285 1 0 e 1555 1119 Are, i Ha I | Br n NIE 15 0 47.1 Mike 5 . 1 5 Werle nr 5 4 SR 25 Dr 1 a } 5 1 12 167 ae N } PATE f Kari) HER de VVV 67 9 105 a 77 Zu 9 ** RR 5 N 4 I EN ARE 9 PUR) Ae N 15 1 2 B ————— Impavidi progrediamur! Kosmos. Zeilſchriſt | für einheitliche Weltanfchauung auf Grund der Entwicklungslehre | in Verbindung | mit Charles Darwin und Ernſt Kacckel ſowie einer Reihe hervorragender Forſcher auf den Gebieten des Darwinismus | herausgegeben von | Dr. Ernf Krauſe. (Carus Sterne) (Berlin). III. Jahrgang. April bis September 1879. „ pe, Ernſt Günther's Verlag (Karl Alberts). N 5 ER 4% 4 vun ih 2 7 * Verzeichniß der Mitarbeiter am fünften Bande des Kosmos. e Joh. H. Becker (196— 211, 278—293). — Dr. A. Dodel-Port3(182— 190), Dr. Carl du Prel (39 — 52, 109— 126). — Prof. Dr. S. Günther (82, 141149, 371-375, 400 402, 478479). — Prof. Ernſt Haeckel (348.— 356). — Th. v. Heldreich (460 — 461). — Prof. Al. Herzen (8389). — Dr. Fr. Hilgendorf (10— 22, 90-99). — Prof. Dr. R. Hörnes (256 — 266). — Dr. E. Krauſe (319—324, 439453). — Dr. Otto Kuntze (172181). — O. C. Marſh (432 438). — Dr. C. Mehlis (74 80, 357-365, 466-475). — Dr. Fritz Müller (100— 108). — Dr. Herm. Müller (23-38, 149—157, 308—319, 402 - 404, 422— 431), — Henry Potonié (366-370). — Prof. Dr. Fritz Schultze (1—9, 245—255, 325— 347, 409 — 421). — Theod. Vuy (165 171).— Dr. D. F. Weinland (191— 195, 296 — 300). — Dr. L. Wittmack (267-277). — J. E. Zilliken (135-137, 379—385). 9 er * PL? e Erz. wur . ee man aa „ * ie * 2 nt: 28 f * 1 1 * „De * — * Mr 1 y N half Wade .e- Ku, 8 WR: u oa e Ale . e ah EL? ort en See un) 117545 A 185 5 * ko, N 2 i * 8 A 1 \ 3 IE 93 5 hy 28 10 . u DE 10 1 ö > 4 . ein ; ung” 75 * x 7 . end. e RR 1 BEN WR Ak a m 0 25 m u HR 1.105 0 eee, enen J. 1 an 14 k + up Dh Manig, Hie 5 8 sh A +) Pr N 1 5 x \ ı fi f SE TEN Wee nne . l Br 11 N 1 ar“ ** ri N n N ein N e Bar aa e . s i N * na’ * 1 „ Nee ane * N ! 1 f * 5 1 * 75 a7 3 4 ER Een 5 ’ u ME RT INN Tr Pl: De ek Eur eng 4 * * 0 A BR FRE * a a 3 * \ Mana) | r 7 ei 9 a 0 1 d 5 * 4 ; ’ 2 u per: Ar * e N Inhalt des fünften Bandes. Die Naturwiſſenſchaften im Mittelalter. Von Prof. Dr. Fritz Schultze Seite 1 Zur Streitfrage des Planorbis multiformis. Von Dr. F. Hilgendorf 10, 90 Samuel Butler's Gedanken über die Rolle der Gedächtniß - 1 in der Entwicklungsgeſchichte. Von Dr. H. Müller Die Lyrik als paläontologiſche Weltanſchauung. Von C. du Prel. Ra Phyſiologie und Pſychologie. Eine kritiſche Studie von Prof. Alex. Herzen Ituna und Thyridia. Ein merkwürdiges Beiſpiel von Mimiery bei Schmet— terlingen. (Mit Illuſtrationen.) Von Dr. Fr. Müller. 5 Zur Würdigung erſchütterter Autoritäten. Eine 5 über die Er⸗ ziehung der Zukunft. Von Th. Buy . Au Wie bildeten fich die Urgeſteine? Von Dr. Otto un e Infuſorien als Befruchtungsvermittler bei Florideen. Ein Beitrag zur Kennt⸗ niß der Wechſelbeziehungen zwiſchen Pflanzen- und Thierwelt. Mit Illuſtrationen.) Von Dr. Dodel-Bort . 4 Zur Bevölkerungsſtatiſtik im Thierreich. Von Dr. F. W Der Schlangenmythus. Von Joh. H. Becker .. e LI 23 109 83 100 165 172 182 191 278 Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. Von Prof. Dr. Fr. Schultz e 245,325, 409 Die Veränderungen der Organismen als geologiſches Zeitmaß. Von Prof. Dr. R. Hörnes 5 ee eee TER RT Die Marcgraviaceen und ihre 1 (Mit Illuſtr.) Von Dr. L. Wittmack Ueber die Stammesverwandtſchaft zwiſchen Schirm- und Kammquallen, begründet durch eine neue Uebergangsform zwiſchen beiden. (Mit Illuſtrationen.) Von Prof. E. Haeckel. g Das Grabhügelfeld bei Hagenau und feine Oedeutung für bie Eirgeſchichte (Mit Illuſtrationen.) Von Dr. C. Mehlis Alex. Braun's Stellung zur Descendenz-Theorie. Ein Beitrag a Ge⸗ ſchichte der Entwickelungslehre. Von Henry Potonié N 256 267 — — VI Inhalt. Bombus mastrucatus. Ein Dysteleolog unter den alpinen Blumenbeſuchern. Von Dr. H. Müllen 66% RE 0. 5.408 Mehrzehige Pferde der Vorzeit und Jetztwelt. (hit ie Bon De, Marth 432 Lord Monboddo und ſein bi über den pam de nad, Bon Eruſt Krauſe ; 9 Kleinere Mitheilungen und Journalſchau. Das Vorkommen gediegener Eiſenmaſſen an der Erdoberfläche. .. 53 Die Verbreitungsmittel wer Palmen Eee Die Urtypen der Inſekten .. , ee e Schützende Färbung und e 5 Thiere e eee Ueber die ſyſtematiſche Stellung des Ai und Aye-Ahu:i ee... 63 Die Farbſtoffe des Menſchen⸗ Haares: Es er Eine wiederentdeckte antike Techn BIN Geographie und Geologie nne “ ]]]! 