrten die nord- germanischen Völker (Schweden, Norweger, Dänen), welche die arische Rasse in so hohem Masse repräsentieren, die sie auszeichnende Produk- tivität bis heute noch ungeschwächt fort und konnten z. B. Schweden und Norwegen bei einer verhältnismässig geringen Einwohnerzahl in den Jahren 1871—78 nicht weniger als 130000 Menschen an die Ver- einigten Staaten abgeben und hat sich die Auswanderungszahl in den fol- genden Jahren noch um ein bedeutendes vermehrt. Prwka’s Buch be- handelt die Frage nach dem physischen Typus der Arier, ihrer Heimat, dem Verhältnis der arischen Rasse zu den fossilen und den noch jetzt existirenden Menschenrassen, den ältesten Wanderungen der arischen Völker und ihrer Zusammensetzung. PEnkA glaubt ferner, dass seit der gegen- Litteratur und Kritik. 233 wärtigen geologischen Periode die treibenden Kräfte der Geschichte un- verändert dieselben geblieben sind und auch ihre Richtung im wesent- lichen keine Änderung erfahren hat. Die in der Ethnologie gewonnenen Resultate hat der Autor dazu benutzt, um der vergleichenden Grammatik der arischen Sprachen in der Anthropologie der arischen Völker ihre na- türliche Grundlage zu geben, und schliesst seine Einleitung mit den Worten: Bei dem Umstande, als die arische Sprachwissenschaft mehr und mehr der Methodenlosigkeit, Phantasterei und Verflachung verfällt, kann es nur von Nutzen sein, wenn dieselbe einer Disziplin angegliedert wird, die infolge ihres exakt naturwissenschaftlichen Charakters schon von vornherein nicht dazu angethan ist, zum Tummelplatze subjektivischer Velleitäten herabzusinken. In der Frage nach dem Ursitz des Menschengeschlechts schliesst sich Prxka an M. Wasser an, der die Wiege des Menschengeschlechts nach dem nördlichen Europa und Asien verlegt. Fossile Menschenknochen sind bisher ausserhalb Europas nirgends aufgefunden worden. In der quaternären Periode war Europa bereits von verschiedenen Rassen be- wohnt und es ist daher auch anzunehmen, dass in der Tertiärzeit der Mensch gerade in Europa zuerst aufgetreten ist. — In demselben Masse, als später die Vergletscherung des Nordens immer mehr zunahn, flüchteten die Menschen immer weiter nach Süden, so dass die Entstehung der Rassen als das Ergebnis der Wirkung aller jener äusseren Verhältnisse sich dar- stellt, welche sich sowohl in der europäischen Heimat als auch in den Ländern, in die der Mensch später gezogen ist, geltend gemacht haben. Die Wanderungen aus Europa infolge der zunehmenden Vergletscherung dieses Erdteils erfolgten nach allen Richtungen mit Ausnahme des Nordens: nach Osten, Süden und Westen. Europa war damals wenigstens noch an zwei Stellen (bei Sizilien und Gibraltar) mit Afrika verbunden; ebenso hatte das schwarze Meer noch keinen Abfluss zum mittelländischen Meer durch den Besporus und die Dardanellen. Beide Meere waren Binnen- seen und es war daher leicht, trockenen Fusses von Europa nach Afrika und nach Kleinasien zu gelangen. So erklärt es sich, dass die einzelnen Rassen, mit einander verglichen, eine aufsteigende Entwickelungsreihe darstellen, die in Europa in den Ariern ihren Höhepunkt erreicht. Die einzelnen Glieder dieser Kette sind einerseits die Australier, Papua, Dra- vida und Semiten, anderseits die Hottentotten, Kaffern, Neger, Fulahs und Hamiten. Sehr früh musste von dem nordeuropäischen Ursprungs- zentrum eine Auswanderung nach dem mittleren Asien stattgefunden haben. Unter den eigenartigen äusseren Umgebungen dieser mittleren Teile des grossen Kontinents musste eine neue Rasse entstehen und das ist die mongolische oder turanische. Nach der Eiszeit wanderten die Arier mit dem Ren und anderen Tieren, die nicht ausgewandert waren, nach Norden. Skandinavien war zu jener Zeit noch mit Norddeutschland ver- bunden und konnte daher in leichter Weise die Wanderung nach dem skandinavischen Norden unternommen werden. Der nördliche Teil der Halbinsel hatte die Folge der Eiszeit nicht vollständig überwunden, um für Menschen und Landtiere bewohnbar zu sein. Zwei der bemerkenswertesten 234 Litteratur und Kritik. Eigenschaften des physischen Habitus der arischen Rasse finden jetzt ihre leichte Erklärung: die lichte Komplexion (blonde Haare, blaue Augen und weisse Haut) einerseitsund die ausserordentliche Grösse der Statur ander- seits. Erstere Eigenschaft beruht bekanntlich auf dem Mangel an Pig- ment. Der Kohlenstoff wird weggeatmet, der sich in der Haut des Ne- gers ablagert. PrxkA nimmt ferner an, worin ich ihm völlig beistimme, dass die nordische Rasse, wie dieselbe die alten Germanen und die jetzigen Skandinavier am besten repräsentieren, die helle Komplexion schon aus Mitteleuropa nach dem Norden mitgebracht habe, dass wir also in ihnen das Resultat der Einwirkung der Eisperiode zu sehen haben. Die physische Stärke und Grösse war eine Folge der ausserordentlich schwierigen Verhältnisse, unter denen sie Jahrtausende leben mussten. Während der Eiszeit konnten sich nur die kräftigsten Kinder am Leben erhalten. Durch tausendjährige erbliche Anhäufung der von jeder Ge- neration erworbenen Eigenschaften musste sich schliesslich eine so kräf- tige Rasse ausbilden, als welche wir eben die alten Germanen kennen lernen. Die sieben Fuss grossen Burgunder des SıDonIus APOLLINARIS sind keine poetische Übertreibung. Diese grosse dolichokephale Rasse hat in der Quaternärzeit an den Ufern des Rheins und der Seine, in Frankreich bis zu den Pyrenäen, in Zentralitalien ihre Repräsentanten gehabt. Es ist die sogenannte Canstatt-Rasse des Herrn DE QUATREFAGES (die Schädel von Egisheim, Clichy, La Denise, Olmo u. a.), welche PEnkA vielleicht mit Recht mit der germanischen Rasse in Verbindung bringt. Ich bemerke dazu, dass nach Herrn Vırcnow’s auf kraniologische und allgemein somatologische Untersuchungen gegründeter Ansicht nicht nur die Kelten, sondern auch die Germanen schon seit der jüngeren Steinzeit in Deutschland gesessen haben. Und da die Hallstadt-Kultur bis 2000 Jahre v. Chr. reichen soll, so finden wir nach sehr mässiger Schätzung, dass die Stein- zeit in diesen Gegenden mindestens 3000 Jahre v. Christus fällt. Die Germanen — setzt Rank£ hinzu — haben diese Kulturentwickelung von der Steinzeit zur Metallzeit in Europa durchgemacht und sitzen seit dieser Zeit auf ihrem Boden. Kein Wunder, dass diese dolichokephale Rasse schon in den Dolmen Frankreichs aus der Steinzeit (nach Broca), auf Friedhöfen aus der gallisch-römischen Zeit und aus dem Mittelalter, in Irland und Schottland gefunden wird. Die dolichokephalen alten Schädel aus den baltischen Provinzen, aus Litauen, Polen, Wolhynien, Galizien zähle ich bestimmt im Gegensatz zu Prxka und Mamow den vom Norden vordringenden Germanen zu. Die germanische Rasse war zu zahlreich, als dass Skandinavien dieselbe einst ganz beherbergt haben sollte. Auf beiden Seiten der Ostsee sassen die Germanen. Die Haupt- masse des zahlreichen germanischen Volkes sass unzweifelhaft auf der russischen Seite der Ostsee. Hier haben Germanen in einer Periode, die vielleicht in das zweite Jahrtausend oder noch höher hinaufreicht, jenen Einfluss auf die Sprachen der finnischen Völker ausgeübt, den uns THomSEN, ANDERSON und DIEFENBACH neuestens so gründlich geschildert haben. Ausser den Germanen können nur noch drei andere arische Völker der uralten dolichokephalen Rasse zugezählt werden: die mit den Kelten linguistisch verbundenen Kymren, deren Litteratur und Kritik. 235 Nachkommen noch -heute im nördlichen Frankreich, in Wales, Ir- land und Schottland zu suchen sind, ferner die Hellenen und die Italiker. Die Hellenen waren dolichokephal und ihre Nachkommen sind es heute noch zum Teil. Sie müssen wir uns auch vorwiegend als blond und gross von Statur vorstellen. Die Männer von rein erhaltener hel- lenischer Rasse waren nach Apanmanrıos (bei PEnkA p. 24) ueyakoı, ev- gvrEgQ01, H0.F10L, Evrrayeis, hEvA0TEg0L Tv Xg0av, Sav$ol. Die Hellenen, welche sich mit den zahlreichen Urbewohnern von Hellas nicht vermischt haben, müssen wir uns von demselben Typus vorstellen wie die alten Germanen. Die Hellenen haben erst kurz vor Beginn des 1. Jahrtausends die Länder am ägeischen Meere betreten. Ihre primitive Kultur, wie sie dieselbe von Norden mitgebracht hatten, lernen wir in Heuzig’s aus- gezeichnetem Werke (Italiker in der Poebene 1879) kennen. Ihre Spuren führen bis zur pannonischen Ebene, wo sie sich von den Italikern ge- trennt haben mögen. Ihre Einwanderung von Nordosten kann nicht durch die Karpaten geschehen sein, sondern durch die Spalte zwischen den Karpaten und den Sudetenländern. Die alten Niederlassungen in den Höhlen bei Krakau und die von GLOGER und Rapzımısskı in Wolhynien aufgedeckten Kurgangräber aus der Steinzeit, die ein dolichokephales Volk beherbergt haben, mögen den Helleno-Italikern angehört haben. Das Pfahlbautenvolk war dolichokephal und ich habe in diesen Blättern die Gründe auseinandergesetzt, welche mich bewogen haben, dieselben für Italiker oder richtiger Umbro-Sabeller zu erklären. Auch diese Ita- liker müssen wir uns als ein Volk von grosser Statur vorstellen. Die dolichokephalen Nachkommen der alten Marser, in denen noch reines Samniterblut fliessen wird, bezeichnet Nıcowuccı ihrer Grösse wegen als die Patagonier Italiens. Möglich, dass auch die Inder als fünftes arisches Volk diesen Ty- pus an sich getragen haben. Sind ja die Kafir oder Siaposch, welche für die reinsten Arier Indiens gelten können, von ausgesprochenem hellem Typus. Im übrigen sind die Arier Indiens mit den indigenen Dravida so vermischt, dass dort der reine Arier als Mythe bezeichnet werden kann. Diesen vier oder fünf dolichokephalen arischen Stämmen stehen gegen- über die brachykephalen Slawen und die brachykephalen und mesokephalen Litauer, die brachykephalen Rumänen, Nachkommen der alten arischen Thraker, die, wie es scheint, hyperbrachykephalen Albanesen, Nachkommen der arischen Illyrier und zuletzt die kompakte Masse der brachykephalen Kelten des südlichen Frankreichs bis zur Loire, der Kelten Lothringens, Belgiens und der Lombardei, die sich kraniologisch an die Süd- slawen anschliessen. Die blonden iranischen Osseten im Kaukasus und die blondhaarigen brachykephalen Galtschas Zentralasiens gehören gleich- falls hierher. Usrauvı und TopmAarn haben die kraniologische Verwandt- schaft der letzteren mit den kroatischen und den keltischen Schädeln konstatiert. Die blonden Osseten und Galtschas sind die einzigen Re- präsentanten des ursprünglichen iranischen Typus. Im eigentlichen Per- sien, in Afghanistan und Belutschistan hat sich der arische Typus im Laufe der Zeiten verloren. Die heutigen Perser sind von dunkler Kom- 236 Literatur und Kritik. plexion und dolichokephal. Der vorarische Typus ist in Iran der all- gemein herrschende. Wir haben somit zwei ganz verschiedene Typen unter den arischen Völkern. Ich behaupte, dass beide Typen in Europa schon seit der Quaternärzeit existiert haben. Eine brachykephale Rasse erscheint schon sehr früh im Westen. QUATREFAGES verlegt die Schädel von Furfooz, Grenelle und Truchere in die quaternäre Epoche, während ÜARTAILHAC und CAzaLıs DE Fonpouck sich für die neolithische Periode entscheiden. Das Gros dieser brachykephalen Rasse müssen wir uns in- dessen in Osteuropa wohnend denken. Dort in Osteuropa haben sämt- liche arischen Stämme in der Zeit zwischen 5000—3000 v. Chr. eine ge- meinsame arische Ursprache ausgebildet. Die Anfänge der Kulturreiche am Nil und Euphrat waren zu dieser Zeit bereits gelegt. Da wir die europäische Eiszeit in eine viel frühere Epoche verlegen müssen, so können wir mit Bestimmtheit behaupten, dass die Arier in der sog. jüngeren Steinzeit ihre Sprache ausgebildet haben, und damals bestanden die Arier bereits aus zwei Typen: aus den hellen Dolichokephalen und den meist hellen Brachykephalen. Wenn die Slawen nur zur Hälfte die hellen Typen zeigen, so beweist das nur, dass sie, südlich von den Germanen wohnend, den Einflüssen des kalten Klimas nicht in gleicher Weise ausgesetzt waren. Die nördlich von den Slawen wohnenden Litauer sind schon vorwiegend blond. Beide Rassen bestanden aber schon von anfang an nebeneinander. KoLumann hat gezeigt, dass der Mensch physisch vollendet sofort in ver- schiedenen Rassen auf europäischem Boden auftritt und seit der Eiszeit seine Rassencharaktere nicht mehr geändert hat. Wer sind nun die eigent- lichen Arier? Die Dolichokephalen oder die Brachykephalen? Nach dem Urteile der französischen Anthropologen sind es die Brachykephalen, weil sie noch heute den grössten Teil der Arier ausmachen. Nach Herrn PenkA sind nur die blonden Dolichokephalen reine Arier, die Brachy- kephalen sind dagegen — Turanier, d. h. Kelten, Slawen, Rumänen, Al- banesen und Litauer sind — Mongolen. Ich bedaure aufrichtig, dass ich hinfort dem scharfsinnigen Verfasser, dem ich bis jetzt zumeist gefolgt bin, nicht weiter folgen kann. Die nun zu besprechende Partie der Schrift des Herrn PrnkA dürfte den heftigsten Widerspruch erfahren. Und mit Recht. In dieser Partie ist der Verfasser aus der wissenschaftlichen Reserve herausgetreten und baut Theorien auf, die auch nur bei einer oberflächlichen Prüfung in nichts zerstieben. Wenn Herr PEnKA die brachykephalen Kelten und Slawen zu Turaniern macht, so übersieht er ein positives Resultat der Forschungen Vämsüry'’s (vergl. Die primitive Kultur des turko-tatarischen Volkes auf Grund sprachlicher Forschungen erläutert. Leipzig 1879, Brockhaus), dass die turko-tatarischen Völker sich in den Steppen Zentralasiens ganz abgesondert von allophylen Völkern ausgebildet haben. Die türkischen Sprachen sind in der Urzeit von keiner arischen Sprache beeinflusst worden, wie es bei den finnisch- ugrischen der Fall ist. Nur das Iranische hat auf die türkischen Sprachen einen Einfluss gehabt, aber — in sehr später Zeit. Aus Vänmgery’s lin- guistischen Forschungen ergab sich weiter der Schluss, dass das Gros des türkischen Volkes viele Jahrtausende auf sich allein angewiesen, ohne einen engen Verkehr mit der Aussenwelt existierte, und dass Litteratur und Kritik. 237 ferner die Zersplitterung der Türken in einzelne Stämme in einem ver- hältnismässig jüngeren Zeitabschnitte stattgefunden haben muss. Schon aus diesem Grunde sind die vielfach aufgestellten Hypothesen von der turanischen (türkischen) Herkunft der Skythen, Parther, Saken, Mas- sageten ein für allemal als unrichtig zurückzuweisen. Die Arisierung dieser angeblich turanischen Brachykephalen denkt sich Herr PrxkA in folgender Weise: Er nimmt an, dass die zahlreichen turanischen Brachy- kephalen von einem arischen Stamme der Dolichokephalen unterworfen und arisiert wurden. Er verweist z. B. schon in der Einleitung auf die Herrschaft des Adels in Polen. KartL SzAsnocHA, ein hervorragender polnischer Historiker, hat, was Herr PExkA übersieht, einmal ganz den- selben Gedanken gehabt. Das Entstehen des polnischen Adels erklärte sich derselbe damit, dass die skandinavischen Waräger einst Polen erobert und unterjocht haben. Die Unrichtigkeit dieser Ansicht hat SzasnocHA in seinen späteren Jahren selbst eingesehen. Der polnische Adel hat sich aus dem polnischen Volke selbst entwickelt (vergl. Hürre, Verfassung Polens 1870). Es sei dies ferner als eine anthropologische Thatsache konstatiert, ‘dass der polnische Adel sich kraniologisch von den übrigen Ständen Polens gar nicht unterscheidet. Ein anderes Beispiel! K. E. vox Baer hat einige Schädel aus einem skythischen Kurganengrab untersucht. Der dort gefundene dolichokephale Schädel gehörte unzweifelhaft einem Häuptlinge an, während die brachykephalen den Sklaven oder Unterwor- fenen angehört haben. PrxkA folgert gleich daraus, dass hier ein brachy- kephales Volk von einem dolichokephalen beherrscht wurde. Darauf antworte ich mit folgendem Beispiele: die Polen sind ein brachykephales Volk. Im Jahre 1870 fand man in der Domkirche zu Krakau die Ge- beine Kasimirs des Grossen. Prof. MAser, der gelehrte Präsident der Akademie der Wissenschaften in Krakau, dem die Knochen zur Unter- suchung übergeben waren, hat zu seinem Erstaunen gefunden, dass der polnische König Kasimir d. Gr. von germanischer, .dolichokephaler Schädelbildung war. Soll man gleich daraus den Schluss ziehen, dass ein dolichokephales Volk die brachykephalen Polen beherrscht habe? Die dolichokephale Schädelbildung hat indessen der polnische König von einer hohenstaufischen Prinzessin, die einer seiner Ahnen geheiratet, ge- erbt. Es ist zu wahrscheinlich, dass bei dem bekannten Umstande, als die Skythen recht gerne Griechinnen heirateten, der bestattete sky- thische König oder Häuptling von einer griechischen Mutter die doli- chokephale Schädelform geerbt habe. Im Gegensatz zu Herrn PEnkA halte ich an der iranischen, also arischen Abstammung der Skythen fest. Die skythische Sprache war bestimmt eine iranische. Den sprach- lichen Nachweis hat MÜLLENHorF geführt, was auch PrnkA nicht be- zweifeln kann. Die Schilderungen des HıprokrATEs passen allerdings auf ein turanisches Volk; dem widersprechen aber die noch erhaltenen Ab- bildungen der Skythen. Nach diesen Abbildungen könnte man die Sky- then geradezu für Hellenen erklären. Ebensowenig können wir es dem Verfasser billigen, dass er die uralte europäische Cro-Magnon-Rasse, welche bereits in der Eiszeit Europa, bewohnt hat, mit den .‚Semiten in Verbindung bringen will. Wie kann 238 Litteratur- und Kritik. die blonde dolichokephale Cro-Magnon-hasse mit der zumeist brachy- kephalen semitischen Rasse von dunkler Komplexion zusammenhängen? Die europäischen Juden sind ja zumeist brachykephal (vergl. BLECHMANnN, die Juden Russlands, Dorpat 1882, und MaAser und KorkrniIck1, die Juden Galiziens). Die topographischen Homonymien in Nordafrika und auf der pyrenäischen Halbinsel sind, wie ich dies schon früher nachgewiesen zu haben glaube, auf die von Europa eingewanderte blonde Bevölkerung zurückzuführen, deren Einwanderung gegen Anfang des Il. Jahrtausends von den ägyptischen Denkmälern bezeugt ist. Reste dieser dolichokephalen Blonden sich noch jetzt inMarokko und Algier zahlreich. Wir stimmen wiederum mit dem Verfasser vollständig überein, wenn er diese Cro-Magnon- Rasse mit den blonden dolichokephalen Basken in Verbindung bringt. Aus Mangel an Raum müssen wir uns versagen, auf eine weitere Reihe kontroverser ethnologischer Fragen einzugehen. Der Verfasser, von Haus aus Sprachforscher, beherrscht die anthropologisch-ethnologische Litteratur in anerkennenswerter Weise. Sein freilich von kühnen Theorien strotzendes Werk mögen nicht nur Sprachforscher und Ethnologen einem aufmerk- samen Studium und einer ernsten Prüfung unterwerfen, sondern auch alle diejenigen, welche sich für die Entwickelungsgeschichte der Mensch- heit interessieren. Dr. FLicIEr. Anmerkung der Redaktion. Wir können hier die Bemerkung nicht” unterdrücken, dass uns jeder irgendwie über die bescheidenste Vermutung hinaus- gehende Satz auf dem Gebiete der prähistorischen Ethnologie als blosse Behauptung und das neuerdings so beliebt gewordene Zusammenkramen verstreuter Beweis- brocken, um darauf einen imponieren sollenden Völkerstammbaum zu errichten, als durchaus unwissenschaftliches Treiben erscheint. Die gänzliche Unfruchtbarkeit solcher bodenloser Spekulationen könnte unseres Erachtens kaum besser illustriert werden als durch die vorstehenden Abstammungs- und Wanderhypothesen des Herrn Penka. Die wissenschaftliche Ethnologie bietet glücklicherweise noch an- dere lohnendere Aufgaben; dieselben wollen aber freilich mit grosser Geduld und Vorsicht bearbeitet sein, um bleibenden Gewinn zu gewähren. Unsere modernen Mikroskope und deren sämtliche Hilfs- und Nebenapparate für wissenschaftliche Forschungen. Ein Handbuch für Histologen, Geologen, Mediziner, Pharmazeuten, Che- miker, Techniker und Studierende von Orro BACHMANN, kgl. Lehrer an der Kreis-Ackerbauschule in Landsberg a. L. M. 175 Abbildgn. München und Leipzig, R. Oldenbourg, 1883. 344 8. 8°, Wie schon aus dem Titel dieses Buches hervorgeht, beabsichtigt der Verf., dessen vor kurzem erschienener >Leitfaden zur Anfertigung mikroskopischer Dauerpräparate« mit Recht allgemeine Anerkennung ge- funden hat, mit der hier gegebenen Darstellung nicht etwa die grösseren, auf streng wissenschaftlicher Basis ruhenden Handbücher der Mikroskopie, an denen wir nachgerade keinen Mangel mehr haben, überflüssig zu machen: er wendet sich vielmehr an die grosse Zahl derer, die zu irgend welchen praktischen Zwecken das Mikroskop zu gebrauchen ver- Litteratur und Kritik. 239 stehen müssen, ohne dass es ihnen darauf ankommt, die Theorie des- selben genauer zu kennen. So werden denn die »allgemeinen optischen Grundsätze«, das Sehen mit unbewaffnetem Auge etc. und mit der Lupe, alle einzelnen Teile und Apparate des zusammengesetzten Mikroskops sowie dessen Leistungen zwar sehr vollständig und gründlich, aber doch stets in allgemein verständlicher Form besprochen und überall unmittel- bar auf die praktische Verwertbarkeit des Gesagten Rücksicht genommen. Stützt sich auch der Verf. dabei hauptsächlich auf seine Vorgänger, so ist ihm doch zuzugestehen, dass er durch sorgfältige Einbeziehung auch der neuesten Erfindungen und Verbesserungen auf allen Gebieten wesent- lich mehr und besseres geliefert hat. In noch höherem Masse gilt dies von dem umfänglichsten Kapitel, welches »die Mikroskope der Gegen- wart« behandelt und wohl kaum eines der neueren Instrumente, auch solche für besondere Zwecke, unerwähnt lässt. Endlich finden auch die Mikrotome, das Zeichnen mikroskopischer Gegenstände und der Gebrauch des Mikroskops eingehende Berücksichtigung, und in einem stattlichen Anhang sind sämtliche bisher in Vorschlag gekommenen Reagentien, Tinktions- und Imprägnationsverfahren, Einbettungs- und Verschlussmittel mit Angabe ihrer Herstellungsweise bezw. Zusammensetzung und ihrer speziellen Verwendung in der Histologie verzeichnet, so dass gewiss ein jeder die für seine Bedürfnisse wünschenswerten Aufschlüsse in dem Buche finden wird. V. Die Geburt bei den Urvölkern. Eine Darstellung der Entwickelung der heutigen Geburtskunde aus den natürlichen und unbewussten Gebräuchen aller Rassen von Dr. G. J. ExGELMAnv in St. Louis. A. d. Engl. übertr. und mit einigen Zusätzen vers. von Dr. ©. Hexnıs, Prof. a. d. Univ. in -Leipzg. Mit 4 Taf. und 56 Abb. im Texte. Wien 1884, Braumüller. Die Einführung zum 1. Kapitel handelt von jener peruanischen Bestattungsurne, deren Prüfung den Autor zum Studium der Naturvölker anregte — zunächst in Rücksicht auf die Stellung beim Gebären. Im folgenden werden die zahlreichen mehr ethnologischen als medizinischen Ergebnisse in dem Buche aufgespeichert. Ein Schatz tiefen Verständnisses lässt sich heben, wenn man die verschiedenen Stellungen zergliedert, welche die Frauen verschiedener Völker in der Zeit der Not annehmen. Je nach ihrer Bauart, der Form des Beckens, stehen, kauern, knieen oder liegen sie auf dem Bauche; desgleichen ändern sie ihre Haltung je nach der Richtung des Kindskopfes im Becken. Weist die grössere Zahl naturgemässer Geburten nicht auf ein von den gegenwärtigen Lehren der Kunst stark abweichendes Gesetz hin? Erhellt nicht daraus die Nötigung, in verschiedenen Geburtsperioden verschiedene Stellungen an- zuraten? Dazu gehört jedoch — sagt ENnGELMAnn — dass wir erst 240 Litteratur und Kritik. noch tiefer in die Gesetze des Gebärens eindringen. Einstweilen besitzen wir hier die Thatsachen. Am Schlusse des 8. Kapitels sagt ENGELMANN, dass die Nordamerikanerinnen (d.h. Indianerinnen) und Afrika-Negerinnen seit Jahrtausenden sich eines so vollkommenen Verfahrens bedienen, dass die erleuchtetsten unter unseren Geburtshelfern erst in den letzten Jahren in der Lage sind, mit ihnen verglichen zu werden. Die wilde Mutter, die Australierin oder Negerin, deren Lehrmeister nur der Naturtrieb war, hat das Kulturweib überflügelt. Wundersamer Weise besteht auch in betreff des Stillens derselbe Zwiespalt der Gewöhnung bei den verschie- denen ursprünglichen Rassen, wie bei den heutigen Ärzten. Nur kurz sei hier auf einige anziehende Punkte hingewiesen, um zu zeigen, wie das hebärztliche Vorgehen der. Naturvölker der Vergangenheit und der Gegenwart dem unseren ähnelt; aber in manchen Punkten sind die Roheren uns voraus. Bei den Urvölkern ist in dieser Hinsicht sehr viel zu lernen! Ein grosses Feld öffnet sich für die Untersuchung der Lage, welche der gebärenden Mutter entspricht und die Stellung des Kindskopfes erheischt. Die Urvölker — sagt EnGeLmAnn — haben diese Aufgabe aus eigenem richtigem Gefühle gelöst. Den Forschungen über die Kulturrassen ist es vorbehalten, zu bestimmen, wann und weshalb dieses zu geschehen hat. Dr. FLIGIER. Ausgegeben den 31. März 1884. Von der Macht des Geistes. Von B. Carneri. Gar mancher, der die Grundsätze, von welchen wir ausgehen, kennt, wird bei der Überschrift dieser Abhandlung eines Lächelns kaum sich er- wehren können. Wir begreifen es, und eben darum wollen wir das an verschiedenen Orten Gesagte in gedrängter Kürze zusammenfassen zu einer übersichtlichen Darstellung. Aus dieser wird von selbst sich er- geben, weshalb wir, wie der Ausdrücke Leben und Seele, auch des Ausdrucks Geist bedürfen, um das, was wir darunter verstehen, fest- zuhalten, und dass wir darunter etwas verstehen, was, obgleich es für sich genommen sowenig Wesenheit hat als die sogenannte Lebenskraft, jedennoch für den Menschen von höchster Bedeutung ist. Um sogleich auf die Höhe unserer Aufgabe uns zu stellen, setzen wir drei Worte aus dem vierten Buch Marc AurEL’s — nach SCHNEIDER’S Übersetzung, Breslau 1875, Seite 36 und 37 — hierher, die den edlen Stoiker in seiner ganzen Grösse kennzeichnen. »Ändere deine Ansicht, und du hörst auf, dich zu beklagen. Beklagst du dich nicht mehr, ist auch das Übel weg. Denn Widerwärtigkeiten gibt es nur für den, der sie dafür hält.«Kosmos« Band XII, S. 65 ff. Vom anatomischen wie vom histo-morphologischen Standpunkt bilden die Untersuchungen des italienischen Gelehrten, welche mit allen hervorragenden Vertretern der Lokalisationstheorie sich be- schäftigen, die glänzendste Bestätigung der Anschauungen, die der Strass- burger Physiologe FrIEDRrIcH GoLtz in seinen Abhandlungen über die Verrichtungen des Grosshirns niedergelegt hat. Wir haben diese letzteren in dem Aufsatz: der Begriff des Ganzen — »Kosmos« Band XI, S. 1 ff. — eingehend erörtert und können es uns nicht versagen, nun auch auf seine »Beiträge zur Lehre von den Funktionen der Nervenzentren des Frosches« (Berlin 1869) zurückzugreifen. Wir wissen ganz gut den Unterschied zwischen dem Gehirn hoch- organisierter Tiere und dem eines Frosches zu würdigen. Allein nicht nur lassen sich an diesem viel gründlichere Versuche anstellen, denn an jenen: für die Feststellung des Begriffes Seele in seiner Allgemeinheit, als Prinzip des animalischen Lebens, reicht die Sache vollständig aus. Wir möchten sogar weitergehen und sagen: bei einem niederer organi- sierten Tiere, in welchem die höheren geistigen Thätigkeiten noch gar nicht zum Durchbruch kommen, trete der einfache Seelenbegriff in seiner ganzen Reinheit leichter hervor. Wenigstens sind die Resultate, zu welchen Goutz gelangt, für unsere Theorie von höchstem Wert. Der vollständig enthauptete Frosch lebt fort; jedoch sein Leben ist nur mehr ein Vegetieren. Mit dem Entfallen der zentralen Einigung aller Teile zu einem Ganzen, welches jedem einzelnen Teil es ermöglicht, als Teil des Ganzen, als mit jedem Teile zusammengehörig sich zu fühlen, entfällt die empfundene Empfindung. Die einfache Empfindung, das organische Reagieren ist noch da, ungefähr wie bei einer Pflanze; aber die bewusste, die gefühlte Empfindung, das Gefühl ist erloschen. Die noch möglichen Bewegungen sind nur mehr Reflexe, und wir haben ein Lebewesen vor uns, das von einer Maschine nicht mehr sich unter- scheidet. Der Vergleich mit dem Automaten (a. a. OÖ. S. 117 ff.) ist frappant; der diesen Abschnitt unbefangen liest, kann nicht länger dar- über in Zweifel sein, dass vom blossen Rückenmark eine Beseelung nicht ausgeht. Von der einfachen Maschine unterscheidet sich das be- seelte Wesen dadurch, dass es mit Bewusstsein seine Bewegungen voll- führt und sie folglich nicht bloss in für es zweckmässiger Weise zu voll- führen, sondern den jeweiligen Umständen sie anzupassen weiss. Alle vererbten Bewegungen, die in Beziehung auf die Natur und die Lebensweise des Frosches als zweckmässig erscheinen, sind darum noch nicht Akte, von welchen man auf Intelligenz schliessen darf. Wir acceptieren hier rückhaltlos den Ausdruck Intelligenz, in der von Gourtz gebrauchten Bedeutung, die das Schwergewicht auf die jeweilige Anpassung legt und damit Klarheit bringt in die Zweckmässigkeit und überraschende Mannigfaltigkeit der allein vom Rückenmark ausgehenden Bewegungen. Goutz sagt ausdrücklich: »Ich brauche hier nicht darauf zurückzukommen, dass die hohe Zweckmässigkeit dieser Bewegungen nichts dafür beweist, dass sie von einem im Rückenmark thätigen Seelen- 244 B. Carneri, Von der Macht des Geistes. vermögen abhängen. Auch die grosse Mannigfaltigkeit in der Form der Bewegungen ist an sich kein Grund, sie als Ausfluss von Seelenthätigkeit anzusehen. Wie ebenfalls schon früher auseinandergesetzt wurde, müsste eine etwa im Rückenmark wohnende Seele, um jene Bewegungen nicht bloss wollen, sondern auch ausführen zu können, die dazu geeigneten Mechanismen gesondert zur Verfügung haben. Sind aber die Mecha- nismen erst da, so können sie in ihrer vollen Mannigfaltigkeit sich ab- spielen auch ohne das Zuthun der Seele.< (A. a. O. S. 109.) Die Thätigkeit des eigentlichen Gehirns ist eben mehr als eine blosse Be- gleiterscheinung der Seelenthätigkeit. Nichts ist leichter als beim Ver- lust des Gehirns eine transcendente Seele anzunehmen und ihrem Wollen all’ die bleibenden Zweckmässigkeitsäusserungen zuzuschreiben. Wird aber diese Seele mit der unbefangenen Konsequenz eines FRIEDRICH GOLTZ auf die Probe gesetzt, so lässt Einen deren Wollen im Stich. Dass sie gewisse Hindernisse zu überwinden vermag, gewinnt für uns eine ganz andere Bedeutung, sobald wir sehen, dass sie die Hindernisse, die sie überwindet, durch Bewegungen überwindet, welche sie auch macht, wenn diese Hindernisse nicht vorhanden sind. Für jene, die von einem so komplizierten Reflexmechanismus trotz alledem und alledem nicht annehmen können, dass er all’ seine Leistungen ohne Seele zuwege bringe, hat Goutz folgende treffende Antwort: »Mir fällt da ein Wort ein, das, so viel ich mich erinnere, von LotzeE her- rührt. Wer einen solchen Schreck empfindet vor der Annahme einer Masse höchst feiner und verwickelter Reflexvorrichtungen im Rückenmark, gebärdet sich gerade so, als wenn er in Gefahr käme, sich zu ver- pflichten, eine Maschine von gleicher Vollkommenheit zu bauen. Nein, das haben wir fürwahr nicht nötig. Es genügt, dass wir einen solchen Apparat denken können, und das übersteigt durchaus nicht unser Fassungsvermögen.< (A. a. O. S. 126.) Und vor die Frage ge- stellt, ob er verstümmelten Tieren Empfindungsvermögen zuschreibe, er- klärt Goutz: »Ich für meine Person glaube nicht, dass ein Frosch ohne Grosshirn bewusste Empfindung hat, weil ich, wie oben ausgeführt wurde, überhaupt nicht mich dazu verstehen kann, ihm Bewusstsein zuzusprechen. « (Ebenda.) Ganz richtig fügt er bei, dass man in dieser Beziehung es jedem überlassen müsse, zu glauben, was er will, insofern bei einem so rein subjektiven Vorgang ein unwidersprechlicher Beweis nicht erbracht werden könne. Allein für die Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit seiner Ansicht führt er nichts Geringeres an, als die Thatsache, dass man einen enthaupteten Frosch in heisses Wasser geben und zu Tode sieden kann, ohne dass er durch die leiseste Bewegung einen Schmerz kundgebe. Er schliesst mit den Worten: »Es gehört wohl ein starker Glaube dazu, um anzunehmen, dass ein solches Tier noch bewusste Empfindungen hat. Wie viel besser stimmt das Ergebnis dieser Versuche zu unserer Ansicht, dass der enthirnte Frosch nichtsist, als ein Komplex von einfachen Reflexmechanismen.« (A. a. O. S. 130.) Aus alledem ergibt sich, dass das Gehirn, die gesamte Empfindungs- und Bewegungsfähigkeit des Organismus einheitlich zusammenfassend, als das eigentliche Organ der Seelenthätigkeit angesehen werden B. Carneri, Von der Macht des Geistes. 245 kann. Im Gehirn wird mit Hilfe der Sinnes- und Muskelthätigkeit die Empfindung dem daselbst sich konzentrierenden Ganzen vorgestellt, und dadurch die Empfindung des Teils zur Empfindung des Ganzen. Diese Erscheinung nennen wir Bewusstsein. Nicht die Gehirnthätig- keit ist eine Begleiterscheinung des Psychischen, sondern das Bewusstsein ist eine Begleiterscheinung des höher organisierten animalischen Lebens. Allein wenn auch nur eine Begleiterscheinung, so ist sie doch für das betreffende Lebewesen als sein innigstes Ergebnis und wegen des Nutzens, den sie ihm gewährt, von der allerhöchsten Wichtigkeit. Mag man sie auch nach unserer Beschreibung als nichts mehr, denn als einen Spiegel gelten lassen: in diesem Spiegel sieht und erkennt sich das Individuum, durch ihn gelingt es ihm, sich selbst als Ich zu erfassen, dem Ich sein Nicht-Ich als Aussenwelt klar entgegenzusetzen, und aus dieser seine Erfahrung zu schöpfen. Hier befinden wir uns an der Schwelle des Denkens, und dieser Eine Blick genügt, um uns zu zeigen, dass die Seelen- stärke und Energie des Geistes auf der Einheitlichkeit des Ganzen beruht, und dass wir da Erscheinungen vor uns haben, welche wert sind, eigene Namen zu führen, ja, über welche wir zu keiner Klarheit kommen können, wenn wir ihnen nicht bestimmte Namen bei- legen. Gewiss ist die für sich existierende, metaphysische Seele und der ihr entsprechende Geist etwas ganz anderes, als was wir darunter verstehen, aber die Thätigkeit, welcher sie zum Grunde gelegt werden, ist dieselbe geblieben, und schliesslich ist diese das Wichtigere. Gewiss geht aus dem Prozess des Lebens die Seelenthätigkeit und aus dieser die geistige Thätigkeit hervor; aber dennoch oder vielmehr eben darum steht das Psychische höher als das Physische, das Vernünftige höher als jenes, und dürfen wir das Eine mit dem andern nicht verwechseln. Durch die Erfindung neuer Bezeichnungen würden wir das Verständnis noch mehr erschweren, weil dann auch die Thätigkeiten, über welche nicht Streit ist, im unklaren blieben. Worauf es hauptsächlich ankommt, ist, die Einheit des Prozesses nachzuweisen und die Fälle darzulegen, in welchen das Leben zur Beseelung sich zusammenfasst und das beseelte Wesen zu einem geistigen Wesen sich erhebt. Der unver- sehrte Frosch hat Seele, der enthirnte lebt nur. Der unversehrte Hund ist nicht nur beseelt, er tritt uns, wie Goutz treffend sagt, als Persönlichkeit entgegen, und wir sehen es seinem Thun an, dass es von einem höheren Bewusstsein getragen ist. Beim Menschen ent- wickelt sich durch den höheren Organismus und die durch ihn ermög- lichte wirkliche Sprache das Bewusstsein zum Selbstbewusstsein und dieses zum Geist. Freilich, wenn wir beim Menschen mit der Untersuchung des psychischen Moments beginnen, da stehen wir vor einem unlösbaren Rätsel. Beginnen wir dagegen bei den untersten Stufen der Lebewesen, und verfolgen wir auf genetischem Wege die höheren Entwickelungs- formen, so kann wohl von einem Problem, aber nimmermehr von einem Rätsel die Rede sein. Die Kluft, die den Menschen von den höchstorganisierten Tieren trennt, hat HAEckEL in einer Weise gekennzeichnet, welche uns die Ent- stehung des Geistes klarlegt. Die Kluft ist eine unüberbrückbare, 246 B. Carneri, Von der Macht des Geistes. obwohl der Mensch keines andern Ursprungs ist als die gesamte übrige Natur. HAEcKEL bezeichnet als den Grund dieser Kluft vier Eigenschaften, welche auch bei Tieren, aber bei keinem Tiere vereint wie beim Menschen vorkommen: »Die höhere Differenzierungsstufe des Kehlkopfs (der Sprache), des Gehirns (der Seele) und der Extremitäten, und end- lich den aufrechten Gang.< (Generelle Morphologie der Organismen, Berlin 1866, Band II, S. 430.) Aus dem Zusammenwirken dieser vier Eigenschaften ergibt sich die Befähigung des Menschen zur bildenden Mitteilung, zum vollbewussten Denken, zur alles bewältigenden Arbeit, zu einem, hohen Zielen zugewendeten Fortschritt. Was wir heute Geist nennen, kann nur allmählich sich entwickelt haben, und ist uns nur verständlich als die Vollendung des ganzen Menschen. So wenig es einen ersten Menschen im gemeinen Sinn gegeben haben kann, so wenig gibt es einen an und für sich seienden Geist. Dieser ver- hält sich zur Seele wie die Seele zum Leben. Was wir Seelen- stärke nennen, ist untrennbar von geistiger Thätigkeit, setzt aber auch eine tiefgehende Harmonie des Denkens und Fühlens, eine umfassende Läuterung der Affekte voraus. Wie die Seelenstärke, ist die Macht des Geistes der Ausdruck einer klaren Einheitlichkeit des Organismus; aber während mit der Seele die Möglichkeit zu Anpassungen gegeben ist, welche den Kreis der vererbten Fähigkeiten überschreiten: ermöglicht der Geist Entwickelungen, welche nicht nur zu den nächstliegenden Er- scheinungen, sondern zum grossen Ganzen in Beziehung treten. Der fortschreitende Mensch ist eben vorgedrungen zum Erfassen des Allgemeinen. Und somit wären wir beim Geist angelangt, von dessen Macht diese Blätter handeln sollen, beim Geist, welcher unserer Anschauung nach, insofern immer der ganze Mensch es ist, der fühlt, denkt und handelt, als identisch sich herausstellt mit dem ganzen gebil- deten Menschen. Diese nähere Bestimmung werden manche rundweg ablehnen, ohne aber darum bestreiten zu können, dass ein Mensch, den man ohne allen Umgang mit Menschen in einer Wildnis aufwachsen liesse, keine Spur von Geist an den Tag legen würde. Er bliebe ein beseeltes Wesen, jedoch ohne in der kurzen, zum Leben ihm eingeräumten Spanne Zeit eine wirkliche Sprache oder ein nennenswertes Werkzeug erfinden zu können. In der Tierheit bliebe er befangen, und das Tier verfügt über keinen Geist, sondern nur über die ersten Ansätze zur geistigen Entwickelung. Diese Thatsache steht fest, obwohl sie unver- einbar ist mit einer metaphysischen Natur des Geistes. Allein eben daraus geht hervor, dass die Verbindung eines metaphysischen Geistes mit einem physischen Leibe nicht bloss unerklärlich wäre, sondern über- haupt nicht vorhanden ist. Es genügt übrigens nicht, darüber mit sich im klaren zu sein: man muss es auch sein darüber, dass der freie Geist der Metaphysiker zu den entsetzlichsten Konsequenzen führen müsste. Wollte man ihn nicht auffassen als einen nach jeder Richtung vollkommenen — und dagegen spricht die einfachste Beurteilung des Menschengeschlechts — so wäre es unvermeidlich, zuzugeben, dass seine schrankenlose Willkür ein gesellschaftliches Chaos zur Folge haben würde. B. Carneri, Von der Macht des Geistes. 247 Gerade die undurchbrechbare Verkettung, in welche ihn die monistische, das Kausalgesetz nicht nur in Worten, sondern thatsächlich unbedingt heilighaltende Weltanschauung mit allem Geschehen bringt, bildet den gebahnten Weg, der seine Abirrungen einschränkt, und dadurch seinen Fortschritt ermöglicht oder, wenn man lieber will, begreiflich macht. Bei dem Geiste, wie wir ihn da auffassen als identisch mit dem Individuum, ist der Wille als die andere Seite des Geistes ein durch- weg determinierter, aber auch determiniert in Gemässheit seines Denkens. Die metaphysische Zweiteilung der Menschennatur drängt sich selbst ein Problem der Freiheit auf, das niemand zu lösen vermag. Für die Einheitlichkeit, welche wir der Menschen- natur vindizieren, gibt es kein Freiheitsproblem. Es gibt nur eine nichtbegriffene und eine begriffene Notwendigkeit, und diese ist die allein mögliche Freiheit. Diese Freiheit aber ist nicht von Haus aus dem Menschen eigen, sondern, wie der menschliche Geist, Sache der Entwickelung, d. h. einer noch höhern Entwickelung. Durch die Erziehung wird uns die Achtung vor dem, was Gesetz ist, zur eigenen Natur, und dadurch das allgemeine Gesetz zum eigenen Gesetz, in wel- chem wir uns dann unserer Natur gemäss bewegen. Und unter die Er- zieher des Menschen zählen wir nicht nur seine persönlichen Lehrer, sondern die ganze Vergangenheit des Menschengeschlechts, die Erfahrungen des Einzelnen und sein eigenes Zuthun, sobald er dahin gekommen ist, den Wert der Fortentwickelung so innig zu würdigen, dass daraus ein Motiv ihm erwächst, welches mächtig wie kein anderes seine Geistes- richtung bestimmt. Erxsr LaAs, der unter den Philosophen der Neuzeit zu den ganz unbefangenen gehört und in Fragen der Transcendenz und des Determinismus keinerlei auch nur scheinbare Konzession kennt, schreibt in seiner meisterhaften Kritik Urrurs’, SchurtEe’s und Karrtan’s: »Gewiss nennen auch wir ‚frei‘ ein Wesen, das alle relevanten Handlungsmomente zu überlegen im stande ist; und auch wir halten diese Freiheit für ein Erziehungsergebnis, gegründet auf die Macht der Einübung und Gewöhnung, die keine ‚mechanische‘ Potenz ist. Aber weder möchten wir damit eine vage Unbeständigkeit und Unregelmässig- keit der menschlichen Handlungen zulassen, noch glauben, dass, wenn wir Zukunftsrücksichten nehmen und soziale Anforderungen auf uns wirken lassen, wir jemals über das ‚Gesetz der Lust und Unlust‘ hinauskämen, welches Karran als Vertreter einer Offenbarungsreligion das ‚Gesetz der Sünde‘ nennt. Alle Erziehung kann nur dazu führen, wie PrLAron sagte, Freude zu fühlen an dem, was man soll (yaigeıv oig del). Und der nicht völlig Durchgebildete thut das Rechte aus Furcht.« (Avenarius’ Vierteljahrsschrift, Leipzig 1883, VII. Jahrg. 2. Heft, S. 246.) Es ist für uns von hohem Wert, dass ein Mann von solchem Schlage mit ganzer Entschiedenheit für den Grundsatz eintritt, mit dem unsere Glückseligkeitslehre steht und fällt. Mit dem einfachen Überlegen der Handlungen können wir zwar das, wofür wir den Ausdruck Frei- heit uns gestatten, noch nicht beginnen lassen. Dieses Überlegen bedarf eines Erfolges, und dazu ist der Wille des Guten unerlässlich, weil 248 B. Carneri, Von der Macht des Geistes. der Verstand kein anderer ist, als der Wille. Der überlegende Verstand ist sittlich wertlos, insofern der Wille nicht in ihn aufgegangen, die Iden- tität beider keine klare ist. Allein darum steht uns doch dieser Den- ker viel näher, als es nach jener Wendung scheint, denn das Schwer- gewicht seiner Worte liegt für uns in der Entschiedenheit, mit welcher er das »Gesetz der Sünde« nicht gelten lässt. Auch nach unserer Über- zeugung lassen sich alle unsere Handlungen — bei den sogenannten indifferenten ist vielleicht die Sache nur schwerer zu ergründen — auf Lust- oder Unlustgefühle zurückführen. Was den Menschen unab- weisbar zurück hält oder vorwärts drängt, ist der mit seinem selbst- bewussten Empfinden gegebene Glückseligkeitstrieb. Die Läuterung dieses Triebes, die Erweiterung des Egoismus zum Altruismus ist die Hauptaufgabe der Erziehung, auf die wir noch zurückkommen. Ge- lingt es ihr aber auch, ihr Ziel völlig zu erreichen, einen Menschen dahin zu entwickeln, dass er in der Beglückung anderer seine höchste Glückseligkeit findet; so kann dieser Glückliche doch niemals seine Voll- endung sich selbst zuschreiben. Seine Erziehung ist nicht sein Werk; von dem Moment an, in welchem er begonnen hat, selbst dabei mitzu- wirken, konnte er nicht anders; endlich ist immer, wenn er anders wahr- haftig sein will gegen sich selbst, sein erstes und letztes Ziel seine eigene Glückseligkeit gewesen. Es kann daher, selbst abgesehen von der Kau- salität, von diesem Standpunkt aus ein Verdienst niemals angesprochen werden; und zwar von dem etwaigen Erzieher so wenig, als von dem glücklich Erzogenen. Der Erzieher — selbst der sich geisselt und kasteit oder das grösste Opfer bringt, thut nur, was ihn am höchsten reizt — wurde dabei gleichfalls durch seinen eigenen Glückseligkeitstrieb geleitet. Dass beide, dass alle das Bewustsein wirklicher Willensfreiheit in sich tragen, ist dadurch bedingt, dass wir nur in Gemässheit unserer, gleich- viel ob angeborenen oder anerzogenen Natur handeln können. Dieses Bewusstsein, selbst zu thun, was wir thun, beruht auf der Einheitlich- keit, welche die Durchgeistigung ausmacht, und ist uns als identisch mit ihr ein viel zu kostbares Gut, als dass wir es je uns könnten rauben lassen: es ist das Gefühl der Selbständigkeit, das zum Unterschied von der blossen Maschine jedem beseelten Wesen und vor allen dem denkenden Menschen eigen ist. Dieses Bewusstsein, das keiner je ver- leugnen wird, genügt zur Aufrechthaltung der Verantwortlichkeit, die selbst der grösste Verbrecher nicht ablehnt, weil jeder lieber alle Folgen seiner Handlungen tragen, denn sich selbst zur Null degradieren wird. Darum kann unsere Anschauung auf die Rechtspflege keine anderen Wirkungen ausüben als jeder Fortschritt in der Bildung und Aufklärung. Die Gesetzgebung wird eine mildere werden, aber auf ihre Strafsanktionen nie verzichten: diese werden immer mehr den Charakter des einfachen Unschädlichmachens an sich tragen. Das Recht des Staates, den einzelnen und sich selbst vor Übergriffen zu schützen, ist unbestreitbar von Seite aller, welche ihn als notwendig anerkennen; und dem einzelnen sind die Bestimmungen der Gesetze ebensoviele Mo- tive für sein Verhalten. Die Besorgnis, dass die Rechtspflege er- schüttert werden könnte, ist neben dem Wunsche, in einer bessern B. Carneri, Von der Macht des Geistes. 249 Welt durch Belohnung in Gemässheit des Verdienstes eine Aus- gleichung der sogenannten Ungerechtigkeiten dieser Welt zu finden, der Hauptgrund des Widerstandes, auf den unsere Anschauung stösst. Dass wir auf letzteres nicht eingehen, hat nicht seinen Grund in einem man- gelnden Verständnis für religiöse Bedürfnisse. Wir geben auch gerne zu, dass wir vom Standpunkt jenes Wunsches aus das Festhalten am Ver- dienste für gerechtfertigt halten, zumal auch die Frage der Freiheit in diesem Falle eine ihm möglichst entsprechende Lösung findet. Allein zugeben können wir nicht, dass für den Ethiker die Tugend, welche eine Belohnung anspricht, an Wert gewinne; und was wir gar nicht be- greifen können, ist die Logik jener, welche zum Determinismus sich bekennen, und das Kausalitätsgesetz hochzuhalten vorgeben, aber das mit der Tugendübung verbundene Verdienst nicht fahren lassen wollen. Einen eklatanten Fall dieser Art bringt die oben citierte Viertel- jahrsschrift, VII. Jahrgang, 1. Heft, S. 85, in einer: die Ethik der Gegen- wart in ihrer Beziehung zur Naturwissenschaft — überschriebenen Ab- handlung von Tus. Acnuzuis. Da wird zuerst geklagt, dass die un- begründeten Besorgnisse, es könnte eine rückhaltlose Anerkennung des Kausalitätsgesetzes zu einer besinnungslosen Identifizierung von Gut und Böse, von Tugend und Verbrechen u. s. w. führen, eine einheitliche wissen- schaftliche Weltanschauung bisher unmöglich gemacht haben. Wir be- greifen, dass eine solche Besorgnis die allgemeine Anerkennung des Kausalgesetzes und die Verbreitung einer ihm entsprechenden Weltanschauung erschwert; aber dass sie die letztere überhaupt unmöglich mache, ist eine Gedankenverbindung, die wir dem geschätzten Autor überlassen, welcher folgendermassen fortfährt: >»Vielleicht ist die unvorsichtige Art, wie entschiedene Deterministen solchen Einwänden begegneten, nicht unwirksam zur Bestärkung solcher nichtigen Vorurteile gewesen; so leugnet z. B. CArxerı völlig die Möglichkeit eines sittlichen Verdienstes beidem deterministischen Standpunkte (Grundlegung der Ethik, Wien 1881, p. 295). Nichts kann falscher sein wie diese Schlussfolgerungen; denn, so sehr wir im Interesse einer konsequenten Weltanschauung die ausnahmslose Geltung des Kau- salitätsgesetzes vertreten, so sehr für einen universellen Blick die Summe alles Geschehens fest und unabänderlich daliegen müsste und nichts neues (?) sich ereignen könnte, so unbedingt halten wir an dem Ge- fühle der Freiheit, als einer unbestreitbaren Thatsache des Bewusstseins fest.« — Dieses »denn« ist herrlich: stellt man beide »wir« zusammen, so ist unsere Folgerung falsch, weil unser Kritiker am Freiheitsgefühl festhält. Wir heben diese wie die frühere Gedankenverbindung nur hervor, weil sie gleich auf den ersten Blick eine gewisse Beruhigung uns ge- währt hat gegenüber der niederschmetternden Bestimmtheit, mit welcher da von unsern Folgerungen, deren übrigens nur eine als genannt er- scheint, ausgesagt wird: »nichts könne falscher sein. Jene Thatsache des Bewusstseins lassen wir ja gelten, und geben sie als eine allgemeine zu; allein ihretwegen den Determinismus weniger entschieden auffassen zu wollen — unsern verehrten Gegner choquiert offenbar nur unsere Entschiedenheit — kommt uns gerade so vor, als 250 B. Carneri, Von der Macht des Geistes. meinte Einer, man dürfe die Umdrehung der Erde um ihre Achse samt allem, was daraus folgt, nicht mit voller Entschiedenheit aussprechen, weil man dem damit in Widerspruch stehenden Auf- und Untergang der Sonne, an welchem der Mensch immer festhalten wird, einen wenn auch nur geringen Grad von Wahrheit gelten lassen müsse. Wie die eigentliche Willensfreiheit, ohne welche es ein Verdienst nicht gibt, be- ruht diese Erscheinung auf einer Täuschung. Wir haben es da mit einer Thatsache des Gefühls zu thun, die mit der Natur des Menschen genau so innig verwachsen ist, wie jene Thatsache des Bewusstseins. Der Mensch fühlt nicht die Umdrehung der Erde, und kann sie nicht fühlen. Es ist aber auch gut für ihn, dass er sie nicht fühlt, weil er sonst seine ganze Thatkraft darauf verschwenden würde, an den drehenden Ball sich festzuklammern : wie es auch gut für ihn ist, dass er sich frei fühlt, weil darauf, als auf dem Gefühl der Selbstheit, die Energie seiner Thatkraft beruht. An jenem Gefühl wie an diesem Bewusstsein wird nichts dadurch geändert, dass der Mensch darüber sich aufklären lässt, woran er in Wahrheit sei, während er dabei gewinnt, wie man durch jede Aufklärung gewinnt, indem er nämlich einsieht, wie lächerlich es sei, krampfhaft an diese Erde sich zu klammern — im moralischen wie im physischen Sinn — und seinen irdischen Handlungen einen Wert beizulegen, den sie nicht haben. Das Wahre am Freiheitsgefühl ist die Einheitlichkeit unseres Wesens, wie das Wahre an der stillstehenden Erde die einheitlich mit ihr sich drehende Atmosphäre ist. Dies erklärt uns aber eben nur die Täuschung. Unser strenger Kritiker würde gewiss nicht gestatten, an das Gefühl, dass die Erde stille steht, ernstere Kon- sequenzen zu knüpfen. Warum gestattet er es beim Gefühl der Willens- freiheit? Der Begriff des Verdienstes ist eine sehr ernste Konsequenz. Die Zeiten GALILErs sind vorüber; aber ihr Geist findet noch immer Partien der Wissenschaft, in welchen er sein Richteramt nicht für er- loschen hält. Die Moral der Geschichte ist die Geschichte der Moral. Wir können hier nicht wiederholen, was wir in unserer Grundlegung der Ethik ausführlicher darüber gesagt haben; denn so »vorsichtig« waren wir schon, die Sache von ihren wichtigern Seiten zu erwägen, und verweisen den gütigen Leser, der dieser sehr ernsten Frage das richtige Interesse entgegenbringt, auf die im Register — er braucht darum nicht durch das ganze Buch sich hindurchzuarbeiten — unter den Artikeln Verdienst und Verpflichtung angemerkten Seiten. Hier wollen wir nur noch beifügen, dass unserer Ansicht nach die Allzu- vorsichtigen und Unentschiedenen es sind, welche es verhindern, dass das Kausalgesetz, der Tod alles Aberglaubens und allesdessen, was daran hängt, zu einer allgemeinen und rückhalt- losen Anerkennung gelange. Gerade die Entschiedenheit, mit welcher wir für den Determi- nismus eintreten, ist es, die uns gestattet, ebenso entschieden für den hohen Wert einzutreten, welcher unveräusserlich unserm sittlichen Ver- halten zukommt. Um an das weiter oben nach PrAron citierte Wort anzuknüpfen: mit dem sittlichen Verhalten ist unzertrennlich eine edle Freude verbunden, von welcher jede Vorstellung eines Verdienstes, B. Carneri, Von der Macht des Geistes. 251 wofür doch nur der Unbescheidene einen ausgeprägtern Sinn hat, weit überstrahlt wird. Wie der Schöne seiner Schönheit sich freut, der Starke seiner Kraft, der Gesunde seiner Gesundheit, nicht weil er seine Schön- heit, seine Kraft, seine Gesundheit sich selbst verdankt, sondern weil er selbst der Schöne, der Starke, der Gesunde ist: so freut sich der sittlich erhobene Mensch seiner Sittlichkeit nicht als seines Werkes, son- dern als derihm eigen gewordenen Natur. Worauf es dabei wieder allein ankommt, ist, sobald man einmal die Teleologie ablehnt, mit der nötigen Entschiedenheit sie abzulehnen, nicht mehr die Tugend zu betrachten als den Weg zur Glückseligkeit, sondern die wahre Glück- seligkeit als den Weg zur echten Tugend. Und weil wir schon bei der Entschiedenheit sind, so wollen wir hier ein entschiedenes Wort über die Erziehung in der Volksschule einschalten. Der moderne Staat wird alle seine höhern Zwecke nur halb erreichen, mit der sittlichen Entwickelung seiner Bürger nicht vorwärts kommen, so lang er nicht gründlich mit einer Tugendlehre bricht, die längst nicht mehr verfängt. Was gestorben ist, ist gestorben, und die frömmsten Wünsche wecken die Toten nicht auf. Der Staat hat in der Volksschule selbst Moralzu lehren, und zwar eine zeitgemässe Moral. Kein Kind hat heranzuwachsen, ohne dass mit ihm heranwachse das Gefühl seiner Pflichten gegen sich selbst, gegen seine Mitmenschen und gegen den Staat. Dieses Pflichtgefühl hat dem Kinde nicht weit- läufig begründet, sondern einfach eingeprägt zu werden, wie das Kind folgen zu lernen hat, nicht aus Gründen, sondern nur um des Folgens willen, damit es später befähigt sei, ins Unvermeidliche sich zu fügen, das über uns hereinbricht, ohne früher, meist auch ohne später auf unser Warum eine Antwort zu geben. Die allgemein menschliche Staats- moral, die uns da vorschwebt, braucht nicht in Widerspruch zu geraten mit den Gründen der Moral, welche die Kirchen lehren. Sie darf es auch nicht, um die kindlichen Gemüter nicht zu verwirren. Sie hat eben nur zu verhindern, dass dort, wo die Kirche über ihren Gründen auch die Moral vergisst — ihre Gründe sind ihr oft die ganze Moral — gar keine Moral gelehrt werde. Die Begründung der allgemein menschlichen Staatsmoral gehört in die höhern Lehranstalten, an welchen der kirch- liche Moralunterricht nicht mehr am Platze ist. Dort ist der Wider- spruch unvermeidlich, denn dort darf nichts gelehrt werden, was mit der Wissenschaft in Widerspruch steht. Die Wissenschaft aber kann man ruhig walten lassen, und man hat sie ruhig walten zu lassen, wenn es Einem Ernst ist mit dem Fortschritt. Bei diesem ist, wie bei allem Grossen, nur die Halbheit gefährlich. Der Staat braucht den ganzen Fortschritt, weil er ganze Menschen braucht. Was zum Durchbruch kommen soll, ist der Geist mit seiner ganzen Macht, und der ganze Mensch ist der Geist, der Mensch in seiner geläutertsten Einheit- lichkeit. Wir haben mit Marc Aureu begonnen und wollen mit ihm schliessen. Uns thut die Wahl weh, überblicken wir all’ die Gedanken, die in edelster Weise seiner unerschütterlichen Gesinnung und Todesverachtung Ausdruck geben. Gott und Natur waren ihm ein einziger Begriff, weil er in der 952 B. Carneri, Von der Macht des Geistes. Materie, aus der alles hervorgeht und in die alles zurückfliesst, die Quelle und den Urgrund der Dinge erblickte. Wie er, das Leben ins Auge fassend, aus ganzer Seele ausrufen konnte: »Welche Gewalt hat doch der Mensch, der nichts thut, als was Gott loben kann, und alles hinnimmt, was Gott ihm sendet;« (XII. 8.) — ebenso konnte er, den Tod ins Auge fassend, aus ganzer Seele ausrufen: »Weihrauch auf dem Altar der Gottheit — das ist des Menschen Leben. Wie viel davon gestreut schon ist, wie viel noch nicht, was liegt daran?« (IV. 15.) Mit welcher Feinheit er das Verhältnis des Menschen zu den Göttern aufzufassen wusste, und wie für ihn nur die subjektive Seite des Gebetes, als praktische Konzentration des Geistes, einen Wert hatte, sagt uns am besten folgende Stelle: »Entweder die Götter vermögen nichts, oder sie haben Macht. Können sie nichts, was betest du? Haben sie aber Macht, warum bittest du sie nicht lieber darum, dass sie dir geben, nichts zu fürchten, nichts zu begehren, dich über nichts zu betrüben: als darum, dass sie dich vor solchen Dingen, die du fürchtest, bewahren oder solche, die du möchtest, dir gewähren? Denn, wenn sie den Men- schen überhaupt helfen können, so können sie ihnen doch auch dazu verhelfen. Aber vielleicht entgegnest du, das hätten die Götter in deine Macht gestellt? Nun, ist es denn da nicht besser, was in unserer Macht steht, mit Freiheit zu gebrauchen, als mit knechtisch gemeinem Sinn dahin zu langen, was nicht in unserer Macht steht? Wer aber hat dir gesagt, dass die Götter uns in den Dingen, die in unserer Hand liegen, nicht beistehen? Fange nur an, um solche Dinge zu bitten, dann wirst du ja sehen. Der bittet, wie er möchte frei werden von einer Last; du bitte, wie du’s nicht nötig haben möchtest, davon befreit zu werden. Jener, dass ihm sein Kind erhalten werden möge; du, dass du nicht fürchten mögest, es zu verlieren u.s.f.e Mit einem Wort: gieb allen deinen Gebeten eine solche Richtung, und siehe was geschehen wird.« (IX. 21.) Für jene, welche meinen, der Stoiker habe keinen Sinn gehabt für die Anschauungen ErIkur's, setzen wir folgende zustimmende Worte hierher: >EpIKUR erzählt: in meinen Krankheiten erinnere ich mich nie eines Gesprächs über die Leiden des Menschen; nie sprach ich zu jenen, die mich besuchten, über dieses Thema. Sondern ich arbeitete weiter, über naturhistorische Gegenstände im allgemeinen und besonders darüber nachdenkend, wie die Seele trotzdem, dass sie an den Bewegungen im Körper teil hat, ruhig bleiben und das ihr eigentümliche Gut bewahren möge.« (IX. 22.) Die folgenden zwei Stellen über das Glück sind charakteristisch: »Wie die Gedanken sind, die du am häufigsten denkst, ganz so ist auch deine Gesinnung. Denn von den Gedanken wird die Seele gesättigt. Sättige sie also mit solchen, wie: dass man, wo man auch leben muss, glücklich sein könne.« (V. 16.) »So sei denn endlich ein- mal, und gerade wenn du recht verlassen bist, ein glücklicher Mensch, d. i. ein Mensch, der sich das Glück selbst zu bereiten weiss, d. i. die guten Regungen der Seele, die guten Vorsätze und die guten Hand- lungen.« (V. 36.) Und zum Schluss eine Erörterung, die den Satz, dass man den Lohn seiner Handlungsweise in ihr selbst zu suchen habe, nicht geist- B. Carneri, Von der Macht des Geistes. 253 voller durchführen könnte, und unwiderleglich klar legt, dass die Sittlich- keit, weit entfernt, durch das Vorhandensein eines Verdienstes be- dingt zu sein, in ihrer vollen Reinheit nur ohne dieses erfasst werden kann. »So oft dir jemand mit seiner Unverschämtheit zu nahe tritt, lege dir die Frage vor, ob es nicht Unverschämte in der Welt geben müsse? Denn das Unmögliche wirst du doch nicht verlangen. Und dieses ist nun eben einer von den Unverschämten, die in der Welt existieren müssen. Dasselbe gilt von den Schlauköpfen, von den Treu- losen, von den Lasterhaften. Und sobald dir dieser Gedanke geläufig wird, dass es unmöglich ist, dass solche Leute nicht existieren, siehst du dich auch sofort freundlicher gegen sie gestimmt. Ebenso frommt es, daran zu denken, welche Tugend die Natur jeder dieser Richtungen gegenüber dem Menschen verliehen hat. So gab sie z. B. der Lieblosigkeit gegen- über, gleichsam als Gegengift, die Sanftmut. Überhaupt aber steht dir frei, den Irrenden eines Bessern zu überführen. Und ein Irrender ist jeder Böse: er führt sich durch sein Unrecht selbst vom vorgesteckten Ziele ab. Was aber schadet es die? Kann er etwas wider deine Seele? Und was ist denn Übles oder Fremdartiges daran, wenn ein zuchtloser Mensch thut, was eben eines solchen Menschen ist? Eher hättest du dir selbst Vorwürfe zu machen, dass du nicht erwartet hast, er werde derart handeln. Deine Vernunft gab dir doch Anlass genug zu dem Ge- danken, dass es wahrscheinlich sei, er werde sich auf diese Weise ver- gehen; und nun, weil du nicht hörst auf das, was sie dir sagt, wunderst du dich, dass er sich vergangen hat! Jedesmal also, wenn du jemand der Treulosigkeit oder der Undankbarkeit beschuldigst, richte den Blick in dein eigenes Innere. Denn offenbar ist es doch dein Fehler, wenn du einem Menschen von solchem Charakter dein Vertrauen schenktest, ‘oder wenn du ihm eine Wohlthat erwiesest mit allerlei Nebenabsichten, und ohne den Lohn deiner Handlungsweise nur in ihr selbst zu suchen. Was willst du noch weiter, wenn du einem Menschen wohlgethan? Ist's nicht genug, dass du deiner Natur entsprechend gehandelt? Strebst du nach einer besonderen Belohnung ? Als ob das Auge Bezahlung forderte, dafür, das es sieht, und die Füsse dafür, dass sie schreiten! Und wie Aug und Fuss dazu geschaffen sind, dass sie das Ihrige haben in der Erfüllung ihrer natürlichen Funktionen: so hat auch der Mensch, zum Wohlthun geschaffen, so oft er ein gutes Werk gethan und andern irgendwie äusserlich beistand, eben nur gethan, wozu er bestimmt ist, und hat darin das Seinige.« (IX. 23.) Allerdings nicht der Mensch, wie er kommt aus der Hand der Natur; denn diese ist weder gütig noch bösartig: aber der sittlich erhobene Mensch nimmt diesen Standpunkt ein. Seine Gefühle, Vorstellungen und Begriffe werden immer adäquater, d.i. klarer in ihrem Zusammenhang mit dem grossen Ganzen, und volle Geltung hat für ihn der Satz: »Widerwärtigkeiten gibt es nur für den, der sie dafür hält.« Wildhaus, 26. Juli 1883. Einige Bemerkungen zu Cl. König's „Untersuchungen über dıe Theorie der wechselnden kontinentalen und insularen Klimate“ im Kosmos 1883. Von Prof. A. Blytt (Christiania). Herr Cr. König hat meine Theorie der säkularen Wandelungen des Klimas in dieser Zeitschrift einer längeren Kritik unterworfen. Wenn ich voraussetzen dürfte, dass die Leser des »Kosmos«< aus eigener Anschauung die Arbeiten kennten, welche Hr. K. zum Gegenstand seines Angriffes gemacht hat, so würde ich es kaum für notwendig erachtet haben, auf jene Kritik zu antworten; da indessen wahrscheinlich der grösste Teil derer, welche Hr. K’s »Untersuchungen« lesen, nicht in die Lage ge- kommen ist, von meinen Arbeiten Kenntnis zu nehmen, muss ich die Redaktion um Platz für folgende Bemerkungen ersuchen. Durch die Lektüre von Hrn. K’s »Untersuchungen« erhält man — eine höchst unvollkommene und fehlerhafte Vorstellung von meiner Theorie. Hr. K. hat nämlich von vornherein den Grundgedanken meiner Theorie durchaus missverstanden. Er glaubt, die- selbe laufe hinaus auf einen gleichzeitigen Wechsel extremer Klimate für die ganze Halbkugel. Er sagt nämlich (p. 337): »Gesetzt es sei so, wie die Theorie behauptet, dann müsste das Klima der nördlichen Erdhälfte jetzt entweder kontinental oder insular sein, eine Folgerung, welcher die heutigen meteorologischen Resultate widersprechen.« P. 342 erzählt er mir sogar, dass die norwegische Westküste ein insulares Klima hat — eine Wahrheit, die mich nicht gerade überraschen konnte, da sie sich mir durch die persönliche Erfahrung vieler Sommer recht nahe gelegt hat. Auf Grund der ebenerwähnten Thatsache macht er sogar den Vorschlag, die ganze Theorie auf den Kopf zu stellen und der Ge- genwart ein relativ feuchtes Klima beizulegen. Es heisst (l. e.): >Wäre die Theorie in dieser Form vorgetragen« (d. h. im vollständigsten Wider- spruch mit dem Zeugnis der Natur, wie uns dasselbe in unsern aus- getrockneten Torfmooren vor Augen liegt), »dann wäre die Kritik kaum herausgefordert«< u. s. w. Und weiter: »Infolge so arger Verkennung des gegenwärtigen Klimas von Norwegen« (— ich soll nämlich annehmen, A. Blytt, Einige Bemerkungen zu Cl. König’s „Untersuchungen ete.“ 255 dass ganz Norwegen zur Zeit ein ausgeprägtes Kontinentalklima be- sitze —) >mag man ihr« (der Kritik) »die Dreistigkeit verzeihen, die Frage zu stellen: sind etwa alle kontinentalen Perioden gleichen Charak- ters mit der Zehnten« (d. h. der Gegenwart)? »Dann würde die Theorie zusammenschrumpfen auf einen Wechsel zwischen gleichmässigem Klima mit sehr wenig Niederschlägen und einem gleichmässigen Klima mit viel Niederschlägen. Oder rechtfertigt die geologische Vergangenheit des Landes einen anderen Gedanken auszusprechen ?’« Nun ist der Sachver- halt aber der, dass jener dürftige Rest, auf welchen nach Hrn. K. die Theorie einzuschrumpfen droht, nichts anderes ist als die ursprüngliche und unverfälschte Grundlehre in allen meinen Arbeiten, und dass somit Hr. K. sich leider »>einer argen Verkennung« der ganzen Theorie schuldig ge- macht hat. Aus dem Titel meiner Abhandlung in EnsLer’s Jahrbüchern hat er sich zu dem Glauben verleiten lassen, dass meine Theorie einen Wechsel extremer Klimate verlange, was mir indessen nie in den Sinn gekommen ist. Dies Missverständnis des Hrn. K. ist indessen um so weniger zu entschuldigen, da meine Meinung mit dem Ausdruck »wechselnde kontinentale und insulare Klimate« nicht nur unzweideutig aus dem ganzen Zusammenhang hervorgeht, sondern auch noch zum Überfluss gleich am Anfang der Abhandlung deutlich erklärt wird, indem es heisst, »dass Zeiträume mit einem feuchten und milden Klima mit andern Zeiträumen abwechseln, in welchen ein trockneres und mehr kontinentales Klima herrscht.< Hätte ich wirklich behauptet, dass die ganze nördliche Halb- kugel zu einer Zeit ein ausgeprägtes Kontinentalklima und zu anderer Zeit ein ebenso ausgeprägtes Küstenklima besessen haben sollte, so kann ich nicht verstehen, wie man es für notwendig halten konnte, ganze 200 Spalten daran zu opfern, um eine so ungeheuerliche Theorie zu Grabe zu tragen. Die, meine ich, hätte sich selbst das Urteil gesprochen. Hr. K. befindet sich ferner in vollständigem Irrtum in bezug auf das, was EnGLErR und ich als »schrittweise« oder langsame Wanderung verstehen. Er nimmt das Wort »schrittweis« durchaus wörtlich und legt mir die wunderbare Meinung bei, dass die Arten unserer Flora Zoll um Zoll eingewandert seien, d.h. bloss durch Ausläufer und Wurzeltriebe und durch den im nächsten Um- kreis der Mutterpflanze niederfallenden Samen, aber ohne irgend welche Mitwirkung von Wind, Wasser oder Tieren. Er räumt nun freilich ein, dass ich nirgends etwas Derartiges ausgesprochen habe, sagt aber, dass er es zwischen den Zeilen lese, dass dies meine Meinung sei. Ein so grobes Missverständnis meines Ausdrucks »schrittweise Wanderung« ist um so unverzeihlicher, da es aus dem ganzen Zusammenhang deutlich hervorgeht, dass die schrittweise Wanderung nur den Gegensatz bildet gegen die zufällige Wanderung oder Verschleppung eines einzelnen Samen- korns nach fernen Inseln oder Ländern durch Vögel oder Meeresströme. In meinem »Essay on the Immigration« p. 31 heisst es: It is doubtless far more easy for plants to extend themselves over connected tracts of country. But the migration (bymeansofwind, birds, mammalia) seems also in this case to be effected little by little, as it is no doubt an exceptional case for animals to migrate all at once without resting, 256 A. Blytt, Einige Bemerkungen zu Cl. König's „Untersuchungen across large tracts of country.mit jedem neuen Klima wanderte eine neue Pflanzenwelt ein««, verliert vierzig Prozent von seiner Wahrheit, indem die Theorie von 10 Perioden und nur von 6 Floren in Norwegen spricht.< Man ver- gleiche hiermit meine eigenen Worte (Een. Jahrb. II, p. 10): »So lange die Landverbindungen zwischen unserer Halbinsel unddenanderen Gegenden eine Einwanderungin grösserem Massstabe möglich machten, wanderte unter jeder kontinentalen Periode eine kontinentale Artgruppe, und unter jeder Regenzeit eine insuläre Flora ein.ce Warum Hr. K. in seinem Citat die oben hervor- gehobenen Eingangsworte des Satzes weggelassen hat, bleibt mir un- verständlich. Hätte er dieselben mit abdrucken lassen, würde nichts zu kritisieren gewesen sein. Auf Seite 490 kritisiert Hr. K. in Anlass der Entwaldung des Küstensaums folgende Behauptung, die mir zugeschrieben wird: »Mit Zunahme der atmosphärischen Feuchtigkeit schwindet der Wald.< Obwohl dieser Satz zwischen Anführungszeichen gesetzt ist, als sei er wörtlich mir entlehnt, findet sich doch ein so eigenartiger Aus- spruch nirgends in meinen Schriften. Er ist von Hrn. K. erfunden, und mir liegt keine Verpflichtung ob, ihn zu verteidigen. Ich habe nichts weiter gesagt, als dass klimatische Veränderungen möglicherweise das Ihre zur Ausrottung des Waldes längs der Küste gethan haben können, und habe mich mit grosser Vorsicht ausgesprochen. (Essay on Immigration p. 47—48.) Dass der grosse Holzverbrauch der Sennhütten (Säter) zum Sinken der Waldgrenze beigetragen hat, habe ich übrigens, wie ich glaube, lange vor SCHÜBELER ausgesprochen in meinem Buch »über die Vege- tationsverhältnisse am Sognefjord«, Christiania 1869, p. 33. Mein geehrter Herr Kritiker verwickelt sich ausserdem nicht selten in eigentümliche Widersprüche. So heisst es p. 452: »Die arktische Flora ist auch im grossen und ganzen nicht kontinental«e und p. 605: »Die grosse Wiege der arktisch-alpinen Pflanzen, so halten wir mit Carıst und GrISEBACH fest, sind die Berge und Thäler des Altai.« Nun glaube ich aber doch, dass eine Flora, deren rechte Heimat im Innern von Hochasien zu suchen ist, mit ziemlichem Recht als eine kontinentale charakterisiert werden darf. Hr. K. sagt weiter über die arktische Flora : »Sie ist an der Küste von Spitzbergen weit reicher und entwickelter, als im Innern, und Eis und Meeresströmung ist ihr Fahrzeug, ihre Trieb- kraft, um von Küste zu Küste zu wandern. GrisesacH hat diese That- sache so schön und ausführlich dargestellt.< Diese Äusserungen zeigen, dass Hr. K. sehr wenig von der Ausbreitung der Pflanzen auf Spitzbergen weiss. NArHoRsTt, der die Flora Spitzbergens sehr genau studiert hat, erzählt‘, dass die arktische Flora auf Spitzbergen die offene Meeresküste flieht und am reichsten an den inneren Enden der Fjorden sich entfaltet. Hieraus erhellt, dass derselben ein kontinentaler Charakter zukommt und dass dieselbe kaum auf Treibeis eingewandert sein kann, denn solchenfalls würde sie am reichsten sein in der Nähe des Meeres an den dem Treib- eis am meisten ausgesetzten Küsten. Narkorst nimmt demgemäss auch an, dass diese Flora über ein gesunkenes Land eingewandert ist. Und ! Studien über die Flora Spitzbergens (Engler's Jahrb. IV, 4. p. 441). Kosmos 1884, I. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XIV). 1% 258 A. Blytt, Einige Bemerkungen zu Cl. König’s „Untersuchungen für die Thatsache, dass Dryas und einige andere arktische Pflanzen auf den Faröern wachsen, hat DrupE! eine vorzügliche Erklärung geliefert. Hätten diese Pflanzen, sagt er, mit zahlreichen Einwanderern zu kämpfen gehabt, so würden sie kaum sich erhalten haben. Auf dieser Inselgruppe war aber die Konkurrenz geringer. Von anderen Widersprüchen, deren Hr. K. sich schuldig macht, will ich nur noch folgenden nennen. p. 484 heisst es, dass die sechs Elemente, in welche ich die norwegischen Pflanzen geteilt habe, »gesucht und gekünstelt« sind; p. 486 heisst es dagegen: »das Bild beweist aber, dass Bryrr mit Recht sechs Formationen unterscheidet,< und p. 491: »Vergleichen wir sie (es ist immer noch von jenen Elementen die Rede) mit der Karte der klimatischen Bezirke, so überrascht uns die wunder- bare Übereinstimmung. « Obwohl Hr. K. wirklich grossen Fleiss angewendet hat, und in der Benutzung der Litteratur nicht sparsam sich zeigt, willes mir doch be- dünken, dass er meine Arbeiten, die er nun einmal zum Gegenstand seiner Kritik gewählt, etwas gründlicher hätte benutzen und dieselben mit etwas grösserem Verständnis hätte lesen können. Es wäre vielleicht auch nicht ganz unzweckmässig gewesen, wenn er meine norwegische Flora eines Blickes gewürdigt hätte, eine Arbeit in 3 Bänden, welche vor einigen Jahren ans Licht getreten ist. Aus letzterem Buche würde er nämlich ersehen haben, dass es keineswegs mit der Wahrheit überein- stimmt, wenn er behauptet, dass jene sechs Elemente von mir erfunden sind, um vorausgefasste Theorien zu beweisen. Er sagt nämlich p. 575: »Nirgends baut Bryrr die Verbreitungsbezirke der einzelnen Arten, nicht einmal für Norwegen, auf. Die,Flora Norwegens ist derart gedeutet, wie es die Theorie verlangt, und eine solche Flora ist ein testis suspeetus.« Nachdem ich manches Jahr hindurch die verschiedenen Gegenden Nor- wegens durchwandert und mit grosser Mühe alle mir zugänglichen Notizen über die Verbreitung der norwegischen Pflanzen gesammelt hatte, wobei die verschiedenen Herbarien und alle mir erreichbaren gedruckten und un- ungedruckten Quellen zu Rate gezogen wurden — erst da bin ich, bei der Ordnung dieses grossen Materials, durch die Zusammenstellung der vielen Tausende von Fundorten ganz naturgemäss darauf geführt worden, meine sechs Floraelemente aufzustellen; und erst nach Vollendung dieser Arbeit habe ich angefangen über die so ermittelten Thatsachen nach- zudenken und eine Theorie über dieselben aufzubauen. In dieser Weise bin ich zu meinen Anschauungen gelangt, und es macht daher auch keinen grossen Eindruck auf mich, dass Hr. K. diese Elemente unnatürlich findet. Boreale und subboreale Arten sind in Nor- wegen durch eine verschiedenartige Ausbreitung von einander getrennt, und das Gleiche ist der Fall mit der atlantischen und subatlantischen Flora. Dass diese Gruppen sich ausserhalb Norwegens nicht in der Art auseinander halten lassen, hat mit ihrer Verbreitung in Norwegen nichts zu schaffen. Der grösste Teil der Arten, welche in meinen Listen in Enster’s Jahrbüchern (Nachtrag) fehlen, gehört der subarktischen Flora an. ! Ausland 23. April 1883. über die Theorie der wechselnden kontinentalen und insularen Klimate“. 259 Hr. K. huldigt der alten Grisebachschen Ansicht, dass die Pflanzen- wanderung der Gegenwart zur Erklärung der Pflanzenverbreitung aus- reichend sei. Dies ist jedoch nichts weiter, als eine Behauptung, für welche weder G. noch K. einen Beweis geliefert haben. Dass die Pflanzen vom Klima der Gegenwart abhängig sind, beweist selbstverständlich keineswegs, wie Hr. K. zu meinen scheint, dass die wechselnden klima- tischen Verhältnisse der Vorzeit auf die gegenwärtige Verbreitung keinen Einfluss gehabt haben; eine derartige Nachwirkung des früheren Klimas ist vielmehr fast die notwendige Folge aus dem erstgenannten Er- fahrungssatze. Im Gegensatz zu der Grisebachschen Behauptung hat bereits FoRgEs gelehrt, dass die Begebenheiten der Vorzeit sich in der Fauna und Flora der Gegenwart abspiegeln. Dieser Theorie huldigen auch die bedeutendsten neueren Pflanzengeographen. Darwın bekannte sich zu derselben; ebenso HookeEr, Asa GRAY, DE CANDOLLE, ENGLER, DRUDE, KERNER u. a. Hr. K. glaubt, dass die atlantische Flora unserer Westküste durch Meeresströme eingewandert sei. Dies meint er beweisen zu können durch Hinweis auf die bekannten Fälle, wo Samen einiger tropischer Pflanzen an unserer Küste angespült worden sind. Hat Hr. K. aber untersucht, ob die Samen aller unserer atlantischen Flora angehörigen Arten auch wirklich im Wasser schwimmen, was doch die unerlässliche Bedingung dafür ist, dass sie durch Meeresströmungen transportiert werden können ? In alten Muschelbänken an der Christianiafjorde finden sich zahlreiche Reste solcher Seetiere, welche jetzt nicht mehr dort leben, sondern nur in süd- westlichen wärmeren Meeren. Auch die gleichzeitig gebildeten Torfmoore zeigen, dass die Küsteneiche (Quercus sessiliflora) damals_ weit häufiger war, als jetzt. Diese beiden Umstände beweisen, dass nach der Eiszeit eine Zeit eingetreten, in welcher das Klima milder war, als gegenwärtig. Es lässt sich deshalb auch dagegen kein Zweifel erheben, dass die atlan- tische Flora in jener Zeit ebenfalls eine grössere Ausbreitung gehabt hat und dass dieselbe an der Christianiafjorde hat leben können. In letzterer Gegend finden sich denn auch immer noch einzelne zerstreute Reste jener Flora, gewissermassen als lebende Fossilien, welche das Gedächtnis jener entschwundenen Zeiten bewahrt haben. Wir haben demnach gute Gründe für die Annahme einer Einwanderung dieser atlan- tischen Flora durch das südliche Schweden, wo noch immer der grösste Teil derselben sich vorfindet, und um die Christianiafjorde herum, und jene K’sche Hypothese von einer Einwanderung derselben durch Meeres- strömungen erweist sich als durchaus überflüssig. Dasselbe lässt sich von der durch Hr. K. verfochtenen Grisebach- schen Anschauung in ihrer Gesamtheit sagen. Denn dass arktische Pflanzen einst viel häufiger gewesen sind, als in der Gegenwart, beweisen NarnHorst’s schöne Funde von arktischen Pflanzenresten an vielen Orten in Süd-Schweden und Dänemark. Dieselbe Thatsache wird für die bo- realen Pflanzen durch die Torfmoore erhärtet. In letzteren findet man nämlich borale Arten, wie Corylus Avellana und Prunus avium an vielen Stellen, sogar in den Küstengegenden, wo dieselben jetzt fehlen. Wir 260 A. Blytt, Einige Bemerkungen zu Cl. König’s „Untersuchungen wissen also, dass alle diese Artgruppen, welche jetzt nur als versprengte Kolonien vorkommen, einst weit häufiger gewesen sind. Wir finden die- selben fossil in den Gegenden, welche die Kolonien von einander trennen. Die Hypothese der Hrn. G. und K., nach welcher die Kräfte der Gegen- wart ausreichen sollen, um den Samen von einer Kolonie zur andern zu tragen, ist demnach nicht allein überflüssig, sondern sogar unwahr- scheinlich, und kann nur als eine lose Behauptung gelten, für welche nicht der geringste Beweis angeführt wird. Meine Anschauung dagegen, nach welcher die Lücken in der Verbreitung den Veränderungen der klimatischen Verhältnisse ihre Entstehung verdanken, während die Kolo- nien als Asyle oder überlebende Reste der Vergangenheit anzusehen sind, lässt sich durch gute und gewichtige Gründe stützen. Hr. K. muss sich übrigens ziemlich sonderbare Vorstellungen über den Einfluss des Klimas auf die Ausbreitung der Pflanzen gebildet haben. Aus p. 491 seiner Kritik sehen wir, dass er sich überrascht fühlt durch »die wunderbare Übereinstimmung«, welche in der Gegenwart zwischen der Ausbreitung der Pflanzen und dem Klima der verschiedenen Gegenden stattfindet. Aus p. 584 erhellt dagegen, dass es nach seiner Meinung in alten Zeiten anders gewesen sein soll. Er sagt nämlich hier, dass nach der Eiszeit zuerst die Zwergweide und Zwergbirke eingewandert sind, danach die Espe und Betula odorata, dann die Kiefer, dann der Haselstrauch und endlich Prunus avium (an einem anderen Ort sagt er freilich, dass Primus avium nicht wild wächst, sondern von Menschen eingeführt ist!) und schliesslich die Eiche, aber »dieser Wechsel ist nicht durch Veränderungen des Klimas, sondern aus ihrer Natur und aus dem Kampf ums Dasein zu erklärenIm reinen Lichte sieht man nichts — ebensowenig als in der reinen Finsternis.< Die Welterscheinung ist daher nur eine Wahrnehmung von Verschiedenheiten. Indem wir aber die verschiedenen wahrgenommenen Gegenstände nebeneinander und die an denselben vorsich- gehenden Veränderungen nacheinander erkennen, erhalten wir die Vor- stellung des Raumes und der Zeit. Wir werden dadurch in die Lage versetzt, die auf uns einwirkenden Bewegungen, z. B. die Lichtwellen, auf ihrer Bahn rückwärts zu verfolgen, und gelangen so zu ihren Ausgangs- orten — den Körpern. Indem wir die Entfernungen der Körper von einander messen, können wir ihre gegenseitige Lage, sowie den von ihnen eingenommenen Raum oder ihr Volumen bestimmen. Aus der Verschieden- heit unserer Empfindungen schliessen wir auf eine Verschiedenheit der auf uns einwirkenden Bewegungen, und aus der Verschiedenheit dieser auf die Verschiedenheit der Körper, von welchen sie ausgehen. Auf diese Weise wird die für uns nur subjektive Welterscheinung zu einer äusseren objektiven Welt. Wir können jedoch an der Hand der Wissenschaft auch in das Innere der Körper, d. h. in den von ihnen eingenommenen Raum ein- dringen. Wenn schon die Ausstrahlung der Licht- und Wärmewellen zu der Ansicht geführt hat, dass derartige Bewegungen von ähnlichen Be- wegungen in den Körpern ausgehen, so hat der durch die mechanische Wärmetheorie gelieferte Nachweis von der Äquivalenz von Wärme und Arbeit diese Voraussetzung zu einer unzweifelhaften Gewissheit erhoben und wir erkennen jetzt, auf die Wissenschaft gestützt, dass die Körper nicht bloss Wellen ausstrahlen, dass sie nicht allein die ausgedehnten Ausgangsorte von Bewegungen sind, sondern dass sie auch in ihrem Innern sich in einem beständigen Bewegungszustande befinden. Die Veränderungen, welche in unseren sinnlichen Wahrnehmungen eintreten, beziehen wir auf Veränderungen, welche in den Körpern vor sich gehen, und bezeichnen sie dann vorzugsweise als Naturerschein- ungen. Sie sind entweder bloss Veränderungen der relativen Lage der Körper, d. h. äussere Bewegungen derselben, oder sie treten an den Körpern selbst hervor. Alle diese Veränderungen lassen sich aber nach den Resultaten der neueren Wissenschaft als Umwandlungen oder Über- tragungen der Bewegung darstellen, welche als Ortsveränderung, Schall, Licht, Wärme, Elektrizität, Magnetismus u. s. w. nur die Form wechselt, unter welcher sie in der Erscheinung auftritt. Mit einem Worte, alle Naturerscheinungen sind nur Veränderungen der Bewegungen, die durch ihr buntes und wechselvolles Spiel die uns umringende Welt hervor- bringen. 373 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden Die Verschiedenheit der Einwirkungen, welche die Körper auf unsere Sinne und unter einander ausüben oder auch erleiden, bezeichnen wir als ihre Qualität, wobei jedoch nicht zu übersehen ist, dass diese qualitativen Verschiedenheiten immer nur in den äusseren Wirkungen auftreten, während ihnen in der That nur quantitative Verschiedenheiten der Bewegungen entsprechen. So ist das Licht nur für das sehende Auge da, ausser ihm gibt es nur Schwingungen von verschiedener Dauer und Amplitude, die qualitativ als Farbe, quantitativ als Intensität des Lichtes erscheinen; die Höhe und Tiefe der Töne empfindet nur das hörende Ohr, in Wirklichkeit entsprechen dem Schalle nur Luftwellen von verschiedener Länge; Wärme und Kälte sind nur subjektive Empfind- ungen, die durch stärkere und schwächere Schwingungen hervorgerufen werden. Überhaupt existiert die Welterscheinung nur für das wahr- nehmende Subjekt, objektiv gibt es nur Bewegungen, die zwar quanti- tativ von einander verschieden sein können, aber an sich weder hell noch dunkel, weder warm noch kalt, weder süss noch sauer u. s. w. sind. Alle unsere Wahrnehmungen, Erfahrungen und Beobachtungen führen uns somit zu der Anerkennung einer einzigen Thatsache — der Bewegung, welche uns aus allen Naturerscheinungen entgegentritt. Was ist aber das Bewegte in den Körpern? Weil wir nur die Wirkungen der Bewegungen auf unsere Sinne empfinden, bleibt das Bewegte selbst für unsere Wahrnehmung unerreichbar. Wenn wir ein solches dennoch anerkennen, so geschieht es nur deshalb, weil wir bei den äusseren Be- wegungen der Körper stets einen bewegten Gegenstand erblicken und daraus schliessen, dass zu ihren inneren Bewegungen auch ein Bewegtes gehöre. Das Bewegte in den Körpern nennen wir Materie. Von dem aber, was die Materie an sich ist, wissen wir absolut nichts. Alle Spe- kulationen der Philosophen und alle Untersuchungen der Naturforscher sind in dieser Beziehung resultatlos geblieben und keinem ist es noch bis jetzt gelungen, das Wesen der Dinge zu erforschen. Deshalb sagt auch Kant: »Was die Dinge an sich sein mögen, weiss ich nicht und brauche es auch nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding anders, als in der Erscheinung vorkommen kann.« Das Wesen der Materie ist aber nicht allein bis jetzt für uns ver- schlossen geblieben, sondern es lässt sich auch nachweisen, dass die Erkenntnis desselben überhaupt nicht möglich ist; auf empirischem Wege nicht, weil wir immer nur die Wirkungen der Bewegungen empfinden, nicht aber das Bewegte wahrnehmen, und ebensowenig auf spekulativem Wege, weil jeder Versuch, über die Erscheinungswelt hinauszugehen, zu unauflösbaren Widersprüchen führt. Die Aufgabe, das Wesen der Materie oder das »Ding an sich« zu erkennen, schliesst die Forderung in sich, ein Etwas zu entdecken, das als Einheit allen Naturerscheinungen zu Grunde liege und keines der äusseren Merkmale an sich trage, wie sie an den einzelnen Objekten wahrgenommen werden; es soll ein Absolutes sein, das frei von allen anderweitigen Bestimmungen nur sich selbst allein voraussetze. Ein solches Etwas müsste aber, wegen seiner Bestimmungslosigkeit, zugleich unbegrenzt, unendlich, unentstanden, unvergänglich,unterschiedslos, unveränderlich u.s.w., der potentiellen Energie. 2973 schliesslich noch das an sich Unbewegte sein, da es erst durch die Be- wegung zu einem Bewegten wird. Vergebens suchen wir aber nach einem Etwas, welches den gestellten Bedingungen entspräche. Alle obigen Bestimmungen sind rein negativ; sie gelten daher ebensogut für das absolute Nichts, wie für das absolute Etwas. Das Etwas wird durch sie nicht bestimmt und das Wesen der Materie nicht ermittelt. Indem wir nach einem realen Etwas suchen, das allen Körpern zu Grunde liegen soll, gelangen wir zu dem reinen Sein, zu einem Etwas, das mit dem Nichts identisch ist. Das ist ein Widerspruch, auf den man stets bei dem Forschen nach dem Wesen der Dinge trifft und der jede weitere Erkenntnis unmöglich macht. Auch die Bestimmungen der Ausdehnung und Dauer, welche wir als wesentliche Merkmale dem Etwas beizulegen pflegen, genügen nicht, um eine Unterscheidung zwischen dem Etwas und dem Nichts zu begründen, weil der leere Raum und die leere Zeit aus dem Nichts nicht ausgeschlossen sind. Die einzige Unterscheidung zwi- schen dem Etwas und dem Nichts beruht daher in unserer Vorstellung, indem wir dem Etwas einen Inhalt zuschreiben, bei dem Nichts aber da- von abstrahieren. Dieser Inhalt selbst bleibt aber, als sich selbst wider- sprechend, für uns auf immer verschlossen. Das Wesen der Dinge er- forschen zu wollen, ist daher ebenso ungereimt, wie die Versuche, den Stein der Weisen zu entdecken, die Quadratur des Kreises zu finden oder ein Perpetuum mobile zu konstruieren. Zum Glück für uns bedürfen wir als Naturforscher der Kenntnis von dem Wesen der Materie nicht. Unsere Aufgabe besteht darin, die Einheit und den Zusammenhang der Erscheinungen zu erkennen, nicht aber über das »Ding an sich« zu spekulieren. Da alle Naturerschein- ungen nur auf Bewegungen beruhen, so finden sie auch alle ihre Erklärung durch Bewegung und wir können daher nach dem Ausspruche KırcHnnorr’s uns darauf beschränken: »Die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen auf die einfachste und vollständigste Weise zu beschreiben. « Die Materie ist somit für uns nur das allgemeine, allen Körpern zu Grunde liegende Substrat, welches wir zwar als das Bewegte voraus- setzen können, über welches wir aber, ohne die Grenzen unserer Er- kenntnis zu überschreiten, keine Bestimmungen treffen dürfen. Von der Materie darf nur das ausgesagt werden, was von ihr nicht gelten soll. Deshalb werden wir dieselbe auch nicht als aus Atomen oder Molekülen zusammengesetzt voraussetzen, denn das hiesse doch nur gleich von An- fang an willkürliche und unbegründete Hypothesen in die Naturlehre ein- führen, die ausserdem noch völlig zwecklos sind, da es der Atomistik trotz ihres dreitausendjährigen Bestehens noch nicht gelungen ist, irgend eine Naturerscheinung auf genügende Weise zu erklären, und man noch immer gezwungen ist, die gesuchten Ursachen zuerst in die Atome hinein- zulegen. Im Gegensatz zu der Atomistik entsteht nun allerdings in der kinetischen Naturlehre die Vorstellung von einer kontinuierlichen Ma- terie; doch ist diese Vorstellung keine positive Bestimmung, sondern nur eine Negation willkürlich gesetzter Grenzen. Die Kontinuität der Materie ist zu der Weiterentwickelung der kinetischen Naturlehre nicht erforderlich ; sie ist nur eine erschwerende Bedingung, welche die Forderung Kosmos 1884, I. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XIV), 18 274 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden in sich enthält, keine Voraussetzung zuzulassen, die mit ihr im Wider- spruche wäre. Ebensowenig werden wir aber auch die Materie als ver- schiedenartig, veränderlich, oder gar als ponderabel voraussetzen, denn solche Behauptungen wären positive Bestimmungen, zu welchen die kine- tische Naturlehre sich nicht für berechtigt hält. Dagegen bezeichnet sie die Materie oder das allgemeine Substrat der Körper als unter- schiedslos, unveränderlich und imponderabel, und zwar aus dem Grunde, weil die Verschiedenheit und Veränderlichkeit der Körper, sowie ihre Schwere, nicht vorausgesetzt werden dürfen, sondern erklärt werden sollen. Übrigens werden wir von nun an, ebenso wie die Materie bei allen Wechselwirkungen der Körper sich als vollständig teilnahmslos und indifferent erweist, sie auch völlig unberücksichtigt lassen und in der Thatsache der Bewegung allein nach der Ursache der Naturerschein- ungen suchen. 5 Und in der That gewährt uns die Bewegung einen vollständigen Ersatz für die uns mangelnde Kenntnis von dem Wesen der Materie. Wie sie für den empirischen Naturforscher die erste und unzweifelhafteste Thatsache ist, so bietet sie auch dem Metaphysiker die Möglichkeit eines absoluten Anfangs für seine Spekulationen. Raum und Zeit sind uns a priori als die notwendigen Beding- ungen der Möglichkeit eines Seins gegeben. Mit dem Raume und der Zeit erhalten wir zugleich ihr Verhältnis, die Geschwindigkeit, d. h. bestimmte Bewegung. Die Bewegungen können aber verschieden sein. — Mit der Verschiedenheit tritt die Möglichkeit der Unterscheidung ein und aus der Unterscheidung geht die Wahrnehmung einer Welterschein- ung hervor, die nichts anderes als die Gesamtheit aller Bewegungen ist. Durch die Bewegung erhalten wir zugleich die Brücke, die den Philosophen von jeher zu dem Übergange von der Einheit zu der Vielheit fehlte. Als das Verhältnis von Raum und Zeit ist die Beweg- ung die Einheit, nach welcher unser Erkenntnisbedürfnis strebt; durch die Verschiedenheit und Veränderlichkeit ihrer Geschwindigkeit, Zusammen- setzung, Richtung u. s. w. ist die Bewegung zugleich die Vielheit, welche uns in den Naturerscheinungen entgegentritt. Auf diese Weise lässt sich aus den Einheiten des Raumes und der Zeit mit Hilfe der Bewegung auch ohne Kenntnis der Materie auf rein deduktivem Wege die Welterscheinung konstruieren und zugleich der Philosophie und der empirischen Naturwissenschaft genügen. Zu einem deduktiven Aufbau der Welterscheinung wäre vor allem, weil alle Naturerscheinungen, welche an den Körpern beobachtet werden, durch Bewegungen bedingt sind, die Kenntnis ihrer Art und ihrer Form erforderlich. Die inneren Bewegungen lassen sich aber weder direkt be- obachten, noch hypothetisch erraten und wir sind daher gezwungen, zuerst induktiv zu verfahren und, von den an den Körpern beobachteten Erscheinungen ausgehend, auf ihren inneren Bewegungszustand zu schliessen. — Ohne Mathematik lässt sich zwar in dieser Beziehung nur wenig leisten, doch auch das Wenige, was wir mit blossen Worten aus- sagen können, genügt, um sich eine Vorstellung von dem Zusammenhange der potentiellen Energie. 275 der verschiedenartigsten Naturerscheinungen zu bilden, da es sich dabei weniger um die Formen der Bewegung als vielmehr um die Umwandlung und Übertragung ihrer Energie handelt. Aus den Erscheinungen des Lichtes und der strahlenden Wärme, welche sich als periodische, wellenförmige, von den Körpern ausgehende Bewegungen, erwiesen haben, können wir mit völliger Sicherheit schliessen, dass auch die inneren Bewegungen der Körper ähnliche periodische Be- wegungen, d. h. Schwingungen sind, die ebenfalls durch Wellen weiter fortgepflanzt werden. Bei der Fortpflanzung der Wellen kann aber nach dem bekannten Huyghensschen Prinzipe jeder Punkt als der Ausgangs- punkt besonderer elementarer Wellen betrachtet werden, die sich zu resultierenden Wellen vereinigen und sich dabei nach allen Seiten aus- breiten. Indem wir das Huyghenssche Prinzip auch für die inneren Bewegungen als gültig anerkennen, entsteht in der kinetischen Natur- lehre die Vorstellung, dass im Inneren der Körper jeder Punkt, durch die von ihm ausgehenden Wellen, die Bewegungen aller übrigen Punkte beeinflusse, zugleich aber sich unter dem Einflusse der von den übrigen Punkten ausgehenden Bewegungen befinde, wodurch bei einer voll- kommenen Gegenseitigkeit der Wechselwirkungen die Unvergänglichkeit der Bewegungen begründet wird. Die Bahn, welche jeder Punkt dabei beschreibt, ist notwendigerweise die Resultierende aller ihm in jedem Augenblicke durch Wellen mitgeteilten Bewegungen, wobei sich leicht erkennen lässt, dass diese Bahn bei einem relativ ruhenden Körper, d. h. auf ein mit ihm fest verbundenes Koordinatensystem bezogen, nur eine geschlossene Kurve sein kann, weil jeder Punkt nach einem Um- schwunge genau wieder an seinen früheren Ort zurückkehren muss. Die inneren Bewegungen der ruhenden Körper sind demnach Rotationen, die auch innerhalb eines kontinuierlichen Mittels sich als die allein mög- lichen Bewegungen erweisen, aus den elementaren Schwingungen zu- sammengesetzt werden können oder, auf die Koordinatenebenen projiziert, sich in Schwingungen zerlegen lassen, deren Wirkungen wir als die Er- scheinungen des Lichtes und der Wärme beobachten. Berücksichtigen wir jedoch, dass wir keinen Körper in absoluter Ruhe kennen, sondern dass jeder von ihnen schon wegen des Umschwunges der Weltkörper um einander an verschiedenen Bewegungen teilzunehmen hat, so stellt sich heraus, dass streng genommen in keinem Körper für die einzelnen Punkte geschlossene Bahnen angenommen werden dürfen. Es kommt nur darauf an, welches Koordinatensystem wir unseren Betrachtungen zu Grunde legen. Die Bahnen, welche in bezug auf ein mit den Körpern fest verbundenes Koordinatensystem geschlossen sind, werden stets in bezug auf ein in dem Raume feststehendes Koordinatensystem als offene Kurven erscheinen. Im letzteren Falle setzt sich die Bewegung jedes einzelnen Punktes zum mindesten aus zwei verschiedenen Bewegungen zusammen, nämlich nicht allein aus den inneren Rotationen des Körpers, welche in bezug auf diesen immer als geschlossen zu betrachten sind, sondern auch aus der translatorischen Bewegung, welche sich als die Ortsveränderung des Körpers im Raume äussert. Aus der Vereinigung der rotierenden und translatorischen Bewegungen eines Punktes resultieren aber, wie 276 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden leicht ersichtlich und wie solches bereits aus der Mechanik bekannt ist, schraubenförmige Kurven, welche uns somit die wahren Formen der Bahnen für die Bewegungen der Punkte im Raume darstellen. Das Vorangehende genügt, um dem Leser eine Vorstellung von dem inneren Bewegungszustande der Körper zu geben. Jeder Punkt beschreibt seine eigene Bahn und niemals dürfen die Koordinaten zweier Punkte, auch wenn diese beliebig nahe aneinander liegen, für einen bestimmten Zeitmoment gleich werden. Die Punkte schliessen sich da- her gegenseitig aus und begründen dadurch einen Zustand, den man bisher als die Undurchdringlichkeit der Materie bezeichnet hat, der aber allein auf der Harmonie der inneren Bewegungen beruht; keine Elastizität oder sonstigen Kräfte treiben im Inneren der Körper ihr geheimnisvolles Spiel, sondern jeder Punkt schiebt und wird geschoben und bewegt sich dorthin, wo ihm die übrigen Punkte durch ihre Be- wegungen Platz dazu lassen; kein Beharrungsvermögen ist er- forderlich, um diese Bewegungen aufrecht zu erhalten, sondern ihre un- unterbrochene Fortdauer beruht auf der vollkommenen Gegenseitigkeit aller Wechselwirkungen, wodurch ein einzelner Punkt nicht plötzlich stille stehen kann, während alle übrigen Punkte ihre Bewegungen fortsetzen. Die inneren Bewegungen der Körper sind die letzten mechanischen Ursachen, welche allen Naturerscheinungen zu Grunde liegen, zugleich die erste Thatsache, von welcher die Naturlehre auszugehen hat. Keine Er- scheinung, von der geringsten Volumenänderung an bis zur Gravitation der Weltkörper darf als erklärt betrachtet werden, bevor sie nicht auf diese Bewegungen zurückgeführt ist; sie selbst aber bedürfen keiner weiteren Erklärung mehr, sondern können nur noch beschrieben werden, weil an den einzelnen Punkten überhaupt nichts mehr zu erklären übrig bleibt; durch ihre ununterbrochene Aufeinanderfolge sind die Bewegungen zugleich die Wirkung der vorangehenden und die Ursache der nachfolgenden Bewegungen und so von Ewigkeit zu Ewigkeit. Die inneren Bewegungen der Körper tragen daher ihre Ursache in sich selbst und es liegt keine Veranlassung vor, nach einer weiteren Erklärung zu suchen, wodurch unserem Kausalitätsbedürfnisse vollkommen genügt wird. Nach dem Vorhergehenden lassen sich die Grundlagen der kinetischen Natur- lehre in folgender Weise kurz zusammenfassen. Vor allem enthält sich die kinetische Naturlehre jeder Voraussetzung über das allgemeine Substrat oder das Bewegte in den Körpern und beschränkt sich darauf wegen der Bestimmungslosigkeit, in welcher sie die Materie lässt, diese als unbegrenzt (kontinuierlich), unterschiedslos, unveränderlich und imponderabel zu bezeichnen. Die Erfahrungsthatsache der Bewegung ist demnach der einzige Ausgangspunkt der kinetischen Naturlehre. Indem sie die Bewegung jedes einzelnen Punktes als die Resultierende aller ihm in jedem Augen- blicke von den übrigen Punkten mitgeteilten Bewegungen betrachtet, wird in ihr wegen der vollkommenen Gegenseitigkeit der Wechsel- wirkungen zwischen allen Punkten die Unvergänglichkeit der Bewegungen und ihrer Energie begründet. Die Richtung, in welcher ein Punkt sich bewegt, wird durch die der potentiellen Energie. 277 auf ihn einwirkenden Wellen bestimmt. Weil aber diese in verschiedenen Momenten mit verschiedenen Phasen zusammentreffen, so ist die Be- wegungsrichtung jedes Punktes mit der Zeit veränderlich, d. h. jeder Punkt erleidet unter dem Einflusse der ihn erreichenden Wellen gleich- zeitig eine Drehung und eine Verschiebung oder er beschreibt eine schraubenförmige Linie, wie solches bereits aus der Mechanik bekannt ist und wir es auch induktiv aus den Erscheinungen abgeleitet haben. Befindet sich ein Körper in einem stationären Zustande, d. h. ist er beständig gleichen Wirkungen von aussen ausgesetzt und übt er auch gleiche Wirkungen nach aussen aus, so ist die Energie seiner inneren Bewegungen konstant und ebenso bleibt die Form der schraubenförmigen Bahnen, auf welchen seine Punkte sich im Raume bewegen, unverändert. Die obigen Sätze bilden die Grundlage der reinen kinetischen Naturlehre, sie sind hypothesenfrei, weil sie keine Voraussetzung über das Bewegte in den Körpern in sich enthalten und allein die gegebene Thatsache der Bewegung anerkennen. Trotz ihrer Einfachheit und ihrer Kürze sind sie dennoch genügend, um von ihnen aus zu einer Erklärung sämtlicher Naturerscheinungen zu gelangen. In der That, wenn wir die aus der Mechanik und aus den bekannten Wellenerscheinungen sich er- gebenden Gesetze auf die inneren Bewegungen der Körper anwenden, so gelangen wir zu Schlussfolgerungen, welche in jeder Beziehung der Wirklichkeit entsprechen. So finden wir zunächst, dass die schrauben- förmigen Bewegungen der Punkte im Raume sich in translatorische und rotierende Bewegungen zerlegen lassen; diesem entsprechend beobachten wir auch an den Körpern eine äussere Bewegung und gewisse spezifische Eigenschaften, durch welche sie sich von einander unterscheiden. Die äussere Bewegung eines Körpers ist nur eine Folge der translatorischen Komponente der Bewegung seiner Punkte, welche diese durch die ge- meinsame Einwirkung der sie erreichenden Wellen erhalten, wobei es selbstverständlich ist, dass bei einem Körper, der sich in gerader Richtung bewegt, diese Komponente für alle Punkte gleich sein muss. Die spezi- fischen Eigenschaften der Körper werden dagegen durch ihre inneren Be- wegungen bedingt, womit wir uns zunächst ausschliesslich beschäftigen wollen. Zu diesem Zweck setzen wir die Körper als ruhend voraus, d. h. wir beziehen ihre inneren Bewegungen auf ein mit ihnen selbst fest verbundenes Koordinatensystem. Die Bahnen der Punkte im Innern der Körper sind dann geschlossene Kurven, d. h. die inneren Bewegungen sind Rotationen, die, auf die Koordinatenachsen projiziert, sich in Schwing- ungen zerlegen lassen. Die Schwingungen werden durch Wellen weiter fortgepflanzt und dadurch nicht allein die Wechselwirkungen zwischen den Teilen eines Körpers, sondern auch zwischen den Körpern selbst vermittelt. Wenn aber nach dem Huyghensschen Prinzipe jeder Punkt bei der Fortpflanzung der Wellen als Ausgangspunkt besonderer elemen- tarer, nach allen Richtungen fortschreitenden Wellen betrachtet werden kann, so müssen diese Wellen im Innern der Körper bei ihrer allseitigen Ausbreitung notwendigerweise auch in entgegengesetzter Richtung auf- einandertreffen. Die Folge eines solchen Zusammentreffens in entgegen- gesetzter Richtung von fortschreitenden Wellen, welche wir innerhalb 278 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden eines homogenen Körpers von gleicher Länge und gleicher Schwingungs- dauer vorauszusetzen haben, ist aber bekanntlich ihre Umwandlung in stehende Wellen, ein Vorgang, den wir häufig an den Wasserwellen, den Luftwellen in den ÖOrgelpfeifen und an den Chladnischen Klang- figuren zu beobachten Gelegenheit haben. Die einfache Anwendung der aus den bekannten Wellenerscheinungen ermittelten Gesetze auf die inneren Bewegungen der Körper führt uns somit zu der Vorstellung von stehenden Wellen, unter deren Einflusse jeder Punkt in den Körpern seine eigene Bahn zu durchlaufen hat, und gibt uns sofort durch die Unterscheidung der fortschreitenden und stehenden Wellen die möglichst einfache Erklärung für die Verschiedenheit der strahlenden und ruhenden Wärme, da die flüchtige Erscheinung der strahlenden Wärme in derselben Weise der Vergänglichkeit der fortschreitenden Wellen ent- spricht, wie die Beständigkeit der Temperatur eines Körpers der un- veränderlichen Fortdauer der stehenden Wellen. Stehende Schwingungen oder, wenn man sich dieselben zu resul- tierenden Bewegungen vereinigt denkt, stehende Rotationen sind somit der dauernde und stationäre Bewegungszustand, den wir im Innern der Körper vorauszusetzen haben; in diesem Bewegungszustande haben wir auch die Erklärung für die an den Körpern hervortretenden spezifischen Eigenschaften und Erscheinungen zu suchen. Zunächst erkennen wir, dass die Beständigkeit der Erscheinung, mit welcher die Körper in un- serer Wahrnehmung auftreten und durch welche sie sich von einander unterscheiden, durch die unveränderliche Fortdauer und durch die Ver- schiedenheit ihrer inneren Bewegungen bedingt wird. Die Fläche, an welcher die einen Körper durchströmenden Wellen reflektiert werden und welche somit stehende Schwingungen von verschiedener Dauer oder Inten- sität von einander trennt, bezeichnen wir als die Grenzfläche oder Oberfläche der Körper. Eine solche Fläche ist in sich abgeschlossen, und der Teil des Raumes, der durch sie begrenzt wird, ist das Volumen eines Körpers. Ein Körper bedeutet daher im Sinne der kinetischen Naturlehre einen zusammenhängenden Teil des Raumes oder des allgemeinen Sub- strates, der sich in einem vollkommen gleichen Bewegungszustande be- findet und daher auch in sich als gleichartig erscheint. Die durch ihre Berührungsflächen von einander getrennten Körper besitzen dagegen ver- schiedene innere Bewegungen, weshalb sie sich auch durch ihre äussere Erscheinung und durch ihr Verhalten gegen andere Körper als verschieden erweisen. Diese Verschiedenheiten können aber zweierlei Art sein. Die Körper unterscheiden sich nämlich von einander nicht allein bei gleicher Temperatur, wie z.B. Wasserstoff und Sauerstoff, Kalium und Natrium u.s. w., durch ihre spezifischen Eigenschaften, sondern derselbe Körper erleidet auch durch Zufuhr von Wärme gewisse Veränderungen, durch welche er beim Wechsel der Temperatur von sich selbst verschieden wird. Um diese Verschiedenheit der Körper zu erklären, lässt die kinetische Natur- lehre sich einfach durch die an den Erscheinungen des Lichtes und des Schalles gemachten Beobachtungen leiten. Aus diesen Beobachtungen geht aber hervor, dass die qualitativen Verschiedenheiten des Lichtes der potentiellen Energie. 279 und Schalles, d. h. die Farben des Lichtes sowie die Höhe und Tiefe der Töne auf einer verschiedenen Dauer der sie hervorbringenden Schwing- ungen beruhen, während die quantitativen Verschiedenheiten dieser Er- scheinungen, d. h. die Stärke des Lichtes und Schalles durch die Inten- sität ihrer Schwingungen bestimmt werden. Indem wir mit vollem Rechte dasselbe Verhalten auch für die inneren Bewegungen der Körper voraus- setzen, werden wir bei der Unterschiedslosigkeit und Unveränderlichkeit des allgemeinen Substrats dahin geführt, die qualitativen Verschieden- heiten, wie sie an den chemisch verschiedenen Körpern hervortreten, einer verschiedenen Umlaufsdauer der inneren Rotationen zuzuschreiben, die quantitative Verschiedenheit der Wärme dagegen, d.h. die Verschieden- heiten, welche sonst vollkommen gleiche Körper bei verschiedener Tempe- ratur zeigen, oder vielmehr die Veränderungen, welche ein Körper bei der Erwärmung oder Erkaltung erleidet, durch die wechselnde Intensität der inneren Bewegungen zu erklären. — Von diesem rein kinetischen Stand- punkte aus erklärt sich auch auf die einfachste Weise die Verschieden- heit der chemisch einfachen und zusammengesetzten Körper. Als ein- fache Körper können in der kinetischen Naturlehre nur solche anerkannt werden, in deren Innern Bewegungen von der einfachsten Form, d. h. nur von einer bestimmten Umlaufsdauer vor sich gehen. Durch die Ver- einigung der einfachen inneren Bewegungen zweier Körper zu zusammen- gesetzten Bewegungen entstehen durch chemische Verbindung die zusam- mengesetzten Körper und die chemische Zerlegung der zusammengesetzten Körper in ihre Bestandteile ist daher auch nur eine Trennung ihrer inneren Bewegungen in einfachere Formen. Alle chemischen Prozesse sind dem- nach nur Bewegungserscheinungen und finden ihre Erklärung durch ein- fache Anwendung der mechanischen Gesetze auf die inneren Bewegungen der Körper. Unter den Naturerscheinungen, welche wir am häufigsten zu be- obachten Gelegenheit haben, sind diejenigen noch besonders hervorzuheben, welche mit Volumenänderungen der Körper verbunden sind. Da die ge- naue Betrachtung dieser Vorgänge bei den chemischen Prozessen und bei dem Übergange der Körper aus einem Aggregatzustande in einen andern uns zu weit führen würde, so wollen wir uns darauf beschränken, nur die einfacheren Erscheinungen dieser Art, wie sie durch Druck und Wärme hervorgebracht werden, näher zu untersuchen. Auch an ihnen kann die Bedeutung, welche in der kinetischen Naturlehre den Volumen- änderungen beizulegen ist, erkannt werden. In der atomistischen Theorie werden die Volumenänderungen der Körper einem Weiter- und Näherrücken der Atome zugeschrieben. Nach den Grundsätzen der kinetischen Naturlehre sind dagegen solche Vor- stellungen völlig unzulässig; es ist vielmehr selbstverständlich, dass eine unterschiedslose und unveränderliche, den Weltraum kontinuierlich er- füllende Materie weder ausgedehnt noch zusammengedrückt werden kann. Die Volumenzunahme eines Körpers ist daher nicht eine Ausdehnung und die Volamenabnahme nicht eine Zusammendrückung der Materie, son- dern nur eine Ausbreitung oder eine Beschränkung seiner inneren Beweg- ungen auf einen grösseren oder kleineren Raum. Bei diesen Vorgängen 280 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden bleibt die Materie selbst vollkommen unbeteiligt, da sie nur die Trägerin der Bewegungen ist, durch welche die Erscheinung eines Körpers hervor- gebracht wird. Durch die Ausbreitung oder die Beschränkung der in- neren Bewegungen auf einen grösseren oder kleineren Raum werden einem grösseren oder kleineren Teile des allgemeinen Substrats die Eigenschaften eines bestimmten Körpers erteilt und dadurch die Erscheinungen der Zu- nahme oder Abnahme seines Volumens bewirkt. Es verhält sich damit in dieser Beziehung genau in derselben Weise, wie mit der äusseren Bewegung der Körper. Für die kinetische Naturlehre ist es nämlich vollkommen gleich, ob man eine Bewegung der Materie selbst oder nur eine wellenartige Fortpflanzung der inneren Bewegungen eines Körpers innerhalb eines unbeweglichen und unter- schiedslosen Substrates annimmt. Überall dort, wohin diese Bewegungen verpflanzt werden, wird auch die Erscheinung eines bestimmten Körpers hervorgebracht. Der innere Vorgang ist dabei genau derselbe, wie bei der Fortpflanzung der Wellen überhaupt. Die Wasserwellen sind z. B. kein Fliessen des Wassers, sondern nur eine Fortpflanzung gewisser Be- wegungen, welche den Wellen ihre Form erteilen. ‘Dasselbe gilt auch für die äussere Bewegung der Körper; indem die inneren Bewegungen sich von Ort zu Ort weiter fortpflanzen, erteilen sie nacheinander ver- schiedenen Teilen der an sich ruhenden und unterschiedslosen Materie die spezifischen Eigenschaften eines bestimmten Körpers und bringen dadurch die Erscheinung seiner äusseren Bewegung hervor. — Die An- nahme, dass die Materie selbst in Bewegung sein könne, widerspricht zwar nicht den Grundsätzen der kinetischen Naturlehre, jedoch nur unter der Bedingung, dass sie keine Veränderung erleide, dass dabei kein Wider- stand zu überwinden sei. Letzteres ist aber nur bei der.Bewegung eines Körpers innerhalb eines kohäsionslosen und widerstandslosen Mittels oder bei Bewegungen in geschlossenen Bahnen, wie bei den inneren Rotationen der Körper und bei dem Umschwunge der Weltkörper umeinander möglich. In allen diesen Fällen können die Teile des kontinuierlichen Substrats einfach auf einander folgen, ohne sich zu stören. In diesem Sinne haben wir auch die schraubenförmigen Bewegungen der Punkte eines Körpers im Raume angenommen. In allen Fällen dagegen, wo ein Widerstand zu überwinden und eine Arbeit zu leisten ist, kann die äussere Bewegung eines Körpers nur durch Mitteilung seiner inneren Bewegung an die zu- nächst vor ihm liegenden Teile des Substrats erfolgen, da eine Arbeits- leistung in der That nur eine Übertragung der Energie ist. Bei der Ausdehnung eines Körpers muss aber stets, um den äusseren Druck zu überwinden, eine Arbeit geleistet werden. Wird ein Körper z. B. erwärmt, d. h. die Energie seiner inneren Bewegungen erhöht, so erlangen sie das Übergewicht über den äussern Druck. Die dabei ge- leistete Arbeit wird dazu verbraucht, die inneren Bewegungen der an- grenzenden Körper zurückzudrängen und sie durch die inneren Bewegungen des wärmeren Körpers zu ersetzen. Dadurch aber, dass die zunächst liegenden Teile der Materie die inneren Bewegungen und somit auch die Eigen- schaften des sich ausdehnenden Körpers annehmen, wird die Erscheinung seiner Volumenzunahme hervorgebracht. der potentiellen Energie. 281 Bei der Erkaltung tritt genau der entgegengesetzte Vorgang ein. Durch ihre abnehmende Energie sind die inneren Bewegungen eines Kör- pers nicht mehr im stande, dem äusseren Drucke das Gleichgewicht zu halten, sie werden durch seine Arbeit auf einen kleineren Raum zurückgedrängt und das Volumen des Körpers nimmt ab. Auf dieselbe Weise verhält es sich bei allen Volumenänderungen der Körper, mögen sie durch Druck oder Wärme, durch chemische Pro- zesse oder bei Veränderung des Aggregatzustandes eintreten. Stets ist das Volumen eines Körpers der Raum, in dem die ihn qualifizierenden Bewegungen vor sich gehen. Aus dem obigen geht hervor, dass die reine kinetische Naturlehre, obgleich sie nur eine Thatsache, die Bewegung, als ihren Ausgangs- punkt anerkennt, dennoch im stande ist, die verschiedenartigsten Erschein- ungen, sowohl die physischen, wie die chemischen, unter einem Gesichts- punkte zusammenzufassen. Dieses gilt namentlich dann, wenn es sich darum handelt, die an den Körpern wahrgenommenen Verschiedenheiten, sowie diejenigen Veränderungen zu erklären, welche unter dem Einflusse nach- weisbarer, äusserer Einwirkungen eintreten. In dem einen wie in dem anderen Falle werden die an den Körpern beobachteten qualitativen Ver- schiedenheiten auf die Verschiedenheit ihrer inneren Bewegungen und die durch äussere Einwirkungen hervorgebrachten Veränderungen auf Ver- änderungen derselben inneren Bewegungen zurückgeführt und auf diese Weise die Ursache der betreffenden Naturerscheinung ohne weiteres nach- gewiesen. Neben diesen Erscheinungen kommen dagegen auch andere vor, bei welchen die Körper von sich aus häufig plötzlich mächtige Wirkungen ausüben, ohne dass eine äquivalente Veranlassung dazu von aussen so- fort zu erkennen wäre. So leistet z. B. ein schwerer Körper bei seinem Niedersinken eine Arbeit oder entwickelt bei seinem Fallen eine beständig zunehmende lebendige Kraft, ohne dass eine äussere Ursache zu diesen Erscheinungen bis jetzt hätte ermittelt werden können. Bei der Konden- sation der Dämpfe tritt die freiwerdende latente Wärme auf, die zwar als Ersatz für die beim Verdampfen der Flüssigkeit verbrauchte Wärme gilt, dem Dampfe' aber nicht während seiner Kondensation zugeführt wird. Die chemische Wärme der Körper, wie z. B. die Verbrennungswärme des Wasserstoffes, ist ein weiteres Beispiel dafür, dass die Körper von sich aus mächtige Wirkungen ausüben können, ohne dass eine äquivalente Zufuhr von Energie von aussen nachweisbar wäre. — So verschieden- artig auch die soeben erwähnten Erscheinungen — die Arbeitsleistung eines schweren Körpers, das Freiwerden der latenten Wärme, die Ver- brennungswärme des Wasserstoffs u. s. w. — sein mögen, so stimmen sie doch alle darin überein, dass die Körper unter gewissen Umständen sich als Reservoire verborgener Arbeitsvorräte erweisen, die unter ver- änderten Verhältnissen entweder als äussere Arbeit — wie beim Sinken der schweren Körper — oder als lebendige Kraft — bei ihrem freien Fallen — oder als Wärme — bei der Kondensation der Dämpfe und bei den chemischen Prozessen zum Vorschein kommen. In allen Fällen werden wir zu der Frage geführt, auf welche Weise ein derartiger Arbeitsvorrat 2823 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden in den Körpern verborgen sein kann und unter welchen Bedingungen er zur Wirksamkeit gelangt? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns wieder zu den uns bekannten Wellenerscheinungen wenden und zusehen, ob wir nicht bei ihnen entsprechende Vorgänge antreffen. Dabei werden wir sofort an die Interferenzerscheinungen der Wellen erinnert. Zwei Schallwellen, bei welchen die Verdichtung der einen mit der Verdünnung der anderen zusammentrifft, üben keine Einwirkung auf unser Ohr aus und lassen keinen Ton wahrnehmen, obgleich sie getrennt von einander vollkommen gut hörbar sind. Zwei Lichtstrahlen, welche in entgegengesetzten Schwingungs- zuständen zusammentreffen, heben gegenseitig ihre Wirkungen auf, wie solches an den vielfachen Interferenzerscheinungen des Lichtes beobachtet werden kann. Dasselbe gilt auch von den Wellen der strahlenden Wärme, für welche Interferenzen ebenfalls nachgewiesen sind. Treten dagegen die Wellen des Schalles, des Lichtes oder der Wärme aus ihren Inter- ferenzen heraus, so beobachten wir die entgegengesetzten Erscheinungen ; wir erhalten: statt der Stille — einen Ton, statt der Finsternis — Licht, statt Kälte — Wärme. Genau dasselbe muss nun auch im Innern der Körper vor sich gehen. Wie auch die inneren Bewegungen der Körper beschaffen sein mögen, so ist doch unvermeidlich, dass die sich fortpflanzenden Wellen bei der Vielfältigkeit der Richtungen, in welchen sie sich durchkreuzen, nicht allein in entgegengesetzter Richtung auf einander stossen und sich dabei in stehende Wellen umwandeln, sondern auch, in gleicher oder fast gleicher Richtung fortschreitend, mit verschiedenen Schwingungsphasen, d. h. mit entgegengesetzten Geschwindigkeiten zusammentreffen, sich dabei durch Interferenz ganz oder teilweise neutralisieren und die Wirkungen, welche jede einzelne Welle für sich hervorbringen würde, gegenseitig auf- heben. Es ist dabei besonders zu bemerken, dass diese gegenseitige Neu- tralisation der Bewegungen im Innern der Körper sich nur auf ihre Wirkungen nach aussen bezieht, dass sie sich dabei nicht vernichten. Wie die Oberfläche des Wassers an der Stelle, wo zwei Wellen sich in der Weise kreuzen, dass ein Wellenberg und ein Wellenthal zusammen- fallen, verflacht erscheint, was jedoch nicht verhindert, dass über den Kreuzungspunkt hinweg Wellenberg und Wellenthal sich wieder voll- ständig entwickeln, wie in einem Konzertsaale bei guter Akustik die Töne ungeachtet ihrer vielfachen Interferenzen dennoch ungeschwächt bis zu unserem Ohr gelangen, so bestehen auch die inneren Bewegungen der Körper trotz aller Interferenzen unveränderlich weiter fort. Indem jeder Punkt immer nur die resultierende Bahn aller ihm in jedem Augen- blicke mitgeteilten Bewegungen beschreibt, ist zwar das Fortbestehen aller elementaren Bewegungen in den Körpern gewahrt, es tritt jedoch bald hier, bald dort der Umstand ein, dass die Geschwindigkeiten der ein- zelnen Punkte durch die stattfindenden Interferenzen momentan ganz oder teilweise aufgehoben werden, wodurch jedoch nicht verhindert wird, dass die auf diese Weise neutralisierten Bewegungen sich weiter fort- pflanzen und ihren Einfluss auf die übrigen Punkte des Körpers in der der potentiellen Energie. 285 Weise ausüben, als ob sie durch keine Interferenzen hindurchgegangen wären. Weil aber dieser Vorgang sich immer von neuem wiederholt und an allen Punkten des Körpers beständig eintritt, wird ein Teil der inneren Bewegungen nach aussen wirkungslos und in den Körpern da- durch ein verborgener Arbeitsvorrat begründet, der nur dann zum Vor- schein kommt, wenn die inneren Bewegungen unter veränderten Umständen aus ihren Interferenzen heraustreten und die Erscheinungen hervorbringen, die uns häufig — wie z. B. die Explosion des Knallgases, das Auftreten der latenten Wärme und die Schwere der Körper — als unerklärlich er- scheinen. Der verborgene Arbeitsvorrat, welcher in den Körpern durch die interferierenden Bewegungen begründet wird, ist das, was man bisher als potentielle Energie bezeichnet hat. Wegen der gegenseitigen Neutralisation der Bewegungen verschwindet dieser Arbeitsvorrat aus der Erscheinung und kann nur unter veränderten Umständen durch das Heraus- treten der Bewegungen aus ihren Interferenzen zur Wirksamkeit gelangen. Die Energie der nach allen Interferenzen resultierenden freien Bewegungen ist dagegen die kinetische Energie, mit welcher die Punkte eines Körpers ihre schraubenförmigen Bahnen im Raume durchlaufen. In der- selben Weise aber, wie die schraubenförmigen Bewegungen der Punkte sich in rotierende und translatorische Bewegungen zerlegen lassen, zerfällt auch die kinetische Energie eines Körpers in die Energie seiner inneren Rotationen und in die Energie seiner translatorischen Bewegung. Die Energie der inneren Rotationen ist die Wärme der Körper und bringt den äusseren Druck und die Temperatur derselben hervor, die Energie der translatorischen Bewegung äussert sich dagegen als lebendige Kraft. Die Summe der potentiellen und kinetischen Energie oder die Summe der potentiellen Energie der Wärme und der lebendigen Kraft ist die Totalenergie der Körper. Um diese Definitionen noch bestimmter zu fassen, wollen wir ihnen einen mathematischen Ausdruck geben. Unter der Totalenergie verstehen wir die Energie sämtlicher Bewegungen, an welchen die Punkte eines Körpers teilzunehmen haben. In gleichartigen Körpern ist die Total- energie bei gleichem Volumen jedenfalls gleich oder — was dasselbe be- deutet — sie ist dem Volumen der Körper proportional. Bei qualitativ verschiedenen Körpern wird die Totalenergie aber nicht allein durch das Volumen bestimmt, sondern sie ist ausserdem noch und zwar — weil bei der Unterschiedslosigkeit des allgemeinen Substrats von einer Ver- schiedenheit desselben nicht die Rede sein darf — nur noch von der Geschwindigkeit aller in den Körpern vorkommenden Bewegungen ab- hängig. Die Totalenergie eines Körpers kann daher durch den mathe- matischen Ausdruck —e dargestellt werden, in welchem V das Volumen des Körpers bedeutet, unter N u? die Summe der Quadrate aller Geschwindigkeiten seiner einzelnen Punkte zu verstehen ist und K endlich ein konstanter und wegen der Unterschiedslosigkeit des allgemeinen Substrats für alle Körper [3 284 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden gleicher Koeffizient ist, der dazu dient, die Äquivalenz zwischen der Total- energie der Körper und dem Gesamtwert ihres inneren Arbeitsvorrats - herzustellen. Wenn wir aber, statt die sämtlichen stets positiven Energien in einem Körper zusammen zu addieren, zuerst die einem Punkt mitgeteilten Geschwindigkeiten unter Berücksichtigung ihrer positiven und negativen Zeichen nach den Grundsätzen der Mechanik miteinander verbinden, so erhalten wir eine resultierende Geschwindigkeit s, mit welcher die Punkte des Körpers ihre schraubenförmigen Bahnen im Raume durch- laufen. Die dieser Geschwindigkeit entsprechende kinetische Energie lässt sich dann durch den Ausdruck darstellen. Ziehen wir diesen Ausdruck von der Totalenergie ab, so er- halten wir die potentielle Energie Be le eh als Differenz der Totalenergie und der kinetischen Energie. Aus der letzten Gleichung folgt pP PER und wenn wir die kinetische Energie E in Wärme W und lebendige Kraft L zerlegen T=P+W-L woraus wir erkennen, dass sämtliche Erscheinungen, welche bei konstanter Totalenergie, d. h. ohne Zufuhr oder Ableitung von Energie von oder nach aussen an den Körpern beobachtet werden, nur Umwandlungen der potentiellen Energie in Wärme und lebendige Kraft oder umgekehrt sein können. — Während die Totalenergie, die kinetische Energie, die Wärme und die lebendige Kraft für die Naturforscher völlig geläufige Ausdrücke sind, die eine bestimmte Bedeutung in der Wissenschaft haben, kann dasselbe nicht von der potentiellen Energie gesagt werden. In der Attrak- tionslehre verstand man darunter einen durch Zentralkräfte begründeten latenten Arbeitsvorrat ohne Angabe, auf welche Weise derselbe zur Wirksamkeit gelangen könne. Die moderne kinetische Atomistik dagegen, welche die Zentralkräfte bestreitet und nur eine Bewegung der Atome voraussetzt, glaubt die potentielle Energie vollkommen entbehren zu können und verzichtet dadurch zugleich auf die Erklärung vieler Natur- erscheinungen. Erst in der reinen kinetischen Naturlehre, wie sie von uns entwickelt worden ist, lässt sich die wahre Bedeutung der poten- tiellen Energie auch ohne Voraussetzung von Kräften nachweisen, und erkennen, dass sie die Energie der in den Körpern inter- ferierenden und sich in ihren Wirkungen nach aussen gegen- seitig neutralisierenden Bewegungen ist. Die Bestätigung der soeben erlangten Erkenntnis geht aus den vielfachen Anwendungen derselben bei der Erklärung der verschieden- artigsten Naturerscheinungen hervor. Bei dem Übergang der Körper aus dem festen in den flüssigen der potentiellen Energie. 285 und aus dem flüssigen in den gasförmigen Zustand verschwindet ein Teil der zugeführten Wärme für das Gefühl und das Thermometer; sie wird — wie man sich auszudrücken pflegt — latent. Dieselbe Wärme tritt bei den entgegengesetzten Zustandsänderungen der Körper wieder her- vor. Wo bleibt die während der Veränderung des Aggregatzustandes als Wärme zugeführte Bewegung ? Nach der alten Lehre behauptet man, dass die bei jenen Zustandsänderungen verschwindende Wärme nicht mehr als Wärme in den Körpern vorkomme, sondern zur Über- windung der inneren Kräfte als Arbeit verbraucht sei, und dass die bei den entgegengesetzten Zustandsänderungen wieder zum Vorschein kommende Wärme nicht aus der Verborgenheit hervortrete, sondern durch die Arbeit der Zentralkräfte wieder erzeugt werde. Diese Erklärungsweise genügt aber nicht, da man sich keine Vorstellung von den Zentralkräften und von der Art ihrer Wirkungen bilden kann. In der kinetischen Atomistik, welche die inneren Molekularkräfte bestreitet, fehlt dagegen jede Erklärung für die obenerwähnten Erscheinungen. Viel einfacher in dieser Beziehung ist das Verfahren der kinetischen Naturlehre; sie braucht eigentlich nur die beobachteten Erscheinungen in ihre Sprache zu übersetzen. Die während der Veränderung des Aggregatzustandes den Körpern als Wärme zugeführten Bewegungen treten nach ihr in einen Zustand des beständigen Interferierens ein, sie neutralisieren sich dabei gegenseitig und gehen dadurch für das Gefühl und das Thermometer verloren, d. h. kürzer ausgedrückt: die zugeführte Wärme wird in potentielle Energie umgewandelt. Bei den entgegengesetzten Erscheinungen, d. h. bei der Konden- sation der Dämpfe und dem Festwerden der Flüssigkeiten treten die inneren Bewegungen durch die veränderten Umstände aus ihren Inter- ferenzen hervor und erscheinen dann als freiwerdende latente Wärme, d. h. es wird die potentielle Energie der Körper in Wärme umgewandelt. Die Explosion des Knallgases beim Hindurchschlagen eines elek- trischen Funkens und die hohe Verbrennungswärme des Wasserstoffes können als weitere Beispiele für das Wirksamwerden der in den Körpern enthaltenen potentiellen Energie dienen. Das Knallgas ist be- kanntlich ein Gemisch von 1 Volumen Sauerstoff und 2 Volumen Wasser- stoff. Beide Gase bestehen bei gewöhnlicher Temperatur friedlich neben einander und nichts deutet auf die gewaltige Energie hin, welche sie entwickeln können. Kommt aber nur der geringste Funke hinzu, so sehen wir das Knallgas durch eine plötzliche Explosion seinen Behälter sprengen oder wir beobachten, wenn ein Wasserstoffstrahl in einer At- mosphäre von Sauerstoff angezündet wird, auf jede Gewichtseinheit Wasserstoff eine Entwickelung von nicht weniger als 54462 Wärme- einheiten. Diese mächtigen Wirkungen können weder dem geringen elek- trischen Funken, welcher die Explosion des Knallgases veranlasst, noch der Flamme zugeschrieben werden, welche benutzt worden ist, um den Wasserstoffstrahl anzuzünden. Auch in diesem Falle wird in der alten Lehre die bei den erwähnten Erscheinungen auftretende Energie der Arbeit irgend welcher Zentralkräfte zugeschrieben, während die kinetische Ato- 286 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden mistik überhaupt keine Erklärung dafür hat. Die kinetische Naturlehre gibt dagegen über die Ursache jener Erscheinungen eine vollständige Auskunft. Nach ihr ist der Arbeitsvorrat, welcher die Explosion des Knallgases und die Verbrennungswärme des Wasserstoffs hervorbringt, in den Bestandteilen des Wassers bereits vor ihrer Vereinigung als die Energie der interferierenden Bewegungen oder als potentielle Energie enthalten. So lange die beiden Gase, wenn auch mit einander gemischt, doch noch räumlich von einander getrennt sind, besteht auch die gegen- seitige Neutralisation ihrer inneren Bewegungen und die Energie der- selben bleibt wirkungslos. Der geringste Funken genügt aber, um die chemische Vereinigung des Wasserstoffs mit dem Sauerstoff durch gegen- seitige Übertragung und Vereinigung ihrer inneren Bewegungen einzu- leiten. Unter den veränderten Verhältnissen treten die inneren Bewegungen der beiden Gase aus ihren Interferenzen heraus und bringen die ge- waltigen Wirkungen hervor, welche wir sodann zu beobachten Ge- legenheit haben. Dieselben Erläuterungen, welche wir über die Verbrennungswärme des Wasserstoffs gegeben haben, gelten auch in allen Fällen, in welchen es sich darum handelt, die chemische Wärme der Körper zu erklären. Stets ist die Energie der im freien Zustande der Körper sich gegenseitig neutralisierenden inneren Bewegungen oder die potentielle Energie die Quelle der Wärme, welche bei den chemischen Prozessen durch Störung der Interferenzen zum Vorschein kommt. Bei den entgegengesetzten Erscheinungen, d. h. bei der Dissociation der Verbindungen ist auch der innere Vorgang ein genau entgegen- gesetzter. Durch die Wärme werden den zusammengesetzten Körpern die Bewegungen zugeführt, welche bei ihrer Bildung als chemische Wärme ausgestrahlt worden sind. Indem diese Bewegungen in den Zu- stand des Interferierens eintreten, ersetzen sie die bei der Vereinigung der Körper verbrauchte potentielle Energie und erteilen dadurch den Bestandteilen einer Verbindung die Fähigkeit wieder, im freien Zustande bestehen zu können. Zu ähnlichen Resultaten führen uns auch die elektrischen und magnetischen Erscheinungen, welche wie die chemische Wärme und die Schwere bisher noch zu den ungelösten Problemen der Wissenschaft gehören; noch jetzt werden sie häufig auf imponderable Flüssigkeiten zurückgeführt. Öffnet man ein Lehrbuch der Physik, so findet man den Unterschied zwischen dem gewöhnlichen und dem elektrischen Zustande der Körper auf die Weise erläutert, dass im ersten die elektrischen Flüssigkeiten mit einander verbunden sein sollen und sich dabei neutrali- sieren, durch Reibung oder durch chemische Prozesse aber von einander getrennt werden können und dann die Erscheinungen hervorbringen, welche wir der Elektrizität zuschreiben. Diese Vorstellungen sind aber gegenwärtig stark im Schwinden begriffen; in Übereinstimmung mit der kinetischen Naturlehre überzeugen sich die Naturforscher von Jahr zu Jahr immer mehr, dass die Elektrizität nur eine von den vielen Formen ist, unter welchen die inneren Bewegungen der Körper in der Erscheinung auftreten. Diese Bewegungen sind aber im gewöhnlichen, nicht elek- der potentiellen Energie. 287 trischen Zustande — wenn man sich so ausdrücken darf — durch Inter- ferenzen mit einander verbunden, neutralisieren sich dabei gegenseitig und begründen dadurch die potentielle Energie, welche sich unter den gegebenen Bedingungen nicht zu äussern vermag. Wenn aber die Inter- ferenzen durch Reibung oder durch chemische Prozesse gestört werden, so trennen sich die inneren Bewegungen der Körper von einander, die potentielle Energie derselben gelangt zur Wirksamkeit und bringt dann je nach den getroffenen Einrichtungen bald die Erscheinungen der Wärme, bald die der Elektrizität hervor. In derselben Weise verdanken die galva- nischen Ströme, welche auf elektromotorischem Wege erzeugt werden, ihre Entstehung der in den Brennstoffen angehäuften potentiellen Energie. Indem die inneren Bewegungen des Kohlenstoffes beim Verbrennen aus ihren Interferenzen heraustreten, wird ihre potentielle Energie zuerst in Wärme, dann in Arbeit und schliesslich in Elektrizität umgewandelt. Die Quelle der Elektrizität und somit auch des Magnetismus ist daher nur in der potentiellen Energie der Körper zu suchen, wobei nicht zu zweifeln ist, dass zugleich mit der Erklärung der Schwere auch die Ur- sache der sogenannten elektrischen und magnetischen > Anziehungen« und »Abstossungen« sich in derselben Weise ergeben wird. Aus den soeben erwähnten Erscheinungen geht bereits der un- zweifelhafte Beweis für die Existenz verborgener Arbeitsvorräte oder der potentiellen Energie in den Körpern hervor; zugleich ergibt sich auch für uns die Möglichkeit, den Ursprung der lebendigen Kraft bei den fallenden Körpern nachzuweisen, ohne deshalb gezwungen zu sein, irgend- welche anziehende Kräfte oder den Stoss der Ätheratome anzunehmen. Wir erkannten bereits, dass die lebendige Kraft der fallenden Körper nicht von aussen herstammen könne, weil sie dann bei den notwendiger- weise als gleichmässig vorauszusetzenden äusseren Einwirkungen in gleichen Zeitabschnitten nur in gleichen Mengen übertragen werden könnte, während sie in Wirklichkeit dem Quadrate der Zeit proportional ist, und schlossen daraus, dass die wahre Ursache der Schwere oder die Quelle der lebendigen Kraft als latenter Arbeitsvorrat in den fallenden Körpern selbst enthalten sein muss. Bisher fehlte uns aber noch die Erkenntnis dessen, was man unter potentieller Energie zu verstehen habe. Diese Lücke ist nun auch ausgefüllt. Durch die Anerkennung der po- tentiellen Energie als der Energie der in den Körpern interferierenden und sich in ihren Wirkungen nach aussen neutralisierenden Bewegungen erhalten wir den Arbeitsvorrat, aus dem die fallenden Körper durch Störung der inneren Interferenzen ihre lebendige Kraft schöpfen können, und erkennen zugleich, dass auch die äussere Arbeit, welche ein langsam sinkender Körper leistet, nur eine Übertragung eines Teiles seiner po- tentiellen Energie auf einen anderen Körper, auf das Material der Arbeit ist. Umgekehrt dient die Arbeit, welche beim Heben eines Körpers verbraucht wird, dazu, ihn in den früheren Zustand, in dem er sich vor seinem Herabsinken befand, wieder zurückzuführen. Durch diese Arbeit werden dem Körper neue Bewegungen zugeführt und durch das Interferieren derselben die bei seinem Falle verbrauchte potentielle Energie wieder hergestellt. Der Zuwachs an potentieller Energie, welchen der Körper 288 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden dabei erhält, ist notwendigerweise äquivalent der Arbeit, welche bei seinem Emporheben verbraucht worden ist, und ebenso äquivalent der Arbeit, welche er bei seinem Herabsinken leisten kann, oder der leben- digen Kraft, welche er bei seinem freien Herabfallen von derselben Höhe erreicht. Auf diese Weise wird in der kinetischen Naturlehre der Zu- sammenhang zwischen der beim Heben eines Körpers verbrauchten und der bei seinem Herabsinken geleisteten Arbeit ohne Voraussetzung von Kräften durch die Energie der im Körper interferierenden Bewegungen hergestellt und der Kreis der äquivalenten Verwandlungen auch für die Erscheinungen der Schwere geschlossen. Durch die Erkenntnis der potentiellen Energie gelangt die kine- tische Naturlehre, indem sie dadurch die Möglichkeit erhält, den Zusammen- hang der verschiedenartigsten Naturerscheinungen nachzuweisen, zu einem vorläufigen Abschlusse. Wir können jedoch auf diesen Gegenstand nicht weiter eingehen, da die vorliegende Arbeit vorzugsweise nur dazu be- stimmt ist, sich mit den Erscheinungen der Schwere zu beschäftigen. Dennoch möchte ich auf einige Resultate meiner kinetischen Naturlehre aufmerksam machen, die wohl geeignet sind, ihren Wert erkennen zu lassen. So findet sich auf S. 221 meines Buches »das Rätsel der Gra- vitation< für die vollkommenen Gase das Verhältnis der spezifischen Wärme c, bei konstantem Drucke und der spezifischen Wärme c, bei konstantem Volumen oder 1 MAGE n & angegeben. Die Bedeutung dieses einfach durch Rechnung ohne Be- nutzung irgend welcher vorhergehenden Beobachtung erhaltenen Re- sultates ist leicht zu erkennen. Vergleicht man nämlich den für Fr gus- ey gerechneten Wert mit den Werten, welche sich dafür bei den permanenten Gasen aus den Beobachtungen ergeben, z. B. beim Wasserstoff 1,417, so findet man zunächst, dass die Abweichung eine nur sehr geringe ist. Ferner stellt sich aus den Beobachtungen heraus, dass das Verhältnis Ep um so kleiner wird, je mehr die Gase und Dämpfe sich von dem Cy vollkommenen Gaszustande entfernen. Der ausgerechnete Wert 1,444 ist daher ein Maximum, dem sich das Verhältnis = bei den wirklichen & Gasen nähert, der aber nur im vollkommenen Gaszustande erreicht werden kann und dessen Abweichung von dem beobachteten Werte ein Mass für die Abweichung des Gases von dem ideellen Zustande gibt. Der Umstand aber, dass das Verhältnis der spezifischen Wärme bei konstantem Drucke und bei konstantem Volumen einfach durch Rech- nung gefunden werden kann, ist wohl der beste Beweis für die Sicher- heit der Grundlagen, auf welchen die kinetische Naturlehre aufgebaut ist. Ein weiteres, nicht weniger wertvolles Resultat der kinetischen Naturlehre ist die gegebene Möglichkeit, die kinetische Energie zu be- stimmen; der Werth derselben in einem Kubikmeter und bei einem mitt- der potentiellen Energie. 289 leren atmosphärischen Druck stellt sich nach den zu diesem Zweck an- gestellten Rechnungen (Das Rätsel der Gravitation, S. 222) auf 23251 Meterkilogramme heraus. Durch diese Zahl erhalten wir eine Vorstellung von dem Arbeits- vorrate, welcher als freie Wärme in den Körpern enthalten ist. Anders verhält es sich damit in bezug auf die potentielle Energie; diese tritt in den Gleichungen der kinetischen Naturlehre als die bei der Inte- gration der Totalenergie hinzuzufügende Konstante auf, deren Wert vor- läufig sich noch nicht genau bestimmen lässt; eine einfache Betrachtung führt uns aber zu der Erkenntnis, dass dieser Wert eine Grösse besitzt, welche alle unsere Vorstellungen übersteigt. Denken wir uns einen Körper, z. B. eine Kanonenkugel, von der Schwere in bezug auf alle Weltkörper bis auf einen, z. B. den Sirius befreit und nach diesem hin fallend, so wird seine lebendige Kraft infolge der beschleunigten Bewegung zuletzt einen Wert erreichen, der alle Arbeitsvorräte, die uns auf der Erdoberfläche zur Verfügung gestellt sind, bedeutend übersteigt. Die nach dem Sirius fallende Kanonenkugel kann aber ihre lebendige Kraft nur aus sich selbst, aus ihrer eigenen inneren Energie schöpfen und wir erkennen daher, dass diese einen Wert besitzen muss, zu dessen Bestimmung unsere irdischen Masse sich als völlig ungenügend erweisen. Ein anderes Beispiel können wir dem Verhalten der Körper auf der Erdoberfläche selbst entnehmen. Denken wir uns gewisse Mengen Wasserstoff und Sauerstoff in dem Verhältnisse, wie sie im Knallgase enthalten sind und lassen wir sie verschiedene Zustandsänderungen erleiden, so erhalten wir zunächst durch die chemische Vereinigung der beiden Gase einen bedeutenden Arbeitsvorrat als Verbrennungswärme des Wasserstoffs; durch Abkühlung entziehen wir dem Wasserdampfe ferner einen Teil seiner kinetischen Energie; bei der Kondensation zu Wasser kommt die Verdampfungswärme wieder zum Vorschein und das sich bildende heisse Wasser ist immer noch im stande, weitere Mengen von Wärme auszustrahlen. Aber auch das abgekühlte Wasser trägt noch unermessliche Vorräte von Energie in sich; bei seinem Herabfallen bringt es unsere Maschinen in Bewegung, wobei es den dazu erforder- lichen Arbeitsvorrat nur aus sich selbst, aus seiner inneren Energie schöpfen kann, und behält trotzdem noch immer die Fähigkeit, einem erhöhten äusseren Drucke einen unüberwindlichen Widerstand entgegen- zusetzen. — Diese Widerstandsfähigkeit kann aber das Wasser eben- falls nur seinen inneren Bewegungen entnehmen und wir erkennen somit, dass seine innere Energie und aus denselben Gründen auch die innere Energie der übrigen Körper einen Wert besitzen muss, der fast an das Unendliche streift. Die kinetische Energie, welche die Erscheinungswelt hervorbringt, ist daher ein verschwindend kleiner Teil der Totalenergie der Körper; sie ist nur das leise Kräuseln der Wellen auf der Oberfläche eines Ozeans, der selbst aus potentieller Energie besteht. Die Bedeutung der potentiellen Energie, als der Energie der inter- ferierenden und sich in ihren Wirkungen nach aussen neutralisierenden Kosmos 1884, I. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XIV). 19 290 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden etc. Bewegungen steht von nun an fest und auch die Zukunft wird daran nichts mehr ändern können. Doch wie jede Errungenschaft der Wissen- schaft nur eine Sprosse auf der unendlichen Leiter der Erkenntnis ist, so tritt auch jetzt, wo es uns kaum gelungen ist, die wahre Quelle der Schwere zu entdecken, die Frage nach der weiteren Ursache auf, durch welche das Wirksamwerden der potentiellen Energie in den Körpern ver- anlasst wird. In vielen Fällen sind uns die veranlassenden Ursachen durch die Bedingungen selbst gegeben, unter welchen die Erscheinungen eintreten. Die Ableitung der Wärme, die Zunahme des äusseren Druckes, die Berührung mit einer Flamme, der geringste elektrische Funken ge- nügen, um bei der Kondensation der Dämpfe, den chemischen Prozessen, der Explosion des Knallgases u. s. w. das Heraustreten der inneren Be- wegungen aus ihren Interferenzen zu bewirken und die potentielle Energie der Körper zum Vorschein zu bringen. Anders verhält es sich damit bei den Erscheinungen der Schwere. Wird ein Körper seiner Stütze be- raubt, oder wird der Faden, an dem er hängt, durchgeschnitten, so gerät er scheinbar von selbst in eine nach dem Mittelpunkte der Erde gerich- tete beschleunigte Bewegung, ohne dass eine äussere Veranlassung dazu, noch eine Veränderung an dem Körper wahrzunehmen wäre. Da aber diese Erscheinung nicht ursachlos sein kann, so folgt daraus, dass ausser der potentiellen Energie, welche nur die Quelle für die lebendige Kraft der fallenden Körper ist, noch eine zweite Ursache vorhanden sein muss, welche den Anstoss zu der Entstehung der Bewegung und zu ihrer Be- schleunigung gibt. Dass diese zweite, die Erscheinung der Schwere bloss veranlassende Ursache nicht in den Körpern selbst enthalten sein kann, ist leicht einzusehen. Die Richtung, in welcher die Schwere wirkt, ihre Verschiedenheit auf den verschiedenen Weltkörpern, ihre Abnahme mit dem Wachsen der Entfernung von den Gravitationsmittelpunkten, sind unabhängig von den fallenden Körpern und beweisen, dass der Anstoss, welcher gleich dem elektrischen Funken in dem Knallgase das Wirksam- werden der potentiellen Energie in den ponderablen Körpern veranlasst, ausserhalb derselben zu suchen ist. Da aber die Schwere nicht allein auf der Erde, sondern auch in die weite Ferne wirkt, so erkennen wir, dass diese zweite ihre Richtung und Intensität bestimmende Ursache nur in den interstellaren, die Weltkörper von einander trennenden Räumen enthalten sein kann. (Fortsetzung folgt.) Nägelis Einwände gegen die Blumentheorie, erläutert an den Nachtfalterblumen. Von W. ©. Focke. Den Anlass zu den Betrachtungen, welche ich auf den folgenden Blättern mitzuteilen beabsichtige, hat mir C. v. NÄcerr’s neues Werk: »Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre« gegeben. Es ist bekannt, dass NäczLı sich schon früh und bei vielen Gelegenheiten im Sinne der Entwickelungslehre ausgesprochen hat. Er hat sich jedoch stets eine selbständige wissenschaftliche Stellung gewahrt, indem er keinen Zweifel darüber bestehen liess, dass er durchaus nicht in allen Bezieh- ungen mit den verbreiteten Anschauungen, wie sie namentlich durch Darwın und HäÄckeEL vertreten wurden, einverstanden war. Für mich war es manchmal eine Beruhigung, wenn ich bei meinen eigenen kleinen Ketzereien gegen die herrschenden deszendenztheoretischen Ansichten mich mit einem so ausgezeichneten Forscher, wie es NÄGELI ist, einverstanden wusste. Das obengenannte neueste Werk dieses Gelehrten zeigt indes, dass NÄgzLı nicht nur über den einen oder andern Punkt etwas anders denkt, als die Mehrzahl der Naturforscher, sondern dass er durch eine weite Kluft von der. Darwinschen Anschauungsweise getrennt ist. Es ist nicht meine Absicht, die Nägelische Naturauffassung ' im Zusammenhange zu besprechen; ich möchte jedoch glauben, dass es nicht überflüssig sein wird, an einem einzigen Beispiele den Unterschied zwischen den theo- retischen Deduktionen des Münchener Botanikers und den auf strengerer Induktion begründeten Anschauungen, zu welchen die Mehrzahl der beob- achtenden Naturforscher gelangt ist, näher nachzuweisen. ! Verfolgtman den Gedankengang, durch welchen Nägeli zu seiner Idioplasma- Theorie und zu allen daraus gezogenen Folgerungen gelangt ist, weiter Bach rück- wärts, so wird man bald den Punkt finden, an welchem es für den vorurteilsfreien For- scher noch an jedem Wegweiser fehlt. Dieser Punkt ist die Erblichkeitsfrage. Das Irrlicht, welches von dort aus Darwin zur Pangenesis, Nägeli zum Idio- plasma gelockt hat, ist die beliebte Rückschlag-Theorie, welche als bequemes Mittel zur Erklärung der Variationen benutzt wird. Alexznder Braun hat einmal beiläufig, aber mit vollem Nachdruck, auf die Unhaltbarkeit der Rückschlagideen hingewiesen, doch fehlt es wenigstens in der Botanik noch an einer umfassenden und unbefangenen Untersuchung über die betreffenden Thatsachen. 292 W. 0. Focke, Nägeli's Einwände gegen die Blumentheorie, Auf S. 149 des genannten Werkes heisst es: Aus »schuppenartigen Staubgefässen, in einigen Fällen auch aus sterilen, dieselben umhüllenden Deckblättern sind durch beträchtlich ge- steigertes Wachstum die Kronblätter hervorgegangen. Diese Steigerung des Wachstums mag wesentlich durch den Reiz veranlasst worden sein, welchen die blütenstaub- und säfteholenden Insekten fortwährend durch Krabbeln und kleine Stiche verursachten«. Ferner auf S. 150: >Zu den merkwürdigsten und allgemeinsten Anpassungen, die wir an der Gestalt der Blüten beobachten, gehören die langröhrigen Kronen in Verbindung mit den langen Rüsseln der Insekten, welche im Grunde der engen und langen Röhren Honig holen und dabei die Fremdbestäubung der Pflanzen vermitteln. Beide Einrichtungen, die vegetabilische und die animalische, erscheinen so recht wie für einander geschaffen. Beide haben sich allmählich zu ihrer jetzigen Höhe entwickelt, die langröhrigen Blumen aus röhrenlosen und kurzröhrigen, die langen aus kurzen Rüsseln. Beide haben sich ohne Zweifel in gleichem Schritt ausgebildet, so dass stets die Länge der beiden Organe ziemlich gleich war. » Wie könnte nun ein solcher Entwickelungsprozess nach der Selektions- theorie erklärt werden, da in jedem Stadium desselben vollkommene An- passung bestand? Die Blumenröhre und der Rüssel hatten beispielsweise einmal die Länge von 5 oder 10 mm erreicht. Wurde nun die Blumen- röhre bei einigen Pflanzen länger, so war die Veränderung nachteilig, weil die Insekten beim Besuche derselben nicht mehr befriedigt wurden und daher Blüten mit kürzeren Röhren aufsuchten; die längeren Röhren mussten nach der Selektionstheorie wieder verschwinden. Wurden ander- seits die Rüssel bei einigen Tieren länger, so erwies sich diese Veränderung als überflüssig und musste nach der nämlichen Theorie als unnötiger Aufwand beseitigt werden. Die gleichzeitige Umwandlung der beiden Organe aber wird nach der Selektionstheorie zum Münchhausen, der sich selbst am Schopfe aus dem Sumpfe zieht. »Nach meiner Vermutung konnten die langen Blumenröhren aus kurzen in gleicher Weise entstehen wie die grossen Blumenblätter aus kleinen. Durch die beständigen Reize, welche die kurzen Rüssel der In- sekten ausübten, wurden die kurzen Röhren veranlasst, sich zu verlängern. Dieses Wachstum erfolgte als notwendige Wirkung ihrer Ursache, obgleich es zunächst für die Pflanzen sich unvorteilhaft erwies. Mit der wachsenden Länge der Blumenröhre, welche, weil durch die nämliche Ursache be- wirkt, eine allgemeine Erscheinung bei den Individuen einer Sippe war, verminderte sich für die Insekten die Leichtigkeit des Nektarholens. Dieselben wurden zu grösseren Anstrengungen gezwungen, und der damit verbundene Reiz, sowohl der physische, den das Organ bei der Arbeit erlitt, als der psychische, welcher in der gesteigerten Begierde nach dem Ziele lag, verursachte eine Verlängerung des Rüssels, so lange, als eine Verlängerung der Blumenröhre ihr vorausging. « Es schien mir unerlässlich, die vorstehende Darstellung wörtlich wiederzugeben, weil jeder Versuch einer Kürzung den Sinn hätte modi- fizieren können. Schwer zu verstehen ist in obiger Auseinandersetzung erläutert an den Nachtfalterblumen. 293 zunächst der Umstand, dass der Verfasser einen Widerspruch darin findet, wenn einerseits die zunehmende Rüssellänge gewisser Insekten durch die zunehmende Länge der Kronröhre gewisser Blumen erklärt, anderseits aber auch die Ursache der Verlängerung der Kronröhren in der Zunahme der Rüssellänge gefunden wird. Eine derartige gegenseitige Beeinflussung findet sich in der Natur wie im Menschenleben überall, wohin wir auch blicken. Neuson’s Linienschiffe und KAnarıs’ Brander würden heutzutage im Vergleich mit unseren jetzigen Panzerfregatten und Torpedobooten als ziemlich harmlose und völlig wehrlose Feuerwerksfahrzeuge erscheinen. Wie ist diese Veränderung in den Kriegsflotten vor sich gegangen? Die stärkeren Angriffswaffen der Schiffe haben eine Verstärkung der Schutz- bewaffnung herbeigeführt und umgekehrt; von Jahrzehnt zu Jahrzehnt haben sich sowohl die Zerstörungsmittel als die Widerstandsfähigkeit der Kriegsschiffe vermehrt. Ebenso ist es mit den Verkehrsmitteln einerseits, dem Verkehr und der Arbeitsteilung anderseits: sie steigern einander gegenseitig. Dasselbe sehen wir z. B. bei dem deutschen Zuckerrübenbau einerseits, der deutschen Zuckergewinnungstechnik anderseits. Die Arbeit des Technikers an der Verbesserung der Fabrikationsmethoden lohnt sich, weil der Rübenbau so bedeutend geworden ist, und der Rübenbau lohnt sich, weil die Zuckertechnik sich so sehr vervollkommnet hat. Bleiben wir bei NÄczur’s Beispiel stehen und gehen aus von einer Blume mit einer 5 mm langen Kronröhre, die von Insekten mit einem 5 mm langen Rüssel ausgebeutet und befruchtet wird. Nun ist jene Länge von 5 mm niemals eine unveränderliche Grösse. Am ersten Tage der Blüte ist die Kronröhre in der Regel kürzer als am letzten; die absolute Grösse der Blüten und damit auch die absolute Länge der Kronröhren ist ferner von der Gunst der Vegetationsbedingungen, unter welchen die einzelne Pflanze wächst, abhängig. Ebenso ist auch bei den Insekten die absolute Rüssellänge je nach der Grösse der einzelnen Individuen etwas veränderlich. Insekten mit 6 mm langem Rüssel finden die Blumen mit 6 mm langer Kronröhre weniger ausgebeutet als die kurzröhrigen, die ihnen übrigens keineswegs verschlossen sind. Die grossen und lang- rüsseligen Exemplare einer Insektenart werden somit ihre Nahrung in reichlicherer Auswahl finden; sie bedürfen aber auch mehr davon und werden somit in ausgedehnterem Masse die Kreuzung der Blumen ver- mitteln. Aus den durch Kreuzbefruchtung erzeugten Samen werden lebens- kräftigere Pflanzen hervorgehen und unter den Nachkommen der lang- röhrigen Pflanzen wird die Zahl der langröhrigen Exemplare durch Ver- erbung immer mehr zunehmen. Betrachten wir umgekehrt die kurzröhrigen Blumen, so wird deren Honig verschiedenen Insekten zugänglich sein, welche auch andere Pflanzenarten besuchen und daher den Pollen nutzlos verschleppen. Unter der Nachkommenschaft der kurzröhrigen Exemplare werden somit zahlreiche durch Selbstbestäubung erzeugte Schwächlinge sein, so dass im Laufe der Generationen die erblich kurzröhrigen Formen immer mehr in Nachteil kommen müssen. Von Interesse ist auch die Erfahrung, dass eine Varietätenkreuzung in der Regel nicht nur kräftigere Pflanzen, sondern auch grössere Blumen liefert. Es trifft somit eine Reihe von Umständen zusammen, durch welche sowohl die langröhrigen 294 W. ©. Focke, Nägeli’s Einwände gegen die Blumentheorie, Blumen als auch die langrüsseligen Insekten begünstigt werden, wenn sie auf einander angewiesen sind. Nägeur’s Beweisführung würde nur dann stichhaltig sein, wenn Kronröhrenlänge und Rüssellänge innerhalb der Pflanzen- und Insekten- spezies zur Zeit absolut konstante Grössen wären. Erfahrungsgemäss ist dies jedoch durchaus nicht der Fall; ausserdem könnte, wenn es der Fall wäre, von keiner Entwickelung der organischen Arten die Rede sein. NÄGELI gibt daher unbedenklich die Möglichkeit zu, dass Varietäten einer Blumenart mit längerer Kronröhre entstehen, macht aber nun die äusserst unwahrscheinliche Annahme, dass die Verlängerung sofort exzessiv genug sei, um allen Individuen der befruchtenden Insekten die Honiggewinnung zu erschweren. Zu einer wirksamen Befruchtung würde übrigens schon ein Versuch seitens der Insekten genügen; abgesehen davon ist aber auch jene Annahme, dass die Variation immer eine plötzliche und grosse sein müsse, durchaus willkürlich. NÄsELI lässt auf die wörtlich citierten Stellen nun noch eine Be- sprechung verschiedener anderer Eigentümlichkeiten folgen, welche sich bei den von Insekten besuchten Blumen häufig finden. Die Honig- absonderung in den Blüten erklärt er durch Insektenreiz; Honigdrüsen kommen auch an den vegetativen Organen häufig vor. Die Nützlichkeit der Honigdrüsen für die Pflanzen hatte nach seiner Meinung keinen Einfluss auf die Entstehung des Organs. — Die Klebrigkeit des Pollens bei vielen von Insekten besuchten Pflanzen wird durch den von den In- sekten ausgeübten Reiz erklärt. — Die Farben und Gerüche der Blumen sollen nach Nicerı ebensowenig in Beziehung zu der Insektenthätigkeit stehen, weil sich Farben und Gerüche auch an andern Pflanzenteilen finden. Die Kronblätter als metamorphosierte Staubblätter konnten von vornherein nicht die grüne Farbe der Laubblätter zeigen. Nicht be- sprochen sind die häufigen Schmuckfarben von Kelchblättern, Deckblättern und Hüllblättern, welche gewis keine metamorphosierten Staubblätter sind, nicht besprochen sind ferner die sterilen Schmuckblüten, welche die Augenfälligkeit ganzer Blütenstände vermehren. Auch der Umstand, dass viele Blumen nur zu bestimmten Stunden geöffnet sind oder zu bestimmten Stunden duften, hat keine Erwähnung gefunden. Ohne in eine kritische Untersuchung der Nägelischen Ideen ein- zugehen, darf hier doch wohl beiläufig auf einige Bedenken hingewiesen werden, welche zu den erörterten Fragen in besonders naher Beziehung stehen. Die Annahme, dass die Grössenentwickelung eines bestimmten Pflanzenorgans gefördert sein könne durch mechanische Reize, welche auf das entsprechende Organ der Vorfahren der betreffenden Pflanze aus- geübt wurden, ist nicht bewiesen und lässt sich auch leider schwer be- weisen. Man könnte freilich die Blüten einer Pflanze mit Zuckerwasser benetzen und eine grosse Menge Fliegen mit dieser Pflanze zusammen einsperren; wenn man dann die Samen des so behandelten Exemplars aussäete und mit den daraus hervorgegangenen Pflanzen in gleicher Weise verführe, so würden schliesslich im Laufe der Generationen, falls NÄsErı recht hat, die von ihm erwarteten Erfolge sichtbar werden müssen. Aber erläutert an den Nachtfalterblumen. 295 wie viele Generationen würden wohl dazu erforderlich sein? Die Er- fahrung zeigt, dass die Kronblätter vieler Blüten, welche massenhaft von Insekten besucht werden, verhältnismässig klein geblieben oder gar nicht zur Entwickelung (Castanea, Salix) gelangt sind. Es ist daher nicht be- sonders wahrscheinlich, dass der Zeitraum, den die gegenwärtige geo- logische Periode zur Verfügung stellt, genügen würde, um den Versuch zu Ende zu führen. Unter diesen Umständen ist man doch wohl berechtigt, sich eine andere Vorstellung von der Entstehung der grossen Blumen zu bilden, zumal wenn man sieht, dass es durch methodische Züchtung leicht zu gelingen pflegt, eine Vergrösserung der Blumenkronen zu erzielen. Ein anderer Punkt, über den man sich klar werden muss, ist folgender. Entwickelt und gezüchtet können nur solche Eigenschaften werden, welche bereits in der Anlage vorhanden sind. Farbige und riechende Stoffe sind ohne Zweifel zunächst nur gelegentliche Produkte des vegetabilischen Stoffwechsels gewesen. Wir finden sie manchmal in Organen, in denen sie anscheinend ohne besondere biologische Bedeutung sind, z. B. in unterirdischen Pflanzenteilen (Alcanna, Iris Florentina). Wenn aber die stärker gefärbten und stärker riechenden Exemplare einer Pflanzenart klimatischen Unbilden oder Angriffen von Tieren weniger 'aus- gesetzt sind, oder wenn ihre Fortpflanzung begünstigt, die Lebenskraft ihrer Nachkommenschaft gesteigert ist, dann werden auch die durch ihren höheren Gehalt an Riech- und Farbstoffen bevorzugten Exemplare in immer grösserer Zahl erhalten bleiben und werden ihre Eigenschaften auf die späteren Generationen vererben. Aus den nämlichen Gründen werden sich Farb- und Riechstoffe besonders in denjenigen Organen an- häufen, in denen sie der Pflanze am nützlichsten sind. Es schien mir nicht überflüssig, an diese einfachen Grundsätze der Selektionstheorie, auf eine besondere Eigenschaft angewandt, zu erinnern, weil NÄGELı zu glauben scheint, der Nachweis, dass Farb- und Riech- stoffe nicht ausschliesslich in Blumen vorkommen, genüge, um die Bedeutung dieser Substanzen für die Blumen als nebensächlich erscheinen zu lassen. Unsere Gärtner haben Anlagen zu bunten Blattfärbungen in der Natur vorgefunden und haben diese Anlagen durch Kreuzung und Auslese gezüchtet und z. T. in erstaunlichem Grade entwickelt, sie haben aber nicht vermocht, an Laubblättern Färbungen (z. B. Scharlach oder Cyanenblau) zu erzeugen, die nicht bereits in leichten Anfängen in der Natur vorhanden waren. Für die Blumen würden Pfeif- oder Klapper- organe sehr nützlich sein, um durch deren Geräusche Insekten anzulocken ; den Nachtblumen würde zu gleichem Zwecke Phosphoreszenzlicht sehr zu statten kommen. Derartige Eigenschaften konnten aber selbst im Laufe geologischer Epochen nicht gezüchtet werden, weil sich keine Anlagen zu denselben bei den höheren Pflanzen vorfanden. Dass Farbe und Duft Eigenschaften sind, welche vorzugsweise den Blumen zukommen, ist eine Erfahrungsthatsache, für welche man doch gewiss kein Beweismaterial mehr zu sammeln braucht. Gefärbt sind namentlich die Nachbarteile der Sexualorgane, am häufigsten die Kronblätter, in andern Fällen aber auch Staubfäden, Staubbeutel oder Narben, in noch andern Kelchblätter, 296 W. 0. Focke, Nägeli's Einwände gegen die Blumentheorie, Hüllblätter oder Deckblätter (Arten von Cornus, Melampyrum, Salvia, Bromeliaceen, Poinsettia!), in noch andern ist eine Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen Blüten einer Infloreszenz durchgeführt, indem nur ein Teil derselben die geschlechtlichen Funktionen beibehalten hat, während die andern durch Grösse und Farbe als Lockmittel dienen. Wie mit Farbe und Duft, so verhält es sich auch mit den Honig- drüsen ; sie finden sich in einzelnen Fällen an den verschiedensten Teilen der Pflanzen, aber sie finden sich ganz allgemein in den Blüten der auf Insektenbefruchtung angewiesenen Gewächse. Verlöre einmal eine solche Pflanze ihren Honigsaft, so würden die Insekten ausbleiben und die Art müsste aussterben — eine Betrachtung, die uns sofort wieder mitten in die von NÄGELI bekämpfte Selektionstheorie hineinführt. Unter den Insekten zeichnen sich besonders die Schmetterlinge durch einen langen Rüssel aus, der sie befähigt, Honig aus engen langen Röhren zu gewinnen. Von den Schmetterlingen haben wenigstens viele Arten einen lebhaften Farbensinn, dagegen scheint ihr Sehorgan wenig befähigt zu sein, körperliche Formen aufzufassen. Lehrreich war mir unter anderm folgende Beobachtung. Auf einer Wiese sah ich einem Schmetterling zu, welcher die leuchtend karminroten Blumen einer Nelken- art (Dianthus deltoides) besuchte. Zwischen den Nelken wuchs auch ziemlich viel roter Klee (Trifolium pratense), dessen hblassere, mattrosa gefärbte Blütenköpfe für ein menschliches Auge wenig Ähnlichkeit mit den Nelkenblumen hatten. Der Schmetterling irrte sich aber manchmal; er flog auf die Kleeblüten zu und es bedurfte jedesmal einer mehrere Sekunden dauernden Untersuchung mittels der Fühler, um ihn von seinem ' Missgriff zu überzeugen. — Während die Augen der Schmetterlinge wahr- scheinlich wenig mehr als Licht und Farben zu unterscheiden vermögen, ist der Geruchssinn bei vielen dieser Insekten sehr ausgebildet, nament- lich bei den Schwärmern und auch wohl bei den echten Nachtfaltern und Motten. Nach diesen Vorbemerkungen möchte ich auf die von Nägkuı be- strittenen Anpassungen zurückkommen und an einem besonderen Falle darlegen, wie durch die Blumentheorie Erscheinungen verständlich werden, welche ohne dieselbe einfach als unerklärlich hingenommen werden müssen. Ich will dabei nicht verhehlen, dass ich in einzelnen Punkten NÄgkur's Einwände und Bedenken für beachtenswert halte. So sollte man, wie ich glaube, möglichst vorsichtig sein mit der Annahme von Farben- Liebhabereien bei gewissen Insektenarten. Die Bevorzugung besonderer Farben könnte in manchen Fällen viel einfacher durch individuelle und vererbte Erfahrung erklärt werden. Kurz, ich denke, man wird wohlthun, auch in der Blumentheorie die Vermutungen von den besser begründeten Erfahrungen möglichst zu sondern. ! Der Kürze wegen begreife ich in diesem Aufsatze unter dem allgemeinen Namen Nachtfalter die sämtlichen Gruppen, welche vorzugsweise bei Nacht und in der Dämmerung fliegen, also namentlich auch die Schwärmer (Sphingiden) und Motten. Zum Unterschiede davon nenne ich die Noctuae eigentliche oder echte Nachtfalter. Ich folge übrigens in diesem Sprachgebrauche einfach den be- währtesten Forschern. erläutert an den Nachtfalterblumen. 