8 Der polare Urſprung des Leben? .. TER eee Die Bewegungen der Oscillarien und ien . eee Eine neue Rieſenpflanze. (Mit Illuſtrationen.) Von J. E. Zilliken .. 135 Neuaufgefundene juraſſiſche Reptile Nordamerikas s 137 Eine prähiſtoriſche Fabrikß-Markee un ele ee Die Neubildungen in der Nähe des Hyginus a Ber) Monde Hu e Fernere Verſuche über die künſtliche Darſtellung der Feldſpathe .... 215 Merkwürdige Umwandlung von Maispflanzen bei pflanzlicher Be: 220215 Von Luft lebende Thiere .. eee 4 217 Gab es ſchon während der Steinkohlenzeit Sah ele „ Se e Das Hautſkelet der Ganoiden Lepidosteus und Polypteruns . 219 Die Lage des Gartens Eden. „ Ka AR 220 Der locale Charakter der ſogenannten Eis a e here Flechten, Pilze und Algen. Von Dr. F. D. Weinlandz. 296 85 Befruchtung der Priea Sarnsgsgs. ö?ÄÄ! Neue Reptile vom Kaplande . .. 301 Ueber das europäiſche Wildpferd Da 9 Solche MS ame 4 Pferde n l 01 Neue Ausgrabungen Stier 8 45 este 305 Die Vorgeſchichte der Entdeckung der Marskrabanten. Von Prof. S ‚Günther 371 Die Eiszeit-Spuren in den Rüdersdorfer Kalkbergen . N 375 Die Gattung Nepenthes und die geographiſche Verbreitung der Pflanzen im | = papuaniſch-malayiſchen Archipel. Von J. E. Billifen . . . . . . 379 Inhalt. J. Barrande's Cephalopoden-Studien und ſeine Einwände gegen die Ent— wickelungslehre A LEER, Die Entwickelungsgeſchichte des Spb piſch See Käfers { Ueber die Entſtehung der Wirbelformen der Vögel. Prof. Virchow's Bericht über die Ausgrabungen zu Troja Gebrauch einzelner Rieſentöpfe zum Kochen . BR! Die Oberfläche des Mars .. . Verſuche über die Bildung der . 7 Inſektenfreſſende Pflanzen in Griechenland. Von Th. v. deldeig Der angebliche Steinkohlenzeit-Schmetterling . a ; Das Kupfer im thieriſchen Körper . Die Abſtammung der Säugethiere . Al. Herzen's phyſiſches Geſetz des Bewußtſeins Vom X. Anthropologen-Tage. Von Dr. C. Mehlis Die Symbolik der langen Nägel N en Die Steinbilder der Oſterinſel Literatur und Kritik. Eneyklopädie der Naturwiſſenſchaften HER Lenormant, Fr., Die Magie und wenden vu Chaldäer. (Von Dr. C. Mehlis.) Dieterici, Dr. Fr., Der Warthints m im 1 ht neunzehnten Jahrhundert Wilckens, Dr. M., Kunſt und Wiſſenſchaft in der Landwirthſchaft Werther, C. A., Die Geſetze der Anfangsgeſchwindigkeit in den e der Weltkörper. (Von Dr. S. Günther.) . 5 ; Helmholtz, Dr. H., Die Thatſachen in der eee 1055 Krauſe, Alb., Kant und Helmholtz über den Urſprung und die Bedeutung der ee ee (Von Prof. S. Günther.) Taylor, J. E., Ueber Blumen, ihren Urſprung, ihre Geſtalt, Geruch 18 Farben. (Von Dr. H. Müller.). 5 Cohn, Alb., und Mehlis, Dr. C., Materialien = Vyrgeſchichte des Men- ſchen im öſtlichen Europa . Müller, Dr. H., Die Hypotheſe in der er u der i Unterricht in der Realſchule zu Lippſtadt ; Haeckel, Ernſt, Geſammelte Vorträge aus dem Gebiet der e gelehre Dreher, Dr. E., Die Kunſt in ihrer Beziehung zur Pſychologie und zur Naturwiſſenſchaft e ur Mädler, Dr. J. H. v., Der Wunderbau des Weltalls a aul 5 u. Klinkerfues, Dr. W., Die Prinzipien der Spektral-Analyſe 8 WIII Inhalt. Vogt, J. G., Die Kraft. Eine real-moniſtiſche Weltanſchauung Heim, Alb., Ueber Stauung und Faltung der Erdrinde Strümpell, L., Die Geiſteskräfte der Menſchen verglichen mit denen 5 Thiere 5 15 Teleologie und Darwinismus „. ARE Sc, Jeſſen, C. F. W., Deutſche Excurſions-Flora Worm ball, 3 J., Hesperien. Zur Löſung des 1 ihn alles der alten Welt 8 g een Beſſer, L., Der Menſch und ſeine Ideale Pfaff, Fr., Die Naturkräfte in den Alpen . Goethe's Werke. XXIII. XXXV. Theil Griesbach, H., Zum Studium der modernen Zoologie . 15 Grant, Der Farbenſinn, ſein 7 und ſeine eum (Bon r. Herm. Müller.) tee 5 über Ideen-Adoptiv-Väter. (Von 1 €. Krauf EN) 8 Caspari, O., Die 1 der e 5 Bio. S. Günther) ; HER, Koelreuter und 8 Bon Dr. 8. Müller 5 Kuhl, J., Die Descendenzlehre und der neue Glaube Haeckel, Ernſt, Natürliche Schöpfungsgeſchichte 5 Stern, M. L., Die Philoſophie und Anthropogenie des Prof. Dr; E. daetel Reeß, Prof. Dr. M., Ueber die Natur der Flechten 5 5 Ranke, Joh., Das Blut R L e Sid Brocard, M. H., Essai sur la 11 8000 108d de Kerle 2 Prof. S. Günther) . Butler, Sam., Dee 01a 5 on or 115 ee of Button, Dr. Erasm. Dar win and Lamarck compared with that of Ch. Darwin, Stanley, Henry M., Through the Dark Continent. Copyright edition. Four volumes with map of the author's route, copious appendix and index Faulmann, Karl, Iluſtrirte Geſchichte Bei Schrift Ride Huxley, Thomas H., In Amerika gehaltene wiſſenſchaftliche Vorträge Parker, W. K., und Bettany, G. T., Die Morphologie des Schädels Die Aaturwilſenſchakten im Mittelalter. Von Prof. Dr. Fritz Schultze. 