297 Unter den Anpassungen, welche die Blumen zeigen, sind insbesondere auch diejenigen bemerkenswert, welche eine Befruchtung durch Schwärmer und Nachtfalter bezwecken. Wegen der Schwierigkeit, direkte Beobacht- ungen anzustellen, ist über die Blumenbesuche der eigentlichen Nacht- schmetterlinge und Motten wenig bekannt, während die Thätigkeit der grossen Schwärmer sich der Wahrnehmung viel weniger entzieht. Für die Falter ist, wie erwähnt, der im Grunde einer engen Röhre geborgene Honig zugänglich, mag nun diese Röhre einen freien oder einen dem Blütenstiel angewachsenen (Pelargonium) Sporn darstellen, mag sie in einem Kronblatte liegen (Zilium) oder mag sie durch röhrig verwachsene Kelchblätter (Sileneae) oder Kronblätter gebildet sein. Soll eine Blume in der Dämmerung oder im Mondlicht gut sichtbar sein, so muss sie eine möglichst rein weisse Farbe besitzen. In der Dämmerung sollen ausserdem auch die hellblauen und violetten Tinten gut gesehen werden können. Es ist ferner von besonderem Werte, wenn die Blume recht gross ist oder wenn viele kleinere Blumen gehäuft stehen. Da der Geruchssinn der Falter besser ist als ihr Gesicht, so ist es klar, dass duftende Blumen ganz besonders geeignet sind, diejenigen Schmetter- linge anzulocken, welche in der Dämmerung oder im Dunkeln fliegen. Ist der Duft stark ausgesprochen, so wird die Grösse und Farbe der Nacht- blumen entbehrlich. Die Blumen können dann grünlich werden und die Spreite der Kronblätter wird mitunter sehr klein, so dass zuletzt kaum etwas anderes übrig bleibt als die honigführende Röhre. Es hat dies den Vorteil, dass die unscheinbar gewordenen Kronen nicht mehr leicht gelegentlich von andern Insekten, namentlich nicht von Tagfaltern be- sucht werden, welche den Blütenstaub unnütz verschleppen würden. Ein noch wirksamerer Schutz gegen die schädliche Ausbeutung durch Tagesinsekten besteht darin, dass manche Nachtblumen nur während der Dämmerung und Dunkelheit geöffnet sind. Die meisten duftenden Nachtblumen ent- wickeln während des Tages einen viel schwächeren oder gar keinen Geruch. Rote oder andere lebhaft gefärbte Tagfalterblumen können auch von Nachtfaltern besucht werden, wenn sie duftend sind. Durch eine kräftigere nächtliche Entwickelung von Riechstoffen können sich solche Blumen mehr und mehr der Nachtfalterbefruchtung anpassen. Die Farben werden dann wertlos für sie; während aber-aus den weissen Blumen grünliche oder grüne hervorzugehen pflegen, werden aus den roten und bunten in der Regel missfarbige, bräunliche oder selbst schwänzliche. Manchmal werden auch diese dunkeln duftenden Blumen ungewöhnlich klein, während in anderen Fällen auch die missfarbigen Blumen gleich vielen weissen tagsüber geschlossen bleiben. In den polwärts vom 45. Breitengrade gelegenen Gegenden sind um Mitte Sommers die Nächte so hell, dass die weisse Farbe für die dort an offenen Stellen wachsenden Nachtblumen stets von Wert bleibt. Nur in tiefem Waldesschatten wird auch in der kühleren gemässigten Zone die weisse Blumenfarbe zur Nachtzeit wenig sichtbar sein. Die meisten grünen und missfarbigen Nachtblumen scheinen der subtropischen oder der wärmeren gemässigten Zone anzugehören, doch finden sich auch in 298 W. 0. Focke, Nägeli’s Einwände gegen die Blumentheorie niederen Breiten, namentlich auch in den Tropen, zahlreiche rein weisse Nachtblumen. Um die Eigentümlichkeiten der Nachtfalterblumen noch besser zu charakterisieren, wird es nützlich sein, sie mit denen der Windblüten und Tagfalterblumen zu vergleichen. Windblüten sind honiglos und haben unscheinbare grünliche, seltener bräunliche Hüllen ohne Sporne oder röhrige Organe. Öffnen sich die Blüten periodisch, so geschieht dies in den Morgen- oder Mittags- stunden. Sie duften selten; die duftenden Arten sind wahrscheinlich keine reinen Windblüten mehr. Tagfalterblumen besitzen Honig, der in röhrigen Organen ge- borgen ist; sie sind sehr lebhaft gefärbt, besonders häufig karminrot oder purpurn, aber auch scharlach oder mehrfarbig bunt oder lebhaft blau. Öffnen sich die Blüten periodisch, so geschieht dies in den spä- teren Morgen- und Mittagsstunden. Sie duften manchmal. Nachtfalterblumen besitzen Honig, der in röhrigen Organen geborgen ist; sie sind meistens weiss gefärbt, zum Teil aber auch grün, braun oder verwaschen unrein. Öffnen sich die Blüten periodisch, so geschieht dies in den Abendstunden. Die meisten weissen und alle grünen, braunen oder missfarbigen Blumen haben einen sehr kräftigen, angenehmen oder seltener widerwärtigen Duft, falls nicht schon die ganze Pflanze riechend ist. Nur grosse, weisse, an offenen Stellen wachsende Nachtblumen sind manchmal geruchlos. Es gibt manche Blumen, welche sowohl von Tagfaltern als von Nachtfaltern besucht werden, wie es ja auch einige Schwärmer und eigent- liche Nachtschmetterlinge gibt, welche häufig bei Tage fliegen. NäÄserı erkennt die Selektionstheorie nicht an. Betrachtet man nun aber die näher geschilderten Eigenschaften der Tag- und der Nachtblumen, so ist es doch gewiss sehr schwer, dieselben für zufällig zu halten oder anders als durch Anpassungen zu erklären, die mittels Auslese zu stande gekommen sind. Wie sind manche Blumen dazu gekommen, sich nachts zu erschliessen, während die nächst verwandten Arten bei Tage blühen ? Wie sind sie dazu gekommen, nachts stärker zu duften? NäÄskLı setzt den Blumenduft einfach als gleichwertig mit den Riechstoffen der grünen Pflanzenteile. In manchen Fällen hat man allerdings auch in den Blumen Camphene und Terebene als Träger des Geruchs erkannt. Daneben scheinen aber doch auch andere Stoffe vorhanden zu sein, welche in sehr geringen Mengen die Geruchsnerven lebhaft affizieren. Diese feinsten Blumendüfte sind noch nicht chemisch isoliert, weil sie in zu geringen Quantitäten vorkommen. Die Verdampfung der ätherischen Öle, welche sich in Blät- tern und andern Pflanzenteilen finden, hängt im wesentlichen von der Temperatur und von der vorausgegangenen Verdunstung des überschüssigen Wassers aus ölreichen Pflanzenteilen ab. Rutaceen, Labiaten und Koni- feren verbreiten ihre balsamischen Düfte vorzüglich bei warmem trockenem Wetter. Offenbar muss aber das nächtliche Duften so mancher weissen und missfarbigen Nachtblumen ganz andere Ursachen haben; es handelt sich in diesem Falle gewiss nicht um eine von den gewöhnlichen physi- kalischen Ursachen abhängige Verflüchtigung von vorher vorrätigen und erläutert an den Nachtfalterblumen. 299 in besondern Drüsen abgelagerten Ölen!. Und nun die Farben! — Warum öffnen sich nicht auch manche lebhaft gefärbte Blumen abends? Warum finden sich unter den lebhaft gefärbten Blumen nicht auch manche nachts duftende? Warum sind die weissen Nachtblumen durchschnittlich grösser, die grünen und braunen durchschnittlich kleiner als die lebhaft gefärbten Tagblumen der verwandten Arten? Doch genug der Fragen — wenn hier kein Verhältnis von Ursache und Wirkung vorliegt, so würde alles Forschen nach Kausalität in der organischen Natur überhaupt eine Thorheit sein. Als Beispiele von Nachtblumen seien hier folgende angeführt: Cereus grandiflorus MırL., die »Königin der Nacht«. Die Blumen sind von ausserordentlicher Grösse, prächtig weiss und sehr wohlriechend;; sie öffnen sich abends gegen 8 Uhr und schliessen sich schon nach etwa 6 Stunden für immer. Sie sind nur bei Fremdbestäubung fruchtbar. In der That ist diese Pflanze die ausgeprägteste, schönste und grösste aller Nachtblumen. Vermutlich sind auch die übrigen weissblumigen Kakteen Nachtblüher; die Mehrzahl der Arten aus dieser Familie blüht übrigens prächtig rot oder gelb. Convolvulus sepium L., die weisse Zaunwinde, die ansehnlichste un- serer in Nordeuropa einheimischen Nachtblumen. Die Blumen sind ge- ruchlos und schliessen sich — nach Herm. MÜLLER — in sehr dunkeln Nächten, während sie bei Mondlicht stets geöffnet bleiben. Lonicera caprifolium L. und L. periclymenum L., die »Jelängerjelieber <- Arten, sind langröhrige Schwärmerblumen, deren Färbung zwar hell, aber nicht rein weiss ist, die jedoch abends durch kräftigen Wohlgeruch und reichen Honiggehalt die Schwärmer und eigentlichen Nachtfalter anlocken. Mirabilis longiflora L. hat weisse, bei Tage geschlossene Blumen mit sehr langer (14.cm) enger Röhre. Hesperis tristis L. hat missfarbige, nachts köstlich duftende Blumen. Die Daphne-Arten, von denen sich einige durch prächtige Blumen- farben, andere durch Wohlgeruch auszeichnen, sind zum Teil Falterblumen. Bemerkenswert sind die unscheinbaren, grünen, aber abends köstlich duf- tenden Blüten von D. laureola L. — Spezielle Beobachtungen über die Insekten, welche Daphne laureola und Hesperis tristis befruchten, sind mir nicht bekannt. Liliaceae. Die weissen Blumen der Yuceca-Arten sollen von kleinen Nachtfaltern befruchtet werden. Paradisia liliastrum Bert. wächst auf Alpenwiesen, hat sehr ansehnliche, rein weisse Blumen und wird von Schwärmern befruchtet. Bei Zilium findet sich der Honig in einer engen Rinne der Kronblätter; die grossen reinweissen wohlriechenden Blumen der allbekannten weissen Lilie (L. candidum L.) sind offenbar der Befruchtung durch Schwärmer vorzüglich angepasst. Ähnlich wird es sich mit den andern Arten verhalten, welche durch grosse, helle, meist weisse Blumen ausgezeichnet sind. Auffallend erscheint es auf den ! Einige Thatsachen legen den Gedanken nahe, dass die Riechstoffe mancher Blumen schwache Basen (wie Diphenylamin oder der Moschusduft) sind, welche vielleicht bei Tage von fixen Säuren des Zellsaftes gebunden werden, während sie abends, von stärkeren Basen ausgetrieben, mit der Kohlensäure abdunsten. 300 W. 0. Focke, Nägeli’s Einwände gegen die Blumentheorie, ersten Blick, dass nach Herm. Mürver’s Beobachtung auch das rote L. martagon eine Schwärmerblume ist. Vergleicht man indes die matten Tinten der Blumen dieser Art mit den leuchtenden Farben der Tagfalter- lilien, so ist der Unterschied sehr ausgesprochen. In der That ist L. martagon an seinen natürlichen Standorten eine wenig augenfällige und leicht zu übersehende Blume. Eine in Dalmatien wachsende Lokalrasse, das L. Cattaniae Vıs., ist in der Verfärbung noch weiter fortgeschritten; es hat dunkelbraune Blumen. Auch die dunkelblumige Sarana wird eine Nachtblume sein. Amaryllideae. Die Arten der Gattungen Pancratium, Ismene, Crinum u. s. w. zeichnen sich durch grosse weisse Blumen mit engen Honigröhren aus und scheinen in ausgeprägter Weise der Befruchtung durch Schwärmer angepasst; manche dieser Blumen sind ungemein wohl- riechend. — Die ansehnlichen weissen Blüten von Nareissus poöticus ver- breiten abends einen starken würzigen Duft. Auch andere weissblühende Narzissen dürften der Nachtfalter- befruchtung angepasst sein. Eine südspanische Art, N. viridiflorus, hat grüne Blüten. Irideae. Crocus vernus Auu. mit weissen oder blauvioletten Blumen ist, wie RıccaA und Hrrm. MÜLLER nachgewiesen haben, wesentlich, wenn auch nicht ausschliesslich, eine Nachtfalterblume. In der Gattung Gla- diolus herrschen leuchtendes Karminrot und ähnliche lebhafte Farben vor. Der südafrikanische @!. tristis indes ist durch düstere Blütenfärbung und starken Duft als Nachtfalterblume charakterisiert; einige andere Arten scheinen sich ähnlich zu verhalten. OÖrchideae. Unter unsern einheimischen Arten verbreiten die langspornigen Platanthera-Arten abends einen köstlichen Wohlgeruch. Die auf offenen Stellen wachsende P!. bifolia (solstitialis) blüht weiss, während Pl. chlorantha, die schattige Standorte vorzieht, grünliche Blumen hat. Gymmnadenia albida wird nach Hrrm. MÜLLER durch kleine Nacht- falter befruchtet. Unter den tropischen Orchideen ist die Gattung An- graecum durch weisse Blumen und ausserordentlich lange Sporne aus- gezeichnet. Solaneae. Die Blüten der Datura-Arten erinnern in ihrer Gestalt an die von Convolvulus sepium, doch scheinen sie in Mitteleuropa über- haupt nicht von befruchtenden Insekten besucht zu werden. Ausser den weissen kommen auch viele blassblaue Blumen in der Gattung vor. — Von Petunia kultivieren wir in unsern europäischen Gärten zwei ver- wandte Arten, die violette P. violacea LispL., und die weisse P. nycta- giniflora Juss., nebst deren zahlreichen Kreuzungsprodukten. Alle diese Garten-Petunien werden ausserordentlich emsig von Schwärmern besucht. — Die Gattung Nicotiana enthält zahlreiche langröhrige weisse nacht- blühende Arten (N. acuminata, affınis, suaveolens, vincaeflora, alata etc.), von denen einige abends köstlich duften. An diese Arten schliessen sich mehrere grünblumige, welche sich während des Tages nicht schliessen und bei welchen der freie Saum, der bei den weissblumigen als Lock- mittel sehr entwickelt ist, von geringer Breite zu sein pflegt. Die Blume von N. paniculata L. besteht z. B. nur aus einer ziemlich engen langen erläutert an den Nachtfalterblumen. 301 grünlichen Röhre mit einem ganz schmalen grünen Saum, der gerade gross genug ist, um als Anflugplatz zu dienen. Ihre Abstammung von mehr entwickelten Blumen verraten diese grünen Nicotianen dadurch, dass sie gleich den andern Arten noch deutliche Spuren von Zygomorphie zeigen. Sie besitzen keinen besondern Blumenduft, aber der nauseose Geruch der ganzen Pflanze ist stark genug, um Insekten heranzulocken; seine Entwickelung ist auch nicht von der Einwirkung der Sonnenwärme abhängig, wie dies bei den ätherischen Ölen der Fall ist. — Die Arten von Cestrum blühen fast alle weiss, blassgelblich oder blassgrün; ihr Laub hat einen starken unangenehm nauseosen Geruch, aber die Blüten vieler Arten entwickeln nachts einen starken und köstlichen Wohlgeruch (z.B. (©. vespertinum, nocturnum, Parqui, paniculatum, odontospermum ete.). Der Gegensatz zwischen dem widerwärtigen betäubenden Geruch der Blätter und dem köstlichen nächtlichen Duft der Blüten ist besonders ausgeprägt bei Ü. foetidissimum Jacq. Es gibt übrigens auch einige Cestrum-Arten, welche ihren Wohlgeruch bei Tage nicht verlieren (Ü. di- urmnum, C. fastigiatum). Die Gattung Cestrum zeigt besonders deutlich, dass der Blütenduft in gar keiner direkten Beziehung steht zu den Riech- stoffen der vegetativen Pflanzenteile. Rubiaceae. Diese grosse Familie ist besonders reich an lang- röhrigen weissen Blumen, welche oft auch sehr wohlriechend sind. Unter den europäischen Arten ist die wohlriechende weisse Asperula taurina eine ausgeprägte Schwärmerblume (nach Hrrm. Mürter). Die andern Arten von Asperula haben kürzere Blumenröhren und sind daher auch Hyme- nopteren zugänglich; man könnte nichtsdestoweniger vermuten, dass kleine Nachtfalter die wichtigsten Befruchter sind. Unter den auslän- dischen Arten sei an die weissblühenden langröhrigen Gardenien und Ixoren erinnert, deren Wohlgerüche zu den allerbeliebtesten gehören. Die Gat- tungen Bowvardia, Rondeletia und andere charakterisieren sich durch ihre röhrigen Kronen als für Falterbefruchtung berechnet; die einzelnen Arten pflegen teils schön rot (für Tagfalter), teils weiss zu blühen. Cinchona scheint der Befruchtung durch kleine Nachtfalter angepasst, während der Bau von Exostemma auf Schwärmer deutet. Auch die durch ihre Pollen- schleudervorrichtung bekannte Gattung Posoqueria wird vorzugsweise von Schwärmern befruchtet. Geraniaceae, Die Gattung Pelargonium besitzt eine sehr enge, dem Blütenstiel angewachsene Honigröhre, welche nur für Schmetterlinge zugänglich ist. Die meisten Arten haben lebhaft gefärbte Blumen, welche geeignet sind, Tagfalter anzulocken. Es gibt aber auch weissblumige Arten, darunter P. yrandiflorum WıuLn., welche wahrscheinlich von Schwär- mern besucht werden; mehrere Arten haben bunte, meistens weiss und rote Blumen. — Merkwürdiger sind die Arten mit kleinen, missfarbigen, bei Tage geruchlosen, aber nachts ungemein stark und würzig duftenden Blumen. Bei P. gibbosum Wıruv. ist die Blütenfarbe gelbgrün, bei P. lobatum Wırun., P. multiradiatum WexpL. und einigen andern Arten dunkelbraunrot, fast schwarz. Diese düstern nachtduftenden Pelar- gonien sind sicherlich ebensoviel von Insekten besucht worden, wie die farbenprächtigen bei Tage blühenden Arten; nach der Nägelischen 302 W. 0. Focke, Nägeli's Einwände gegen die Blumentheorie etc. Ansicht hätten sich daher auch ihre Kronblätter ebensogut entwickeln müssen. Sileneae. Während in vielen andern Fällen durch Verwachsung der Kronblätter eine sowohl die Sexualorgane als auch den Honig bergende Röhre gebildet wird, sind es bei den Sileneen die Kelchblätter, welche zu einer Röhre verwachsen sind, innerhalb welcher Sexualorgane, Honig und die untern Teile (sog. Nägel) der Kronblätter enthalten sind. Im Gegen- satz zu den nahe verwandten Alsineen, deren Kelchblätter frei sind, zeich- nen sich die Sileneen durch ansehnliche Blumen aus, deren Kronen ent- weder weiss oder rot in verschiedenen Nüancen (Karmin, Rosenrot, Schar- lach) zu sein pflegen; die gelbe Farbe ist selten. In den Gattungen Dianthus, Saponaria, Lychnis, Coronaria, Melandryum, Silene und deren Verwandten sind die Blumen im allgemeinen der Falterbefruchtung an- gepasst. Von den karminroten Arten sind einige nur während der Tages- stunden offen (Dianthus), von den weissen sind einige während des Tages geschlossen. Den stärksten Duft entwickeln weisse Dianthus-Arten. Sind eine weisse und eine rote Art .nahe verwandt, so hat die weisse die grösseren Blumen (Lychnis senno, Melandryum album). Melandryum rubrum und M. album sind einander so ähnlich, dass Lins& sie nicht als Arten, sondern nur als Varietäten unterschied; M. rubrum hat rote, sich nicht schliessende Blumen und wächst vorzugsweise an schattigen Stellen; das Kraut riecht ziemlich stark. Bei M. album sind die Blumen grösser, rein weiss und während des Tages geschlossen; es wächst an offenen Plätzen; der Geruch ist schwach. Beide Arten sind zweihäusig, können daher nur durch Insekten befruchtet werden. M. album schliesst die bei Tage fliegenden Insekten aus, während M. rubrum zwar vorzüglich durch Tagfalter, aber auch durch Schwärmer, die vom Geruch geleitet werden, befruchtet werden kann. — In ausgezeichneter Weise den Schwärmern angepasst sind die sehr langröhrigen, schön weissen (seltener grünlichen) Blumen mancher Silene-Arten. Es kann unmöglich geleugnet werden, dass bei den genannten Blumen ebenso wie bei vielen tausend anderen eine genaue Beziehung zwischen ihren Eigenschaften und den Insektenbesuchen vorhanden ist. Gibt man einmal die Möglichkeit von Variationen zu, so würden auch z. B. geruchlose schwarze Pelargonien oder bei Tage geschlossene rote Nelken entstehen können. Derartige Varietäten würden aber nicht be- fruchtet werden, folglich auch nicht existenzfähig sein und würden da- her wieder verschwinden müssen. Gibt man dies einmal zu, so ist es doch auch klar, dass ausser den lebensunfähigen auch die minder lebens- fähigen, d. h. die minder gut ausgerüsteten Abänderungen im Laufe der Zeit aussterben müssen. Und wenn man diese Schlussfolgerungen aner- kennt: wozu denn eigentlich ein Kampf gegen die Selektionstheorie? Wo- zu an deren Stelle unbeweisbare neue Hypothesen ? Biologische Studien, angestellt in der Zoologischen Station in Neapel. Von Dr. Hugo Eisig.“ VIll. Über den Einfluss künstlicher Beleuchtung auf das Verhalten verschiedener Seetiere. Durch häufige während der Nacht im Aquarium angestellte Beob- achtungen wurde ich darauf aufmerksam, dass sich die verschiedenen Tiere der künstlichen Beleuchtung gegenüber sehr verschieden verhalten. Die meisten Knochenfische zogen sich scheu zurück, sobald die Lampe in die Nähe kam; dabei richteten sie ihre Rückenflossen ganz so auf, wie sie es bei Tage nach heftiger Beunruhigung, im gegenseitigen Kampfe oder während des Ergreifens der Beute zu thun pflegen; andere wichen zwar dem Lichte nicht sofort aus, gaben aber doch durch Auf- richtung der Flossenstrahlen ebenfalls ihre Aufregung zu erkennen. Eine Teleostierspezies aber, die Lichia glauca, zeigte sich nicht im geringsten beunruhigt, im Gegenteil: sie schwamm mit Vorliebe an den von der Lampe am intensivsten beleuchteten Stellen. Die im ganzen viel stumpfsinnigeren Selachier zeigen auch in ihren durch die Beleuchtung der Bassins hervorgerufenen Reaktionen einen viel trägeren Ausdruck als die Teleostier: Scyllium und Torpedo, welche um diese Zeit ab und zu in Bewegung getroffen werden, ziehen sich ge- wöhnlich bald von den durchleuchteten Stellen der Behälter nach dunk- leren hin zurück; Mustelus dagegen macht auf seinen kontinuierlichen Schwimmtouren umgekehrt häufig an den durchleuchtetsten Stellen eine Pause, ja er kommt sogar zuweilen an die Scheibe, in die Nähe des Lichts. Von den Cephalopoden zeigten die Octopus stets die grösste Em- pfindlichkeit gegen die Einwirkung greller Lichtstrahlen: sie zogen sich so tief wie möglich in ihre Verstecke zurück, schlossen ihre Augen und veränderten stark die Farbe; alles Merkmale starker Furcht, Ärgers oder Schrecks bei diesen Tieren. Viel weniger unangenehm berührt pflegte ® s. Kosmos XII, S. 388, 438; XIII, S. 128. 304 Hugo Eisig, Biologische Studien. sich Sepia zu zeigen: nicht nur dass sie ihren Standort nicht verliess und die Augen nicht schloss, junge Individuen kamen sogar häufig nahe zur Scheibe heran. Aber ganz dem Benehmen des Octopus entgegengesetzt ist nun gar dasjenige des ZLoligo: diese Tintenfische erscheinen wie dämonisch vom Lichte angezogen. Sobald ich nur die Lampe in die Nähe brachte, eilten diese sonst in rhythmischen Bewegungen hin und her schwimmenden Tiere in heftigen, raschen Stössen zur Lichtquelle und kehrten nach einer etwaigen Exkursion stets wieder zu derselben zurück. Es ist bemerkenswert, dass nahezu alle die genannten lichtliebenden Tiere (Lichia, Mustelus, Loligo) auch zu den konstant sich bewegenden gehören (vergl. Biolog. Studien II: Über das Ruhen der Fische, Kosmos XII, 1883, S. 438). IX. Pathoiogisches. Wenn man unter den Seetieren nur selten Krankheiten zu kon- statieren vermag, so liegt dies wohl vorwiegend daran, dass der Kampf ums Dasein im Meere Individuen, welche nicht mehr in der Vollkraft ihrer Leistungen stehen, rasch "zum Untergange führt; sodann aber in unserer geringen Übung, pathologische Zustände, selbst wenn solche vor- liegen sollten, in den oft normal noch nicht einmal genügend bekannten Organen solcher Tiere zu unterscheiden. Bezüglich des ersten Punktes ist die Erfahrung von Interesse, dass selbst in der Gefangenschaft Fische, die bis dahin aufs friedlichste mit einander in demselben Behälter ge- haust hatten, einen Gefährten von dem Moment ab bedrohen, in dem er Zeichen des Krankseins erkennen lässt; bezüglich des letzteren aber die- jenige, dass, wenn man sich nur intensiv mit einer marinen, selbst von den höheren Formen sehr abweichenden Art beschäftigt, aussergewöhnliche Organverhältnisse resp. pathologische Störungen ebensogut zur Beob- achtung gelangen wie bei jenen. Ferner mag der Thatsache gedacht werden, dass sog. äussere, also leicht erkennbare Krankheiten, insbesondere Haut- und Augenleiden, bei den Fischen z. B. nichts weniger als selten vor- kommen, ganz abgesehen vom Parasitismus, von welchem nahezu alle Meeresbewohner, z. T. sogar in sehr hohem Grade zu leiden haben. Im nachfolgenden möchte ich nun einen Beitrag zum Kapitel der >Krankheiten mariner Tiere« liefern, welcher die Tintenfische, speziell den Pulpen (Octopus vulgaris) betrifft; es darf derselbe um so mehr Interesse in Anspruch nehmen, als die Symptome der betreffenden Erkrankung es sehr wahrscheinlich machen, dass wir, sei es nun unmittelbar oder mittelbar, in einer Störung der intellektuellen Sphäre die Ursache des Leidens zu suchen haben. Bereits dreimal im Laufe von etwa 8 Jahren wurden jeweils im Sommer, zur Zeit, da sich diese Tiere in der höchsten Geschlechtsthätigkeit be- fanden, im Aquarium der Station Pulpen beobachtet, welche sich selbst ihre Arme abfrassen. An dem zuletzt (im vergangenen Sommer) beob- achteten Fall ging das so weit, dass das sich selbst auffressende Indi- viduum, ein nahezu 1!/s Fuss Länge des Rumpfes messendes Männchen, schliesslich alle acht Arme teils zur Hälfte, teils fast bis zur Scheibe hinauf verzehrt hatte. Vier Tage hindurch konnte das Tier, und zwar meistens in Hugo Eisig, Biologische Studien. 305 solcher Selbstverstümmelung begriffen, beobachtet werden; in der darauf- folgenden Nacht verendete es. Pulpen, sowohl Männchen als Weibchen, pflegen während der Geschlechtsthätigkeit, insbesondere während der Brutpflege, an welchem Akte sich beide Geschlechter beteiligen, keine Nahrung zu sich zu nehmen: sie kommen daher während dieser Periode stets sehr herunter und die Sterblichkeit ist gross. Die sich selbst auffressenden Pulpen sind nun solche während der Geschlechtsperiode bereits »herabgekommene Individuen«, und damit ist eigentlich schon gesagt, dass es nicht etwa Nahrungsmangel sein könne, der sie zu so selbstmörderischem Thun anspornt. Um aber dies über jeden Zweifel sicher zu stellen, habe ich einem so erkrankten Tiere selbst alle jene Speisen dargeboten, die sonst am gierigsten verschlungen werden; um- sonst — nicht nur wurde solches Futter nicht angenommen, es wurde sogar zu meiner Überraschung durch einen der abgefressenen Stümpfe demonstrativ zur Seite geschoben. Die Krankheit ist auch nicht von der Gefangenschaft abhängig, denn es sind schon Tiere mit ähnlich ange- fressenen Armen von Fischern gefangen und der Station abgeliefert worden. Fälle von Selbstverstümmelung kommen auch bei andern marinen Tieren vor: so gibt es gewisse Würmer, die sich auf einen blossen Reiz hin selbst in Stücke abschnüren; Holothurien pflegen misshandelt ihren ganzen Darmkanal auszuspeien u. s. w.! Diese Tiere sind aber von so niederer Organisation und in ihrem Leben und Treiben überdies so wenig bekannt, dass man auch nicht einmal versuchsweise Vermutungen über ihr Thun und Lassen zu äussern ver- möchte. Anders bei unserem Pulpen: er gehört zu den intellektuell am höchsten entwickelten Bewohnern der See. Seine Handlungen sind uns, so lange er sich normal befindet, meistens durchaus verständlich; sie machen in hohem Grade den Eindruck, aus folgerichtigem Überlegen zu entspringen. Ob solch ein Tier beim ersten Tritt des in der Nähe des Bassins mit dem Futter erscheinenden Wächters an den Wasserspiegel schiesst, ob es die Beute von seinem Winkel aus beschleicht, ob es sich vor einem übermächtigen Gegner zu schützen sucht, ob es sich zum Kampfe mit dem Rivalen rüstet, oder ob es endlich Steine zum Nestbau herbei- schleppt — stets begreifen wir, auch von unserem bloss beobachtenden Standpunkte aus, das der Situation entsprechende Thun des Geschöpfes. Dem gegenüber können wir daher auch das Thun des erkrankten Tieres, welches überdies einem der mächtigsten Instinkte aller Organismen, dem Selbsterhaltungstriebe schnurstracks zuwiderläuft, nicht anders denn als ein — verrücktes Thun bezeichnen. X. Medusenfressende Fische. Unter den Glocken von Cassiopea borbonica und Rhizostoma pulmo — der zwei ansehnlichsten Medusen des Golfs — pflegen häufig kleinere ! Es mag hier auch des spontanen Abwerfens ganzer Gliedmassen von seiten beunruhigter Krebse gedacht werden. Nur liegt die Sache in diesem Falle insofern anders, als hier ein spezifischer, auf reflektorische Reizung hin die Abtrennung be- wirkender Mechanismus vorhanden ist und es daher keinem Zweifel unterliegen kann, dass man es mit einer den betreffenden Geschöpfen im Kampfe ums Dasein nützlichen Einrichtung zu thun habe. Kosmos 1884, I. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XIV). 20 306 Hugo Eisig, Biologische Studien. Fische zu hausen, welche so unzertrennlich von ihren Genossen sind, dass sie nicht selten mit ihnen in die Gefangenschaft geraten. Auch noch in den Bassins schwimmen sie beständig um die Me- dusen herum und ziehen sich zuweilen auch unter deren Schirm zurück. Ich war lange Zeit hindurch der Meinung, dass diese Fische die Medusen nur deshalb begleiten, um bei herannahender Gefahr Schutz unter deren Schirm zu suchen; aber es stellte sich heraus, oder es bestätigte sich, dass dieses Verhältnis kein so harmloses ist. Von diesen Begleitern der Medusen sind folgende sämtlich zur Familie der Makrelen gehörigen Formen zur Beobachtung gekommen: Stromateus microchirus, Caranı trachurus und Schedophilus medusophagus. Stromateus ist weitaus der am häufigsten erscheinende und ein ungefähr zwei Zoll langes Exemplar dieser Gattung wurde eines Tages mit einer ungefähr fünf Zoll Schirm- weite messenden Cassiopea zusammengebracht. Am nächsten Morgen schon fand ich die Meduse aller ihrer Wurzelspitzen beraubt; der Fisch hatte sie aufgefressen. Bald hatte ich Gelegenheit, ein anderes Exemplar beim Fressen zu beobachten, so dass gar kein Zweifel über die Thatsache walten kann. Dass aber diese Nahrung nicht etwa nur aus Mangel an anderem geeignetem Futter gewählt wurde, geht aus folgendem hervor. Ein grösseres, etwa sechs Zoll langes Tier, welches längere Zeit hindurch in einem Bassin ohne Medusen gehalten worden war, nahm keinerlei Nahrung zu sich und kam schliesslich so sehr herab, dass ich für sein Leben fürchtete; nachdem ihm aber eine Cassiopea zugesellt worden, wurde das vorher ziemlich träge Tier ganz lebhaft, schwamm beständig um die Meduse herum, und es dauerte nicht lange, bis es sie anzufressen begann. Zwei Dinge sind nun in diesem Verhältnisse auffallend. Erstens, dass sich die genannten Fische unbehelligt um die mit Nesselbatterien ausgerüsteten Arme der Medusen herumtreiben können, während so viele andere Arten, und häufig ihnen an Grösse nicht nachstehende, tot den Armspitzen anhängend getroffen werden. Zweitens, dass sich diese Makrelen von einem Gewebe zu ernähren vermögen, welches auf die meisten anderen Fische als Gift wirkt oder doch zum mindesten als Nahrung verschmäht wird!. XI. Über die Eiablage der Seebarsche (Labrax) und Lippfische (Crenilabrus). In dem grossen Bassin des Aquariums leben seit einem Jahre etwa ein Dutzend Exemplare von Labrax lupus beiderlei Geschlechts. Das grösste Exemplar, ein Weibchen, begann vor mehreren Monaten einen beträchtlicheren Umfang anzunehmen: es reiften seine Eierstöcke. Leider entleerte das Tier nach einiger Zeit die Geschlechtsprodukte unbemerkt, wahrscheinlich in der Nacht, denn eines morgens erschien es in seinem normalen Leibesumfang. Glücklicher gestaltete es sich mit dem zweiten, nicht ganz so grossen Weibchen der Gruppe, welches schon seit mehreren Wochen ! In dieser Hinsicht mag an Balistes capriscus erinnert werden, welcher, un- bekümmert um die von andern Fischen so gefürchteten Nesselfäden, Aktinien zu verspeisen pflegt. Hugo Eisig, Biologische Studien. 307 ebenfalls durch auffallendes Anschwellen des Körpers die herannahende Geschlechtsthätigkeit verraten hatte. Heute früh! nämlich meldete mir der Wärter des Aquariums, dass das genannte Tier im Begriffe sei, seine Eier abzulegen, und dabei beständig von einer Anzahl Männchen umschwärmt werde. Ich begab mich sogleich an das betreffende Bassin und fand das bezeichnete Weibchen rascher und unruhiger als sonst umherschwimmend. Dicht hinter ihm aber folgten bald drei, bald vier, bald fünf kleinere Tiere, die ihrem ganzen Gebahren nach für die Männchen gehalten werden mussten. Unter allen zeichnete sich eines der- selben durch Geschicklichkeit und Beharrlichkeit im Verfolgen aus; denn es gelang ihm, wie immer auch das Weibchen sich drehen und wenden mochte, letzterem den Weg abzuschneiden und es bei dieser Gelegenheit mit dem Maule zu berühren oder seinen Leib an demjenigen des Ver- folgten zu reiben. Darauf schien es aber den brünstigen Männchen an- zukommen, denn so oft es einem anderen der drei geschickteren Männchen (welche allein von den fünf unaufhörlich den Bewegungen des Weibchens folgten) gelungen war, das letztere zu erreichen, so führten sie ganz ähnliche Berührungen mit dem Maule und dem Leibe aus, wie das zu- erst hervorgehobene Männchen. Oft kam es vor, dass alle drei Männchen zugleich das Weibchen erhaschten und es von allen Seiten so bedrängten, dass dem letzteren kaum ein Ausweg blieb. Dieser Umstand wird wohl auch das Weibchen zum Teil veranlasst haben, vor seinen Bewerbern — allerdings ohne Erfolg in dem engen Raume eines relativ auch noch so grossen Bassins — die Flucht zu erstreben. Der Wärter hegte aller- dings eine andere Vermutung: er meinte, die Zabrax pflegten, wie ihm aus der Beobachtung im freien Meere bekannt sei, ihre Eier auf Pflanzen abzulegen und unser Weibchen suche in dem allen Strauchwerks ent- behrenden Behälter ängstlich nach dem gewohnten Brutplatze; daher seine Unruhe und Hast in den Bewegungen. Das Verhalten der Männchen im Verfolgen der Weibchen verglich er treffend mit demjenigen von brün- stigen Hunden. { Ich verweilte etwa eine Stunde vor dem Bassin und sah unauf- hörlich dasselbe, im vorhergehenden geschilderte Manöver sich wieder- holen, ja dieses Verfolgen von seiten der Männchen und Ausweichen von seiten des Weibchens dauerte noch zwei volle Tage in derselben Weise fort. Am dritten Tage erst legte das Weibchen die Eier ab und während dieses Aktes erfolgte auch die Entleerung des Samens von seiten der Männchen. Die letzteren bewegten sich dabei wie Pfeile um das Weibchen herum und trübten durch die grosse Menge des ergossenen Sperma das Wasser. Wie ungestüm sich die Tiere während des Befruchtungsaktes gebärdeten, mag daraus entnommen werden, dass sie, die sonst so vorsichtig jede derbe Berührung vermeiden, sich gar nicht selten so heftig an den Felsen anstiessen, dass Schuppen abfielen. Als besonders bemerkenswert muss hervorgehoben werden, dass die ! Die diesem Aufsatze zu Grunde liegenden Notizen wurden am 16. Januar 1876 niedergeschrieben. 308 Hugo Eisig, Biologische Studien. Männchen in keinerlei Weise irgend welche Eifersucht verrieten, keines war bestrebt, das andere zu verdrängen. Ein ganz entgegengesetztes Verhalten zeigen die zu den Lippfischen gehörigen Crenilabrus-Arten. Das zur Eiablage sich anschickende Weibchen bereitet sich ein Nest, in welchem es in Gesellschaft eines offenbar von ihm auserwählten Männchens ruhig schwebend oft Tage lang verweilt. Zeitweise erfolgen am Leibe des Weibchens heftig zitternde Bewegungen und während derselben bringt das Männchen seinen Leib mit demjenigen des Weibchens in ähnliche Berührungen, wie sie von den Labrax ge- schildert wurden. Den grössten Teil der Zeit bis zur Ablage der Ge- schlechtsprodukte bringt aber das Männchen damit zu, etwaige Rivalen zu verdrängen. Auf jeden in die Nähe kommenden Insassen des Bassins, selbst wenn er einer ganz anderen Gattung angehört, richtet das bevor- zugte Männchen wütende Angriffe; ich habe solche eifersüchtige Tiere unverhältnismässig viel grössere Rivalen in die Flucht schlagen resp. beissen sehen. ' Die Labroiden befestigen ihre Eier wie so viele andere Fische auf festen Körpern, mit Vorliebe auf Pflanzen. Im Bassin des Aquariums werden zu diesem Behufe Zostera-Büsche gehalten. Vor der Eiablage nun bemühte sich das Weibchen, alle die Blätter dieser Pflanze mit dem Maule zu reinigen. Die Eiablage selbst erfolgt ähnlich wie bei Labrax unter heftig zitternden Bewegungen des Leibes; gleichzeitig ergiesst das Männchen unter fortwährenden Berührungen des Weihchens das Sperma. Nachdem der Befruchtungsakt vorüber, bekümmert sich das Weibchen nicht mehr um die Brut; das Männchen dagegen bewacht dieselbe in wahrhaft staunenerregender Weise. Unaufhörlich verfolgt es jeden Mit- bewohner des Bassins — die eigenen Weibchen ausgenommen — der sich dem Brutplatze nähert, auch grössere, stärkere Tiere werden mutig angegriffen und — soweit meine Beobachtungen reichen — stets über- wunden. Dieser Schutz dauert wochenlang, wahrscheinlich bis zum Aus- schlüpfen der Jungen. Den Endpunkt der Brutpflege festzustellen ist übrigens aus dem Grunde schwer, weil ein und dasselbe Männchen sich successive immer neue zur Eiablage bereite Weibchen zugesellt und so Eier verschiedenen Alters auf ein und demselben Stocke abgesetzt werden. Wissenschaftliche Rundschau. Botanik. Ein neues Pflanzensystem. In zwei Artikeln »Pens&es sur la taxinomie botanique«! schlägt T. Carurn vor, an Stelle des bisherigen botanischen Systems folgendes neue zu setzen: Div.I. Phanerogamae. Cl. I. Angiospermae. Subel. I. Monocotyledones. Coh. I. Eirianthae: Ord ie Labelliflorae. Ord. 2. Liliiflorae. Ord. Ord Goh...Il. Ord 3. nd: Spadiciflorae. Glumiflorae. Hydranthae. „d: Alismiflorae. Ord. 2. Fluviiflorae. Coh. I. Centranthae. Ord. Centriflorae. Subel. II. Dicotyledones. Coh. I. Dichlamydanthae. Subcoh. 1. Explanatae. Ord. 1. Corolliflorae. Ord. 2. Asteriflorae. Ord. 3. Campaniflorae. Ord. 4. Oleiflorae. Ord. 5. Umbelliflorae. Ord. 6. Celastriflorae. Ord. 7. Primuliflorae. Ord. 8. Ericiflorae. Ord. 9. Rutiflorae. Ord. Ord. Subcoh. 2. Ord. Ord. Ord. Ord. 10. Cruciflorae. 11. Tiliiflorae. Cupulatae. 1. Rosiflorae. 2. Lythriflorae. 3. Myrtiflorae. 4. Cirriflorae. Coh.II.Monochlamydanthae. Ord. Ord. 2. Ord. Ord. Ord. Ord. Coh. MI. Ord. Ord. Ord. Ord. Ordza: Ord. 1. Daphniflorae. 2. Cytiniflorae. 3. Cactiflorae. 4. Raniflorae. 5. Involucriflorae. 6. Nadiflorae. Dimorphanthae. l. Begoniflorae. 2. Euphorbiflorae. 3. Urtieiflorae. 4, Claviflorae. 5. Globiflorae. 6. Juliflorae. Cl. II. Anthospermae. Coh. Dendroicae. Ord. Spermiflorae. ! Botanische Jahrbücher für Systematik ete. von A. Engler, IV. B. 5. Heft u. V.B. 1. Heft. 310 Wissenschaftliche Rundschau. Cl. III. Gynospermae. Subel. II. Zoosporophorae. Coh. Coniferae. Coh. I. Oosporatae. Ord. 1. Coniflorae. Ord. 1. Fucideae. Ord. 2. Strobiliflorae. Ord. 2. Vaucherideae. Div.II. Prothallogamae. Coh. II. Zygosporatae. Cl. I. et Coh. Heterosporae. Ord. 1. Peronosporideae. Ord. 2. Zygnemideae. Ord. 1. Rhi iae. r 1zocarpariae Ord. 3. Pandorinideae. Ord. 2. Phyllocarpariae. Cl. I. et Coh. Isosporeae. Coh. II. Euzoosporatae. Ord. 1. Conariae. Ord. Ulvideae. Ord. 2. Calamariae. Subel. II. Conidiophorae. Ord. 3. Filicariae. Coh. I. Angiosporatae. Div. III. Schistogamae. Ord. 1. Lichenideae. Cl. et Coh. Puterae. Ord. 2. Sphaerideae. Ord. Puterae. Ord. 3. Gymnoascideae. Coh. H. Gymnosporatae. Div. IV. Bryogamae. | CL er ech nn > | Ord. 1. Puccinideae. ee Ord. 2. Agaricideae. Ord. 1. Musci. | Ord. 3. Stilbideae. Ord. 2. Hepaticae. Div. V. Gymnogamae. Coh. Schizosporatae. Cl. I. Thallodeae. Ord. Nostochideae. Subcl. I. Tetrasporophorae. Subel. IV. Schizosporophorae. Coh. Tetrasporatae. | Cl. II. Plasmodieae. Ord. 1. Florideae. | Coh. Plasmodiatae. Ord. 2. Pseudoflorideae. | Ord. Myxomycetes. Es möge uns gestattet sein, die Diagnosen einiger der voran- stehenden systematischen Begriffe in Kürze zu reproduzieren und etwas spezieller bei den neuen Klassifikationsbegriffen (Schistogamae, Antho- spermae etc.) zu verweilen. Die wesentlichsten morphologischen Charaktere der Phanerogamae sind folgende: Die Phanerogamae sind trimorph, d. h. jede zu dieser Divisio gehörige Pflanze besteht aus dreierlei verschiedenartigen Individuen, die in bestimmter Ordnung auf einander folgen. Das meist cormoide In- dividuum hat keine begrenzte Entwickelungsfähigkeit und kann auf ungeschlechtlichem Wege neue Individuen erzeugen. Bald sind diese ihm höchst ähnlich (die gewöhnlichen Zweige), bald sind sie mehr oder weniger verschieden von ihm, jedoch vom gleichen Typus, d.h. cormoid, modifizierte Sprosse (Blütensprosse). Die geschlechtlichen Individuen sind der Pollen und die Samenknospe. Das männliche Individuum ist der Pollen, welcher beim Verstäuben zu voll- ständiger Individualität gelangt und zu einem thalloiden Pflanzen- körper mit begrenzter Entwickelung wird. Das Öogonium oder der Embryosack, in welchem die Keimbläschen oder die Oosphaeren entstehen, das weibliche Geschlechtsprodukt der Blüte, bleibt stets ein Wissenschaftliche Rundschau. 311 wesentlicher Teil der Samenknospe und gelangt deshalb nie zur wirk- lichen Individualität. Vielmehr teilt er seinen Geschlechtscharakter der ganzen Samenknospe, deren integrierender Bestandteil er ist, mit, so dass man also die Samenknospe als die dritte Individuenform, als ein weibliches Individuum mit cormoidem Charakter und begrenzter Entwickelung betrachten kann. Die befruchtete Oosphaere wird zu einem Proembryo, welcher einen oder mehrere Em- bryonen erzeugt. Diese sind hinwieder die ersten Stadien des gewöhn- lichen ungeschlechtlichen Individuums. Die Prothallogamae sind dimorph. Eine Art der Individuen ist ungeschlechtlich, cormoid, mit unbegrenzter Entwicke- lung, entspricht somit den ungeschlechtlichen cormoiden Individuen der Phanerogamen. Die geschlechtlichen Individuen sind dem Pollen ent- sprechende Sporen, welche auf analoge Weise wie der Pollen durch Endogenese von den Sporophyllen erzeugt werden. Wie der Pollen sind sie thalloide Körper mit begrenzter Entwickelung. Doch sind sie von den Pollenindividuen dadurch verschieden, dass sie nicht mehr bloss männliche Individuen repräsentieren, sondern vielmehr bald männlich, bald weiblich, bald androgyn sind. Bei ihrer Entwickelung bilden sie einen Prothallus, der an seiner Oberfläche Antheridien und Archegonien bildet. In jenen entstehen die Phytozoiden (Spermatozoiden) ; diese enthalten eine Oosphaera, welche nach der Befruchtung sich un- mittelbar in den Embryo, das erste Entwickelungsstadium der ungeschlecht- lichen Pflanze verwandelt. (Selaginella macht eine Ausnahme. Bei ihr entsteht zuerst ein Proembryo, aus welchem erst der Embryo sich ent- wickelt.) Die Schistogamae umfassen die Characeen der Autoren, Pflanzen, die bekanntlich schon sehr verschiedene Stellen im pflanzlichen System einnahmen, die man aber gegenwärtig gemeiniglich als eine Klasse des Algentypus auffasst. CAruvEL hält dafür, dass sie weder dem einen noch andern der gewöhnlichen Pflanzentypen mit Recht zugezählt werden dürften, dass sie vielmehr Repräsentanten eines eigenen Typus darstellen. Sie sind dimorph und zwar treffen wir männliche und weib- liche Individuen; die ungeschlechtlichen fehlen. Die männ- lichen haben eine unbegrenzte Entwickelung und bilden wurmförmige Phytozoiden im Innern der Antherocysten, schliessen sich darin also den Prothallogamae, ebenso den Bryogamae an, die, wie wir sehen werden, mit den Schistogamae auch durch das Vorhandensein einer geschlechtlichen unbegrenzten Individuenform ausgezeichnet sind. Die weiblichen Individuen sind die Oogemmae, die später zum Samen werden und eine Oosphaera enthalten, aus welcher nach der Befruchtung der sog. Prothallus der Characeen entsteht. Wie bei den Prothallogamae wechseln auch bei den Bryo- gamae ungeschlechtliche und geschlechtliche Individuen mit einander ab. Die Bryogamae sind also dimorph. Doch sind hier die un- geschlechtlichen Individuen die in der Entwickelung begrenzten. Sie sind thalloid und bilden an ihrem Gipfel eine Kapsel, in welcher agamisch die Sporen entstehen. Diese entwickeln sich wieder zu einem 312 Wissenschaftliche Rundschau. thalloiden Körper, dem Protonema, das bald persistiert, bald Zweige treibt, doch von unbegrenzter Entwickelung ist und die Fähigkeit besitzt, in unbegrenzter Folge Reproduktionsorgane zr erzeugen. Diese, die An- theridien und Archegonien, kommen bald auf demselben Individuum, bald auf verschiedenen vor. Die Phytozoen sind wurmförmig. Die be- fruchtete Oosphaere wird zum Embryo, der das früheste Entwickelungs- stadium der ungeschlechtlichen Individuen ist. Die Gymnogamae sind monomorphe, seltener dimorphe alternie- rende, sehr selten trimorphe Pflanzen. Die monomorphen können in be- grenzten ungeschlechtlichen oder in unbegrenzten geschlechtlichen oder ungeschlechtlichen Formen auftreten. Bei den dimorphen ist die geschlecht- liche Form die unbegrenzte; bei den trimorphen die weibliche unbegrenzt, die männliche begrenzt. Neu ist die Klasseneinteilung der Phanerogamae. Die Systematiker pflegen bekanntlich zwei Subklassen, Gymnospermae und Angio- spermae zu unterscheiden. Eine nackte Samenknospe, die Entwickelung des Endosperms schon vor der Befruchtung, die mehrzelligen Pollenkörner und die starke Entwickelung des Proembryo sind die Charaktere der Gymnospermen. Bei den Angiospermen ist die Samenknospe von einem Fruchtknoten umschlossen, das Endosperm entsteht erst nach der Be- fruchtung, die Pollenkörner sind einzellig. Die Loranthaceae und Viscaceae, die nach der bisher gebräuchlichen Auffassung die Ord- nung der Santalinae bildeten, welche wieder unter eine der verschie- denen Reihen der Dikotyledonen, die Monochlamydeae fällt, stimmen durch ihre ganz eigenartige Blütenstruktur nicht vollständig weder mit den Angiospermen noch mit den Gymnospermen. Sie entfernen sich nach CARUEL in wesentlichen Merkmalen von den Angiospermen, zu denen sie gewöhnlich gezählt werden, ohne sich wieder dem Begriff Gymnospermae völlig unterzuordnen. CARUEL bezeichnet ihre Samenknospe als nackt, weil ihr wesentlicher Teil, der Kern, freiliegt. Ein Fruchtknoten, d. h. ein Körper, welcher die Samenknospe umhüllte, findet sich nicht; diese ist vielmehr die wirkliche Endung des Blütenstieles. Am Gipfel des Kernes sind zwei Kreise appendikulärer Anhänge inseriert, ein innerer Kreis von styli und ein äusserer von staminae. Diese beiden Kreise entsprechen nach CARUEL durch ihre Lage den zwei Hüllen des Kernes in der männlichen Blüte von Welwitschia HooKkEr, deren innere Hülle augenscheinlich pistillär, deren äussere staminifer ist. Auch den beiden Hüllen der weiblichen Blüte von Gnetum Gnemon BECCARI, deren innere noch deutlich genug ihre pistilläre Natur zeigt, deren äussere dagegen allerdings keinen speziellen Charakter mehr hat, sind beide Kreise homolog. In der weiblichen Blüte von Welwitschia dagegen haben die beiden Hüllen keine bestimmte Spezialität; namentlich der innere ist auf jenen Zustand reduziert, auf welchem man allgemein die einzige Hülle des Kerns bei den Koniferen trifft. In dem Kern der Loranthaceen und Viscaceen liegt das Oogonium in der Tiefe, wie bei den Gymnospermen. Der Pollen ist aber einzellig, das Gynaeceum besitzt ein Stigma, das Endosperm bildet sich nach der Befruchtung. Es sind das Charaktere, welche auf die Verwandtschaft der Gruppe mit den Angiospermen hinweisen. Wissenschaftliche Rundschau. 313 Auf diese Beobachtungen sich stützend, teilt CArurn die Phanero- gamae ein in 1) Angiospermae, 2) Anthospermae und 3) Gyno- spermae, mit welch letzterem Namen auf die Schwierigkeit der Unter- scheidung zwischen Samenknospen und Gynaeceum bei den bislang Gymno- spermae genannten Pflanzen hingewiesen werden soll. CaArurL berührt auch die Frage der gegenseitigen Stellung der beiden Unterklassen der Angiospermae, der Dikotyledonen und Mono- kotyledonen. Er polemisiert gegen die allgemein gebräuchliche Über- ordnung der erstern über die letztern, die auf der Ansicht beruht, es seien die Dikotyledonen höher organisierte Pflanzen als die Monokoty- ledonen. Diese Ansicht erklärt CArurL, und wohl mit Recht, als eine haltlose.. Denn der Umstand, dass die Embryonen der erstern zwei, die der letztern nur ein Keimblatt besitzen, spricht doch in keiner Weise weder für eine. höhere, noch für eine niedrigere Organisation. Höhere Organisation verrät scheinbar die Struktur der Blüte, in welcher die grössere Komplikation als Resultat der Vermehrung un- ähnlicher Teile auf kosten ähnlicher Teile, die also vermindert wurden, erscheint. Sie ist aber nicht, wie z. B. DECAan- DOLLE sich dachte, das Resultat der Vermehrung ähnlicher Teile. Beide Unterklassen fasst CArvErL als zwei parallele Reihen auf. In jeder von ihnen lassen sich die einfachsten Blütentypen bis zu den kompli- ziertesten verfolgen, so dass man wirklich in Verlegenheit kommen kann, wenn man die kompliziertesten Blütentypen beider Unterklassen, z. B. eine Orchidaceen- und eine Stylidiaceenblüte, mit einander ver- gleicht, welche von beiden man als die kompliziertere erklären will. Anderseits weisen wohl die Monokotyledonen kaum so einfache Typen auf wie die zu den Dikotyledonen gehörigen Myriaceae oder Betu- laceae. Die Klassifikation der II. und IV. Division stimmt im wesentlichen ‚mit der gebräuchlichen Systematik überein. Die III. Division, die nur eine Familie (Characeae) umfasst, ist in der Cl. Coh. und Ord.-nomen- clatur Puterae genannt worden, das ist nach CAarueL der latinisierte toskanische Name der hierhergehörigen Pflanzen. Neu ist wieder die Divisio Gymnogamae. Diese Abteilung deckt sich mit dem Begriff Thallophyten. Diese werden bekanntlich in die beiden Klassen Algen und Pilze (inkl. Lichenes) geteilt, eine Einteilung, die im wesentlichen auf dem Vorhandensein oder Fehlen des Chlorophylls basiert. Eine Gruppe, die »Moneren« des Pflanzen- reiches, die in vielfacher Beziehung interessanten Myxomyceten, wird von CAruEL mit vollem Recht nicht einfach als ein Appendix der Pilze aufgefasst. Ihr Vegetativkörper, das Plasmodium, ist von einem wirklichen Thallus, unter dem wir uns einen bestimmt geformten, seiner Struktur nach zellulären Pflanzenkörper vorstellen, so verschieden, dass die Trennung der Gymnogamae in zwei Klassen, in Plasmodieae (synonym mit Myxomycetes, die Carver als Ordnungsnamen verwertet) und Thallodeae (die übrigen Thallophyten) natürlich erscheint. Die in unserer systematischen Übersicht berührte Einteilung der Thallodeae gründet sich in der Hauptsache auf die Verschieden- 314 Litteratur und Kritik, heit ihrer Reproduktionsorgane. Die Subklassen Tetrasporo- phorae und Zoosporophorae sind dem bisherigen Begriff Algae gleichwertig. Die Conidiophorae decken sich mit den Pilzen inkl. Lichenes, exkl. Myxomyceten. Dr. RoßERT KELLER. Litteratur und Kritik. Fossile Pferde aus deutschen Diluvialablagerungen und ihre Beziehungen zu den lebenden Pferden. Ein Beitrag zur Ge- schichte des Hauspferdes von Dr. A. Neurıng. Berlin, Paul Parey. 1884.. 160 S. gr. 8°. 5 Taf. Preis 4 Mark. (S.-A. aus d. Land- wirtsch. Jahrbüchern 1884.) Bei der hohen Bedeutung, welche die fossilen Pferde für die Ent- wickelungstheorie namentlich durch die amerikanischen Forschungen er- halten haben, müssen dem Zoologen nicht minder als dem Paläonto- logen auch die Studien über die fossilen Pferde jüngerer geologischer Schichten stets willkommen sein, zumal wenn sie auf so exakter Basis aufbauen wie die vorliegenden von NEHRING. Die Equiden, die Neurınag besonders berücksichtigte, stammen aus den Berglingschen Gipsbrüchen bei Westeregeln zwischen Magdeburg und Halberstadt. Hier fanden sie sich namentlich in den mittleren Lagen zugleich mit Alactaga jaculus, der heute noch in den Steppen Südeuropas und Asiens vorkommenden Springmaus, Spermophilus rufescens, dem Steppen- ziesel, Arctomys bobac, dem Steppenmurmeltiere Russlands, Lagomys pu- sillus, dem Pfeifhasen. In den tiefern Lagen fanden sie sich neben den Resten von Mammut, Rhinoceros tichorhinus, Rentier, Hyäne, Wolf ete. Eine zweite Fundstätte ist im Diluvium des Gipsbruches von Thiede bei Wolfenbüttel. Auch hier wurden die Equidenreste von Überresten der genannten Tiere begleitet. Auch die Lindenthaler Hyänenhöhle bei Gera lieferte nicht nur ein zahlreiches, sondern auch ein schönes Material. Von besonderem Werte wurde für die Untersuchung ein ziemlich voll- ständiges Skelett einer etwa zehnjährigen Stute, das sich neben Resten von Mammut, Rhinozeros, Moschusochs, Bos priscus, mehreren Hirschen und Murmeltieren fand. A Die Equiden waren im Diluvium Mittel- und Norddeutschlands durch zwei Arten, Zguus caballus foss. und E. hemionus, den Halbesel oder Dschiggetai, der allerdings im Vergleich zum eigentlichen Pferde selten vorkam, vertreten. — Die Untersuchung stellt sich wesentlich die Aufgabe, die Beziehung des diluvialen E. caballus zu den heutigen Pferden festzustellen. Auf Grund seiner Vergleichungen kommt Ne#rınG zu dem Schluss, dass »das aus Nord- und Mitteldeutschland bekannt gewordene diluviale Pferd ein mittelgrosses, schweres Pferd war, welches dem schweren »occidentalen« Litteratur und Kritik. 315 Typus Franck’s, resp. dem E. caballus germanicus SANSON’s, so nahe steht, dass wir es als den direkten Vorfahren dieser Rasse betrachten dürfen. « Von allgemeinem Interesse und für die Beurteilung der genetischen Stellung besonders wichtig ist, »dass die Griffelbeine des diluvialen Pferdes von Westeregeln, Thiede und andern Fundorten durchweg stärker und länger entwickelt sind, als dies bei unserm Hauspferde der Fall zu sein pflegt.< Mit einer Ausnahme sind die Griffelbeine nicht mit dem Metatarsus medius verwachsen. Dieses bisher besonders hoch geschätzte Unterscheidungsmerkmal diluvialer und rezenter Equiden wird allerdings nach einer Zusammenstellung von NEHRING ziemlich hinfällig, da auch bei den lebenden Pferden die Griffelknochen häufiger nicht verwachsen als verwachsen sind, insbesondere bleibt das äussere Griffelbein stets frei und die Verwachsungen des inneren betreffen viel häufiger das des Metakarpus als des Metatarsus, was gegenüber der Beobachtung v. IHE- rıng’s an brasilianischen polydaktylen Pferden (s. Kosmos 1884, I. S. 99) und der dort eitierten Ansicht Hrxsen’s nicht ohne Interesse ist. In bezug auf das Verhältnis von Ulna und Radius schreibt NEeHrine: »An den mir vorliegenden Exemplaren des Unterarms kann ich keine stärkere Ausbildung der Ulna in ihrem mittleren und unteren Teil er- kennen als bei den lebenden Pferden«, wo sie bekanntlich im unteren Drittel meistens verkümmert und nur selten, aber doch keineswegs so ausnahms- los, wie man gewöhnlich annimmt, als zusammenhängender, durchlaufen- der Knochen erscheint. Was wir hier kurz als einige allgemeiner interessierende Resultate der Untersuchung angedeutet haben, ist nur ein kleiner Teil der Schlüsse, die sich an Hand der zahlreichen Tabellen ziehen lassen, welche die sorgfältigen Messungen aller Skelettteile und deren Vergleichung mit ver- schiedenen Rassen lebender Pferde enthalten, Messungen, welche die Ab- handlung sehr wertvoll und Zoologen und Paläontologen empfehlenswert erscheinen lassen. B’K. Anmerkung d. Redaktion. Im Anschluss an vorstehendes glauben wir noch auf folgende Partien der schönen Nehringschen Arbeit eingehen zu sollen. Was die Grösse und das Äussere unseres Diluvialpferdes be- trifft, so kommt Verf. durch genaue Vergleichung der verschiedensten Masse zu dem Ergebnis, dass dasselbe »eine Widerristhöhe gehabt hat, welche etwa die Mitte hält zwischen derjenigen unserer grössten und kleinsten Rassen. Es war also ein mittelgrosses, untersetztes, diekknochiges Pferd, das vollständig die Statur unserer schweren Pferde geringerer Grösse gehabt haben dürfte, jener sog. gemeinen Pferde, welche bei uns jetzt immer mehr verdrängt werden.< Ihm gegenüber erscheint das französische Diluvialpferd (von Solutre) kleiner und zier- licher, und dasselbe gilt für das süddeutsche von Schussenried, das ausserdem mehr eselartigen Typus zeigt, während das von Nussdorf bei Wien grösser war als das unserige. Hinsichtlich seiner Behaarung lässt sich natürlich nur vermuten, dass dieselbe entsprechend dem rauhen Klima eine verhältnismässig lange und dichte gewesen sei, was aber ganz mit den bildlichen Darstellungen übereinstimmt, die uns aus so manchen 316 Litteratur nn) Kritik. Knochenhöhlen erhalten sind: diese führen uns ein zumal am Kinn und der Kehle lang behaartes Tier vor Augen; die Mähne steht aufrecht, der Schwanz erscheint ziemlich lang und nicht sehr stark behaart. Die Ohren sind, auf den Bildern von Thayingen wenigstens, verhältnismässig kurz, der Leib schwer und gedrungen; die Beine sind, entsprechend den am gleichen Orte gefundenen Knochen, zierlicher, als sie beim norddeutschen Diluvialpferd gewesen sein müssen. Dass die Pferde von Thiede und Westeregeln echte Steppentiere waren und inmitten einer ausgeprägten Steppenfauna und -flora lebten, hat Verf. in früheren Arbeiten zur Genüge nachgewiesen. Sein Haupt- feind war schon damals der Mensch, welcher sich in Mittel- und West- deutschland ganz wesentlich von der Pferdejagd genährt zu haben scheint. In der Nähe seiner festen Wohnplätze (Höhlen, Grotten) verwertete er auch die Knochen, Zähne, Sehnen, Haare und Häute; auf blossen Jagd- stationen aber, zu denen auch die genannten Fundstätten gehörten, blieben die Knochen mit Ausnahme der Gehirnkapsel meist unversehrt, was ihren guten Erhaltungszustand erklärt. Schon damals werden jedoch auch ver- einzelte Anfänge in der Zähmung des einheimischen wilden Pferdes ge- macht worden sein, wie sich denn in der That die Reste dieses schweren »occidentalen« Pferdes durch die alluvialen Ablagerungen bis zur Gegen- wart hinauf nachweisen lassen. Jedenfalls sind unsere früheren gemeinen Pferderassen nicht, wie noch so vielfach behauptet wird (auch von V. Hrun), aus Asien importiert worden, denn Asien hat noch keine Fossil- reste von schweren Pferden geliefert; erst viel später, vielleicht in der Bronzezeit, gelangten die ersten Sprösslinge der in Asien wahrscheinlich seit uralter Zeit in Pflege genommenen zierlicheren Form nach Mittel- europa. Dass es übrigens hier schon in der »Steppenzeit« verschiedene Lokalrassen gab, beweisen die oben erwähnten Formen von Schussenried und Nussdorf sowie von Solutr@ deutlich genug. — Wir müssen es uns versagen, endlich auch noch auf die vom Verf. gleichfalls erörterte Frage einzugehen, wie lange das wilde Pferd in Europa sich erhalten und ob- und wo vielleicht in Zentralasien noch Nachkommen desselben existieren. Sicherlich wird jeder, der sich für die Geschichte der Haustiere und der so innig mit derselben zusammenhängenden menschlichen Kultur interes- siert, die Bemerkungen NenHrın@’s hierüber mit Vergnügen und Anerken- nung lesen. Elemente der Paläontologie (Paläozoologie) von Dr. R. Hörnxes. Leipzig 1884. Die Anzahl der neueren paläontologischen Arbeiten, in welchen auf die Deszendenzlehre Rücksicht genommen wird, mehrt sich von Jahr zu Jahr. Die soeben -erschienenen »Elemente der Paläozoologie« von Hörnes schliessen sich ihnen an. Der Verf. bezeichnet als Aufgabe der Zoopaläontologie als einer selbständigen Wissenschaft, die »Stammesver- wandtschaft der rezenten und fossilen Formen durch Untersuchung der letzteren mit Zugrundelegung der Erfahrungen über die heute lebende Tierwelt in vergleichend anatomischer und embryologischer Hinsicht klar Litteratur und Kritik. 317 zu legen«, und sagt in dem Vorwort: »Dass die Deszendenzlehre von dem Verfasser als Ausgangspunkt aller Betrachtungen genommen wurde, wird man ihm heute wohl kaum mehr verübeln. Morphologie, Dimorphismus und Polymorphismus, Mimiery, die Kenntnis der rudimentären Organe, Entwickelungsgeschichte, geographische Verbreitung haben ebenso viele Beweismittel für die Deszendenzlehre ergeben, als die Ergebnisse der paläontologischen Forschung. « Dem Geologen ist nur zu bekannt, wie oft ein anscheinender Widerspruch zwischen Thatsache und Theorie konstatiert werden muss; am schärfsten wurde er durch BARRANDE zwischen der »paläontologischen Theorie« und der Zusammensetzung der »Primordial-Fauna« betont, in- sofern er zeigte, dass in den tiefsten überhaupt Versteinerungen führen- den Schichten höher organisierte Formen (Trilobiten) auftreten, während erst in den höheren Etagen der Silurformation Reste von niedriger stehenden Organismen (Korallen, Pelecypoden u. s. w.) in grösserer Zahl sich finden, eine Thatsache, die von niemand bestritten werden kann. Doch wie weiss Hörnes das Rätsel zu lösen? Er betont, dass nur die Berücksichtigung der chorologischen Verhältnisse der Vorwelt (Chorologie — Lehre von der räumlichen Verbreitung der Organismen) uns das Ver- ständnis für das lückenhafte geologische Geschichtsbuch, welches die Schichten der Erde darstellen, zu erschliessen vermöge, da die Lücken- haftigkeit der paläontologischen Überlieferung und die Diskontinuität der geologischen Urkunden nur auf der vielfachen chorologischen Verschieden- heit der Sedimente bestehe, welche notwendigerweise mit einer entsprechen- den Verschiedenheit der Organismen, deren Reste in den betreffenden Schichten eingeschlossen wurden, Hand in Hand gehe. Fast alle Formationsgrenzen und selbst alle kleineren Unterabtei- lungen, welche die historische Geologie gemacht hat, liessen sich haupt- sächlich auf Verschiebungen in den chorologischen Verhältnissen zurück- führen, welche lokal, aber auch nur lokal, eine durchgreifende Änderung der organischen Welt herbeigeführt haben. Was nun die Primordialstufe Barranne’s anbetrifft, so sei hervorzuheben, dass alle ihre organischen Reste, sowie die der kambrischen Schichten einer Facies angehören, welche des petrographischen Charakters wegen der Erhaltung der Reste noch ziemlich günstig war. Die vorhandenen Einschlüsse von Organismen deuteten auf eine Facies, welche in der Tiefsee zu Hause sei, was be- stätige, dass ein Teil der Trilobiten verkümmerte Augen zeige, ganz so wie es die in letzter Zeit in der heutigen Tiefsee aufgefundenen höher stehenden blinden Krustaceen bekundeten. Und Formen mit rückgebil- deten Organen könnten unmöglich als ursprüngliche betrachtet werden, sondern müssten von Seichtwasserformen mit entwickelten Augen abstam- men, mithin hätten wir die sogenannte Primordialfauna als eine jüngere und derivierte, an die eigentümlichen Verhältnisse der Tiefsee angepasste aufzufassen. In den ältesten Seichtwasserbildungen hätte man sich somit nach den Resten der ersten Organismen umzusehen, die aber bei der hochgradigen Umwandlung, welche die älteren Kalksteine erlitten, gründ- lich vertilgt worden seien. Übrigens enthielten die Silurablagerungen _ Böhmens mehr als einen Beweis für die Deszendenzlehre. 318 Litteratur und Kritik. Weiterhin betont der Verf., dass die Paläontologie mit dem Linne- schen Speziesbegriff definitiv gebrochen habe und dass die Systematik im Lichte der Deszendenzlehre lediglich als der Ausdruck der genetischen Stammesverwandtschaft der einzelnen Formen erscheine, weshalb auch heute der Paläontologe gezwungen sei, den unmittelbaren genetischen Zusammenhang einzelner Formen auch im Namen auszudrücken. Dieser Notwendigkeit habe der geologische Kongress in Bologna Rechnung ge- tragen, indem er in den Regeln für die paläontologische Nomenklatur den Speziesbegriff dahin erweiterte, dass eine Art mehrere Modifikationen umfassen könne, welche in der Zeit (»Mutation«) oder im Raum (»Varie- tät<) zusammenhängen könnten, wodurch eine trinome Bezeichnung ent- stehe, die heute freilich nur in sehr wenigen Fällen angewendet werden könne, danur in sehr wenigen Fällen das Material hierfür gesammelt sei. Die heute von den Zoologen unterschiedenen grossen Gruppen oder Typen des Tierreichs sind ihm für die ideale, auf der Erforschung des genetischen Zusammenhangs beruhende Systematik von zweifelhaftem Werte, sie dienten, wie er ausdrücklich erklärt, uns vorläufig nur dazu, das Material zu ordnen, und würden vielleicht später besser gebildeten Abteilungen Platz machen müssen. Dies zur Charakterisierung der Stellung, die der Verf. in seinem Werke der Deszendenzlehre gegenüber einnimmt. Dasselbe ist für Stu- dierende an den deutschen Hochschulen bestimmt und bietet auf 500 mit 672 instruktiven und guten Holzschnitten versehenen Seiten in ge- drängter Kürze eine treffliche Auswahl aus dem ungeheuer angeschwolle- nen paläontologischen Materiale, das Tag für Tag weitere Vermehrung erfährt. Bezüglich der Einzelheiten müssen wir auf das treffliche Buch, das sicher vielen Beifall ernten wird, selbst verweisen. Dresden. H. ENGELHARDT. Eine sehr beachtenswerte neue Erscheinung, die auch hier erwähnt zu werden verdient, ist die »Internationale Zeitschrift für All- gemeine Sprachwissenschaft«, herausgegeben von Dr. F. TecHMmEr in Leipzig (Verlag von J. A. Barth), deren erstes Heft uns vorliegt. Eine Übersicht seines reichen mannigfaltigen Inhalts gewährt besser als lange Auseinandersetzungen eine adäquate Vorstellung von dem, was die Zeit- schrift anstrebt, und von der Notwendigkeit, beim gegenwärtigen Stande der Sprachwissenschaft ein solches wahrhaft und im schönsten Sinne internationales Organ für die internationalste aller Wissenschaften zu haben. Nach einigen dem Andenken des Begründers der Sprachvergleich- ung, WILHELM von HumsoLpr’s gewidmeten Seiten folgt das Programm des Herausgebers, das zugleich über die Entstehungsgeschichte seines Unternehmens sowie über Inhalt und Umfang des darin zu behandelnden Gebiets Aufschluss gibt. — Zunächst wird die naturwissenschaft-. liche Seite betont, welche auch die Beziehungen zur Anthropologie knüpft, und zwar handelt es sich hier 1) um die akustischen Ausdrucks- bewegungen, die Phonetik, welche auf Physik, Anatomie, Physiologie Litteratur und Kritik. 319 und Pathologie des gesamten Sprachorgans und Öhres eingeht, auch den Artikulationswandel und die Lautgesetze physiologisch zu erklären sucht; 2) um die optischen Ausdrucksbewegungen, die Graphik, insbesondere um Gebärdensprache und Schrift, und 3) um das gegenseitige Verhalten der beiderlei Ausdrucksmittel zu einander, um die Methodik, die Verbindung von Laut und Schrift u.s.w. Dazu kommen ferner die psychologische und die historische Seite der Aufgabe, jede für sich ebenso umfang- reich wie die naturwissenschaftliche; jene, die Psychik, hat insbesondere die psychologischen Vorbedingungen und Entwickelungsgesetze von Arti- kulation, Laut, Wurzel, Wort und Satz, die Historik dagegen die phylogenetische sowohl als die ontogenetische Entwickelung der Sprache zu erforschen. Welch eine Fülle interessantester Probleme thut sich hier auf, in welch unmittelbare Beziehung tritt die so erweiterte Sprachwissen- schaft zur biologischen Forschung, zur Physiologie und Psychologie! Wir halten es schon deshalb für unsere Pflicht, der wir mit Freuden nachkommen, unsere Leser nachdrücklich auf diese in so würdiger Form zum Ausdruck kommenden Bestrebungen aufmerksam zu machen und sie auch in Zukunft vom Fortgange des glänzend begonnenen Unternehmens in Kenntnis zu setzen. Die Reihe der eigentlichen Abhandlungen dieses Heftes eröffnet der Nestor der deutschen Sprachforscher, A. F. Porr in Halle, mit einer geistreich geschriebenen »Einleitung in die allgemeine Sprachwissenschaft«, welche zugleich unter Anführung der betreffenden Litteratur eine gedrängte Übersicht über ihre bisherigen Ergebnisse bietet, während die Zeitschrift selbst nun in Originalarbeiten, Auszügen, Besprechungen, Bibliographien die zukünftige Entwickelung der Sprachforschung darzustellen strebt. — Der Herausgeber gibt auf 124 Seiten eine »Naturwissenschaftliche Analyse und Synthese der hörbaren Sprache«, im wesentlichen eine für allgemeineres Verständnis berechnete Zusammenfassung der Resultate seines 1880 er- schienenen grossen Werkes über Phonetik, jedoch mit zahlreichen Er- gänzungen und trefflich erläutert durch eine Menge Holzschnitte und Tabellen und 7 grosse Tafeln. Von grosser praktischer Bedeutung sind des Herausgebers Vorschläge zur möglichst einheitlichen Transskription der Sprachteile mittels der lateinischen Kursivschrift. Es folgen sodann: G. MaAruery in Washington: »Sign Language« mit einem »Scheme of Illustration« und » Notable points for further researches« ; FRIEDRICH MÜLLER in Wien: »Sind die Lautgesetze Naturgesetze?« — eine Frage, welche auf SCHLEICHER’s Ansicht von der Sprache als einem Naturorganismus und der Sprachwissenschaft als einer Naturwissenschaft zurückgeht, die der Verfasser in Übereinstimmung mit Wnrrey widerlegt zu haben glaubt; dann ein kleiner Beitrag zur vergleichenden Mythologie auf Grundlage der Etymologie der Götternamen von Max MÜLLER in Oxford: »Zephyros und Gähusha« ; L. Anam in Nancy: »De la categorie du genre«; A. H. SaycE in Oxford: »The person-endings of the indo-european verb«, und endlich eine auch für den Anthropologen und Ethnologen hochinteressante ein- gehende Untersuchung von K. BrucmAnn in Leipzig: »Zur Frage nach .den Verwandtschaftsverhältnissen der indogermanischen Sprachen«, die sich einstweilen noch auf einen sehr skeptischen Standpunkt stellt, von 320 Litteratur und Kritik. der rüstig fortschreitenden Wissenschaft aber die wertvollsten Aufschlüsse erhofft. Es wäre höchst unbillig, zum Schlusse nicht auch der ganz vor- züglichen Ausstattung der Zeitschrift in jeder Hinsicht rühmend zu ge- denken. Papier und Druck sind geradezu elegant zu nennen. Es soll jährlich ein Band, bestehend aus zwei Heften von je ca. 15 Bogen Roy. 8°, zum Abonnementspreis von 12 Mk. ausgegeben und darin zu- gleich jedesmal das Bild eines der Hauptvertreter der Sprachwissenschaft geboten werden. Das vorliegende Heft ist mit einem trefflichen Kupfer- stich, das Denkmal W. v. Humsornpr’s in Berlin darstellend, geschmückt. Die so bestimmt sich dokumentierende Opferwilligkeit des Verlegers wird gewiss nicht wenig dazu beitragen, der Zeitschrift einen durchschlagenden Erfolg zu sichern, den sie vollauf verdient und den auch wir derselben von ganzem Herzen wünschen. W‘; Anfrage, Chr. K. Sprengel betreffend. Professor H. A. Hagzn in Cambridge, Mass., hat vor kurzem die für viele gewiss überraschende Behauptung aufgestellt, in Deutschland seien Chur. K. SprenGev’s Entdeckungen jedem Naturforscher während dieses ganzen Jahrhunderts wohlbekannt gewesen. Sicherlich seien diese Thatsachen zwischen 1830 und 1S40 auf jeder preussischen Universität als wohlbekannte Thatsachen von höchster Wichtigkeit gelehrt worden und natürlich jedem Studenten bekannt gewesen *. Da die Studenten der dreissiger Jahre wohl schon zum grossen Teile aus unserer Mitte geschieden sind, wäre es jetzt höchste Zeit, zu ermitteln, in wie weit Hacrn’s mit so zuversichtlicher Bestimmtheit aus- gesprochene Behauptung richtig ist, und ich möchte hiermit alle, die darüber Auskunft zu geben vermögen, auffordern, es zu thun. Es han- delt sich um Feststellung einer für die Geschichte der Pflanzenkunde nicht unwichtigen Thatsache. Für das Jahrzehnt von 1540 bis 1350, während dessen ich selbst und mein Bruder Hermann Studenten waren, trifft Haczen’s Behauptung nicht zu; in den botanischen und zoologischen Vorlesungen, die wir in Berlin, Greifswald und Halle gehört, ist niemals von SPRENGEL, seinen Entdeckungen und seiner Blumentheorie die Rede gewesen. Ich habe Grund zu vermuten und hoffe in kurzem Beweise dafür bringen zu können, dass es in Königsberg, dem damaligen Wohnorte Hagen’s nicht anders war. Blumenau, Prov. Sta. Catharina (Brasilien), 31./3. 1884. Frırz MÜLLER. * Nature, Vol. XXIX pag. 29 vom 8. November 1883. Ausgegeben den 5. Mai 1884. Die Veränderungen des selbstbewusstseins. Von Prof. Dr. A. Herzen (Lausanne). In einer vor fünf Jahren veröffentlichten Abhandlung! habe ich über die Beziehungen zwischen Bewusstsein und Nerventhätigkeit eine Theorie aufgestellt, welche sich auf bekannte Thatsachen und folgende Erwägungen stützt: 1) Das Nervengewebe bietet keine Ausnahme von dem allgemeinen biologischen Gesetze dar, dass während des Lebens jede Periode der Thätigkeit zugleich eine Periode der Desorganisation ist, worauf sofortige Wiederherstellung des früheren Zustandes folgt — ohne diese würde ja das Leben zum Tode führen —; die Nervenelemente desintegrieren (zer- setzen) sich, indem sie ihre Funktion ausüben, und reintegrieren sich (bauen sich wieder auf) unmittelbar danach. Es zerfällt also eigentlich jede Nerventhätigkeit in zwei Abschnitte, einen Abschnitt der Zersetzung und einen des Wiederaufbaues. Nun lehrt aber die Beobachtung, dass das Bewusstsein immer nur den ersten dieser beiden Abschnitte begleitet; es ist daher an die funktionelle Zersetzung der Nerven- elemente geknüpft. 2) Die Beobachtung lehrt ferner, dass die gewohntesten, die am meisten automatischen Handlungen, diejenigen, welche uns am wenigsten ermüden und sich mit dem geringsten Masse funktioneller Zersetzung voll- ziehen, stets die am wenigsten bewussten, die ungewohnten Hand- lungen dagegen, diejenigen, welche uns am meisten ermüden und die grösste Menge Zersetzungsprodukte liefern, zugleich die am meisten bewussten sind. Wir sehen demnach, dass die Lebhaftigkeit des Bewusstseins in geradem Verhältnis steht zur Lebhaftig- keit der funktionellen Zersetzung der thätigen Nerven- elemente. 3) Endlich lehrt die Beobachtung noch, dass ein ganz besonders auszeichnendes Merkmal der gewohntesten, automatischen, halb- oder ganz unbewussten Handlungen in ihrer verhältnismässig sehr ! In „Atti della Regia Accademia dei Lincei“, Roma 1879. Dieselbe Ar- beit erscheint soeben, durchgesehen und vervollständigt, im „Journal of Mental Science“, London. Kosmos 1884, I. Bd. (VII. Jahrgang, Bd. XIV). 21 3932 A. Herzen, Die Veränderungen des Selbstbewusstseins. schnellen Fortleitung durch die Nervenzentren hindurch besteht. Jedermann weiss, dass die »Reaktionszeit« durch Übung bedeutend ver- kürzt werden kann und dass wir fortwährend eine Menge von Handlungen verrichten, ohne uns ihrer Ausführung bewusst zu werden (beim Gehen z. B.). Demzufolge scheint also die Lebhaftigkeit des Bewusstseins in umgekehrtem Verhältnis zur Schnelligkeit und Leichtig- keit der zentralen Fortleitung zu stehen. Wenn wir nun diese drei partiellen Schlüsse in einen gemein- schaftlichen Ausdruck zusammenfassen, so erhalten wir das von mir so genannte »physische Gesetz des Bewusstseinse«: »Das Bewusstsein ist ausschliesslich an die Zersetzung der zentralen Nervenelemente geknüpft; seine Lebhaftigkeit steht in geradem Verhält- nis zu dieser Zersetzung und zugleich in umgekehrtem Verhältnis zu der Leichtigkeit, mit welcher jedes dieser Elemente auf andere die Zersetzung überträgt, die sich seiner bemächtigt hat, und mit welcher es in die Phase des Wiederaufbaues übergeht.« Das Selbstbewusstsein (Bewusstsein des Ich) ist nun aber bloss ein besonderer Fall des Bewusstseins im allgemeinen und muss folgerichtig denselben Gesetzen unterworfen sein, d. h. es muss auftreten oder fehlen, je nachdem die zentralen Elemente, welche zu seiner Erzeug- ung mitwirken, sich zu zersetzen im Begriffe sind oder nicht, und es muss Veränderungen erleiden, wenn die Art der Thätigkeit dieser Elemente sich ändert. Dies zeigt sich unzweideutig in den extremen Fällen von Geistes- krankheit, viel weniger jedoch im Normalzustande und in jenen dazwischen liegenden Zuständen, welche auf leichten, vorübergehenden, periodisch wiederkehrenden oder dauernden Geistesstörungen beruhen. Mit diesem Teil des Gegenstandes möchte ich mich im folgenden beschäftigen. Wir haben keinerlei Bewusstsein von unserer Identität mit jenem armseligen kleinen Wesen, das wir bei unserer Geburt waren. Das Ge- fühl, die Fortsetzung desselben Individuums zu sein, tritt erst viel später mit der ersten klaren und dauernden Erinnerung an einen bestimmt wahrgenommenen Bewusstseinszustand hervor und zwar zu einer Zeit, die bei jedem einzelnen eine andere ist. Wir bestreiten dem Neugebornen nicht etwa das Bewusstsein überhaupt, wohl aber das Selbstbewusstsein. Es ist ganz selbstverständlich, dass er Empfindungen hat, allein ebenso unverkennbar ist es, dass er dieselben nicht lokalisiert. Er könnte dies auch nicht, da es hierzu des Zusammenwirkens mehrerer Sinne bedarf, was erst als Folge einer bestimmten Gruppierung von Verhält- nissen zu stande kommt, die bei ihm noch gar nicht eintreten kann. Ohne Zweifel werden die Empfindungen, welche von zwei verschiedenen Stellen des Körpers stammen, auch beim Neugebornen jede ihren be- sonderen Charakter besitzen; allein um dieselben unterscheiden zu lernen, um sie einem bestimmten Punkte im Gegensatz zu anderen zuschreiben und vor allem ihren Ursprung auf äussere Dinge beziehen zu lernen, ist durchaus eine lange Erfahrung nötig. Die häufige Wiederholung, dieser Empfindungen muss erst ihre subjektive, mit dem Bilde des Körperteils, von welchem sie herstammen, oder der äusseren Dinge, von welchen sie erzeugt werden, innig verknüpfte Reproduktion ermöglichen. Nur ganz all- A. Herzen, Die Veränderungen des Selbstbewusstseins. 323 mählich kommt daher das Kind soweit, sich eine immer vollständigere Kennt- nis der Topographie seines eigenen Körpers zu erwerben und die einzelnen Teile desselben von einander und von den Objekten, die nicht zu ihm gehö- ren, unterscheiden zu lernen. Da nun alle Teile unseres Körpers durch die Nervenzentren mit einander in Verbindung stehen, da ferner diese letzteren jedesmal das Bild von mehreren Körperteilen oder sogar von ihrer Ge- samtheit subjektiv reproduzieren, sobald auch nur einer derselben gereizt wird, und da endlich unter allen Reproduktionen gerade diese notwendig weitaus am häufigsten vorkommt — so nimmt das Ich die Gewohnheit an, sich als ein Individuum, als ein Ganzes, als ein Eines und Un- teilbares zu betrachten und sich als solches in Gegensatz zum Nicht- Ich zu stellen. Von da an hat der Mensch das Bewusstsein seines Ich; allein dies ist ein Bewusstsein von sehr kurzer Dauer: um auch das Ge- fühl von der Kontinuität dieses Ich erlangen zu können, muss das Gedächtnis schon einen hohen Grad der Ausbildung erreicht haben, was erst nach längerer Zeit der Fall sein kann. Das Gedächtnis also ist der Eckstein dieses Gebäudes der Persönlichkeit. Nun handelt es sich darum, zu wissen, bis zu welchem Grade dies Gebäude, wenn es einmal aufgerichtet ist, wirkliche oder nur scheinbare oder gar imaginäre Einheit besitzt. Nach der landläufigen Ansicht begleitet das Bewusstsein des Ich beständig alle unsere Gedanken und Handlungen und wird es nur selten während des traumlosen Schlafes oder während einer Ohnmacht unter- brochen; aber die aufmerksame Beobachtung unserer selbst bestätigt diese Ansicht keineswegs. Ein heftiger physischer oder moralischer Ein- druck nimmt uns so vollständig in Anspruch, bemächtigt sich so sehr aller empfindenden Elemente, dass neue Eindrücke, welche in jedem an- deren Augenblick unsere Aufmerksamkeit erregt haben würden, unbe- merkt vorübergehen; unser Sensorium schenkt den neuen Bildern, die sich darbieten, kein Gehör mehr, das ganze Bewusstsein wird von dem vorherrschenden Gedanken in solchem Grade eingenommen, dass neben demselben kein Platz mehr für einen andern bleibt, nicht einmal für das Subjekt, welches demselben unterworfen ist. Während dieser Zeit ist also das Bewusstsein unseres Ich unterbrochen. Allerdings erinnern wir uns später, dass wir es sind, welche diesen Eindruck gehabt haben: wir treten aus einer Art Traum ohne Schlaf hervor; wir stehen dann eben nicht mehr unter der Herrschaft des Eindrucks, der uns in Anspruch nahm; dieser ist vorüber. Es genügt übrigens, uns die Erinnerung daran lebhaft zurückzurufen, damit er von neuem das ganze Bewusstsein er- greife und wir abermals unsere ganze Subjektivität verlieren, indem wir uns, soweit es das Bewusstsein betrifft, in etwas Unpersönliches ver- wandeln. Wenn man darauf achtet, wird man sich leicht überzeugen, dass dies jedesmal geschieht, so oft wir über irgend etwas tief nach- denken; so oft der Denker die logische Entwickelung seiner Gedanken intensiv verfolgt; so oft die Einbildungskraft des Dichters oder Künstlers sich ganz dem Drange des Schaffens hingibt: dann verschwindet die Persönlichkeit; das Bewusstsein ist nicht mehr unser, es wird von dem Gegenstande des Gedankens gänzlich eingenommen; der Denker wird zum Gedanken und es ist kein Ich mehr vorhanden. Dasselbe geschieht je- 324 A. Herzen, Die Veränderungen des Selbstbewusstseins. doch nicht bloss in diesen extremen Fällen, sondern auch in jedem Augen- blicke unseres täglichen Lebens, wenn z. B. materielle Schwierigkeiten zu überwinden sind, welche sich der Kundgebung unseres Gedankens entgegensetzen: wenn wir ihn etwa niederschreiben oder erst den Blei- stift spitzen müssen, um ihn zu Papier bringen zu können. Dann be- gleitet unser Selbstbewusstsein nicht mehr ununterbrochen die Gedanken, welche einander folgen, oder vielmehr, dasselbe wird unvollständig, par- tiell.e. Je nachdem wir uns z. B. vorstellen, mit einer wissenschaftlichen Untersuchung oder mit unserer Toilette beschäftigt zu sein, wird der In- halt unseres Bewusstseins ein anderer sein. Derselbe wird bald durch das Bild unseres gesamten Körpers gebildet, der in sitzender Stellung über ein Buch gebeugt ist; bald durch das des Fusses, welcher bestrebt ist, sich in ein neues Schuhwerk zu pressen, und der Hände, welche daran zerren; und diese Zerlegung des Ich wird um so vollständiger sein, je stärker die Aufmerksamkeit auf einen dieser Bruchteile konzen- triert ist. Plötzlich erinnern wir uns dann wieder, dass wir ja wir sind; ein Gesamtbild, schnell entworfen, tritt an die Stelle des Teilbildes, aber das Gesamtbild ist sozusagen bloss eine »Restaurierung« des Individuums, das Gedächtnis »restauriert< dasselbe etwa so, wie der Geologe die fos- silen Tiere auf Grund der spärlichen Überreste restauriert, welche er ausgegraben hat. Es findet eine momentane Synthese der Teilbilder statt, die nach einander das ganze Bewusstsein ausgefüllt hatten und während deren Überwiegen, streng genommen, kein Bewusstsein des Ich vorhan- den war, sondern nur ein Bewusstsein des Denkobjekts, welches sich in diesem besonderen Falle als ein Teil des Ich herausstellte. Die einzigen Gedanken, während deren wir ein lebhaftes Gefühl von unserem Ich behalten, sind diejenigen, von welchen das Gesamtbild unserer eigenen Person einen wesentlichen und notwendigen Teil darstellt. Wenn wir z. B. über gewisse wissenschaftliche Thatsachen nachdenken, über die Hypothesen, zu denen sie Veranlassung gaben, über die Ex- perimente, welche diese Hypothesen bestätigen könnten, über die Folgen, die sich daraus ergeben würden, — dann kommt das Bewusstsein unseres eigenen Ich nicht mit ins Spiel. Allein dies wird anders, sobald wir uns vorstellen, wie ein besonderer Versuch ins Werk zu setzen wäre: das Denken verknüpft sich dann notwendigerweise mit der Vorstellung von den erforderlichen Bewegungen, von ihrer Form, Geschwindigkeit und Energie, mit anderen Worten also mit dem Bilde des in verschie- denen Stellungen und auf verschiedene Weise thätigen Ich, und zwar betrachten wir die Wirkungen der letzteren, die in uns durch eine Reihe von Reflexempfindungen d. h. von auf Grund unserer vorhergegangenen Erfahrung antizipierten Vorstellungen hervorgerufen werden. Ganz be- sonders aber ist dies dann der.Fall, wenn die Empfindung, die man Wille nennt, ins Denken eintritt, denn nun bildet das Ich in Thätig- keit den Hauptgegenstand des Denkens und füllt dasselbe vollständig aus, so sehr, dass, wenn dieser Gedanke aufhörte, ohne dass sogleich ein anderer an seine Stelle träte, das Selbstbewusstsein mit demselben aufhören und gar nichts übrig bleiben würde: unsere innere Thätigkeit, unsere Individualität wären damit verschwunden. Dies geschieht that- A. Herzen, Die Veränderungen des Selbstbewusstseins. 