2 0 S theuer ſchätzen, war dem Mittel⸗ alter gänzlich abhanden gefom- men: Die Begeiſterung und der Trieb für die Kenntniß und Erforſchung der Natur. Und es liegt ja auf der Hand, daß da, wo die materielle Welt als das Sündige und Fluchbeladene, als das zu Ueberwindende und Nichtſeinſollende erſcheint, wo das Jen— ſeits das allein zu Erſtrebende und die kirchliche Theologie die ausſchließliche Herr— ſcherin über die Geiſter iſt, Verachtung gegen die Natur und gänzliche Abwendung von ihr eintreten mußte. Aber durch dieſe feind— liche Gleichgültigkeit gegen die Natur wurde dem menſchlichen Geiſte der beſte Prüfſtein und der richtigſte Maßſtab, den es für die Wahrheit des Denkens überhaupt giebt, vollſtändig geraubt. Denn in demſelben Maße, als ſich die menſchliche Vernunft nicht um die objektive Wirklichkeit beküm⸗ mert, wird ſie ſtets ſich in ihren ſubjektiven Kosmos, III. Jahrg. Heft 1. Phantaſtereien verlieren und dieſe bis ins Unendliche potenziren: „Aus ihrem heißen Kopfe nimmt ſie keck Der Dinge Maß, die nur ſich ſelber richten. Gleich heißt ihr alles ſchändlich oder würdig, Bös oder gut — und was die Einbildung Phantaſtiſch ſchleppt in dieſen dunklen Raum, Das bürdet ſie den Sachen auf und Weſen. Eng iſt die Welt und das Gehirn iſt weit. Leicht bei einander wohnen die Gedanken, Doch hart im Raume ſtoßen ſich die Sachen.“ Die ſtarre Objektivität der Dinge iſt das beſte Heilmittel für den gefährlichen Ueberſchwang des in ſich ſelbſt befangenen Geiſtes; eben dies Correktiv fehlt aber dem Mittelalter, und ſo kommt es denn, daß die Phantaſie jener Zeit nicht blos über das Jenſeits, ſondern erſt recht über das Dieſſeits die abenteuerlichſten Vorſtellungen gebiert. Fabeln und Märchen bilden den Inhalt deſſen, was man ſich mit Recht ſcheut „naturwiſſenſchaftliche Kenntniſſe“ zu nennen. Die Natur wird genau wieder ſo betrachtet, wie es bei den Griechen vor 2 | Fritz Schultze, Die Naturwiſſenſchaften im Mittelalter. dem Auftreten der griechiſchen Naturphilo— ſophie der Fall war; Naturgeiſter ſind es, die in jeder Naturerſcheinung walten und dieſelbe als deren Cauſalität hervorbringen: dort ſind es Götter, Halbgötter, Nymphen, Dryaden, Oreaden und ſonſtige Dämonen; hier ſind es Gnomen, Kobolde, Nixen, Elfen, Feen, und nicht im geringſten Maße überhaupt der Teufel mit ſeinen Scharen, welche als die wahren hervorbringenden Ur— ſachen der meiſten unverſtandenen und eben deshalb, da ja Unkenntniß und Grauen in gleichem Verhältniß ſtehen, grauen— vollen Naturdinge anerkannt werden. Es ſind mit einem Worte, dem transcenden— ten Geſammtcharakter des Mittelalters ge— mäß, übernatürliche Cauſalitäten, welche die Natur durchſpuken, und ſelbſt die beſten Köpfe der Zeit find in naivſter Unbefan— genheit von dieſer durch und durch geiſter— erfüllten Natur völlig überzeugt, wie es uns in dem ſich vom Mittelalter doch ſchon losringenden Fauſt entgegentritt. Wer nicht in roheſter populärer Form dieſer Er— klärung der Naturvorgänge durch Natur- geſpenſter ſich hingiebt, ſchwingt ſich höch— ſtens empor zu einer Interpretation der Natur durch platoniſche oder ariſtoteliſche Ideenlehre, womit natürlich nichts gewonnen wird, da dieſelbe in Wahrheit ja nur eine verfeinerte Form jener gewöhnlichen Poly— theologie bildet.“) Es iſt nicht unintereſſant, eine Probe ſolcher ſich auf platoniſche Ideen— lehre ſtützenden mittelalterlicher Naturwiſſen— ſchaft kennen zu lernen. Georgios Gemiſtos Plethon iſt ) Man vergleiche zum vollen Verſtänd— niß meine früheren Aufſätze im Kosmos: „Ueber das Verhältniß der griechiſchen Natur— philoſophie zur modernen Naturwiſſenſchaft,“ beſonders den vierten: „Platonismus und Darwinismus“. Kosmos, Bd. II. S. 95, 191, 295 und 397. ein ungefähr von 1355 — 1450 lebender byzantiniſcher Philoſoph, der nicht blos für ſein engeres griechiſches Vaterland, ſondern inſofern auch für die europäiſche Denk- und Culturentwickelung von Bedeutung war, als er einer der Bahnbrecher für die Zeit und den Geiſt der Renaiſſance geworden ift.*) In ſeinem philoſophiſchen Hauptwerk, von dem uns nur eine Reihe von Bruchſtücken überkommen iſt, da der Patriarch von Con— ſtantinopel, Gennadios, das ketzeriſche Buch den Flammen zu übergeben für gut befand, deſſen Inhalt doch für uns ein überaus harmloſes Geſicht zur Schau trägt — giebt er auch einen kurzen Abriß der Naturlehre im neuplatoniſchen Sinne. Er wirft die Frage auf: Wie entſtehen die irdiſchen Dinge und Weſen, die Thiere, Pflanzen u. ſ. w.? Der Urgrund für alles Seiende überhaupt ſind die überhimmliſchen Ideen, welche als Götter gefaßt werden. Aus ihnen ſind in verſchiedenen Stufen alle Dinge hervorgegangen, — die niedere immer aus der höheren — alſo im Sinne der Emanationsſyſteme, in denen in um— gekehrter Faſſung wie in den Entwickel— ungsſyſtemen das Vollkommenſte (die göttliche Ideenwelt) das erſte, das Unvoll— kommnere das Spätere der Zeit wie dem Range nach iſt. Außer der ewigen, un— gewordenen Gottheit (Zeus), der allein die erſte Ordnung aller Weſen ausmacht, giebt es nach Plethon drei aus ihm hervor— gegangene Daſeinsſtufen: 1) die über— himmliſchen Götter, d. h. die über dem als feſtes Gewölbe gedachten Fixſternhimmel ſich befindenden Götter zweiter Ordnung, ) S. Ausführlicheres über ihn in meiner „Geſchichte der Philoſophie der Renaiſſance“, Bd. I. Jena 1874: Georgios Gemiſtos Plethon und ſeine reformatoriſchen Be— ſtrebungen. is da Zeus die erſte Ordnung ausmacht; 2) die inner himmliſchen Götter, d. h. die ſich unterhalb und innerhalb des Himmels— gewölbes befindlichen Götter dritter Ord— nung; 3) die ſterblichen Weſen der Erden— welt, die beſeelte Menſchen oder un— beſeelte Weſen (Thiere, Pflanzen, Materie) ſind und die dritte Daſeinsſtufe bilden. Die über himmliſchen Ideen oder Götter zerfallen in zwei Gruppen: die Olym— pier und die Titanen; erſtere bringen das Unſterbliche in der Welt, letztere das Sterbliche in ihr hervor. Die erſten, die Olympier, ſind in drei Pentaden eingetheilt, alſo fünfzehn an Zahl; ihnen allen voran ſtehen aber noch die beiden höchſten Ideengötter als Mittel— glied zwiſchen den fünfzehn überhimmliſchen und Zeus ſelbſt: die Idee aller Ideen (Formen) und die Idee aller Ma— terie, erſtere Poſeidon, letztere Hera benannt und als „die Schöpfer der Welt“ bezeichnet. Auf dieſe beiden folgen alsdann in abwärts ſteigender Rangordnung: 1) Die erſte Fünfzahl, die Perſonifica— tion der allgemeinſten Kategorien enthaltend: Apollon — die Idee (d. i. hervorbrin- gende Urſache) der Identität, Artemis — die Idee der Verſchiedenheit, Hephaiſtos — die Idee des Stillſtandes und unveränderlichen Beharrens, Dionyſos - die Idee des aktiven Sichſelbſtbewegens, Athena —= die Idee des paſſiven Bewegtwerdens. 2) Die zweite Fünfzahl: Atlas — die Idee ſämmtlicher Geſtirne, Tithonos — die Idee der Planeten, Dione — die Idee der Fixſterne, Hermes — die Idee der irdiſchen Dämonen, Pluton — die Idee der menſchl. Seelen. Fritz Schultze, Die Naturwiſſenſchaften im Mittelalter. 3 3) Die dritte Fünfzahl: Rhea — die Idee der Elemente im Allgemeinen, Letha — die Idee des Aethers, Hekate — die Idee der Luft, Tethys — die Idee des Feuchten, Heſtia — die Idee der Erde. „Alle dieſe,“ ſagt Plethon, „haben das Amt, jede in ihrem Bezirke, die ge— ſammte bewegte, ihrer Urſache und ihrem fortwährenden, durch die Bewegung hervor— gebrachten Entſtehen nach gewordene, der Zeit nach aber ungewordene Natur unter Poſeidon's Leitung zu verwalten.“ Die zweite Gruppe der Ueber— himmliſchen, die Titanen, erzeugen die ſterblichen Weſen als deren hervor— bringende Ideen. Sie umfaſſen vorzugs— weiſe nur eine Fünfzahl, an deren Spitze ſteht Kronos — die Idee alles Sterblichen, Aphrodite — die Idee derjenigen Ewigkeit unter den ſterblichen Weſen, welche in der Aufeinanderfolge der Geſchlechter beſteht, Kora — die Idee des ſterblichen Theiles des Menſchen, Pan — die Idee der unvernünftigen Thiere, Demeter — die Idee der Pflanzen. Außer dieſen giebt es noch andere Ti— tanen, die je einen größeren oder kleineren Theil der ſterblichen Weſen hervorzubringen haben, die Plethon jedoch nicht näher bezeichnet. Die zweite Daſeinsſtufe ſetzt ſich aus den innerhimmliſchen Göttern dritter Ordnung