3935 sächlich in dem Augenblicke, wo eine Ohnmacht plötzlich den Gang der Gedanken mehr oder weniger lang und manchmal für immer unter- bricht. Sehen wir jedoch von diesem Ausnahmsfall ab, so wird der Gedanke, in welchen das Ich als Bestandteil eingetreten war, sogleich von einem andern, unpersönlichen ersetzt; nachdem wir über die Aus- führung des Experiments nachgedacht, betrachten wir von neuem die Folgen desselben, und nun verwischt sich die Individualität abermals, das Ich verschwindet. Die Idee des Ich ist also keineswegs ein so konstantes Element des Bewusstseins, als man zu glauben geneigt ist; da sie aber sehr häufig auf- tritt, ja am häufigsten unter allen, weil sie jeden Augenblick durch die interzentrale Reflexthätigkeit (gewöhnlich Ideenassociation genannt) her- vorgerufen wird und sich allen den Gedanken beigesellt, die nachein- ander auftauchen; da ferner die Reflexthätigkeit keine regelmässigere und eingewurzeltere Gewohnheit hat als diejenige, das Ich gleichsam zu vervollständigen, indem sie gleich das Gesamtbild desselben entwirft, so- bald irgend eine Empfindung das Bild eines seiner Teile hervorruft; da es überdies beinahe unvermeidlich ist, dass ein schwaches Aufleuchten des Gesamtbildes jedes Teilbild begleitet (ebenso wie die harmonischen Obertöne, welche den ganzen Akkord bilden, den Grundton begleiten, der durch Anschlagen einer einzigen Saite erzeugt wird); und da end- lich das Gesamtbild fast immer nahezu dasselbe ist, während die Teil- bilder einander folgen — ohne sich zu gleichen — so ist es ganz natür- lich, dass das Gesamtbild vorherrscht im Geiste derjenigen, die nicht gewohnt sind, sich aufmerksam zu beobachten, und dass es die Täusch- ung von einer Kontinuität hervorbringt, die es doch weit entfernt ist, zu haben. So kann das Ich manchmal gänzlich aus der Panästhesie! ent- fallen. Anderseits kann dieselbe manchmal auch gänzlich von einem Teilbild des Ich gebildet sein, und den Charakter des eigentlichen Selbst- bewusstseins nimmt sie erst dann an, wenn das Gesamtbild unseres Ich einen der wesentlichsten Faktoren der Gedanken darstellt, die uns vorherrschend beschäftigen. Sehen wir nun zu, ob das Selbstbewusstsein wenigstens dann, wenn es wirklich auftritt, mit sich selbst identisch ist. | In der Revue philosophigue? von T». Rısor führt H. Taıssz ein langes Citat aus dem Werke des Dr. KrısuABEr über eine Krankheit der Nervenzentren an, welche die Panästhesie der Kranken bedeutend stört und eine mehr oder weniger vollständige Verkehrung der Ideen zur Folge hat, welche sie sich von ihrem Ich bilden. Taımz dringt auf ! Ich schlage das Wort „Panästhesie“ (Gesamtgefühl) vor, um die Ge- samtheit dessen zu bezeichnen, waseinIndividuumineinem gegebenen Augenblicke empfindet. Man bezeichnet denselben Begriff häufig mit dem Worte Cönästhesie (Gemeingefühl), aber dieses scheint mir etymologisch weniger passend, und es hat den Übelstand, dass es auch angewendet wird, um die esrntheit der visceralen oder organischen Empfindungen auszudrücken, — was sehr verschieden ist von dem rein psychologischen Sinne, welchen ich dem Worte Panästhesie beilegen möchte. ®? Vol. II. 1876. 326 A. Herzen, Die Veränderungen des Selbstbewusstseins. den ersten Schlag in die ganze psychologische Tragweite dieser Thatsache ein und schliesst daraus, »dass das Ich, die moralische Persönlichkeit, ein Produkt ist, dessen Empfindungen seine ersten Faktoren sind und das, in verschiedenen Zeitabschnitten betrachtet, nur deswegen dasselbe ist und sich als dasselbe erscheint, weil die es zusammensetzenden Em- pfindungen immer dieselben bleiben; wenn aber diese Empfindungen plötzlich andere werden, so wird auch es ein anderes und erscheint sich als ein anderes; jene müssen erst wieder dieselben werden, da- mit es wieder dasselbe werde und sich selbst aufs neue als dasselbe er- scheine. « Dieser Schluss ist nicht neu für die Physiologie; diese geht sogar noch einen Schritt weiter und behauptet, dass, da die Panästhesie nie- mals wieder genau dieselbe wird, das Ich es ebenfalls nie mehr werde, und dass es folglich in verschiedenen Abschnitten des Lebens be- trächtlich von sich selbst abweiche, so dass das, was in der »Nevropathie cerebro-cardiaque« stattfindet, nur eine Steigerung dessen ist, was im normalen Zustande beständig vor sich geht. Gewöhnlich bleibt das Ich während kürzerer oder längerer Perioden des Lebens ungefähr das- selbe, weil in dieser Zeit das Produkt der gegenwärtigen und ver- gangenen, der peripherischen und zentralen Empfindungen auch un- gefähr dasselbe ist, aber es wird ein anderes, je nachdem dieses Produkt ein anderes wird. Die Modifikationen des Ich hängen manch- mal von physiologischen Bedingungen ab und sind dann langsam und stufenweise (Übergang von der Kindheit zum Jünglingsalter, von diesem zum reifen Alter, von diesem zum Greisenalter), bald von toxikologischen Bedingungen und dann sind sie plötzlich und tief eingreifend, wie die Wirkung der Substanzen, welche sie hervorbringen (Einfluss von Alkohol, Opium, Morphium, Wein, Kaffee u. s. w., kurz aller sogenannten »Nervina«); endlich sind sie aber auch von pathologischen Bedingungen abhängig und verlaufen alsdann mehr oder weniger rapid, sind anhaltend oder remit- tierend in wechselnder oder gleichbleibender Stärke, je nach dem Sitz, dem Wesen und dem Gang der Krankheit im einzelnen Falle. Wir kommen später auf diesen Punkt zurück ; hier sei nur noch darauf hin- gewiesen, wie uns oft sogar die gewöhnlichen physiologischen Veränder- ungen des Ich in Erstaunen setzen und wir manchmal nicht geringe Mühe haben, uns selbst in einer der Phasen unserer Vergangenheit necmackennen, J. Forster hat dieser Thatsache in folgenden Worten humoristischen Ausdruck verliehen: »Im Laufe eines langen Lebens, « sagt er, »kann ein Mensch successive mehrere Personen sein, die ein- ander so wenig ähnlich sind, dass, wenn jede einzelne Phase dieses Lebens sich in einem besonderen Individuum verkörpern könnte und man sodann diese Leute zusammenbrächte, dieselben eine sehr heterogene Gesellschaft bilden, sich gegenseitig heftig widersprechen, einander gründ- lich verachten und sobald als möglich wieder auseinander laufen würden, ohne zu wünschen, sich jemals wieder zu sehen.« Man wird uns vielleicht entgegenhalten: wenn das Ich nur eine unterbrochene und wechselnde Form der Panästhesie wäre, so könnte es uns doch nur ein Chaos von Einzelbildern ohne verbindendes Band lie- A. Herzen, Die Veränderungen des Selbstbewusstseins. 327 fern, gleichsam einen Haufen farbiger Steinchen, aus denen sich zwar ein Mosaik zusammensetzen liesse, die aber ohne jegliche Ordnung und ohne Beziehung zu einander herumliegen. Diesen Einwurf weise ich ein- fach als nicht stichhaltig zurück. Mit der moralischen Persönlichkeit verhält es sich genau wie mit der physischen: die Einheit und die Kon- tinuität des psychischen Ich, soweit dieselben überhaupt wirklich be- stehen, werden ja durch die vorstehenden Bemerkungen keineswegs ge- fährdet — jedenfalls ebensowenig wie die Einheit und die Kontinuität des körperlichen Ich (welche doch niemand bestreitet) gefährdet werden durch die unaufhörliche Auswechselung von Baustoffen zwischen dem Körper und der Aussenwelt. Dazu kommt, dass sich die Veränderungen, welche die psychische Persönlichkeit erleidet, gleich denen der physischen Persönlichkeit, von Ausnahmefällen abgesehen, nur nach längeren Zeit- räumen erkennen lassen und dass wir stets geneigt sind, sie abzuleugnen, sie für nicht vorhanden oder mindestens für unbedeutend zu halten, bis zu dem Augenblicke, wo sie sich uns unabweisbar aufdrängen und uns veranlassen, beschämt die Augen niederzuschlagen — manchmal wohl auch, sie freudig zu erheben. Dank der Aufzeichnung der empfangenen Eindrücke in den zen- tralen Elementen und dank dem Mechanismus der Reflexempfindungen, welche zusammen das Gedächtnis darstellen, folgt auf jede Empfindung unmittelbar die Vorstellung von vielen andern früheren; diese rufen ihrer- seits ein Bild von zahlreichen noch älteren hervor u. s. w. Diese Erinnerungen an unsere aufeinanderfolgenden Bewusstseinszustände, zu- sammengruppiert und zu einem Ganzen verschmolzen, sind es, welche bedingen, dass das Ich sich immer mehr vervollständigt und sich in- mitten aller seiner Wechselfälle stets wiedererkennt, gleichzeitig an den verschiedensten Phasen seiner Entwickelung Anteil nimmt und mehr oder weniger lebhaft empfindet, dass es die Fortsetzung dessen bildet, was es war, wenn es auch nicht mehr genau dasselbe und manchmal sogar ein anderes ist. Würde es sich nicht erinnern, etwas anderes ge- wesen zu sein, so wüsste es ja auch nicht, dass es im Grunde dasselbe geblieben ist; und in der That fehlt ihm geradezu das Gefühl seiner Kontinuität und seiner Einheit vollständig, sobald das Gedächtnis seinen Dienst versagt. Dieses Gefühl fehlt uns durchaus für die erste Periode unseres Lebens; wir besitzen nur eine nachträgliche, durch »Hörensagen«e und durch Analogie erworbene Vorstellung davon, dass wir die Fortsetzung des kleinen Wesens sind, dem unsere Mutter das Leben gab; nur durch Überlegung gelangen wir zu diesem Schluss, das Gefühl aber, jenes Wesen gewesen zu sein, mangelt absolut und beginnt wie gesagt erst mit der ersten klaren und dauernden Erinnerung an einen bestimmt wahrgenommenen und gehörig eingeprägten Bewusstseinszustand. Aus dieser Darlegung ergibt sich, dass die Gruppe von Erschein- ungen, welche wir das Ich nennen, nichts anderes ist als die Pan- ästhesie in den Zeiten, wo sie nicht unpersönlich ist; dass die Kontinuität und Einheit des Ich, beide in hohem Grade relativ, ausschliesslich auf dem Gedächtnis beruhen; endlich, dass seine Identität nichts weiter ist als eine mehr oder weniger lang anhaltende Täuschung. 328 A. Herzen, Die Veränderungen des Selbstbewusstseins. So zwingend auch diese Folgerung ist, so dürfte es doch nicht überflüssig sein, einige Beispiele zu ihrer Bestätigung anzuführen. Unter diesen werde ich jedoch die durch Giftwirkungen hervorgerufenen Ver- änderungen des Ich ganz bei Seite lassen: dieselben sind jedermann zu genau bekannt, als dass es nötig wäre, sie besonders hervorzuheben. Ich beschränke mich daher vorzugsweise auf seine pathologischen Ver- änderungen. Unter seinen physiologischen Umgestaltungen ist am auffallendsten diejenige, welche in der Pubertätsperiode eintritt. Niemand bezweifelt die tiefgreifenden Veränderungen, welche alsdann im körperlichen Ich Platz greifen; davon aber, dass die sie begleitenden psychischen Ver- änderungen nicht minder bedeutsam sind, gibt man sich im allgemeinen keine Rechenschaft. Hören wir, wie sich über diesen Punkt einer der berühmtesten Irrenärzte ausspricht, den leider ein vorzeitiger Tod der Wissenschaft entrissen hat, W. GrissinGer!: »Eines der deutlichsten und lehrreichsten Beispiele einer noch dem physiologischen Gebiete an- gehörenden Erneuerung und Umwandlung des Ich, mit Rücksicht auf die Ursachen des Irrsinns betrachtet, bietet uns das Studium jener Seelen- erscheinungen dar, welche mit der Mannbarkeit hervortreten. Damit, dass gewisse Körperteile, die bis dahin in vollkommener Ruhe verharrt hatten, in dieser Epoche des Lebens in Thätigkeit treten und überhaupt eine vollständige Umwälzung im ganzen Organismus sich vollzieht, gehen auch in verhältnismässsig kurzer Zeit grosse Massen von Bewegungs- empfindungen in den Bewusstseinszustand ein. Sie durchdringen nach und nach den bisherigen Ideenkreis und bilden schliesslich einen in- - tegrierenden Bestandteil des Ich; dieses wird hierdurch zu etwas ganz anderem, es erneuert und verjüngt sich und das Selbstgefühl erfährt eine gründliche Umgestaltung. Allein so lange freilich die Assimilation der neuen Elemente nicht vollständig durchgeführt ist, können sich diese Durchdringungen und diese Zersetzung des ursprünglichen Ich kaum voll- ziehen, ohne dass stürmische Bewegungen in unserem Bewusstsein ent- stehen, ohne dass dieses eine gewaltsame Erschütterung erleidet, mit andern Worten ohne dass in unserer Seele eine Menge der verschieden- artigsten Erregungen auftauchen. Dieser Lebensabschnitt ist es auch hauptsächlich, in welchem man so häufig das Auftreten innerer Gemüts- bewegungen ohne äusseren Anlass beobachten kann.« Gehen wir nun zu den pathologischen Umwandlungen des Ich über. Dieselben sind noch auffälliger, weil sie plötzlicher und mannigfal- tiger sind. Im Jahr 1875 veröffentlichte Dr. KrısHuAgeErR eine Monographie über einen Krankheitszustand, den er »Neuropathia cerebro-cardiaca« nennt. Die Ursache dieser Krankheit scheint in einer plötzlichen Er- nährungsstörung der sensorischen Zentren zu liegen, die wahrscheinlich auf lokaler krampfhafter Zusammenziehung der Blutgefässe beruht, wäh- rend die höheren Zentren, die Grosshirnwindungen in normalem Zustand verbleiben. Dies führt dann zu einer Verdrehung der Empfindungen, ı Handbuch der Geisteskrankheiten. A. Herzen, Die Veränderungen des Selbstbewusstseins. 329 d. h. der Elemente des Verstandes; dieser fährt zwar, insoweit er als logischer Mechanismus in betracht kommt, ganz regelmässig zu funktio- nieren fort und gelangt gleichwohl zu falschen Resultaten, weil er ge- zwungen ist, falsche Daten zu verarbeiten, und somit seine logisch ganz richtigen Folgerungen auf irrtümlichen Voraussetzungen beruhen. Der Kranke ist nicht etwa verrückt: im Anfang berichtigt er sogar selbst die falschen Anschauungen, zu denen ihn die Fremdartigkeit seiner Eindrücke verleitet; er sträubt sich gegen diese Anschauungen und erklärt sie für Täuschungen — allein zuletzt erschöpft sich sein altes Ich und unter- liegt: er glaubt sich in eine andere Welt versetzt, dann glaubt er gar nicht mehr zu existieren, endlich glaubt er ein anderer zu sein. Be- züglich der Einzelheiten verweise ich auf den Artikel von Taıse und das Buch von Dr. KrısHABeEr. In anderen Fällen handelt es sich umgekehrt um eine lokale oder reflektorisch hervorgerufene Veränderung der Rindenzentren. Hier sind die Empfindungen als Elemente des Verstandes ungestört geblieben und es ist der Verstand selbst, welcher durch die krankhafte Thätigkeit seines Mechanismus gefälscht wurde. Ich wähle als besonders lehrreich ein Beispiel von solcher Er- krankung mit intermittierenden Symptomen aus, welche jene merkwür- dige Erscheinung bedingen, die man als doppeltes Bewusstsein be- zeichnet. In der »Revue scientifique« v. J. 1876 machte Dr. Azam den fol- genden Fall bekannt: Felida macht abwechselnd Zeiten von schweigsamer Traurigkeit und Zeiten von Frohsinn und Gesprächigkeit durch; die er- steren werden aber immer häufiger und stellen schliesslich ihren gewöhn- lichen Zustand dar, um nur in seltenen Zwischenzeiten einer vorüber- gehenden Fröhlichkeit Platz zu machen. Während der traurigen Perioden hat sie keinerlei Erinnerung an die Zeiten der Fröhlichkeit, welche dann wie aus ihrem Bewusstsein ausgelöscht sind; während der fröhlichen Zeiten dagegen erinnert sie sich der traurigen Perioden, jedenfalls aber hält sie, so lange sie sich in einem der beiden Zustände befindet, stets diesen bestimmt für ihren Normalzustand und bezeichnet den andern als »ihre Krankheit«. Dr. Azam glaubt, es handle sich um Amnesie (Ge- dächtnisschwäche), dabei hält er aber Felidas fröhliche Perioden für pathologisch und schreibt ihre Ursache einer Zusammenziehung der Blutgefässe in den Rindenschichten des Grosshirns zu. Ich erlaube mir hierüber einige Zweifel zu äussern: wenn wirklich Amnesie vorliegt, so besteht sie jedenfalls nicht während der fröhlichen Perioden, in denen sich ja Felida ihrer traurigen Zeiten erinnert, sondern vielmehr während der letzteren: diese also stellen den krankhaften Zustand dar und wir haben keinen Grund, ihren fröhlichen Zustand für pathologisch zu er- klären. In der That gehören ja auch alle andern hysterischen Sym- ptome, an denen sie leidet, mit Einschluss der Amnesie durchaus den traurigen Zeiten an, und der ganze Verlauf der Krankheit scheint mir anzudeuten, dass der schweigsame und hysterische Zustand sich während der Pubertätsperiode langsam entwickelt und lange fortgedauert hat, um nur noch von Zeit zu Zeit durch kurze fröhliche und nicht hysterische 330 A. Herzen, Die Veränderungen des Selbstbewusstseins. Perioden unterbrochen zu werden, welche jedesmal eine vorübergehende Rückkehr in den Normalzustand darstellen. Dies wird noch wahrschein- licher durch die Thatsache, dass in einem gewissen Alter diese Rück- schläge häufiger und anhaltender wurden, was eine günstige Prognose stellen lässt und zu der Hoffnung berechtigt, die völlige Heilung werde mit dem Zeitpunkt zusammenfallen, wo das definitive Aufhören einer wichtigen periodischen Funktion des weiblichen Organismus in der Regel auch das Verschwinden der sogenannten hysterischen Erscheinungen nach sich zieht. Wie dem auch sei, uns ist hier zunächst von Wichtigkeit, dass der Unterschied in der Gesamtrichtung ihrer Gefühle und Gedanken, mit einem Wort in ihrem Ich während der abwechselnden Perioden augen- scheinlich daher stammt, dass eben jede ihrer beiden Perioden durch ihre besondere Panästhesie ausgezeichnet ist und dass jeder Panästhesie ein besonderes Ich entspricht. Nun betrachtet Felida, so lange sie sich in einem der beiden Zustände befindet, jedes dieser beiden Ich als ihr eigentliches normales Ich; sie hat also thatsächlich zwei Bewusstseine, welche je nach dem Zustand, den die krankhaften Einflüsse in ihrem Gehirn hervorrufen, mit einander abwechseln. Das eine dieser beiden Bewusstseine ist dem andern vollständig fremd, weil dieses von der Existenz des ersteren nichts weiss; dieses dagegen kennt das letztere, jedoch nur, um es zu verleugnen und als etwas Krankhaftes zurückzuweisen. Felida weiss während einer dieser Perioden, dass sie stets dieselbe ist, einzig deshalb, weil sie sich erinnern kann, manchmal eine andere zu sein; in der andern Periode weiss sie davon nichts. Im ersten Falle ist es die Identität des Ich, welche leidet, im zweiten ist es seine Kon- tinuität, welche aufgehoben ist. Was müsste nun eintreten, wenn der letztere Zustand zum dauern- den würde? P. Janer hat im Hinblick auf diese wichtige Frage einen Artikel über die Vorstellung von der Persönlichkeit geschrieben, worin er den Fall einer Fischhändlerin anführt, welche glaubte, Marie-Louise b geworden zu sein, zugleich aber sich erinnerte, dass sie Fischhänd- lerin gewesen war; er bemerkt hiezu: »In diesem Falle erkennt man deutlich die Fortdauer des wesentlichen Ich in der Veränderung des äusserlichen Ich. Denn es war doch wohl augenscheinlich dasselbe Ich, das sich für Marie-Louise hielt und das sich erinnerte, Fischhändlerin gewesen zu sein.< Das Gedächtnis also stellt P. Janer als absolute Bedingung der behaupteten Identität des Ich hin. Daraus folgt, dass, wenn die Fischhändlerin eines Tages ihren früheren Zustand ganz ver- gässe, ihr »wesentliches«e Ich in diesem Falle ipso facto aufhören würde zu existieren; ihr »äusserliches« oder accessorisches Ich würde dann offenbar zum wesentlichen werden. Dies sagt freilich der Verfasser nicht, dazu ist er zu sehr Spiritualist; glücklicherweise aber ist die Folgerung so selbstverständlich, dass es beinahe überflüssig erscheint, sie besonders auszusprechen. Immerhin ist es hier wie bei Felida doch nur eine sehr wahrscheinliche Annahme, ich halte es daher für ange- zeigt, noch einige Beispiele zu citieren, um darzuthun, dass wirklich dieser Fall eintritt, wenn die Veränderung in den Gehirnzentren nicht vorüber- A. Herzen, Die Veränderungen des Selbstbewusstseins. 331 gehend oder periodisch, sondern dauernd und definitiv ist, wenigstens mit bezug auf die zentralen Elemente, welche zu dem verschwundenen Ich beigetragen hatten, das nun vollständig durch ein neues Ich ver- drängt ist, und zwar ohne dass das Individuum sich nun in einem pa- thologischen Zustand befände. Sonst würde es ja genügen, einige Fälle von unheilbarem Irrsinn anzuführen. Ich möchte aber einleuchtend machen, nicht allein dass ein Individuum sein vergangenes Ich wegen krankhafter Entartung des grössten Teils der dazu beitragenden zentralen Elemente vollständig verlieren kann, sondern auch und insbesondere dass in demselben Masse, als immer neue Elemente ins Spiel kommen und die Ausarbeitung eines andern Ich beginnen, das Individuum zuletzt in immer vollständigeren und dauernderen Besitz eines neuen Ich gelangt, das vom ersten absolut verschieden ist und nicht die geringste Vorstellung davon hat, jemals mit demselben in irgend welcher Beziehung gestanden zu haben. Der Mechanismus des Gehirns kann Beschädigungen verschiedener Art erleiden; gleich einer Uhr kann er stillstehen, entweder weil ein fremder Körper eingedrungen ist und sein Räderwerk gehemmt hat (dies entspricht den auf Giftwirkung beruhenden Veränderungen der Gehirn- thätigkeit), oder weil eine Feder, ein Rad verschoben ist (so bei Ge- hirnerschütterung durch traumatischen Einfluss), oder endlich weil einer oder mehrere seiner Bestandteile, manchmal sogar alle zerstört worden sind (so bei der partiellen oder totalen dauernden Amnesie). Dieser grobe Vergleich soll nichts weiter als auf die Möglichkeit einer mehr oder weniger langsamen und vollständigen Wiederherstellung in einer grossen Zahl ähnlicher Krankheitsfälle und der Fortdauer des patholo- gischen Zustandes in anderen, allerdings sehr seltenen Fällen hinweisen. Ein Beispiel: Dr. Hoy berichtet von einem 19jährigen jungen Manne, welcher das Bewusstsein verloren hatte infolge eines Schlages, den ihm eine Stute namens Dolly versetzt, wodurch sein Schädel eingedrückt worden war. Sobald das Knochenstück entfernt war, rief er laut: »Ho, Dolly!« und schaute überrascht um sich, voll Verwunderung über das, was mit ihm vorging. Seit dem Unglück waren bereits drei Stunden verflossen, der Patient hatte aber nicht die geringste Ahnung davon, wusste auch nicht einmal, dass die Stute ihn geschlagen: das letzte, dessen er sich erinnerte, war, dass die Stute ihm das Hinterteil zu- kehrte und ihre Ohren nach hinten senkte'. — Eine junge Frau, die ihren Mann leidenschaftlich liebte, wurde bei ihrer Entbindung von einer langen Ohnmacht ergriffen, infolge deren sie die Erinnerung an die ganze Zeit verlor, welche seit ihrer Verheiratung, mit Einschluss der letzteren, ‚verstrichen war. Ihres ganzen übrigen Lebens bis zu diesem Zeitpunkte wusste sie sich ganz genau zu erinnern. ... Sie stiess mit Schrecken ihren Gatten und ihr Kind zurück und erlangte nie wieder die Erinner- ung an diesen Abschnitt ihres Lebens. Ihre Verwandten und Freunde kommen herbei, um sie zu überzeugen, dass sie verheiratet ist und ein Kind hat, und sie gibt sich alle Mühe, es zu glauben, weil sie doch ! Citiert von Maudsley in „Pathologie de l’Esprit“, p. 10. 332 A. Herzen, Die Veränderungen des Selbstbewusstseins. lieber annehmen will, sie habe die Erinnerung an einen Teil ihres Lebens verloren, als sie alle für Betrüger zu halten. Allein ihre Über- zeugung, ihr innerstes Bewusstsein bleibt trotz alledem dasselbe: sie sieht ihren Mann und ihr Kind vor sich, ohne sich vorstellen zu können, durch welchen Zauber sie zu jenem gekommen und diesem das Leben gegeben hat!. Diese beiden Beispiele zeigen deutlich, dass die ver- 'schobenen Räder manchmal wieder in ihre richtige Stelle einrücken, manchmal aber auch einige auf die Dauer ausfallen können — ohne jedoch die übrigen an ihrem Gange zu hindern. Das folgende Beispiel dagegen wird zeigen, dass das Instrument unseres Gehirns auch umge- stimmt werden kann, so dass es abwechselnd zwei Musikstücke spielt, die gar nichts mit einander gemein haben: es ist gewissermassen der Fall von Felida in gesteigerter und vervollständister Form. »Eine junge Amerikanerin verlor nach einem anhaltenden Schlafe jede Erinnerung an das, was sie früher gelernt hatte. Ihr Gedächtnis war einfach zur ta- bula rasa geworden. Man musste sie alles von vorne wieder lehren. So hatte sie sich allmählich wieder ans buchstabieren, lesen, schreiben, rechnen zu gewöhnen und die Dinge und Personen ihrer Umgebung kennen zu lernen. Nach einigen Monaten verfiel sie abermals in einen tiefen Schlaf, und als sie daraus erwachte, war sie wieder dieselbe wie vor dem ersten Schlafe: sie hatte alle ihre Kenntnisse und die Erinner- ung an ihre ganze Jugend wieder, dagegen war ihr vollständig ent- schwunden, was zwischen den beiden Anfällen geschehen war. Im Ver- lauf von mehr als vier Jahren ging sie dann abwechselnd aus dem einen in den andern Zustand über, jedesmal infolge eines langen, tiefen Schlafes.... Sie hat ebensowenig ein Bewusstsein von ihrer doppelten Persönlichkeit, als zwei verschiedene Menschen gegenseitig ein solches von der des andern haben können. So stehen ihr z. B. im früheren Zustand alle ihre ursprünglich erworbenen Kenntnisse zur Verfügung. Im neuen Zustande aber besitzt sie nur diejenigen, die sie seit ihrer Krankheit erwerben konnte, und dies geht bis in die kleinsten Einzel- heiten ihres Verhaltens hinein: im alten Zustand hat sie eine schöne Schrift, im neuen dagegen ist dieselbe sehr steif und ungeschickt, da sie eben noch zu wenig Zeit zum Üben gehabt. Wird ihr jemand in dem einen ihrer beiden Zustände vorgestellt, so genügt dies nicht, sie muss ihn, um ihn gehörig zu kennen, in beiden Zuständen gesehen haben. Und dasselbe gilt für alles andere ?.« Um sich die vollständige und bleibende Umgestaltung des Ich und die dauernde Ersetzung des verschwundenen Ich durch eine neue Per- sönlichkeit ganz zu vergegenwärtigen, bedarf es nur noch eines Schrittes: es genügt, wenn die Störung im Gehirn derart ist, dass die Rückkehr zum ursprünglichen Ich für immer unmöglich gemacht ist. Hier ein merkwürdiges Beispiel dieser Art®. Eine Engländerin, Frau H., 24 Jahre alt, seit einem Jahre verheiratet, erfreute sich bis zu ihrer Verheiratung ! Citiert von Ribot „Maladies de la Me&moire“, p. 61. 2 Nach Macnish, in Taine, „De YIntelligence“, 'T. TI, p. 165 undın Combe, „System of Phrenology“, p. 173. > Nach dem Bericht von Carpenter in „The Brain“, April 1869. A. Herzen, Die Veränderungen des Selbstbewusstseins. 333 und auch noch einige Monate nachher einer vollständigen Gesundheit, obgleich sie im allgemeinen von zarter Konstitution war. Nun aber be- gann sie den Appetit zu verlieren, an Melancholie zu leiden und länger zu schlafen als gewöhnlich. Von einer Luftveränderung günstige Wirk- ung hoffend, begab sie sich nach Schottland, wo sie von Professor Starrey beobachtet wurde, der ihren allgemeinen Zustand befriedigend fand, auf psychischem Gebiete aber eine Schwächung des Gedächtnisses und der Aufmerksamkeit und eine gesteigerte Schlafsucht konstatierte. Bald nahm die letztere so zu, dass Frau H. manchmal zu jeder beliebigen Stunde und in jeder Lage in einen tiefen traumlosen Schlaf verfiel, der nur von Zeit zu Zeit durch ein allgemeines Zucken und unzusammen- hängende Worte unterbrochen wurde; nach dem Aufwachen hatte sie gar keine Erinnerung an das, was geschehen war und was sie gesprochen hatte. Letzteres waren stets Ausrufungen des Abscheus und Schreckens, die sie fast unabänderlich in denselben Worten ausdrückte. Um sie zu wecken, gab es nur ein Mittel: man musste sie aufrecht auf die Füsse stellen und zum Gehen veranlassen; allein jedesmal, wenn sie auf diese Weise geweckt worden war, zeigte sie sich unruhig und betrübt und weinte lange. Im Mai steigerten sich die Symptome: es wurde täglich schwieriger, sie zu wecken, und schliesslich in den ersten Tagen des Juni gelang dies gar nicht mehr. So schlief sie denn, abgesehen von einigen kurzen Augenblicken des Erwachens in seltenen Pausen, ununter- brochen bis Anfang August. Während dieses zweimonatlichen Schlafes wurde sie auf die Weise ernährt, dass man ihr flüssige Nahr- ungsmittel löffelweise einflösste. Sobald der Löffel ihre Lippen berührte, öffnete sie den Mund und schluckte die Flüssigkeit hinunter; war sie gesättigt, so biss sie die Zähne aufeinander und wendete, wenn man sie weiter nötigen wollte, das Gesicht ab. Sie schien auch den Ge- schmack zu unterscheiden, denn gewisse Speisen verweigerte sie hart- näckig. Von Zeit zu Zeit äusserte sie dieselben Worte wie früher, je- doch mit dem höchst sonderbaren Unterschied, dass sie dieselben nun mit einem Ausdruck der Befriedigung aussprach oder sie nach einer sanften Melodie sang. Dieser Schlaf wurde nur zeitweilig durch einige schmerzhafte Empfindungen unterbrochen; so hatte man ihr z. B. ein- mal, zehn Tage nach dem Beginn ihrer Lethargie, eine Arznei eingegeben, welche ihr Leibschmerzen verursachte; da erwachte sie mit dem Rufe: Schmerzen, Schmerzen; ich sterbe! und hielt sich den Leib mit den Händen. Nachdem man sie durch warme Überschläge beruhigt, blieb sie mehrere Stunden wach, während deren sie auf keine Frage antwortete und niemand erkannte, ausser eine alte Freundin, welche sie ein Jahr lang nicht gesehen hatte. Sie betrachtete dieselbe lange, dann ergriff sie mit dem Ausdruck lebhafter Freude ihre Hände; endlich sprach sie den Namen dieser Person aus, wiederholte denselben unaufhörlich und fuhr damit sogar noch fort, nachdem sie wieder eingeschlafen war. Gegen Ende Juli wurde der Schlaf weniger tief, die Kranke gab Zeichen von sich, die annehmen liessen, dass sie nicht mehr so gänzlich unbewusst war; es wurde auch möglich, sie aufzuwecken, indem man ihre Augen öffnete und ihr einen Gegenstand zeigte, der ihren Blick zu fesseln ge- 334 A. Herzen, Die Veränderungen des Selbstbewusstseins. eignet war. Dann lächelte sie und war offenbar sehr vergnügt; ihre ganze Aufmerksamkeit schien auf den Gegenstand und die Person, welche denselben hielt, konzentriert zu sein, aber sie sprach noch nicht und antwortete auf keine Frage. Endlich gegen Anfang August wurden die Unterbrechungen ihres Schlafes immer länger und zuletzt schlief sie nicht mehr als im normalen Zustande. Jetzt erst wurde man einer höchst überraschenden Erscheinung in ihrem psychischen Leben gewahr: sie hatte alles vollkommen vergessen, ihr Seelenleben war eine vollständige tabula rasa, sie wusste so sehr gar nichts mehr, dass alles ihr neu war; sie erkannte niemand, selbst ihren Gatten nicht. Dabei war sie fröhlich, unaufmerksam, zerstreut und unruhig und schien von allem, was sie sah und hörte, entzückt zu sein — ganz wie ein kleines Kind. Allmählich wurde sie ruhiger, ernster und aufmerksamer, ihr Gedächtnis, das für ihr ganzes früheres Leben mit Einschluss des Schlafzustandes vollständig ausgelöscht war, zeigte sich im jetzigen Leben sehr lebhaft. So konnte man denn ihre Erziehung von neuem beginnen. Sie eignete sich einen Teil dessen, was sie gewusst hatte, in einigen Fällen mit der grössten Leichtigkeit an, in andern wurde es ihr schwerer; bemerkens- wert ist aber, dass, obschon das zur Wiedererlangung ihres früheren Wissens eingeschlagene Verfahren weniger darin bestanden zu haben scheint, es von neuem zu lernen, als ihr dasselbe mit Hilfe ihrer näch- sten Umgebung ins Gedächtnis zurückzurufen, sie dennoch auch hierbei offenbar nicht das geringste Bewusstsein davon hatte, all das schon früher innegehabt zu haben. Ausserdem erkennt sie niemand, selbst ihre nächsten Verwandten nicht, d. h. sie hat durchaus keine Erinner- ung, sie vor ihrer Krankheit gekannt zu haben. Jetzt bezeichnet sie dieselben entweder mit ihren richtigen Namen, die man sie erst lehren musste, oder mit Namen von eigener Erfindung, stets aber betrachtet sie sie als neue Bekanntschaften und hat keine Vorstellung davon, dass sie mit ihnen verwandt ist. Überhaupt hat sie seit ihrer Krankheit nur etwa ein Dutzend Personen gesehen und das ist für sie alles, was sie jemals gekannt zu haben meint. Sie hat auch wieder lesen gelernt, aber man musste mit dem ABC anfangen, denn sie kannte nicht einen einzigen Buchstaben mehr; dann lernte sie Silben und Wörter bilden und jetzt liest sie ganz ordentlich. Um schreiben zu lernen, begann sie mit den allereinfachsten Übungen, aber sie machte viel raschere Fort- schritte, als jemand machen würde, der es noch gar nie gekonnt hätte. Die Förderung, welche ihr bei der Arbeit des Wiederlernens ihre früheren Kenntnisse gewähren, von denen sie doch gar kein Bewusstsein hat, er- wies sich ganz besonders wirksam bei der Musik, ja der Mechanismus der Ausübung musikälischer Fertigkeiten scheint beinahe intakt geblieben zu sein. Und überdies scheint sie noch einige allgemeine Ideen von mehr oder weniger verwickelter Art zu besitzen, welche sie seit ihrer Genesung keine Gelegenheit gehabt hat, sich anzueignen. Nach Verlauf einer verhältnismässig ziemlich kurzen Zeit gelangte sie allmählich wie- der in einen vollständig normalen Zustand und erfreute sich einer ge- nügenden Bildung, aber nie hatte sie auch nur eine Spur von Erinner- ung daran, dass sie die wiedererworbenen Kenntnisse schon einmal be- A. Herzen, Die Veränderungen des Selbstbewusstseins. 335 sessen oder bereits ein anderes Leben gelebt. Ihr zweites, ziemlich langes Leben war ein in jeder Hinsicht normales Leben; sie war eine treffliche Gattin und Mutter und war noch in späten Jahren allgemein beliebt durch ihre geistigen und moralischen Eigenschaften und ihren Eifer in der Wohlthätigkeit. Dies einige extreme Fälle von durch Veränderungen des physi- schen Ich verursachten Veränderungen des psychischen Ich. Zwischen diesen äussersten Grenzen der Variation und der beständigen Behaup- tung eines normalen Ich, welches stets dasselbe bleibt, gibt es alle möglichen Abstufungen und Nüancen, denn die Form, welche der psy- chische Ausdruck der Individualität annimmt, ist ein getreues Spiegel- bild dessen, was in ihrer körperlichen Ausdrucksform, im Zustande und in der Thätigkeit des Organismus vor sich geht: — der Organismus ist die Persönlichkeit selber und das Bewusstsein sorgt nur dafür, uns dies zu sagen. Die Einheit des Ich ist daher niemals voll- ständig, immer besteht eine mehr oder weniger tiefgehende Spaltung desselben. Jedes Teil-Ich vertritt gleichsam eine der vorwiegenden Ten- denzen des Individuums; man denke nur an die Verschiedenheiten und Gegensätze zwischen dem privaten und dem öffentlichen oder militärischen Ich einer und derselben Persönlichkeit, an das Ich manches Gatten und Familienvaters und das Ich desselben Mannes, wenn er sich dem Trunk, dem Spiel oder anderen Ausschweifungen ergibt; oder an das Ich des Frommen, während er betet, und das Ich eben dieses Menschen, wenn er seinem Nächsten bei Gelegenheit eines vorteilhaften Geschäftes das Fell über die Ohren zieht. Man möchte fast sagen: die Seele kann sich ebensogut maskieren, wie der Körper, bald die Uniform und bald die Soutane anzieht. Hier wie überall stellt der pathologische Zustand nur eine Abweichung vom Normalzustand dar; dieser zeigt uns im kleinen, was jener übertrieben vergrössert. In der That erreicht ja auch der Mensch eine um so vollkommenere Einheit seines Wesens, je mehr sein Charakter ein Ganzes ist, je weniger tiefgreifende Umwandlungen er während seines Lebens erlitten hat, je geringer der Unterschied zwischen seinem gewöhnlichen einfachen Ich und dem Ich seines Berufes, seiner politischen Thätigkeit oder seiner religiösen Richtung, und vor allem je vollständiger die Harmonie zwischen seinen sittlichen Anschauungen und seinem Handeln. Diese Harmonie zu entwickeln und damit jene Einheit zu kräftigen und zu fördern — dies muss das wesentlichste Ziel der Erziehung im weitesten Sinne des Wortes sein. Die Schwere oder das Wirksamwerden der potentiellen Energie. Von Baron N. Dellingshausen. (Fortsetzung.) IT Der Weltäther und die Gravitationswellen. Wie in allen modernen Gravitationslehren, welche eine unvermittelt in die Ferne wirkende Anziehungskraft nicht mehr anerkennen, wird auch in der kinetischen Naturlehre die Existenz eines den unendlichen Welt- raum erfüllenden, kosmischen Mittels — des Weltäthers — voraus- gesetzt. Zu dieser Annahme sind wir durch viele Thatsachen berechtigt. Zunächst sind es die Lichterscheinungen, die den Beweis liefern, dass der Weltraum nicht absolut leer sein kann, da die Lichtwellen, welche von der Sonne und den Fixsternen ausgehen und bis zu uns gelangen, notwendigerweise eines Substrates zu ihrer Fortpflanzung bedürfen; ferner deuten die Abkürzungen, welche an der Umlaufszeit des Enke- schen Kometen beobachtet worden sind, auf einen Widerstand hin, der nur einem interstellaren Mittel zugeschrieben werden kann; schliesslich sind es die Erscheinungen der Schwere selbst, welche unbedingt die An- nahme eines Vermittlers bei den Wechselwirkungen der Weltkörper unter- einander erfordern. Die Existenz eines kosmischen Mittels vorausgesetzt, kommt es zu- nächst darauf an, sich eine richtige Vorstellung von demselben zu bil- den. Nun sind wir aber leider nicht in der Lage, uns mit unsern phy- sikalischen Apparaten in den Weltraum zu versetzen, um direkte Be- obachtungen über den Weltäther anzustellen, wir können aber aus den Eigenschaften unserer irdischen Atmosphäre einige Schlussfolgerungen ziehen, welche wohl geeignet sind, uns ein Bild von dem zu geben, was den Weltraum erfüllt. N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden etc. I. 337 Vor allem erkennen wir, dass der Weltäther weder ein fester, noch ein flüssiger Körper sein kann; als solcher wäre er den Beobach- tungen der Astronomen nicht entgangen und müsste dem Umschwunge der Planeten einen so grossen Widerstand entgegensetzen, dass ihre Be- wegungen um die Sonne unmöglich wären. Der Weltäther kann daher nur ein Gas — vielleicht das vollkommenste aller Gase — sein, was schon daraus hervorgeht, dass er uns als Fortsetzung unserer gas- förmigen, irdischen Atmosphäre entgegentritt. Aus demselben Grunde können die Eigenschaften des Weltäthers — bis auf seine chemische Zusammensetzung — nicht bedeutend von den Eigenschaften unserer Erdatmosphäre in ihren höchsten Regionen abweichen. Von unserer Atmosphäre wissen wir aber, dass ihr Druck mit zu- nehmender Höhe beständig geringer wird, dass derselbe in einer Höhe von 8 Meilen nur noch dem Druck einer Quecksilbersäule von 1 mm Höhe gleich ist, in noch grösseren Höhen sich auch durch die ge- nauesten Apparate nicht mehr nachweisen lässt, und wir müssen daraus schliessen, dass der Druck in dem Weltäther so gering ist, dass er entweder gleich Null oder fast gleich Null angenommen werden kann. Dasselbe gilt auch von der Temperatur des Weltäthers. In un- serer Atmosphäre nimmt die Wärme bekanntlich mit zunehmender Höhe ab, wie man es bereits an den mit ewigem Schnee bedeckten Bergen erkennen kann. Auf dem Fort Reliance in Nordamerika ist eine Tem- peratur von —56,7° C., in Sibirien von —73 °C. beobachtet worden; anderweitige Schätzungen 'haben für den Weltraum noch viel geringere Wärmegrade ergeben, so dass nichts dem entgegensteht, die Tem- peratur des Weltäthers gleich dem absoluten Nullpunkte, d. h. gleich — 273 °C. anzunehmen, eine schreckliche Kälte, die nur durch die von den Weltkörpern ausgehenden und sich im Weltraume kreuzenden Wärmewellen etwas gemildert wird. Aus dem obigen geht hervor, dass der Weltäther nur mit einem Gase verglichen werden kann, welches bei einer sehr geringen Temperatur sich ausserdem noch unter einem sehr geringen Drucke befindet. In einem schreienden Widerspruche mit diesen Thatsachen stehen die Vorstellungen, welche man sich in den modernen Gravitations- theorien über den Weltäther gebildet hat. Nach den Ätherstoss- theorien soll der Weltäther aus Atomen bestehen, die nach allen Rich- tungen den Weltraum durchfliegen und dabei durch ihren Stoss auf die ponderablen Körper die Erscheinungen der Schwere hervorbringen. Diese Lehre haben wir bereits durch den Nachweis widerlegt, dass die Energie, welche die Ätheratome auf die Körper übertragen, und die lebendige Kraft, welche die Körper bei ihrem Fallen erreichen, nicht äquivalent sein können. Aber auch in anderer Beziehung sind die Ätherstosstheorien völlig unhaltbar. Wenn die Erscheinungen der Schwere durch die Äther- atome hervorgebracht werden, so müssen diese durch ihren Stoss einen Druck ausüben können, der grösser ist, als das Gewicht jedes beliebigen Körpers, z. B. grösser als das Gewicht der Cheops-Pyramide oder des Kosmos 1884, I. Bd. (VII. Jahrgang, Bd. XIV). 22 338 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden Mont-Blanc, ja grösser als das Gewicht der ganzen Erde in bezug auf die Sonne u. s. w. Damit aber die Atheratome im stande wären, einen so grossen Druck auszuüben, sind die modernen Gravitationstheorien ge- zwungen, ihnen Geschwindigkeiten zuzuschreiben, die jedes Mass über- steigen. Dadurch wird nur ein neuer Widerspruch begründet. Nach den Grundsätzen der Molekulartheorie nimmt die Temperatur eines Gases mit der Geschwindigkeit seiner Atome zu; der Weltäther müsste daher wegen der ‚rasenden‘ Geschwindigkeit seiner Atome eine Temperatur besitzen, die noch um vieles die Weissglühhitze übersteigt. Trotz der Beliebtheit der Ätherstosstheorien empfinden wir von der hohen Hitze und dem grossen Drucke des Weltäthers nichts, sondern beobachten beim Ersteigen der Berge genau das Gegenteil, nämlich eine Abnahme der Wärme und des Druckes. Ein ähnlicher Widerspruch findet sich auch in der Anderssohn- schen Theorie des Massendruckes. Nach dieser Theorie ist der Welt- äther allerdings nur der Träger der Wellen, durch welche die Weltkörper einen Druck auf einander ausüben; dieser Druck müsste aber doch ein gewaltiger sein, wenn seine Differenz auf den verschiedenen Seiten eines Weltkörpers dazu genügte, diesen nicht allein von der geraden Richtung seiner Bewegung abzulenken, sondern ihn auch beständig auf seiner Bahn weiterzuschieben — und ist daher unvereinbar mit der Widerstands- losigkeit des Weltraumes gegen die Bewegungen der Planeten. Ganz anders ist dagegen das Verfahren der kinetischen Natur- lehre; vor allem enthält sie sich jeder Hypothese über Atome, Kräfte u. s. w. und geht einfach von der gegebenerf Thatsache aus, dass der Weltäther ein Gas ist, unter sehr geringem Drucke und von sehr ge- ringer Temperatur, von dem man sich daher auch keine andere Vor- stellung bilden darf als von den übrigen Gasen oder den Körpern überhaupt. Von den Körpern wissen wir aber bereits aus dem vorigen Ab- schnitte, dass sie nicht allein äusserlich in Bewegung begriffen sind, son- dern dass sie sich auch in ihrem Inneren in einem beständigen Bewegungs- zustande befinden. Die inneren Bewegungen der Körper sind aber Ro- tationen, die sich in Schwingungen zerlegen lassen und durch Wellen weiter fortgepflanzt werden. Auf diese Weise wird jeder Punkt zum Ausgangspunkt eines elementaren Wellensystems und beeinflusst dadurch die Bewegungen aller übrigen Punkte im Körper, ja man könnte fast sagen im ganzen Universum. Umgekehrt werden auch die Bewegungen jedes Punktes durch die von den übrigen Punkten ausgehenden Wellen bestimmt und durch die vollkommene Gegenseitigkeit dieser Wechsel- wirkungen die Unvergänglichkeit der Bewegungen in der Welterscheinung begründet. Bei ihrem Zusammentreffen in entgegengesetzter Richtung verwandeln sich die gleichartigen fortschreitenden Wellen in stehende Wellen und bestimmen durch ihre Schwingungsdauer und ihre Energie die Eigen- schaften und die Temperatur der Körper. Bei der Mannigfaltigkeit der Richtungen, in welchen die Wellen sich in den Körpern durchkreuzen, ist es unvermeidlich, dass sie auch in gleicher oder fast gleicher Rich- tung fortschreitend mit entgegengesetzten Phasen oder Geschwindigkeiten der potentiellen Energie. II. 339 zusammentreffen; indem sie dabei, ohne sich zu vernichten, sich gegen- seitig neutralisieren, heben sie ihre Wirkungen nach aussen auf und können daher weder als Druck, noch als Wärme erscheinen. Die Energie der interferierenden und sich gegenseitig neutralisierenden Bewegungen haben wir als potentielle Energie, die Energie der nach allen In- terferenzen übrig bleibenden freien Bewegungen als kinetische Energie bezeichnet. Die Summe beider ist die Totalenergie der Körper. Genau dieselbe Vorstellung, wie von den Körpern, haben wir uns auch von dem inneren Zustande des Weltäthers zu bilden. Vor allem erkennen wir, dass das uns unbekannte Substrat, welches allen Körpern zu Grunde liegt, auch im Weltäther der alleinige Träger der Bewegun- gen ist, durch welche die Eigenschaften desselben bestimmt werden. Auch in dem Weltäther lässt sich jeder Punkt als der Ausgangspunkt elemen- tarer Wellen betrachten, welche bei ihrem Zusammentreffen in entgegen- gesetzter Richtung sich in stehende Wellen umwandeln, bei gleicher Fort- pflanzungsrichtung aber durch Interferenz sich gegenseitig neutralisieren und dadurch in dem Weltäther ebenso wie in den Körpern eine poten- tielle und eine kinetische Energie begründen. Stellt sich nun aus den Beobachtungen an unserer Atmosphäre heraus, dass der äussere Druck und die Temperatur in ihren obersten Regionen und somit auch im Welt- raume höchst geringfügig sind, so ist damit nur der Beweis geliefert, dass die Energie der inneren Bewegungen des Weltäthers vorzugsweise, wenn nicht ausschliesslich aus potentieller Energie besteht. In der That, wenn wir die Unendlichkeit der Räume, welche der Weltäther erfüllt und die in ihm nach allen Richtungen herrschende Gleichmässigkeit berück- sichtigen, so erscheint es als unvermeidlich, dass jeder Bewegung, welche einem seiner Punkte mitgeteilt wird, eine andere Bewegung in entgegen- gesetzter Richtung entgegenwirkt und dass beide dabei sich gegenseitig neutralisieren. Der Weltäther ist daher nach der kinetischen Natur- lehre ein in stehender Schwingung begriffenes Medium, welches durch seine fast ausschliesslich potentielle Energie, den An- nahmen der Astronomen über den Weltraum vollkommen entsprechend, uns als leer und widerstandslos erscheint. Die kinetische Naturlehre gelangt somit in bezug auf den Welt- äther zu Resultaten, welche mit den auf einem anderen, mehr empirischen Wege ermittelten Thatsachen vollkommen gut übereinstimmen, und es handelt sich daher nur noch darum, ob es uns gelingen wird, in einem derartigen, scheinbar inhaltlosen Medium die veranlassende Ursache zu den Erscheinungen der Schwere zu entdecken. Wäre der Weltäther allein vorhanden, so könnte der soeben ge- schilderte Zustand desselben ewig dauern, da bei der Gleichartigkeit des Ganzen auch jede Veranlassung zu einer Veränderung fehlen würde. — Ausser dem Weltäther sind aber noch andere Körper — Sonnen, Pla- neten, Fixsterne — in unendlicher Menge im Weltraum verteilt. — Durch den Einfluss dieser Körper werden notwendigerweise gewisse Stö- rungen in dem Weltäther hervorgebracht und wird dadurch die Veran- lassung zu der Entstehung der äusseren Bewegungen gegeben. Um uns eine recht klare und genaue Vorstellung von dem Ein- 340 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden flusse der Körper auf den Weltäther zu bilden, müssen wir uns vor allem mit ihrem Verhalten gegen fortschreitende Wellen bekannt machen. Dieses Verhalten geht aber aus verschiedenen Erscheinungen hervor. Be- kanntlich beruht die Farbe der Körper auf der Absorption der sie treffen- den Lichtwellen mit Ausnahme derjenigen, in deren Farbe sie erscheinen. Setzen wir einen Körper den Strahlen einer Wärmequelle aus, so erwärmt er sich, indem er die ihn treffenden Wärmewellen absorbiert und in innere Bewegungen umwandelt. Aus den Beobachtungen der Spektralanalyse erfahren wir, dass das Absorptionsvermögen der farbigen Flammen für Lichtstrahlen gleich ihrem Emissionsvermögen ist und dass sie gerade vorzugsweise diejenigen Lichtwellen in ihrer Fortpflanzung aufhalten, die sie selbst von sich aussenden. Aus diesen Erscheinungen ergibt sich, dass die Körper unter geeigneten Umständen die Fähigkeit besitzen, die auf sie eindringenden und sie durchströmenden Wellen in ihrer weiteren ungehinderten Fortpflanzung aufzuhalten und sie durch Absorption in innere Bewegungen umzuwandeln. Das geschieht aber auf die Weise, dass die von den Wellen den Körpern zugeführten Bewegungen sich mit den bereits vorhandenen inneren Bewegungen derselben zu neuen Re- sultierenden vereinigen, dabei ihre Energie entweder ganz oder teilweise einbüssen und dadurch in ihrer weiteren Fortpflanzung verhindert werden. In derselben Weise, wie gegen die Licht- und Wärmewellen, müssen die Körper sich auch gegen die sie treffenden Ätherwellen verhalten und durch ihre Absorption unmittelbar eine störende Einwirkung auf die inneren Bewegungen und auf die Bildung der stehenden Wellen in dem Weltäther ausüben. — Stehende Wellen gehen immer nur aus dem Zusammentreffen zweier gleichartiger, in entgegengesetzter Richtung fort- schreitender Wellen hervor. Fällt eine dieser Wellen durch irgend welche Veranlassung weg, so ist die Umwandlung der anderen in eine stehende Schwingung nicht mehr möglich, sondern sie ist gezwungen, als fort- schreitende Welle weiter zu bestehen und sich nach der Richtung hin fortzupflanzen, von wo aus die zur Bildung der stehenden Wellen unent- behrliche, nunmehr aber fehlende Komponente entgegenkam. Das ist aber genau der Einfluss, den die Weltkörper auf den Welt- äther ausüben; durch ihre Absorption der auf sie eindringenden Äther- wellen entziehen sie anderen Ätherwellen die zur Bildung der stehenden Wellen unentbehrlichen Komponenten und zwingen sie dadurch, als fort- schreitende Wellen weiter zu bestehen. Diese Wirkung macht sich so- fort bis in weite Fernen mit einer der Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Ätherwellen gleichen Geschwindigkeit nach allen Richtungen hin auf be- ständig sich erweiternde Kugeloberflächen fühlbar und veranlasst überall dort, wo die stehenden Wellen des Weltäthers eines ihrer Komponenten beraubt werden, die Entstehung einer allgemeinen, den ganzen Weltraum umfassenden und konzentrisch nach den Weltkörpern gerichteten Wellen- bewegung und zwar einer um so mächtigeren, je grösser die Absorptions- fähigkeit des Zentralkörpers für fortschreitende Wellen ist. Der Welt- äther erleidet somit unter dem Einflusse der Weltkörper eine tiefein- greifende Veränderung; er befindet sich nicht mehr in einer ausschliess- lichen stehenden Schwingung, sondern wird in bestimmten, nach den der potentiellen Energie. 11. 341 verschiedenen Weltkörpern konvergierenden und sich vielfach kreuzenden Richtungen von fortschreitenden Wellen durchlaufen, die wir bei der Aus- sicht, in ihnen die veranlassende Ursache der Schwere zu entdecken, be- reits jetzt_schon als Gravitationswellen bezeichnen wollen. Die Gravitationswellen erweisen sich somit als fortschreitende Äther- wellen, die der entgegengesetzten Komponenten zur Bildung der stehen- den Wellen beraubt worden sind; auch sie sind dazu bestimmt gewesen, zur Bildung der stehenden Wellen in dem Weltäther beizutragen, unter- liegen aber denselben Einwirkungen wie die übrigen Ätherwellen; bei ihrer Konzentration in den Weltkörpern werden sie von diesen absorbiert und an der weiteren Fortpflanzung verhindert; dadurch werden wieder anderen Ätherwellen die zur Bildung der stehenden Wellen erforderlichen Komponenten entzogen und sie dadurch gezwungen, als fortschreitende Wellen weiter zu bestehen und sich in der Richtung nach dem absor- bierenden Körper hin in Bewegung zu setzen. Auf diese Weise wieder- holt sich der soeben geschilderte Vorgang immer wieder von neuem; die Weltkörper werden dadurch gleichsam zu Brennpunkten von fortschreiten- den Ätherwellen, die aus den weitesten Entfernungen des Raumes kom- mend und beständig aufeinanderfolgend als Gravitationswellen von allen Seiten nach ihren Zentralkörpern zusammenströmen. Die Gravitationswellen sind somit eine unbedingte Konsequenz der Vorstellungen, welche man sich in der kinetischen Naturlehre über die Körper und den Weltäther zu bilden hat; als solche sind sie bereits un- bestreitbar. Der thatsächliche Beweis für ihr Bestehen wird sich jedoch erst aus der Möglichkeit ergeben, mit ihrer Hilfe die Erscheinungen der Schwere zu erklären. Aber en jetzt sind wir in der Lage, uns da- von zu überzeugen, dass die Gravitationswellen vollkommen den Beding- ungen entsprechen, welche man an die veranlassende Ursache der Schwere zu stellen hat. Wie die Schwere, so sind auch die Gravitationswellen konzentrisch nach den Weltkörpern gerichtet. Wie die Schwere von der Masse der Weltkörper abhängig ist, so wird auch die Energie der Gra- vitationswellen durch ihren Zentralkörper bestimmt, da für jede Äther- welle, welche derselbe absorbiert, andere Ätherwellen als fortschreitende Wellen weiter bestehen und zu der Bildung der Gravitationswellen bei- tragen müssen. In derselben Weise aber, wie die Beschleunigung der Körper durch die Schwere in einem dem Quadrate der Entfernung von dem Gravitationsmittelpunkt umgekehrt proportionalen Verhältnisse zu- oder abnimmt, verhält sich auch die Energie der Gravitationswellen. Indem die Gravitationswellen bei ihrer Konzentration nach den Weltkörpern hin ihre Bewegungen auf beständig kleiner werdende Kugeloberflächen übertragen, bleibt zwar ihre Energie wegen der Unvergänglichkeit derselben, über die ganzen Kugelflächen genommen, unverändert, nimmt aber aus dem- selben Grunde auf gleiche Flächenabschnitte bezogen in einem dem Qua- drate der Kugelhalbmesser oder, was dasselbe bedeutet, dem Quadrate der Entfernungen von dem Mittelpunkte des Zentralkörpers umgekehrt proportionalen Verhältnisse zu. Die Gravitationswellen und die Schwere befolgen somit dieselben Gesetze und es liegt daher die Schlussfolgerung nahe, dass die Ursache der einen in den anderen zu suchen ist. 342 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden Abgesehen von den Erscheinungen der Schwere gibt es jedoch noch andere Thatsachen, welche einen unzweifelhaften Beweis für das Bestehen der Gravitationswellen liefern. Wir meinen damit die innere Wärme der Weltkörper und die Erhaltung der Sonnenenergie. Mit Recht hat man darauf aufmerksam gemacht, dass die Sonne nicht beständig Licht- und Wärmewellen ausstrahlen könne, ohne dafür einen Ersatz von aussen zu erhalten. Bisher hat man aber vergebens nach der Quelle eines der- artigen Ersatzes gesucht. Für die kinetische Naturlehre gestaltet sich dagegen die Aufgabe in ganz anderer Weise; nicht die Frage nach der Erhaltung der Sonnenenergie tritt bei ihr in den Vordergrund, sondern die Frage nach dem Verbleib der Gravitationswellen. Durch die Be- wegungen, welche die Gravitationswellen den Weltkörpern ununterbrochen zuführen, müsste die Temperatur derselben beständig zunehmen und zu- letzt mit der Zeit in das Unermessliche steigen. Da solches nicht ein- tritt, so ist damit nur der Beweis geliefert, dass der beständigen Zufuhr von Bewegungen eine ebenso beständige Ableitung entgegenwirkt. Als solche bieten sich uns aber sogleich die von den Weltkörpern ausge- strahlten Licht- und Wärmewellen von selbst dar und wir erhalten auf diese Weise nicht allein eine Erklärung für die Erhaltung der Sonnen- energie, sondern auch ein sicheres Zeugnis für das Bestehen der Gra- vitationswellen. Durch das Gleichgewicht der einstrahlenden Gravitationswellen und der ausgestrahlten Licht- und Wärmewellen wird die Eigenwärme der Weltkörper bestimmt. — An der Oberfläche der Erde würde sie, unab- hängig von der Sonnenwärme, wahrscheinlich eine sehr geringe sein, vielleicht nicht viel grösser als im Weltraum selbst. Im Innern der Erde wird aber die Ausstrahlung der Wärme durch die schlechte Leitungs- fähigkeit der oberen Schichten verhindert. Deshalb beobachten wir mit zunehmender Tiefe eine beständig wachsende Temperatur. Die innere Erdwärme ist daher nicht ein Rest einer früheren Hitze, sondern ein konstanter, durch das Gleichgewicht der Ein- und Ausstrahlung bestimmter Zustand. Dasselbe gilt auch von der Sonne; sie ist weder in einem be- ständigen Brennen begriffen, noch wird sie mit Meteorsteinen geheizt, noch beruht ihre Hitze auf einer fortschreitenden Kondensation — lauter Hypothesen, die gemacht worden sind, — noch erhält sie — wie WILLIaMm SIEMENS es neuerdings behauptet hat — einen beständigen Zufluss eines kohlenstoff-wasserstoffhaltigen Äthers, sondern sie gibt durch ihre Licht- und Wärmewellen an Bewegung nur das zurück, was ihr durch die Gra- vitationswellen beständig zugeführt wird. Wir brauchen daher nicht ein Auslöschen der Sonne zu befürchten; wäre eine Abkühlung derselben mög- lich, so müsste sie seit dem Bestehen des Planetensystems schon lange eingetreten sein; die Sonne ist aber nur eine Werkstatt, in welcher die Gravitationswellen in Licht- und Wärmewellen umgewandelt werden; sie wird daher nach wie vor unsere Tage erhellen und bis in ferne Zeiten noch überallhin Leben und Gedeihen verbreiten. Die Gravitationswellen und die Licht- und Wärmewellen sind so- mit nur die verschiedenen Äusserungen einer und derselben Bewegung; sie befolgen daher auch dieselben Gesetze und sind mit Ausnahme der der potentiellen Energie. II. 343° entgegengesetzten Fortpflanzungsrichtung in bezug auf Geschwindigkeit, Wellenlänge und Schwingungsdauer einander gleich. Nur durch die Art der fortgepflanzten Bewegungen mögen sie sich von einander unterscheiden. Während sich die Licht- und Wärmewellen als transversale Schwingungen erwiesen haben, können die Bewegungen in den Gravitationswellen sich vielleicht durch eine longitudinale Komponente auszeichnen und deshalb, ohne auf unser Auge einzuwirken, besonders dazu geeignet sein, Bewegun- gen wie das Fallen der Körper in der Richtung ihrer Fortpflanzung her- vorzubringen. Die Gravitationswellen sind somit ein notwendiges Glied in der Kette der Erscheinungen; wir haben sie theoretisch erkannt und aus der Eigenwärme der Weltkörper eine Bestätigung dafür abgeleitet; es bleibt uns daher nur noch übrig, zu untersuchen, auf welche Weise sie dazu beitragen, das Wirksamwerden der potentiellen Energie in den ponde- rablen Körpern anzuregen. II. Die Schwere der Körper. Die Wirkung der Schwere, welche wir als das Fallen der Körper bezeichnen, ist eine gleichförmig beschleunigte, nach dem Mittelpunkte der Erde hin gerichtete Bewegung. Eine beschleunigte Bewegung setzt sich aber zusammen aus einer bereits bestehenden gleichförmigen Bewegung und aus dem Zuwachs an Geschwindigkeit, welchen der betreffende Kör- per durch irgend eine Ursache erhält. Um das Fallen der Körper zu erklären, haben wir uns daher zunächst nur Rechenschaft über das Fort- bestehen der gleichförmigen Bewegung zu geben und dann die Ein- wirkungen zu erkennen, durch welche die abwärts gerichtete Bewegung der fallenden Körper beschleunigt wird. Das Fortbestehen der gleichförmigen Bewegungen wird in der Me- chanik einem Beharrungsvermögen der Körper zugeschrieben. Man sagt, dass ein Körper, der in Ruhe ist, nicht von selbst in Bewegung gerathen könne, sondern dass dazu eine veranlassende Ursache erforder- lich sei, man behauptet aber auch, dass ein Körper, wenn er einmal in Bewegung versetzt worden ist, durch sein Beharrungsvermögen das Be- streben habe, sich geradlinig und mit gleichförmiger Geschwindigkeit weiter fortzubewegen. Obgleich der erste Teil dieses Satzes vollkommen genügt, weil die fortdauernde Unbeweglichkeit eines Körpers in der That nur auf dem Mangel an einer Veranlassung zu einer Bewegung beruht, so ist doch der Schluss des Satzes, welcher das Beharrungsvermögen der Körper in der Bewegung ausspricht, nicht sogleich ohne weiteres einleuchtend und ist deshalb auch nicht ohne Widerspruch geblieben. Die entstandenen Missverständnisse sind jedoch in diesem Falle wie in vielen andern Fällen nur durch die ungeschickte Wahl des Ausdruckes veranlasst worden. Statt das Fortbestehen der gleichförmigen Bewegun- gen, den beobachteten Erscheinungen entsprechend, einfach als ein Be- harren der Körper zu bezeichnen, hat man durch das Anhängen des Wörtchens »Vermögen«e manche Naturforscher — unter anderen auch 344 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden ÄNDERSOHN in Breslau — dazu verleitet, in diesem Ausdrucke die Be- hauptung einer Eigenschaft oder eines besonderen Bestrebens der Kör- per zu erkennen, und sie dadurch veranlasst, dieser Behauptung zu wider- sprechen. Es ist jedoch leicht, sich davon zu überzeugen, dass das Be- harren der Körper in der einmal angenommenen Bewegung ganz ebenso wie in der Ruhe nur durch den Mangel einer störenden Einwirkung von aussen besteht. Um solches nachzuweisen, genügt es einige Beispiele anzuführen. Ein Buch, das auf dem Tische liegt, bleibt auf dem Tische liegen, es beharrt in seiner Lage, und will man es wegschaffen, so muss man es aufheben und an eine andere Stelle versetzen. Eine Billardkugel bewegt sich nach dem Stosse in gerader Richtung fort, sie beharrt in ihrer Bewegung und verändert ihre Geschwindigkeit und Richtung nur durch die Reibung am Tuche und durch die Reflexionen an den Banden des Billards.. Eine abgeschossene Kanonenkugel wird von der geraden Richtung ihrer Bewegung, nur deshalb abgelenkt, weil sie der Einwirk- ung der Schwere unterliegt. Ein Stein, der an einer Schnur befestigt ist, wird durch ihren Widerstand gezwungen, eine Kreislinie zu beschreiben, setzt aber, wenn die Schnur reisst oder losgelassen wird, seine Beweg- ung in tangentialer Richtung und mit gleichförmiger Geschwindigkeit weiter fort. Aus diesen Beispielen geht deutlich hervor, dass zu jeder Verän- derung einer Bewegung eine besondere Einwirkung von aussen erforder- lich ist. Das sogenannte Beharrungsvermögen ist somit weder ein Ver- mögen, noch eine Eigenschaft, noch ein Bestreben, sondern vielmehr ein Unvermögen oder eine Unfähigkeit der Körper, ihre Bewegung von sich aus ohne äussere Veranlassung abzuändern. Durch diese Unfähigkeit der Körper wird das Fortbestehen der gleichförmigen Bewegungen be- gründet und ist somit eine Thatsache, welche nicht bestritten werden darf. Damit ist jedoch der Gegenstand noch nicht vollständig erledigt. Die Ursache, welche einen Körper in Bewegung versetzt hat, kann schon lange beseitigt sein, während dieser noch immer fortfährt, dem erhaltenen Impulse zu folgen. Wodurch wird der Körper veranlasst, seine Bewegung fortzusetzen ? Der Zustand eines sich gleichförmig bewegenden Körpers kann nicht als vollkommen unveränderlich angesehen werden, da seine Bewegung vielmehr eine beständige Veränderung seines Ortes ist und daher wie jede andere Veränderung einer Erklärung bedarf. Die Un- veränderlichkeit der Richtung und der Geschwindigkeit hat die Natur- forscher dahin geführt, das Beharrungsvermögen der Körper ohne weitere Erläuterung als eine genügende Erklärung für das Fortbestehen der gleich- förmigen Bewegungen zu betrachten. Augenscheinlich muss aber doch zwischen dem Zustande eines Körpers in der Ruhe und dem Zustande desselben Körpers in der Bewegung ein Unterschied bestehen und daher aus der Erkenntnis dieser Verschiedenheit auch die Beantwortung der gestellten Frage hervorgehen. Nach der hier vorgetragenen kinetischen Naturlehre darf eine Er- scheinung nur dann als erklärt betrachtet werden, wenn sie auf die inneren Bewegungen der Körper zurückgeführt ist. Diese inneren Be- wegungen sind die ersten uns gegebenen Thatsachen; sie bestehen durch der potentiellen Energie. II. 345 | die vollkommene Gegenseitigkeit ihrer Wechselwirkungen und bedürfen daher selbst keiner weiteren Erklärung; sie bedingen aber den jeweiligen Zustand der Körper und daher auch die Ruhe und die Bewegung der- selben. Soll daher die Verschiedenheit zwischen dem Zustande eines Kör- pers in der Ruhe und dem Zustande desselben Körpers in der Bewegung erkannt werden, so handelt es sich zuerst darum, die Verschiedenheit seiner inneren Bewegungen in dem einen und in dem anderen Falle zu ermitteln. Die Vorstellung aber, welche wir uns von den inneren Be- wegungen der Körper bilden, hängt zunächst von dem Koordinatensysteme ab, welches wir unseren Betrachtungen zu Grunde legen. Beziehen wir nämlich die inneren Bewegungen eines Körpers auf ein mit ihm festver- bundenes Koordinatensystem, so müssen seine Punkte nach einem inneren Umschwunge genau wieder an ihren früheren Ort zurückkehren, sie bewegen sich in geschlossenen Bahnen, der Körper beharrt in seiner Lage, er befindet sich in Ruhe. Erleidet dagegen der Körper einen Stoss oder irgend einen Impuls von aussen, so tritt zu seinen inneren Bewegungen eine neue Komponente in einer bestimmten Rich- tung hinzu. Die Bahnen der einzelnen Punkte in seinem Inneren, die bis dahin geschlossen waren, werden in bezug auf das gewählte Ko- ordinatensystem geöffnet, jeder Punkt des Körpers befindet sich am Ende seines Umschwunges an einer anderen Stelle als im Beginn des- selben und somit ist auch der ganze Körper nach Verlauf einer be- stimmten Zeit aus seinem Orte verschoben; er befindet sich in Bewegung. Die Öffnung der Bahnen, auf welchen die Punkte eines Körpers sich bewegen, ist die Verschiebung, welche der Körper während der Dauer eines inneren Umschwunges erleidet, und der Quotient aus diesen beiden Grössen, d. h. der Quotient aus der Verschiebung oder dem durchlaufe- nen Wege und der Dauer eines Umschwunges oder der verflossenen Zeit ist die Geschwindigkeit, mit welcher der Körper sich weiter bewegt. Die Verschiedenheit eines Körpers in der Ruhe und in der Bewegung besteht somit nur darin, dass die Bahnen, auf welchen seine Punkte sich bewegen, in dem einen Falle geschlossene, in dem anderen Falle offene Kurven sind. Da wir jedoch keinen Körper in absoluter Ruhe kennen, sondern jeder von ihnen schon wegen des Umschwunges der Weltkörper um einander an verschiedenen Bewegungen teilzunehmen hat, so dürfen auch streng genommen in keinem Körper für die einzelnen Punkte geschlossene Bahnen angenommen werden, sondern die inneren resultierenden Beweg- ungen der Körper müssen stets so beschaffen sein, dass sie in bezug auf ein feststehendes Koordinatensystem allen vor sich gehenden Beweg- ungen, nicht allein den inneren Rotationen, welche die Wärme und die spezifischen Eigenschaften der Körper bedingen, sondern auch den trans- latorischen Bewegungen, welche sich als Ortsveränderungen der Körper äussern, zugleich Genüge leisten. Aus der Vereinigung der rotierenden und translatorischen Bewegungen gehen aber, wie leicht ersichtlich, schraubenförmige Kurven hervor, welche uns somit die wahren For- men der Bahnen für die Bewegungen der einzelnen Punkte eines Körpers 346 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden im Raume darstellen. Die Höhe der Schraubengänge ist dann die Ver- schiebung, welche die Punkte während der Dauer einer Rotation er- leiden, und der Quotient beider, d. h. der Quotient aus der Höhe der Schraubengänge und der Dauer eines Umlaufes ist die Geschwindig- keit, mit welcher der Körper sich im Raume bewegt. Die Körper, welche durch die schraubenförmigen Bewegungen ihrer Punkte in gleicher Weise im Raum verschoben werden, erscheinen in bezug auf einander in Ruhe; es genügt aber in dem einen oder anderen Körper die Form seiner inneren Bahnen abzuändern, z. B. die Höhe der Schraubengänge, auf welchen seine Punkte sich bewegen, zu vergrössern oder zu verkleinern, damit dieser Körper den anderen Körpern voraneile oder hinter ihnen zurückbleibe und dadurch die Erscheinung einer äusseren Bewegung zeige, die somit vollständig durch den inneren Bewegungszustand des Körpers bestimmt wird. Ruhe und Bewegung sind somit nur relative Zustände, welche zu- nächst von der Wahl des Koordinatensystems und von der Form der inneren Bewegungen in den Körpern abhängen. Welcher Art auch diese inneren Bewegungen sein mögen, so begründen sie doch stets einen stationären Zustand, der ohne eine Einwirkung von aussen nicht abge- ändert werden kann. Auf der Unveränderlichkeit ihres inneren Beweg- ungszustandes beruht daher auch das sogenannte Beharrungsver- mögen der Körper. Ein Körper, der in Ruhe ist, bleibt in bezug auf das gewählte Koordinatensystem in Ruhe und ein Körper, der in Be- wegung ist, setzt seine Bewegung weiter fort und kann seine Richtung und Geschwindigkeit nicht verändern, wenn nicht eine äussere Einwirkung seinen inneren Bewegungszustand modifizirt. Dasselbe gilt auch für die freibeweglichen ponderablen Körper. Ein fallender Körper müsste, wenn er in einem bestimmten Momente von der Wirkung der Schwere befreit wäre, durch sein Beharrungsvermögen die einmal angenommene Bewegung nach dem Mittelpunkte der Erde mit gleichförmiger Geschwindigkeit weiter fortsetzen. Wir haben deshalb bei dem Fallen der Körper nicht die Bewegung selbst, sondern nur die ihnen durch die Schwere erteilte Be- schleunigung zu erklären. Um aber die Beschleunigung eines Körpers, sowie überhaupt die Entstehung einer neuen äusseren Bewegung zu erklären, ist es nur er- forderlich, die entsprechenden Veränderungen in dem inneren Bewegungs- zustande des Körpers, sowie die äusseren Einwirkungen, durch welche diese Veränderungen hervorgebracht werden, zu erkennen. In vielen Fällen sind uns diese Einwirkungen bekannt, z. B. beim Zusammenstossen zweier Körper. Die Mitteilung der Bewegung geschieht in diesem Falle bei un- mittelbarer Berührung durch Übertragung von Energie von dem stossenden auf den gestossenen Körper. Die von dem stossenden Körper abgegebene Energie oder lebendige Kraft wird zunächst dazu verwendet, die Total- energie des gestossenen Körpers zu steigern, d. h. es wird die Geschwindig- keit, mit welcher seine Punkte ihre schraubenförmigen Bahnen im Raume durchlaufen, vergrössert. Eine grössere Geschwindigkeit der Punkte bringt aber unvermeidlicherweise eine Veränderung in der Form ihrer Bahnen hervor, schon deshalb, weil sie bei einer sich gleichbleibenden Rotations- der potentiellen Energie. II. 347 dauer der Punkte eine grössere Wegstrecke,. d. h. eine grössere Länge der entsprechenden Schraubenlinie erfordert. Je nachdem, welcher Art die dadurch bewirkten Formveränderungen im Inneren der Körper sind, be- obachten wir an diesen verschiedene Erscheinungen und Eigenschaften. Bleiben bei der Übertragung der Energie durch den Stoss die Ge- schwindigkeit der Rotationen in dem gestossenen Körper und der Durch- messer der entsprechenden Schraubenlinien ungeändert, so kann die Ver- längerung der Bahnen, welche die Punkte des Körpers während der Dauer eines Umschwungs durchlaufen, nur durch eine Zunahme in der Höhe der Schraubengänge in einer durch den Stoss bestimmten Richtung erreicht werden. Mit der zunehmenden Höhe der Schraubengänge ist aber notwendigerweise, weil sie die Verschiebung des Körpers im Raume während der Dauer einer inneren Rotation darstellt, zugleich eine Zu- nahme seiner äusseren Geschwindigkeit in derselben Richtung verbunden. Da in diesem Falle die übertragene Energie nur auf die Steigerung der translatorischen Bewegung der Punkte verbraucht wird, so findet sich auch die von dem stossenden Körper abgegebene lebendige Kraft voll- ständig als lebendige Kraft in dem gestossenen Körper wieder. Einen solchen Körper bezeichnen wir dannals vollkommen elastisch. Wird dagegen die auf den gestossenen Körper übertragene Energie teilweise dazu verwendet, die Geschwindigkeit seiner inneren Rotationen zu erhöhen, wodurch auch der Durchmesser der entsprechenden Schrauben- linie vergrössert wird, so kann nur der Rest dieser Energie als trans- latorische Bewegung zum Vorschein kommen. Es verschwindet dann ein Teil der von dem stossenden Körper abgegebenen lebendigen Kraft aus der äusseren Bewegung, findet sich aber durch die erhöhte Geschwindigkeit der inneren Rotationen als Wärme in dem gestossenen Körper wieder. Einen solchen Körper bezeichnen wir dann als unelastisch oder als unvollkommen elastisch. Bei einem feststehenden, relativ unbeweglichen Körper wird endlich die durch einen Stoss auf ihn übertragene Energie, weil seine äussere Bewegung im Raume nicht verändert werden kann, ausschliesslich dazu verwendet, die Geschwindigkeit seiner inneren Rotationen zu erhöhen, d. h. sie wird vollständig in Wärme umgewandelt. Aus der obigen Darstellung geht deutlich hervor, dass die Erschein- ungen, welche wir an den Körpern beobachten, durch die Art der Ver- änderungen ihrer inneren Bahnen bedingt werden. Je nachdem, ob der Durchmesser oder ob die Ganghöhe der Schraubenlinien, auf welchen die Punkte eines Körpers sich im Raume bewegen, durch den erlittenen Stoss vergrössert werden, erscheint die von dem stossenden Körper auf den gestossenen übertragene Energie entweder als Wärme oder als lebendige Kraft. Die Zunahme der Ganghöhe der schraubenförmigen Bahnen ist dabei die Formveränderung, welche sich als Zuwachs der Geschwindigkeit oder als Beschleunigung äussert. Will man daher die Beschleunigung der fallenden Körper erklären, so sind vor allem die Formveränderungen zu ermitteln, welche ihre inneren Bewegungen unter dem Einflusse der Schwere erleiden. Die Wirkung der Schwere unterscheidet sich aber von derjenigen 348 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden des Stosses dadurch, dass die Körper durch sie in Bewegung versetzt werden, ohne dass eine der lebendigen Kraft der fallenden Körper äqui- valente Übertragung von Energie von aussen nachweisbar wäre. Auch haben wir uns bereits davon überzeugt, dass die lebendige Kraft der fallenden Körper nicht von aussen herstammen könne, weil ihre Zu- nahme dann eine der Zeit proportionale sein müsste, während sie in Wirklichkeit dem Quadrate der Zeit proportional ist, und dass die Kör- per sie daher nur aus sich selbst, aus ihrer eigenen inneren Energie schöpfen können; es frägt sich nur noch, auf welche Weise solches möglich ist? Aus der Darstellung des inneren Vorgangs bei dem Stosse der Körper erkennen wir, dass die äussere Bewegung nicht immer eine unmittelbare Wirkung der von aussen übertragenen Energie ist, sondern dass sie erst infolge der Formveränderungen entsteht, welche die Bahnen der Punkte im gestossenen Körper erleiden. Können doch alle gegen einen relativ unbeweglichen Körper ausgeübten Stösse diesen nicht in Bewegung ver- setzen, sondern ihre Energie wird in Wärme umgewandelt. Man denke sich nun, es sei uns ein Mittel gegeben, ohne Übertragung von Energie, d. h. ohne Steigerung der Geschwindigkeit mit welcher die Punkte des Körpers sich im Raume bewegen, eine Veränderung in der Form ihrer schraubenförmigen Bahnen, z. B. eine Zunahme des Steigungswinkels in einer bestimmten Richtung hervorzubringen, so überzeugt man sich leicht, dass eine derartige Veränderung auch sofort eine Veränderung in dem äusseren Bewegungszustande des Körpers nach sich ziehen muss. In der That wird durch die Zunahme des Steigungswinkels einer Schrauben- linie auch zugleich ihre Ganghöhe vergrössert und, weil diese den Weg darstellt, den ein Körper im Raume während der Dauer eines Umschwungs seiner Punkte zurücklegt, auch seine äussere Geschwindigkeit gesteigert. Die blosse Formveränderung der inneren Bahnen eines Körpers genügt also vollkommen, um denselben in Bewegung zu versetzen. Damit ist jedoch die Erscheinung noch nicht vollständig erklärt, sondern es muss ausserdem noch, wenn keine Übertragung von Energie von aussen statt- findet, der Ursprung der dabei zum Vorschein kommenden lebendigen Kraft nachgewiesen werden. Wenn ein Körper ohne Übertragung von Energie von aussen in Bewegung versetzt wird, so bleiben seine Totalenergie und somit auch die Geschwindigkeit, mit welcher seine Punkte sich im Raume bewegen, ungeändert. Bei einer sich gleich bleibenden Geschwindigkeit und Um- laufsdauer eines Punktes muss aber die Länge der Schraubenlinie, auf welcher er sich bewegt, ebenfalls unverändert bleiben. Wird dagegen die Ganghöhe der Schraubenlinie vergrössert, so kann solches bei einer unveränderlichen Länge derselben nur dann stattfinden, wenn ihr Durch- messer sich zugleich verkleinert. In derselben Weise aber, wie die zu- nehmende Ganghöhe die Beschleunigung der translatorischen Bewegung eines Punktes bedingt, so kann auch die Abnahme ihres Durchmessers nur die Folge einer verminderten Rotationsgeschwindigkeit des Punktes sein. Wir erkennen daraus, dass die Formveränderungen der Bahnen im Inneren der Körper stets mit Umformungen ihrer inneren rotierenden der potentiellen Energie. II. 349 Bewegungen in translatorische Bewegungen oder auch umgekehrt ver- bunden sein müssen. Wenn aber die rotierende Geschwindigkeit der Punkte in einem Körper abnimmt, ihre translatorische Geschwindigkeit dagegen zunimmt, so ist die notwendige Folge davon, dass zugleich eine äquivalente Umwandlung der inneren Rotationsenergie des Körpers in translatorische Energie oder in lebendige Kraft eintritt, wodurch der Ur- sprung der letzteren ohne weiteres nachgewiesen ist und wir ein an- schauliches Bild erhalten, auf welche Weise ein Körper, wenn er ohne Übertragung von Energie von aussen in Bewegung versetzt wird, seine lebendige Kraft aus sich selbst, aus seiner eigenen inneren Energie schöpfen kann. Das ist aber genau die Aufgabe, welche die Schwere bei dem Fallen der Körper zu erfüllen hat, nämlich dieselben ohne Übertragung von Energie von aussen in eine nach dem Mittelpunkte der Erde gerichtete, beschleu- nigte Bewegung zu versetzen, wozu nur eine entsprechende Veränderung der Form der inneren Bewegungen der Körper erforderlich ist. Da aber solche Veränderungen nicht von selbst entstehen können, so haben wir vor allem uns nach einem Agens umzusehen, das geeignet wäre, sie her- vorzubringen. Ein solches, den Bedingungen der Schwere vollkommen entsprechendes Agens haben wir bereits in den Gravitationswellen er- kannt. Wir fanden, dass die blosse Anwesenheit eines fremdartigen Kör- pers innerhalb eines gleichförmigen, in stehender Schwingung begriffenen Mediums dazu genügt, um in diesem eine allseitige, nach dem Mittel- punkte des Körpers konzentrisch gerichtete Bewegung von fortschreiten- den Wellen anzuregen. In derselben Lage befindet sich auch die Erde; von dem Weltäther umflossen, wird sie von den nach allen Seiten sich fortpflanzenden Ätherwellen getroffen; indem sie dieselben absorbiert und in innere Bewegungen umwandelt, beraubt sie dadurch bis in weite Fernen andere Ätherwellen ihrer zur Bildung der stehenden Schwingungen un- entbehrlichen Komponenten und zwingt dadurch die entgegengesetzten Komponenten, als fortschreitende Wellen weiter zu bestehen und sich nach dem Orte ihrer Absorption fortzupflanzen. Die Erde wird dadurch zu einem Mittelpunkte, gleichsam zu einem Brennpunkte, von konzentrisch fortschreitenden, beständig aufeinanderfolgenden Ätherwellen, die wir, bei der Aussicht, in ihnen die veranlassende Ursache der Schwere zu ent- decken, bereits ala Gravitationswellen bezeichnet haben. Die Gesamtwirkung der Erde auf den Weltäther setzt sich aber zusammen aus den Wirkungen der einzelnen, in ihr enthaltenen Körper. Jeder Körper, ja sogar jeder kleinste Teil eines Körpers übt seine ab- sorbierende Wirkung genau in derselben Weise auf die ihn treffenden Ätherwellen aus und veranlasst dadurch andere Ätherwellen, als fort- schreitende Wellen weiter zu bestehen und sich nach dem Mittelpunkte ihrer Absorption fortzupflanzen. Aus der Vereinigung dieser elementaren Ätherwellen gehen denn die resultierenden, nach dem Mittelpunkte der Erde gerichteten Gravitationswellen a welche ihrerseits bei ihrer konzentrischen Fortpflanzung auf die einzelnen Körper treffen und jedem von ihnen den seiner Absorptionsfähigkeit für fortschreitende Wellen ent- sprechenden Teil an Bewegungen abgeben. Durch diese von den Gravi- 350 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden tationswellen den Körpern abgegebenen Bewegungen werden auf der Ober- fläche der Erde die Erscheinungen der Schwere hervorgebracht. Die nicht absorbierten Gravitationswellen gehen einfach durch die Körper hindurch; von den tiefer liegenden Körpern in dem Weltäther angeregt, sind sie auch dazu bestimmt, erst auf sie ihre schwermachende Wirkung aus- zuüben. Um uns jedoch von dem inneren Vorgange bei dem Fallen der Körper eine möglichst einfache und übersichtliche Vorstellung zu bilden, wollen wir zunächst die translatorische Bewegung, welche ein Körper zugleich mit der Erde im Raume besitzt, uns in der Weise in Komponenten zer- legt denken, dass die eine dieser Komponenten beständig durch den Mittel- punkt der Erde hindurchgehe. Denken wir uns ferner diese Komponente mit den transversal zu ihrer Richtung in dem Körper vor sich gehenden Rotationen zu einer neuen Resultierenden vereinigt, so finden wir, dass unter den vielen im Innern eines Körpers sich durchkreuzenden Beweg- ungen auch eine schraubenförmige nach dem Mittelpunkte der Erde ge- richtete Bewegung vorausgesetzt werden darf. In derselben Weise und mit gleichem Rechte können wir ähnliche Bewegungen in allen Teilen der Erde annehmen. Liegt nun ein Körper auf einer festen Unterlage, so wird er durch die soeben geschilderten Bewegungen mit der Erde zu- sammen in gleicher Richtung verschoben und befindet sich daher in be- zug auf die letztere in Ruhe. Werden dagegen in einem freibeweg- lichen Körper die nach dem Mittelpunkte der Erde gerichteten schrauben- förmigen Bewegungen in irgend einer Weise abgeändert, während die gleichen Bewegungen in der Erde selbst ungeändert bleiben, so ist die relative Unbeweglichkeit beider nicht mehr möglich und muss uns daher der Körper als in Bewegung versetzt erscheinen. Dazu dienen die Gra- vitationswellen; sie bringen in den freibeweglichen Körpern Veränderungen hervor, welche in den auf der Oberfläche der Erde liegenden Körpern nicht zu stande kommen. Indem die Gravitationswellen den frei beweg- lichen Körpern neue Bewegungen zuführen und diese sich nach dem be- kannten Gesetze des Parallelogramms der Geschwindigkeiten mit den be- reits vorhandenen Bewegungen zu resultierenden Bewegungen vereinigen, werden notwendigerweise gewisse Richtungsänderungen der inneren Bahnen in den Körpern hervorgebracht. Lassen sich nun diese Rich- tungsänderungen in einem freibeweglichen Körper als eine Zunahme des Steigungswinkels seiner inneren, nach dem Mittelpunkte der Erde ge- richteten, schraubenförmigen Bewegungen darstellen, so erkennt man leicht, dass die unmittelbare Folge davon eine relative Bewegung des Körpers in bezug auf die Erde sein muss. Durch die Zunahme des Steigungswinkels wird nämlich bei den schraubenförmigen Bewegungen auch ihre Ganghöhe vergrössert und, weil diese die Verschiebung dar- stellt, welche der Körper während der Zeit eines inneren Umschwungs im Raume erleidet, zugleich seine Bewegung in derselben Richtung be- schleunigt. Widerholt sich dieser Vorgang beständig von neuem, so er- hält auch der Körper mit jeder Gravitationswelle, die ihn durchströmt, in gleichen Zeitabschnitten einen gleichen Zuwachs an Geschwindigkeit und wird dadurch in eine gleichförmig beschleunigte, nach dem Mittel- der potentiellen Energie. II. 358 punkte der Erde gerichtete Bewegung versetzt, d. h. in eine Bewegung, die wir als das Fallen der Körper bezeichnen. Die Beschleunigung der fallenden Körper ist somit eine unmittel- bare Folge der Formveränderungen, welche die inneren Bewegungen unter dem Einflusse der Gravitationswellen erleiden und zwar, ohne dass eine besondere Übertragung von Energie von aussen dabei erforderlich wäre. Damit soll jedoch nicht gesagt sein, dass die Gravitationswellen, indem sie die Körper durchströmen und ihnen einen Teil ihrer Beweg- ungen abgeben, nicht auch dabei einen entsprechenden Teil ihrer Ener- gie einbüssen. Jede Wirkung, sie mag noch so geringfügig sein, setzt immer eine Arbeitsleistung voraus; daher müssen auch die Gravitations- wellen bei den Veränderungen, welche sie im Inneren der Körper her- vorbringen, einen äquivalenten Teil ihrer Energie auf die dabei geleistete Arbeit verwenden. Wir behaupten aber, dass die lebendige Kraft der fallenden Körper nicht das Äquivalent der von den Gravitationswellen abgegebenen Energie sein kann und zwar — wie schon häufig bemerkt — aus dem Grunde, weil die Gravitationswellen bei ihrem gleichmässi- gen Zuströmen in gleichen Zeitabschnitten nur gleiche Mengen von Energie den Körpern zuführen können, während die lebendige Kraft der fallenden Körper dem Quadrate der Zeit proportional wächst. Die fallen- den Körper müssen daher ihre lebendige Kraft aus einer anderen Quelle und zwar, weil sie ihnen nicht in genügender Menge von aussen zuge- führt wird, aus sich selbst, aus ihrer eigenen inneren Energie schöpfen. Die aus den Gravitationswellen absorbierte Energie wird dagegen von den Körpern in anderer Weise verwendet, wie wir uns bereits im vori- gen Abschnitte überzeugt haben, in Wärme umgewandelt, welche jedoch an der Oberfläche der Erde sich in der allgemeinen Temperatur der Um- gebung verliert und daher an den einzelnen denselben Einwirkungen unterworfenen Körpern nicht beobachtet werden kann, bei der Gesamtheit aller irdischen Körper sich aber als innere Erdwärme äussert. Die von den Körpern aus den Gravitationswellen absorbierte Energie kommt somit bei den Erscheinungen der Schwere zunächst nicht in Betracht; sie bringt nur gewisse Formveränderungen bei den inneren Bewegungen der Körper hervor. Da jedoch diese Veränderungen nur Richtungsänderungen sind, bei welchen kein bedeutender Verbrauch von Energie erforderlich ist, so genügt, um sie zu bewirken, auch die geringste Arbeitsleistung. Die von den Gravitationswellen auf die Körper übertragene Energie braucht daher als eine die Erscheinungen der Schwere bloss veranlassende Ursache im Verhältnis zu den hervorgebrachten Wirkungen nicht grösser zu sein als etwa die Arbeit, welche wir zu leisten haben, wenn wir einen Körper auf einer horizontalen Ebene verschieben und dabei von der Reibung abstrahieren, oder als die Arbeit, welche das labile Gleich- gewicht eines Körpers stört, oder als die Energie des elektrischen Funkens, der die Explosion des Knallgases hervorbringt. Die kinetische Natur- lehre ist daher auch nicht in der Verlegenheit, über den Weltäther und die Gravitationswellen übertriebene Voraussetzungen zu machen, und be- findet sich infolge dessen in voller Übereinstimmung mit der schein- baren Leere und der Widerstandslosigkeit des Weltraumes. 