zuſammen, als deren vorzüglichſte die Planeten wegen ihrer Beweglichkeit f gelten; unter ihnen ſtehen die Fixſterne, denen ſich endlich die Dämonen anſchließen. Unter den ſieben Planeten ſind Helios und Selene, Sonne und Mond, die vor— züglichſten, und deshalb die eigentlichen her— vorbringenden Urſachen aller irdiſchen Dinge, deren Form Helios, deren Stoff Selene hergiebt. Wie entſtehen nun die irdiſchen Dinge unter der Vorausſetzung dieſer merkwür— digen Weltanſchauung? „Dadurch, daß dieſe Planeten (beſonders alſo Sonne und Mond) in ihrem Umherſchweifen und Laufe den Weſen, auf welche ſie einwirken, ſich bald nähern, ſich bald von ihnen entfernen, ent— ſtehen eben dieſe ſterblichen Weſen, welche die Geſchöpfe jener Planeten ſind,“ lautet die gewiß erleuchtende Antwort Plethon's. Aber die eigentlichen Urſachen aller Dinge find ja die über himmliſchen Ideen; alſo können die Planeten ohne die Mitwirkung jener nichts hervorbringen, ebenſo wenig aber die Ideen ohne die Vermittelung jener Geſtirne. Die gemeinſame Arbeit vertheilt ſich demnach ſo, daß Kronos und Aphro— dite die Form und den Stoff des Sterblichen überhaupt, die übrigen Ti— | tanen (Kora, Pan, Demeter) die bes ſondere Form der einer jeden von ihnen zukommenden Klaſſe von Weſen (Menſchen, Thiere, Pflanzen) hergeben, und Helios und Selene Plethon weiß für dieſe unſere heutigen Anſichten gewiß mit ernſtlicher Concurrenz bedrohenden Naturgeſetze ſogar eine Art empiriſchen Beweiſes aufzubringen, der auf den Charakter dieſer mittelalterlichen neu— platoniſchen Naturforſchung ein eigenthüm— liches Licht wirft.“) „Angenommen, Helios allein brächte die ſterblichen Weſen hervor, ſo müßte er doch die Idee zu einem jeden ſchon gefaßt haben, d. h. in ſich tragen. Man könnte alſo meinen, dieſe Ideen hätten nicht einen ſelbſt— ) Vergl. zu dem Folg. a. a. O. S. 189 ff. Fritz Schultze, Die Naturwiſſenſchaften im Mittelalter. dann die Schöpfung vollziehen. ſtändigen Beſtand an und für ſich, ſondern beſtänden nur als Gedanken im Geiſte He— (to8’, ſowie die menſchlichen Gedanken im Geiſte des Menſchen. Wenn nun die Men— ſchen irgend ein Werk ausführen wollen, ſo müſſen ſie mit dem Bewußtſein deſſen, was ſie ausführen wollen, d. h. mit der Idee davon, daran arbeiten; nothwendig alſo müſſen ſie in unmittelbarer Nähe des zu Bearbeitenden ſein. Verlaſſen ſie ihr Werk, ſo ſchreitet daſſelbe nicht mehr vorwärts. Nun verhält ſich aber Helios unter der gemachten Annahme gerade ſo wie der ar— beitende Menſch. Hinge die Erſchaffung der ſterblichen Dinge von ihm allein ab, ſo müßten dieſelben, ſobald Helios ſich ent— fernt hätte, alſo bei Nacht, ſich nicht mehr weiter entwickeln. Indeſſen wir ſehen, daß auch bei Nacht ſehr viele Pflanzen und Früchte ſich offenbar vervollkommnen. Folg— lich kann es Helios nicht ſein, der allein ſie hervorbringt. „Man könnte einwenden: Auch wenn er entfernt ſei, bringe Helios die Dinge her— vor, nämlich durch ſein bloßes Den— ken. Indeß dieſe Kraft haben blos die über himmliſchen, rein geiſtigen Ideen, nicht ſolche Weſen, die wie Helios mit einem materiellen Körper verbunden ſind. Dieſe können nur vermittelſt des Werkzeuges ihres Körpers auf anderes wirken.“ „Man könnte zweitens einwenden, daß dieſe Dinge ſich trotz Helios' Abweſenheit doch dadurch entwickeln, daß Helios irgend einen Zuſtand in dem betreffenden Dinge zurückgelaſſen habe, wie etwa einen gewiſſen Theil Wärme, welcher nun die Entwickel— ung bewirke, ſo daß alſo doch im letzten Grunde Helios dieſe Entwickelung hervor— bringe. Indeſſen das hieße die erſte Entwickelung des Dinges nicht erklären. Denn ſollte ein ſolcher Zuſtand das Ding ſelbſt erſt hervorbringen, jo müßte, da der Zuſtand eines Dinges ja nicht für ſich, ſondern nur in und von dem Dinge be— ſtehen kann, das Ding ſchon da ſein, bevor der Zuſtand in ihm eintreten könnte.“ (Den Einwand, daß Helios ja zuerſt in ſeiner Anweſenheit das Ding ſchaffen und dar— auf einen Zuſtand in ihm erzeugen könnte, welcher auch in Helios' Abweſenheit noch fortwirkte — dieſen naheliegenden Ausweg zieht Plethon den Ideen zu Liebe gar nicht in Betracht.) „Man könnte drittens einwenden, daß die Dinge ſich durch und aus ſich ſelbſt zur Vollendung brächten. Keine Möglich— keit (Anlage) jedoch kann in Wirklichkeit übergehen, wenn ſie nicht von einer frühe— ren Wirklichkeit in Bewegung geſetzt wird. Alſo kann auch nicht das der Möglichkeit nach Vollendete zu einem der Wirklichkeit nach Vollendeten werden, wenn es nicht von einem der Wirklichkeit nach Vollendeten zur Vollendung geführt wird. Alſo ſetzt die Entwickelung des ſterblichen Dinges ein anderes Weſen voraus, welches, da es be— wieſenermaßen Helios nicht allein ſein kann, die überhimmliſchen Ideen ſein müſſen. Auch ſie können rein für ſich freilich nichts Sterb— liches ſchaffen, ſondern bedürfen dazu der Vermittelung von Helios und Selene und den übrigen Planeten. So viel iſt aber doch auch klar geworden, daß, wenn ein Ding einmal hervorgebracht iſt und eine gewiſſe Dauerhaftigkeit bekommen hat, die Ideen für ſich allein im Stande ſind, es einige Zeit hindurch, wie z. B. bei Nacht, zu erhalten und weiter zu entwickeln, wobei ohne Zweifel die höheren unter ihnen dieſe alles Irdiſche regiert (Helios), und der für ſich beſtehenden Intelligenzen (Ideen), von Bekräftigung Fähigkeit in größerem, die niederen in geringerem Maße beſitzen.“ Wenn Plethon zur dieſer offenbar in hohem Grade nach exakter . Fritz Schultze, Die Naturwiſſenſchaften im Mittelalter. 5 | Naturwiſſenſchaft ſchmeckenden Anſichten be- ſonders auf Pflanzen und Früchte hinweiſt, ſo zieht er denſelben Schluß auch aus den eigenthümlichen, wie er ſagt, vernünftigen Handlungen einiger Thiere, wie z. B. der Staatseinrichtung der Bienen, dem Haus- halte der Ameiſen oder der ſinnreichen Jagd der Spinne. „Wenn dieſe Thiere ſolches vermittelſt ihrer ſelbſteigenen Vernunft voll— brächten, ſo müßte dieſe Vernunft entweder vorzüglicher oder geringer als die menſchliche Vernunft oder aber derſelben gleich ſein.“ „Bedienten fie fi) einer vorzüglicheren Vernunft als die menſchliche iſt, ſo würden ſie in allen oder wenigſtens den meiſten Fällen beſſer handeln als die Menſchen; offen— bar aber handeln ſie in den meiſten Fällen un vollkommener als die Menſchen. Be— dienten ſie ſich einer geringeren, ſo würde nicht ein jegliches von ihnen auf ein Werk wenigſtens immer beſonders bedacht ſein und dies beinahe ſo vollendet, wie es nur mög— lich iſt, ausführen, denn es iſt doch wohl Sache einer vollendeten und ſogar höheren Vernunft als der menſchlichen, ihre Auf— merkſamkeit immer nur auf ein einziges und zwar auf das für ſie am beſten aus— führbare Werk zu richten. Bedienten ſie ſich aber einer Vernunft, die der menſch— lichen gleich wäre, ſo würden ſie weder ihre Aufmerkſamkeit ſo ausſchließlich auf ein einziges Werk richten, noch würden ſie in den meiſten Fällen unvollkommener han— deln als die Menſchen. Aber es iſt offen— bar, daß ſie ſich nicht ihrer ſelbſteigenen Vernunft bedienen, vielmehr der Vernunft der Seele dieſes unſeres Himmels, welche welchen ſie, das eine von dieſer, das andere von jener, von außen her geleitet werden, — — 7 6 Fritz Schultze, Die Naturwiſſenſchaften im Mittelalter. und welchen Intelligenzen jene Seele alle Weſen dieſer Welt anbefiehlt. Dieſer In— telligenzen bedienen ſich offenbar nicht nur jene Thiere, ſondern auch das Empfindungs— loſe, wie u. a. die Ranke des Weinſtocks oder des Kürbis. Dieſe wachſen, wenn ſich nichts in der Nähe befindet, das ſie umſchlingen können, gerade aus; wenn aber etwa ein Aſt da iſt, ſo winden ſie ſich ſo— gleich um dieſen herum. Dieſe ſelbe Seele bewirkt auch, daß der Magnet das Eiſen anzieht, und daß das Queckſilber, was man nicht erwarten ſollte, am Gold und anderen verwandten Metallen hangen bleibt. Aehn— liche Vorgänge wie dieſe werden alle durch jene Seele bewirkt, denn ſie iſt es, welche dieſes Weltall zuſammenhält, auf jeden ſeiner Theile durch ihre Kraft einwirkt und alles Uebrige in vernünftiger Weiſe geſtaltet, in— dem ſie das, was ſich befreundet iſt, ſo wie es ſein muß, vereinigt.