3523 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden Wenn somit die Energie der Gravitationswellen zu gering ist, um das Äquivalent der lebendigen Kraft bei dem Fallen der Körper zu liefern, so genügt sie doch, um diejenigen Formveränderungen der inneren Bewegungen hervorzubringen, durch welche die Körper in eine beschleunigte, nach dem Mittelpunkte der Erde gerichtete Bewegung versetzt werden. Durch diese Formveränderungen werden zugleich die Interferenzen der inneren Be- wegungen in den fallenden Körpern gestört und ein Teil ihrer potentiellen Energie in Freiheit gesetzt. Die Formveränderungen der inneren Beweg- ungen sind ausserdem noch stets — wie wir solches bereits nachgewiesen haben — mit einer Überführung der rotierenden Bewegungen in eine translatorische Bewegung oder mit einer äquivalenten Umwandlung der inneren Energie in äussere lebendige Kraft verbunden. Erfolgt diese Umwandlung ausschliesslich auf kosten der aus ihren Interferenzen heraustretenden inneren Bewegungen, d.h. auf kosten der potentiellen Energie, so erklärt es sich, auf welche Weise es möglich ist, dass die Körper von einer bedeutenden Höhe herabfallen können, ohne dass wir im stande wären, an ihnen selbst irgend eine Veränderung wahrzuneh- men. Die Gravitationswellen beschränken sich somit darauf, nur den Anstoss zu den Veränderungen zu geben, durch welche die fallenden Körper in Bewegung versetzt werden, weshalb auch an einem bestimmten Orte der Erde bei stets gleichen Gravitationswellen die Beschleunigung durch die Schwere konstant und für alle Körper gleich ist und die Ge- schwindigkeit der Zeit proportional wächst. Die fallenden Körper erhalten dagegen durch Störung der inneren Interferenzen ihre lebendige Kraft aus sich selbst, aus ihrer eigenen potentiellen Energie. Die lebendige Kraft ist aber stets dem Quadrate der Geschwindigkeit und folglich bei einer konstanten Beschleunigung dem Quadrate der seit Beginn der Be- wegung verflossenen Zeit proportional. In demselben Masse wie die lebendige Kraft eines fallenden Körpers zunimmt, vermindert sich seine potentielle Energie; diese ist daher der von uns gesuchte Arbeitsvorrat, der an Energie ebensoviel verliert, wie die fallenden Körper an leben- diger Kraft gewinnen. Die kinetische Naturlehre erklärt somit nicht allein die Beschleunigung der fallenden Körper, sondern sie vermag auch den Ursprung ihrer lebendigen Kraft nachzuweisen. In derselben Weise erklärt sich auch der Druck, den die Körper auf ihre Unterlage ausüben, sowie die Arbeit, welche sie bei ihrem Herabsinken leisten können. Wenn ein Körper auf einer festen Unterlage ruht, so kann er zwar nicht in eine fallende Bewegung geraten, unterliegt aber nichtsdesto- weniger, wie alle übrigen Körper, der Einwirkung der Gravitationswellen. Die Veränderungen, welche seine inneren Bewegungen erleiden, können sich aber nicht als Beschleunigung, noch kann seine frei werdende po- tentielle Energie sich als lebendige Kraft äussern; sie wird nur auf die Unterlage übertragen und auf diese Weise zwischen den Körpern eine intermediäre Arbeit verrichtet, welche wir als Druck bezeichnen. Indem der belastete Körper dabei etwas zusammengedrückt wird, gelangt auch in ihm durch die eintretenden Veränderungen ein Teil der potentiellen Energie zur Wirksamkeit und wird ebenfalls zu einer intermediären, aber ent- gegengesetzten, von unten nach oben gerichteten Arbeit verwendet, welche der potentiellen Energie. II. 353 als Widerstand erscheint und dem ausgeübten Drucke entgegenwirkt. Durch die Arbeit dieses Widerstandes werden die in den Körpern durch Gravitationswellen veranlassten Veränderungen immer wieder rückgängig gemacht, die vergrösserte Ganghöhe der nach dem Mittelpunkte der Erde gerichteten schraubenförmigen Bewegungen wird verkürzt, die gestörten Interferenzen werden wieder hergestellt und die übertragene Energie zu- rückerstattet. Auf diese Weise bleibt ein Körper auf seiner Unterlage scheinbar unthätig liegen, während doch zwischen beiden ein beständiger Austausch von Bewegungen stattfindet. Die in dem belasteten Körper in Freiheit gesetzte potentielle Energie wirkt aber nicht allein dem Drucke entgegen, sondern in den Flüssigkeiten nach allen Seiten, in den festen Körpern dagegen in der Richtung nach dem Mittelpunkte der Erde, und überträgt auf diese Weise den erhaltenen Druck auf die tiefer liegenden Körper. Kann ein Körper nicht frei herabfallen, sondern nur arbeitleistend langsam niedersinken, so befindet er sich in einem Zustande zwischen der freien Bewegung und der Ruhe. Durch den Widerstand seiner Unter- lage werden jedoch in diesem Falle die durch die Gravitationswellen bewirkten Veränderungen nur teilweise wieder rückgängig gemacht, die Interferenzen nicht vollständig wieder hergestellt und die übertragenen Bewegungen nur zum Teil wieder zurückerstattet. Auf diese Weise ge- langt ein Teil der in Freiheit gesetzten potentiellen Energie zu einer äusseren Wirksamkeit, wird dabei auf einen anderen Körper übertragen und je nach den getroffenen mechanischen Vorrichtungen unter einem gleichzeitigen Sinken des Körpers zu einer bestimmten Arbeit verbraucht, die genau äquivalent ist der lebendigen Kraft, welche der Körper bei einem freien Herabfallen von derselben Höhe erreicht hätte, und daher auch äquivalent seinem Verluste an potentieller Energie. Soll-ein Körper in die Höhe gehoben werden, so muss zu dem Widerstande seiner Unterlage noch eine weitere von unten nach oben wirkende Arbeit hinzukommen, welche eine bestimmte Menge von Energie auf ihn überträgt und ihm neue Bewegungen zuführt. Indem diese Be- wegungen mit den in dem Körper während seines Emporsteigens unter dem Einflusse der Gravitationswellen aus ihren Interferenzen beständig heraustretenden Bewegungen sofort wieder interferieren, wird die bei dem Herabsinken des Körpers verbrauchte potentielle Energie wieder hergestellt, auf diese Weise ein latenter Arbeitsvorrat angesammelt, der genau äqui- valent ist der Arbeit, welche beim Heben des Körpers geleistet wird, und dieser selbst in denselben Zustand zurückversetzt, in dem er sich schon früher auf der Höhe befand. Soll ein Körper dagegen durch einen einmaligen Stoss in die Höhe hinaufgeworfen werden, so muss man ihm von unten nach oben eine ebenso grosse Geschwindigkeit mitteilen, wie er sie bei seinem Herab- fallen erreicht, oder eine Energie auf ihn übertragen, die äquivalent ist der Arbeit, durch welche er wieder auf dieselbe Höhe gehoben werden kann. Durch den Stoss wird zunächst in dem Körper die Ganghöhe der nach dem Mittelpunkte der Erde gerichteten schraubenförmigen Beweg- ungen seiner Punkte in dem Masse verkürzt, dass er dadurch gezwungen Kosmos 1884, I. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XIV). 23 354 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden etc. I. ist, bei seiner Bewegung im Raume hinter der Erde zurückzubleiben, und uns die Erscheinung einer aufwärts gerichteten Bewegung zeigt. Diese emporsteigende Bewegung kann jedoch von dem Körper nicht mit gleicher Geschwindigkeit fortgesetzt werden; durch den fortwährenden Einfluss der ihn erreichenden Gravitationswellen wird die verkürzte Gang- höhe der nach dem Mittelpunkte der Erde gerichteten schraubenförmigen Bewegungen seiner Punkte wieder vergrössert, seine äussere relative Be- wegung dadurch gleichförmig verzögert und zuletzt vollständig aufgehoben, so dass der Körper, auf einer bestimmten Höhe angelangt, momentan sich in Ruhe befindet und von da an wieder zu fallen beginnt. Während des Emporsteigens des Körpers tritt eine Umformung seiner translatori- schen Bewegung nach oben in innere Rotationen ein; indem diese Ro- tationen mit den in dem Körper bereits vorhandenen Bewegungen inter- ferieren, wird ein latenter Arbeitsvorrat als potentielle Energie angesammelt und der Körper überhaupt in den Zustand zurückversetzt, in dem er sich bereits vor seinem Herabfallen befand. Wir erkennen somit, dass sämtliche Erscheinungen der Schwere sich als Übertragungen der Energie oder als Umwandlungen derselben aus einer Form in eine andere darstellen lassen. Deshalb sind auch: die lebendige Kraft eines fallenden Körpers, die Arbeit, welche er bei seinem Herabsinken leisten kann, die Arbeit, welche ihn wieder in die Höhe hebt, und die Energie, welche ihm mitzuteilen ist, um ihn durch einen einmaligen Stoss emporzuwerfen, unter einander und ausserdem noch der potentiellen Energie äquivalent, die in derselben Zeit im Körper durch die Gravitationswellen in Freiheit gesetzt wird. Die Schwere ist daher eine von den Körpern untrennbare Eigen- schaft, die auf dem Wirksamwerden der potentiellen Energie beruht. (Fortsetzung folgt.) Darwinistische Streitfragen. Von Moritz Wagner. II. Zweckmässigkeit und Fortschritt der organischen Gebilde. Ein von mir sehr verehrter kenntnisreicher Forscher, der meine ‘ verschiedenen Beiträge zur Migrationstheorie mit Aufmerksamkeit gelesen, teilte mir brieflich sein Hauptbedenken gegen dieselbe mit. Diese Lehre, bemerkt er, erkläre nicht die Zweckmässigkeit der Organismen. Selbst wenn man die in meinem letzten Essay dargelegten Hauptthesen unverändert annehmen wollte, würde man doch »vor dem grössten Rätsel der Natur, der Zweckmässigkeit aller organischen Gebilde, der wunderbaren Anpassung all’ ihrer einzelnen Teile an die gegebenen Lebens- bedingungen noch ebenso ratlos stehen, wie vorherda sie ja auf ganz bekannten Thatsachen fussend eigentlich nichts Neues enthalte.« Gustav JÄGER bemerkt bezüglich der Deszendenztheorie einmal ganz richtig: »dass auch zu jener Zeit, wo die Abstammungslehre be- reits stark in der Luft lag, ihre stillen Anhänger wohl die Schlüssel zur Erklärnng in der Hand hielten, dass sie aber in den Hauptpunkten, auf die es ankam, das Schlüsselloch nicht fanden.« Vielleicht geht es mit der so oft wiederholten Frage nach der Ur- sache der zweckmässigen Formen aller Lebewesen und ihrer so einfachen Erklärung ebenso. Man könnte das Gesetz der Zweckmässigkeit und des Fortschrittes in grösster Kürze mit den Worten ausdrücken: »Die möglichst zweckmässige Gestaltung der Organismen ist eine notwendige Folge der zweckthätigen Übung ihrer einzelnen Organe. Der morphologische Fortschritt resultiert aus dem zufälligen Zusammentreffen günstiger individueller Variationen mit einem günstigen Wechsel der Lebensbeding- ungen in einem neuen Wohngebiet.« Moor und Torf.* Ein Beitrag zur Untersuchung über die Theorie der wechselnden kontinentalen und insularen Klimate. Von Clemens König in Dresden. ' Die Bedeutung der Moorfrage. Buyrr’s Plaidoyer. Disposition der Widerlegung. 1. Die eingehaltene Untersuchungsmethode erzwingt BLyTr’s Resultaten eine Auf- nahme sub conditione. 2. Auf logischem Gebiete bleibt das Plaidoyer fehlerreich. Wohl niemals dürften die Torfmoore die allgemeine Aufmerksamkeit der Touristen auf sich lenken. Denn im Sommer, wenn der Wanderer Erholung und Genuss sucht, findet er hier — Kot, Strapaze, Langeweile. Dem weidenden Hornvieh müssen Bretter unter die Füsse gebunden wer- den, damit es nicht einsinke. Höchst selten sind die wenigen Orte, wo Menschen wohnen, zu Pferd und Wagen erreichbar. Zumeist gilt es, mit langen Springstöcken ausgerüstet, von Hügel zu Hügel, von Bulte zu Bulte zu springen und so kreuz und quer im wunderlichen Zickzack dem vorgesteckten Ziele entgegenzueilen. Jeden Fehlsprung rächt sofort der hervorquellende schmutzige Pfuhl. Wenn die Dämonen der Nacht den Verspäteten irreleiten, dann kann für denselben der Ausgang so tragisch werden, wie ihn KasscH ? meisterhaft geschildert. Im Frühling und Herbst dagegen, wann Schnee und Regen unge- beten Ergiebiges leisten, wird das Moor weg- und pfadlos.. Hingegen im Winter, wenn das trauliche Heim die Touristen festhält und die beissende Kälte das Erdreich erstarrt und aus stehendem Wasser aller- orten tragfähige Brücken konstruiert, ist das Moor leicht zu überschreiten ; aber die einförmige, Leben weckende Pflanzenwelt, obgleich nur Heiden und Gräser, und in der Hauptsache nichts anderes als Gräser und Heiden aufweisend, liegt unter der toten Schneedecke vergraben. Und trotz alledem bleiben die weiten Torfmoore hochinteressante und bedeutungsvolle Glieder im Organismus unseres Planeten. Hochinteressant sind sie für den Geographen und Touristen. Wer * Dieser Aufsatz ist seit Anfang Januar 1884 in unseren Händen. Die Red. * Auf Herrn Biytt's Bemerkungen im Kosmos 1884, I, S. 254 ff. werde ich zunächst im folgenden Hefte des Kosmos eine Berichtigung und später, wenn mir mehr Zeit und noch mehr Stoff zu Gebote steht, eine selbständige Schrift folgen lassen. Cl. König. ®? Kabsch, Das Pflanzenleben der Erde. 1865. S. 212. 364 Clemens König, Moor und Torf. beispielsweise zwischen Hesepertwist und Ruetenbrock ' das Moor von Bourtange und Twist kreuzt, wird hier, wo kein Baum, kein Strauch, keine Hütte, noch sonst ein Gegenstand von der Höhe eines Kindes auf der buckeligen Decke steht, das Schauspiel geniessen, seinen Blick, in welcher Richtung er auch über die unermessliche Einöde dahinfliege, von der reinen Kreislinie gefangen und eingeschlossen zu sehen, ein Schau- spiel, welches sich sonst nirgends auf dem festen Boden darbietet. Mächtig wird das empfängliche Gemüt durch den Zauber tiefen Friedens und heiliger weltvergessender Sehnsucht ergriffen. Unvergesslich bleibt ihm die gewordene Lektion: die Natur ist überall, selbst da, wo sie mit den geringsten Mitteln und in einförmigster Verkettung schafft, — gross, überwältigend, erhaben. Hochinteressant ist das Torfmoor ferner für den sammelnden Bo- taniker. Hier, wo das Ackerland nach sechs Ernten eine dreissigjährige Brache erfordert?, wo die Bevölkerung eine sehr bemerkbare Auflockerung erfährt, wo der rationelle Landbau von den kleinen Dörfern, den weit auseinander gelegenen Kulturzentren, nur in langsamen, kraftlosen Wellen über die weite Fläche hinzieht, hier müssen sich relativ grosse Zwischen- gebiete mit einer Vegetation vorfinden, auf deren Zusammensetzung der Mensch so gut wie keinen Einfluss ausgeübt hat. Diese Zwischen- gebiete zeigen uns die letzten Stücke der ursprünglichen Pflanzendecke, ohne damit zu sagen, dass dieselbe in allen ihren Teilen gerade der- artig zusammengesetzt gewesen. Die Formation des Moores ist ausser- dem zugleich zu einem Asyl geworden, wo verdrängte Geschlechter ihre letzten Tage verleben und von längst verschwundenen Zuständen und verklungenen Zeiten erzählen. Hierin wurzelt das überaus hohe Interesse, womit das Studium der Torfflora so reichlich lohnt. Das Moor ist aber mehr als interessant; es ist sogar in vieler Beziehung sehr bedeutungsvoll. Vorerst erscheint es als ein gross angelegter Speicher, welcher oft überreich mit rezenter Kohle bester Art angefüllt ist. Wollte man z. B. dem Bourtanger Moor auch nur eine mittlere Tiefe von 10 Fuss bei- messen, so wäre hier ein unausgebeuteter Schatz von 250 Kubikmeilen des vorzüglichsten Brennstoffes vorhanden und kommenden Geschlechtern eine fast unerschöpfliche Quelle des Wohlstandes sicher gewahrt®. Sie zu erschliessen, bedarf es vieler Hände und reicher Mittel. Statt immer nur Expeditionen auszurüsten, welche respektable Summen nach Afrika tragen und keine Kolonien gründen, sollten wir daran denken, unser nord- westliches Deutschland mit noch mehr grossen Kanälen zu durchziehen. Dem ! G@risebach, Gesammelte Abhandl. $. 45. ®2 Finke, Der Moorrauch in Westfalen. 1825. S. 25. Guthe, Die Lande Braunschweig und Hannover. S. 60, 61. ® Grisebach, l. c. S. 78. Guthe, l.c. 8.59. „Eine 10 Fuss mächtige Schicht würde beim Zusammentrocknen auf etwa die Hälfte reduziert werden. Die so erhaltene Mächtigkeit von 5 Fuss würde ihrer Heizkraft nach einem Steinkohlen- lager von 3 Fuss Mächtigkeit entsprechen. Nehmen wir nun die produktive Moor- fläche zu etwa 100 Qu.-Mln. an (die Prov. Hannover allein hat 101,94 Qu.-Mln. produzierende Fläche), so würde unser im Torf enthaltenes Brennmaterial unsere Jährliche Steinkohlenproduktion um das Zehntausendfache übertreffen.“ Clemens König, Moor und Torf. 365 einzelnen wäre dann vielmehr Gelegenheit geboten, rechtwinkelig an- schliessende Nebenkanäle verschiedenen Ranges auszuwerfen. Das Schiff macht den Fehntjer selbständig, und das reichgegliederte Kanalsystem ver- wandelt die aufblühende Fehne (Moorkolonie) zugleich in eine Schule des Schiffbaues und der Seeschiffahrt, ein Umstand, welcher wiederum gewiss klar genug für die Wichtigkeit der Moorkolonien zeugen dürfte. Sobald aber der rationelle Landbau in diese Distrikte eingezogen, ist die Basis für einen Wohlstand geschaffen, welcher nicht durch Krisen und Konjunkturen ge- fährdet, sondern, stetig weiter geführt, einen intensiven Ackerbau gross- zieht und unserem nordwestlichen Deutschland eine glückliche Zukunft ver- heisst, wie sie das schwesterliche Holland in Gegenwart fröhlich geniesst. Eine solch anmutige, verlockende Aussicht lässt den Nationalökonomen gern bei den Moordistrikten verweilen und wünschen, dass dem Lande bald ein zweiter Dieprich voN VEELEN?, ein zweiter Finporr” werde. Damit ist jedoch die Bedeutung der Moore noch nicht erschöpft. Von gleichhohen und gleichnachhaltigen Reizen der Moore spricht begeisternd ferner der spekulative Forscher. Durch die Art ihres Schaffens, dass rezente Kohle entsteht, geben sie ihm einen nicht misszuverstehen- den Fingerzeig, in welcher Weise die Natur bei der Erzeugung minera- lischer Kohlen verfahren. Durch die Möglichkeit, die hier aufgespeicherten Pflanzenreste erforschen und bestimmen zu können, werden ihm die Moore zu gewaltigen Denkmalen organischer Thätigkeit, zu gut verwahrten Archiven voll gewichtiger Urkunden über längst vergangene Zustände. Denn, wer die Reste der in verschiedenen Torfetagen liegenden Pflanzen nat, rekonstruiert damit die einstmaligen Physiognomien des Moores. Da aber jede Pflanzenart, wie DE CANDOLLE m richtig meint, ein Spezial- thermometer ist, dessen Nullpunkt da liege, wo die atmmosphärische Wärme ausreicht, das Pflanzenei keimen oder die Knospen schwellen zu lassen, da jede Pflanzenart, wie GRISEBACH immer und immer an bestimmten Beispielen hervorhebt, die zusagende Temperatur und Feuchtigkeit eine gewisse Anzahl Monate hindurch ununterbrochen geniessen muss, so kann aus der Existenz der im Moor gefundenen Pflanzen sogar auf den Zu- stand des Klimas zurückgeschlossen werden, vorausgesetzt, dass die Grenzwerte der betreffenden Pflanzen bekannt sind. Von diesem Gesichts- punkte aus, welchen Rexnıe wohl zuerst andeutend verfolgte und zwar bereits 1807, betrachtet Bryrr die Moore des südöstlichen Norwegens, er verknüpft den geschilderten Gesichtspunkt mit den Hebungserschein- ungen seines Landes. Aus ersterem leitet er einen mehrmaligen regel- ! Grisebach, l.e.S.115f. Krümmel im Atlas des Deutschen Reiches, 1876. I. Teil. S.15. Guthe, 1. ce. S. 66, 68. Jetzt zählen die Gebiete an der mitt- leren Ems nur ca. 1000 Einw. auf eine Qu.-Ml. Jedoch die 19 Fehne Ostfrieslands umfassten 1858 in Summa 1°, Qu.-Mln., wovon noch nicht eine volle Qu.-Ml. in Kultur genommen war, und diese hatte 153 233 Einw. ® Diedrich von Veelen legte nach dem Muster der Holländer 1675 diejenige Moorkolonie an, welche heute die blühendste von allen ist — pen: Karl Findorf, — auf dem Heiderberg bei Worpswede ist ihm ein Denk- mal errichtet — arbeitete (ca. 1760) mit seltenem Eifer an der Kultur der Moore ‚des ehemaligen Herzogtums Bremen. 90 Kolonien hat er nach und nach gegründet (1720 die erste). 366 Clemens König, Moor und Torf. mässigen Wechsel von kontinentalen und insularen Klimaten und aus letzteren ein Zeitmass her, nach welchem der Bildungsprozess von Torf- massen verlaufe. Sein Ideengang, soviel als möglich mit seinen eigenen Worten wiedergegeben, ist in Kürze folgender: Der Torf besteht zum wesentlichsten Teile aus Überresten von Sumpf- und Wasserpflanzen, die an Ort und Stelle gewachsen sind und durch Wasser und Feuchtigkeit gegen die Einwirkung der Luft und die Verwesung beschützt werden. Viele Moore waren ursprünglich kleine Teiche. Zuerst fanden sich Wasserpflanzen und Wassertiere ein, später Sumpfpflanzen, besonders Sumpfmoose, die Sphagnıum-Arten, welche einen nachgebenden, schaukelnden Teppich über ‚dem Wasserspiegel bildeten. Erreichte die Moosdecke allmählich eine grössere Dicke, dann presste sie die unterliegenden Schlammschichten mehr und mehr zu- sammen, und die Torfschicht sank unter fortgesetztem Wachstum jener nach, bis sie endlich oft den ganzen Teich ausfüllte. Jedoch der eigentümliche anatomische Bau, welchen die Sphagnum- Arten besitzen, befähigt sie, auch an solchen Stellen Torf zu bilden, wo kein Wasserspiegel vorhanden. So findet man häufig Moore, die auf altem Waldboden ruhen. Waldreste und Baumstümpfe liegen aber auch schichtenweise zwischen dem Sphagnum-Torf. Die ältesten nor- wegischen Moore, deren mittlere Tiefe 16 Fuss beträgt, haben folgen- den Bau: x Obenauf liegt eine Schicht von fast oder durchaus unvermischtem Sphagnum, welche 4 bis 6 Fuss mächtig ist. Darunter ruht zunächst eine Lage von Wurzelstöcken mit einzelnen umgeworfenen Stämmen, zumal von Kiefern und Birken. Weiter abwärts folgt eine dunkle Schicht aus mehr oder weniger verändertem Sphagnum-Moos. Daran schliesst sich in einer Tiefe von 8 bis 10 Fuss eine ältere Wurzelschicht, noch tiefer folgt eine holzfreie Lage fetten Brenntorfes, dann bei 12 bis 14 Fuss eine dritte Waldschicht und darunter liegt, auf Lehm oder Sand ruhend, eine an Mächtigkeit variierende Torfschicht. So sind die ältesten Moore aus vier Sphagnum- und drei Lagen von Wurzel- stöcken und Waldresten gebaut. Diese Wurzelstöcke sind nicht Reste von durch Menschenhand ge- fällten Bäumen, sondern von Bäumen, welche einst das trockengewordene Moorgebiet überzogen. Denkt man sich nun, so plaidiert Bryrr weiter, dass diese Waldmoore aufs neue nässer würden, so würde offen- bar der Wald zu Grunde gehen, und das Sphagnum-Moos würde aufs neue die Oberhand bekommen und die Wurzelstöcke überwuchern. Aus diesen Mooshügelchen mit ihren alten Wurzelstöcken würden sich im Laufe der Zeit Wurzellager derselben Art bilden, wie wir sie in den älteren Torflagern finden. Die Wurzellager bedeuten somit Zeiten, wo die Oberfläche des Moores trockener war als sonst, Zeiten, in welchen die Torfbildung vielleicht Tausende von Jahren hindurch aufhörte, um später wieder aufs neue anzufangen. Um diese Änderungen im Feuchtigkeits- zustande zu erklären, darf man nicht lokale Ursachen, wie Ver- Clemens König, Moor und Torf. 367 dämmung des Ablaufes, Sinken der Oberfläche, Ausgrabungen durch Bäche u. Ss. w., sondern muss vielmehr die Theorie der wechselnden trockenen (kontinentalen) und feuchten (insularen) Klimate heranziehen. Wenn dieRegenmengeundFeuchtigkeitderLuftsich veränderte, musste auch die Oberfläche der Moore trockener und feuchter werden, und in solcher Weise werden sich dann im Laufe der Zeiten derartige abwechselnde Schichten von Torf und Waldresten gebildet haben, wie wir die- selben in unseren Mooren finden. Wenn der Wechsel von Torf- und Waldschichten auf lokale Gründe zurückzuführen wäre, dann müsste man auch in den nassen Mooren ebenso oft Wurzelschichten finden, als in den trockenen; denn solchen Falls müssten ja doch auch manche Moore gegenwärtig nässer sein, als früher. Die Moore sind gegenwärtig im grossen Ganzen trockener als früher; sie sind mit Wald und Heide bedeckt, und nur da, wo die Oberfläche in unseren Tagen wald- und heidebewachsen ist, finden sich Wurzel- lager. Soweit meine Erfahrung reicht, sagt Bryrr, fehlen dieselben in nassen Mooren. Der Gegenwart ging somit eine nasse Zeit voran, wäh- rend welcher die oberste Sphagnum-Schicht sich bildete. Ein bis zwei Fuss unter der Oberfläche finden sich in derselben häufig vorhistorische Steingeräte, ein Beweis, dass die Zeit ihrer Bildung weit zurückliegt. Norwegen ist seit der Eiszeit im Verhältnis zum Meer gestiegen. Die Torflager sind daher um so jünger, je näher sie dem jetzigen Wasser- spiegel liegen. Je jünger sie sind, desto seichter und desto kleiner ist die Zahl der wechsellagernden Schichten. In den niedrigsten Gegenden des südöstlichen Norwegens, d. h. bis 50 Fuss ü. d. M., finden sich Moore von 2 bis 4 Fuss Mächtigkeit; die Waldschicht fehlt ihnen. In der Höhe von 30 bis 50 Fuss ü. d. M. finden sich Moore von 5 Fuss Mitteltiefe mit einer Wald- und Torfschicht. Von 50 bis 150 Fuss wächst die mittlere Tiefe des Torfes von 5 bis 10 Fuss und es enthält zwischen zwei Torfschichten eine Waldschicht. Von 150 bis 350 Fuss ü. d. M. finden wir Moore von 10 bis 12 Fuss Mitteltiefe mit je zwei Wald- und Torfschichten. Höher als 350 Fuss finden wir Moore von 13 bis 14 Fuss mittlerer Tiefe mit zwei in Torf eingeschlossenen Waldschichten. In noch grösserer Höhe finden wir endlich die ältesten Moore mit vier Sphagnum- und drei Waldschichten. Oberhalb der höchsten Wasserstandszeichen (ca. 600 Fuss) wächst jedoch die Tiefe des Torfes nicht mehr mit der Meereshöhe; denn die Moore, welche 700 bis 800 Fuss ü. d. M. liegen, sind durchschnitt- lich ebenso tief als diejenigen, welche 1500 bis 2000 Fuss ü. d. M. liegen. Diese Regel ist nicht ohne Ausnahme: selbst in be- deutenden Höhen findet man nämlich oft Moore von geringer Tiefe, aber in -letzteren findet man beständig Kohle und in den kohlenhaltigen Schichten stehen auch Wurzelstöcke, die nicht verbrannt sind. Kohle ist aber auch in unseren Wäldern häufig, und zwar so häufig, dass es kaum einen Wald ohne Kohlen gibt. Da der Blitz dürre Bäume an- zündet und solche in der Zeit der Urwälder im Überfluss vorhanden 368 Clemens König, Moor und Torf. waren, so konnten Waldbrände natürlich leicht entstehen und ohne Zu- thun der Menschen. Sehr trockene Torflager sollen in warmen Sommern sogar durch Selbstentzündung in Brand kommen können, und das Feuer soll sich bis 12 Fuss unter die ursprüngliche Oberfläche des Torfes ver- pflanzen können. Auf solche Weise wird es möglich, dass man Moore, dieauf Waldgrund ruhen, selbstin solchen Gegenden finden kann, die unter Regenzeiten aufgestiegen. Die zu oberst gelegene Sphagnum-Schicht aller Moore, gleichviel auf welcher Höhenstufe sie liegen, ist gleichalt. Voran ging eine Zeit, in welcher sich überall die oberste Waldschicht bildete. Unmittelbar voraus ging eine feuchte Zeit, in welcher sich, immer von oben herab gezählt, überall die zweite Moosschicht erzeugte. So sind überall die entsprechenden Schichten gleichalt, und den sieben Schichten ent- sprechen sieben Perioden, eine Zahl, die sich als zu klein erweist, wenn die dänischen Moore mit in Betracht gezogen werden. Diese enthalten unter der tiefsten Sphagnum-Schicht Reste glazialer Pflanzen, welche nach Bryrr auf eine trockene Zeit hinweisen. Als aber das Gletschermaterial sich bildete, in welchem diese Pflanzen wurzeln, da war das Ende der Eiszeit. Rechnen wir noch die Gegenwart, welche wiederum trocken ist, hinzu, dann erhalten wir die 10 Perioden bis zur Eiszeit, von denen Bryrr und seine Freunde sprechen. Erst die 10. Periode, die Gegenwart, schmückte Dänemark mit Buchen; denn davon sollen in keiner Torfetage Reste aufzufinden sein. Vielmehr sammle der Forscher, wenn er von oben nach unten fortschreitet, zu oberst die Reste der Erle (Alnus glutinosa), dann die der Eiche (Quercus sessiliflora), darunter die der Kiefer (Pinus silvestris) und am tiefsten die der Zitterpappel (Populus tremula). Damit ist nach Bryrr aber nicht nur der Wechsel von trockenen und feuchten Zeiten, sondern auch die Herausbilduug eines immer wärmer gewordenen Klimas bewiesen, ein Wechsel, welcher, wie die Schieferkohlenlager bei Dürnten in der Schweiz angeblich darlegen, noch weiter zurück verfolgbar sei, denn die sieben durch Torfschichten getrennten Waldlagen berechtigten, der Interglazialzeit 13 oder 14 Perioden zuzuschreiben. Die meisten Kohlen- lager sollen einen ganz ähnlichen Wechsel dokumentieren. Nochmals sei hervorgehoben, dass diese kurze Wiedergabe des Blyttschen Plaidoyers nach Wort und Logik dem Original! getreulich nachgebildet worden ist. Zumeist ist die Wiedergabe eine rein wörtliche. »Wenn an der oben besprochenen, äusserst inhaltsreichen Schrift, so sagt der Referent in Jusr’s botanischem Jahresbericht (1876, S. 693), etwas auszusetzen ist, so wäre es der Umstand, dass durch keinerlei Inhaltsangaben, Einteilung in Kapitel oder dergleichen, die Übersicht über die Menge von Thatsachen erleichtert wird und dass der Verfasser sehr oft die englischen Vulgärnamen statt der lateinischen Pflanzennamen ' Vgl. Engler’s bot. Jahrb. 1882. II. Bd. — Essay on the immigration of the Norwegian Flora during alternating rainy and dry periods. 1876. — Tidsskrift for Populäre Fremstillinger af Naturvidenskaben. 1878. S. 81 ff. — Jagttagelser over det sydöstlige Norges Torvmyre, in Christiania Videnskabsselskabs Forhand- linger. 1882. Clemens König, Moor und Torf. 369 anwendet.« Gleich vorteilhaft spricht DrupE in Benm’s geographischem Jahrbuch (1882, S. 142) von vorgetragener Spekulation. Und das Echo dieser beiden Stimmen klingt an vielen Orten und zwar in solcher Über- treibung wieder, dass es not thut, dieselben auf das billige Mass zu- rückzuführen. Unsere im vorigen Jahrgang des Kosmos publizierten Aufsätze lassen daran kaum einen Zweifel aufkommen, dass die Theorie der wechselnden kontinentalen und insularen Klimate in dem Florenbilde Norwegens durch- aus keine Stütze findet. Mithin bleibt ihr als einzige Säule das in den Hauptpunkten wiedergegebene, auf den schwankenden Boden der Moore und Torflager gebaute Plaidoyer!. Ist aber dieser testis unicus, wie be- hauptet wird, wirklich ein testis omni exceptione major? Non numeranda, sed ponderanda argumenta. Diesen Satz respek- tieren wir ganz und voll. Wir wissen auch, dass GrisegacH? mit Recht niederschrieb, als er über NarnHorsr’s Glazialflora auf dem Grunde der Moore referierte: »Die streitigen Ansichten über die klimatischen Änder- ungen seit der Eiszeit sind einer ernsten Prüfung zu unterwerfen.« Dieser Forderung ist aber bis heute noch nicht entsprochen worden. Versuchen wir, diese Aufgabe zu lösen. Obgleich die Anerkennung, welche unseren Aufsätzen geworden, uns hierzu ermutigt, so bleiben doch die Mühen und Arbeiten, die unser warten, dieselben. Wie gross und umfänglich sie sind, verrät GrissgacH’s” Ausspruch: »Neuere und ältere Schriftsteller, welche sich mit der Theorie der Torfbildung beschäftigt haben, untersuchen die physischen Bedingungen, von denen die Entstehung und das Wachstum des Torfes abhängen, aber sie ver- nachlässigen die Frage, aus welchen Bildungsstoffen die Moore hervorgegangen sind, bis zu dem Grade, dass so zahlreiche als widersprechende Angaben, welche sich hier- über in einer umfangreichen Litteratur finden, ohne Aus- nahme als fehlerhaft oder unvollständig und von irrtüm- lichen Voraussetzungen ausgegangen, zu betrachten sind.« Damit ist zugleich angedeutet, dass unsere Aufgabe weit über Bryrr hinausgreift und nur von seiner Hypothese der Torfmoore aus- gehen kann. Dabei ordnen sich die vorzubringenden Stoffe wie von selbst unter nachstehende drei Fragen: l. Gesetzt, alles was Buyrr geschrieben, sei durch und durch makel- los, so bleibt doch die Frage offen: Genügt die eingeschlagene Unter- suchungsmethode, so weittragende Resultate zu finden? 2. Wenn aber vorausgesetzt wird, dass die von Buyrr eingestellten Thatsachen richtig sind, dann bleibt zu fragen: Wie ist die innere Beziehung, die logische Verknüpfung und wie weittragend sind die vor- ! Kosmos 1884, I, S. 262 hat Herr Blytt seine Gründe als sechsfach hingestellt. Davon sind die ersten drei zurückgewiesen. Die letzten drei wollen wir auch im Zusammenhang behandeln; sind sie doch geologischer Art. Folglich ist unsere Zweiteilung berechtigt. 2Grisebach, 1 c.8. 501. > Grisebach,]1. 6. 8.5». Kosmos 1884, I. Bd. (VII. Jahrgang, Bd. XIV). 24 370 Clemens König, Moor und Torf. gebrachten Thatsachen? Damit ist aber auch der Inhalt der dritten Untersuchung bestimmt: 3. Das dargebotene Material muss auf seine eigene Solidität hin begutachtet werden. Indem wir diese drei Kapitel eingehend zu behandeln versuchen, werden und müssen wir nicht bloss scheinbar, sondern in der That drei von einander ganz unabhängige Resultate gewinnen, welche uns berechtigen, ein entscheidendes Schlusswort zu sprechen. I. Über die Untersuchungsmethode. Die von Bryrr untersuchten Moore und Torflager liegen im südöstlichen Norwegen. Von den 1534 Qu.-Mln., welches Areal die Stifte Christiania und Hamar besitzen, kommen auf die Torfmoore 54!/a Qu.-MlIn. unterhalb und 36 Qu.-Mln. oberhalb der Kulturgrenze für Cerealien!. Wir erfahren nicht, ob Bryrr alle diese Moore untersucht hat. Aber gesetzt, es sei so, dann bilden sie doch nur einen kleinen Bruchteil von der Gesamtfläche aller hierher gehörigen Distrikte des norwegischen Landes, vor allem von der betreffenden Gesamtfläche der skandinavischen Halbinsel. Dieser Bruch wird noch viel kleiner; er wird ein Minutissimum, sobald die untersuchte Moor- fläche als Zähler und der Flächenraum aller Moore der Erde als Nenner gesetzt wird. Wir verlangen also in diesem Stücke eine Methode, wie sie PEsCHEL in seinen Problemen der vergleichenden Erdkunde meister- haft übt; wir müssen sie verlangen, denn Bryrr’s Moorstudien bieten keine detaillierten, keine mit dem Mikroskop ausgeführten Spezialunter- suchungen, wie vielfach gedacht wird; ausserdem verteidigt Bryrr den Gedanken, daraus Beweise gegen lokale Änderungen der Feuchtigkeit und für klimatische Wandlungen ableiten zu können. Ferner legt die Untersuchungsmethode sehr grosses Gewicht auf die angebliche Wechsellagerung von Sphagnum-Schichten und Wurzel- lagen im Torf. Aber dieses geologische Phänomen wird allein betrachtet, wird nicht in organischen Zusammenhang mit dem Kapitel von der Wechsel- lagerung überhaupt gebracht?. Die Steinsalzlager der Dyas und alle Steinkohlenflötze beispielsweise zeigen in der produktiven Schicht wechsel- lagernde Thon- und Lettenstraten, welche wohl mit grösserer Bestimmt- heit auf eine mehrmalige und weit grössere Wasseranstauung hinweisen, als die von Bryrr herangezogene Erscheinung. Aber keinem Forscher ist es bis jetzt eingefallen, hieraus einen Wechsel von trockenen und nassen Perioden zu je 10500 Jahren abzuleiten. Erwähnte Formationen, was wohl zu beherzigen sein dürfte, sind nach dem einstimmigen Urteil aller Geologen weit älter, als die Erscheinungen des Klimas. Eine nach- trägliche Erklärung dieser Art, d. h. jene Formationsglieder als Schöpf- ! Schübeler, Pflanzenwelt. S. 8. 2 ” Diese Lücke ist nicht durch die Abhandlung geschlossen: A. Blytt, Über Wechsellagerung und deren mutmassliche Bedeutung für die Zeitrechnung der Geo- logie und für die Lehre von der Veränderung der Arten. Vgl. Biologisches Cen- tralblatt. Bd. III. S. 417 ft. Clemens König, Moor und Torf. 371 ungen eines Wechsels der Klimate hinzustellen, würde nicht helfen; denn jeder Geologe wird jetzt und so zu allen Zeiten das Problem der Wechsellagerung stets aus dem Lokalen erklären. Selbstverständlich ist, dass derjenige, welcher einen Klimawechsel innerhalb der Diluvialzeit, und sei es auch nur für Norwegen, nachweisen will, alle diluvialen Bildungen auf diese Frage hin untersuche. Dies ist hier nicht geschehen, nicht einmal mit dem vorhandenen diluvialen Pflanzen- material. Und doch ist allbekannt, dass in Skandinavien beispielsweise diluviale Kalktuffe und Süsswasserkalke zwischen stehenden Rohrstengeln von Arundo die Blätter unserer Pappel, Eiche, Buche, Linde und Weide, und zwar regellos unter einander gemischt, aufbewahren. Wollten wir alle die ausgelassenen homologen Erscheinungen auf- zählen, welche über dieses Thema mitzusprechen berufen sind, so würde unsere Reihe ziemlich lang. Erlaubt sei es uns, nur eine einzige noch heranziehen zu dürfen, nämlich das Verschwinden gewisser Pflanzen und Tiere innerhalb der Quartärzeit. Bekanntlich standen vor langen Zeiten rauschende Wälder längs der norwegischen Küste von Bergen bis hinauf nach Vadsö und Varanger, und selbst in Höhen, wo heute der Wald nicht mehr aufwachsen will. Und doch lehrt uns Bryrr, dass Norwegen seit dem Ende der Eiszeit niemals eine solch günstige »kontinentale Periode« genossen habe, als gegenwärtig. Ist das wahr, dann sollte sich der Wald überall ausbreiten, aber nicht trotz aller Pflege, die ihm zu teil wird, sich auf immer kleinere Areale beschränken. Dass beide Erscheinungen nicht im Klima, sondern in ganz anderen Faktoren begründet sind, haben wir bereits erwiesen und in SerrLAnp’s Untersuchungen dafür eine neue Bestätigung gefun- den!. Dass die grossen diluvialen Tiere dahingestorben, resp. sich weiter nach Norden gezogen, zeigt gleichfalls auf umgestaltende Mächte hin, welche ausserhalb der Reihe der klimatischen Faktoren stehen. Denn das Klima zwingt sie nicht, die verlassenen Gebiete zu meiden. Ferner muss zugestanden werden, dass die Allgewalt einer Methode darin beruht, die aller schlagendsten indicia facti aufgefunden zu haben, ein Umstand, den wir bei Bryrr vermissen. Denn bekanntlich mangelt den Torfmooren des südöstlichen Norwegens grösstenteils der Zustand der Ursprünglichkeit. Zehn Jahre vor dem Erscheinen der Blyttschen Untersuchungen schrieb Schüserer? bereits: »Hier im südöstlichen Nor- wegen sind nach und nach ziemlich grosse Strecken dieser Moore urbar gemacht, und namentlich ist hier in den letzten Jahren von Seiten des Staates vieles für das schwierige Abzapfen geschehen, um die Moore auch zum Torfstechen nutzbar zu machen.< Welche weitere Veränder- ungen mögen hier der »hazardieuse Getreidebau«, die hohe Wertschätz- ung immatrikulierten Landes, die sorglichst gepflegte Drainage und Arrosage der Felder und Wiesen und vor allem die seit Urgrossvaterszeiten im grossen Stile betriebene Brandkultur nach sich gezogen haben! Buyrtr ı Kosmos XII, 1883. S. 595 ff. — Österr. bot. Zeitschr. 1881. S.6. — Vgl. Sechster Jahresb. d. Annaberg-Buchholzer Vereins f. Naturkunde. 1883. S. 97, die Beforstung des Pöhlberges betreffend. 2 Pflanzenwelt. S. 8. 372 Clemens König, Moor und Torf, bekennt selbst, dass nicht ein Wald, nicht ein Torflager hier existieren dürfte, wo die vom fressenden Feuer zurückgelassene Kohle fehle! Alle diese Faktoren — und wir werden später noch andere und viel wichtigere zu verzeichnen haben — verfälschen und verändern den ursprünglichen Zustand; sie alle arbeiten auf ein Ziel, auf die Trockenlegung der Moore hin, ein Resultat, welches Bryrr benutzt, um die Existenz von trockenen klimatischen Perioden herzuleiten. Die im Torf eingelagerten Kohlen, sagt Bryrr wörtlich, erklären die geringe Tiefe der vielen Moore, welche von der Regel eine Ausnahme machen, von dem Schema, wie viel Fuss Tiefe und wie viel Schichten jedes Torflager, seiner Höhenlage entsprechend, besitzen solle. Das durch Blitz oder Selbstentzündung geschaffene Feuer soll sich bis 12 Fuss unter die ursprüngliche Oberfläche des Torfes verpflanzen können! Wer dergleichen Zugeständnisse macht, bekennt, dass die meisten Torflager sich nicht in statu nascenti, nicht im beweisfähigen Zustande befinden. Folglich bleibt nichts anders übrig, als entweder die Menge der be- treffenden Moore als beweisunfähiges Material auszuscheiden oder ein befriedigendes Rekonstruktionsverfahren ausfindig zu machen. Und beides ist nicht geschehen. Und wie steht es mit den Merkmalen, welche für die Hebung der Küste sprechen? Wie verknüpft die Natur selbst diese Anzeichen mit den Torfmooren? Hierauf antworten wir mit Bryrr’s eigenen Worten: »In den Teilen des Landes, wo Strandlinien und Terrassen am meisten ausgeprägt sind, fehlt es bisher ganz oder wenig- stens fast ganz an Untersuchungen über die Torfmoore, und wo letztere untersucht sind, in diesen Gegenden fehlen lei- der sowohl Strandlinien als ausgeprägte Terrassen.« Die Antwort lässt darüber keinen Zweifel aufkommen, dass die vorgetragene Spekulation nicht gross auf Thatsachen, sondern auf Mut- massungen basiert. Dem südöstlichen Norwegen, so fügen wir zur Be- ruhigung hinzu, fehlen von drei Hebungsmerkmalen, von den Strandlinien, Terrassen und Muschelbänken — zwei. Aber die vorhandenen Muschel- bänke verteilen sich nicht wie im benachbarten Schweden (Bohuslän) auf alle, sondern nur auf wenige Horizonte innerhalb jener 600 Fuss, ein Umstand, der auf lokale Störungen hinweist. Können da, wo Muschel- bänke zerstört wurden, nicht auch Torfmoore vernichtet oder verändert werden ? Als einen ferneren gravierenden Umstand müssen wir hervorheben, dass es der Methode an Durchsichtigkeit gebricht. Nirgends erfahren wir, wie viel Moore und Torflager im südöstlichen Norwegen existieren, wie viel davon Buyrr stratigraphisch aufgenommen, in welcher Zahl sich letztere auf die unterschiedenen sechs Höhenstufen verteilen; nirgends wird mitgeteilt, wie viel Moordistrikte für und wie viel gegen die, auf- gestellte Regel sprechen; nirgends wird angegeben, wie viel tiefe Moore vorhanden sind, in denen alle Waldrestlagen fehlen!. Die Angaben: »An ! Auch die in Christ. Vidensk. Forhandlinger 1882 publizierten Jagttagelser etc. lassen, obgleich 136 Beobachtungen darin vorliegen, die begehrte Durchsichtig- keit vermissen. Bekanntlich figurieren überall die verschiedenen Teile ein und des- Clemens König, Moor und Torf. 375 manchen Orten«, »In der Regel«, »Häufig«e, »Oft«, »Selten«e u. s. w. vertauscht jede exakte Methode mit klaren arithmetischen Werten. Das statistische Moment hat Bryrr bei seinen Untersuchungen ganz und gar vernachlässigt. Zum Schluss müssen wir noch auf das Verfahren zurückkommen, welches Bryrr verfolgt hat, um die Bildungsgeschichte der Torflager zu lösen. Von den drei möglichen Pfaden!, so sollte man meinen, würde der Botaniker von Fach denjenigen einschlagen, welcher sich der Bestim- mung der angehäuften pflanzlichen Reste widmet. Man erwartet, dass der Professor der Botanik die aus allen Tiefenhorizonten gesammelten Torf- proben unter dem Mikroskop analysieren werde. Aber von dergleichen Unter- suchungen spricht Bryrr nirgends; im Gegenteil bemerkt er in EnGLEr’s botanischem Jahrbuch (1882, S. 12) ausdrücklich, dass »die Untersuch- ung der Torfmoore teils durch Besuch der Torfstiche, teils durch An- wendung eines Torfbohrers geschah, welcher so konstruiert war, dass man mit demselben Torf aus verschiedenen Tiefen aufnehmen konnte«. Dass die aufgehobenen Proben unter dem Mikroskope untersucht wurden, wird, wie bereits gesagt, nirgends angedeutet, und nirgends wird darauf gefusst. Somit gewinnt es den Anschein, als wollte Bryrr durch seine Untersuchungen nichts weiter finden als die Mächtigkeit der Torfmasse und die Anzahl der angeblichen Schichten. Genügen hierzu die gehand- habten Mittel? Sicheren Aufschluss geben sie wohl über die entsprechen- den stratigraphischen Verhältnisse eines Gebirges. Aber ein Moor, ein Torflager ist eine Gebirgsmasse, wenn wir so sagen dürfen, ganz anderer Art. Hier ist die Oberfläche, auf welche der Bohrer gestellt wird, durch kein Nivellement präzisiert; folglich kann nicht ermittelt und bewiesen werden, dass die bei gleich tiefem Eindringen des Bohrers aufgehobenen Proben aus ein und derselben Torfschicht stammen. Dazu weiss ein jeder, der einmal mit einem Tiefbohrer auf der, wenn auch nicht schwanken- den, so doch stets nachgiebigen Moordecke gearbeitet hat, dass man sein Einsinken, besonders da, wo der Torf amorph und breiig ist, nicht derartig in der Gewalt hat, wie gefordert werden muss, wo es gilt, wie nicht ausser acht zu lassen ist, so geringfügige Grössen, immer nur ein oder zwei Fuss zu ermitteln. Mithin lässt sich durch diese Art der Untersuchung die Streitfrage nicht entscheiden, ob die Holzreste im Torf wirkliche und kontinuierliche Schichten im geologischen Sinne oder nur regellos verteilte Einschlüsse bilden, welche bekanntlich hie und da zu scheinbaren Schichten zusammentreten. Hätte Prof. Bryrr Untersuchungen publiziert, welche sich mit einzelnen Torflagern und zwar in bezug auf alle möglichen Fragen und lokalen Details befassen, dann hätte er die Wissenschaft — auf diesem Gebiete — wirklich gefördert und Dank und Anerkennung von seinen Zeitgenossen geerntet. selben Moores, sofern sie verschiedenen Besitzern gehören, lokale Unterschiede auf- weisen oder sofern sie abgestochen, abgebrannt, bebaut u. s. w. werden, resp. bereits wurden, unter den abweichendsten” Namen als selbständige Moordistrikte. ı Entweder werden die botanischen Merkmale oder die chemischen Verhält- nisse oder die geographisch-physikalischen Eigenschaften in Betracht gezogen. 374 Clemens König, Moor und Torf. Überschauen wir noch einmal die eingehaltene Me- thode, und wägen wir nach ihr die Sicherheit des Resul- tatesab, welchessie zu geben fähigist, so kann dasselbe unter den denkbar günstigsten Umständen doch nur eine Aufnahme sub conditione beanspruchen. Ein solches Re- sultat hat aber nicht das Recht, nach irgend einer Seite hin ein Ausschlag gebendes positives Zeugnis abzulegen. Somit ist der testis unicus der Hypothese von den wech- selnden Klimaten kein testis omni exceptione major. 2. Der logische Charakter des Plaidoyer. Bryat bezeichnet die im Walde vorkommenden Kohlen als durch das himmlische Feuer, den zuckenden Blitz, und diejenigen, welche im Torfe eingeschlossen sind, als durch die aus dämonischer Tiefe herauf- züngelnde Flamme der Selbstentzündung entstanden. Dagegen muss geltend gemacht werden, dass der Einfluss des Braatebrenden und die Pro- zesse der Inkohlung und Verkohlung nasser und feuchter Pflanzenmassen nicht einmal durch ein einziges Wörtchen, geschweige denn als mitwirkende Faktoren genannt sind. Und doch überzeugt jeder Blick in die Geschichte und Gegenwart des amerikanischen Urwaldes und in die Genesis der Mineralkohlen, dass beide Vorgänge Grosses in der Umge- staltung und Kohlenbildung leisten!. Dergleichen Schlüsse stellt die Logik in die Kategorie: vitia subreptionis. Wenn wir weiter bedenken, dass der Blitz mehr in grüne als in dürre Bäume einschlägt; denn erstere sind nicht nur zahlreicher, sondern auch in bezug auf die Leitung der Elektrizität leistungsfähiger, ferner dass der vom Blitz getroffene Baum äusserst selten als brennender Busch auflammt, dass selbst die Furche, welche der herabfahrende Blitz in das Holz reisst, nicht einmal immer und überall Spuren von Verkohlung aufweist”, wenn wir weiter bedenken, dass die Untersuchungen über die Ursachen unserer Waldbrände von 100 Fällen 99 mit Bestimmtheit auf fahrlässigen Umgang mit Feuer zurückführen, dann müssen wir denn doch zugestehen, dass sich Bryrr auf eine Möglichkeit stützt, die sehr wenig Chancen für sich hat. Oder sollte der Blitz nur in Norwegen soviel Kohlen produzieren, dass sie kaum einem Walde fehlen? Man be- denke, gerade in dem Lande, wo der viele Regen den Waldboden gründlichst anfeuchtet, wo die Wintergewitter zahlreicher als die des Sommers sind, und wo die jährliche Menge von Gewittern (in Christiania) die drei nicht übersteigt!? Im tropischen Urwald müsste, wenn Bryrr’s Deutung richtig ' Booth, Die Waldfrage in Nordamerika ete. in Dankelmann’s Zeitschr. f. Forst- und Jagdwesen 1880. 8. 257. — Meehan, American Forests and Forestry. Pennsylv. State Report. 1880. — Gümbel, Texturverhältnisse der Mineralkohlen. ° Vgl. die Aufsätze von Belling, Colladon, Lampe, Baur und Roth in Monatsschrift für Forst- und Jagdwesen. 1873. 1874. Ferner vgl. Buchenau in den Verhandl. d. Kais. Leop.-Car. deutsch. Akad. d. Naturf. 33. Bd. ‚» Mohn in Schübeler’s Pflanzenwelt. S.30. Kosmos XIIL, 1883. 8. 348 ff. — Müller-Pouillet, Lehrbuch d. Physik u. Meteorologie. 1868. II. Bd, S. 595. Clemens König, Moor und Torf. 219 wäre, demnach das Feuer gar nicht erlöschen; denn alltäglich spielen sich hier pompöse Gewitter ab. Letztere werden von den Reisenden ebenso grossartig geschildert, wie der Sturm im Urwald, der Brand auf der Prärie!. Aber über tropische Waldbrände schweigen sie. Scheinbar besser begründet ist die Selbstentzündung »sehr trockener Torflager in warmen Sommern«. Denn weitverbreitet sind allerhand Ge- schichtchen von Irrlichtern und von grossen Bränden, die durch Selbst- entzündung von feuchtem Heu, fettiger Wolle und öligen Lumpen ent- standen. Von Kohlenflötzen, die von selbst in Brand geraten, sprechen unter gewissen Verhältnissen sogar die meisten Forscher mit Über- zeugung. Und dennoch, müssen wir sagen, steht es schlecht um die Möglichkeit, welche Bryrr herangezogen. Je weiter das Licht der Aufklärung in die Massen des Volkes vor- gedrungen und an Intensität gewonnen, desto seltener sind die Irrlichter geworden. Reines Phosphorwasserstoffgas, welches sich auch in Moor- gegenden, aber nicht aus Torf als solchem entwickeln kann, entzündet sich, sobald es mit atmosphärischer Luft in Berührung kommt. Der entstehende Lichtschein blitzt verpuffend auf und verschwindet ebenso schnell wieder. Und doch stimmen alle Beobachtungen über Irrlichter darin überein, dass der angebliche Flammenschein am Ort verbleibe und unruhig auf und ab hüpfe, ein Umstand, welcher mit grosser Wahrschein- lichkeit auf eine blosse Phosphoreszenzerscheinung aufsteigenden phosphor- haltigen Wasserstoffgases hinweist. Vielfach werden auch gewisse elek- trische Ausströmungs-Erscheinungen, wie z. B. das St. Elmsfeuer eine ist, als Irrlichter beschrieben. Feuchte, auf einander gehäufte Heumassen, ölige Lumpen etc. lassen sehr bedeutende Temperaturen beobachten, wie auch der Kalk, welcher gelöscht wird. Zur Entzündung kommt es aber erst dann, wenn einge- lagerte Eisenstücke unter Luftzutritt glühen”?. Ist letzteres ausgeschlossen, dann behält Ruper, wie seine wiederholt und mit allem nur möglichen Raffinement angestellten Versuche mit tierischen Haaren, wollenen Ge- weben und Hadern in Verbindung mit fetten und öligen Stoffen und zwar in Massen zu hundert Zentnern beweisen, recht, indem er den Schluss zieht: »Mit der Selbstentzündung ist es also nichts, wenn man überhaupt nicht selbst entzündet ®.« Über die Selbstentzündung der Kohlenflötze sind die Meinungen sehr geteilt*. Aber keine spricht für Bıyrr. Wären die Voraussetzun- ! Wir nennen nur die vorzüglichen Schilderungen, die Marryat und Kabsch gegeben. ® Und welche Temperaturen sind hierzu nötig? Nach Pouillet gibt es folgende Stufen des Glühens: 525° C. anfangendes Glühen, 700° Dunkelrotglut, 8000 anfangende Kirschrotglut, 1000 ° völlige Kirschrotglut, 1200° helle Glut, 14009 starke Weissglut, 1600° blendende Weissehut. 3 Centralblatt f. d. deutsche Papierfabrikation. 1883. 8, 365 ff. * Die Meinungen hierüber /sind in drei Lager geschieden. 1. Lager: Alle brennenden Flötze sind infolge von Fahrlässigkeit angezündet. Die Gegner er- klären aus dieser Ursache nicht alle Brände. Von den anderen behaupten” sie, SO- fern sie zum 2. Lager gehören, seien sie durch chemische Prozesse, vornehmlich durch Zersetzung von Schwefelkiesen , sofern sie aber zum 3. Lager gehören, sie 376 Clemens König, Moor und Torf. gen: >sehr trockene Torflager und warme Sommer«, richtig, dann würden die Brandversicherungen nie versäumen, auf mit Torf gefüllte Schuppen besonders zu achten. Aber wie sie hierzu bis jetzt keine Veranlassung gefunden, so werden sie auch in Zukunft hierzu keine finden. Unsere Überzeugung, dass es um die Kohlenbildung im Torfmoor durch Selbstentzündung ebenso misslich steht, als um die Kohlenbildung im Wald durch Blitzschlag, ist, wie die gepflogene Betrachtung beweist, nicht ‘zu erschüttern. Selbst wenn die Wahrscheinlichkeit für beide Vorgänge, Holzkohle zu bilden, eine viel grössere wäre, so müsste trotz- dem die Logik beide Schlüsse unter die Rubrik: A posse ad esse setzen. Als prächtiges Beispiel einer Hyperbel in superlativo erscheint uns der Satz, dass sich das Feuer bis 12 Fuss tief »unter die ursprüngliche Oberfläche des Torfes verpflanze«. Diese klaren Angaben schliessen ein Missverständnis aus? Wir glauben H. Bryrr nicht. Der Fehntjer im nordwestlichen Deutschland dürfte hierüber wohl auch ein Urteil haben. Obgleich er die trockensten Plätze und die günstigste Jahreszeit zum Moor- brennen auswählt und nie ermüdet, die erlöschenden Flammen zu schüren, spricht er doch nur von einer drei Zoll tiefen Brandschicht, und zwar auf »unverletzter Unterlage«; die ein Zoll hohen Rückstände der Brand- schicht bestehen auch nicht aus Holzkohle, sondern aus Asche!. Son- derbar, dass die norwegischen Torfmassen so tief durch das Feuer der Selbstentzündung angefressen werden und dann nur Kohlen, niemals Aschenreste zurücklassen ! Eine petitio principii enthält der Satz, dass mit zunehmender atmosphärischer Feuchtigkeit auf trockenen Mooren der Wald verschwinde. »Die Wurzellager bedeuten somit Zeiten, in denen die Oberfläche des Moores trockener war«, wird zu einem Belege für einen neuen Trug- schluss. Regelrecht gefolgert, müsste der Schluss ungefähr lauten: Die Wurzellager im Torf stammen von Bäumen und Sträuchern, welche hier wuchsen; sie deuten somit an, dass es ehemals hier Stätten gab, worauf jene Holzarten die nötige Stütze fanden. Derartige Plätze, schlechthin Bulten genannt, so müssen wir anführen, grenzen oft an Blänken und tiefe Moorteiche. Der daraufstehende Busch, indem er Wind und Sturm trotzen will, wird dadurch Ursache, dass die Bulte von den atmosphärischen Gewalten losgerissen und mit dem Wurzelwerk des Baumes in den Teich geworfen wird. Das obere Baumstück verfault, der Wurzelstock wird kon- serviert. Lange Zeit vergeht, ehe dieser Platz wieder fähig wird, eine Holzpflanze aufzunehmen. Das Verschwinden und Herausbilden solcher bultartigen Stätten und deren Besetzung mit Holzpflanzen hängt causa- liter also mit ganz anderen Faktoren zusammen, als mit dem »Denkt man sich das Klima feuchter geworden«. seien durch p physikalische Vorgänge erzeugt. Die poröse Kohle saugt bekanntlich mit solcher Gier (vgl. Platinschwamm) die Luft an, dass sie zum Glühen und Brennen kommt. Vgl. das pneumatische Fahrzeug und Tyndall' s Versuche mit Schwefel- kohlenstoffdampf. ! Guthe, 1. e. S. 61, 70. Die drei Zoll mächtige Torfschicht lässt nach dem Abbremnen die Unterlage unverletzt und erzeugt eine Aschenschicht von eines Zolles Stärke, in welche, kaum dass sie erkaltet ist, Buchweizenkörner eingestreut werden. Clemens König, Moor und Torf. ST Verweilen wir bei denjenigen Mooren etwas, von denen Buyrr sagt, dass sie anfänglich Teiche gewesen. Hier soll »über dem Wasserspiegel« ursprünglich eine Sphagnum-Decke sich ausgebreitet haben, welche mit der Zeit immer dicker und endlich so schwer wurde, dass sie oft den ganzen Teich ausfüllte. Weil von schwimmenden, sogar mit Bäumen bestandenen Sphagnum-Decken in vielen gedruckten Büchern zu lesen ist, müssen wir dagegen einwenden: Ist das Becken tief, dann muss das Schwimmen der Moosinsel erst recht gut gehen, dann muss das Torf- lager mit der Zeit immer mächtiger werden. Wie tief werden die tief- sten sein? — Die tiefsten Torflager Norwegens messen durchschnitt- lich nur 16 Fuss. Ferner ist hier bis jetzt nirgends unter einer schwan- kenden Sphaynum-Decke ein Teich entdeckt worden. Und doch ist Nor- wegen das Land, wo in bezug auf Spaltenbildung nach jeder Richtung nur Grossartiges zu verzeichnen, wo an schmalen, tiefen Wasserbecken durchaus kein Mangel zu verspüren ist. Und doch müsste das Zu- standekommen einer »über dem Wasserspiegele schwimmenden Moos- decke, vorausgesetzt, dass deren Bildung überhaupt möglich ist, nicht von der Tiefe des Wassers, sondern von der Weite, von der Entfernung der Ufer abhängen. Wenn so oft von wechsellagernden Wurzelschichten und Sphagnum- Lagen gesprochen wird, dann dürfen wir auch nach der Mächtigkeit jeder Einzelschicht fragen. Welche Schichtensorte mag die mächtigste sein ? Die Wurzelstöcke werden niemals als Deformationen, sondern immer und überall als Reste von ursprünglicher Gestalt geschildert. Zuweilen sitze sogar Stock auf Stock. Dreimal werden die Mächtigkeitsverhältnisse durch Zahlenwerte illustriert; immer misst die Sphagnum-Lage durchschnitt- lich 4 Fuss. Demnach messen in Summa die vier Moostorfschichten der ältesten Moore 16 Fuss, und weil dies zugleich die Gesamttiefe dieser Moore ist, so beträgt der Mächtigkeitsindex aller drei Wurzelstockschichten — Null Fuss, ein Resultat, welches die Worte der ersten und die Striche der letzten Blyttschen Angabe bestätigen !. Diese nicht widerspruchsfreie Theorie der Wechsellagerung der Torfstraten verknüpft Bryrr mit der Theorie der Erhebung des Lan- des. Ausführlich habe ich hierüber schon an anderer Stelle berichtet. Die von Bryrr gegebene Höhenskala, abgesehen von den Unklarheiten, welche die Bezeichnungen »Höher als 350 Fuss« und »In noch grösserer Höhe« aussprechen, ist zum Prokrustesbett für die Torfmoore geworden; denn deren Tiefen werden darnach ausgereckt oder zusammengestaut, je nachdem es wünschenswert erscheint. Unverständlich bleibt es auch, warum die Hebungserscheinungen nur die zehnte, neunte, achte, siebente und sechste Periode umfassen und nicht bis zum Ende der Eiszeit zu- rückreichen sollen. Niemals werden Logik und exakte Forschung es gut heissen, Hypothese auf Hypothese zu häufen und Beweismaterialien ausserhalb der stofflichen Gebietssphäre zu sammeln. Statt die Eigentümlichkeiten der ! Wir beziehen uns hierbei auf das Geol. Profil der Torflager für Dänemark und das südöstliche Norwegen, gez. v. H. Blytt. 378 Clemens König, Moor und Torf. norwegischen Moore aus ihrem eigenen Wesen zu erklären, werden heran- gezogen die Hebung des Landes, resp. der Fall des Meeresspiegels, ferner der Wechsel von nassen und trockenen Perioden, desgleichen die Stellung von Sonne und Mond zur Erde und zwar für Zeiträume, welche so lang sind und so fern liegen, dass die Astronomen nicht einmal daran denken, die behaupteten Werte zu prüfen, und endlich das Trugbild: die Lebensgeschichte aller Moore verlaufe überall in gleichem Takt und Rhythmus. Oder ist der Gedanke nicht erlaubt, dass die Moore innerhalb der Höhenstufe von 600 zu 700 Fuss in bezug auf ihre Genesis verschieden alt sind? Und gleiches gilt für alle Regionen. Und wie es in der 10. Periode, in dieser trockenen Zeit, Moore gibt, die nur Moostorf er- zeugen, und solche, welche Holzreste einschliessen, so mag es auch in früheren Perioden gewesen sein. Die Torfmoore sind keine äqui- pollenten Grössen; auf allen Höhenstufen muss es, wie thatsächlich die Beobachtung lehrt, verschieden tiefe und an Holzeinschlüssen ver- schieden reiche Torflager geben. Den Wachstumsgesetzen der Torfmassen nachzugehen, dieser For- derung entzieht sich Buyrr. Er untersucht und verweist nirgends auf diesen Gesichtspunkt hin, auf die drei Stücke, welche die Moorbildung einleiten und dieselbe schnell oder langsam verlaufen oder still stehen lassen. Die gemeinten Stücke sind: 1) das geeignete Lokal, 2) das ausreichende und niedrig temperierte Wasser und 3) die Pflanzenschutt liefernde Vegetation. Nicht das Kultur-, sondern das Naturland liefert für Moorbildung geeignetes Terrain. Nicht von der mineralogischen und chemischen Be- schaffenheit des Gesteines, nicht ob Gneis, ob Granit, ob Kalk, ob Sand- stein, ob loser Sand, ob Thon oder Lehm, sondern von der orogra- phischen Beschaffenheit des Landes, ob die Mulde flach oder tief, ob der Bergabhang sanft oder steil geneigt, davon ist in bezug auf Punkt 1 die Torfbildung abhängig'. Der zweite Faktor, das Wasser, welches in den seichten Mulden sich sammelt oder auf der gering geneigten Berg- lehne langsam und stationär niederrieselt oder aus brauenden Nebeln niederfällt, ernährt, aber ersäuft nicht die Feuchtigkeit und Nässe liebende Vegetation. Das Wasser muss aber zugleich nicht nur ausreichen, den Einfluss der atmosphärischen Luft auf die abgestorbenen vegetabilischen Massen zu verhindern, sondern durch seine niedere Temperatur auch fähig sein, die Bildung von Humussäure zu begünstigen?. Je unterschiedlicher diese drei Faktoren, je mannigfacher die Art des gegenseitigen Ineinander- greifens derselben, desto mannigfacher die Variationsreihen der Moore. Weil nun diese Faktoren an jeder Örtlichkeit spezifisch eigenartig auf- treten, so kann es eigentlich nicht zwei Moore geben, welche einander völlig gleich sind. ! Die Annahme einer undurchlässigen Schicht wird dadurch hinfällig, dass die Torfmasse an und für sich impermeabel ist. Darwin, Reise etc. 11. 8. 53. Grisebach, ]. e. 8. 61. — Sphagnum meidet zwar Kalkboden, aber andere Torf- bildner gedeihen gut darauf. ? Darwin, Reise etc. S. 43. Clemens König, Moor und Torf. 379 Uns ist ein jedes Moor ein ebenso lokalgeprägtes Individuum wie der Gletscher. Beide haben ihre Geschichte und ihre Bedürfnisse. Beide passen sich aufs genaueste den lokalen Eigentümlichkeiten an. Beide schreiten vorwärts!, erzeugen in sich selbst lokale Verschiedenheiten, welche als neue Bildungsfaktoren in den Kreislauf ihres Lebens ein- greifen, beide zeigen in ihrem Baue eine gewisse Art von Schichtung, beide haben diluviale Ahnen und sind selbst unfähig, ins unbeschränkte hinein zu wachsen. Trotz dieser vielen Übereinstimmungen bleiben sie doch diametral angelegte Naturen. Dort bauen tote Eiskörner, hier jedoch lebende Geschöpfe den Körper. Jedes der letzteren hat seine eigene Geschichte; jedes ist befähigt, eine unbegrenzte Nachkommen- schaft zu erzeugen, welche immer wieder dieselben Forderungen an das Substrat stellt. Gerade in dieser unbegrenzten Fähigkeit liegt die Begrenzung; denn beständige Erfüllung gleicher Forderungen muss end- lich zur Erschöpfung des ernährenden Bodens führen. Dazu kommt noch, dass der Pflanzenschutt nur bis zu einer bescheidenen Grenze das Wasser über den örtlichen Grundwasserstand zu heben vermag. So langsam die Lebensbedingungen für das seit alter Zeit hier sesshafte Pflanzenvolk dahin schwinden, so langsam verkommt und vergeht es selbst. Endlich zieht ein neues Volk mit neuen Bedürfnissen ein, d. h. unter Aus- schluss aller weiteren Veränderungen wird mit der Zeit von selbst das Wiesenmoor zum Hochmoor und dieses zur Wiese, zum Walde. Diese Reihe der aufeinanderfolgenden For- mationsphasen ist keine festnormierte; sie ist variabel, wie es die lokalen Eigentümlichkeiten vorschreiben. Letztere zu studieren, bleibt daher eine der gewichtigsten Hauptaufgaben der Moorstudien, eine Aufgabe, welche Jextzsch in Königsberg nicht unwesentlich durch Aufstellung seiner acht Typen gefördert hat”. Buvyrr dagegen geringschätzt und verkennt den Einfluss des Lokalen ganz und gar. Damit ist dem Satze: »>Wenn der Wechsel von Torf- und Waldschichten auf lokale Gründe zu- rückzuführen wäre, dann müsste man auch in den nassen Mooren ebenso oft Wurzelschichten finden, als in den trockenen; denn solchenfalls müssten ja doch auch manche Moore gegenwärtig nässer sein, als frühere — aller Wert geräaubt. Wie die Kultur, so arbeitet also auch das Moor selbst beständig an seiner Trockenlegung. Als dritter Genosse in diesem Bunde erscheint das Wasser, wie wir sogleich nachweisen wollen. Diese drei Faktoren wirken schon seit langer Zeit, vornehmlich der zweite und dritte. Und daraus folgt, dass ehemals die Zahl der Moore eine grössere gewesen sein muss als jetzt, ein Schluss, welcher schon durch den Rang der Moorflora innerhalb der natürlichen Reihe der typischen Pflanzenformationen seine Bestätigung findet. Weiter gilt ! Vgl. Moorausbrüche in Irland, die Verzweigungen des Bremischen Düvel- moores in der Landschaft Kehdingen. a Synopsis. III. T. 2. Abt. Geo- gnosie. 8.57. Leonhard’s Jahrb. 1837. S. 59. — 1839. S. 482. — Walchner's Handb. d. Geogn. S. 293, — De Luc, Lettres physiques et morales sur T’histoire de la terre et l’'homme. La ‚Haye. 1779. Vs. 5. 8.140. — Grisebach, 1. c. 8. 58. ? Schr. d. phys.-ökon. Ges. zu Königsberg. Jahrg. 19. S. 9. 380 Clemens König, Moor und Torf. es zu erwägen, dass die Moorpflanzen vor allen anderen grosses in der Okkupation herrenlosen Landes, soweit es ihnen zusagt, leisten. Dieser Vorgang musste damals unter ausserordentlicher Beschleunigung ver- laufen, als die glazialen Gletscher weite Flächen vom Eisbanne freigaben. Prächtig stimmt hierzu das Resümee der geographischen Verbreitung der Moore. Der Schwerpunkt ihrer Verteilung ruht innerhalb der Findlings- zone; er liegt in der Moränenlandschaft selbst. Je mehr sich das oro- graphische Gepräge derselben umgestaltete, je mehr das erodierende Wasser sein Bett tiefer schnitt und hemmende Moränenzüge durchbrach, desto geringer an Zahl und desto kleiner an Umfang wurden die mit Stauwasser gefüllten Becken. Wie weit letztere ehemals reichten, dafür habe ich herrliche Beispiele anderwärts beigebracht!. Somit arbeitet das fliessende Wasser, indem es sein Bett unablässig tiefer einschneidet, beständig auf eine Trockenlegung der Moore hin. Für Nordeuropa kommen hierbei ausserdem noch Verschiebungen innerhalb der Tierwelt in Betracht. Der Biber (Castor fiber L.)? führte ehemals hier ebenso sperrende Barrieren quer durch die Thäler und Flussläufe, um die Wasser weit und breit aufzustauen, wie es noch heute die Länder an der Hudsonsbay beobachten lassen. Nach Sımrsox ist hier sogar die Hälfte alles Wald- bodens unter Wasser gesetzt. Dadurch entstehen neue Moore und alte bekommen Impulse, neue kräftige Wachstumsstösse auszuführen. Den Biber verdrängen, ihn ausrotten, heisst folglich an der Trockenlegung der Moore arbeiten. Und in welchem Umfange ist dies in Norwegen geschehen? Ehemals war der Biber über das ganze norwegische Land verbreitet; seine zerstreuten Wohnungen reichten sogar bis nach Süd- Varanger. Heute dagegen lebt er nur in Thelemarken. Selbst zugestanden, das Klima sei mit der Zeit trockener geworden und habe als fünfter Faktor mit an der allgemeinen Trockenlegung der Moore gearbeitet, so ist es doch durchaus nicht gestattet, die sicheren Leistungen jener vier Faktoren zu gunsten dieses fünften aufzu- geben. Wie viel der fünfte Faktor allein vollbracht, lässt sich aber leider durch kein Separationsverfahren herausklügeln. Die interessante Erscheinung, dass Norwegen an seiner langsam sich hebenden Küste Torflager hat, welche um so jünger sein müssen, je näher sie dem jetzigen Wasserspiegel gelegen, bietet nur scheinbar einen zeitlichen Massstab dar. Die wunde Stelle und wo sie gelegen, beides haben wir auf Seite 377 u. ff. bereits aufgedeckt. Em Irrtum bleibt es auch, zu sagen, Bryrr habe damit etwas Neues geleistet. Unser GrISEBACH hat gerade diese Frage und gestützt auf viel besseres Material, mit peinlicher Gewissenhaftigkeit nach allen Seiten hin erwogen und ge- funden, dass an der langsam sich senkenden Nordseeküste von der Mün- dung der Schelde bis über Schleswig hinaus Darg (Wiesentorf) und Schlick ! Vgl. Sitzungsbericht der „Isis“. Dresden 1884. — Vgl. Clessin in der Zeitschr. d. deutsch. u. österr. Alpenv. Salzburg 1883. S. 208. ? Credner, Elemente d. Geol. 1876. S. 255. — Peterm. Mitt. 1869. S. 139. — Grisebach, 1. e. S. 394. — Vgl. Collet’s Zool.-geogr. Karte von Norwegen. 1875. Clemens König, Moor und Torf. 381 (See-Alluvium) mit einander wechsellagernd tief unter das Meer hinab- tauchen. Die Schichten sind hier nach Zahl und Mächtigkeit an ver- schiedenen Orten verschieden. Obenauf folgen dann die Hochmoore mit ihren Torfmassen. Aus diesen stratigraphischen Verhältnissen folgt mit absoluter Sicherheit, dass hier der Hochmoortorf jüngeren Ursprungs ist als der Darg, eine relative Altersbestimmung, welche sofort Falsches ergeben muss, wenn sie unbeschränkt verallgemeinert würde. Aber zur Erklärung dieser interessanten Phänomene bedarf es nicht — des Klimas, sondern folgenden Umstandes. Das langsam niederschwebende Land gewährt an seinem Strande hie und da die Bedingungen zur Entstehung von Wiesen- oder Grünlands- mooren, welche Darg bildeten. Einst waren sie noch so hoch gelegen, dass nur die allergrössten Hochfluten Wogen darüber hin peitschen konnten. Wurde hierauf das Meer ruhig, so konnte das Grünlandsmoor, mit See- Alluvionen überschüttet, eine neue Dargbildung einleiten. Dieselbe hielt so lange an, bis wilde Stürme das Meer wieder hierherführten. Je be- deutungsvoller die unterdes stattgehabte Senkung, desto mächtiger die neuaufgeworfene Schlickschicht und desto dünner das entstandene Darg- flötz. Derartig schwankte zwischen Meer und Moor der Kampf mit wechselndem Glücke solange hin und her, bis zuletzt infolge der Senkung des Landes der Einfluss des Meeres überwog und die obere und stärkste Alluvion bildete. In Norwegen zeigt nun der Strand die entgegengesetzte säkulare Schwankung. Aber Bryrr spricht nirgends von Torflagern und Profilen, welche auf einen derartigen Kampf zurückverweisen. Oder ist die sich hebende Küste Norwegens frei von Sturm und Wogenschwall? Oro- graphie, Terrassenbildung und Strandlinienbau bezeugen laut, selbst wenn die direkten Beobachtungen schwiegen, — das Gegenteil. Eine solche Lücke muss befremden. Gleiches Befremden ruft die Verallgemeinerung der Regel wach: Je näher das Torflager dem jetzigen Meeresspiegel gelegen, desto jünger ist es in seiner Existenz. Ihre Kraftlosigkeit innerhalb der unterschiedenen Höhenstufen haben wir zu zeigen versucht. Jetzt gilt es, ihre Fehler- haftigkeit für höhere Gebiete zu ermitteln. Wir meinen, aus doppeltem Grunde muss die Regel falsch sein. Erstlich unterrichtet ein Blick auf die Karte der klimatischen Bezirke und meteorologischen Tafeln, dass in besagten Höhen die Vege- tationsperiode später beginnt, langsamer verläuft und viel eher sich schliesst als in den niederen Strandregionen'. Daher verlegen schon rein theoretische Erwägungen die grössten Moortiefen in die bevorzugte Strandzone, und die Wirklichkeit lässt sie hier auffinden. ! Prestel, Der Boden der ostfr. Halbins. 1870. S.18. — Arends, Phy- siche Geschichte. 1825. Bd. 1. S. 149, — Grisebach, 1. ec. S. 109. — König, Moor und Torf in ihrer Beziehung zur säkularen Hebung der norwegischen Küste und zur säkularen Senkung des deutschen Nordseesaumes. Zeitschr. f. wiss. Geogr. 1884. ! Kosmos XIII, 1885. S. 349 ff., 501 ff. Das gestaute Moorwasser bewahrt im Frühlinge viel länger. das Eis, als Seen und Flüsse. Durch ihre Lage im flachen Thal geniessen die dasigen Moore viel weniger die Sonne als viele Berggehänge. 382 Clemens König, Moor und Torf. Als zweiten Umstand bezeichnen wir den Abschmelzungsprozess glazialer Gletscher. Selbst der von allem Neuglazialismus freie Forscher muss darin mit uns übereinstimmen, dass vom Meeresgestade her die Gletscher Norwegens Schritt um Schritt, Stufe um Stufe nach dem Hoch- lande sich zurückzogen. Dank Kyeruur’s verdienstlichen kartographischen Aufnahmen können wir innerhalb der norwegischen Moränenlandschaft noch viele von den Orten auffinden, an denen die zurückziehenden Hel- den der Eiszeit noch einmal feste Stellung zu nehmen versuchten. Und die Höhenverhältnisse dieser Orte lehren, dass die Kurven dieser Äqui- distanten hierdurch zu einem idealen Masse für das Alter und die Tiefe der dasigen Torfmoore werden; denn je höher die Mulde gelegen, desto später wurde sie vom glazialen Eise befreit, desto später konnte das Moor entstehen. Da die Wissenschaft kein absolutes Zeitmass für die Hebungs- und Senkungsvorgänge und kein Zeitmass für das Hinschmelzen des glazialen Eises hat, so ist und bleibt es eine logische Täuschung, von bestimmten Zahlenwerten zu sprechen und für Perioden zu 10500 Jahren zu plädieren. Irgend welche Zahlen allgemeinen Wertes existieren nicht einmal für den Gang der Aufschüttung von Torfmassen. Denn die ge- läufige Annahme, dass sich in 100 Jahren eine Torfschicht von 1 Fuss Mächtigkeit bilde (Hrrr), wird durch gleichgewichtige Beobachtungen beseitigt. UNxGEr veranschlagt die 100jährige Torfschicht im Minimum zu zwei, im Maximum zu fünf Fuss, womit LeEsQuereux’ Angaben gut übereinstimmen. Auch Pauuıarpr’s Werte lassen sich danach einreihen ?. Folgende Thatsachen jedoch widerstreiten. »Bei Warmbrüchen in Hannover hat sich nachweislich in einem Zeitraum von 30 Jahren ein vier bis fünf Fuss mächtiges Torflager gebildet, und bei Radolfzell in Baden war das Torflager in 25 Jahren auf vier Fuss nachgewachsen.< Hiernach würde der 100 jährige Wachstumseffekt sogar 16 Fuss betragen. Wie jung müssten demnach, auch wenn wir das kleinste Mass zu Grunde legen, die tiefsten Torflager Norwegens (26 Fuss) sein! Oder welche Mächtigkeit müssten die Torflager haben, welche seit 80000 Jahren, seit dem angeblichen Ende der Eiszeit, bestehen. Selbst wenn wir mit Bryrr für die ältesten Moore nur vier Wachs- tumsstösse von je 10500 Jahren annehmen wollten, dann müssten uns Torflager von ca. 400 Fuss Mächtigkeit als Belege zur Seite stehen. Man bedenke: 400 Fuss. Man bedenke aber auch, dass Bryrr von Waldschichten spricht, ohne irgendwo die als selbstverständlich vor- handene Fülle der unterschiedlichsten Pflanzenreste, wenn auch nur im allgemeinen zu schildern. Da, wo auf Moorboden 10500 Jahre ein Wald gestanden, dort müssen Blätter und Nadeln, Deckschuppen und andere Anhangsteile von Blüten und Blütenständen, dort müssen Frucht- gehäuse, Samen, Pollenkörner und reife Früchte neben Rinden-, Stamm- und Wurzelteilen im Torfe eingeschlossen sein. Dort müssen die Moor- ? Heer, Urwelt. S. 42. — Unger, Versuch einer Gesch. der Pflanzen. S. 130. — Lesquereux’ Untersuchungen über die Torfmoore aus d. Franz. v. Lengerke. 1847. — Palliardi in Erdm. Journ. f. prakt. Chemie. XVII. — Leunis, l. c. 8. 217. — Grisebach, 1. c. 8. 3, 9. Clemens König, Moor und Torf. 333 torfstraten so von Wurzelwerk durchschlagen sein, dass Sphagnumtorf als solcher aufhören muss zu bestehen. Zum Schluss müssen wir noch einen Blick auf die Logik der bedeut- samen Pflanzenreste werfen. Zunächst müssen wir wissen, dass die Reihe: Zwergbirke, Espe, Kiefer, Eiche, Hasel, Erle und Buche grösstenteils nicht auf Funde aus jenen angeblichen Waldschichten, sondern wie das von Bryrr gezeichnete Generalprofil vorzüglich beweist, auf Einschlüsse aus den zwischengelagerten Torfstraten aufgebaut ist. Die Funde können somit nicht für die Existenz grosser und reiner Waldbestände, sondern nur für die Anwesenheit vereinzelter Artgruppen sprechen, womit die Statuierung jener kontinentalen Klimate ein ganz anderes Aussehen ge- winnt. Noch unvorteilhafter gestaltet sich dasselbe, wenn wir erwägen, dass diese Baumreihe zum Teil aus jenen Internationalen zusammengesetzt ist, wie es Kiefer, Espe, Birke, Erle, Traubenkirsche und Eberesche sind, welche bekanntlich vom atlantischen Gestade Europas quer durch den Doppelkontinent hindurch bis zur pacifischen Küste Asiens vordringen. Pflanzen, welche aber hier überall kräftig gedeihen, welche diese vielen klimatischen Gegensätze ungefährdet aushalten und, was besonders be- dacht sein will, trotz der weiten Abstände zwischen den hier verzeich- neten abnormen Jahren mit zu niedriger und zu hoher Wärme und Feuch- tigkeit gut bestehen, Pflanzen, welche Spezialthermometer solcher Art sind, bleiben untauglich, so feine klimatische Schwankungen massgebend anzu- zeigen, als Buyrr’s Theorie voraussetzt. Denn gesetzt, die gemutmassten regelmässigen Wandlungen im Klima seien von statten gegangen, so war die Pflanzenwelt Norwegens doch nicht gezwungen, eine entsprechende Wandlung auszuführen. Überschauen wir das gegebene Material, so halten wir es für ausreichend, sich ein zutreffendes Urteil über die Tragfähigkeit und Beweiskräftigkeit der Torfmoore und über die Sicherheit der klimatischen Wandlungen zu bilden. Forderte unsere erste Untersuchung von allen Freunden exakter Forschung, die Blyttsche Torftheorie nur mit dem Zusatze sub conditione anzunehmen und vorzutragen, so verlangt dieser zweite Abschnitt, auf den grössten Teil ihrer gewichtig- sten Schlüsse und Resultate zu verzichten. Wissenschaftliche Rundschau. Zzo0legie. Neue Untersuchungen über Cilioflagellaten. Fr. v. Stein, Der Organismus der Infusionstiere. III, 2: Die Naturgeschichte der arthrodelen Flagellaten; Einleitung und Erklärung der Abbildungen. 4°. Mit 25 Tafeln. 1883. G. PoucHer, Contribution & l’etude des Cilioflagellös. Journ. de Vanat. et de la physiol. 19me annee. Nr. 4. 1883. p. 399 —455. pl. 18—21. G. Kıees, Über die Organisation einiger Flagellatengruppen und ihre Beziehungen zu Algen und Infusoriengruppen. Untersuchungen aus dem botan. Inst. zu Tübingen. Bd. I. pag. 233—362. Taf. 2—3. P. GoURRET, Sur les Peridiniens du Golfe de Marseille. Annales du musee. d’hist. nat. de Marseille. Tom. I. 1883. Avec 4 pl. Seitdem der Referent über die bis dahin sehr vernachlässigte Gruppe der Cilioflagellaten eine ausführliche Arbeit veröffentlichte (Morphol. Jahrb. VII; ref. in Kosmos, Bd. XII, 1883, S. 451—453), haben sich die genannten Organismen mehrerer Bearbeitungen erfreuen können, welche die Kenntnis verschiedener Punkte in der Naturgeschichte derselben ge- fördert haben. Sowohl in der Morphologie und Systematik als auch in der Fortpflanzungsgeschichte sind die Kenntnisse bedeutend erweitert, obgleich, besonders was letzteres betrifft, doch sehr viel zu thun übrig bleibt und eine Verknüpfung der noch isoliert dastehenden Beobachtungen noch keineswegs möglich ist. Was zuerst die Morphologie und Systematik der Gruppe betrifft, so ist es vor allem die grosse, leider noch unvollendete Arbeit SrEın's, die in vorzüglicher Weise die Kenntnis der zahlreichen Modifikationen der Membran weitergeführt und uns mit einer Anzahl interessanter und zum Teil geradezu abenteuerlicher neuer Formen bekannt gemacht hat, von denen gewiss keiner geträumt hätte. Der berühmte Erforscher der Infusorien hat auch nicht nur frisches Material wie die sonstigen Beobachter untersucht, sondern auch viele schöne Formen aus den Mägen von pelagischen Tieren (besonders Salpen und Comatulen) geschöpft. Die Untersuchungen Sreın’s haben zu einer ganz neuen Klassifi- kation geführt. Die Flagellaten zerfallen hiernach in zwei grosse Haupt- Wissenschaftliche Rundschau. 