“ Jene Thiere und ſo die anderen ſterblichen unbeſeelten Weſen werden alſo nicht durch ihre Ver— nunft (ſie haben keine ſelbſteigene) geleitet, ſondern einerſeits durch Helios, andererſeits durch die für ſich beſtehenden Ideen. So iſt es denn klar, daß die dritte Daſeinsſtufe, die des unbeſeelten Sterblichen, von Helios, Selene und den übrigen Pla— neten in Verbindung mit den überhimm— liſchen Ideen, den Titanen nämlich, geſchaf— fen wird, ſo daß alſo Kronos und Aphro— dite die Form und den Stoff überhaupt, Kora die Idee des ſterblichen Theiles des Menſchen, Pan die Idee der unvernünftigen Thiere, Demeter die der Pflanzen verleiht. Gegenüber dieſer Betrachtungsweiſe der Natur, die ebenſo phantaſtiſch als ober— flächlich iſt, gewährt es einen erfreulichen Anblick zu ſehen, wie, freilich unter den größten Schwierigkeiten und Anſtrengungen, aus dem Wuſte heraus fi) der neue Geift entfaltet, deſſen Streben auf eine wirklich objektive Erforſchung der Dinge gerichtet ift. Die Natur gilt im Mittelalter, wie wir ſagten, als das Sündige und deshalb Nicht— ſeinſollende. Aber dieſer Gedanke erfährt bereits eine Abänderung gerade durch den größten kirchlich-ſcholaſtiſchen Theologie-Phi— loſophen des 13. Jahrh., durch Thomas von Aquino, der mit Hülfe eines frei— lich vielfach mißverſtandenen Ariſtotelismus das Dogmenſyſtem der katholiſchen Kirche in einer bis heute für dieſelbe maßgebenden Weiſe ausbaut. Thomas iſt ſich ſelbſt gar nicht bewußt, daß er in ſeinem Syſtem in die Kirchenlehre einen Faktor einführt, der in Wahrheit dieſelbe zu unterminiren berufen iſt. Nach ariſtoteliſchem Muſter ſtellt er das geſammte All, das Jenſeits mit inbegriffen, als eine zuſammenhängende teleologiſche Entwickelungsreihe dar, in wel— cher das Reich der Gnade die nothwendige Fortſetzung des Reiches der Natur bildet, letzteres alſo die nothwendige Vorbedingung jenes iſt. Das Reich der Natur alſo iſt doch auch etwas Nothwendiges, etwas Gül— tiges — die Natur iſt nicht mehr ein bloßes Nichts, ſondern ſie hat eine, wenn auch nur untergeordnete, ſo doch berechtigte Stellung im All. Der Gedanke: „alſo auch die Natur hat ein Recht,“ fängt jetzt an, zwar nur erſt in vereinzelten Köpfen Feuer zu fangen, und ſo weit man auch noch entfernt iſt von dem großartigen Auf— ſchwung des 16. Jahrhunderts, ſo tritt doch ſchon hier im 13. Jahrhundert eine Erſcheinung auf, ſo vollkommen, ſo einzig— artig, ſo fertig gleichſam hervorgeſprungen aus dem Schooß der Zeit, wie Pallas aus dem Haupte des Zeus, daß man mit freu— digem Staunen dieſes glänzende Meteor begrüßt, das freilich ebenſo raſch, wie es aufglüht, auch wieder erliſcht in dem all— | |“ 83 flgde. Fritz Schultze, Die Naturwiſſenſchaften im Mittelalter. i 7 gemeinen Dunkel der Zeit. Dieſer Soli— tär feiner Zeit, wie wir ihn Schon früher nannten,“) im Uebrigen ein heftiger Gegner des Thomas von Aquino, iſt Ro- gerus Baco, geb. 1214 zu Iccheſter, geſt. ungefähr um das Jahr 1294, nicht zu verwechſeln mit dem großen Begründer des modernen Realismus, Franz Baco von Verulam, dem er doch in vieler Be— ziehung zum Verwechſeln ähnlich ſieht: der— ſelbe Name, daſſelbe Vaterland, dieſelben Pläne und Beſtrebungen, die Uebereinſtimm— ung oft ſo groß, daß man, allerdings mit Unrecht, den „zweiten“ Bacon in den Verdacht des Plagiats am „erſten“ hat bringen wollen. Die Richtung auf die Rückkehr zur Natur und ihrer Erforſchung liegt unbewußt ſchon im Geiſte der Zeit; Baco wird ſich dieſes dunkeln Strebens zuerſt bewußt, er iſt das Experiment, das die Geſchichte auf jenes Ziel hin macht, ein erſtes, welches freilich durch die Un— gunſt der Umſtände noch verunglückt. Er iſt der Krater, durch den der gewaltſam zuſammengepreßte Drang der Menſchheit nach Natur ſich mit um ſo gewaltigerer Energie Luft macht, als er der einzige Kanal iſt, durch den dieſe Flammen ſtrömen. Von der Theologie wendet ſich Baco gänzlich ab, — allein in der Philoſophie ſei die Wahrheit zu erfaſſen. Aber die Philoſophie muß eine ganz und gar reali— ſtiſche ſein, deren Streben allein auf die wirklich exiſtirenden Dinge gerichtet iſt. So tritt er ſchon in denſelben Gegenſatz zu dem mittelalterlichen Transcendentalismus wie der zweite Baco, und ebenſo wenig wie dieſer will er von den unfruchtbaren Spitz findigkeiten der mittelalterlichen Logik und ) Vergl. unſern früheren Aufſatz über Baco von Verulam, Kosmos 1878, Bd. III, der troſtloſen Oede ihrer rein formalen lateiniſchen Grammatik wiſſen. Ein aus⸗ gedehntes wirkliches Sprachſtudium dagegen weiß er nicht hoch genug zu preiſen: man lerne vor allem griechiſch, hebräiſch und arabiſch, das erſtere, um das neue Tefta- ment und die griechiſchen Philoſophen, das zweite, um das alte Teſtament im Urtext leſen zu können, damit der wahre Inhalt endlich ans Licht trete und die Fabeln zer— ſtöre, welche die Kirche für die