355 gruppen: >monere« und »arthrodele Flagellaten«, welcher letztere Begriff alle Flagellaten von höher differenzierter Organisation umfasst. Er ist somit weiter gefasst als die Cilioflagellaten von CLArARKEDE und LAcHmAnn, indem darin auch die Noktiluken aufgenommen sind. — Die arthrodelen Flagellaten werden dann wiederum in 5 Familien ein- geteilt: 1) Prorocentrinen, 2) Cladopyxiden, 3) Peridiniden, 4) Dino- physiden, 5) Noktiluceiden. Die Prorocentrinen (= Adiniden des Ref.) sind durch den Mangel einer Quer- und Längsfurche charakterisiert; ausserdem stellt Sreın die von CLAPAREDE und LACHMANN, sowie vom Ref. angegebenen Cilien in Abrede, fand dagegen ein nach hinten umgeschlagenes (zweites) Flagellum, das undulierende Bewegungen ausführte. Ausser der Gattung Prorocentrum beschreibt Stein noch eine neue Gattung: Dinopyxis, welcher der Stirn- fortsatz (»Leisten-Stachelapparat« des Ref.) fehlt; »nicht ohne Bedenken« wird hierher auch die Gattung Cenchridium gerechnet, die der Verf. nur in toten Exemplaren untersuchte; dieselbe hat am Vorderrand eine steife Einbiegung der Membran (»Schlund«) und deutliche Naht zwischen den Schalenhälften. — Noch eine Prorocentrinengattung wurde unter dem Namen Parrocelia von GOoURRET beschrieben; der Charakter derselben besteht in zwei Stirnfortsätzen. Das Postprorocentrum maximum desselben Verf. scheint der Gattung Dinopyxis Sr. angehörig zu sein. Sehr bereichert wurde durch die Steinschen Untersuchungen die Familie der Dinophysiden. Die Gattung Dinophysis selbst wird durch zahlreiche neue Arten erweitert, von denen besonders D. homunculus ! schön und sehr variabel ist. Im Gegensatz zum Ref. lässt Srrıy alle die Stachel der »Handhabe« von der linken Membranhälfte entspringen ; von der rechten soll nur ein »Nebenflügel«e (»schwach brechende Leiste« des Ref.) ausgehen. — Bei der Gattung Phalacroma, derjenigen von den neuen Formen, welche Dinophysis am nächsten steht, laufen die Furchen- säume (Querfurchenleisten) horizontal und die Querfurche liegt weiter nach hinten, so dass diese Gattung gewissermassen eine Brücke von den Dinophysiden zu den Peridiniden schlägt. — Die schon längst bekannte Gattung Amphidinium, die vom Ref. auf Grundlage von Spensen’s Be- obachtungen zu den Gymnodiniden gestellt worden war, soll nach SrEı und PoucHer eine Membran besitzen, die an der Bauchseite klafft und woraus das »Kopfsegment<« frei hervorsteht; das Flagellum soll dicht hinter diesem entspringen; Sreıy führt sie nach seinen Beobachtungen wieder zu den Dinophysiden hin. Alle die sonstigen neuen Dinophysiden sind höchst abweichende, bizarre Formen, die sich in verschiedener Richtung mehr oder weniger weit von den typischen Verhältnissen entfernen. So hat die Gattung Amphisolenia einen ungeheuer langen, röhrenförmigen Hinterkörper und diesen noch dazu in drei Abschnitte gesondert, von denen der mittlere an einem Vorsprung die Flagellumspalte (»den Mund«) trägt, während das Kopfsegment äusserst reduziert ist. — Eine andere Abweichung ! Die Gourretschen Arten D. tripos, inaequalis und Allieri sind wahrschein- lich nur Varietäten von D. homunculus; ebenso scheint D. acuta var. geminata von Pouchet hierher zu gehören. Kosmos 1884, I. Bd. (VII. Jahrgang, Bd. XIV). 25 386 Wissenschaftliche Rundschau. stellt Citharistes dar, die an der Rückenseite einen tiefen sattel- artigen Ausschnitt hat, über welchen durch zwei von vorn nach hinten laufende Pfeiler der Membran eine Brücke geschlagen wird. — Höchst abnorm und abenteuerlich gestaltet sind aber die beiden Gattungen Histioneis und Ornithocereus ', die eine kleine, durch den Besitz eines so- genannten > Hinterflügels« (eines accessorischen »Leisten-Stachelapparates«) sowie durch eine sonderbare schräge Stellung der Querfurche charakte- risierte Gruppe bilden; letztere ist bei Histioneis in der Rückenlinie unterbrochen, bei Ornithocercus dagegen kontinuierlich. Bei letzterer ist der Hinterflügel ganz enorm entwickelt und reicht bis über die Mitte des Rückenrandes herauf, wo er durch mächtige, reich verästelte Rippen gestützt wird. Auch die Familie der Peridiniden hat einen so starken Zu- wachs durch Sreim’s Untersuchungen erfahren, dass es schon schwerer fällt, sich in der bunten Mannigfaltigkeit der Formen zurecht zu finden. Sehr wichtig erscheint der Nachweis der Homologien für die einzelnen Teile der Membran der zahlreichen getäfelten Formen; es werden so- wohl vorn wie hinten zwei fast konstante Gruppen von Platten nach- gewiesen: Basalplatten, der Querfurche angelagert, und Frontal- platten oder Endplatten an den Körperpolen; auch die Kennt- nis der bereits längst bekannten Formen wird erheblich gefördert, be- sonders in dieser Hinsicht, und somit die Gattungsmerkmale noch ge- nauer als früher festgestellt. So wird nachgewiesen, dass die Membran der Ceratien vorn und hinten aus drei Basalplatten sowie vorne aus drei, hinten aus einer Frontalplatte gebildet wird; das vordere Horn wird aus den drei Frontalia zusammengesetzt, während das hintere linke Horn auch einen Fortsatz des hinteren Frontale darstellt; das hintere rechte Horn (»Seitenhorn«) wird dagegen von einer Basalplatte gebildet. Der ventrale Ausschnitt ist grösstenteils durch eine leicht herausfallende »Mundplatte« verdeckt, die eigentliche »Mundplatte« ist sehr schmal. — Die allermeisten Peridinidengattungen haben die Membran aus 5 Ba- salia vorne und hinten (ausser einer wechselnden Zahl von Frontalia) gebildet; hierher gehören die Gattungen Oxytoxum, Pyrgidium, Amphi- doma, Goniodoma, Gonyaulax, Diplopsalis; die interessanteste ist aber Ceratocorys, die einen ganz viereckigen Vorderkörper besitzt, der aus 5 Basalien und einem einzigen viereckigen Frontale besteht; letzteres trägt an seinen Ecken vier schwertförmige »Frontalhörner«; ausser- dem finden sich noch ein Rücken- und Bauchhorn, die zwischen den Basalia stehen; alle diese Hörner sind hohl und enthalten einen feder- förmig verästelten Kanal. Der Hinterkörper ist sehr reduziert, hat 5 ı Wahrscheinlich gehört hierher auch die von Pouchet beschriebene Di- nophysis galea (wenigstens teilweise). ? Von Ceratium-Arten hat Gourret 25 beschrieben, von denen die aller- meisten von allen anderen Verfassern nur als Varietäten betrachtet werden könnten. Pouchet dagegen verfährt in ganz derselben Weise wie Ref., stellt Formenkreise („groupe spee.“) auf. Man sieht hieraus, wie schwer es fällt, zu sagen, was Art, was Varietät ist. — Stein beschäftigt sich in der erwähnten Arbeit mit dieser Frage gar nicht. Wissenschaftliche Rundschau. 387 Basalia, aber keine Frontalia, ein Basale ist als Längsfurchenplatte aus- gebildet !. — Bei den Gattungen Blepharocysta und Podolampas sind (ausser den Frontalia) vorne 5, hinten 3 Basalplatten vorhanden. Noch grösser ist endlich bei der Gattung Peridinium? die Zahl der Basalplatten am Vorderkörper, wo sieben solcher und sieben der Frontal- region angehörige Platten vorhanden sind; am Hinterkörper finden sich 5 Basalia, sowie (gewöhnlich) 2 Endplatten. — Die Gattung Heterocapsa hat einen getäfelten Vorderkörper, die Membran des Hinterkörpers ist aber homogen. Mit der Gattung Protoceratium (Ref.) scheint die Steinsche (lathro- capsa identisch zu sein, die keine Täfelung, sondern eine netzförmige Struktur der Membran besitzt. Obgleich ersterer Name jetzt (nach dem Nachweis der Täfelung der Ceratiummembran) keinen Sinn hat, muss er leider doch nach den gewöhnlichen Prinzipien der Nomenklatur bestehen bleiben. — Die anderen Gattungen der Peridiniden, Glenodinium (mit homogener Membran), Gymnodinium (ohne solche) und Hemidinium (mit der Querfurche nur an einer Seite des Körpers) sind nur bildlich dargestellt. Die von EHRENBERG aus den Feuersteinen beschriebenen Xanthidien haben mit Desmidiaceen nichts zu thun (wie eine Zeitlang angenommen), sondern sind nach Ste arthrodele Flagellaten und sollen die Familie der Cladopyxiden bilden. Der Verfasser hat eine Quer- und Längs- furche nachgewiesen, erstere etwa äquatorial gelegen; der Körper ist in hohle, armartige Fortsätze, die sich dichotomisch verästeln, verlängert; der Charakter der Familie ist übrigens nicht bestimmter angegeben. Der Verfasser hat sein Material aus Salpenmägen. Den Übergang von den Peridiniden zu den Noktiluciden bildet nach Stein die von ihm entdeckte Gattung Pyrophacus, die zwei durch ein schmales Gürtelband (Querfurche) verbundene, getäfelte Membranhälften besitzt; die »Mundspalte« findet sich an der »Bauchschale« (wohl = hintere Schalenhälfte der Peridiniden), während an der »Rückenschale« (= vordere Hälfte) die für die Noktiluken charakteristische Stabplatte befindlich ist. Die Anzahl der Tafeln wird mit dem Alter vermehrt. Bei der ebenfalls neuen Gattung Ptychodiscus ist die Membran nicht getäfelt; zwischen Rücken- und Bauchpartie ist die Membran eingefaltet (> Gürtel- zone«). Noctiluca selbst endlich weicht von dieser eigentlich nur durch das Nichtgefaltetsein der Membran sowie durch das Vorhandensein von Tentakel und Tentakelgerüst ab. Über die nähere Stellung aller dieser Familien zu einander spricht STEIN sich sehr wenig aus; seine Arbeit ist wesentlich empirisch gehalten und mit Recht. Es ist indessen dem Ref. schwer verständlich, wie der Verf. einerseits die Prorocentrinen als die niedersten arthrodelen Flagel- laten ansieht, die den Übergang zu den moneren darstellen, und ander- seits die Dinophysiden im Vergleich zu den Peridiniden als die syste- ! Von Gourret wurde dasselbe Wesen auch beobachtet und unter dem Namen Dinophysis Jourdani beschrieben, indem der Verf. den Vorderkörper als Hinter- körper und umgekehrt auffasste. ® Worin offenbar auch die Protoperidinien vom Ref. und Pouchet aufgenom- men sind. 388 Wissenschaftliche Rundschau. matisch höhere Gruppe auffasst. Nach wie vor dem Erscheinen von StEeın’s Werk scheint doch alles dem Ref. darauf zu deuten, dass die Dinophysiden unter den Diniferen diejenigen sind, die den Prorocentrinen (Adiniden) am nächsten verwandt sind '. Über den Bau des Protoplasma theilt Ste fast nichts mit. Kuees will bei den Süsswasser-Peridiniden nichts von Chlorophylikörpern und von diffusem Diatomin wissen (Ref.), sondern gibt nur geformte Diatomin- träger an. — Der genannte Autor will ausserdem gesehen haben, dass der vom Ref. beschriebene »kontraktile Saum« nichts weiter ist als eine zweite Geissel, die durch ihre wellenartigen Bewegungen den Anschein einer undulierenden Membran hervorruft, sich aber durch Reagentien fixieren lässt. Ist dies richtig, so fällt natürlich die vom Ref. u. a. behauptete Verwandtschaft zu den Peritrichen weg. Es ist sonderbar, dass man sich über die Ernährungsverhält- nisse dieser Organismen noch so unklar und unbegründet aussprechen kann, wie es in den meisten der citierten Arbeiten der Fall ist. Ref. hatte versucht, eine vorurteilsfreie Darstellung dieser Punkte zu geben, indem er die verschiedenen Eigenschaften des Protoplasma bei verschie- denen Arten speziell hervorhob. Diese Ansichten haben wenig Beachtung gefunden; Sreıs und GouURRET behaupten die tierische Ernährung aller dieser Organismen, ohne indessen irgend welchen ordentlichen Beweis hierfür zu liefern, und Kress vindiziert wenigstens für alle die Süss- wasserformen die pflanzliche Ernährungsweise. Was endlich die Fortpflanzungsverhältnisse dieser Orga- nismen betrifft, so haben die verschiedenen Beobachter allerlei gesehen, indessen die Kette der Erscheinungen bei weitem nicht verstanden; auch gehen die Ansichten der einzelnen Forscher sehr auseinander. So hält Steın an Querteilung und Konjugation durch Vereinigung zweier Indi- viduen in der Längsachse fest, während nach Krrss die Querteilung nicht existieren soll und das, was Steis für Konjugation hält, eine schiefe Längsteilung ist. — Die Kystenbildungen der Peridiniden sind von Stein nur bildlich dargestellt, ohne dass er im Text derselben Erwähnung thut; besonders schön sind die von ihm entdeckten Kysten der Ceratien. GourkErT fasst den Vorgang — soviel ich seine nicht sehr klar geschriebene Darstellung verstehe — so auf: Das Protoplasma zieht sich (bei Perid. divergens) innerhalb der Membran zusammen, diese wird abgeworfen, und es hat sich indessen schon eine Kyste gebildet, ı Einige systematische Versuche von Klebs, wie z. B. denjenigen, die Gattungen Gymnodinium, Glenodinium, Hemidinium und Peridinium wieder in eine Gattung zu verschmelzen, sowie ohne ordentliche Motivierung Gymnodınium spirale und Polykrikos aus der Gruppe der Cilioflagellaten zu entfernen, können wir wohl vorläufig auf sich beruhen lassen. Auch mit seiner Hinführung derselben als isolierte Gruppe unter den Thallophyten ist nicht viel gewonnen. 2 Dieselbe Beobachtung hat mir auch Spengel (an Amphidinium) brief- lich mitgeteilt. — Die Weise, in der mich bez. dieses Punktes Gourret eitiert, ist sehr merkwürdig, nämlich so, als hätte ich die „Cilien“ durch die zwei bei den Ceratien in der Querfurche befindlichen Porenreihen austreten lassen. Erstens spreche ich nicht von „Cilien“, sondern von „kontraktilen Säumen“, und zweitens habe ich schon vor Pouchet angegeben, dass diese aus Spalten am Rande der Querfurchen- leisten austreten. Wissenschaftliche Rundschau. 389 innerhalb welcher die Teilung sich vollzieht. Bei anderen Formen aber ist es sicher, dass das nackte Individuum erst eine Zeitlang frei herum- schwärmt (Stein). Schliesslich seien mit ein paar Worten einige höchst merkwürdige Erscheinungen bei den marinen Cilioflagellaten erwähnt, auf die PoucHErT zuerst die Aufmerksamkeit gelenkt hat, denen er jedoch nicht vermocht hat näher auf den Leib zu rücken. Der genannte Verf. hat die Ceratien des Meerwassers mehrmals in ganzen Ketten gefunden, bis 8 Indi- viduen hinter einander, die in der Weise angeordnet sind, dass das vordere Horn des einen Individuums mit seiner Spitze immer an der Flagellumspalte des nächstvorhergehenden inseriert ist; nähere Angaben fehlen. Auch hat PoucHer bei Dinophysis beobachtet, dass zwei Indi- viduen bisweilen dos-ä-dos mit einander vereinigt sind; was das aber für einen Sinn hat, liegt auch noch ganz im dunkeln. Es geht aus diesen kurzen Bemerkungen hervor, dass, während die Morphologie und Systematik der Gruppe durch die schönen Unter- suchungen StEin’s eine in gewissen Beziehungen ziemlich erschöpfende Bearbeitung gefunden hat, an vielen anderen Punkten der Naturgeschichte dieser Organismen noch viel zu thun übrig bleibt, um über die er- wähnten Verhältnisse einigermassen klar zu werden, und vielleicht wird es nur durch sorgfältige experimentelle Untersuchungen möglich sein, über die komplizierte Fortpflanzungsgeschichte sicheren Aufschluss zu erhalten. Es sei bei dieser Gelegenheit mit ein paar Worten auf eine ganz allgemeine Frage in der Naturgeschichte der Protisten hingewiesen, die von Prof. A. Gruser! in Opposition zu den Anschauungen des Ref. er- örtert worden ist. In meiner erwähnten Arbeit hatte ich die Flagellaten- Ähnlichkeit der Schwärmsprösslinge der Heliozoen, Monothalamien und Radiolarien besonders hervorgehoben und für eine meiner damaligen phylogenetischen Hypothesen zu verwerten versucht. GRUBER sagt nun, man könne bei den Protozoen wohl von Wachstum, nicht aber von Ent- wickelung reden, und er führt als Beispiel für seine Auffassung die Mi- krogromia socialis Herrw. an. Indem diese Monothalamie sich teilt, bleibt das eine Individuum innerhalb der alten Schale zurück und bewahrt ganz die Rhizopodencharaktere; das andere schwärmt als ein ganz flagel- latenähnliches nacktes Wesen heraus und erst später bildet sich dasselbe in die Rhizopodenform um. GRUBER meint, man könne letzteres nicht jünger als das erstere nennen, beide wären gleichaltrig, und deshalb könne man nicht von einer »Entwickelung« sprechen. Indessen damit ist der Hauptpunkt ganz ausser acht gelassen. Gewiss sind die beiden Individuen gleichaltrig, und ebenso gewiss macht das eine von denselben — das zurückbleibende — keine wesentlichen Formveränderungen durch; aber das andere geht eine ganz bedeutende morphologische Umbildung ein: von einem nackten geht es in einen membrantragenden Zustand über und statt der provisorischen Geissel hat es später als Bewegungs- " A. Gruber, Dimorpha mutans, eine Mischform von Flagellaten und Heliozoen. Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. 36, pag. 445 —458, 1882. 390 Wissenschaftliche Rundschau. organe Pseudopodien. Erwägt man noch das Moment, dass das erste die ursprüngliche Schale und die Eigenschaften des Muttertieres unmittelbar behält, dann ist es gewissermassen (biologisch) als eine Mutter zu be- trachten, die den Schwärmsprössling lebendig gebiert; und noch viel schlagender wird dies, wenn innerhalb einer Radiolarie zahlreiche Schwärm- sprösslinge, die sich später zu ebensolchen Wesen umbilden, entstehen. Letzteres ist ganz ebensogut als »Entwickelung« zu bezeichnen, als wenn ein Keim innerhalb einer Redie zu einer Cerkarie und diese später zu einem Distomum sich entwickelt. Ob dabei Zellteilung stattfindet oder nicht, ist für diese Frage ganz indifferent. Man kann bei Protozoen ebensogut wie bei Metazoen eine Entwickelung wahrnehmen, denn es gibt auch Entwickelung ohne Zellteilung. R. S. Bere (Kopenhagen). Chemie. Zur Entwickelungsgeschichte der modernen Chemie.' Die Zeit zur Abfassung einer objektiven Darstellung der Geschichte der neueren Chemie ist noch nicht gekommen, da die hierzu berufenen Fachmänner durch die eine oder die andere Richtung beeinflusst sind. Um so mehr ist es Pflicht derer, welche die Entstehung und das Wesen chemischer Theorien darlegen, alles auszuschliessen, was die vorauf- gehenden Entwickelungsstadien der theoretischen Chemie in falschem Lichte erscheinen lassen kann. Die historische Behandlung dieses Gegen- standes in manchen Lehrbüchern der organischen Chemie z. B. lässt in dieser Hinsicht sehr viel zu wünschen übrig; ja man kann darin vielfach Entstellungen nachweisen, welche sich zunächst vielleicht unbewusst ein- geschlichen haben, dann aber mehr und mehr in den Köpfen der gläu- bigen Leser sich festsetzen. Das unten citierte Buch von Auzr. Rau liefert für das oben Ge- sagte mannigfache und treffende Beweise. Das Werk ist ein in grossem Massstabe angelegter und durchgeführter historisch-kritischer Versuch einer Entwickelungsgeschichte der sogen. modernen Chemie. Dasselbe enthält eine stattliche Reihe von Protesten gegen die unhistorische Rich- tung der modernen chemischen Forschung; es wendet sich mit ein- schneidender Kritik gegen die Schäden der letzteren, ja es spricht manchen Anschauungen, welche von vielen Chemikern adoptiert sind, “ den wissenschaftlichen Charakter gänzlich ab. Das Buch Rau’s wird daher sehr vielen höchst unbequem sein; man wird sich bemühen, das- selbe tet zu schweigen, wie es schon mit den beiden ersten (vor 5, resp. 7 Jahren) erschienenen Abteilungen desselben seitens des che- mischen Publikums geschehen ist. Trotz des vornehmen Schweigens, in ! Albrecht Rau: Die Theorien der modernen Chemie, erstes Heft: „Die Grundlage der modernen Chemie“ (1877); zweites und drittes Heft: „Die Entwickelung der modernen Chemie“ (1879 u. 1884), erschienen bei Fr. Vieweg u. Sohn in Braunschweig. Wissenschaftliche Rundschau. 391 welches sich die Angegriffenen hüllen und welches Rau köstlich ge- kennzeichnet hat (vergl. S. 312 des letzten Heftes), bleiben die schweren, von ihm erhobenen Beschuldigungen bestehen. Verf. selbst wünscht dringend, eingehender Kritik unterworfen zu werden; er sagt S. 225/226 seiner letzterschienenen Schrift: »Auf Nachsicht mache ich nun keinen Anspruch. Im Gegenteil: je nachsichtsloser man mich beurteilt, desto mehr hoffe ich dabei zu lernen. Ich will, dass die Wahrheit heraus- kommt, und aus diesem sonderbaren Grund, lieber Leser, schreibe ich meine Bücher; ich greife nur an, um ordentlich widerlegt zu werden, und ich weiss, dass die Wahrheit auch dann mir noch liebenswert er- scheint, wenn ich ihr nicht nahe gekommen wäre, ja wenn das Suchen nach ihr mir nur Unangenehmes eingetragen hätte, und noch ferner ein- tragen würde!« Dem Wunsche des Verf. sollte seitens der modernen Chemiker, welche er mit scharfen Waffen angegriffen hat, Rechnung getragen werden. Aupr. Rau hat im Vorwort zu dem letzten Heft seines Werks eine gedrängte Übersicht von dessen Inhalt gegeben. Obwohl man sich da- durch schnell über letzteren sowie über den Standpunkt des Verfassers orientieren kann, so sei doch hier, für die Leser dieser Zeitschrift, in wenigen Zügen ein Bild von dem reichen Inhalt der dreigliederigen Schrift entworfen. Verf. hat sich die schwierige Aufgabe gestellt, die Entwickelung der modernen Chemie zu schildern. In dem ersten Hefte (1877 er- schienen) untersucht derselbe, wie sich aus dem Titel: »Grundlage der modernen Chemie« ergibt, den Grund und Boden, aus welchem diese sogen. moderne Chemie emporgewachsen ist. Dumas, der bekannte französische Chemiker, wird als Vater dieser ganzen Richtung gekenn- zeichnet. In schärfstem Gegensatz zu letzterer steht die klassische Chemie, deren gewichtigster Vertreter, BErzELIUs, von Rau als Muster eines wahren Naturforschers hingestellt und gewürdigt wird. Dem von BERZELIUS ausgesprochenen, aus den Thatsachen naturgemäss abgeleiteten Satz, dass der Charakter der chemischen Verbindungen von der Natur der sie konstituierenden Elemente abhänge, war Dumas mit der gegen- sätzlichen Behauptung, dass nicht die Natur dieser Elemente, sondern ihre Lagerung für das Wesen der Verbindungen massgebend sei, ent- gegengetreten. Dieser Satz, welcher die höchst bedenkliche, weil exakt nicht er- weisbare Idee der Lagerung von Atomen in sich schliesst, zieht sich wie ein roter Faden durch die Entwickelung der modernen Chemie, er ist — wie Rau meint — »der Grundgedanke der modernen Richtung bis zum heutigen Tage«. Wenn auch der Verf. in der Art und Weise, diese Behauptung zu begründen, häufig zu weit geht, so hat er doch im allgemeinen Recht, denn die Qualität der in einer Verbindung enthaltenen Atome wurde und wird noch jetzt von den Vertretern der modernen Chemie zu wenig berücksichtigt. Auf die Entwickelung der letzteren haben, nächst ihrem Urheber (Dumas), LAURENT und GErRHARDT den bestimmtesten Einfluss geübt. Den 392 Wissenschaftliche Rundschau. Nachweis dafür sucht Rau in dem zweiten Hefte seiner Schrift zu liefern. Hier entfaltet der Verf. seine kritisch-dialektische Begabung in glänzender Weise. Entgegen der in den meisten historischen Darlegungen über die Entwickelung der Chemie gehegten und gepflegten Meinung, dass dem Dreigestirn: Dumas, LAURENT, GERHARDT eine hohe reformatorische Be- deutung zukomme, vertritt Rau den Satz, dass die genannten den Bau der wissenschaftlichen Chemie untergraben haben, ja er bezeichnet die- selben als Destruktoren. Diesen schweren Vorwurf begründet der Verf. durch die Kritik der phantastischen, von scholastischem Geiste erfüllten Systeme LAurEnT’s und GERHARDT’s, insbesondere der Typen- theorie des letzteren. Dieser, mit Unrecht Theorie genannte Versuch, die organischen Verbindungen mit Hilfe eines künstlichen Systems zu . klassifizieren, wird als toter Schematismus von Rau gekennzeichnet. Der Einfluss der von der klassischen Schule ausgehenden Strömungen namentlich auf GERHARDT wird gehörig berücksichtigt, so dass es auch in diesem zweiten Hefte der Rau’schen Schrift nicht an grell beleuchteten Gegen- sätzen zwischen der klassischen und der modernen Richtung fehlt. Noch schärfer als in den eben kurz besprochenen Heften treten sich die beiden Richtungen in der neuerdings erschienenen Schluss- abteilung gegenüber. Hier handelt es sich um die letzte Phase der modernen Chemie, um die Ausbildung der sogen. Strukturtheorie. In den beiden ersten Kapiteln entwickelt Rau in scharfsinnigster Weise die Entstehung des Paarungsbegriffs in der organischen Chemie, wie dieser von BERZELIUS geschaffen, von GERHARDT missbraucht wurde, wie an denselben KoLsgs und FRANKLAND anknüpften und so zur Erkenntnis der Sättigungskapazität der Grundstoffe gelangten (Kap. III). Das Ver- dienst beider Forscher an der Feststellung dieses wichtigen Prinzips wird eingehend erörtert und gebührend gewürdigt, ganz im Gegensatz zu den Darlegungen über den gleichen Gegenstand in modernen Lehr- büchern!. FrAnKLAnND ist es unbestreitbar gewesen, welcher zuerst die Lehre von der Sättigungskapazität der Grundstoffe präzis formulierte. Der Paarungsbegriff, welcher bis dahin zur Erklärung einer Reihe von Erscheinungen gedient hatte, konnte nun fallen gelassen werden, da die Ursache der Paarung in der Sättigungskapazität der Elemente aufge- ! Insbesondere die Einleitung zu Kekul&'s Lehrbuch der organischen Chemie hat vielen als Fundgrube gedient, aus welcher sie ihre Kenntnisse der Entwickelung der Chemie geschöpft haben. Darüber spricht sich einmal Kolbe wie folgt aus: „Von der Mehrzahl derer, welche in der Neuzeit chemische Lehr- und Handbücher schreiben, selbst von einem Verfasser der Entwickelungsgeschichte der Chemie (Ladenburg) ist und wird mit Vorliebe Kekul&’s Lehrbuch der Chemie als Hauptquelle benutzt. Daher kommt es, dass in jenen Schriften die schiefen Urteile und Entstellungen sich wiederfinden, woran Kekul&’s Lehrbuch überreich ist, und was noch schlimmer, bei der jüngeren Generation von Chemikern der Glaube an die Richtigkeit der von Kekul& im die Welt gesetzten Irrtümer mehr und mehr sich befestigt.“ Einen neuen Beweis für das Gesagte liefert der erste Abschnitt, betitelt: Entwickelung der organischen Chemie, in dem „aus- führlichen Lehrbuch der organischen Chemie“ von Schorlemmer und Roscoe (bei Vieweg & Sohn 1882 erschienen). Rau hat dies Verfahren der modern- chemischen Geschichtsschreibung an verschiedenen Stellen seiner Schrift ge- brandmarkt. Wissenschaftliche Rundschau. 393 funden war. Der Verf. betont mit Recht die Kontinuität, in welcher sich KoLgE und FrAnkLAnD mit Berzeuıus befinden, während von moderner Seite diese für die Entwickelung einer Wissenschaft notwendige Kontinuität häufig durchbrochen wird. Obwohl durch jene Idee von der Sättigungskapazität der Grund- stoffe die Typenlehre GERHARDT's gegenstandslos geworden war, so ver- suchte doch KERULE, dieselbe durch Aufstellung der sogen. multipeln und der gemischten Typen zu erweitern, ohne sie im geringsten zu vertiefen (Kap. IV und V). Rau zeigt, dass »diese Art der Ableitung organischer Verbindungen aus einfacheren in einer blossen Dialektik bestand, bei welcher alle Realität in Dunst verging«; er weist ferner mit Geschick darauf hin, dass KrkuL£ an seinem eigenen System ver- nichtende Kritik geübt hat, insofern er (K.) den »gänzlichen Mangel exakt wissenschaftlicher Prinzipien in der Chemie« betont (vergl. S. 74 ff.). Hieran knüpft Rau treffliche Bemerkungen über die Chemie als wahre Wissenschaft; der von Dumas, GERHARDT, KEkuLE vertretenen Richtung wird die Wissenschaftlichkeit abgesprochen. Wie der Verf. dies harte Urteil zu begründen versucht, das ist im fünften Kapitel seiner Schrift nachzulesen. Während die von GERHARDT aufgestellte, von KrkuLE weitergeführte > Typentheorie« Schiffbruch erleiden musste, lehrt Korzr den natürlichen Zusammenhang zwischen unorganischen und organischen Verbindungen kennen: an Stelle der sterilen, mit scholastischen Elementen durchsetzten Typenlehre tritt eine lebendige Auffassung der organischen Chemie. Dies wird, an der Hand einer besonders wichtigen Abhandlung Kouse’s (aus dem J. 1859) in Kap. VI und VII eingehend geschildert. Kouse steht auf den Schultern von BERZELIUS; die alte Radikaltheorie gewinnt durch ihn neues Leben, nachdem er unhaltbare Grundsätze (wie den von der Unveränderlichkeit der Radikale) abgestreift hatte. Der schon von Berzeuıus geahnte Satz, dass die organischen Verbindungen Abkömmlinge der unorganischen seien, wird von KoLsE in glänzender Weise durch- geführt und damit die Frage nach der chemischen Konstitution der organischen Körper beantwortet oder ihrer Lösung näher geführt. Namentlich Korse’s Prognosen neuer Verbindungen, durch deren baldige Entdeckung sich erstere glänzend bestätigten, geben Rau Ver- anlassung, den Unterschied zwischen der klassischen Richtung und der modernen scharf hervorzuheben. In diesen Prognosen erkennt der Verf. den Anfang einer deduktiven Behandlung der Chemie; seine von tiefem philosophischem Verständnis zeugenden Bemerkungen über Induktion und Deduktion, über deren Wechselbeziehungen bei wissenschaftlichen Unter- suchungen verdienen mit grösster Aufmerksamkeit gelesen zu werden !. ‘ In welcher Weise der Verf. philosophisches Kapital daraus zu schlagen weiss, geht aus folgenden, dem Vorwort (S. XVI) entnommenen Sätzen hervor: „So wurde es durch Kolbe klar, dass durch die vom Objekt bestimmte Forschung oder durch begriffliche Formulirung von Thatsachen sogenannte synthetische Er- kenntnisse a priori erzeugt werden können. Die durch Kant beeinflussten idea- listischen Philosophen waren bis jetzt der Meinung, dass solche Erkenntnisse nur deshalb erzielt werden könnten, weil in unserem Intellekte die formalen Elemente, 394 Wissenschaftliche Rundschau. Die letzten, am meisten ausgedehnten Abschnitte (VIII, IX und X) der Rau’schen Schrift gelten der Entwickelung der Strukturlehre, deren Zusammenhang mit der GerHArpT'schen Typentheorie schon in einem früheren Kapitel (S. 66) angedeutet ist. Der Verf. charakterisiert diese Entwickelungsphase (und damit zugleich den Inhalt der letzten Kapitel) folgendermassen: »Das Wesen der Strukturchemie besteht zu- nächst darin, dass man die Sättigungskapazität der Grundstoffe, welche erfahrungsgemäss bei ein und demselben Element eine verschiedene sein kann, ohne dass für diese Verschiedenheit ein Grund angegeben werden kann, gleichwohl als eine konstante auffasste. Eine theoretische Be- gründung dieses Prinzips, welches gewöhnlich als konstante Valenz be- zeichnet wird, versuchte zuerst E. ERLENMEYER, dessen Theorie im Kap. VIII entwickelt und kritisiert wird. Kap. IX beschäftigt sich mit der Darlegung und Kritik der Ansichten von LOTHAR MEYER, ALEXANDER NAUMANN, A. Wurtz, Sent und Büchner über konstante, beziehentlich wechselnde Valenz.« In welchem Zusammenhang mit den verschieden schattierten, modernen Lehren von der Valenz das sogen. Gesetz der Atomverkettung steht, das zu zeigen, ist Aufgabe des letzten Abschnitts. Hören wir auch hier Rau selbst, welcher am Schluss des Vorworts den Inhalt des Kap. X wie folgt zusammenfasst: »Durch die Lehre von der konstanten Valenz bekam nun auch das, was schon LAURENT und GERHARDT als Lagerung oder Anordnung der Atome bezeichnet hatten, einen bestimmten Sinn. Da die konstante Valenz als eine endgültige Erkenntnis aufge- fasst wurde, über welche hinaus das Erkennen nicht zu dringen vermöge, so stellte man sich vor, dass durch die Erforschung der Konstitution der Verbindungen nichts weiter ermittelt werden könne oder solle, als wie die den zusammensetzenden Elementen beigelegten Werte unter einander gebunden seien oder wie sie sich gegenseitig absättigten. Diese Anschauung führte weiterhin zu der sogenannten Theorie der Atomver- kettung, welche im Kap. X eine kritische Darstellung findet.« ’ In den drei letzten Abschnitten seines Werkes hält Verf. ein strenges Gericht über die »Theorien der modernen Chemie<: er weist mit logischer Schärfe die Anhäufung von unbewiesenen Hypothesen in der Lehre von der konstanten Valenz sowie von der Atomverkettung u. s. w. nach, polemisiert gegen die vermeintliche Erkenntnis einer räum- lichen Lagerung der Atome (»Struktur« der Verbindungen), unterwirft die Ansichten mancher Führer der modernen Richtung einer durch- dringenden, fast vernichtenden Kritik und deckt die bedenklichen Wider- sprüche, welche dieselben sich zu schulden kommen lassen, schonungslos auf. Mit Recht verurteilt Rau die in der neueren Geschichtsschreibung der Chemie eingerissenen Entstellungen und die historische Unkenntnis mäncher Autoren (vergl. S. 171 ff., 188, 225, 332). Dass nach alle- welche alle Erkenntnis und die Erfahrung selbst bewirkten, bereit lägen. Durch jene Entdeckungen Kolbe’s wird aber ein ganz anderes Licht auf die Entstehung „synthetischer Erkenntnisse a priori“ verbreitet; so wertvoll sie an und für sich für die Chemie sind, so enthalten sie noch eine Seite, welche den Bereich dieser Wissenschaft überschreitet,“ u. s. f. Wissenschaftliche Rundschau. 395 ‚ dem das Resultat für die moderne Öhemie und ihre Vertreter höchst ungünstig ausfällt, ist leicht vorauszusehen (vergl. die Charakteristik der modernen Chemiker S. 304 u. a. a. Stellen). Dem oben in kurzen Zügen dargelegten Inhalte des Rau’schen Werkes seien einige allgemeine Bemerkungen über dasselbe angefügt. Aus dem obigen Referate ergibt sich schon zur Genüge der Standpunkt des Verfassers, welcher der modernen Chemie mit kritischem Schwerte zu Leibe geht. In unserer Zeit, welche — was namentlich die Chemie anlangt — durch Kritiklosigkeit ausgezeichnet ist, hat das Werk seinen besondern Wert. Wenn auch der Verf. in seinen Angriffen manchmal vielleicht zu weit geht, so wird doch dadurch manches Gute erreicht, sei es auch nur, dass der Nutzen des Buches darin besteht, dass ein Teil der Chemiker gegen ihre bisherige Anschauungsweise misstrauisch wird und fortan die theoretischen Speisen, welche ihnen dargeboten werden, statt sie gedankenlos zu geniessen, zuvor prüft. Rau sekundiert durch seine Kritik in wirksamer Weise KoLBE, welcher allein gegen die Lehren der modernen Chemie Front macht und sie unermüdlich bekämpft. Die Kritik Rau’s würde übrigens an und für sich nicht befriedigen und das nicht erreichen, was sie bezweckt, wäre sie nicht gestützt durch Qualitäten, welche zugleich die Hauptvorzüge des Werkes aus- machen. Dazu gehören in erster Linie die Einfachheit und Präzision der Sprache, sowie die Klarheit aller Erörterungen. Ein Gedanke folgt mit logischer Schärfe aus dem andern; man stösst nicht auf Gedanken- sprünge; alles steht vielmehr in harmonischem Zusammenhange. Verfasser beansprucht mit Recht dieselbe Klarheit und Präzision von jedem Schrift- steller, welcher vor das wissenschaftliche Publikum tritt; er verlangt scharfe Begriffe, umfassende Definitionen im Gegensatze zu den ver- schwommenen Begriffen und einseitigen Definitionen der modernen Chemiker. Wird dies Verlangen erst allgemeiner ausgesprochen werden, und bestreben sich vor allem die Lehrer der Chemie, demselben zu entsprechen, dann ist damit sicher eine Wendung zum bessern gegeben. Nicht minder wohlthuend, als das Streben des Verf. nach Schärfe des Ausdrucks und Klarheit der Gedanken, berührt uns sein Ringen nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit; von einer durchaus edlen Gesinnung ist sein Werk getragen, und daran wird nichts geändert durch eine gewisse Einseitigkeit, in welche er zuweilen verfällt. Von seiner Liebe zur Wahrheit sind seine energischen Proteste gegen die Ungebühr modern- chemischer Geschichtsschreibung, sowie seine schonungslosen Angriffe gegen Dumas wegen Aneignung fremden Verdienstes (vergl. S. 44 ff.) diktiert. Zu solchem Vorgehen ist gewiss nur ein Mann berechtigt, welcher immer an den Quellen schöpft, um den durch nichts getrübten Thatbestand festzustellen. Rau hat sich tiefe historische Kenntnisse angeeignet und weiss dieselben, dank einer ausserordentlichen Belesenheit, ausgiebig zu ver- werten. Seine Erörterungen über die verschiedenen theoretisch-chemischen Ansichten belebt er dadurch, dass er die betreffenden Autoren in aus- führlichen Citaten redend einführt; auf solche Weise versetzt er den Leser in zurückliegende Zeiten und in die damals vorhandenen Strömungen, lehrt auch die Eigenart der betreffenden Forscher kennen. 396 Wissenschaftliche Rundschau. Dass es neben soviel Licht in dem Rau’schen Werke an Schatten nicht fehlt, liegt auf der Hand. In seinem Eifer für die von ihm ver- fochtene Sache geht der Verf. nicht selten zu weit; sein Urteil wird in- folge dessen einseitig. Mit Vorliebe sucht er die schwachen Seiten der modernen Chemiker auf, wodurch seine Schrift einen stark polemischen Beigeschmack erhält. Trotzdem ist die Kritik Rau’s so gewichtig, dass die durch dieselbe Betroffenen sich nicht in Schweigen hüllen dürfen, sondern sich rechtfertigen müssen. Zu den kleinen Schwächen RAau’s gehört eine wenn schon selten vorkommende dialektische Pedanterie, welche ihren Grund in seinem Streben nach präzisem Ausdruck haben mag. So ereifert sich Verf. über die »konstanten Proportionen«, die >einfachen Multipla« (S. 185 ff.), über »abnorme Dampfdichten« (S. 246): Bezeichnungen, welche, einmal eingebürgert, selbst von Freunden exakter Ausdrucksweise anstandslos gebraucht werden. Endlich fühlt sich Referent gedrungen, der von Rau mit beson- derem Nachdruck verfochtenen Auffassung entgegenzutreten, wonach den Atomen eine reale Existenz nicht zukomme; vielmehr seien dieselben »nur begriffliche, durch unsere dermalige Auffassung bedingte Dinge« oder »Begriffe, die nur in dem Denkvermögen des Menschen wurzeln« (vergl. S. 191, 197, 278). Hier lässt der Verf., wie ich meine, zu sehr seine philosophische Seite hervortreten. — Die meisten spekula- tiven und zugleich exakten Chemiker werden sich zu einer solchen Auf- fassung nicht entschliessen können; für sie haben die Atome eine be- stimmte Grösse, bestimmtes Gewicht etc. (wenn auch bislang nur von ihrem relativen Gewicht die Rede sein kann). BromstranD z. B., ein tüchtiger Vertreter und Förderer der Ideen Brrzruıus’, hat sich in seiner »Chemie der Jetztzeit« (S. 393) über die Atome folgendermassen ausgesprochen: »Die Atome müssen nicht nur eine gewisse Schwere haben, sondern auch einen Raum einnehmen.« Br. versichert an der- selben Stelle, sich in vollem Einklange mit Brrzeuıus zu befinden. — Mit der obigen, von Rau als selbstverständlich aufgestellten Ansicht kehrt man wieder zu den von Boscowich im vorigen Jahrhundert an- genommenen Kraftzentren zurück. Die oben gemachten Ausstellungen an dem Rau’schen Werke werden übrigens durch die schon hervorgehobenen Vorzüge desselben in den Schatten gestellt. Wenn auch jetzt eine direkte Wirkung des Buches nicht zu verspüren sein sollte, so wird eine solche doch nicht ausbleiben. Mancher wird sich durch die kritischen Darlegungen des Verf. getroffen fühlen und Selbstkritik zu üben anfangen. Viele werden im stillen dem Autor die Hand drücken und ihm dafür danken, dass er sich nicht ge- scheut hat, mit scharfem Seziermesser Wunden und Schäden, an denen die heutige Chemie leidet, aufzudecken. Wem die fernere Entwickelung der Chemie, sowie der Naturwissen- schaften überhaupt, am Herzen liegt und wer sich für deren Geschichte interessiert, der wird das Werk Rau’s nicht ignorieren, vielmehr gründ- lich studieren und in sich verarbeiten. Möge dasselbe den Weg zu recht Litteratur und Kritik. 397 vielen Lehrenden wie Lernenden finden, möge es auch von den Jüngern der Philosophie gelesen und gewürdigt werden! Leipzig. Ernst von MEYER. Litteratur und Kritik. Der Hypnotismus. Psychiatrische Beiträge zur Kenntnis der sog. hypnotischen Zustände, von Dr. Konkan RıEGER, Privatdoz. d. Psychiatrie a. d. Univ. Würzburg. M. 1 Kurventaf. und 4 Taf. in Lichtdruck. Nebst e. physiognom. Beitrag von Dr. Hans VırcHhow, Privatdoz. d. Anatomie in Würzburg. Jena, G. Fischer, 1884. 151 8. 8°. Der Titel dieses hochinteressanten Buches deckt nicht ganz seinen Inhalt, denn den »psychiatrischen Beiträgen«, welche sich naturgemäss nur auf den Menschen beziehen können, ist ein Abschnitt »über den Hypnotismus der Tiere« vorausgeschickt, der ausschliesslich ins Gebiet der Physiologie und Experimentalpsychologie fällt. In der That wird auch im übrigen Buche nur sehr wenig auf diesen ersten Abschnitt (17 S. mit 1 Taf.) bezug genommen. An sich ist derselbe aber wert- voll genug. Der Verfasser experimentierte fast nur mit Fröschen, einige- male auch mit Vögeln (Ente und Zeisig). Durch einfaches ruhiges Hal- ten der Tiere in einer unnatürlichen Stellung (aufrecht hockend z. B.) führt er dieselben in einen bewegungslosen Zustand über, der, wie über- zeugend bewiesen wird, weder ein gewöhnlicher Schlaf ist (Hzuser), noch auf Schrecklähmung beruht (Preyer), noch mit dem >»sich tot stellen« der Frösche irgend etwas zu thun hat; er muss also einstweilen als Hypnotismus bezeichnet werden, wobei man aber nicht an die etymo- logische Bedeutung des Wortes denken darf. Über das eigentliche Wesen dieses Zustandes gibt Verfasser sehr dankenswerte Aufschlüsse: vor allem wird konstatiert, dass auch bei so niedrig stehenden und stumpfsinnigen Tieren, wie die Frösche es sind, die individuelle Prädisposition eine wohl ebensogrosse Rolle spielt wie bekanntlich beim Menschen und dass ebenso durch allmähliche Gewöhnung und Einübung selbst bei anfangs sehr widerspenstigen Individuen ein immer rascherer und sicherer Erfolg erzielt werden kann. In einer ihm natürlichen Stellung aber wird ein Frosch niemals hypnotisch; es kommt in der That nur auf die ihm auf- genötigte fremde Stellung, auf die Änderung seines Bewusstseins vom eigenen Körper bei passivem Verhalten des letzteren an, alle sonstigen Verhältnisse (Vermehrung oder Verminderung der Tasteindrücke u. s. w.) sind durchaus nebensächlich. Sensibilität und Reflexerregbarkeit er- scheinen in sehr wechselndem Grade beeinflusst: im günstigsten Falle kann man das Tier an der Rückenhaut aufheben bei schlaff herab- hängenden Beinen, häufig aber zieht es ein aus der Ruhelage gebrachtes Bein sofort zurück. Eben dieser Inkonstanz der Erscheinungen wegen kann daher auch noch nicht davon die Rede sein, den Hypnotis- mus auf bestimmte physiologische Vorgänge zurückzuführen und etwa 398 Litteratur und Kritik. durch Zuhilfenahme vivisektorischer Versuche Art und Ort der Bewusst- seins- und Innervationsstörung ermitteln zu wollen. Worauf aber das eigentümliche Verhalten der Gliedmassen, ihre sogenannte >»wächserne Biegsamkeit«, in derjenigen Modifikation des hypnotischen Zustandes, die man als »Katalepsie« unterscheidet, eigentlich beruht — dass sie sich wie eine zähe unelastische Masse beliebig strecken und beugen lassen und in jeder ihnen gegebenen Lage starr verbleiben — das hat Verfasser bereits in einer früheren Arbeit! nachgewiesen: der nächste Grund liegt in einer Verkehrung des normalen Muskelantagonismus. Auch im normalen Zustande werden nämlich, was meist ganz vergessen, vom Ver- fasser aber durch höchst einfache Versuche bewiesen wird, bei Ausführung jeder Bewegung, mag es eine Beugung oder Streckung etc. sein, nicht bloss die betreffenden Flexoren resp. Extensoren, sondern auch ihre Antagonisten deutlich innerviert, jedoch so, dass die zu den eigentlich thätigen Muskeln gehenden Innervationsströme weit überwiegen und diejenigen der Antagonisten in jedem Augenblick entsprechend der veränderten Spannung aufs feinste abgestuft werden. In der Hypnose dagegen scheinen beiderlei Muskel- gruppen ungefähr gleich starke Innervation zu erhalten, so dass eine Art von Gleichgewichtszustand besteht und die Gliedmassen steif erhal- ten werden; und wird dies Gleichgewicht durch aktive oder passive Be- wegung der Gliedmassen gestört, so stellt sich dasselbe langsamer wie- der her, was eben den Bewegungen hypnotischer Menschen den »chorea- tischen« (an Veitstanz erinnernden) Charakter verleiht. Damit sind wir bereits zur zweiten Abteilung des Buches, welche »die hypnotischen Erscheinungen beim Menschen« behandelt, übergeleitet worden. So anziehend und lehrreich die Einzelheiten der vom Verfasser mit grösster Sorgfalt, Sachkenntnis und, was wir hervorzuheben nicht vergessen wollen, mit warmem menschlichem Mitgefühl für seine Patienten angestellten Untersuchungen sind, wir müssen uns doch auf die Erwähn- ung der wesentlichsten Resultate beschränken. Er erzielt die gewünschte Wirkung immer nur durch Fixierenlassen eines beliebigen Gegenstandes, also durch Beeinflussung der Augenmuskeln. Als mehr oder weniger bald eintretende. Folge lässt sich nur ganz im allgemeinen ein abnormer Geisteszustand bezeichnen, der aber im einzelnen die grössten Verschie- denheiten zeigen kann; bald besteht er nur in einer gewissen Schläfrig- keit und Aufhebung der Empfindlichkeit, die betreffende Person ist höch- stens zu einigen Nachahmungsbewegungen zu bringen; eine andere bleibt zwar ohne äusseren Anstoss auch ruhig, kann aber, da ihre Gliedmassen vollkommen kataleptisch (wächsern biegsam) sind, in die verschiedensten Stellungen gebracht und dadurch oder durch blosse Worte auf alle mög- lichen Wahnvorstellungen übergeleitet werden; dabei behält sie stets eine richtige Kenntnis ihrer eigenen Persönlichkeit, nur die Aussenwelt ist ihr gänzlich verrückt; eine dritte behält ihr Sprach- und zudem auch ihr sonstiges Bewegungsvermögen, lässt sich zwar keine Wahnvorstell- ‚ungen unterschieben, erzeugt aber aus eigener Einbildung konstant eine ! „Über normale und kataleptische Bewegungen“, im Arch. f. Psychiatrie und Nervenkrankheiten, Bd. XIII, 1882. Litteratur und Kritik. 399 verkehrte Auffassung wenigstens eines Teiles ihrer Aussenwelt. So scheint es also ganz von individuellen Verhältnissen abzuhängen, wie sich die Geistesstörung ausgestaltet. Diese muss natürlich auf einer Veränder- ung im Gehirn beruhen, welche aber nicht anatomischer, sondern nur funktioneller Natur sein kann. Genaueres lässt sich darüber nicht sagen. »Nur so viel ist sicher,« meint Verfasser, »dass es nicht etwa andere Hirnteile sein können, unter deren Vermittelung im normalen und ab- normen Zustand gehandelt und gesprochen wird. Wem dieser Satz nicht unmittelbar aus den angeführten Thatsachen evident ist, für den wäre auch jede weitere Beweisführung verloren.Hypnotismus und Verrücktheit<, müssen wir leider ganz un- besprochen lassen, da er zu weit ins psychiatrische Gebiet hineinführt. Er behandelt hauptsächlich die oft so tief einschneidende Frage der Zu- rechnungsfähigkeit so klar und verständnisvoll, dass auch jeder Laie diese Darstellung mit Genuss lesen wird. Nicht mindere Anerkennung aber wird gewiss endlich der physiognomische Anhang finden, worin Dr. H. VırcHow eine höchst feinsinnige Analyse des Gesichtsausdruckes eines hypnotisierten Mädchens gibt, wie er auf 3 Lichtdrucktafeln festgehalten ist. Die dritte dieser Tafeln ist aber auch ein wahres Kabinettstück. Es genügte, das betreffende sehr religiös gesinnte Mädchen im hypnotischen Zustand durch geeignete Worte und indem man ihre Hände in betender Stellung empor- hob, in fromme Visionen zu versetzen — und regelmässig nahmen ihre Züge, verbunden mit der Haltung des Kopfes und des ganzen Körpers, einen Ausdruck an, welcher die höchste ekstatische Verzückung in wahr- haft wunderbarer Vollendung widerspiegelt. Mit vollem Rechte empfiehlt Verfasser diese Photographie namentlich auch den Künstlern als bestes, weil geradezu einziges wirklich naturwahres Vorbild für die Darstellung jenes so oft schon von der bildenden Kunst reproduzierten Zustandes. So unschön die Züge des Mädchens, so geschmacklos sein Anzug, so ein- fach das ganze Bild, — man vergisst das alles beim Anblick dieser un- beschreiblich rührenden Innigkeit, dieser absoluten Harmonie des Aus- drucks. Unwiderstehlich schwebt die Figur vor unserem Blick empor, ohne Zwang, fast freudig, trotz aller Starrheit und obgleich man die erhobenen Arme nur aus der Lage der Schultern errät. — Doch wir wollen uns nicht verleiten lassen, ein klägliches Pendant zu der meister- haften Interpretation des Verfassers zu liefern, und schliessen mit dem Wunsche, das hier so schön begonnene Werk, das für die Kunst ganz neue Bahnen zu erschliessen verspricht, möge von seiten der beiden Herren Verfasser recht bald weiter ausgeführt werden. y; Ausgegeben den 31. Mai 1884. Die Entwickelung der Sittlichkeitsidee. Von B. Carneri. Darwın ist der Denker, welchem in betreff der Erkenntnis die Menschheit nach Kant am meisten zu Dank verpflichtet ist. Erst seit Kant wissen wir, daß alles Denken, welches den Boden der Erfahrung verläßt, nur leeren Hirngespinsten nachjagen kann. Allein wie klar auch durch ihn die Thätigkeit des reinen Denkens uns zum Be- wubtsein gekommen war: so oft wir an seiner Leuchte die Erfahrung selbst untersuchten, nach einem in sich abgeschlossenen Natur- erkennen strebten, gelangten wir an einen dunkeln Punkt, auf welchem das Diesseits in ein Jenseits hinüber zu führen schien. Allerdings wußte jeder, der über letzteres mit sich im klaren war, mit einem non liquet sich zu bescheiden. Der empfindlichere Mangel betraf eine andere Seite: mit dem Raum, der Zeit und Kausalität gab es kein Auslangen, sobald es galt, die Welt der Erscheinungen vom Standpunkt ihrer Ent- stehung aus in einen uns ganz verständlichen Zusammenhang zu bringen: die Schöpfung blieb unerklärt. Wir denken da nicht an eine Erklärung, wie sie unsern modernen Hyperkritizisten vorschwebt, für welche es gar keine Erklärung mehr gibt, wenn nicht das Ansichsein der Ursachen und Wirkungen aufgedeckt, sozusagen bei allem bis zum Urgrund vorgedrungen wird. Was uns da vorschwebt, geht über das nicht hinaus, was ganz korrekt Naturbeschreibung genannt wird; aber wir verstehen darunter eine Beschreibung, welche uns die Schöpfung widerspruchslos als eine natürliche erscheinen läbt. Selbst einem genialen Denker wie Kanr war es bei dem damaligen Stande der Naturwissenschaft nicht möglich, die Zweckmäbigkeits- lehre vollständig zu überwinden. Ihm war es klar, daß das Setzen eines Zweckes Denken voraussetzt; dab der ganze Zweckbegriff erst mit dem Bewußtsein und nur für das bewußte Wesen da ist; daß folglich die Annahme, einer Zweckmäßigkeit in der Natur den Grundsätzen einer strengen Kritik: widerspricht: allein damit stand er vor der Schöpfung ohne Schöpfer als vor einem Rätsel, unauflösbar, solang die Weise ihrer Entwickelung nicht begreiflich zu machen war. Den einzelnen Organismus (Kritik der Urteilskraft, Frankfurt und Leipzig 1794, Kosmos 1884, I. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XIV). 26 [4 4093 B. Carneri, Die Entwiekelung der Sittlichkeitsidee. S. 65, 8. 295) konnte er, vom Gesichtspunkt des Ganzen aus ihn be- trachtend, als Selbstzweck auffassen. Damit war jedoch für die all- gemeine Zweckmäßigkeit in der Natur nichts gewonnen, insofern für alles Anorganische nur die Untersuchung nach mechanischen Grundsätzen übrig- blieb und der Zusammenhang des Anorganischen mit dem Örganischen durch die Art der Unterscheidung noch dunkler wurde. Kaxr sprach daher der Teleologie alle objektive Gültigkeit ab und beschränkte sich auf eine subjektive Gültigkeit, welche die Urteilskraft »der Natur als transcendentale Zweckmäßigkeit (in Beziehung auf das Erkenntnisvermögen des Subjektes) beilegt: weil wir, ohne diese vor- auszusetzen, keine Ordnung der Natur nach empirischen Gesetzen, mithin keinen Leitfaden für eine mit diesen nach aller ihrer Mannigfaltigkeit aufzustellende Erfahrung und Nachforschung derselben haben würden«. (A. a. O. Einleitung S. XXXVI) Die Teleologie spielt daher in der »Kritik der Urteilskraft« die Rolle eines praktischen Postulates und bildet den Übergang zu den Postulaten der praktischen Vernunft; denn, ist die Natur zweckmäßig eingerichtet, so gibt es Einen, der die Zwecke setzt, die Schöpfung hat ihren Schöpfer, und nimmt man diesen an, so wird die Annahme einer freien und unsterblichen Seele zu einer nahebei selbstverständlichen. Allerdings nimmt Kant, was er da mit der einen Hand gibt, mit der andern Hand wieder; jedoch nicht alle lassen sich alles wieder nehmen, und die Versuche, aus ihm und ARISTOTELES eine haltbare Zweckmäßigkeitslehre zu konstruieren, sind zahllos. Es verhält sich aber damit wie mit den Zahnmitteln, die auch nicht zahllos wären, wenn eines davon den Schmerz beseitigen würde. Man braucht darum nicht gleich an Charlatanerie zu denken. Die Deszendenzlehre hat zwar einen bis dahin ungeahnten Einblick in die Schöpfungsgeschichte gewährt; aber die Entstehung der Gattungen setzte Schöpfungsakte voraus, welche als ebenso viele Stützen der Teleologie sich darstellten, insofern vom Begriff eines Urhebers der Begriff des beabsichtigten Zweckes gerade so unzertrenn- lich ist, wie von der Vorstellung einer zweckmäßig eingerichteten Welt die Vorstellung eines Urhebers. Die Bestrebungen, durch eine strenge Unterscheidung zwischen Ziel und Zweck und durch eine streng gar nicht durchführbare Ausscheidung der Absicht aus dem Zweck- begriff ein Mittelding zwischen Teleologie und Dysteleologie zu schaffen, haben naturnotwendig immer das Los aller Halbheiten ge- teilt und der dunkle Punkt, dessen wir zu Anfang dieser Erörterung er- wähnt haben, ist aller Vernunftkritik zum Trotz dunkel geblieben bis zum Erscheinen Darwın’s. Ihm verdanken wir die Möglichkeit einer ganz in sich abgeschlossenen kritischen Weltbetrachtung, und es ist charakteristisch, daß gerade von diesem wichtigsten Erfolg seiner Lehre am seltensten gesprochen wird. Mag an diesem oder jenem Detail seiner Arbeiten noch so sehr gemäkelt werden können: die Hauptsache, die Entstehung der Arten, das Entfallen der Gattungen, die das ge- samte Werden beherrschende Evolution steht fest. Alles Werden folgt ausschließlich den gegebenen Bedingungen, so dab, wie wir schon wiederholt hervorgehoben haben, anstatt daß die Mittel zu bestimmten B. Carneri, Die Entwickelung der Sittlichkeitsidee. 403 Zwecken sich fänden, vielmehr dieZwecke nach den Mitteln sich richten. Damit entfällt jede Notwendigkeit, an einer wenn auch nur subjektiven Zweckmäßigkeitslehre festzuhalten, und ist an die Stelle der göttlichen die natürliche Schöpfungsgeschichte getreten. Das größte Verdienst an der Verbreitung dieser Auffassung und an der unerschrockenen Bloßlegung ihrer letzten Konsequenzen gebührt Erssır HazckeL. Mag die in Zug befindliche Reaktion die ganze Welt er- greifen: die ganze Welt kann an dieser zweiten Riesenthat des Menschen- geistes nichts ändern. Ehe wir fortfahren, müssen wir der Reaktion unserer Zeit ein paar Worte widmen. Dabei wollen wir aber ganz absehen von der Reaktion, welche den Regierungskreisen entstammt und welche uns in das Gebiet der Politik hinüber drängen würde, mit dem wir uns hier nicht zu be- schäftigen haben. Wir berühren sie nur, weil wir später auf sie zurück- kommen, insofern ihr Streben auf ein Verkümmern freiheitlicher Insti- tutionen gerichtet ist, deren Wert für die Sittlichkeit wir im Verfolg dieser Auseinandersetzung zu kennzeichnen haben werden. Ihre Ab- sichten sind keine bösen; sie hält sie sogar für die allerbesten: sie entspringt einer erstaunlichen Kurzsichtigkeit, die, wie sie ihr nicht ge- stattet, zu sehen, was sie thut, sie auch die Mächte nicht bemerken läßt, die sie gegen sich entfesselt und die im Handumdrehen sie be- seitigen werden. In welchem Sinn dies geschehen und wer dabei zuerst seine Rechnung finden wird, wir unterfangen uns nicht, es jetzt schon vorauszusagen. Was hier zunächst unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist die Reaktion in den regierten Regionen, im Volke selbst, und zwar nicht in des Wortes wegwerfender Bedeutung; denn die Bewegung hat bereits in ausgedehntem Maße Schichten ergriffen, die zu den gebildeten gerechnet werden. Diejenigen, die heute wieder an Hexen glauben — man nennt sie Spiritisten — zählen nach vielen Tausenden, und es ist dies eine Raserei, wie gesagt, nicht etwa des Pöbels; dieser weiß gar nichts von der modernen Geisterseherei. Und diejenigen, die heute in einer halb religiösen, halb Rassenverfolgung sich gefallen, welche den menschenunwürdigsten Phasen des Mittelalters Ehre machen würde — sie nennen sich Antisemiten — zählen nach Hunderttausenden ; da- bei ist auch der Pöbel beteiligt, aber die Führer gehören zu den soge- nannten Gebildeten. Es sind dies zwei Erscheinungen, die noch vor kurzem niemand mehr für möglich gehalten hätte. Berücksichtigt man die Fortschritte, welche der Mensch im letzten halben Jahrhundert auf allen Gebieten des Wissens und Könnens gemacht hat, so ist die Sache ganz besonders erstaunlich, weil man nicht umhin kann anzunehmen, es habe die Bildung zugenommen. Sie hat es auch, und gar viele schreiben gerade ihr, der Überbildung unserer Zeit, diese saubern Er- scheinungen zu und was sonst noch alles unsere Zeit verunzieren mag. Die Freigeisterei, die Glaubenslosigkeit sollen die Hauptschuldigen sein. Ja, die Geister sind frei, sogar die Gespenster sind es. Aber der Glaube ? Spielt der nicht dabei eine ganz hervorragende Rolle? Man wird uns einwenden: der Aberglaube! Allein wird von der Kirche, der eigent- lichen Pflanzstätte des Glaubens, der Glaube wirklich in einer Weise ge- 404 B. Carneri, Die Entwickelung der Sittliehkeitsidee. lehrt, die den Aberglauben ausschließt und das jugendliche Gemüt vor- nehmlich zur Nächstenliebe, der ersten und letzten Wahrheit alles gött- lichen Glaubens, heranzieht? Und der neueste Geisterglaube, wird er nicht wissenschaftlich begründet und in Zusammenhang gebracht mit der Religion? Man lese ihre neuesten Schriftsteller, z. B. CAasprowıcz. Wir können dies alles hier nur andeuten, hoffen aber, selbst jene, die uns nicht zustimmen, zum Nachdenken anzuregen, wenn wir den Satz auf- stellen: daß die schmählichsten Verirrungen unserer Zeit im Glauben an eine Doppelnatur des Menschen ihre stärkste Nahrung finden und daß sie nicht ins Mittelalter zurückdrängen würden, wenn sie ihre Ouelle hätten im Fortschritt. Für uns ist dies von hoher Bedeutung, weil unserer Überzeugung nach die Feststellung ethischer Grundsätze und mit ihnen der Richtung, welche die sittliche Anschauung dem Gemüt gibt, viel weniger durch das Ideal, das man sich davon schafft, denn durch die Auf- fassung der Menschennatur bedingt ist. Das Ideal des sittlichen Menschen ist, sobald die Bedingungen zu seiner Heranbildung gegeben sind, gewisse exzentrische, aber gerade darum nicht maßgebende Aus- nahmen abgerechnet, immer fast genau dasselbe; es ist nur roher oder veredelter je nach der betreffenden Kulturstufe. Betrachtet man gar seine wissenschaftlichen Bearbeitungen, so ist die Übereinstimmung eine derart auffallende, daß einem die Heftigkeit, mit der die Verfechter der verschiedenen Systeme einander befehden, schwer begreiflich wird. Das eigentlich Unterscheidende liest in der Aufdeckung dessen, was zur Sittlichkeitsidee führt, nämlich, was die Menschheit überhaupt dazu gebracht hat, diese Idee zu erfassen, und den einzelnen fort und fort auf ihre Spur leitet. Die Verschiedenheit der betreffenden Erklärungen beruht auf der Gestaltung der Weltanschauung, weil nach deren wichtigstem Charakterzug die Charakterisierung des Menschen selbst sich richtet. Allerdings ist der Mensch immer derselbe; allein als eine bloße Erscheinung in der Welt der Erscheinungen gilt er jedem Zeitalter, aber auch jedem Forscher als das, was der über ihn gefaßten Vorstellung entspricht. Ist die Weltanschauung eine streng dualistische, so bestimmt den Menschen zum Handeln ein für sich existierender Geist, der in einer andern Welt, gleichviel ob als Strafe und Belohnung oder als bloße Folge, die Wirkungen seines diesseitigen Wandels empfinden wird und vor allem eine Ausgleichung der irdischen Ungerechtigkeiten, welche diese Weltanschauung anerkennt, zu erwarten hat. Ist dagegen die Weltanschauung eine streng monistische, so ist es der ganze Mensch, der denkt und handelt, und vollendet sich seine ganze Existenz in diesem Leben. Dort spiritualistisch, hier pantheistisch, kann die Gottes- vorstellung beide Weltanschauungen beherrschen; während die An- nahme des Determinismus mit der erstern vereinbar, bei der letztern unvermeidlich ist, folglich die Frage der Willensfreiheit nur bei der erstern, insofern ein Riß durch die Kausalität schon vollzogen ist, ernst- lich zur Sprache kommen kann. Bestimmend im vollen Sinn des Wortes ist für die ethische Entwickelung des Menschen der Glaube an eineandere Welt, B. Carneri, Die Entwickelung der Sittlichkeitsidee. 405 nicht nur weil durch ihn der Tugend ein besonderer Zweck zugeschrie- ben, sondern weil dieser Zweck als ein entscheidender dargestellt wird, so zwar, daß ohne ihn die Tugend sinnlos, folglich unmöglich und das ganze irdische Dasein wertlos wäre. Auf wen machen die Worte des Propheten Jzsara: »Laßt uns essen und trinken, wir sterben doch morgen« (XXII, 135), nicht einen tiefen Eindruck, wenn sie ein Mann wie der h. Paurus in folgende Verbindung bringt? »Habe ich mensch- licher Meinung zu Ephesus mit den wilden Tieren gefochten ? Was hilft mir’s, so die Toten nicht auferstehen ? Laßt uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot.« (I. Korinther 15.) Sollte dieser seltene Mann wirklich gedacht haben, daß diese Erde nichts besseres biete als Essen und Trinken, daß diesem Leben kein hohes Ziel abzuringen sei? Liest man im h. Aucustin die merkwürdigen Worte: »Ich sprach mit meinen Freunden Alypius und Nebridius über das höchste Gut und das größte Übel und erklärte, ich würde in meinem Herzen dem Erıkur den Preis zuerkennen, wenn ich nicht glaubte, dab nach dem Tode noch ein Leben der Seele und ein verdienter Lohn übrig wäre, was ErIKUR nicht zugeben wollte« — (Bekenntnisse, deutsch, Frankfurt a. M. 1866, Buch VI, Kap. 16, S. 138); und vergleicht man damit die Gewissens- bisse, welche in einem so edlen Herzen und hochgebildeten Geiste der bloße Gedanke hervorrief, friedlich mit zwei Freunden darüber gesprochen und sogar gefragt zu haben, warum wir bei einem ewigen Erdenleben auch nicht ganz glücklich wären und was wir noch zu suchen hätten: so ermibt man die ganze Tiefe des Abgrunds, den der Blick in ein Jen- seits vor dem menschlichen Gemüt erschlossen hat. Allerdings haben wir es hier mit Offenbarungen, mit dem einfachen Gottesglauben zu thun. Gehen wir zu einem der edelsten Denker der Neuzeit über, der zum sogenannten philosophischen Gottesglauben sich erhoben hatte. In seinen »Briefen an eine Freundin< kommt WiLHELMm von HumsoLpr auf jene Worte des Apostels zu sprechen; er faßt sie im erhabensten Sinn auf, indem er eine Beschäftigung mit dem überirdischen Dasein, welche die irdischen Wohlthaten der Vorsehung uns verkennen läbt, ebenso ver- wirft, wie das Versunkensein in rein materielle Genüsse: allein er hält fest an einer Vorsehung und gelangt, auf die Unsterblichkeit übergehend, schließlich zu dem Ausspruch: »Wären wir nicht gleichsam schon ausgestattet mit dieser Gewißheit auf die. Erde gesetzt, so wären wir in der That in ein Elend hinabgeschleudert.< — (A.a. O. Leipzig 1848, zweite Aufl. B. II, S. 270, Brief 56.) Wir sagen ja nicht: Es kann keinen Gott geben. Die Erkenntnis der Beschränktheit unseres Wis- sens gestattet uns dies nicht, und ein solches Wort macht immer auf uns den Eindruck der Roheit. Wir sagen nur: Wir finden Gott nir- gends, die ewige Vorsehung erscheint uns als ein schöner Wahn, und unser gesamtes Wissen spricht gegen die Unsterblichkeit. Es kann ja sein, daß die Gläubigen höher stehen: wir können auf ihren Standpunkt uns nicht emporschwingen, und wie Einer, der auf eine fremde Insel ver- schlagen, anstatt zu verzweifeln, ringsum nach Nahrung sucht, fragen wir einfach: Gibt es in Wahrheit auf Erden nicht so hohe Ziele, dab daran der Mensch sich erheben könnte über das Elend des Lebens? 406 B. Carneri, Die Entwickelung der Sittlichkeitsidee. Gibt es dazu nur den Weg einer eingebildeten andern Welt? Ist des Menschen Herz wirklich so kleinlich, ist des Menschen Geist wirklich so schwach, daß es für uns keine Sittlichkeit gibt ohne Aussicht auf einen Lohn, den wir nicht in uns finden? Humsoupr glaubte eben, und mußte zudem die Sprache seiner Freundin sprechen, damit sie ihn verstehe; hätte er nicht geglaubt, so hätte er sich hienieden gewiß nicht weniger zurecht gefunden. Aus diesen paar Andeutungen ist es klar ersichtlich, wie ver- schieden die Stellung des Menschen zum Weltall aufgefaßt werden kann und welche Wichtigkeit in bezug auf die Ethik dieser Auffassung zu- kommt. Immer handelt sich’s vor allem um den Weg, auf welchem der Mensch zu einem ethisch erhobenen wird, und dieser Weg ist ge- geben mit den Fähigkeiten und Vermögen, welche dem Menschen zuge- schrieben werden. Leider genügt das Zuschreiben nicht jedem. Unsere gütigen Leser wissen, wie wir darüber denken und daß wir nicht in der angenehmen Lage sind, nach dem Beispiel Kanr's ein oberstes Gebot aufzustellen, das für alle Menschen gleich bindend ist. In neuester Zeit wird es immer mehr Mode, der Ethik die Möglichkeit abzusprechen, zu einer Wissenschaft sich zu erheben. Es ist dies ganz richtig für alle, welche die Ethik zur bloßen Moral erniedrigen und nach einem Gebot suchen, das allgemeingültig ist für Menschen, die es nicht gibt. Das (Gebot würden wir rasch fertig bringen und brauchten nur Kaxr’s Worte in Gemäßheit unseres Grundgedankens, wie folgt, zu modifizieren: Handle immer so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer Beglückung der größtmöglichen Anzahl Men- schen gelten könnte. Allein es würde dies nie ein kategorischer Imperativ für den Menschen überhaupt sein. Der Glückseligkeits- trieb ist allen eigen, und weil er allen eigen ist, hat mit der Ver- edelung des Menschen auch er sich veredelt; aber nicht in allen ist er veredelt, und nur mit dem veredelten rechnet unsere Ethik. Eben darum können wir mit keinem der »praktischen materiellen Bestimmungs- gründe« unser Auslangen finden, welche Kanr (Kritik der praktischen Vernunft, 1795, S. 69) in einer eigenen Tafel, auf Grund der hervor- ragendsten Systeme, als subjektiv äußere und innere und als objektiv äußere und innere zusammengestellt hat. Wenn danach im Prinzip der Sittlichkeit Bestimmungsgründe der Erziehung von MontAIGnNE, der bürger- lichen Verfassung von MAnDEVILLE, des physischen Gefühls von Erıkur, des moralischen Gefühls von Hurcneson, der Vollkommenheit von den Stoi- kern und Worr aufgestellt worden sind; so nehmen wir für eine Ent- wickelung und tüchtige Verwirklichung der Sittlichkeitsidee diese Bestimmungsgründe allesamt in Anspruch. Der Staat ist uns die erste Bedingung zur Ermöglichung sittlicher Zustände; das zweite ist die Erziehung, als die Anbahnung der Veredelung der physischen wie der moralischen Gefühle; endlich bei fortschreitender Vervollkommnung und Ausprägung ethischer Grundsätze wird die Vollkommenheit selbst, als das Ideal, zum mächtigsten Bestimmungsgrund sich erheben. Über die Bedeutung des Staates haben wir in ethischer Beziehung wiederholt uns ausgesprochen und wollen hier nur das im Beginn dieser B. Carneri, Die Entwickelung der Sittlichkeitsidee. 407 Abhandlung Angedeutete ergänzen. MAnpEvILLE spricht auch nicht vom Staat im allgemeinen, sondern von der bürgerlichen Verfassung, und ihm schwebt dabei nicht bloß die Ermöglichung sittlicher Zustände vor: worauf er sein Augenmerk gerichtet hat, ist ein praktischer Be- stimmungsgrund für den einzelnen. Soll aber der Staat diesen Zweck erfüllen, dann genügt es nicht, daß er durch die Handhabung seiner Gesetze das Recht schütze, das Rechtlose hintanhalte, das Unrecht bestrafe und durch eine makellose Gerechtigkeit seinen Bürgern die zu einer friedlichen Rechtspflege unerläßliche Achtung vor dem Gesetz einflöße: seine Bürger haben sich als Bürger, als freie Bürger, zu fühlen, sie haben für ihr Staatswesen sich begeistern zu können. Dazu ist es unerläßlich, daß sie teilnehmen an den Staatsgeschäften, an der Gesetzgebung und Verwaltung wie an der Rechtsprechung. Und es ge- nügt nicht, daß dies nur dem Wortlaut nach geschehe: es sind dies im modernen Staate Forderungen des mündig gewordenen Volkes, dessen Würde tödlich verletzt wird, wenn sie nicht zur vollen Wahrheit werden. Es mag dadurch das Regieren oft recht unbequem werden, ja die soge- nannte Staatsmaschine in einen ungleichen Gang geraten, was viel ernster ist, weil darunter auch die Regierten leiden. Da braucht’s eben Geduld und Ausdauer, und höchstens eine Verbesserung der betreffenden Gesetze und Einrichtungen. Unsere geringen Fortschritte in der ethischen Her- anbildung des Menschen sind großenteils die Folgen des ebenso ent- würdigenden als bequemen Absolutismus, der nicht viel länger zu währen gebraucht hätte, auf dab wir politisch verfaulen, bevor wir zur Reife gelangen. Wie weit wir noch zurück sind, sehen wir am Wiederauf- tauchen mittelalterlicher Erscheinungen, und die uns zurückgehalten ha- ben, wollen die Schuld an allen erdenklichen Ausschreitungen und staat- lichen Mißerfolgen auf die Wissenschaft und die Verbreitung ihrer neuen Lehren wälzen? Als ob die erst verbreitet zu werden brauchten! Nie- mand hat Macht, ihre Entstehung zu hindern, und sind sie einmal da, so schwirren sie rings umher in der Luft und sind jedermanns Eigen- tum. Die alte Moral kommt allerdings dagegen nicht auf, weil sie einem Menschen auf den Leib geschnitten ist, der nicht existiert. Es hilft auch nichts, eine neue Moral zu schmieden. Die allgemeinen politisch- sozialen Zustände haben dem modernen Menschen angepaßt zu werden, damit die Grundlage da sei zu seiner Heranbildung und er an dieser ein Interesse habe. Der den Schäden unserer Zeit mit einer verkappten Rückkehr zum Absolutismus abhelfen zu können meint, will einen Kopf- leidenden heilen, indem er ihn enthauptet und ihm einen fremden Kopf aufsetzt. Die Erziehung darf auch nicht, soll sie anders ihren Zweck er- reichen, auf die leeren Worte schöner Lehren sich beschränken. Wie in der Familie das lebendige Beispiel allein bis ins Gemüt dringt, so kann eine sittliche Erziehung nur dann tüchtige Bürger heranbilden, wenn ein reichentwickeltes öffentliches Leben politische Charaktere erzeugt, zu welchen der Jüngling bewundernd emporblickt. Wie in der Natur alles zusammenhängt, so hat auch in der Kultur alles zusammenzuwirken, sollen wir in unsern Erwartungen nicht getäuscht werden. Wäre bei 408 B. Cameri, Die Entwickelung der Sittlichkeitsidee, den Stoikern nicht die gesamte Sinnesthätigkeit entsprechend ihren Anschauungen veredelt gewesen, ihre philosophischen Maximen würden den jämmerlichsten Schiffbruch erlitten haben. Die Erziehung hat über die Sinne sich zu erstrecken und schon bei der zartesten Jugend darauf bedacht zu sein, an Schönheit und Mäßigkeit Gefallen zu erwecken. Keiner war so wenig der Gefahr ausgesetzt, in einem sinnlosen Taumel unterzugehen, als der echte Epikuräer, weil er nur insoweit den Sinnengenuß zu schätzen wußte, als er dabei die volle Klarheit des Den- kens sich bewahrte und das Gefühl steigender Veredelung. Was vom Standpunkt der Willensfreiheit aus, als physischer Sinn, dem moralischen Sinn entgegengesetzt wird, ist für den Determinismus nur die andere Seite derselben Thätigkeit. Nicht nur nicht angeboren ist der moralische Sinn: selbst wo er durch Bildung herangezogen und vererbt wird, ist er machtlos, sobald nicht der physische Sinn ein ihm entsprechender ist. Vor dem Erscheinen Darwın’s konnte, ja mußte man nahebei den Menschen als etwas im vollsten Sinn des Wortes wesentlich vom Tier Unterschiedenes festhalten; daß man ihn dadurch nicht zu etwas anderem gemacht hat, beweist die Fruchtlosigkeit aller kategorischen Imperative, die allein an seinem Geiste ihre Hebel an- setzten. Seit durch die »Entstehung der Arten« der Schleier ge- lüftet ist, der selbst einen Kann über die mögliche Herkunft des Menschen im Dunkeln ließ, ist das Noumen zu einem bedeutungslosen Wort herab- gesunken: im Menschen ist nichts, was nicht schon in seinen Vorfahren war. Die Elemente sind dieselben; nur deren Funktionen sind höhere. Nicht als hätte Kant nicht einmal es geahnt; er hat es ausgesprochen: daß nicht eine Seele im Menschen, als besondere Substanz, daß viel- mehr der Mensch denkt; — allein er konnte diese Anschauungsweise nicht mit Entschiedenheit zu seinem Standpunkt machen, wie es heute unabweisbar geworden ist für den überzeugungstreuen Anhänger Darwın’s. Die Einheitlichkeit der Natur, welche allein zu einer wider- spruchslosen Weltanschauung führt, ist heute eine wissenschaftlich so festgestellte Hypothese, dab man mit der ganzen Sicherheit, welche die Wissenschaft überhaupt zu gewähren vermag, eine Lehre darauf gründen kann. Wir sagen ausdrücklich Hypothese und fügen zur größeren Vorsicht noch bei, daß, obgleich für die Menschen unumstößlich, die wissenschaftliche Gewißheit doch nur für uns Menschen eine volle ist; wir kennen die Unbarmherzigkeit, mit welcher der moderne Hyper- kritizismus immer bereit ist, alles als Dogmatismus zu verketzern, was mehr denn bloße Wahrscheinlichkeit auszusprechen wagt. Darum sind wir doch von der Einheitlichkeit der Natur so fest überzeugt wie von unserem Dasein. Und darin gipfelt unser Darwinismus. Auch in den Erscheinungen, die wir als psychische und geistige bezeichnen, spielen die Gesetze der Vererbung, Auslese und Anpassung eine wichtige Rolle; aber es ist uns nie beigefallen, durch eine rohe Anwendung des auf niederen Entwickelungsstufen vollkräftig sich bewährenden Prinzips des »Kampfes ums Dasein« die auf den höchsten Stufen der Ent- wickelung zum Durchbruch kommenden ethischen Erscheinungen klar legen zu wollen. Es wäre dies die verläßlichste Weise, den Darwi- B. Carneri, Die Entwickelung der Sittlichkeitsidee. 409 nismus ad absurdum zu führen. Was wir in unserer Ethik bis zu den letzten Konsequenzen festhalten und was die unerschütterliche Achse bildet, um welche unsere Sittlichkeitsidee sich dreht, ist die Ein- heitlichkeit des Menschen: für uns fühlt, denkt und handelt immer der ganze Mensch, und zwar nicht aus Zweckmäßigkeits- absichten erschaffen, sondern im »Kampf ums Dasein« entstanden. Diese Auffassung des Menschen stimmt allein überein mit seiner Stellung in der Reihe der Organismen. Konsequenterweise können wir uns das Bewußtsein nur erklären als das Resultat einer bestimmten Organisation, und dem entsprechend die Sittlichkeitsidee als dem Menschen zum Bewußtsein gekommen in der Organisation, die wir Staat nennen. Wir brauchen hier nicht zu wiederholen, was wir bereits an andern Orten darüber und über den Glückseligkeitstrieb gesagt haben, zu welchem im Menschen der Selbsterhaltungstrieb sich erhebt und welcher, auf dem friedlichen Felde der Arbeit den »Kampf ums Dasein« läuternd zu einem »Kampf ums Glück«, den Weg zur Tugend bildet. Daß wir den Menschen nicht als von Haus aus zum Guten ge- neigt annehmen und erst in der staatlichen Verbindung seinen natür- lichen Egoismus sich fortentwickeln lassen zum Altruismus, schließt selbstverständlich den Gedanken aus, im Glückseligkeitstrieb, den wir hier meinen, einen Naturtrieb zu erblicken. Als bloßer Naturtrieb ist er gemeinschädlich; in dieser Form bekämpft ihn Kant, und mit Recht. Wie sehr auch die Kultur diesen Trieb veredelt haben mag, nichts kann ihn hindern, immer wieder zurückzusinken in die ursprüng- liche Roheit. Daß er aber nie in überwiegender Weise diesem Rückfall sich überlassen hat, beweist bis zur Evidenz die Zivilisation, zu welcher alsdann der Mensch nie gelangt wäre, und die Zähigkeit, mit welcher die Menschheit, allen Überschreitungen der Staatenlenker zum Trotz, am Staate festgehalten hat, als an dem Hort ihres Gedeihens. Alle Macht der Staatenlenker würde zerstieben wie Spreu im Sturmwind, wenn eines schönen Tages der Mensch des Staates überdrüssig werden solltee Wir haben in der Abhandlung »Staat und Sittlichkeit« auf eine Bewegung hingewiesen, die unseres Erachtens gegen den Bestand des Staates gerichtet ist, ohne sich dessen, was sie anstrebt, vollkommen klar zu sein. Darin liegt die doppelte Gefahr, und für den Leichtsinn und die Gewissenlosigkeit jener, die zum Absolutismus zurückkehren wollen, gibt es gar keinen Ausdruck. Die Moral führen sie immer im Munde, und während sie von längst abgenützten Mitteln ihre Klärung und Festigung erwarten, arbeiten sie mit an der Unterwühlung der Grundlage aller Sittlichkeit. Die Menschheit wird freilich nie sich verloren geben und immer wieder sich helfen, wie sie immer sich ge- holfen hat. Um sie bangt uns nicht. Allein gesellschaftliche Stürme gibt es, die vermieden werden können; und bezeichnend ist es für die Moral, daß sie gleich zur Hand ist, wenn es gilt, den Menschen ver- loren zu geben. Noch besteht der Staat in voller Kraft, und wir sehen hin und wieder glückliche Anläufe, ihn zu vervollkommnen in echt ethischem Sinn. Für den Unterricht geschieht immer mehr, und kommt einmal 410 B. Carneri, Die Entwickelung der Sittlichkeitsidee. die Erkenntnis zur Geltung, daß nicht allein in der Aneignung von Kenntnissen, Fertigkeiten und Umgangsformen die Bildung liegt und dal jeder, dessen Glückseligkeitstrieb nicht in altruistischer Richt- ung geläutert ist, ein Blindgeborner bleibt im Paradiese der Sittlich- keit; dann wird eine Erziehung Platz greifen, welche die Entwickelung moralisch-physischer Gefühle anstrebt und die Vervoll- kommnung des Menschen wie keine andere ermöglicht. Diese Vor- bedingungen müssen vorhanden sein, damit die Sittlichkeitsidee Wurzel fasse, und die Vorbedingungen müssen sich verbreiten, damit die Sittlichkeitsidee um sich greife und zur Macht werde. Es ge- nügt nicht, daß einzelne zu hochsittlichen Maximen sich bekennen und sie verkünden. Das ist der Standpunkt der positiven Religionen, welche mit Hilfe des Glaubens über Mittel verfügen, die der einfachen Ethik unbekannt sind. Treffend kennzeichnet Kar den Unterschied zwischen den nahezu sich deckenden moralischen Begriffen des Stoikers und des Christen, indem er jene auf Weisheit, diese auf Heilig- keit zurückführt. Durch eine pantheistische Auffassung, welche der Stoa fremd war, kann auch eine monistische Ethik den Begriff der Heiligkeit in sich aufnehmen; es ist rein Gemütssache, die Kausalität mit Gott zu identifizieren: aber unter allen Umständen würde da die Heiligkeit in einem weiteren Sinn genommen als beim Christentum. Bei diesem handelt sich’s nicht um ein Aufgehen in Gott; die persönliche Unsterblichkeit, die wir bei PrAron schon ganz klar ausgesprochen finden, wird maßgebend und legt den Accent auf ein Ideal, das im Weg der Gnade ohne Aufopferung der Person zu erreichen ist und dem, der es auf Erden erreicht, schon hier den Stempel des Überirdischen aufdrückt. Die Heiligkeit liest daher nicht allein in der anbetenden Demut: das Element der christlichen Heiligkeit ist nicht von dieser Welt. In beiden Fällen aber, bei der Weisheit wie bei der Heilig- keit, ist es der Glückseligkeitstrieb, der den Menschen zur Tugend führt, d. h. auf den Weg leitet, auf welchem der Wille des Guten fort und fort sich stärkt und entwickelt. Warum, wenn schon das Christentum sich nicht scheut, die Glückseligkeit als das anregende Ziel zu bezeichnen, sollte der Weise vor diesem Ausdruck zurück- schrecken ? Dort wie hier ist nicht der Reiz des Moments das Ent- scheidende; dort wie hier handelt sich’s nicht um ein Glück auf kosten anderer: in beiden Fällen ist das Anregende der Weg zu einem hohen Ziel; und während das Christentum eine ewige Glückseligkeit in Aussicht stellt, verbürgt uns die Weisheit die einzige dauernde Glück- seligkeit dieses Lebens. Das Christentum und die Stoa stehen unserer Ethik gleich ferne: letztere, weil sie von einem extremen, bis zur Unnatur übergreifenden Tugendbegriff ausging, der das Abirren von der Vollkommenheit nicht einmal als möglich zugab, folglich nur exzentrischen Ausnahmsnaturen zugänglich war; ersteres, weil es alles der Heiligkeit Widersprechende, womöglich noch so Natürliche als sündhaft erklärt, zwar durch die Aussicht auf die Gnade der ewigen Barmherzigkeit überwältigend auf die Massen wirkt — worin seine Wich- tigkeit ‚für die Verbreitung einer moralischen Lebensführung liegt — B. Carneri, Die Entwickelung der Sittlichkeitsidee. 411 aber eben, über die Moral nicht hinausgehend, eine Willensfreiheit voraussetzt, die unvereinbar ist mit dem Kausalgesetz. Und damit befinden wir uns beim wichtigsten Punkte der Ethik, bei der Unterscheidung zwischen Moral und Sittlichkeit, für welche wir eintreten, seit wir mit Philosophie uns beschäftigen, und zwar dem Beispiel Heczv’s, allerdings in modifizierter Weise, folgend. Indem die Moral von jedem Willensfreiheit anspricht, setzt sie sich mit der Natur und dadurch mit sich selbst in einen unlösbaren Widerspruch, den nur die Annahme eines höheren Wesens mildert. Dab der Wille von Natur aus determiniert ist, geht sie nichts an: sie setzt ihn als einen freien, schreibt Pflichten vor, und wer sie nicht erfüllt, ist straffällig. Wir werden es nie bestreiten, daß einer an der Hand der bloßen Moral zu hoher Tugend gelangen könne; wir sagen nur, daß man da, wie für die Bestrafung des einen, so auch für die Belohnung des andern zur An- nahme eines allmächtigen Weltlenkers greifen müsse, vorausgesetzt, daß man mit dessen Freiheit nach dem Beispiel des h. Aususrıv die menschliche Freiheit in Einklang bringen könne. Unvermeidlich hat jede Moral irgendwie bezug auf einen Gott, der sich dann zur Mensch- heit verhält wie der Souverän eines Staates zu seinen Bürgern oder Unterthanen. Der Staat hat das Recht, Gesetze zu geben und ihre Niehtachtung zu bestrafen, weil, solang seine Angehörigen seinen Fort- bestand wollen, seine Selbsterhaltung selbstverständlich ist. Mit dem Determinismus kommt der Staat in keinen Konflikt, insofern er sein Auslangen dabei findet, daß die weit überwiegende Mehrzahl seiner An- gehörigen in den Strafsanktionen ein hinreichendes Motiv zur Einhalt- ung seiner Gesetze findet. Mit dem Hinwegdenken des gebietenden Oberhauptes wird jede Moral hinfällig; und da wir als Ethiker der Natur und nur der Natur gegenüberstehen, so müssen wir mit dem Determinismus rechnen und den landläufigen .moralischen Standpunkt fallen lassen. Es gibt keine kindischere Auffassung der Ethik, als welche da meint, sie habe in besonderen Fällen dem Menschen zu sagen, zu was er sich entscheiden soll. Der ethisch nicht Gebildete hat für Ethik kein Verständnis; der ethisch Gebildete weiß immer, was er zu thun hätte: die Frage ist, ob er sich dazu entscheiden kann? Darum sind wir gezwungen, die Moral in einem weiteren Sinn zu fassen, welchem wir die Bezeichnung Sittlichkeit vorbehalten. Die Sittlichkeit kommt mit der Natur in keinen Widerspruch, sobald sie die Freiheit nur dort sucht, wo sie sie findet, im Willen nämlich, der durch ethische Läuterung der Triebe zum Willen des Guten sich erhoben hat. Diesem Willen ist die Sittlichkeit zur zweiten Natur geworden: sein Pflichtgefühl ist Freude an der Pflicht, höchste Befrie- digung seines Glückseligkeitstriebes. Man kann, wie wir schon bemerkt, diesen Trieb als Sittlichkeits- prinzip nicht energischer perhorreszieren, denn Kanr es gethan hat; aber er hat von einer Seite ihn perhorresziert, die auch wir ethisch nicht zu verwerten wüßten. Der rohe Naturtrieb verhält sich zu dem, den wir meinen, wie zu den wirklichen Menschen ihre Vorfahren sich verhalten: diese, wie tierisch sie auch sein mochten, mußten da sein, 412 B. Carneri, Die Entwickelung der Sittlichkeitsidee. damit jene aus ihnen sich entwickeln konnten. Wir kennen keinen ur- sprünglich vollendeten Menschen, zu dem es eine Rückkehr gäbe; wir kennen aber auch keine Neubildung oder gar Umwandlung der Affekte, wie gewisse Moralisten sie zu kennen vorgeben und mittels ihrer Wil- lensfreiheit ermöglichen wollen: wir kennen nur eine allmähliche Milderung, Bildung, Läuterung der Affekte und haben den im staatlich-sozialen Verkehr sich veredelnden Glückseligkeitstrieb im Auge. Kant sagt übrigens selbst: »Aber diese Unterscheidung des Glückseligkeits- prinzips von dem der Sittlichkeit ist darum nicht sofort Entgegen- setzung beider, und die reine praktische Vernunft will nicht, man solle die Ansprüche auf Glückseligkeit aufgeben, sondern nur, sobald von Pflicht die Rede ist, darauf gar nicht Rücksicht nehmen.< (A.a. O. S. 166.) Nichts freut uns mehr, als wenn wir bei einem unserer großen Denker eine Unterstützung unserer Anschauungen finden, weil wir nie- mals mit dem Gedanken uns getragen haben, ein welterschütternd neues System zu Tage zu fördern, was, wenn man die SCHOPENHAUER, DÜHRING, HARTMANN — selbst FEUERBACH ist nicht ganz davon loszusprechen — zu Rate zieht, eine Vernichtung aller näheren großen Vorgänger zur Vorbedingung zu haben scheint. Auch sind wir der Überzeugung, daß, wenn wir auf richtiger Fährte uns befinden, nur ein relativer Wider- spruch mit den Grundsätzen der großen Denker möglich sei und daß z. B. ein Kant, ein HEszEr, wenn sie Darwın vorgefunden hätten, dem Einfluß seiner Lehre nicht entgangen wären. Daß wir z. B. vor Kawr mit unserem Determinismus leichter Gnade finden würden als vor manchem unserer modernsten Philosophen, beweisen uns seine herrlichen Worte über PrisstLey, dem er vorwirft, die Reue für »ungereimt« erklärt zu haben, jedoch beifügt, daß Prissvuey »als ein echter, kon- sequent verfahrender Fatalist in Ansehung dieser Offenherzigkeit mehr Beifall verdient, als diejenigen, welche, indem sie den Mechanismus des Willens in der That, die Freiheit desselben aber mit Worten behaupten, noch immer dafür gehalten sein wollen, daß sie jene, ohne doch die Möglichkeit einer solchen Zurechnung begreiflich zu machen, in ihrem synkretistischen System mit einschließen.« (A. a. O. S. 176.) Um es noch klarer darzulegen, wie wir die Sittlichkeitsidee als die höchste Blüte menschlicher Entwickelung auffassen, müssen wir uns auch darüber aussprechen, was wir unter Idee überhaupt verstehen. Es läbt sich dies mit wenig Worten thun, aus welchen zugleich sich ergeben wird, von welcher hohen Wichtigkeit für die Ethik der Art- begriff ist, zu welchem Darwın — die Gottesthat als Naturthat auf- deckend — den Gattungsbegriff Praron’s umgestaltet hat. Die Idee ist, als konkreter Begriff, dem abstrakten Begriff entgegengesetzt. Wir nennen sie konkret, weil jede Idee einen ganzen Kreis lebenswarmer Empfindungskomplexe, nämlich thatsächlicher Erscheinungen aus dem geistigen und Gemütsleben unter sich begreift. Sie ist eben ein Art- begriff und sonach für sie die Allgemeinheit das Charakteristische. Was über die Einzelheit nicht hinausreicht oder hinausdrängt, alles sozusagen Egoistische, ist aus dem Bereich der Idee ausgeschlossen. Die den Ideen entsprechenden Affekte werden nie als die Seelenthätig- B. Carneri, Die Entwickelung der Sittlichkeitsidee., 413 keit einengend, Unlust erzeugend sich erweisen, sondern eine fördernde Erweiterung der Seelenthätigkeit bewirken. Die Ideen sind das Element der schönen Künste, daher, bei gänzlichem Mangel an Kunstsinn, keiner zur Erkenntnis dessen kommt, was die Idee zur Idee macht. Durch ihre künstlerische Darstellbarkeit unterscheiden sich die Ideen am markantesten von den abstrakten Begriffen, und es ist tief in der Natur der Sache begründet, die Ästhetik als einen integrie- renden Teil der Ethik zu behandeln. Mit dem Sinn für Ideen steht und fällt alles Streben nach dem Idealen. Die bloße Moral sieht ab von allem Schönheitssinn; während ohne diesen die Sittlichkeit undenkbar ist, weil deren Ideal nicht allein der moralische, sondern der überhaupt vollendete Mensch ist. Die Vollendung selbst können wir nur als unendlich denken, und der Begriff des Unendlichen lieet in jeder Idee, insofern sie als Artbegriff unzählbare Einzelerscheinungen umfaßt und, deren Vergänglichkeit gegenüber, das Dauernde darstellt. In diesem Sinn bilden die Ideen das Reich des Geistes, aber nicht als etwas Transcendentes, sondern als dem sittlichen Menschen immanent und zu höherem Streben ihn beseelend. Sie sind nicht Prinzipien, auf Grund irgend einer Wahrscheinlichkeitsberechnung ausgeklügelt: sie sind mit uns geworden, an der warmen Brust des Lebens hat ihre Klärung sich vollzogen, und, an ihrer Hand fortschreitend, schreiten wir an der Hand der Wahrheit. Treffend sagt WırueLm von HumsorLpr von der Idee: »Alles, was auf eigennützige Absichten und augenblicklichen Genuß hinausgeht, wider- strebt ihr natürlich und kann niemals in sie übergehen. Aber auch viel höhere und edlere Dinge, wie Wohlthätigkeit, Sorge für die, die einem nahe stehen, mehrere andere gleich sehr zu billigende Hand- lungen sind auch nicht dahin zu rechnen, und beschäftigen denjenigen, dessen Leben auf Ideen beruht, nicht anders, als dab er sie thut; sie berühren ihn nicht weiter. Sie können aber auf einer Idee beruhen, und tbun es in idealisch gebildeten Menschen immer. Diese Idee ist dann die des allgemeinen Wohlwollens..... Es können aber auch jene Handlungen aus dem Gefühl der Pflicht entspringen, und die Pflicht, wenn sie bloß aus dem Gefühl der Schuldigkeit fließt, ohne alle und jede Rücksicht auf Befriedigung einer Neigung oder irgend eine selbst göttliche Belohnung, gehört gerade zu den erhabensten Ideen.«e — (A. a. O. II. S. 200 u. 201.) Es ist durchaus nicht nötig, wie es im weiteren Verlauf dieses herrlichen Briefes geschieht, eine andere Welt oder eine geistige Welt im spiritualistischen Sinn vorauszusetzen, um der Idee der Liebe, der Freundschaft, der Treue, des Ge- meinsinns, des Rechts, der Pflicht, der Freiheit, des Schönen, der Kultur, der Humanität, des Wohlwollens einen Platz ein- zuräumen, den das höchste materielle Gut nie einnehmen wird. Diese Ideen und die in ihren Kreis gehörigen halten alle zusammen und alle- samt, als an ihrem Ursprung und ihrer eigenen Verwirklichung, an der Idee der Sittlichkeit. Wie leitende Sterne erscheinen sie uns, um eine gemeinsame Sonne kreisend und einen wundervollen Himmel ausspannend, zu dem wir nie emporblicken, ohne Trost und Stärkung 414 B. Carneri, Die Entwickelung der Sittlichkeitsidee. zu schöpfen. Aber dieser leuchtende Himmel ist Licht von unserem Licht. Bei aller ihrer Unendlichkeit führen die sittlichen Ideen auf Affekte zurück, sind also Blut von unserem Blut, und in Wahrheit tragen wir sie in der eigenen Brust. Was mancher als Drang nach Unsterblichkeit fühlen mag, ist nur die Sehnsucht, sie ganz sein eigen zu nennen. Weit entfernt, auf eine andere Welt hinzuweisen, in der ihre Früchte erst reifen, werfen diese Unsterblichen ihre herrlichsten Früchte uns Sterblichen in den Schoß. Hiermit hoffen wir gezeigt zu haben, was wir unter der Sitt- lichkeitsidee verstehen. Im »Kampf ums Dasein« hat sie dem Menschen sich erschlossen, und unveräubßerlich wird sie sein eigen bleiben, wenn auch zeitweise, wie die Wechselfälle aller Entwickelung es mit sich bringen, ihr Licht sich verdunkelt. Sie ist das Eigentum der Menschheit, nicht des Menschen; und wie die Menschheit sie er- werben mubte, so muß der einzelne sie erwerben, der eine schwerer, der andere leichter, wie eben der eine krank ist und schwach, der andere gesund und stark. Die Moralisten mögen immerhin dem Er- wachsenen zurufen: Thu, was du sollst! — Wir können ihm nur zu- rufen: Thu, was du kannst! — Dafür richten wir unser Augenmerk auf die Kinder, die noch bildsam sind wie Wachs, und auf das, was aus ihnen die Väter und Mütter, die Erzieher und Staatenlenker machen könnten. Das seiner selbst sich bewußte Individuum fühlt sich frei, wenn es seiner Natur gemäß leben kann — um mit Hosses zu reden — ähnlich dem Strom, dessen Wellen unbehindert dem Gesetz der Schwere folgen. Das Gesetz des sittlich erhobenen Menschen ist das Gesetz der sittlich erhobenen Gesellschaft. Wird der einzelne diesem Gesetz gemäß herangezogen, dal es ihm zur zweiten Natur wird, so unterliegt es keinem Zweifel, daß er, seiner Natur gemäß lebend, sich frei fühlen wird als sittlicher Mensch. Und hat er einmal vom Becher dieser Freiheit genossen, aus dem ihm seine Vervollkommnung schäumt, dann wird ihm die Vollkommenheit zum unverrückbaren Lebensziel. Aus sich allein aber ist keiner etwas, und der etwas ist, ist es nur durch das Zusammengreifen vieler. Darum schreiben wir keinem etwas vor, und sagen nur, was zu geschehen hätte. Davon aber sind wir überzeugt, daß, wenn dies geschähe, eine breite Bahn sich erschlösse — von der Glückseligkeit zur Sittlichkeit und von dieser zur Freiheit. Unvertilgbar lebt in jedem der Trieb nach Glück, und wahres Glück findet sich nur in einer sittlichen Welt. Daher wird dem wahrhaft Glücklichen die Tugend zur Natur, und möglichst viel Glück verbreitend, sorgen wir am besten für die Verbreitung der Tugend. Jene, welchen die Beglückung der Menschheit als ein schöner Wahn erscheint, mögen darauf sich beschränken, in ihrem wenn auch noch so engen Kreise das Elend der Welt nach Möglichkeit zu mindern, und es geruhig dem einzelnen überlassen, das eigene Glück zu fördern. Damit allein wäre viel gewonnen. Wildhaus, 28. August 1883. Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. Von Dr. Fr. Johow. 1. Die Mangrove-Sümpfe. (Mit Benutzung der neuesten Arbeiten von WARMING und TREUB.) Unter den für die Tropen typischen Vegetationsformen, d. h. den- jenigen, welche in sämtlichen Ländern zwischen den Wendekreisen ver- treten und gleichzeitig auf dieses Gebiet beinahe ausschließlich beschränkt sind, nimmt die Mangroveform einerseits durch die Sonderbarkeit ihrer habituellen Charaktere (ihrer »Physiognomie«), anderseits durch ihr zahl- reiches, geselliges Vorkommen unter sehr eigenartigen biologischen Be- dingungen einen hervorstechenden Platz ein. Sie ist nicht nur eine phy- siognomisch besonders scharf charakterisierte Vegetationsform, sondern sie bildet auch für sich allein eine eigene, topographische Formation, den Mangrovewald. Obwohl die Anfänge unserer Kenntnisse über den Mangrovewald in die frühesten Zeiten naturwissenschaftlicher Reisen nach den Tropen- ländern zurückreichen und bereits 1763 von Jacquın ! eine ziemlich ge- treue Beschreibung des gewöhnlichen Mangrovebaumes geliefert wurde, so waren doch bis in die neueste Zeit noch recht unrichtige und un- klare Vorstellungen über die morphologischen Verhältnisse der Rhizo- phoren sowohl in weiteren Kreisen als auch unter den Botanikern gäng und gäbe. Erst durch zwei unlängst erschienene Untersuchungen von Warning” und Trug” sind die Ansichten über das sogenannte Lebendig- gebären und andere biologische Eigentümlichkeiten der Mangrovebäume, wie es scheint, endgültig geklärt worden, wobei eine Anzahl sehr inter- essanter Anpassungserscheinungen sich ergeben haben. Die Besprechung derselben zugleich mit der Darstellung einiger eigener, gelegentlich einer tropischen Reise gemachter Wahrnehmungen des Verfassers bildet die Aufgabe der folgenden Zeilen. ! Selectarum stirpium americanarum historia, p. 141 ff. ® Tropische Fragmente, Il. Rhizophora Mangle L., Botan. Jahrbücher für Systematik ete., Bd. IV. p. 519 ff, 1883. ® Annales du jardin botanique de Buitenzorg, vol. III, p. 79 ff., 1882. 416 Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. I. Wir orientieren uns zunächst über die allgemeinsten geographischen Verhältnisse der Mangrovewälder. Ihr Verbreitungsbezirk erstreckt sich, wie bereits angedeutet, über die gesamte tropische Zone beider Hemisphären. Sie umsäumen daselbst alle Meeresküsten, deren ebener Boden aus thon- reichem Schlamm besteht und vor übermäßiger Brandung geschützt ist, er- füllen die brackigen am Strande gelegenen Lagunen und steigen an den Ufern der Flüsse, soweit das Wasser brackige Beschaffenheit besitzt, hinauf. Das hervorstechendste und allgemeinste Merkmal, welches die Man- srovewälder von fast allen anderen topographischen Formationen unter- scheidet und welches alle ihre Eigentümlichkeiten in letzter Instanz bedingt, liegt in der Vereinigung von Wald und Sumpf: DieMangrovebäume sind gesellig wachsende, baumartige Wasserpflanzen. Aus dieser Vegetationsweise erklären sich vom Standpunkte der An- passungstheorie nicht allein alle Eigentümlichkeiten ihres habituellen Auf- baues, sondern auch alle Abweichungen der anatomischen Struktur der Bäume, ferner die Art und Weise ihrer Fortpflanzung und Verbreitung und endlich der Charakter und die Lebensweise der in Abhängigkeit von ihnen lebenden Tierwelt. In der Geselligkeit des Vorkommens stehen die Mangrovebäume unter den tropischen Bäumen ziemlich vereinzelt da. Wenn man absieht von den berühmten Teak-Holzwäldern Indiens, welche ausschließlich von einer Verbenacee, der Tectona grandis, gebildet werden, und den vor- wiegend von der riesigen Dursera gummifera zusammengesetzten Wald- ungen, welche die Berge einiger westindischer Inseln bedecken, so ist der eigentliche tropische Urwald, welchen man in Indien Jungle oder Virgin forest nennt, gerade durch die Mischung der verschiedensten Vegetations- formen, durch die Vereinigung mannigfacher Arten aus zahlreichen Fa- milien des Gewächsreiches ausgezeichnet. _ Dem gegenüber gehören die Bäume, welche den Mangrovewald zusammensetzen, in der Mehrzahl der Individuen gewöhnlich einer einzigen Spezies an, und zwar in der Regel der Rhizophora Mangle L. In einigen Gegenden ist dieser Baum hin- gegen durch eine andere Art aus derselben und einer verwandten Gattung der Rhizophoraceen vertreten, oder aber es tritt an seine Stelle ein Baum aus einer anderen Familie, am häufigsten eine Avicennia-Spezies (Verbenacee). Der an Individuenzahl vorherrschenden Art sind die Ver- treter anderer Spezies je nach der Gegend in wechselnder Menge bei- gemischt. Von größtem Interesse sind die weitgehenden Übereinstimm- ungen, welchen die Rhizophoren und die anderen Mangrovebäume, obwohl systematisch weit von einander entfernten Familien des Gewächsreiches angehörig, durch gemeinsame Anpassung an dieselben Bedingungen nicht allein in manchen Punkten ihrer vegetativen Gestaltung, sondern auch ihrer Embryoentwickelung angenommen haben. /wischen den genannten Bäumen, welche den Hauptbestand des Man- grovewaldes ausmachen, findensich auch Myrsineen (Aegiceras'),inSüdamerika ferner Combretaceen (Zaguncularia? und Conocarpus) und Urticeen (Fieus?), "nach Grisebach, Flora of the British West Indian Islands, p. 60. ? u.” nach Grisebach: Die Vegetation der Erde, II, p. 366. Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. T. 41% endlich auch Malpighiaceen (Brachypteris borealis!), Farne (Chrysodium vulgare?) und Chenopodeen (Acnida cannabina) zerstreut. Ein wesentliches Moment in der Physiognomie der Mangrovewälder liegt in dem Fehlen größerer, holziger Lianen und in der Seltenheit der epiphytischen Gewächse, welche in anderen tropischen Wäldern die nie fehlenden Bewohner der Baumkronen sind. Der Grund, weshalb die Epiphyten gerade auf den Mangrovebäumen nicht zu gedeihen vermögen, dürfte in der Nähe des Meeres und dem Vorhandensein salzhaltiger Niederschläge liegen, welche der Befriedigung des dringendsten Lebensbedürfnisses der Epiphyten, nämlich der Wasserversorgung, erschwerend entgegentreten. Es sei nun zunächst gestattet, den morphologischen Aufbau von Rhizophora Mangle etwas näher zu betrachten. Wir beginnen dabei mit dem am auffälligsten entwickelten Teil des Baumes, nämlich dem Wurzel- system. Während bei sämtlichen auf dem festen Lande wachsenden Bäumen die Grenze von Stamm und Wurzelsystem bekanntlich annähernd mit dem Niveau des Bodens zusammenfällt, erhebt sich Rhizophora Mangle auf einem hohen, oberirdischen Piedestal von Stützwurzeln, welche, an der Basis des frei in der Luft schwebenden Stammes fast rechtwinkelig ent- springend, in einem nach außen konkaven Bogen abwärts wachsend und sich regelmäßig strahlig verzweigend, in den vom Wasser überfluteten Boden eindringen. Es ist ohne weiteres ersichtlich, daß diese Be- festigungsweise des Baumes in dem labilen, schlammigen Substrat die denkbar günstigste und vorteilhafteste sein muß, und wir können nach der Analogie mit anderen im Pflanzenreiche verbreiteten Einrichtungen voraussetzen, dab auch der konstante Winkel, in welchem die Stützwurzein aus dem Stamme oder aus ihren Mutterwurzeln entspringen, den mecha- nischen Erfordernissen am vollkommensten entsprechen wird. Außer diesem Unterbau von Tragwurzeln, auf welchen der gesamte Stamm wie auf einem Gewölbe ruht, besitzt der Baum noch ein reichliches System von senkrecht gestellten Luftwurzeln, welche, von der Unterseite der Äste entspringend und in ihren tieferen Teilen ebenfalls verzweigt, die Krone des Baumes wie mit Tauen in dem Schlamm verankern. Die erwähnte strahlenförmige Verzweigung sowohl der Stütz- als der Luftwurzeln, welche sich an mehreren Stellen zu wiederholen pflegt, scheint, wie bereits Jacquın® in der Mitte des vorigen Jahrhunderts beobachtete und neuerdings Warnins* bestätigt, regelmäßig dadurch veranlaßt zu werden, dab die Spitze der Mutterwurzel durch einen von außen kommenden Eingriff zerstört oder beschädigt wird. Welcher be- sonderen Art dieser Eingriff ist, läßt Warning unerörtert. Bedenken wir jedoch, daß der zwischen den Mangrovewurzeln angehäufte Schlamm und das brackige Wasser der Wohnsitz unzähliger niederer Tiere, wie Würmer, Krebse, Mollusken und Insektenlarven, ist und daß auch die zarten Wurzelspitzen der Landpflanzen beliebte Leckerbissen der Erd- ! u. ? nach eigenen Beobachtungen des Verfassers auf Trinidad. ’ Seleetarum stirpium americanarum historia, 1763, p. 141, tab. 89. #1: ;c.,0p. 921, Kosmos 1884, I, Bd. (VIIT, Jahrgang, Bd. XTV). DU 418 Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. T. würmer und Engerlinge sind, so hat jene regelmäßige Zerstörung wenig rätselhaftes mehr an sich. Da aber die Verzweigung der Wurzeln ohne Zweifel dem Baume von großem Nutzen ist und einen konstanten, sozu- sagen normalen morphologischen Charakter desselben darstellt, so hätten wir hier im Falle der Richtigkeit jener Annahme einen sehr interessanten und eigenartigen Fall von gegenseitiger Anpassung zwischen Tier- und Pflanzenreich vor uns. Die Funktion von Nähr- und Saugorganen kommt nach Warning! ausschließlich den untergetauchten Wurzelteilen zu. Während nämlich die außerhalb des Wassers befindlichen Teile weder dünne Nebenwurzeln noch Wurzelhaare besitzen, bilden die untergetauchten Teile zahlreiche, von den spezifisch mechanischen Luft- und Stützwurzeln anatomisch ab- weichende kleinere Wurzeln, welche wiederum mit dünneren, haarähnlich abstehenden Zweigen besetzt sind und ausschließlich als Nährwurzeln zu fungieren haben. Eine ganz analoge Arbeitsteilung finden wir übrigens, wie aus den neuesten, von A. F. W. Scnımper? in Westindien ange- stellten Untersuchungen hervorgeht, auch bei den Wurzeln zahlreicher Epiphyten (Aroideen, Orchideen u. s. w.), welche teils lediglich die Be- deutung von Haftorganen besitzen und als solche oft frühzeitig absterben können, teils hingegen zur Ernährung und Wasseraufnahme dienen und dementsprechend eine zartere, von jenen abweichende Struktur aufweisen. Durch die Bildung der mächtigen oberirdischen Wurzelgerüste schließen sich die Mangrovebäume einer anderen tropischen Vegetations- form an, welche nach ihrem bekanntesten Vertreter (Ficus indica in Hindostan) die Banyanenform genannt wird. Die sonderbaren, hierher gehörigen Feigenbäume sind z. T. in’ihrer Jugend epiphytische Gewächse, welche auf anderen Bäumen keimen, dieselben mit ihren Luftwurzeln umklammern und erwürgen und sich selbst durch mächtige, senkrechte Wurzelpfeiler, die sie zur Erde senden, stützen. Später breiten sich die horizontalen Zweige des Baumes seitlich in fast unbeschränktem Wachs- tum aus, wobei sie immer neue, rasch erstarkende Luftwurzeln erzeugen, und es werden auf diese Weise ausgedehnte, säulenhallengleiche Haine gebildet, welche oft einem einzigen oder wenigen Individuen ihren Ur- sprung verdanken. Die Mangroveform ist, wie aus dem Gesagten hervor- geht, von der letztgeschilderten Form hauptsächlich durch das Vorhanden- sein eines Hauptstammes und eines denselben tragenden, strahlig ver- zweigten Wurzelgerüstes, sowie durch die Zusammensetzung des Waldes aus zahlreichen Individuen unterschieden, nicht aber durch eine ganz ab- weichende Entstehungsart der Luftwurzeln, wie sie von zahlreichen, äl- teren und neueren Autoren beschrieben wird. Nach den Angaben der letzteren, denen sich auffallender Weise auch GriszracH? anschließt, sollen nämlich die Luftwurzeln der Rhizophoren nicht aus den Zweigen selbst, sondern aus den noch daran befestigten Früchten durch Aus- wachsen der Radicula des Keimlings entspringen und die neuen Indi- 11, c. p. 520. ?2 Über Bau und Lebensweise der Epiphyten Westindiens. Botan. Central- blatt 1884. SEC DZ: Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. I. 419 viduen sich später leicht vom Mutterstamm ablösen. Das gänzlich Un- richtige dieser immer noch weit verbreiteten Auffassungsweise hat WAr- nına! mit Entschiedenheit betont, ein Urteil, dem Verf. nach eigener An- schauung der südamerikanischen Mangrovewälder durchaus beistimmen muß. Was nun ferner den in die Luft erhobenen Stamm des Mangrove- baumes und seine Laubkrone anbetrifft, so interessieren uns zunächst die Dimensionen des Baumes. Nach den Angaben von Warning ?, be- ziehungsweise den ihm von Baron Escers in St. Thomas gemachten Mitteilungen soll die absolute Höhe der Rhizophora Mangle gewöhnlich 4—5 m bei einem Stammdurchmesser von etwa '/s m betragen, nach Jacquın® hingegen soll der Baum gewöhnlich die Höhe von 50 Fuß erreichen. GeıskBacı (l. c. II. p. 21) gibt als Höhe der Bäume über dem Wasserspiegel 10—25 Fuß an. Schon aus diesen sehr diffe- rierenden Angaben geht hervor, daß die Dimensionen einer weitgehenden Schwankung unterworfen sind. In der That kann man in Westindien und Südamerika zwei nach der Größe der Bäume verschiedene Formen von Mangrovewäldern beobachten, nämlich einerseits buschigen Nieder- wald, anderseits starkstämmigen Hochwald*. Der erstere, der z. B. auf der Westküste von Trinidad in typischer Entwickelung anzutreffen ist, scheint vorwiegend in Lagunen und an der eigentlichen Meeresküste vor- zukommen, der letztere dagegen, den man beispielweise am Guarapiche und Cano Colorado in Venezuela zu sehen Gelegenheit hat, den Ufern der Flußmündungen, in deren brackigem und schlammerfülltem Wasser er die vorteilhaftesten Bedingungen des Gedeihens findet, eigentümlich zu sein. Die Krone der Mangrovebäume ist mit glänzendem, immergrünem Laub bedeckt, dessen Physiognomie der in den Tropen so häufigen, nach dem Lorbeer benannten Vegetationsform entspricht. Die gestielten und mit je einem Nebenblättchen versehenen Blätter von Rhizophora stehen in gekreuzten Paaren und haben eiförmige Gestalt. Eine sehr beachtens- werte, aber meines Wissens bisher von keinem Autor erwähnte Eigentüm- lichkeit der Blätter, welche bei dem Zustandekommen des physiognomischen Charakters der Laubkrone eine große Rolle spielt, liegt in der Stellung der Blattspreiten gegen den Horizont. Sämtliche Blätter des Baumes be- finden sich nämlich in einer zum Horizont senkrechten Lage, in welcher sie durch eine alsbald nach dem Austritt aus der Knospenlage stattfindende Aufwärtskrümmung der Blattstiele fixiert werden. Wie ich an anderer Stelle? ausgeführt habe, ist diese Blattlage, welcher wir auch bei anderen tropischen Gewächsen begegnen, wahrscheinlich als eine Anpassung an die hohe Lichtintensität des Standorts oder mit anderen Worten als eine Schutzeinrichtung gegen den für die Regenerierung und die Funktion Bow ww wobei freilich auch die Zusammensetzung aus verschiedenen Baumarten in Betracht kommt. ; ° Uber die Beziehungen einiger Eigenschaften der Laubblätter zu den Stand- ortsverhältnissen. Pringsheim’s Jahrbücher für wissenschaftl. Botanik, Bd. XV. 1884. p. 282, ff. 420 Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. T. En des Chlorophyllfarbstoffes verderblichen Einfluß allzu intensiver Besonnung aufzufassen. Daß die Laubblätter der tropischen Pflanzen eines solchen Schutzes ganz besonders bedürftig sind, folgt aus der relativ großen Menge von Sonnenstrahlen, welche horizontale Flächen zwischen den Wendekreisen treffen. Durch die Profilstellung der Blattspreiten gegen die Richtung der einfallenden Strahlen wird jener schädliche Einfluß am besten wieder ausgeglichen ! Zur Vervollständigung der äuberen Bildes der Mangrovebäume be- darf es noch einer Betrachtung der Reproduktionsorgane, zumal dieselben in mancher Beziehung recht sonderbare Erscheinungen darbieten. Die kleinen weißen Blüten von Rhizophora finden sich zu 2—5 vereinigt in den Achseln der Laubblätter. Sie haben regelmäßige Gestalt, sind nach der Vier- zahl gebaut und enthalten acht sehr abweichend gebaute Staubblätter. Letztere springen nämlich nicht dem gewöhnlichen Verhalten entsprechend mit vier, sondern mit drei Klappen auf, was nach Warning? auf eine statt- gehabte Verschmelzung der beiden mittleren Fächer zurückzuführen ist, und sind ferner in eine grobe Anzahl kugeliger, unregelmäßig angeordneter Pol- lenräume geteilt, welche durch steriles Gewebe von einander getrennt sind. Von ganz besonderem biologischem Interesse ist die Entwickelung des Samens sowie die Keimung der Mangrovebäume, und es sei ge- stattet, diesen Punkten hier eine ausführlichere, auf die Beobachtungen von Treug” und Warnıng* sich stützende Darstellung zu widmen. Zur Orientierung diene folgendes: Der Fruchtknoten von Khizophora Mangle ist anfangs ganz unterständig, die sich entwickelnde Frucht wird hin- gegen durch stärkeres Wachstum des oberen Teiles bald zum größten Teil oberständig. Es sind zwei Fruchtfächer mit je zwei von oben herab- hängenden und mit der Mikropyle nach oben gerichteten Samenanlagen vorhanden, von denen jedoch nur eine zur Entwickelung kommt. Die Samenknospe besitzt ein einziges, starkes Integument und einen kräftig entwickelten Knospenkern, in welchem der Embryosack eingeschlossen liegt. Über die ersten Stadien der Bildung des Eiapparates sowie der Keimentwickelung ist nichts ermittelt. Das Gewebe des Knospenkerns wird frühzeitig aufgelöst und der dadurch entstandene Raum von einem dünnwandigen und klaren Gewebe ausgefüllt, welches, wie aus seiner Struktur mit Sicherheit geschlossen werden kann, ein Albumen oder Sameneiweib darstellt. Im Innern desselben liegt der Embryo einge- schlossen. Im weiteren Verlauf vollzieht sich nun an der Samenknospe folgende merkwürdige Entwickelung. Das Albumen, welches bisher im Inneren als ein hyalines, der Nährstoffe anscheinend gänzlich entbehrendes Gewebe eingeschlossen gelegen hatte, wächst aus der Mikropylen- ! Senkrechte Stellung der Blätter kommt unter den Gewächsen unserer Flora sehr selten, in ausgeprägter "Weise nur bei der sogenannten Kompaßpflanze (Lactuca Scariola) vor. Sie hat daselbst eine ganz ähnliche biologische Bedeutung wie bei vielen tropischen Pflanzen. 16€. ‚P. 5926. Tepe: * 1.6, P.928 HM. Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. 1. 431 öffnung hervor und breitet sich einem Arillus ähnlich auf der Aussenseite der Samenknospe aus, indem es an den Seiten derselben bis zu etwa ?/3 der Oberfläche gleichsam herabfließt. Später wird dieses Gebilde von dem heranwachsenden und ebenfalls aus der Mikropyle heraustretenden Keim durchbrochen. Die physiologische Bedeutung des extraovularen Albumens von Rhizophora ist im Gegensatz zu anderen arillösen Bildungen, welche als Anlockungsmittel für die die Aussaat besorgenden Tiere dienen und welche demgemäß gewöhnlich fleischig und gefärbt sind, offenbar diejenige, daß es dem aus dem Samen hervorgetretenen Embryo als Saugorgan Nahrung von der Mutterpflanze zuführt. Der Keim von Zhizophora besteht in jüngeren Stadien seiner Hauptmasse nach aus dem Keimblatt; das Würzelchen und der Stamm sind nur ganz unbedeutend entwickelt. Das Keimblatt ist scheinbar nur ein einziges; doch ist die Deutung zulässig, daß dasselbe eine Ver- schmelzung zweier oder mehrerer Kotyledonen darstellt. Der obere Teil des Keimblatts, welcher als Kopf bezeichnet wird und an seiner Ober- fläche mit eigentümlichen, secernierenden beziehungsweise aufsaugenden Zellen besetzt ist, bleibt im Innern des Samens eingeschlossen und muß wie der Arillus als ein Saugorgan betrachtet werden, welches die Nahrung von der Mutterpflanze dem Keimling zuführt. Der untere Teil des Keim- blattes ragt aus dem Samen hervor und umschließt in einer Höhlung die junge Knospe. Rhizophora gehört zu den sogenannten lebendiggebärenden Pflanzen, d. h. ihre Samen keimen nicht erst, nachdem sie sich von der Mutter- pflanze abgelöst haben, sondern während sie noch in Verbindung mit derselben sich befinden; die junge Keimpflanze fällt als ein vom zurückbleibenden Samen isoliertes Gebilde vom Baume ab. Im einzelnen geht nun die Keimung von KRhizophora auf folgende Weise vor sich: Das aus der Mikropyle des Samens hervorragende Wurzelende des Keimlings durchbricht bei seinem weiteren Wachstum die Fruchtwand und kommt außen als ein grünes Spitzchen zum Vorschein. Darauf wächst das anfänglich ganz unbedeutende hypokotyle Glied zu einem keulenförmigen, die Länge von 1—2 Fuß erreichenden Körper aus, der an seinem unteren Ende als eine kleine Spitze das Würzelchen trägt. Gleichzeitig entwickelt sich die noch in der Frucht verborgene Plumula zu einer aus zusammengerollten Laubblättern mit ihren Nebenblättern gebildeten Knospe, welche im Augenblicke der Ablösung der Keimpflanze zum Vorschein kommt. Wenn die Keimpflanze zu Boden fällt, wobei das Keimblatt als nunmehr überflüssig zurückbleibt, bohrt sie sich mit dem unteren, wegen seiner keulenförmigen Gestalt schwereren und deshalb stets abwärts gekehrten Ende in den Schlamm ein, befestigt sich bald durch zahlreiche Nebenwurzeln und entfaltet ihre Laubknospe. Aus dem- sich entwickelnden Stengel sprossen frühzeitig die Stützwurzeln hervor, denen der spätere Baum seine charakteristische Physiognomie verdankt. Diese so sonderbare Art des Lebendiggebärens von Rhizophora steht natürlich in innigster Beziehung zu den biologischen Eigentümlich- 422 Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela, I. keiten des Baumes und ist unzweifelhaft als eine Anpassung an die Standortsverhältnisse aufzufassen. Denn es läßt sich in der That kaum ein zweckmäßigerer Aussäungsmodus für einen in überflutetem Schlamm vegetierenden Baum denken als vermittelst solcher sich einbohrender »Stecklingssamen«. Selbstverständlich wird in vielen Fällen wegen besonderer ob- waltender Verhältnisse die Einbohrung der Keimpflanzen mißlingen. Bei bedeutenderer Wasserhöhe (z. B. zur Flutzeit) werden die letzteren trotz der erheblichen Wucht, mit welcher sie nach Jacaum ' vom Baume herabstürzen und zuweilen tief unter Wasser stecken bleiben, nicht immer Fuß zu fassen vermögen. In diesem Falle nun werden die Keim- pflanzen, da sie spezifisch leichter als Wasser sind, von den Strömungen und Wellen leicht herumgeführt und an andere Standorte transportiert werden können, wo sie dann, falls die Bedingungen ihnen günstig sind, sich bewurzeln können. Diesem Wassertransport der Keimpflanzen dürften denn überhaupt die Rhizophoren ihre weite Verbreitung an allen tro- pischen Küsten zu verdanken haben. 5 Es wurde schon oben erwähnt, daß auch die Mangrove-bildende Avicennia nach den Untersuchungen von Treug eine lebendiggebärende Pflanze ist, wie es überhaupt eine sehr beachtenswerte Erscheinung sein dürfte, daß die verschiedenen systematisch weit von einander entfernten Mangrove-Bäume sich in ganz ähnlicher Weise an die biologischen Be- dingungen angepaßt haben. Auch bei Avicennia tritt das Sameneiweiß aus dem Innern des Samens hervor; es bleibt hier jedoch kein inneres Endosperm zurück und der Embryo wird ebenfalls vollständig mit heraus- geführt. Zuletzt ragt der letztere sogar mit den Kotyledonen aus dem Eiweiß hervor und nur die Radicula bleibt im Endosperm eingeschlossen. Die reife Frucht ist mit zwei großen, grünen Keimblättern ausgefüllt, welche auf einem schon ziemlich entwickelten Stengel sitzen. Die so ausgerüstete Keimpflanze fällt nun samt der Frucht vom Baume ab und wurzelt sich aufs leichteste im Schlamme ein. Auch in der Bildung eines Saugorganes, welches dem Embryo Nahrung von der Mutterpflanze zuzuführen bestimmt ist, weisen die beiden Pflanzen eine interessante Analogie auf. Ist es aber bei Rhizophora das extraovulare Endosperm und später ein besonders differenzierter Teil des Keimblattes, welches mit jener Funktion betraut ist, so sehen wir bei Avicennia eine einzige, frühzeitig sich differenzierende Zelle des Endosperms zu einem höchst merkwürdigen Saugorgan sich umbilden. Diese Zelle wächst nämlich, ohne daß ihr Lumen jemals eine Teilung erfährt, zu einem protoplasmareichen, vielkernigen und mannigfach ver- zweigten, dickwandigen Schlauch aus, dessen Äste teilweise mit dem übrigen Endosperm aus der Mikropyle hervortreten und die Kontinuität mit dem zu ernährenden Embryo herstellen, teils indessen pilzfäden- ähnlich die gesamte Samenknospe durchwuchern und in das Gewebe der Placenta eindringen, daselbst die von der Mutterpflanze zugeleiteten Nahrungsstoffe aufnehmend. 1]. c. p. 144. Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. 1, 423 Den in der gesamten äußeren Morphologie der Rhizophora so deutlich zu Tage tretenden Anpassungserscheinungen, welche wir im vorstehenden kennen gelernt haben, reihen sich eine Anzahl anatomischer Thatsachen an, welche unser biologisches Interesse nicht minder in An- spruch nehmen. Zunächst haben wir die schon von älteren Autoren bemerkten haarähnlichen Zellen zu erwähnen, welche, in der Pflanzen- anatomie unter der Bezeichnung »Trichoblasten< bekannt, bei Rhizophora fast in allen Teilen des Baumes so massenhaft vorhanden sind, daß z. B. die Bruchflächen einer gebrochenen Wurzel eine samtartige Be- schaffenheit dadurch erhalten und dab man mikroskopisch die Pflanze an irgendwelchem Fragment erkennen kann. Die Trichoblasten sind |—|- förmig verzweigte, oft auch mehrfach verästelte Zellen mit stark ver- holzten Wänden, ihre physiologische Bedeutung ist aller Wahrscheinlich- keit nach eine spezifisch mechanische. Wie alle Sumpf- und Wasser- pflanzen besitzen nämlich auch die Mangrovebäume eine große Menge lufterfüllter Hohlräume im Grundgewebe, über deren Bedeutung im Haus- halt der Pflanzen freilich noch keine für alle Fälle befriedigende Er- klärung vorhanden ist. Soviel dürfte indessen feststehen, daß bei schwimmenden Pflanzen und Pflanzengliedern die Bedeutung der Luft- räume in der durch sie bewirkten Herabsetzung des spezifischen Ge- wichtes zu suchen ist. Für die schwimmenden Keimpflanzen der Rhizo- phora ist diese Erklärung in der That einleuchtend. Von Wichtigkeit muß es nun für die Pflanze sein, ihre Intercellularräume gegen Zusammen- fallen oder Einschrumpfen zu schützen, und da diesem Bedürfnis am besten durch feste, dem Gewebe eingestreute »mechanische« Elemente genügt wird, so hat man den Trichoblasten, welche bei Rhizophora allent- halben in die Lufträume hineinragen, jene Funktion des »Aussteifens« des Gewebes zugeschrieben. Schon oben wurde darauf hingewiesen, dab die Stütz- und Nähr- wurzeln von Rhizophora Mangle einen verschiedenen anatomischen Bau aufweisen. Dieser Unterschied ist in erster Linie dadurch bedingt, daß die Stützwurzeln als Träger des gesamten Baumes eine bedeutende Biegungsfestigkeit besitzen, die im Boden verankerten Nährwurzeln hin- gegen vor allem zugfest gebaut sein müssen. Entsprechend diesen me- chanischen Anforderungen haben die Stützwurzeln eine Struktur ange- nommen, die in auffallendster Weise stammähnlich ist; sie besitzen ein für Wurzeln unerhört großes Mark und eine bedeutende Anzahl von Bast- und Holzsträngen, welche von durchgehenden Parenchymstrahlen zer- klüftet sind. Die Nährwurzeln hingegen sind ganz wie gewöhnliche Wurzeln gebaut, mit denen sie auch in allen ihren Funktionen überein- stimmen. Von anderen anatomischen Merkwürdigkeiten sei nur noch des Baues der Blätter kurz Erwähnung gethan. Entsprechend nämlich der oben geschilderten fixen Lichtlage der Blätter senkrecht zum Horizont, welche eine gleichmäßige Beleuchtung beider Blattflächen zur Folge hat, ist auch die anatomische Differenzierung von Ober- und Unterseite des Blattes, welche bei den Blättern des gewöhnlichen »dorsiventralen« Typus sehr augenfällig hervortritt, bei Rhizophora fast gänzlich unterblieben. 424 Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. I. Ebendasselbe findet sich übrigens auch bei anderen Gewächsen mit senk- recht gestellten Assimilationsorganen. Dies wären die wesentlichsten biologisch interessanten Züge, welche aus der Morphologie der Mangrovebäume bisher bekannt geworden sind. Wir wenden uns nun noch zu einer kurzen Betrachtung der in den Mangrovesümpfen lebenden Tierwelt, welche, wie schon die Eigentüm- lichkeiten der topographischen Verhältnisse und der Vegetation ver- muten lassen, in Charakter und Lebensweise manches Eigenartige dar- bietet. Leider besitzen wir keine von einem Zoologen auf diesen Gegen- stand gerichtete Studie, sondern nur kurze Bemerkungen von Reisenden, die sich über die entsetzliche Menge der Moskitos beklagen oder die wohlschmeckenden Austern und Krebse rühmen, welche die Sümpfe be- herbergen. Jacqauın spricht auch von Scharen großer Wasservögel, die er gesehen, von Reihern, Wasserhühnern und dergleichen. Einige flüchtige Wahrnehmungen war Verf. selbst zu machen in der Lage, als er sich, auf einem von Trinidad aus nach Venezuela unter- nommenen Ausflug begriffen, mehrere Tage lang auf dem von dem üppig- sten Mangrovehochwald umsäumten Rio Guarapiche (einige Meilen nörd- lich vom Orinokodelta) an Bord eines kleinen Segelschiffes aufhielt. Da das Fahrzeug beständig zwischen den beiden Ufern des Stromes zu kreuzen hatte und zur Ebbezeit vor Anker lag, bot sich zu wiederholten Malen Zeit und Gelegenheit dar, mit einem Kanoe in das Dunkel des geheimnisvollen Waldes, der von der Mitte des Stromes aus wie eine mächtige dunkle Mauer erschien und erst von der Nähe gesehen sich in seine Bestandteile auflösen ließ, eine Strecke weit einzudringen und in das reiche Tierleben desselben einen Blick zu thun. Vor allem überraschend war die zahllose Menge von Wasservögeln, die sich im Innern des Waldes schwimmend, watend und fliegend umher- tummelten. Scharen herrlich rosenroter oder schneeweißer Ibisse (von den Kreolen fälschlich Flamingos! genannt) belebten den düsteren Wald mit den leuchtendsten Farben; in dichten Trupps auf den Wurzel- gerüsten oder in dem höheren Gezweig der Bäume sitzend, erhoben sie sich bei der Annäherung des Bootes oder bei der Abfeuerung eines Flinten- schusses in hellen Haufen und flohen, einer roten Wolke vergleichbar, auf das entgegengesetzte Stromufer hinüber. Weiße, graue oder farbige Reiher von verschiedenster Größe (darunter die seltenen kleinen »Nacht- veiher«) saßen auf den in den Fluß vorspringenden Ästen — zuweilen erblickte man einen einzelnen von gewaltiger Größe unbeweglich auf dem Gipfel eines Baumes sitzend. Plumpe braune Pelekane (Pelecanus fuscus) fischten schwimmend im Wasser, sonnten sich — immer in größeren Gruppen — auf einem Baumaste, der sich, von ihrer Last gedrückt, tief herniederbog, oder flogen, durch ihren bizarren Schnabelbau an vor- sündflutliche Tierformen erinnernd, langsam von einem Ruheplatz zum andern. Enten, Taucher, Königsfischer und Eisvögel sah man allent- ! Am Orinoco kommen auch eigentliche Flamingos vor. Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. 1. 425 halben in Menge, ebenso kleine schnepfenähnliche Vögel, die zur Ebbe- zeit auf den vom Wasser entblößten Schlammbänken scharenweise umher- liefen, daselbst allerhand niederes Getier verzehrend. Nächst den Wasservögeln waren — besonders in den Morgen- stunden hörbar und sichtbar — die Papageien in größter Anzahl ver- treten. Wir bemerkten den grünen Papagei (Chrysotis aestivus), ferner Perikos und Perikitos, von denen, wie ein in Maturin wohnender Engländer, der die Vögel Venezuelas auf das gründlichste zu kennen schien, ver- sicherte, mehr als ein halbes Dutzend Spezies ausschließlich den Man- grovewäldern eigentümlich sein soll. Auch Kolibris mit langen Gabel- schwänzen gab es daselbst von einer Art, die in anderen Gebieten von Venezuela nicht wieder zu finden ist. Von den übrigen Wirbeltierklassen scheinen, wenn wir von den Fischen absehen, deren Existenz sich der oberflächlichen Beobachtung entzieht, die Reptilien nächst den Vögeln am zahlreichsten zu sein. Die Individuenzahl der in den Mangroves lebenden Giftschlangen ist, wenn man den Aussagen der Eingebornen trauen kann, eine so erschreckende, daß das Eindringen in den Wald deshalb sehr gefährlich ist, weil jene Tiere zuweilen von den Bäumen in das Boot sich herabfallen lassen. Alligatoren gibt es hingegen in dem brackigen Wasser der Mangrove- sümpfe nicht. Auch die eigentlichen Amphibien scheinen dasselbe zu verschmähen, wenigstens war in den Nächten nichts von Froschstimmen zu vernehmen. Die Säugetiere sind durch wilde Katzen, unter denen der Jaguar sich besonders durch sein nächtliches Geheul bemerkbar macht, sowie durch Herden roter Brüllaffen vertreten. Über die niedere Tierwelt, welche bei genauerem Studium unstreitig große Mannigfaltigkeit und manche interessante Beziehungen zu den Eigentümlichkeiten des umgebenden Mediums aufweisen würde, bin ich nicht in der Lage, genaueres mitzuteilen. Die ungeheure Menge der Moskitos, welche in Verbindung mit den Miasmen des Sumpffiebers und den Giftschlangen ein längeres Verweilen in den Mangrovedistrikten unmöglich machen, ist allbekannt; weniger das Vorkommen zahlreicher wohlschmeckender Austern und Krustentiere, zu denen sich wohl auch andere niedere Tierformen in großer Arten- und Individuenzahl gesellen dürften. Einen überraschenden und fremdartigen Eindruck gewährten des Nachts und während der kurzen Abend- und Morgendämmerung die mannigfaltigen der Tierwelt entstammenden Geräusche, welche ich auf dem Verdeck des im Flusse verankerten Fahrzeuges liegend aus der un- heimlichen Wildnis des Mangrovewaldes von beiden Stromufern herüber- tönen hörte. Sobald abends die Sonne versank, begann zunächst unter den Wasservögeln ein mit heftigem Geschrei und Gekreisch verbundenes Zanken um die Ruheplätze, welches erst nach dem völligen Einbruch der Dunkelheit einer nur hin und wieder durch ein kurzes Flügelschlagen oder einige krächzende Töne unterbrochenen Ruhe wich. Aber bald darauf begann ein anderes, weit sonderbareres Geräusch sich hörbar zu machen: Ein wie aus kleinen Detonationen zusammengesetztes Knistern und Knattern 426 Fr. Johow, Vegetationsbilder aus West-Indien und Venezuela. ]. drang erst undeutlich und abgebrochen, bald aber vernehmlicher und in schnellerem Tempo aus dem Walde hervor, die Vorstellung erweckend, als ob Herden von Affen in den Baumkronen herumkletterten und das Gezweig zerbrächen. Der Steuermann unseres Schiffes, ein eingeborner Halbblutindianer, führte indessen auf Befragen die Ursache des Ge- räusches auf die Austern zurück, welche, bei der gegenwärtig ein- tretenden Ebbe vom Wasser entblößt, plötzlich ihre Schalen zuklappten. Daß dasselbe Geräusch bei Tage nicht hörbar ist, erklärt sich wohl zur Genüge durch die bekanntlich in der Nacht gesteigerte Leitungsfähig- keit der Luft für den Schall. Etwa zur Mitternachtszeit beginnt sodann das Geheul der Raubtiere, besonders des Jaguars, die wohl vor allen den schlafenden Vögeln nachstellen dürften, und einige Stunden vor Sonnenaufgang das langgezogene, melancholische Geheul der Brüllaffen, welches bald aus weiter Ferne undeutlich vernommen wird, bald aus unmittelbarster Nähe das Ohr erschreckt. In den ersten Stunden nach Sonnenaufgang sind es wiederum die Vögel, welche mit ihrem Geschrei die Luft erfüllen, aber nicht, wie bei Einbruch der Nacht, die Wasser- vögel, sondern vielmehr die Papageien, welche um diese Zeit in dichten Schwärmen zu ihren Futterplätzen fliegen. Nur der große blaue Aral zieht schweigend in vereinzelten Paaren durch die Luft; die kleineren geselligen Arten schwatzen und krächzen ohne Unterbrechung und an- scheinend ohne jeden besonderen Grund. Gegen acht Uhr morgens wird es stiller im Walde. Alles scheint von dem Geschäft des Fressens vollständig in Anspruch genommen zu werden. Zur Mittagszeit sonnt man sich auf den Baumästen oder ruht im Schatten des Waldes, und um sechs Uhr abends wird das Konzert durch die Wasservögel von neuem eröffnet. Zu diesem reichen und mannigfaltigen Tierleben, welches tagaus tagein in den Mangrovewäldern sich abspielt, steht das gänzliche Fehlen der Spuren menschlicher Existenz und Thätigkeit in einem sonderbaren Gegensatz. Macht schon die topographische Beschaffenheit dieser Di- strikte das Anlegen von Ansiedelungen daselbst auch für wilde Völker- schaften zur Unmöglichkeit, so werden die Sümpfe auch der tückischen Malaria sowie der Moskitos wegen überall gefürchtet und geflohen und Städte und Dörfer in möglichst weiter Entfernung von denselben ange- legt. Nur einen einzigen Nutzen hat der Mensch bisher von den Man- grovewäldern zu ziehen gewußt. In Westindien benutzt man jetzt die Rinde der Rhizophoren zur Herstellung einer guten Gerberlohe, welche in ihrem Gehalt an Gerbsäure unsere Eichenlohe noch übertreffen soll. Die Schwere oder das Wirksamwerden der potentiellen Energie. Von Baron N. Dellingshausen. (Fortsetzung.) IV. Bedeutung der Masse und der Dichtigkeit der Körper. Im vorigen Abschnitt haben wir das Fallen der Körper ohne Rück- sicht auf ihre Verschiedenheit erklären können, weil die Gesetze, nach welchen die Geschwindigkeit und die lebendige Kraft der fallenden Körper zunehmen, unabhängig von der Qualität und der Größe der- selben sind. Jetzt tritt an uns die Aufgabe heran, den Einfluß, den die Körper selbst auf ihre Schwere ausüben, zu erkennen und zwar nicht allein bei verschiedenem Volumen, sondern für die qualitativ ver- schiedenartigen Körper auch bei gleichem Volumen, eine Aufgabe, deren Lösung für die kinetische Naturlehre aus dem Grunde besonders wichtig ist, weil sie bei der Unterschiedslosigkeit des allgemeinen Substrates keine Hypothesen bereit hat, welche als Erklärung für die Verschiedenheit der Körper gelten können. — Die Verschiedenheit der Schwere äußert sich zunächst beim Heben der Körper; je größer das Volumen derselben ist, um so größer ist auch die Anstrengung, welche dabei gemacht werden muß, aber auch bei gleichem Volumen besteht in dieser Be- ziehung eine Verschiedenheit; es ist z. B. viel schwerer eine eiserne Kanonenkugel aufzuheben, als eine gleich große Holzkugel. Ebenso üben auch die Körper gegen ihre Unterlage einen verschiedenen Druck aus. Um die Größe dieses Druckes zu bestimmen, bedient man sich der Wage. Indem man mit ihrer Hilfe die Schwere eines Körpers mit der Schwere eines anderen, als Einheit angenommenen Körpers ver- gleicht, erhält man für den ersten eine Verhältniszahl, welche man als das Gewicht desselben bezeichnet. Bei gleichartigen Körpern ist das Gewicht dem Volumen proportional; die qualitativ verschiedenartigen Körper unterscheiden sich durch ihr spezifisches Gewicht, d.h. durch die Verschiedenheit ihrer Gewichte bei gleichem Volumen. Das 428 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden Produkt aus dem Gewichte G und der Höhe h ist die Arbeit, welche beim Heben eines Körpers zu leisten ist. Dieselbe Arbeit wird beim Niedersinken des Körpers wieder gewonnen; bei einem frei fallenden Körper verwandelt sie sich in lebendige Kraft. Um die Äquivalenz zwischen der Arbeit und der lebendigen Kraft herzustellen, wird das halbe Quadrat der Geschwindigkeit v, welche ein Körper bei seinem Herabfallen von der Höhe h erreicht, mit einem konstanten Faktor M multipliziert, den man als die Masse des Körpers bezeichnet. Durch Gleichsetzen der beiden Ausdrücke für die lebendige Kraft und die Arbeit eines Körpers erhält man die Beziehung ne in > _ Ersetzt man in dieser Gleichung, den Gesetzen der gleichförmig be- 2 schleunigten Bewegung entsprechend, die Höhe h durch —. wobei g die = Beschleunigung der Schwere bedeutet, so folgt M--. Die Masse einesKörpers ist somit gleich dem Quotienten aus dem Gewichte desselben und der Beschleunigung der Schwere. Durch die letzte Gleichung sind wir stets in der Lage, für die Masse eines Körpers einen numerischen Wert anzugeben. Die Bedeutung der Masse bleibt aber dabei unbestimmt; sie ergibt sich erst aus den Vorstellungen, welche man sich über die Ursache der Schwere bildet. Gegenwärtig wird allgemein angenommen, daß die Körper aus Atomen bestehen und daß an den Atomen fernwirkende Anziehungskräfte haften. Diese Kräfte sollen die Ursache der Schwere sein. Das be- obachtete Gewicht der Körper gilt dabei als Maß für die anziehenden Kräfte; weil diese aber der Größe und Anzahl der Atome proportional yesetzt werden, so dient das Gewicht auch dazu, um die Quantität der Materie in den Körpern zu bestimmen. Bei gleicher Beschleunigung g sind aber die Massen der Körper den Gewichten derselben proportional. Auf diese Weise erhalten die Massen der Körper die ihnen gegenwärtig beigelegte Bedeutung einer relativen Quantität der Materie. Diese Be- deutung besteht aber nur unter der Voraussetzung anziehender Kräfte, weil die Gewichte, durch welche die Massen der Körper bestimmt werden, selbst nur unter derselben Bedingung der Quantität der Materie pro- portional gesetzt werden können. Dem entsprechend werden auch die anziehenden Kräfte den Massen der Körper proportional angenommen. Dabei ist jedoch zu beachten, dab die absolute Quantität der Materie uns in keinem Falle gegeben ist, sondern die Masse eines Körpers wird immer nur aus seinem beobachteten Gewichte bestimmt und erst hinter- drein unter Voraussetzung anziehender Kräfte durch die Masse, als Quantität der Materie aufgefaßt, die verschiedene Schwere der Körper erklärt. Das von der Masse der Körper soeben Gesagte gilt auch von der potentiellen Energie. III. 429 ihrer Dichtigkeit, welche als die relative Quantität der Materie in einer Volumeneinheit betrachtet wird. Ihre Verschiedenheit wird gegenwärtig auf ein mehr oder weniger dichtes Zusammendrängen der Atome zurück- geführt. Die absolute Quantität der Materie ist uns aber in einer Volumeneinheit ebenso wenig als in irgend einem anderen Falle gegeben, sondern die Dichtigkeit der Körper wird aus ihrem spezifischen Gewichte bestimmt und erst hinterdrein unter Voraussetzung anziehender Kräfte durch die Dichtigkeit, als Quantität der Materie aufgefaßt, die ver- schiedene Schwere der Körper bei gleichem Volumen erklärt. Wie allgemein anerkannt diese Lehre auch sein mag, so hat sie doch in der letzten Zeit bedeutende Zweifel hervorgerufen. Die Natur- forscher überzeugen sich von Jahr zu Jahr immer mehr, daß die »An- ziehungskraft« nur ein Ausdruck ist, der dazu dient, die Unkenntnis von der wahren Ursache der Schwere zu verdecken. In den Teilen der Naturlehre, welche bis zur Bewegung, d. h. bis auf den Grund der Erscheinungen hindurchgedrungen sind, z. B. in der Undulationstheorie des Lichtes und in der mechanischen Wärmetheorie, kommt der Ausdruck »Kraft« überhaupt nicht mehr vor. Der Zusammenhang zwischen der Masse und der Dichtigkeit der Körper einerseits und der Quantität der Materie anderseits besteht aber nur unter der ausdrücklichen Voraus- setzung von anziehenden Kräften; mit ihrem Verschwinden hört diese Verbindung auf; zugleich verlieren die Masse und die Dichtigkeit der Körper die ihnen bisher beigelegte Bedeutung; sie entsprechen nicht mehr einer Quantität der Materie, sondern sind nur noch empirische, durch das beobachtete Gewicht bestimmte Koeffizienten, welche den Ein- fluß der Körper selbst auf ihre Schwere angeben und dazu dienen, die Äquivalenz zwischen der lebendigen Kraft und der Arbeit herzustellen. Wenn aber die Masse und die Dichtigkeit der Körper unabhängig von der Quantität der Materie sind, so tritt an die Wissenschaft die Forderung heran, ihre Bedeutung auf neuer Grundlage festzustellen. Für die kinetische Naturlehre insbesondere ist bei der Unterschiedslosigkeit und Unveränderlichkeit des allgemeinen Substrats die Vorstellung einer verschiedenen Quantität der Materie in gleichem Volumen völlig unzu- lässig. Die Dichtigkeit ist nach ihr nur eine Qualität, welche durch die inneren Bewegungen der Körper begründet wird. Die der kinetischen Naturlehre gestellte Aufgabe besteht somit darin, nicht allein die Bedeut- ung der Masse zu erkennen, sondern auch zu erklären, auf welche Weise es möglich ist, daß zwei Körper von gleichem Volumen, wie z. B. eine Kanonenkugel und eine gleich große Holzkugel, bei einem unterschieds- losen Substrate, also in substantieller Beziehung vollkommen gleich, dennoch durch ihre Schwere und durch ihr Verhalten bei der Mitteilung einer Bewegung sich als verschieden erweisen können. — Um diese Auf- gabe zu lösen, müssen wir vor allem den inneren Vorgang bei der Ent- stehung einer Bewegung berücksichtigen. Ein Körper kann nicht in Bewegung versetzt werden, ohne daß ihm eine der beabsichtigten Ge- schwindigkeit entsprechende lebendige Kraft mitgeteilt wird. Dazu ist aber bei äußeren Einwirkungen die Übertragung einer bestimmten Energie oder eine äquivalente Arbeitsleistung erforderlich. Die Körper 430 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden werden daher nicht durch Kräfte, sondern nur durch Arbeit in Bewegung versetzt. Tritt dabei eine Verschiedenheit hervor, so kann diese nur darin bestehen, dab die Körper entweder bei gleichen ihnen mitgeteilten Geschwindigkeiten verschiedene Arbeitsleistungen erfordern oder bei gleichen Arbeitsleistungen verschiedene Geschwindig- keiten annehmen. Bei den Erscheinungen der Schwere äußert sich die Verschiedenheit der Körper: durch die Arbeit, welche sie bei ihrem Herabsinken leisten, durch die lebendige Kraft, welche sie bei ihrem Herabfallen entwickeln, durch den Druck, den sie auf ihre Unterlage ausüben, und endlich durch die Arbeit, welche erforderlich ist, um sie wieder in die Höhe zu heben. Gelingt es uns, die Verschiedenheit dieser Äußerungen der Schwere bei den verschiedenen Körpern trotz der Unter- schiedslosigkeit des allgemeinen Substrates auch bei gleichem Volumen zu erklären, so wird sich durch die Bestimmung des Gewichtes der Körper auch zugleich die Bedeutung ihrer Masse und Dichtigkeit ergeben. Zu diesem Zweck wollen wir zunächst ein Beispiel den äußeren Bewegungserscheinungen entnehmen. Es seien Mı und Ma» die Massen zweier Körper, die sich bereits mit den Geschwindigkeiten cı und c2 im Raume bewegen. Ihre lebendigen Kräfte sind dann: Mı cı? Me c2? a, und 5 Werden gewisse Arbeitsmengen Uı und Us dazu verbraucht, um die Geschwindigkeiten der beiden Körper auf vı und v2 zu erhöhen, so sind die lebendigen Kräfte derselben nach der Mitteilung der neuen Be- wegung Mı vı? Me v2? : unden 2 2 Die bei der Mitteilung einer Bewegung verbrauchte Arbeitsmenge ist aber stets gleich dem Zuwachs der lebendigen Kraft; wir erhalten daher die beiden Gleichungen me Mı KEN 2 und M> (v2? —.c»?) Das — 7 — oder die Proportion U:Uel= Mi’wı® —e12)»Me lv oo) Zerlegen wir die Differenzen der Quadrate in ihre Faktoren, so ist für den einen Körper ı?— a?=(vrı 4.cı) (vı — cı). Es ist aber vı — cı der Zuwachs an Geschwindigkeit, den der Körper Mı durch die Arbeit Uı erhält; bezeichnen wir diesen Zuwachs mit A c1,.sorist vıt—cı=2cı + J4cı ve — a’=(2c-+Leı)ZLeı. und der potentiellen Energie. III. 431 Verfahren wir in derselben Weise mit dem zweiten Körper, so ist ve? — co?—=(2 ca - A ca) JS ca. Diese Werte in die obige Proportion eingesetzt, ergeben Uı:U2 —=Mı (2cı + Jcı) Jcı:M2 (2 ca —+ Sc) 4 ca. Nehmen wir nun an, die Steigerungen der Geschwindigkeiten ./ cı und A ca seien so gering, daß sie neben 2 cı und 2 ca vernachlässigt wer- den können — eine Voraussetzung, welche bei einer gleichförmig be- schleunigten Bewegung stets gemacht werden darf, weil wir keinen Körper in absoluter Ruhe kennen — so verwandelt sich die Proportion in 42 Us = Mıreci 7 61 >Mare37 Area. Setzt man /cı = 4/ ce, so erhält man Ur: U2 —+My 2er MMazeo oder das Verhältnis der Arbeitsmengen, welche zu leisten sind, um ver- schiedenen Körpern gleiche Beschleunigungen zu erteilen. In der Mechanik ist man übereingekommen, das Produkt aus Masse und Geschwindigkeit als die Quantität der Bewegung oder als das Bewegungsmoment der Körper zu bezeichnen. Das Gesetz, welches die obige Gleichung ausdrückt, kann daher mit Worten auf folgende Weise ausgesprochen werden: Die Arbeitsmengen, welche erforder- lich sind, um verschiedenen Körpern gleiche Beschleunig- ungen zu erteilen, verhalten sich zu einander, wie die bereits vorhandenen Bewegungsmomente der Körper. Mit Hilfe der Gleichung Me S 8 sind wir zwar in der Lage, für die Masse M einen numerischen Wert anzugeben, weshalb es auch stets möglich ist, die Arbeitsmenge zu be- rechnen, welche erforderlich ist, um einen Körper in Bewegung zu ver- setzen, die wahre Bedeutung der Masse bleibt aber dabei unbestimmt. Dieselbe Ungewißheit besteht für die qualitativ verschiedenen Körper auch dann noch, wenn sie von gleichem Volumen sind; ihre Massen Mı und M> verhalten sich dann wie ihre Dichtigkeiten Dı und De und wir erhalten die Proportion U1: Us = Dı eı: Da ca». Mit Hilfe der Gleichung D——, 5 in welcher S das spezifische Gewicht der Körper bedeutet, können wir zwar ebenfalls in die mechanischen Gleichungen für die Dichtigkeit einen numerischen Wert einführen, die Physik läßt es aber auf ihrem gegenwärtigen Standpunkte unentschieden, ob man unter »Dichtigkeit« eine Quantität der Materie oder eine Qualität der Körper zu ver- stehen hat. Um diese Zweifel aus unseren Gleichungen auszuschließen, wollen wir beide Körper von gleicher Qualität und somit auch von gleicher 433 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden Dichtigkeit voraussetzen; ihre Massen verhalten sich dann wie ihre Volumina Vı und Va und wir erhalten die Proportion Di2 Wa —NVer: V27c> Diese Gleichung enthält keine Ungewißheit mehr in sich, weil das Ver- hältnis der Arbeitsmengen Uı und U2a nur noch durch quantitative Größen, durch das Volumen und die Geschwindigkeit der beiden Körper bestimmt wird, welche sich auf die Einheiten des Raumes und der Zeit zurückführen lassen. Setzen wir schließlich noch das Volumen der bei- den Körper gleich, so erhalten wir die Proportion Mala —cıia. ca. Aus dieser Gleichung ersehen wir, daß zwei an Qualität und Vo- lumen vollkommen gleiche Körper, wenn sie bereits verschiedene Ge- schwindigkeiten besitzen, sich bei der Mitteilung einer Bewegung ver- schieden verhalten. Sie erfordern, um gleiche Beschleunig- ungenzuerleiden, Arbeitsleistungen, welche ihren bereits vorhandenen Geschwindigkeiten proportional sind. Setzen wir dagegen die Beschleunigungen ./ cı und / ce als ver- schieden voraus, so müssen wir auf die Gleichung Ur: Us=Mi cr 7 61:’Mele21.c3 zurückgehen. Aus dieser Gleichung ergeben sich folgende Gesetze. Sind die Bewegungsmomente Mı cı und Ms» c2 der beiden Körper einander gleich, ein Fall, der stets dann eintritt, wenn zwei gleiche Körper sich mit gleicher Geschwindigkeit bewegen, so folgt die Proportion Yale — 1 e1:24.e8, d. h. bei gleichen Bewegungsmomenten der Körper sind die geleisteten Arbeiten und die erteilten Beschleunigungen mit- einander proportional. Sind dagegen die Arbeitsleistungen Uı und Ua gleich, so folgt A.c12 A ee —M2tc2: Mycı; d. h. die Beschleunigungen,. welche durch gleiche Arbeits- leistungen den Körpern mitgeteilt werden, verhalten sich um- gekehrt, wie die Bewegungsmomente derselben. Für gleiche Körper oder wenn Mı = Ms ist, folgt außerdem AN: ec Dies 69207 d. h. zwei gleiche Körper erhalten durch gleiche Arbeits- leistungen Beschleunigungen, welche ihren bereitsvorhandenen Geschwindigkeiten umgekehrt proportional sind. Aus dem obigen erkennen wir, daß die Verschiedenheit der Ge- schwindigkeit allein schon genügt, um bei sonst vollkommen gleichen Körpern und somit auch bei einem und demselben Körper ein ver- schiedenes Verhalten bei der Mitteilung einer Bewegung zu begründen. Zu demselben Resultate kann man jedoch auf viel einfachere Weise mit Hilfe des Differentials der lebendigen Kraft gelangen. Ist M die Masse eines Körpers und v seine Geschwindigkeit, so ist seine lebendige Kraft Mv? *) _ A der potentiellen Energie. III. 433 Durch Differentiation erhält man dL — —Mv. AR Mv Aus dieser Gleichung ersehen wir, dab das Bewegungsmoment Mv eines Körpers der Differentialguotient seiner lebendigen Kraft nach der Geschwindigkeit ist; als solcher gibt es das Gesetz an, nach welchem die lebendige Kraft eines Körpers sich verändert, wenn seine Geschwindig- keit zu- oder abnimmt. Dem Zuwachs der lebendigen Kraft äquivalent ist aber die bei der Mitteilung einer Bewegung auf den Körper über- tragene Energie, sowie die dabei verbrauchte Arbeit. Wir erkennen daher aus der obigen Gleichung, daß die Arbeit dU=dL bei gleicher Beschleunigung dv der Geschwindigkeit v direkt und daß die Beschleunig- ung dv bei gleicher Arbeitsleistung d U derselben Geschwindigkeit v um- gekehrt proportional ist. Die soeben entwickelten Gesetze sind keine von der kinetischen Naturlehre zu einem bestimmten Zweck gemachten Voraussetzungen, son- dern die unbedingten Konsequenzen allgemein anerkannter mechanischer Grundsätze; es ergibt sich aber aus ihnen eine einfache Erklärung für das verschiedene Verhalten der Körper bei der Mitteilung einer Beweg- ung auch sogar in dem Falle, wenn sie von gleichem Volumen sind. Mögen zwei qualitativ verschiedenartige Körper bei gleichem Volumen wegen der Unterschiedslosigkeit des allgemeinen Substrats in substantieller Beziehung einander vollkommen gleich sein, mögen sie -sich sogar im Raume mit gleicher Geschwindigkeit bewegen, so unterscheiden sie sich doch von einander durch ihre inneren Bewegungen und dieser Umstand genügt, um ihre Verschiedenheit zu begründen. Die aus den äusseren Bewegungen der Körper entnommene Vor- stellung eines Bewegungsmomentes lässt sich nämlich auch auf ihre inneren Bewegungen übertragen. In dem einen wie in dem anderen Falle sind es Bewegungen, welchen bestimmte Energien entsprechen; bei den äusseren Bewegungen — die lebendige Kraft, bei den inneren Beweg- ungen — die Totalenergie. In derselben Weise aber wie zu der leben- digen Kraft eines Körpers ein äußeres Bewegungsmoment gehört, so ent- spricht auch der Totalenergie als ihr Differentialquotient ein inneres Bewegungsmoment. Für die Totalenergie der Körper haben wir bereits im ersten Ab- schnitte den Ausdruck aufgestellt, in welchem Yu? die Summe der Quadrate der Geschwindig- keiten aller Bewegungen darstellt, an welchen die Punkte eines Körpers teilzunehmen haben, V das Volumen des Körpers bedeutet und K ein konstanter und wegen der Unterschiedslosigkeit des allgemeinen Sub- strates für alle Körper gleicher Koeffizient ist, der dazu dient, die Äqui- valenz zwischen der Totalenergie des Körpers und dem Gesamtwerte seines inneren Arbeitsvorrates herzustellen. Durch Differentiation der Kosmos 1884, I. Bd. (VIH. Jahrgang, Bd. XIV). 28 434 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden Totalenergie unter Voraussetzung eines konstanten Volumens erhalten wir einen Ausdruck von der Form den wir als das innere Bewegungsmoment der Körper bezeichnen wollen. Durch diesen Ausdruck ist die Bedeutung des inneren Bewegungs- momentes der Körper aufs genaueste festgestellt. Als ein Produkt aus Volumen, Geschwindigkeit und einem konstanten Faktor bedeutet das innere Bewegungsmoment die thatsächlich in den Körpern enthaltene Quantität der inneren Bewegungen. Als der Differential- quotient der Totalenergie gibt es das Gesetz an, nach welchem die- selbe sich verändert, wenn die Geschwindigkeit der inneren Bewegungen zu- oder abnimmt, und bestimmt dadurch zugleich die auf den Körper zu übertragende Energie oder die Arbeitsleistung, welche erforderlich ist, um gewisse Veränderungen hervorzubringen. Die Verschiedenheit der Körper erklärt sich somit vollständig durch die Verschiedenheit ihrer inneren Bewegungsmomente, und zwar nicht allein bei verschiedenem Volumen, sondern für die qualitativ verschiedenartigen Körper wegen der verschiedenen Geschwindigkeit ihrer inneren Bewegungen auch bei gleichem Volumen. Diese Erklärung läßt sich insofern als eine defini- tive bezeichnen, weil das innere Bewegungsmoment der Körper, als ein Produkt aus Volumen und Geschwindigkeit, durch quantitative Größen allein bestimmt wird, welche sich auf die Einheiten des Raumes und der Zeit zurückführen lassen und daher frei von allen Hypothesen über Atome, Kräfte und Imponderabilien unserer Erkenntnis einen absoluten Anfang gestatten. Dieses gilt für alle Erscheinungen, welche mit einer Veränderung der Totalenergie verbunden sind, nicht allein für die Ver- änderungen der Temperatur, bei welchen die Wärmekapazität der Körper sich als verschieden erweist, sondern auch in bezug auf die Be- wegungserscheinungen, bei welchen die Körper sich durch ihre Träg- heit von einander unterscheiden. Werden verschiedene Körper durch ihre inneren Bewegungen in gleicher Weise im Raume verschoben, so befinden sie sich in bezug auf einander in relativer Ruhe. Es genügt aber, in dem einen oder dem anderen Körper die Form seiner inneren Bewegungen abzuändern, z. B. die Ganghöhe seiner schraubenförmigen Bewegungen zu vergrößern oder zu verkleinern, damit er den anderen Körpern voraneile oder hinter ihnen zurückbleibe und uns dadurch die Erscheinung einer relativen Bewegung zeige. — Um solches zu bewirken, ist bei äußeren Einwirkungen stets die Mitteilung neuer Bewegungen, d. h. die Übertragung einer be- stimmten Menge von Energie oder eine Arbeitsleistung erforderlich, wo- bei zugleich die Totalenergie der Körper einen äquivalenten Zuwachs erhält; dabei erweisen sich die Körper als von einander verschieden; der eine verlangt, um eine bestimmte Geschwindigkeit anzunehmen, eine größere, der andere eine geringere Arbeit; der eine Körper kann durch seine lebendige Kraft bei gleicher Geschwindigkeit eine größere, der der potentiellen Energie, TIL. 435 andere nur eine geringere Arbeit leisten. Diese Verschiedenheiten trotz der Unterschiedslosigkeit des allgemeinen Substrats auch bei gleichem Volumen der Körper zu erklären, ist die uns zunächst bevorstehende Aufgabe. Wird ein relativ ruhender Körper in Bewegung versetzt oder wird die relative Bewegung eines Körpers abgeändert, so verändert sich auch notwendigerweise seine absolute translatorische Bewegung im Raume und mit ihr zugleich, weil sie eine der vielen Komponenten zu den Be- wegungen seiner Punkte ist, die Geschwindigkeit der inneren Bewegungen überhaupt. Mit der Veränderung der inneren Bewegungen verändert sich auch die Totalenergie und zwar für eine bestimmte Zu- oder Abnahme der inneren Geschwindigkeiten im Verhältnis zu ihrem Differentialquotien- ten oder proportional dem inneren Bewegungsmomente des Körpers. Der Veränderung der Totalenergie muß aber stets die auf den Körper übertragene Energie und bei vollkommen elastischen Körpern, wenn die geleistete Arbeit ausschließlich auf die Mitteilung einer relativen Ge- schwindigkeit verbraucht wird, auch die zum Vorschein kommende lebendige Kraft äquivalent sein. Daraus ergibt sich ohne weiteres eine Erklärung für das verschiedene Verhalten der Körper. Weil die Körper nicht in Bewegung versetzt werden können, ohne dab ihre Totalenergie eine Veränderung erleide, weil die Veränderungen der Totalenergie für eine bestimmte Zu- oder Abnahme der inneren Geschwindigkeiten den inneren Bewegungsmomenten proportional sind und weil die auf die Körper über- tragenen Energien den Veränderungen der Totalenergie äquivalent sein müssen, so folgt daraus, daß die Arbeitsleistungen, durch welche ver- schiedenen Körpern gleiche relative Geschwindigkeiten mitgeteilt werden, den Veränderungen der Totalenergie entsprechend sich zu einander ver- halten wie die inneren Bewegungsmomente der Körper. Um das verschiedene Verhalten der Körper bei den äußeren Be- wegungserscheinungen zu erklären, müssen wir wieder einmal auf die elementaren inneren Bewegungen zurückgehen. Nach der kinetischen Naturlehre wird angenommen, dab zwischen allen Teilen des allgemei- nen Substrates, durch Wellen vermittelt, ein beständiger Austausch von Bewegungen stattfindet, deren Energie durch die vollkommene Gegen- seitigkeit aller Wechselwirkungen unveränderlich aufrecht erhalten wird. Dieser Satz gilt nicht allein für das ganze Weltall, sondern auch inner- halb der einzelnen Körper; auch bei ihnen läßt sich nach dem Huyc- HENsS’schen Prinzipe jeder Punkt als der Ausgangspunkt besonderer elementarer Wellen betrachten, die sich nach allen Seiten ausbrei- ten und sich vielfach durchkreuzen. Durch die Reflexion, welche die einen Körper durchströmenden Wellen an seiner Grenzfläche erleiden, schließt er sich gegen alle übrigen Körper ab und .wird selbst zu einem Ganzen. Beim Zusammentreffen der gleichartigen Wellen in entgegen- gesetzter Richtung verwandeln sie sich in stehende Wellen und begründen dadurch dauernd den Zustand der Körper. Bei gleicher oder fast gleicher Fortpflanzungsrichtung interferieren die Wellen mit einander und neutrali- sieren sich dabei gegenseitig. Die auf diese Weise aus den äußeren Erscheinungen verschwindende Energie der inneren Bewegungen haben 436 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden wir als potentielle Energie der Körper bezeichnet; sie kann nur durch Störung der Interferenzen wieder zum Vorschein kommen. Die nach allen Interferenzen frei bleibenden Bewegungen sind die wahren resultieren- den Bewegungen der einzelnen Punkte im Raume; ihre Energie ist die kine- tische Energie der Körper. Je nach dem Koordinatensysteme, welches wir unseren Untersuchungen zu Grunde legen, erweisen sich die Bahnen, auf welchen die Punkte eines Körpers sich bewegen, als von verschie- dener Form. In bezug auf ein mit dem Körper selbst fest verbundenes Koordinatensystem sind sie geschlossene Kurven; wir betrachten dann den Körper als äußerlich in Ruhe befindlich. Nehmen wir dagegen ein im Raume feststehendes Koordinatensystem an, so sind die Bahnen der Punkte, weil wir keinen Körper in absoluter Ruhe kennen, offene Kurven oder schraubenförmige Linien. Die Öffnung der Kurven oder die Gang- höhe der Schraubenlinien ist die Verschiebung, welche ein Körper wäh- rend der Dauer eines inneren Umschwunges seiner Punkte im Raume erleidet. Die schraubenförmigen Bewegungen lassen sich stets in Ro- tationen und in eine translatorische Bewegung zerlegen. Durch die Energie der inneren Rotationen werden die Eigenschaften und die Tem- peratur der Körper bestimmt. — Die translatorische Bewegung der Punkte eines Körpers äußert sich dagegen als seine Ortsveränderung im Raume. Sind die Einwirkungen, welche ein Körper von außen erleidet, den Wirk- ungen gleich, die er nach außen ausübt, so befindet er sich in einem stationären Zustande; seine inneren Bewegungen bleiben dabei unver- ändert; ist er in bezug auf ein gewähltes Koordinatensystem in Ruhe, so bleibt er in Ruhe; ist er in Bewegung, so setzt er seine Bewegung in gerader Richtung und mit gleichförmiger Geschwindigkeit weiter fort. Ruhe und Bewegung sind daher relative Zustände, die nur durch das Hinzukommen neuer Einwirkungen von außen abgeändert werden können. Die Unveränderlichkeit des inneren und äußeren Bewegungszustandes der Körper haben wir als ihr Beharrungsvermögen bezeichnet. Die Energie der translatorischen Bewegung im Raume bildet mit der Energie der Rotationen oder der Wärme und der potentiellen Energie die Total- energie der Körper; sie kann daher nicht abgeändert werden, ohne daß letztere zugleich eine Veränderung erleide. Dasselbe gilt auch für die lebendige Kraft; sie ist das Äquivalent der Arbeit, welche die Körper vermittelst ihrer äußeren Bewegung leisten können, zugleich ist sie äquivalent den Veränderungen, welche die Total- energie sowohl bei der Mitteilung als bei der Aufhebung einer Bewegung erleidet, und ist daher bei gleichen relativen Geschwindigkeiten ebenfalls den inneren Bewegungsmomenten der Körper proportional. Sind die bei der Mitteilung einer Bewegung auf die verschiedenen Körper übertragenen Energien oder die geleisteten Arbeiten einander gleich, so sind es auch die Veränderungen der Totalenergien und bei vollkommen elastischen Körpern die zum Vorschein kommenden lebendigen Kräfte. Gleiche Veränderungen der Totalenergie erfordern aber Verän- derungen der inneren Geschwindigkeiten oder — immer unter Voraus- setzung vollkommen elastischer Körper — Veränderungen der translato- rischen Geschwindigkeit ihrer Punkte im Raume, welche den inneren der potentiellen Energie. III. 437 Bewegungsmomenten der Körper umgekehrt proportional sind, und bringen daher auch relative Geschwindigkeiten hervor, welche in demselben Ver- hältnisse zu einander stehen. Das Bestimmende bei allen Bewegungserscheinungen für das Ver- halten der Körper sind somit die inneren Bewegungsmomente derselben. Verschiedene Körper erfordern, um gleiche relative Geschwin- digkeiten zu erhalten, Arbeitsleistungen, welche ihren inneren Bewegungsmomenten direkt, und nehmen bei gleichen Arbeits- leistungen relative Geschwindigkeiten an, welche denselben inneren Bewegungsmomenten umgekehrt proportional sind. Wenn es somit schwerer ist, eine eiserne Kanonenkugel als eine gleich große Holzkugel in Bewegung zu versetzen, oder wenn beide Körper sich in der Weise von einander unterscheiden, daß eine Kanonenkugel z. B. eine Mauer durchbricht, welche eine Holzkugel bei gleicher Ge- schwindigkeit aufhält, so beruht die Ursache davon einzig und allein auf der Verschiedenheit der inneren Bewegungsmomente, welche, als die Differentialquotienten der Totalenergie, die von den Körpern aufgenom- menen und abgegebenen Arbeitsvorräte bestimmen. Das verschiedene Verhalten der Körper bei den Bewegungserschein- ungen wird als ihre Trägheit bezeichnet, wobei jedoch an keinen ak- tiven Widerstand gedacht werden darf, sondern die verschiedene Träg- heit der Körper beruht ebenso wie ihr Beharrungsvermögen einzig und allein auf dem Umstande, daß eine Zustandsänderung überhaupt nicht ohne Arbeit, d. h. nicht ohne Übertragung von Energie hervorgebracht werden kann. Betrachten wir die Arbeitsleistungen, welche verschiedenen Körpern gleiche Geschwindigkeiten mitteilen, oder die reciproken Werte der Geschwindigkeiten bei gleichen Arbeitsleistungen als Maß für die Trägheit, so kann sie ebenfalls den inneren Bewegungsmomenten pro- portional gesetzt werden. Die Trägheit ist jedoch nur eine Rechnungs- größe, die nicht direkt beobachtet werden kann; deshalb gelten auch die soeben entwickelten Gesetze nur für vollkommen elastische Körper, während die uns bekannten Körper stets mehr oder weniger unvollkom- men elastisch sind. Von der übertragenen Energie wird immer ein Teil in Wärme umgewandelt und nur der Rest äußert sich als lebendige Kraft. Deshalb kann auch nicht die ganze geleistete Arbeit, sondern nur der Teil, welcher thatsächlich auf das Hervorbringen der Bewegung verbraucht wird, als Maß für die Trägheit dienen. Die gewöhnlichen Bewegungserscheinungen eignen sich daher auch nicht dazu, um die inneren Bewegungsmomente der Körper zu ermitteln. Durch die Er- klärung der Trägheit erhalten wir aber bereits eine Vorstellung von dem Einflusse, welchen die Körper selbst auf die Geschwindigkeit ihrer Be- wegungen ausüben. Jetzt sind wir vollständig dazu vorbereitet, die Verschiedenheit der Körper in bezug auf ihre Schwere zu erklären. Wir wissen bereits, daß die freibeweglichen Körper unter dem Einflusse der Gravitations- wellen gewisse Veränderungen erleiden und dadurch in eine gleichförmig beschleunigte, nach dem Mittelpunkte der Erde gerichtete Bewegung ver- setzt werden. Ihre lebendige Kraft erhalten aber die fallenden Körper 438 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden nicht von außen, nicht aus der Energie der Gravitationswellen, sondern sie müssen sie aus sich selbst, aus ihrer eigenen potentiellen Energie schöpfen. Die unter dem Einflusse der Gravitationswellen durch Störung der Interferenzen frei werdende potentielle Energie ist daher der Arbeits- vorrat, welcher bei dem Fallen der Körper als lebendige Kraft zum Vor- schein kommt; als solche ist sie der Arbeit äquivalent, welche bei äußeren Einwirkungen den Körpern eine ihrer Fallgeschwindigkeit gleiche Geschwindigkeit erteilt. Die Arbeitsleistungen, welche verschiedenen Kör- pern gleiche relative Geschwindigkeiten mitteilen, verhalten sich aber zu einander wie die inneren Bewegungsmomente derselben; in demselben Verhältnisse müssen daher bei gleicher Fallgeschwindigkeit auch die unter dem Einflusse der Gravitationswellen in den fallenden Körpern frei- gewordenen potentiellen Energien zu einander stehen. Daraus ergibt sich aber ohne weiteres eine Erklärung für die verschiedenen Äußerungen der Schwere. Da die lebendige Kraft, welche die Körper bei ihrem Herabfallen entwickeln, die Arbeit, welche sie bei ihrem Herabsinken leisten können, und die Arbeit, welche erforderlich ist, um sie wieder in die Höhe zu heben, der unter dem Einflusse der Gravitationswellen in derselben Zeit frei werdenden potentiellen Energie äquivalent sind, so folgt daraus, dab sie ebenso wie diese bei verschiedenen Körpern den inneren Bewegungsmomenten derselben proportional sein müssen, wodurch die Verschiedenheit der Körper in dieser Beziehung vollständig nachgewiesen ist. Wenn somit die Äußerungen der Schwere bei den verschiedenen ponderablen Körpern sich als verschieden erweisen und durch die inneren Bewegungsmomente derselben bestimmt werden, so ergibt sich dagegen aus der Proportionalität der Trägheit oder der Arbeit, welche den Kör- pern eine bestimmte Geschwindigkeit erteilt, und der unter dem Einflusse der Gravitationswellen frei werdenden potentiellen Energie oder der Arbeit, welche die fallenden Körper in Bewegung versetzt, eine gleiche Beschleu- nigung der Schwere für alle Körper, wie solches vielfach beobachtet und durch die genauesten Experimente bestätigt worden ist. Liegen die Körper auf einer festen Unterlage, so kann ihre Ver- schiedenheit sich weder durch die lebendige Kraft noch durch die Arbeits- leistung äußern. — Die unter dem Einflusse der Gravitationswellen frei werdende potentielle Energie bringt dann nur eine Arbeit hervor, die wir als Druck empfinden. Der von verschiedenen Körpern auf ihre Unterlage ausgeübte Druck ist als eine unmittelbare Wirkung der in Freiheit gesetzten potentiellen Energie ebenso wie diese den inneren Bewegungsmomenten proportional. Um die Größe dieses Druckes zu ‘bestimmen, bedient man sich der Wage. Indem man dabei den Druck des einen Körpers mit dem Drucke eines anderen als Einheit angenom- menen Körpers vergleicht, erhält man für den ersten eine Verhältnis- zahl, welche man als das Gewicht des Körpers bezeichnet. Das Ge- wicht verschiedener Körper ist daher stets dem Drucke, den sie auf ihre Unterlage ausüben, und somit auch ihren inneren Bewegungsmomenten proportional. Umgekehrt können wir aus dem beobachteten Gewichte der Körper auf den Wert ihrer inneren Bewegungsmomente schließen. der potentiellen Energie. III. 439 Durch das beobachtete Gewicht ist uns die Möglichkeit geboten, für die Arbeit eines ponderablen Körpers einen numerischen Wert an- zugeben. Die Energie, welche ein langsam sinkender Körper auf das Material der Arbeit überträgt, ist äquivalent der lebendigen Kraft, welche er bei seinem freien Herabfallen von derselben Höhe erreicht hätte, und daher auch seinem inneren Bewegungsmomente und seinem Gewichte pro- portional. Die lebendige Kraft eines fallenden Körpers nimmt aber zu- gleich im direkten Verhältnisse mit der Fallhöhe zu. Die Menge der Energie, welche ein arbeitleistender Körper auf einen anderen Körper überträgt, kann daher dem Produkte aus seinem Gewichte und der Höhe, von welcher er herabsinkt, proportional gesetzt werden. Dieses Produkt ist das, was wir als die Arbeit eines ponderablen Körpers bezeichnen. In Meterkilogrammen oder Fußpfunden ausgedrückt, gibt es uns die Einheit, durch welche alle Äußerungen der Energie gemessen werden können. Wir erkennen zugleich, daß eine Arbeitsleistung nicht die Über- windung eines aktiven Widerstandes oder einer Kraft, sondern nur eine Übertragung von Energie von einem Körper auf einen anderen ist. Aus der Äquivalenz der Arbeit Gh und der lebendigen Kraft De .. —, eines Körpers erhalten wir, wenn h, den Gesetzen der gleichförmig 2 - N > % 5 beschleunigten Bewegung entsprechend, durch ,_- ersetzt wird, für die 30 -_ Masse M die Gleichung aus welcher wir ersehen, daß die Massen der Körper bei gleicher Be- schleunigung ihren Gewichten und somit auch ihren inneren Bewegungs- momenten proportional sind. Daraus ergibt sich ohne weiteres die Be- deutung, welche in der kinetischen Naturlehre dem Ausdrucke »Masse« beizulegen ist. Da die inneren Bewegungsmomente, als Produkte aus einem Volumen, einer Geschwindigkeit und einem konstanten Faktor, die thatsächlich in den Körpern vor sich gehenden Bewegungen darstellen, so geben auch die mit ihnen proportionalen Massen einfach die Quan- tität der Bewegung in den verschiedenen Körpern an und bestimmen zugleich, wegen der Bedeutung der inneren Bewegungsmomente als Dif- ferentialquotienten der Totalenergien, das Verhalten der Körper nicht allein bei den Erscheinungen der Schwere, sondern auch bei allen Bewegungs- erscheinungen überhaupt. Die Massen der Körper sind somit vollkommen unabhängig von der Quantität der Materie; sie sind in der That nur empirische, durch das beobachtete Gewicht bestimmte Koeffizienten, welche dazu dienen, die Äquivalenz zwischen der Arbeitsleistung und der leben- digen Kraft der Körper herzustellen. Die soeben entwickelten Sätze gelten nicht allein für die Körper von verschiedenem Volumen, sondern für die qualitativ verschiedenartigen Körper auch dann noch, wenn sie von gleichem Volumen sind. Obgleich solche Körper wegen der Unter- schiedslosigkeit des allgemeinen Substrats in substantieller Beziehung vollkommen gleich sind, so unterscheiden sie sich doch von einander 440 N. Dellingshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden sowohl durch die Art wie durch die Geschwindigkeit ihrer inneren Be- wegungen. Durch die Verschiedenheit der inneren Bewegungen werden aber auch in gleichem Volumen verschiedene innere Bewegungsmomente begründet und diese bedingen wieder ihrerseits die Verschiedenheit der unter dem Einflusse der Gravitationswellen frei werdenden potentiellen Energie, des Druckes, den die Körper auf ihre Unterlage ausüben, und ihres Gewichtes, welches letztere, auf die Volumeneinheit bezogen, als spezifisches Gewicht bezeichnet wird. Aus dem spezifischen Gewichte der Körper läßt sich dann ihre Dichtigkeit ermitteln, welche wegen ihrer Proportionalität mit den inneren Bewegungsmomenten die Quanti- tät der Bewegung in der Volumeneinheit angibt und somit, vollkommen unabhängig von der Quantität der Materie, nur ein empirisch gegebener Koeffizient ist, welcher das Verhalten der Körper bei gleichem Volumen bestimmt. Um die Verschiedenheit der Körper, z. B. einer Kanonenkugel und einer Holzkugel zu erklären, brauchen wir nur ihre inneren Bewegungs- momente zu ermitteln. Zu diesem Zweck legen wir die Körper auf eine Wage und erkennen dann, daß ungefähr acht Holzkugeln erforderlich sind, um einer gleich großen Kanonenkugel das Gleichgewicht zu halten. Wir schließen daraus, daß das innere Bewegungsmoment oder die Quantität der Bewegung in der Kanonenkugel achtmal größer als in der Holzkugel ist. Daraus folgt aber dann weiter, daß bei der Kanonenkugel die unter dem Einflusse der Gravitationswellen frei werdende potentielle Energie, der Druck, den sie auf ihre Unterlage ausübt, ihr Gewicht, ihre Masse, ihre Trägheit, die lebendige Kraft bei gleicher Geschwindigkeit, die Ar- beit, welche sie bei ihrem Herabsinken leisten kann, die Arbeit, durch welche sie wieder in die Höhe gehoben wird, und wegen des gleichen Volumens das spezifische Gewicht und die Dichtigkeit achtmal größer als bei der Holzkugel sind, wodurch die Verschiedenheit der beiden Körper in bezug auf ihre Schwere vollkommen erklärt und nachge- wiesen ist. E. Du Boıs-Reymonp hat somit Unrecht, wenn er in seinen »Grenzen des Naturerkennens« S. 16 die Behauptung aufstellt, daß die kinetischen Theorien nicht im stande sind, »die verschiedene Dichte der Körper zu erklären«e. In dem vorhergehenden haben wir eine volle Erklärung da- für gegeben, allerdings nicht »durch eine verschiedene Zusammenfügung eines gleichartigen Urstoffes<, wohl aber durch die Verschiedenheit der Bewegungen eines unterschiedslosen Substrates in gleichen Volumen. Nachdem es uns gelungen ist, die Verschiedenheit der spezifischen Gewichte und der Dichtigkeit der Körper auf die Verschiedenheit der inneren Bewegungsmomente zurückzuführen, bleibt uns nur noch übrig, die Veränderungen, welche in dieser Beziehung an den Körpern beobach- tet werden, zu erklären. Die Veränderungen des spezifischen Gewichtes und der Dichtigkeit sind aber stets mit Veränderungen des Volumens der Körper verbunden und muß daher die eine Erscheinung sich auf die andere zurückführen lassen. In der atomistischen Theorie werden die Veränderungen der Dichtigkeit und des spezifischen Gewichtes der Körper durch ein Weiter- und Näherrücken der Atome von und zu einander er- der potentiellen Energie. III. 441 klärt. Derartige Vorstellungen sind aber in der kinetischen Naturlehre völlig unzulässig; nach ihr ist das allgemeine Substrat, welches allen Körpern zu grunde liegt, nicht allein unterschiedslos, sondern auch un- veränderlich; es ist nur der Träger der Bewegungen, durch welche die Eigenschaften der Körper bedingt werden, bleibt bei allen Veränderungen unbeteiligt und kann weder zusammengedrückt noch ausgedehnt werden. Die Volumenzunahme eines Körpers ist daher nur eine Ausbreitung, die Volumenabnahme nur eine Beschränkung der ihn qualifizierenden Beweg- ungen auf einen größeren oder kleineren Raum oder — wenn man will — auf einen größeren oder kleineren Teil des an sich unveränder- lichen allgemeinen Substrats. Wenn aber die inneren Bewegungen eines Körpers sich über einen größeren Raum ausbreiten oder auf einen kleineren Raum beschränkt werden, so nimmt bei einer konstant bleibenden Totalenergie der Wert des inneren Bewegungsmomentes in der Volumeneinheit in einem zu dem ganzen Volumen des Körpers umgekehrten Verhältnisse ab und zu. Mit ihm zugleich verändern sich auch das spezifische Gewicht und die Dich- tigkeit des Körpers. Die inneren Bewegungen erteilen somit bei ver- ändertem Volumen, je nachdem, ob eine Ausdehnung oder Zusammen- drückung eintritt, dem allgemeinen Substrate die Eigenschaften eines spezifisch leichteren oder schwereren Körpers und zwar in der Weise, daß die Produkte aus dem spezifischen Gewichte oder der Dichtigkeit und dem Volumen des Körpers und daher auch sein absolutes Gewicht und seine Masse unveränderlich bleiben. Hier tritt uns jedoch ein leicht erkennbarer Widerspruch entgegen. Wenn die Gewichte der verschie- denen Körper ihren inneren Bewegungsmomenten proportional sein sollen, so liegt die Schlußfolgerung nahe, daß den unveränderlichen Gewich- ten auch unveränderliche innere Bewegungsmomente entsprechen. Diese letzte Annahme ist aber nicht zulässig. Die meisten Erscheinungen, welche wir an den Körpern beobachten, sind stets — sei es durch Zu- fuhr oder durch Ableitung von Wärme — mit Veränderungen der Total- energie verbunden. Die Veränderungen der Totalenergie bedingen aber unvermeidlicherweise in den Körpern Veränderungen der Quantität der Bewegung oder der inneren Bewegungsmomente und diese können daher in keinem Falle wie die Gewichte und die Massen konstant sein. Es frägt sich daher, inwieweit die unveränderlichen Gewichte und Massen den veränderlichen inneren Bewegungsmomenten proportional sein können ? Um diese Frage zu beantworten, lassen sich verschiedene Voraus- setzungen machen. Man könnte z. B. die Behauptung aufstellen, daß das Gewicht eines Körpers nur eine Verhältniszahl ist, welche angibt, wie viel mal das innere Bewegungsmoment desselben größer oder kleiner als das eines anderen als Einheit angenommenen Körpers ist, daß die inneren Bewegungsmomente in verschiedenen Körpern bei gleichen Zu- standsänderungen sich auch in gleicher Weise verändern und daß des- halb ihr Verhältnis oder das relative Gewicht der Körper zu einander unveränderlich bleibt. Man könnte ferner meinen, daß die Veränderung der Totalenergie in einem Körper nicht unbedingt eine Veränderung ihres Differentialquotienten oder des inneren Bewegungsmomentes nach sich r N. Dellinsshausen, Die Schwere oder das Wirksamwerden = fee) I ziehe; man könnte endlich noch sich darauf berufen, daß die Total- energie in jedem einzelnen Körper einen so unermeßlichen Wert besitze, dab alle Veränderungen, welche wir mit unseren beschränkten Mitteln an den inneren Bewegungsmomenten hervorbringen, im Verhältnis zu dem Gesamtwerte derselben verschwindend klein sind und daher als verändertes Gewicht nicht beobachtet werden können. Diese Erklärungsversuche wären jedoch in den meisten Fällen nicht genügend. Es gibt viele Erscheinungen, bei welchen die Gewichtsein- heiten nicht denselben Einwirkungen ausgesetzt sind wie die zu wiegenden Körper. Man könnte z. B. einen Körper das eine Mal in heißem Zu- stande mit kalten Gewichten, das andere Mal in kaltem Zustande mit heißen Gewichten aufwiegen, wobei die Veränderungen der mit einander verglichenen Körper jedenfalls entgegengesetzte wären. Außerdem kennen wir eine Menge von Erscheinungen, bei welchen die Körper, wie z. B. beim Verdampfen der Flüssigkeiten, bedeutende Mengen von Energie in sich aufnehmen oder wie bei der Kondensation der Dämpfe und den chemischen Prozessen ebenso bedeutende Mengen von Energie als Wärme von sich ausstrahlen, ohne daß die Gewichtseinheiten dabei entsprechen- den Zustandsänderungen ausgesetzt wären. Trotzdem ist in keinem dieser Fälle eine Veränderung des Gewichts beobachtet worden, obgleich die inneren Bewegungsmomente der Körper durch die Zufuhr oder Ab- leitung von Wärme nicht ohne Veränderung geblieben sein können, weil sie nicht allein die Differentialguotienten der Totalenergie sind, sondern auch die Quantität der Bewegung in den Körpern angeben. Was nun die Berufung auf die Unermeßlichkeit der Totalenergie anbetrifft, so wäre sie zwar ein sehr bequemes, aber wenig Vertrauen erweckendes Mittel, sich aus der Verlegenheit zu helfen. — Die Unveränderlichkeit des Gewichtes und der Masse der Körper muß daher auf anderen Ver- hältnissen beruhen. Wir bemerken zunächst, daß der Druck, welchen die ponderablen Körper auf ihre Unterlage ausüben, nicht eine direkte Wirkung der inneren Bewegungsmomente ist, sondern nur durch Ver- mittelung der unter dem Einflusse der Gravitationswellen aus ihren In- terferenzen heraustretenden Bewegungen zu stande kommt. Erst durch die infolge der gestörten Interferenzen zur Wirksamkeit gelangende potentielle Energie wird die Arbeit geleistet, welche wir als Druck em- pfinden und durch das Gewicht der Körper messen. Die Störungen der Interferenzen im Innern der Körper sind aber von den innern Beweg- ungsmomenten unabhängig und werden vielmehr nur durch die Art der äußeren Einwirkungen und durch die Umstände, unter welchen sie ein- treten, bestimmt. Deshalb tragen so manche Erscheinungen, welche mit Umwandelungen der potentiellen Energie verbunden sind, häufig den Cha- rakter des Plötzlichen, Unerwarteten, man möchte fast sagen, des Ge- setzlosen an sich. Diese Behauptung wird durch viele Erscheinungen bestätigt. Wenn wir einen Dampf allmählich abkühlen, so beobachten wir zwar eine Abnahme seiner Temperatur und seines inneren Druckes, ohne daß anderweitige auffallende Erscheinungen dabei zu erkennen wären; erst dann, wenn der Dampf an seinem Kondensationspunkte angelangt ist, geht er in den flüssigen Zustand über, wobei zugleich ein der potentiellen Energie. IL. 443 e Teil seiner potentiellen Energie als freiwerdende latente Wärme zum Vorschein kommt. Dieselbe Erscheinung wiederholt sich bei dem Fest- werden der Flüssigkeiten, während bei den entgegengesetzten Zustands- änderungen, d. h. beim Schmelzen der festen Körper und beim Ver- dampfen der Flüssigkeiten, auch entgegengesetzte Vorgänge beobachtet werden, nämlich eine Umwandelung der zugeführten Wärme in potentielle Energie. Auch bei den chemischen Erscheinungen lassen sich ähnliche Verhältnisse erkennen; sind die Umstände einer Vereinigung der Körper günstig, so verbinden sie sich mit einander und sofort tritt auch ein Teil ihrer potentiellen Energie als chemische Wärme hervor. Ein elek- trischer Funke genügt, um die Explosion des Knallgases zu veran- lassen und einen Teil seiner potentiellen Energie in Freiheit zu setzen. Aber sogar den Erscheinungen der Schwere selbst läßt sich ein Beispiel entnehmen, dab das Wirksamwerden der potentiellen Energie bei einem bestimmten Körper vollkommen unabhängig von dem inneren Bewegungs- momente desselben ist. Beim Fallen der Körper bleibt ihre Totalenergie und ebenso ihr inneres Bewegungsmoment unveränderlich und dennoch steigt zugleich mit der Geschwindigkeit auch die Umwandelung ihrer potentiellen Energie in lebendige Kraft in dem Maße, dab letztere stets dem Quadrate der seit Beginn der Bewegung verflossenen Zeit pro- portional ist. Aus diesen Erscheinungen ersehen wir, daß die Menge der poten- tiellen Energie, welche infolge von äußeren Einwirkungen in einem bestimmten Körper zur Wirksamkeit gelangt, in keinem Verhältnisse zu seinem inneren Bewegungsmomente steht. Dasselbe gilt auch für einen ponderablen Körper, der auf einer Unterlage ruht. Die Menge der potentiellen Energie, vermittelst welcher er eine Arbeit gegen seine Unterlage leistet, wird nicht durch das innere Bewegungsmoment des Körpers, sondern durch die Störungen der Interferenzen bestimmt, welche seine inneren Bewegungen unter dem Einflusse der Gravitationswellen erleiden. Gleiche Gravitationswellen bringen aber stets gleiche Störungen der Interferenzen hervor, setzen gleiche Mengen von potentieller Energie in Freiheit, weshalb auch jeder Körper ohne Rücksicht auf seinen Zustand immer denselben Druck auf seine Unterlage ausübt. Möge also ein ruhender Körper kalt oder warm, möge er im festen, flüssigen oder dampfförmigen Zustande sein, möge er im freien Zustande für sich bestehen oder in einer chemischen Verbindung mit einem anderen Körper vereinigt sein, so übt er doch, wenn nur die äußere Einwirkung der Gravitationswellen sich gleich bleibt, stets einen gleichen Druck auf seine Unterlage aus und besitzt daher auch ein unveränderliches Gewicht. Durch die inneren Bewegungsmomente wird somit das Verhältnis der Gewichte nur bei verschiedenen Körpern — diese unter gleichen Umständen, d. h. bei einer noch zu ermittelnden Temperatur genommen — bestimmt. Bei einem und demselben Körper bleibt das Gewicht trotz aller Zustandsänderungen konstant, weshalb auch die relativen Gewichte der Körper sich in allen Fällen als unveränderlich erweisen. Daß es nicht anders sein kann, ist leicht einzusehen. Wenn das 444 Clemens König, Entgegnung auf Blytt's „Bemerkungen“ u. s. w. Gewicht eines Körpers sich verändern könnte, so wäre uns zugleich die Möglichkeit gegeben, den Körper in seinem leichteren Zustand durch eine geringe Arbeit in die Höhe zu heben, sein Gewicht sodann durch eine Zustandsänderung zu vergrößern, bei seinem Herabsinken eine größere Arbeit zu gewinnen und ihn schließlich wieder in seinen früheren Zu- stand zurückzuführen. Bei jedem Auf- und Absteigen des Körpers würde sich dann ein Überschuß der gewonnenen über die geleistete Arbeit herausstellen oder bei einem umgekehrten Kreisprozesse ein ent- sprechender Teil von Arbeit verloren gehen, was jedenfalls wegen der Unvergänglichkeit der Energie unmöglich ist. Dem unveränderlichen Gewichte entspricht eine unveränderliche Masse, dem veränderlichen spezifischen Gewichte eine veränderliche Dichtigkeit. Beide, die Masse und die Dichtigkeit, bedeuten daher bei verschiedenen Körpern die Quantität der inneren Bewegung, bei einem und demselben Körper bestimmen sie das Verhalten desselben bei den Bewegungserscheinungen und den Einfluß, den er selbst auf seine Schwere ausübt. Durch diese Erkenntnis gelangt die kinetische Naturlehre zu einem vorläufigen Abschlusse. Indem sie die Schwere auf rein mechanische Ursachen zurückführt, leistet sie das, was (CorEs in seiner Vorrede zu dem berühmten Werke von Nrwrox, »Philosophiae naturalis principia mathematica« für unausführbar erklärte. (Schluß folgt.) Entgegnung auf Blytts „Bemerkungen“ u. s. w.' Von Clemens König. Herr Prof. Bryrr hat zur Rechtfertigung seiner Hypothese gegen- über meiner Kritik derselben die Behauptung aufgestellt, daß ich den Grundgedanken seiner Spekulation durchaus mißverstanden habe. Da- gegen protestiere ich ganz entschieden. ' Als die »beiden schlimmsten Mißverständnisse« bezeichnet Herr Bryrr folgende. 1. Ich gäbe an, daß seine Hypothese »auf einen gleichzeitigen Wechsel extremer Klimate für die ganze Halbkugel hinauslaufe«. Daß Herr Bryrw dagegen Einspruch erhebt, freut uns ungemein; denn seine eigene Anschauung, welche wir auf Seite 294 und 295 des vor. Bandes zur klaren Darstellung gebracht, entbehrte noch der bestimmten Be- ! s, Kosmos 1884 I. S. 254. Clemens König, Entgegnung auf Blytt's „Bemerkungen“ u. s. w. 445 grenzung. Ihm war Norwegen der Angelpunkt. Seine Freunde, wie wir nachgewiesen, haben die besagte Erweiterung geschaffen, und unser Ver- dienst bleibt es, die Haltlosigkeit derselben so entschieden vorgeführt zu haben, daß selbst Herr Brywr nichts davon wissen mag. Wie es ge- kommen, daß Herr Bryrr übersehen, daß der Schwerpunkt unserer ganzen Untersuchung in der Frage liegt: Gibt es Thatsachen, welche für einen regelmäßigen Wechsel klimatischer Perioden für Norwegen sprechen ? — wissen wir nicht. Wenn der geehrte Leser im vorigen Bande nach- schlagen will, so wird er sich überzeugen, daß immer von Norwegen und nur nebensächlich von anderen Ländern die Rede ist. Und was stellen die beigegebenen Karten dar? — Norwegens Klima, Norwegens Höhen, Norwegens Vegetation. Auf S. 337 bis 358 vor. Bandes haben wir die geographische Lage des Landes, wie sie die Gegenwart und die jüngste geologische Vorzeit aufzufassen zwingen, untersucht und gefunden, daß auf Grund dieser Verhältnisse kein regelmäßiger Wechsel zwischen kon- tinentalen und insularen Perioden vorausgesetzt werden kann; als posi- tives Resultat ergab sich, dab die Verschiebung der geographischen Ver- hältnisse die Annahme rechtfertigt, Norwegens Klima sei seit der Eiszeit gleichmäßiger und feuchter geworden. Auf S. 482 bis 502 und 574 bis 609 vor. Bandes war die norwegische Flora und zwar in bezug erstens auf die Lücken in der Verbreitung ihrer Arten, zweitens auf den Mangel an endemischen Arten und drittens in bezug auf den klimatischen Charakter der Spezies Gegenstand der Untersuchung. Keine dieser drei Thatsachen gab Veranlassung, einen Klimawechsel vor- auszusetzen, gleichviel ob derselbe regelmäßig oder unregelmäßig sei. Vielmehr drängten Natur und Geschichte Norwegens und zwar je mehr man sie studiert, um so bestimmter, zu der einfachen, schlichten, vor- aussetzungslosen Erklärung hin, die Lücken in der Verbreitung der Arten teils als Hungerdistrikte für gewisse Pflanzengesellschaften, teils als im Kampf ums Dasein an kräftigere und stärkere Pflanzen verloren ge- gangene Areale aufzufassen u. s. w. Die arktischen Pflanzen neigen aber auch da, wo Mitbewerber um den Boden fehlen und Terrain zur Be- siedelung vorhanden, zu oasenartigen Niederlassungen und blumigen Ko- lonien. Weder auf den Alpen, noch in Sibirien bilden sie zusammen- hängende Matten. Wir erinnern nochmals an die wertvollen Forschungen KyELLMmAnN’s, der das oasenartige Auftreten der Blumenmark an der sibirischen Eismeerküste so schön geschildert hat. Hier in Sibirien sind die vorhandenen Lücken nicht durch ein feuchtes, regenreiches Klima geschaffen. Warum wird dies für Norwegen behauptet? Die Faröer, wo Dryas mit seinen Begleitern trefflich gedeiht, beweisen, weil sie das insularste Klima auf der ganzen Erde besitzen, daß diese Pflanzen gar nicht in besagter Weise vom Klima abhängig sind. An Eryngium mari- timum, Orambe maritima etc., welche an der Westküste Norwegens zur Zeit fehlen, haben wir gezeigt, daß es falsch ist, zu sagen, sie scheuen das »ausgeprägte Küstenklima«; denn diese Arten gedeihen an der deut- schen Nordseeküste und am Strande der regenreichen Bretagne vortrefflich. Folglich werden sie nicht durch klimatische Verhältnisse von der West- küste Norwegens ferngehalten. Auf das Wodurch? scheinen Orographie 446 Clemens König, Entgegnung auf Blytt's „Bemerkungen“ u. s. w. und Migration befriedigend zu antworten. Pflanzen, welche weder ther- misch noch hygrometrisch subtil angelegt sind, sollen geeignet sein, kleine klimatische Schwankungen zu beweisen! ? Wer sich den orographischen Aufbau Norwegens und den weit- angelegten Klimacharakter der dasigen Pflanzen vergegenwärtigt und an die Worte denkt, »daß jene Artgruppen einmal unter begünstigenden klimatischen Verhältnissen über Gegenden ausgebreitet waren, aus welchen sie später und zwar durch Veränderungen des Klimas verdrängt worden sind«, der muß den klimatischen Schwankungen einen bemerkbaren Um- fang zuschreiben. Herr Bryrr legt jetzt dagegen Verwahrung ein; er will selbst nicht mehr von kontinentalen und insularen Klimaten ge- sprochen wissen. Diese Erklärung haben meine Untersuchungen errungen, und das ist sehr viel. Denn seiner Hypothese hat er die Worte an die Stirn geschrieben »wechselnde kontinentale und insulare Klimate«. Sätze wie die folgenden: »The more rare species prefer partly the continental, partly the insular regions of our country< ... »The arctic flora has a continental character, the subarctic does not shun the coast climate, the boreal is continental, the atlantic insular, the subboreal eontinental and the subatlantic relatively insular« (Essay p. 29—67)... »Unter jeder kontinentalen Periode wanderte eine kontinentale und unter jeder Regenzeit eine insulare Flora ein«< (Kosmos 1884 I. S. 257) — zumal sie häufig und meist gesperrt gedruckt wiederkehren, werden das Miß- verständnis, das uns mit Unrecht aufgebürdet wird, fortbestehen lassen. Wir bitten deshalb Herrn Bryrr, statt jener extremen Bezeichnungen doch klare, zutreffende Ausdrücke wählen zu wollen. 2. Das zweite angebliche Mißverständnis ist in der laxen Begriffs- bestimmung von schrittweiser Wanderung begründet, ein Umstand, der zu einer Fixierung um so mehr aufforderte, als gerade von dieser Seite her, wie ich in einem Vortrage in der »Isis« bewiesen habe, vieles GRkIsE- BACH nachgesagt wird, was in seinen Schriften durchaus nicht steht. Was Herr Bryrr schrittweise Wanderung nennt, ist mit Ausnahme eklatanter Ver- breitungsfälle einzelner Arten alles das, was die GriszBAcH sche Schule schlechthin unter Wanderung versteht; dieselbe sagt: Gleichviel, auf welche Weise die Arten wandern, selbst gesetzt, daß Winde, Flüsse, Meeresströmungen, Tiere und Menschen zu ihren Trägern werden, immer gelingt die Ansiedelung in der Regel erst dann, wenn geeignete, mehr ‚oder weniger pflanzenarme Gebiete durch kurze Wegstrecken getrennt werden. Gemäß dieser Auffassung hält es nicht schwer, die heutige Verteilung der Pflanzenwelt Norwegens zu erklären, zumal die Geologie den Beweis erbringt, daß ehemals, am Ende der Glazialzeit, die breite Nordsee auf die schmale norwegische Rinne, ihr Anfangsstadium, einge- schränkt war. Herr Bıyrr dagegen legt sich mit seiner Auffassung Schwierigkeiten vor, die wir hinlänglich gekennzeichnet haben. Noch jetzt läßt er gesperrt drucken (Kosmos 1884 I. S. 257): »So lange die Landverbindungen zwischen unserer Halbinsel und den andern Gegenden eine Einwanderung in größerem Maßstabe möglich machten etc.« Land- verbindungen ist ein Plural; und doch, wenn wir von der Landver- bindung Norwegens mit Schweden absehen, welche immer bestand, so Clemens König, Entgegnung auf Blytt's „Bemerkungen“ u. s. w. 447 plaidiert die norwegische Rinne sogar für die Verneinung jedes Singulares; nach der Glazialzeit ist höchst wahrscheinlich Norwegen niemals mit Dänemark, mit Deutschland oder Britannien landfest verbunden gewesen. Damit ist auch der zweite Irrtum wohl hinlänglich aufgeklärt. Was die anderen »wunderbaren Irrtümer«, »alten GriserAachH'schen Ansichten«, »ziemlich sonderbaren Vorstellungen«, die »vielen absonder- lichen Ansichten< u. s. w. anbelangt, so werde ich dieselben in einer besonderen Schrift zurückweisen. Das aber sei hier nochmals aus- drücklich hervorgehoben, daß wir die Schriften des Herrn B. eingehend studiert und stets so aufgefaßt haben, wie sie nach Wortlaut und Inhalt aufzufassen waren. Und überall haben wir nur die Sache (den regel- mäßigen Wechsel, die zehn Perioden, kont. u. insul. Kl.), nie die Person des Herrn Bıyrr zum Angriffspunkt genommen; immer lautete unsere Frage: Gibt es in Norwegen Thatsachen, welche. auf einen regelmäßigen Wechsel im Klima bestimmt hinweisen ? Daß die astronomischen Verschiebungen in der Erdbahn auf das Klima einen Einfluß ausüben, ist selbstverständlich, nur wissen wir nicht — welchen. Deshalb ist Schmick gegen ADHEMAR, MurrHy gegen ÜROLL u.s. w. u. s. w. Mit sehr großer Überzeugung hat Prxck dargelegt, daß besagter kosmischer Einfluß sehr gering ist. Das ist das einzige wahre Körnchen, welches in Bryrr’s Hypothese existiert, ein Körnchen, welches mit der Flora und den Mooren seines Landes gar nichts zu thun hat und so klein ist, daß infolge der stattgehabten Verschiebung von Land und Meer es für Norwegen seit der Eiszeit gar nicht zur deutlichen Wirkung heraustreten konnte. Während Herr Buyrr be- hauptet, daß Norwegen einen regelmäßigen Klimawechsel gehabt und gegenwärtig ein strengeres und trockeneres Klima genieße als in der letztvergangenen Zeit, zwingen die geologischen Verhältnisse, gerade am Gegenteil festzuhalten. Zur Eiszeit, als die Nordsee mit Ausnahme der norwegischen Rinne als trockenes Land existierte und aus dem weißen Meer ein Golf durch Schweden hindurch bis Christiania reichte, hatte Norwegen kältere Winter, der Regen fiel als Schnee und die Gletscher fanden reiche Nahrung. Je weiter nun die Bildung der Nordsee vorwärts schritt, desto mehr trat ihr Einfluß hervor, desto milder ward der Winter, desto mehr zehrte die Feuchtigkeit am Eis, ein Vorgang, welcher noch wesent- lich dadurch gesteigert wurde, daß Asien nach der Tertiärzeit im Norden an Land wuchs. Hierher verlegte sich seit damals der Kältepol, bis hierher dehnte sich die Zone des höchsten winterlichen Luftdruckes aus. Im Winter, wo die thermischen Unterschiede am deutlichsten hervortreten, zeigt die Luft über dem Land, gesteigert durch die hohe Ausstrahlung bei heiterem Himmel, relative Schwere, dagegen über dem wärmeren Meere, über dem die ausgebreitete Wolkendecke schützend lagert, eine bemerkbare Auflockerung. Daher finden die von Süden her wehenden äquatorialen Winde über dem Meere ein offenes, über dem Lande dagegen ein ge- sperrtes Bett. Je weiter aber der Polarstrom nach Osten sich verlegt, desto weiter muß der Äquatorialstrom, ein kräftiger Südwestwind, über Norwegen herübergreifen. In gleichem Sinne erzeugt der kontinentale 448 Clemens König, Entgegnung auf Blytt's „Bemerkungen“ u. s. w. Sommer Asiens — Südwestwinde an Europas Küste. Diese im Sommer und Winter vorherrschenden Südwestwinde bringen den Golfstrom, bringen Sommerregen, die am Eis zehren, und Winterregen, welche weniger als ehemals zum Wachstum der Gletscher beitragen. Die Folge ist und war, daß Norwegens Gletscher langsam dahinschwanden und dadurch viele Orte und Felder feucht stellten, ohne daß eine besondere Regen- zeit stattfand. Je mehr die Gletscher sich erschöpften, desto mehr Ge- biete traten in einen trockenen Zustand ein. Dieser Wechsel zwischen trockenen und feuchten Zuständen z. B. an ein und demselben Moor setzt gar keine meteorologischen Perioden, keinen regelmäßigen Wechsel zwischen Klimaten verschiedener Art voraus; denn die Schwankungen innerhalb des heutigen Klimas sind zur Erklärung desselben vollständig ausreichend. In dieser Gestalt können wir uns erklären, wie all- mählich Norwegen aus dem Klima der Eiszeit heraustrat, wie es nach und nach ein gleichmäßiges und feuchtes Klima erhielt, welches endlich den gegenwärtigen Zustand herausbildete. Einen Wechsel innerhalb dieser Richtung kann man wohl vermuten und behaupten, aber zur Zeit nicht beweisen. Zum Schluß will ich bekennen, daß ich Herrn Bryrr doch zuletzt noch zu der Erklärung bringen zu können hoffe, daß seine Hypothese auf jene Verschiebung der astronomischen Elemente in der Erdbahn basiert ist und nicht auf die Naturgeschichte Norwegens, daß er zugestehe, aufGrund seiner naturgeschichtlichen Studien nicht im stande zu sein, seit der Eiszeit eine be- stimmte Anzahl von gleich langen Perioden (er hat zehn angenommen) mit wissenschaftlicher Berechtigung aufzu- stellen. Wissenschaftliche Rundschau. Anthropologie. Vorschläge zur Verbesserung des Menschengeschlechtes '. Francıs GALton, der Verfasser des Werkes »Inquiries into Human Faculty and its Developement«, ist ein eifriger Anhänger der Entwickel- ungslehre. Sein Buch besteht aus einer Menge einzelner Untersuch- ungen über die geistigen und körperlichen Eigenschaften des Menschen und deren Entwickelung unter dem starken Einfluß der Vererbung und dem geringen der Erziehung. Unter diesen Essays befinden sich mehrere sorgfältig durchgearbeitete Abhandlungen, die übrigen machen den Ein- druck unfertiger, noch in der Anlage begriffener Arbeiten. Sämtliche Artikel aber stehen, so wenig dies dem Leser auf den ersten Blick ent- gegentritt, in einem logischen Zusammenhang und sind dem unentwegten Bestreben entsprungen, der Welt, insonderheit aber dem englischen Volke, Anweisungen zur Hervorbringung eines besseren Geschlechtes zu geben und somit in bewußter Weise die Zwecke und Ziele der natürlichen Zuchtwahl im Bereiche der Menschheit zu fördern. Die ungeheuren Schwierigkeiten dieses Unternehmens sind dem Verfasser nicht in ihrem ganzen Umfange gegenwärtig. Es geht ihm hierin wie schon so man- chem der Erzieher des Menschengeschlechtes, — zu denen er jedoch nicht gerechnet sein will, da er in erster Linie keine pädagogischen Mittel zur Vervollkommnung unserer Gattung vorschlägt, sondern die Absichten der Natur hauptsächlich, wenn auch nicht ausschließlich auf dem Wege einer zweckentsprechenden Fortpflanzung zu unterstützen denkt: er ist Enthusiast und unterschätzt die Hindernisse, die sich der Durchführung seines Systems entgegensetzen. Er bringt sich dadurch in die Gefahr, daß seine Ideen und Vorschläge von einer nüchternen Kritik mit skeptischem Lächeln bei Seite geschoben werden und so auch das Gute, das in seinem Buche ist, nicht zur Geltung kommt. Wir möchten nicht in den Fehler verfallen, Brauchbares unbeachtet zu lassen, weil es sich uns unter Unbrauchbarem darbietet. Doch wenn wir auf die Gauron’sche Theorie näher eingehen, so sagen wir damit nicht, daß ! Inquiries into Human Faculty and its Developement by Francis Galton, F. R. S. Author of „Hereditary Genius“. London. Macmillan & Co. 1883. Kosmos 1884, I. Bd. (VIII. Jahrgang, Bd. XIV). 29 450 Wissenschaftliche Rundschau. dieselbe uns in der vorliegenden Fassung als durchführbar erscheint. Unser Interesse für das Buch entspringt vielmehr dem Umstande, daß es seine Entstehung dem anregenden Einfluß des Darwinismus verdankt, der neben so vielen bedeutsamen, streng wissenschaftlichen Werken auch Anstoß zu manchem wunderlichen, phantastischen Buche gegeben hat. Übrigens sagt Gawron durchaus nicht, daß die Welt zu einer systematischen, konsequent durchgeführten Nutzanwendung der Evolutions- theorie reif oder das Material zur Ausarbeitung einer rationellen Zücht- ungsmethode genügend angesammelt sei; im Gegenteil. Doch glaubt er zuversichtlich, daß eine solche Zeit über kurz oder lang eintreten wird, und hält es für geraten, einstweilen Vorbereitungsarbeiten zu machen. Da also an eine schrittweis vor sich gehende Verbesserung noch nicht zu denken ist, so hält er mit dem Auge eines Verwalters eine vorläufige Rundschau über das Areal und faßt die Kardinalpunkte ins Auge, die beim Beginn des Werkes zunächst zu berücksichtigen sind. Wir können diesem Gedanken, obgleich uns die Kardinalpunkte nicht an den von dem Verfasser bezeichneten Stellen, sondern ganz anderswo zu liegen scheinen, eine gewisse Genialität nicht absprechen. Und in dieser liegt der Reiz des Buches. Daß Gauron, selbst wenn er es vermöchte, das ganze Menschen- geschlecht nicht nach einer Schablone zuschneiden möchte, bedarf kaum der Erwähnung. Die organische Welt besteht nicht aus einer steten Wiederholung gleichartiger Elemente, sondern aus einer endlosen Menge neuer Zusammensetzungen von Stoff und Kraft. Der moralische und intellektuelle Reichtum einer Nation beruht vornehmlich auf der unend- lichen Mannigfaltigkeit der Begabung ihrer Mitglieder, und der Versuch, sie alle zu einem gemeinsamen Typus zu verschmelzen, wäre daher keine Vervollkommnung, sondern das direkte Gegenteil. Doch gibt es in jeder Rasse domestizierter Lebewesen und namentlich in der leicht sich ver- ändernden Menschenrasse Elemente, welche, da sie teils veraltet, teils die Ergebnisse eines Rückschrittes sind, als geringwertig, überflüssig oder geradezu schädlich bezeichnet werden müssen, während andere unter allen Umständen ungemein gut und nützlich sind. Welche menschlichen Triebe und Eigenschaften müßte man zum Wohl der Gattung ausbilden? Wir glaubten, der Verfasser würde uns hier auf die Notwendigkeit der Verfeinerung desjenigen Instinktes oder Empfindungsvermögens verweisen, das den Menschen befähigen soll, unter der unabsehbaren Reihe der Mitlebenden gerade dasjenige Wesen heraus- zufinden, welches seine Kraft und seinen Stoff aufs völligste ergänzt und ihn in den Stand setzt, seinen Nachkommen ein reicheres Kapital an geistigen und körperlichen Vorzügen zu übermitteln, als er selbst von seinen Vorfahren erhalten hat. Denn merkwürdiger Weise ist kaum ein einziger der menschlichen Instinkte selbst unter den kultiviertesten Rassen so unentwickelt und roh geblieben wie gerade dieser. Aber der Ver- fasser sagt nichts von alledem und doch würde gerade die Verschärfung dieses Sinnes für die Zukunft unseres Geschlechtes von hohem Wert sein. Wäre es möglich, den unbewußten Trieb zur ehelichen Vereinigung in allen Menschen solchergestalt zu vervollkommnen, daß jeder von ihnen Wissenschaftliche Rundschau. 451 sich instinktiv zu einem Wesen gesellte, das in Wahrheit die andere Hälfte seiner Individualität genannt zu werden verdiente, die Vervollkomm- nung unseres Geschlechtes würde rapide Fortschritte machen. Aber wie die Sachen jetzt stehen, befinden wir uns noch auf der tiefen Stufe unserer barbarischen Vorfahren, deren Sinne nur für die Bedürfnisse der körperlichen Existenz, nicht aber für die der geistigen organisiert waren. Kein Mensch ist infolge dieses Mangels vor einer unpassenden Wahl sicher. Selbst Gorrnur wurde durch seine geistig und körperlich hoch- entwickelte, gesunde Organisation nicht vor einem bösen Mibgriff ge- schützt. Infolgedessen ist zum Schaden unserer ganzen Gattung der Reichtum seines Geisteslebens nicht auf seine Nachkommen übergegangen. Dieser Mangel ist um so merkwürdiger, da mehrere andere unserer Sinne, welche ursprünglich auch nur körperlichen Bedürfnissen dienten, sich im Laufe der Zeit den geistigen gleichfalls anpaßten. Der Ver- fasser zeigt uns, dab unsere körperlichen Wahrnehmungswerkzeuge: Ge- sicht, Gehör, Tastsinn, Geruch und Geschmack von mehr oder minder gut ausgebildeten geistigen Empfindungsorganen ergänzt werden. Diese Kapitel des Buches sind ungemein interessant. Daß die sinnliche Unter- scheidungskraft der Menschen verschiedengradig ist, weiß jeder; aber dennoch herrschen in betreff dieser Abstufungen bedeutsame Irrtümer. Zahlreiche Experimente haben den Verfasser zu der Erkenntnis gebracht, daß Personen mit gesundem Nervensystem feinere Sinne besitzen als die sogenannten sensitiven, nervös erregten Menschen. Männer haben in der Regel eine schärfere Wahrnehmung als Frauen, der Kulturmensch eine bessere als der Wilde. Bei Blinden ist keine Verschärfung des Gehörs oder Tastsinnes zu bemerken; ebensowenig findet man bei See- leuten eine gesteigerte und weiter reichende Sehkraft als bei Land- bewohnern. Als Durchschnittsregel ist anzunehmen, daß mit der steigen- den Zivilisation des Menschen keine Abnahme, sondern vielmehr eine Verschärfung seiner Sinne eintritt. Je höher der Standpunkt einer Rasse, desto besser und zuverlässiger arbeiten ihre Wahrnehmungsorgane. GAvTon selbst hat auf seinen weiten Reisen vielfach Vergleichungen zwischen den Sinnen der Wilden und der Kulturmenschen angestellt. Er hat namentlich die Südafrikaner geprüft. Der Reisende Wuurrıp Brust machte in der arabischen Wüste ebenfalls zu seinem Erstaunen die Beobachtung, daß die Eingebornen in der Regel ein schlecht aus- gebildetes Auge haben. Den wandernden wie den sebhaften Beduinen fehlte es außerdem an jeglichem Ortssinne. Sie mußten sich, sobald sie den Bereich eines ihnen bekannten Gebietes verließen, auf die Führ- ung des Engländers verlassen und waren höchlich verwundert, daß sich derselbe in ihrer heimatlichen Wüste leichter und sicherer zurecht fand als sie. Die Reisenden haben sich in vielen Fällen durch die Thatsache täuschen lassen, daß ihre wilden Begleiter bestimmte Formen und Klänge mit erstaunlicher Schnelligkeit erkannten, während sie selbst sich die- selben nicht zu deuten wußten. Doch ist es kein Zeichen von größerer Sinnesschärfe, wenn ein Kaffer, der zahllos oft aus der Ferne grasende Rinderherden beobachtete, die Eigentümlichkeit eines solchen Bildes schon 459 Wissenschaftliche Rundschau. an den ersten schwachen Umrissen erkennt, während sein diesem Anblick fremder Nebenmann minder schnell einen bestimmten Begriff mit den betreffenden Linien verbindet. Zu einer ähnlichen Beobachtung führ- ten GALton’s Proben mit den Sinnesorganen blinder Personen. Er fand bei denselben weder ein geschärftes Gehör noch einen erhöhten Tastsinn ; wohl aber hatten manche von ihnen sich durch geduldige Übung eine schnelle Erkenntnis der gemachten Wahrnehmungen angeeignet. Höchst auffällig ist es, daß wir selbst über die Leistungsfähigkeit unserer Sinneswerkzeuge uns kein Urteil zu bilden oder nach einem Gradmesser zu suchen pflegen. Wir bemerken meistens eine im Laufe der Zeit eingetretene Abschwächung erst dann, wenn sie uns unbequem wird. Ja selbst das völlige Fehlen einer Fähigkeit kann uns entgehen. Es gibt bekanntlich eine Reihe von Menschen, die farbenblind sind, ohne es zu ahnen. Gauron’s Essays über »die geistige Sehkraft« des Menschen sind ebenfalls ungemein lesenswert. Dieser Sinn, der sich wahrscheinlich bei allen Naturvölkern in einem Schlummerzustande befindet, tritt bei den Individuen gebildeter Rassen in den verschiedenartigsten Abstufungen und den manniefaltigsten Formen auf. Die Fähigkeit, sich die Gestalt- ungen der Körperwelt, die dem leiblichen Auge entrückt sind, zu einem Bilde zusammenzustellen, das nur dem Geiste wahrnehmbar ist, äußert sich in jedem Individuum in besonderer charakteristischer Weise. Man kann wohl sagen, daß jeder Mensch seine eigene Art der Reproduzierung dieser Bilder hat, daß sich aber dennoch auch hier Familienähnlichkeiten geltend machen. Daß die vernunftgemäße Ausbildung dieser geistigen Sehkraft von großem Nutzen für die Menschheit ist, werden wir dem Verfasser nicht bestreiten. Auch pflichten wir ihm bei, wenn er sagt: »Diese Eigen- schaft ist nicht nur für Maler, Bildhauer und Dichter von Wichtigkeit, sondern auch für Gelehrte und Denker. Die besten Handwerker sind diejenigen, denen die zu machende Arbeit fertig vor der Seele steht, noch ehe sie eins ihrer Werkzeuge angerührt haben. Der Dorfschmied und der Zimmermann, welche eine außergewöhnliche Arbeit übernehmen, sind auf diese Fähigkeit in eben dem Maße angewiesen wie der Mechaniker, der Ingenieur und der Architekt. Die Jungfer, welche ein neues Kleid drapiert und besetzt, bedarf ihrer aus dem nämlichen Grunde wie der Tapezier, dem die Dekoration fürstlicher Säle aufgetragen ist, oder der Verwalter, welcher große Ländereien anlegt. Dem Strategen ist diese Eigenschaft beim Entwurf seiner Kriegspläne, dem Physiker bei der An- ordnung neuer Experimente notwendig. Wo immer eine Abweichung von herkömmlichen Wegen stattfindet, wird sie in Anwendung gebracht. Un- ermeßlich ist das Vergnügen, das sie uns zu bereiten vermag. Viele meiner Freunde sagen mir, ihre höchste Freude sei, sich im Geiste schöne Landschaften, herrliche Kunstwerke zu vergegenwärtigen. Solche Leute haben stets eine ganze Gemäldesammlung in sich.« Diese mit der wach- senden Kultur ausgebildete Sehkraft unseres geistigen Auges, welche für alle Techniker und Künstler eine hohe praktische Bedeutung hat, wird lange nicht sorgsam genug ausgebildet. Unsere Erziehung pflegt ihr Wissenschaftliche Rundschau. 453 sogar entgegenzuwirken. Das nämliche gilt auch von den geistigen Gegenstücken der anderen Sinne, von deren Vorhandensein und Eigenart uns unser Buch höchst interessante Proben gibt. Sie finden eine be- achtenswerte bedenkliche Steigerung in visionären Erscheinungen. Ein noch höheres Gewicht als auf die Unterstützung einer mög- lichst sicheren Vererbung gut entwickelter geistiger und körperlicher Sinneswerkzeuge legt der Verfasser auf die der Fortpflanzung der Ener- gie. — Energie ist Arbeitskraft; sie steht im Einklang mit allen kraft- vollen Tugenden und weiß dieselben zweckgemäß zu benutzen. Sie ist das Vollgewicht der Lebensfülle. Je größere Energie, desto reicheres Leben. Das Erlöschen jeglicher Energie ist der Tod. Idioten sind schwach und unentschieden. »In jedem Plan zur Heranbildung eines besseren Geschlechtes, < heißt es in unserem Buche, >muß die Energie vor allen anderen Eigen- schaften begünstigt werden. Sie ist die Basis aller Lebensäußerungen und in hohem Grade erblich übertragbar. « Gehen wir nunmehr von den unbedingt nützlichen Eigenschaften zu den der Gattung schädlichen über, so müssen wir gestehen, dab uns die beiden Kapitel, in denen der Verfasser jenes weite Gebiet mehr gestreift als betreten hat, durchaus nicht genügen. Der Gedanke, dab diese verderblichen Triebe teils Ausartungen von gleichsam zu stark in die Saat geschossenen, ursprünglich guten oder harmlosen Eigenschaften sind oder daß sie als Überbleibsel längst vergangener Zeit ihre frühere Daseinsberechtigung nicht mehr besitzen, ist nicht scharf genug durch- geführt. In dem Abschnitt über Verbrecher spricht der Verfasser aus- schließlich von Kriminalfällen, während doch diejenigen Beispiele von weit größerer Bedeutung sind, welche sich in dem Rahmen der feinen Gesellschaft abspielen, ohne jemals einer juristischen Beurteilung unter- zogen zu werden. Das Studium der unter dem Deckmantel gefälliger Lebensformen sich versteckenden gattungsschädlichen Elemente ist für den Psychologen eben deshalb weit interessanter als das der Diebe und Vagabunden der unteren Stände, weil dieselben selten rein hervortreten und sehr oft den Anschein förderlicher Eigenschaften annehmen. Dem Stück Barbarismus unserer Urväter, das nicht nur in den unteren, son- dern auch in den oberen Kreisen sich erhalten hat, nachzuspüren und es schonungslos aufzudecken, ist unter allen Umständen ein Verdienst. Ein gleiches Studium ist dem Irrsinn und der Epilepsie zuzuwenden, wenn wir uns auch nicht zu der Hoffnung versteigen, dab auch nur ein ein- ziges der in diese Kategorie gehörenden Individuen sich zu gunsten einer ausschließlichen Bevölkerung der Welt mit »gesunden, moralischen, in- telligenten und edelgesinnten Bürgern« zur Ehelosigkeit entschließen wird. Auch ist nicht anzunehmen, daß die Männer einer Nation im Falle einer Übervölkerung ihres Vaterlandes sich dazu verstehen wer- den, nur 29jährige Mädchen zum Altar zu führen. Die meisten von ihnen werden eine 20jährige Gattin vorziehen, obgleich der Verfasser ihnen ausrechnet, daß sie durch diese That die Überfüllung ihres Landes befördern. Es ist ganz interessant, zu erfahren, dab solche Familien, in denen die Töchter jung heiraten, sich bedeutend vermehren, die andern 454 Wissenschaftliche Rundschau. aber stark abnehmen; doch wird diese Theorie keinen Einfluß auf die Praxis haben. Und was für die angeführten Kapitel gilt, das bezieht sich auch auf diejenigen, welche wir nicht namhaft machen können, obwohl sich unter ihnen manch lesenswerter Essay befindet. Der Verfasser möchte seine Abhandlungen nicht als gelehrte Mitteilungen aufgefaßt sehen, sondern als nützliche Ratschläge angewandt wissen. Ob ihm dieser Wunsch erfüllt wird, muß die Zeit lehren. Jena. A. Passow. Zo0ologse. Jugendgeschichte der Wurzelkrebse'. Die Jugendgeschichte der Wurzelkrebse war bisher nur wenige Tage über das Ausschlüpfen der Jungen hinaus verfolgt worden. Man wußte, daß sie das Ei als mundlose Nauplius verlassen, also mit drei Paar Gliedmaßen, von denen das vorderste einfach, die beiden hinteren zweiästig sind, und daß diese Nauplius durch zwei lange, vor dem Auge entspringende Riechfäden und zwei seitliche Stirnhörner, an deren Spitze eine Drüse mündet, zunächst denen der Rankenfüßer sich anschließen. Man wußte, daß schon nach drei bis vier Tagen die Nauplius durch eine tiefgreifende Verwandlung zu ebenfalls mundlosen muschelkrebsähn- lichen Larven werden, welche im Baue ihrer Gliedmaßen sich kaum von der sogenannten Cyprisform der Rankenfüßer unterscheiden; das erste Gliedmaßenpaar ist zu eigentümlichen Haftfühlern geworden, die beiden hinteren Paare sind spurlos verschwunden, der Hinterleib hat sechs Paare zweiästiger Schwimmbeine erhalten. Damit hört unsere Kenntnis der Jugendgeschichte der Wurzelkrebse auf; zwischen diesen winzigen, flinken Schwimmern und den fertigen Wurzelkrebsen, die als mund- und glied- mabenlose, wurst-, sack- oder scheibenförmige Auswüchse fast regungs- los am Hinterleibe von Krabben, Porzellanen und Einsiedlerkrebsen sitzen und sich durch wurzelartig im Innern des Wirtes verzweigte, geschlossene Röhren ernähren, klaffte eine weite Lücke,. welche nun endlich durch die erfolgreichen Bemühungen des Herrn Yvzs DELAGE ausgefüllt wor- den ist. Derselbe untersuchte im zoologischen Laboratorium zu Roscoff die an dem kleinen Taschenkrebse (ÜCarcinus Meaenas) vorkommende Sac- culina Carcini. Die überaus merkwürdigen, zum Teil höchst überraschen- den Ergebnisse seiner Untersuchungen liegen bis jetzt nur in kurzen Be- richten an die Pariser Akademie vor, die mir durch des Herrn Verfassers Güte zugänglich wurden und denen ich das folgende entnehme. Die muschelförmigen Larven oder die »Üypris«, wie sie Yves DeuAGE kurz bezeichnet, beginnen nach mindestens drei Tagen freien ı Yves Delage, Sur la Saceuline interne, nouveau stade du developpement de la Sacculina Careini, und: Sur l’embryogenie de la Sacculina Careini, Crustace endoparasite de l’ordre des Kentrogonides. — In den Comptes rendus der Pariser Akademie vom 5. Novbr. und 19. Novbr. 1883. Wissenschaftliche Rundschau. 455 Umherschwimmens sich festzusetzen und zwar geschieht dies stets im Dunkeln; übrigens können sie 14 Tage und mehr frei leben, ohne sich bedeutend zu verändern. Sie heften sich mit einem ihrer Fühler an eine junge, 2 bis 12 mm lange Krabbe, und zwar stets am Grunde eines Haares an irgend einer Stelle des Leibes. Es beginnt dann, aus- genommen an der Anheftungsstelle des Fühlers, die oberflächliche Zellen- schicht des Leibes sich von der Chitinschicht zu lösen und zurückzu- ziehen; die Schwimmbeine werden stark nach vorn gezogen und reißen in einem Stücke los: durch den so entstehenden Riß tritt langsam ein großer Teil des Leibesinhaltes aus. Die Wunde schließt sich wieder, eine neue Chitinhaut bildet sich, die Cyprishaut mit den ausgestoßenen Teilen fällt ab und es bleibt, durch einen der Fühler an ein Haar der Krabbe befestigt, ein längliches Säckchen, dessen Wand aus der Haut- schicht der »Cypris«, dessen Inhalt fast ausschließlich aus einem kug- ligen Häufchen kleiner Zellen besteht, welches sich schon im Innern des Nauplius bemerklich macht und von DerAcz als Kern (nucleus) be- zeichnet wird. Bald bildet sich am Fühlerende der neuen Larve eine steife Spitze, die rasch wächst und nach drei Tagen als hohler Stächel erscheint, der einerseits mit dem Rande einer weitklaffenden trichterför- migen Öffnung in die Chitinhülle der Larve übergeht, während ander- seits die (der Kanüle einer Pravazspritze ähnliche) Spitze in den fest- gehefteten Fühler ein und bald bis zur Haut der Krabbe vordringt. Endlich durchbohrt der Stachel die weiche, den Ansatz des Haares um- gebende Haut -und dringt oft bis über die Hälfte seiner Länge in das Gewebe der Krabbe ein. Durch diesen trichterförmigen Stachel! bewegt sich nun der gesamte zellige Inhalt des ihm anhängenden Sackes ins Innere des Wirtes und durch ein nach einer bestimmten Richtung hin stärkeres Wachstum gelangt die junge Sacculina an die Stelle, wo sie ihre Entwickelung vollendet, nämlich an die vordere (der Bauchseite zu- gewendete) Fläche des Darmes. Von der Haut der hier angelangten jungen »inneren Sacculinen«, wie Y. DELAGE diese bisher unbekannte Entwickelungsstufe nennt, sieht man einen ziemlich dicken Fortsatz aus- gehen, der sich im Leibe der Krabbe verliert und offenbar den Weg verrät, den der Schmarotzer zur Erreichung seines bleibenden Sitzes durchmessen hat. Die jüngsten inneren Sacculinen, die Y. DELAGE antraf, bestanden aus einem flachen häutigen Sacke, der sich zwischen Darm und Bauch- wand des Hinterleibes in der Leibeshöhle der Krabbe ausbreitet. Von seiner ganzen Oberfläche, namentlich aber von dem unregelmäßig ge- buchteten Rande gehen schon jetzt Röhren aus, die weithin die Krabbe durchziehen. Die von dünner Chitinschicht überzogene Wand des Sackes besteht aus großen, großkernigen Zellen, die sich in die Röhren fort- setzen. Das Innere des Sackes enthält eine Art schwammigen Binde- gewebes aus sternförmigen Zellen. Etwa in der Mitte verdickt sich der Sack plötzlich und bildet eine auf der äußeren Seite vorspringende Ge- ! Nach diesem Stachel (z&vroor) der jungen Brut (yovos) gibt Y. Delage den Wurzelkrebsen den Namen „Kentrogoniden*“. 456 Wissenschaftliche Rundschau. schwulst, in welcher inmitten des schwammigen Gewebes der Kern, d. h. das schon erwähnte kuglige Häufchen kleiner Zellen liegt; diese Zellen sind so angeordnet, daß ein mittlerer Zellenhaufen durch einen schmalen Zwischenraum von einer umhüllenden Schicht getrennt ist. Die ganze Saceulina hat jetzt kaum !/s mm, ihr Kern kaum 0,05 mm Durch- messer und doch sind schon alle Teile der erwachsenen Sacculina ver- treten. Der Sack mit seinem schwammigen Gewebe bildet den im Innern der Krabbe verbleibenden Teil (Y. D.’s »membrane basilaire«), der Kern wird zur äußeren Sacculina und zwar die Außenschicht zum Sack, der innere Zellenhaufen zur Eingeweidemasse (Eierstock und Hoden). Bevor die Ausbildung dieser Teile vollendet ist, entstehen in dem zwischen Kern und Haut liegenden schwammigen Gewebe zwei aneinanderliegende zellige Wände, die quer zur Längsachse der Krabbe gestellt sind und zwischen sich eine Chitinplatte abscheiden; diese Platte spaltet sich und durch den Spalt tritt der Kern aus der Geschwulst, die ihn umschloß, nach außen und ist nun zwischen der Haut der inneren Sacculina und der Bauchwand der Krabbe gelegen. Letzterer rückt er, wachsend, immer näher, bringt sie durch Druck zum örtlichen Absterben und Schwinden, sprengt sie endlich, wenn er die Größe von 2,5 bis 3 mm erreicht hat und erscheint nun als äußere Sacculina. Aus der Haut der Larve geht also der im Innern der Krabbe verbleibende Teil des Schmarotzers hervor; was man von außen sieht, ist ein die Geschlechtsstoffe erzeugender Kern (»noyau genital«), der sich zur Fortpflanzung der Art, seine eigene Haut und die des Wirtes durchbrechend, einen Weg nach außen gebahnt hat. Zur Zeit, wo die Sacculina außen erscheint, ist die Öffnung ihrer Bruthöhle (»cloaque« Y. D.) durch ein Chitinhäutchen völlig geschlossen. Dasselbe reißt bald und nun kommen junge »Cypris« und heften sich mit ihren Fühlern an den Rand der Öffnung. Alle jungen Sacculinen haben »Cyprise am Rande der Bruthöhlenöffnung sitzen, selten nur eine, gewöhnlich 2 bis 5, ja bisweilen bis 12! Offenbar sind diese »Cypris« Hilfsmännchen der zwittrigen Sacculina, die auch darin ihre Verwandtschaft mit den Rankenfüßern kundgibt, bei welchen solche Hilfsmännchen (»com- plemental males«) mehrfach durch Darwın nachgewiesen worden sind. Soweit die schönen Entdeckungen Yves Derage’s, die zum Teil so nahe liegen, daß es für frühere Beobachter der Wurzelkrebse etwas Be- schämendes hat, sie nicht gemacht zu haben. Wer, wie ich seinerzeit gethan, volle dreitausend Einsiedlerkrebse einer kleinen, viel von Wurzel- krebsen geplagten Art nach Jugendformen dieser Schmarotzer abgesucht und dabei schon die jüngsten ganz den Erwachsenen ähnlich, wohl- bewurzelt und mit den leeren Häuten von Männchen besetzt gefunden hat, der hätte sich doch wohl sagen müssen: da man außen am Wirte nie Wurzelkrebse unter einer bestimmten Größe antrifft (bei dem 5 bis 6 mm langen Peltogaster socialis kaum unter 1,5 mm, bei Saceulina Car- cin nach Y. DeuAGeE nicht unter 3 mm), so können die früheren, noch unbekannten Entwickelungsstufen von der 0,2 mm langen »Cypris« an bis zur Begattungsreife offenbar nur im Innern des Wirtes durchlaufen werden. Diese so einfache Erwägung hätte sofort zur Entdeckung der »inneren Sacculina« geführt. Hoffen wir, daß Herr Yvzs DerAGeE, welcher Wissenschaftliche Rundschau. 457 hier der Columbus gewesen, der das Ei auf die Spitze zu stellen ge- wußt, mit gleichem Geschick und Glück die im Lebensgange der Wurzel- krebse noch bleibenden Rätsel recht bald löse. Unter diesen steht wohl obenan die Frage nach der Bedeutung und dem Verbleibe der Hilfs- männchen. Diese Hilfsmännchen, deren leere Haut schon LiLsJEBORG ge- sehen, aber für die des Tieres, dem sie aufsaß, genommen hatte, wer- den nach Y. Drrage’s und meinen Erfahrungen immer nur an den aller- jüngsten >äußeren Sacculinen« angetroffen. Findet aber jetzt wirklich schon eine Befruchtung durch dieselben statt? Kommt die Kreuzung mit fremdem Blute, in der doch wohl vornehmlich die Bedeutung der Hilfsmännchen besteht, nur den Eiern der ersten Brut zu gute, während bei allen folgenden Eiablagen nur Selbstbefruchtung der zwittrigen Wurzel- krebse stattfindet? Oder ergießen sich die Hilfsmännchen aus ihrer Cyprishaut in ähnlicher Weise in das Zwittertier wie dieses ins Innere des Wirtes? Leben sie hier schmarotzerartig fort wie die Hilfsmännchen der Rankenfüßer, um bei jeder Eiablage einem Teile der Eier die Vor- teile der Kreuzbefruchtung zu teil werden zu lassen ? — Letzteres ist mir — schon seit zwanzig Jahren — wahrscheinlicher und ich möchte jetzt in einem Balken, den ich zwischen der Haut des Männchens und dem Leibe des jungen Peltogaster ausgestreckt sah! und nicht zu deuten wußte, den Stachel vermuten, durch welchen der lebende Inhalt der Cyprisschale in den Peltogaster einwanderte. Frırz MÜLLER. Zur Entwickelungsgeschichte der Echinodermen. Seit dem Ende der Vierziger Jahre, als Jomasnes MÜLLER seine klassischen Untersuchungen »Über die Larven und die Metamorphose der Echinodermen« zu veröffentlichen begonnen hatte, ist der Entwickel- ung dieser eigenartigen Tiere stets die rege Aufmerksamkeit der Zoolo- gen zugewendet geblieben, und es lag nur an der unübersteiglich er- scheinenden Schwierigkeit, ihre einem freien pelagischen Leben angepaßten Larven auch nur für kurze Zeit zum Zwecke der Beobachtung lebendig zu erhalten, wenn die Forschung lange Jahre kaum über den Standpunkt des erstgenannten Meisters hinauskam. Nachdem aber Au. Acassız 1864 die Entstehung des Wassergefäßsystems und der Leibeshöhle aus Ur- darmdivertikeln entdeckt, WyvırzEe Thomson 1865 den Crinoiden Comatıla (Antedon) von der freischwimmenden Larve durch das festsitzende Penta- crinus-Stadium hindurch bis zum fertigen, abermals freibeweglichen Zustand verfolgt und nachdem man überhaupt den Furchungsvorgang bei wirbel- losen Tieren von den ersten Veränderungen des Eies an genau zu unter- suchen angefangen hatte, kam auch in die Entwickelungsgeschichte der Echinodermen wieder mehr Leben. Die siebziger Jahre beschenkten uns mit einer Fülle der wichtigsten Aufschlüsse. Es genügt, daran zu erinnern, ! Archiv für Naturgeschichte, Bd. XXIX (1863), Taf. III, Fig. 6. 458 Wissenschaftliche Rundschan. dab es das Ei eines Seeigels war, an welchem zum erstenmal im Tier- reiche O. Herrwiıc 1876 das Geheimnis der Befruchtung zu entschleiern vermochte, indem er das Eindringen des Spermatozoons in das Ei und seine Verschmelzung mit dem weiblichen Vorkern zur Bildung des »Ei- kerns« verfolgte, und im übrigen brauchen wir bloß die Namen SELENKA, GörTTE, GREEFF und LupwIie zu nennen, um dem Leser eine Reihe der bedeutsamsten Aufklärungen über Morphologie, Histologie, Organanlage ete. der Echinodermen ins Gedächtnis zurückzurufen. Aus der neuesten Zeit sind Arbeiten von MerscHNIikorFr und HaArscHer, ganz besonders aber zwei höchst gründliche und erfolgreiche Untersuchungen von H. Lupwıg! und E. SruenkA? zu verzeichnen; auf diese wollen wir hier etwas näher eingehen. Erstere war durch ein Preisausschreiben der Göttinger Socie- tät der Wissenschaften veranlaßt, welches eine Untersuchung besonders darüber wünschte, wie »das Tier aus der Larvenform bis zur völligen Anlage sämtlicher Organsysteme erwächst«; sie behandelt daher vorzugs- weise diese Seite des Gegenstandes, während die letztere anderseits fast ausschließlich auf die Furchung und die Anlage der Keimblätter sich beschränkt. Hinwiederum gewinnt jene ihre Resultate zunächst nur an einer Form, dem Seestern Asterina gibbosa, diese dagegen bezieht sich auf Holothurien, Echiniden und Ophiuriden. So ergänzen sich beide wechselseitig in erfreulichster Weise. Wir werden uns im folgenden naturgemäß zuerst hauptsächlich an die Arbeit von SELENKA halten, für die Organentwickelung dagegen uns vorzüglich auf Lupwıc stützen. Die größte Regelmäßigkeit der Furchung unter allen Echinoder- men, ja soweit bekannt sogar unter allen Tieren, zeigt das Ei von Synapta digitata. Eine Hauptaxe ist vor Beginn derselben nicht zu unterscheiden, ebensowenig eine Differenz zwischen Bildungs- und Nahrungspol. Das ändert sich jedoch schon beim Auftreten der ersten Furchungsrinne in- sofern, als dieselbe von dem einen Pole her (dem animalen) etwas rascher einschneidet als vom entgegengesetzten und als die beiden Segmente nicht genau ellipsoidisch, sondern etwas eiförmig mit nach oben gerich- teter Spitze sind. Im übrigen verläuft die Furchung vollkommen regulär: 9 mal hintereinander halbieren sich sämtliche Zellen, so daß nach ein- ander 2, 4, 8, 16 u. s. w. und zuletzt 512 Zellen gefunden werden; damit ist die eigentliche Furchung abgeschlossen, denn nach einer längeren Pause beginnt die Zellvermehrung ganz lokal am vegetativen Pole wieder, um den Urdarm zu bilden, ein Vorgang, der bereits zur Gastrulation zu rechnen ist. Die Anordnung der Furchungsebenen brauchen wir nicht im ein- zelnen zu schildern, dagegen ist hervorzuheben, daß die Teilungsprodukte nur in der Nähe des Äquators des Eies zu regelmäßigen Kränzen gruppiert bleiben, gegen die Pole hin aber sich mehr und mehr ver- ! Entwickelungsgeschichte der Asterina gibbosa FORBES, in Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie XXXVIH. Band 1882, 98 S. 8°, mit 8 Tafeln und 12 Holzschnitten. ? Die Keimblätter der Echinodermen. Mit 6 Tafeln in Farbendruck. Wies- baden, Kreidel’s Verlag, 1885. 34 Seiten gr. 4°. (Zweites Heft von: Studien über Entwickelungsgeschichte der Tiere von Dr. Emil Selenka.) Wissenschaftliche Rundschau. 459 schieben, neue engere Kränze bilden und so endlich den Verschluß der an den Polen längere Zeit sich erhaltenden Öffnungen bewerkstelligen. Dadurch wird das Ei zu einer runden oder schwach verlängerten Blastula mit weiter Furchungshöhle. — Jede einzelne Zelle nimmt bei Beginn einer neuen Furchungsphase (von außen gesehen) Nierenform an, indem die Furchungsrinne zuerst von der peripherischen Fläche aus einschneidet; dann zerfällt sie in ihre beiden Tochterzellen, die zunächst, gleichsam in tonischem Zustande, genau kugelig oder ellipsoidisch bleiben und sich mit ihren Nachbarinnen nur in Punkten berühren, so daß man durch die weiten Lücken zwischen ihnen in die Furchungshöhle hineinsehen kann. Nach einigen Minuten aber läßt dieser Tonus nach, die erschlaffen- den Zellen legen sich mit breiten Flächen aneinander und werden un- regelmäßig polygonal, und der Gesamtumriß des Eies erscheint, so lange der Kollaps andauert, ziemlich glatt. Von den bei Echiniden (Strongylocentrotus lividus, Sphaerechinus granularis und Echinus microtuberculatus) beobachteten Besonderheiten ver- - dienen folgende erwähnt zu werden. Bei Sfr. lividus ist die Eiaxe schon am unreifen Ei dadurch ausgeprägt, dass nur die eine, dem späteren vegetativen Pol entsprechende Hälfte schwach pigmentiert ist. Diese Axe fällt mit der Längsaxe der Gastrula zusammen. Die Furchung verläuft, obwohl die ersten zwei und ebenso noch die ersten vier Blastomeren gleich groß sind, von da an doch ziemlich unregelmäßig; auch bleiben die rings um den animalen Pol gelegenen beiden kleinen Zellenkreise nach den ersten 4—5 Furchungsphasen für längere Zeit von der Weiter- furchung ausgeschlossen. In der etwas größeren hinteren Hälfte des Eies zeigt sich schon, wenn sie erst aus 8 Zellen besteht, eine entschie- dene Lateralsymmetrie, die wahrscheinlich mit derjenigen der Larve zu- sammenfällt: nur 4 rundliche Zellen umgeben den vegetativen Pol, die 4 andern sind paarweise als schmale Keile nach rechts und links gedrängt; doch wird diese frühzeitige Ausprägung der Hauptebenen des Körpers später durch unregelmäbßige Verschiebung der lebhaft sich vermehrenden Zellen fast völlig wieder verwischt. Gegen Ende der Furchung, welche mit ungefähr 300 Zellen abschließt, gleicht sich sogar der Gröben- unterschied der kleinen Scheitelzellen am animalen Pole aus. Die nicht ganz vollständigen Beobachtungen an Ophiuriden (Ophioglypha lacertosa und Ophiothrix alopecurus) lassen einen Umstand deutlich hervortreten, der wohl bei allen Echinodermen wirksam ist, aber nirgends. so auffällig zu werden scheint. Das Ei ist nämlich vor der Be- fruchtung von einem dicken Gallertmantel (Zona pellueida) umgeben; gleich nach der Befruchtung aber tritt zwischen beiden eine vom Ei aus- geschiedene helle Protoplasmaschicht auf, die sich bald oberflächlich mit einer Dotterhaut bekleidet und unter gleichzeitigem Schwund des Gallert- mantels bis zu dessen Umfang heranwächst. Im Laufe der Furchung nun >bleibt zwar ein Teil dieser Protoplasmaschicht peripherisch liegen, ein anderer Teil aber umfließt bei jeder neuen Furchungsphase die Tochterzellen vollständig, gelangt auf diese Weise schließlich in die Furchungshöhle und bildet hier den ‚Gallertkern‘ Hexsen’s«, dessen zähflüssige Beschaffenheit später den Mesenchymzellen ermöglicht, mit 460 Wissenschaftliche Rundschau. verästelten Fortsätzen darin herumzukriechen. Aber noch eine andere Bedeutung scheint diese Protoplasmaschicht zu haben. Einmal nämlich bedingt sie, daß die Furchungszellen jeweils nach erfolgtem Kollaps nicht mit gerundeten Flächen unmittelbar zusammenstoßen, sondern in dem sie trennenden Protoplasma gleichsam suspendiert bleiben und mit höckerigen geraden Flächen gegeneinander sehen, als ob sie soeben mit schartigem Messer auseinander geschnitten worden wären; und zweitens mag sie wohl durch ihre Zähigkeit die höchst eigentümliche Abweichung veranlassen, daß die Teilungsprodukte jedes der ersten beiden Segmente nicht neben einander, sondern kreuzweise einander gegenüber zu liegen kommen, so als ob sich das eine Segment vor der Teilung um 90° ge- dreht und seine Hälften dann sich zwischen diejenigen des andern ein- gekeilt hätten, welcher Vorgang jedoch ganz allmählich während der Teil- ung stattfindet und augenscheinlich darauf beruht, daß der zähe Proto- plasmamantel die Furchungskugeln auf möglichst engen Raum zusammen- drängt. Dadurch erhält aber auch die von jetzt an bleibende Längsaxe des Eies eine bedeutende Neigung zur früheren. Eigentümlich ist, daß dann doch gegen Ende der Furchung die noch allseitig von jenem Proto- plasma umhüllten Segmente im stande sind, durch dasselbe hindurch Ausläufer zu treiben, welche als schwingende Cilien oberflächlich her- vortreten. Hier schließen sich Lupwıg’s Beobachtungen an Asterina gibbosa an, welche darthun, daß die Furchung der Seesterne im wesentlichen genau so verläuft wie die der Ophiuriden und daß namentlich die eben beschriebene kreuzweise Lagerung der 4 ersten Zellen auch hier wieder- kehrt, und offenbar aus demselben Grunde. Lunpwiıc freilich erklärt die Substanz, welche zuletzt die Furchungshöhle erfüllt und welche (nach SELENKA) von dem anfangs oberflächlich gelegenen zähen Protoplasma abstammt, für eine Flüssigkeit, der man keinesfalls eine gallertige Kon- sistenz zuschreiben dürfe; doch scheinen uns in diesem Punkte die ein- gehenderen Untersuchungen SELENKA’s mehr Beachtung zu verdienen. Das Mesenchym. Schon längst ist bekannt, daß sich bei Be- ginn der Gastrulation des Echinoderms verästelte Wanderzellen von der Innenseite insbesondere jener Partie der Blastula abschnüren, welche sich zu gleicher Zeit oder bald darauf zur Bildung des Hypoblasts einstülpt — Wanderzellen, die unter lebhafter Vermehrung die Furchungshöhle durch- setzen und das Bindegewebe, die Stützgebilde und einen Teil der Mus- kulatur der Larve liefern. Ob auch von der übrigen Innenfläche der Blastula solche Zellen hervorknospen oder ob dieselben sämtlich von zwei am vegetativen Pol gelegenen lateral-symmetrischen Bildungsherden abstammen, wie SELENKA schon 1879 für die Echiniden behauptet hatte, blieb noch unentschieden. Jetzt vermag er nicht bloß diese Angabe, sondern auch die 1880 von HarscHek gemachte Entdeckung zu bestätigen, dab die gesamten Wanderzellen auf zwei »Urzellen des Mesenchyms« zurückzuführen sind. Dieselben werden sichtbar, nachdem mit Abschluß der Furchung die Zellvermehrung für einige Zeit stillgestanden und das Blastoderm gegen den animalen Pol hin sich etwas verdünnt, gegen den vegetativen sich etwas verdickt sowie eine gleichförmige Bewimperung Wissenschaftliche Rundschau. 461 erhalten hat: nun entsteht nämlich genau am unteren Pol eine trichter- artige Einsenkung von der Furchungshöhle her in die Dicke der Blasto- dermwand hinein, indem eben einfach zwei rechts und links von der Median- ebene gelegene Zellen sich verkürzen und verdicken. Diese vermehren sich rasch, jedoch nur in einer Richtung, so nämlich, daß zwei wieder beiderseits der Mediane verlaufende, aus drei, vier und endlich fünf Paaren solcher Zellen bestehende Mesenchymstreifen in das Blastoderm eingeschoben erscheinen. Kurze Zeit darauf aber beginnt eine regellose Vermehrung derselben und sie rücken wie es scheint ‚sämtlich ins Innere hinein, end die benachbarten Blastodermzellen von beiden Seiten her nachdrängen und die Lücke sofort verschließen. Diese An- gaben stützen sich zunächst nur auf das Verhalten mehrerer Echiniden, ganz gleich ist aber auch das der Ophiuriden, während die Holothuriden eine bedeutende Verspätung der Mesenchymanlage zeigen: erst wenn der Urdarm vollständig eingestülpt ist, erscheinen auf seinem oberen blinden Ende zwei vorspringende Zellen, welche sich bald davon ablösen und wohl erst mehrere Stunden später sich zu vermehren beginnen. Was die histologische Differenzierung dieser Mesenchymzellen betrifft, so vermag SELENKA seine früheren Mitteilungen über Echiniden jetzt auch an Holothuriden durchaus zu bestätigen: sie bilden zweierlei Gewebe, nämlich 1) das Bindegewebe nebst skeletogenen Zellen und 2) von Muskulatur bloß den Ringmuskelbeleg des Vorderdarms. Letzteres geschieht, indem solche amöboide Zellen durch ihre pseudopodienartigen Ausläufer mit dem Vorderdarm in Kontakt treten, seiner Außenwand sich fest anlegen und rechtwinkelig zu seiner Längsachse zu einer (geschlos- senen?) Ringfaser auswachsen, deren Kern peripherisch liegen bleibt. Vereinzelte Zellen spannen sich zwischen Ektoderm und Larvendarm, Steinkanal etc. aus und fungieren als provisorische Suspensorien und Muskeln dieser Organe. Weitaus die Mehrzahl aber wird zur Bindesub- stanz: teils legen sie sich dem Ektoderm von innen an und liefern die Cutis, teils treten sie rechts und links vom Enddarm zu zwei, dann drei Zellgruppen zusammen, welche als Bildungsherde der Kalkkugeln und -Rädchen dienen, teils endlich wird der Steinkanal ringartig von ihnen umwachsen und sein Kalkskelett abgelagert; später werden auch die Tentakelanlagen des Wassergefäßsystems von einer einschichtigen Lage solcher Zellen überzogen. Der einfacheren Darstellung halber berücksichtigen wir auch im folgenden zunächst nur die SrrznkA’sche Arbeit, um später im Zusam- menhang auf diejenige Lupwıe’s zurückzukommen. — In betreff der Ent- stehung des Wassergefäßsystems und der Leibeshöhlensäcke — »Vaso- peritonealblase« oder Vasocoelomsack (noch besser »Hydrocoel« nach Lupwıs) und »Peritonealblasender Kern der Gedanken der Mechanik sich fast durchaus an der Untersuchung sehr einfacher besonderer Fälle mechanischer Vorgänge entwickelt«. Das richtige Wort für die Kenn- zeichnung dieser Methode der Darstellung und Unterweisung ist genetisch. Denn für den denkenden Leser, welcher Schritt für Schritt dem Autor folgt, entsteht aus dem einfachen Fall nach und nach vollkommen unge- Litteratur und Kritik. 469 zwungen eine lange Reihe von immer verwickelteren Fällen und zugleich wächst von Fall zu Fall die Überzeugung von der Unzulässigkeit des einen, der Zulässigkeit des anderen Erklärungsprinzips. Dabei wird der von den großen Forschern, deren Reihe mit Arcnımzpes beginnt, bis zur Auffindung des richtigen Prinzips eingeschlagene Weg genau beschrieben und öfters, was die Lektüre besonders anziehend macht, daneben gezeigt, wie man zu ihm hätte kürzer gelangen können. Die zahlreichen meist sehr ein- fachen Holzschnitte im Texte erläutern diese Gedankenbahnen in anschau- licher Weise, während die nicht selten der Vollständigkeit halber einge- schalteten mathematischen Formeln selbst den dieser Symbolik abholden Leser nicht abschrecken können, da er sie nur zu überspringen braucht. Die Hauptsache verliert dadurch nichts von ihrem fesselnden Reize. Erhöht wird dieser noch durch eine Fülle von eingestreuten allgemeinen Bemerkungen über Naturforschung überhaupt, welche den eigentümlichen vom Verfasser eingenommenen und von ihm als antimetaphysisch be- zeichneten Standpunkt charakterisieren. Einige Beispiele: »Die Natur- wissenschaft tritt nicht mit dem Anspruch auf, eine fertige Welt- anschauung zu sein, wohl aber mit dem Bewußtsein, an einer künftigen Weltanschauung zu arbeiten. Die höchste Philosophie des Natur- forschers besteht darin, eine unvollendete Weltanschauung zu ertragen und einer scheinbar abgeschlossenen, aber unzureichenden vorzuziehen. « »Alle Wissenschaft hat Erfahrungen zu ersetzen oder zu ersparen durch Nachbildung und Vorbildung von Thatsachen in Gedanken, welche Nach- bildungen leichter zur Hand sind als die Erfahrung selbst und dieselbe _ in mancher Beziehung vertreten können. Diese ökonomische Funk- tion der Wissenschaft« spricht sich in der Forschung wie im Unterricht überall deutlich aus. >Die Erfahrungen werden ... symbolisiert«, und zwar in den Zahlzeichen, den mathematischen Zeichen, den Noten, Schriftzeichen überhaupt. >Jeder, der den ganzen Verlauf der wissen- schaftlichen Entwickelung kennt, wird natürlich viel freier und richtiger über die Bedeutung einer gegenwärtigen wissenschaftlichen Bewegung denken, als derjenige, welcher, in seinem Urteil auf das von ihm selbst durchlebte Zeitelement beschränkt, nur die augenblickliche Bewegungsricht- ung wahrnimmt.< Und doch gehören historische Studien auf dem Gebiete der ihrer neueren Entdeckungen und Erfindungen in den verschiedensten Spezialfächern sich rühmenden modernen Naturwissenschaft, die unserer Zeit das Gepräge gab, zu den Seltenheiten. Das vorliegende Buch ist wohl geeignet, diesem Mangel abzuhelfen, und wird hoffentlich auch bei der heranwachsenden Generation die Begeisterung für das reine Forscher- tum eines STEvIn und GUERICKE, eines Huy6Hrns und NEewron aufs neue beleben, die unermeßliche Fruchtbarkeit des genetischen Verfahrens beim Lernen und Lehren, beim Untersuchen und Erkennen darthun helfen und der Selbständigkeit des Denkens neue Freunde zuführen. Jena. PREYER. A470 Litteratur und Kritik. Von Leunis’ Synopsis, ]. Teil: Zoologie, 3. gänzl. umgear- beitete Aufl. v. Prof. Dr. H. Lupwıc (Hannover, Hahn’sche Buchhandlung) ist noch am Schlusse des vorigen Jahres die zweite Hälfte des I. Bandes erschienen. Dieselbe umfaßt den Rest der Wirbeltiere, die Tunikaten und die Mollusken. Die großen Vorzüge, welche wir der ersten Hälfte dieses Bandes nachrühmen konnten (s. Kosmos XII, 399), läßt auch der vorliegende Halbband überall erkennen; die gewiß nicht leichte Auf- gabe, unter Beibehaltung der bewährten Leunis’schen Methode und Form das vielbegehrte Werk, das doch bisher vorzugsweise praktische Ziele verfolgt hatte, soweit umzugestalten, daß auch Morphologie, Physiologie und allgemeinere biologische Gesichtspunkte zu der Geltung kommen, die ihnen gegenwärtig auch in einem solchen Buche gebührt, ist trefi- lich durchgeführt und wir können dasselbe somit nur aufs wärmste empfehlen. Freilich stimmen wir ganz dem Verfasser bei, wenn er im Vorwort meint, es wolle ihm jetzt allerdings bedünken, als sei er in der Beschränkung des Stoffes manchmal (namentlich im allgemeinen Teile) zu weit gegangen; allein so lange in höheren wie in niederen Schulen die Lehrpläne noch vorschreiben, daß Zoologie und Botanik durchaus als »beschreibende« Fächer im alten Sinne betrieben werden, mag wohl die Mehrzahl derer, für die das Buch eigentlich bestimmt ist, mit Recht anderer Meinung sein. Die Paläontologie hat wenigstens insofern größere Berücksichtigung gefunden, als die ausgestorbenen Ordnungen der Rep- tilien, Ganoiden und Üephalopoden je in einem besonderen kurzen Ab- schnitt besprochen werden. Daß die Systematik überall auf dem neue- sten Standpunkt steht, braucht kaum hervorgehoben zu werden. Das alphabetische Register ist fast ausschließlich Namenregister; die Stich- wörter für so viele anatomische und entwickelungsgeschichtliche Bezeich- nungen wären aber gewiß den meisten Lesern sehr willkommen gewesen. In Kürze sei hier noch auf eine Anzahl neuerer litterarischer Er- scheinungen hingewiesen, die für unsere Leser von besonderem Interesse sein dürften und die wir zum Teil später noch eingehend zu besprechen gedenken. Von Darwın’s unsterblichem Hauptwerk, der »Entstehung der Arten,« ist soeben eine siebente deutsche Ausgabe von Prof. J. V. Carus erschienen, die als »nach der letzten englischen Auflage wiederholt durchgesehen« bezeichnet wird. Daß dies in der That zum wesentlichen Vorteil des Buches durchweg mit Sorgfalt geschehen ist, können wir auf Grund vielfacher Vergleichung früherer Ausgaben mit Vergnügen be- stätigen. Auch die Ausstattung verdient alles Lob: das Papier ist feiner, der Druck erscheint, obwohl in etwas kleineren Typen ausgeführt, doch erheblich klarer und angenehmer lesbar, und als passende Zierde ist dem Buche ein neues Bild seines Urhebers in Photographiedruck beigegeben, das ihn stehend, in Hut und weitem Mantel zeigt, wie er, an eine mit wildem Wein umsponnene Säule seines Gartens in Down gelehnt, sinnend in die Ferne blickt — unstreitig die ansprechendste Darstellung unseres verehrten Meisters, die uns bisher zu Gesicht ge- kommen ist. Litteratur und Kritik. 471 Dr. L. RagenHorsr’s Kryptogamen-Flora von Deutschland, Österreich und der Schweiz, I. Band: Pilze, von Dr. G. Winter. Leipzig, Verlag von Ed. Kummer. Von diesem verdienstvollen Werke, dem wir schon früher eine Besprechung gewidmet (Bd. XII, S. 471), ist die erste Abteilung, enthaltend die Schizomyceten, Saccharomyceten und Basidiomyceten, mit der 13. Lieferung zum Abschluß gekommen. Der Preis dieses 924 S. starken, mit 1240 Abbildungen geschmückten Buches beträgt M. 31,20. Für die zweite Abteilung, die in ca. 17 weiteren Lieferungen bis Ende 1886 beendigt sein soll, sind zur Bearbeitung der Discomyceten Dr. H. Reum, der Oomyceten Prof. Dr. A. pe Bary ge- wonnen worden. Nach Schluß des Werkes kommen wir ausführlicher darauf zurück. Zugleich kündigt die Verlagshandlung an, daß als III. Band der »Kryptogamenflora« die »Farnpflanzen oder Gefäßbündelkryptogamen (Pteridophyta)«, bearbeitet von Dr. Cmur. LuErssen in Leipzig, demnächst erscheinen werden, in ca. 4 Lieferungen zu M. 2,40. Mit Befriedigung ci- tieren wir aus dem Prospekt folgende Stelle: »Verf. wird diese Pflanzen- gruppe im Lichte der neueren Morphologie vorführen, die Diagnosen und Beschreibungen ausführlicher und unter Aufnahme von weiteren Momenten geben, als sonst in floristischen Werken üblich ist. Es leitete ihn dabei einmal die Erfahrung, daß Anfänger — und auch solchen soll ja das Werk in erster Linie ein Führer in das Studium der »Gefäbkryptogamen« sein — beim Gebrauch der kurzen, nur ein oder wenige Merkmale her- vorhebenden Diagnosen der Floren nur zu häufig in den Gedanken sich einleben, als hätten sie nun alle Charaktere der Pflanze erschöpft ; zwei- tens beabsichtigte er, durch so mancherlei auf den ersten Blick vielleicht als überflüssig erscheinende Bemerkungen auch denjenigen, die bereits Artenkenntnis besitzen, Anregung zu weiterem Beobachten der Arten nach jeder Richtung hin zu geben.« Im Hinblick auf die treffliche Aus- führung ähnlicher Bestrebungen, wie sie Verf. früher schon geboten hat (wir machen ganz besonders auf die viel zu wenig verbreiteten AuErs- WALD-LUERSSEN’ schen »Botanischen Unterhaltungen« aufmerksam), dürfen wir mit Bestimmtheit eine höchst anregende und verdienstvolle Arbeit erwarten. Prof. G. Jäger’s »Entdeckung der Seele« (Leipzig, E. Günther’s Verlag) ist in der eben erscheinenden dritten Auflage auf zwei Bände er- weitert, indem außer zahlreichen Zusätzen zu den früheren Kapiteln namentlich noch die neueren und neuesten Entdeckungen des Verf. hin- zugekommen sind. Die vom Il. Bd. vorliegenden Lieferungen besprechen: Die Neuralanalyse, wobei speziell auch auf die homöopathischen Verdün- nungen eingegangen wird, mit einem Nachtrag über das verbesserte Hipp- sche Chronoskop, dann »Seele und Geist im Sprachgebrauch«, endlich ganz besonders ausführlich »Die Seele der Landwirtschaft«< auf Grund zahlreicher Kulturversuche. Man darf auf den Abschluß des Werkes mit Recht gespannt sein. I 472 Berichtigung. Berichtigung. Um sie mit der neuesten systematischen Anordnung der amerika- nischen Marantaceen! in Einklang zu bringen, bedürfen die nach Expv- LICHER'S Genera plantarum bestimmten Gattungsnamen der Arten, deren Früchte ich im Kosmos (Bd. XIII S. 277) besprach, meist einer Änderung. 1. (» Phrynium«) ist eine Calathea. ku 2. (»Thalia«) ist ein Ischnosiphon, dessen abfallende Deckblätter jedoch nicht zu Eıcrver’s Diagnose passen. 3. (»Maranta«) ist eine Maranta auch in Eıcnver’s Sinne, Dagegen ist die beiläufig erwähnte zweite Maranta-Art eine Stromanthe. 4. (»Marantacee mit weißgestreiften Blättern aus dem Affenwinkel«) ist eine Ötenanthe; doch paßt auf sie nicht die »sehr kurze, weite Blu- menröhre« der Eıcnter’schen Diagnose. Blumenau, 28./3. 1884. Fertz MüLver. ‘A. W. Eichler, Beiträge zur Morphologie und Systematik der Maran- taceen. Berlin, 1884. Empfangsbestätigung. Infolge des seiner Zeit hier veröffentlichten Aufrufs (s. oben $. 161) sind uns für die »Hermann-Müller-Stift ung« bisher nachstehend verzeichnete Beiträge (sämtlich aus Dresden) zugegangen : M. Pf.| MP Dr. Ebert ! = lRunsold: ae ar 2 H. Engelhardt . oe elanı N Flamant . ee Wnrlen., u a —= Voss SEOSEHPEND I nKllette,. Na A. Kayser-Langerhanss . . 3. —.|B. Vetter . 6. — OÖ. Friedrich i +1. —. ON SRhüme 5. Is — Cl. König 2.. aM. Mlings. Bu Dr..ChHA,2 2. —. Dr. Raspe 2. — A. Thümer . 2.==,1 Summe SE Indem wir den verehrten Gebern hiermit unsern aufrichtigsten Dank aussprechen, bitten wir alle Leser des »Kosmos« nochmals um recht leb- hafte Beteiligung an dem edlen Werke. Die Redaktion. Ausgegeben den 25. Juni 1884. 1 a j j i h R I j s) ” N j y | PA l fi a N h r DER 1 a ) j u i j [It — B 2 > % y A $ , { ’ . D _— u = j 27 Pr = y 1 ei a3 I TUE - . 5 DB B Be U 5 Ya! A vv ’ DIRT uw . 5 L R Aa, u D Bub % . pas m 2 4 Sa N Du; j s Er ta 1 @ = j | Ze [ r r zus N an u Ber u a u I (= Mr 5 ul, 3 9088 00876 3930