Wahrheit ausgiebt; das letztere, damit man die großen Forſchungen und Entdeckungen der arabiſchen Gelehrten und Philoſophen ſich aneignen könne. Mathematik und Aſtronomie ſind vor Allem zu ſtudiren; nur durch Vernach— läſſigung dieſer konnte der Kalender in einen Zuſtand des Wirrwarrs hineingera— then, den man mit Scham ſehen muß. Ein beſonderes Gewicht legt er auch auf die Geographie und ſtellt unter Benutzung der Berichte, welche der Franziskaner Wilhelm Rubruck über ſeine berühmte Reiſe zum Enkel des Dſchingis Khan im 13. Jahrhundert geliefert hat, eine Art Compendium des geographiſchen Wiſſens in ſeinem Hauptwerke zuſammen, und es ſoll eine Stelle aus Roger's Schriften geweſen fein, die einen bedeutſamen Ein- druck auf Columbus hervorbrachte und ihn mitbeſtimmte, ſeine Fahrt weſtwärts zu richten. Abälard erklärte im 12. Jahrh. die Logik für ſeine Göttin; das Mittelalter überhaupt betet die Theologie als Göttin an; — im vollſten Gegenſatz zu alledem erhebt jetzt Baco die Natur auf den Thron, und wie ſehr er dies in Uebereinſtimmung mit dem ſpäteren Baco thut, leuchtet ſchon aus einer ganz allgemeinen Vergleichung der Werke beider hervor. Das Hauptwerk des erſten Baco, das opus majus, 8 Fritz Schultze, Die Naturwiſſenſchaften im Mittelalter. 0 führt den Titel „de utilitate scjentiarum“ (über den Nutzen der Wiſſenſchaften) oder „de emendandis seientiis* (über die Ver— beſſerung der Wiſſenſchaften); — das eine Hauptwerk des zweiten Baco handelt „de dignitate et augmentis scientiarum“ (über den Werth und die Vermehrung der Wiſſen— ſchaften) oder, wie der Titel der engliſchen Bearbeitung deſſelben, jenem Rogeriſchen Werke noch näher kommend, jagt: Advan- cement of learning (Die Beförderung der Wiſſenſchaften): alſo bei beiden daſſelbe Thema faſt mit denſelben Worten! Der erſte Baco will in ſeinem opus majus die scientia experimentalis, der zweite in ſeinem novum organon die ars expe- rimentalis begründen. Der erſte Baco redet von den quatuor offendicula, den vier Hemmniſſen, die dem Menſchen bei dem Streben nach einer wahren und nützlichen Philoſophie hinderlich in den Weg treten; Der zweite Baco giebt in dem Neuen Organon jene berühmt gewordene Lehre von den quatuor idola, den vier Gruppen von Trugbegriffen, durch welche der Menſch verhindert wird, die Natur im richtigen Lichte zu ſchauen und zu erklären. Die Uebereinſtimmung iſt alſo wirklich ſo groß, daß man wohl auf den Glauben kommen konnte, der zweite Baco ſei nichts als eine neue Auflage des erſten. Aber in einer wichtigen Beziehung muß Rogerus Baco gewiß noch über Franz Baco geſtellt werden, nämlich darin, daß er nicht blos wie der letztere die Anregung zur empiriſchen Forſchung nach experimen— teller Methode gab, ſondern ſogar ſelbſt ſolche Forſchungen und Experimente mit ſtaunenswerthem Erfolge anſtellte. Zwar hat auch Franz Baco experimentirt, aber was er in dieſer Beziehung leiſtete, erhebt ſich nicht über den gewöhnlichſten Dilettan— 8 tismus. Ganz anders Rogerus, der fein ganzes, für ſeine Zeit bedeutendes Vermögen von 2000 Pfund feinen experimentellen Forſchungen widmet und wirklich ſo erſtaun— liche Reſultate zu Tage fördert, daß es be— greiflich iſt, wie er dem Ruf eines Zauberers und Magiers nicht entgeht. Wir wollen nur einige ſeiner weit über den Horizont ſeines Zeitalters hinausliegenden Entdeck— ungen anführen: Er iſt der erſte, welcher den Regenbogen anfängt wiſſenſchaftlich zu erklären; er weiß, daß derſelbe kein objee— tives, reales Ding ſei, wie man glaubte, ſondern daß er eine ſubjective Erſcheinung ſei, da jeder ſeinen eigenen Regenbogen ſehe. Beſonders ſeine mathematiſch-optiſchen Unter— ſuchungen ſind intereſſant. Es iſt ihm be— kannt, daß die Größe eines geſehenen Gegen— ſtandes von dem Winkel abhängt, unter welchem die Lichtſtrahlen das Auge treffen; man könne deßhalb convexe und concave Gläſer ſo einrichten, daß, durch ſie geſehen, der Rieſe als Zwerg und der Zwerg als Rieſe erſcheine. Er weiß ferner, daß das Sehen nicht blos ein Act des äußeren Sinnesorganes ſei, ſondern daß ſich in die ſinnliche Em— pfindung ein daſſelbe erſt richtig interpre— tirendes Ueberlegen und Urtheilen („ein un— bewußter Schluß“) einzumiſchen habe; das Sehen komme erſt „per scientiam et syl- logismum“ zu Stande, wie er ſagt. Er ſtellt Unterſuchungen über den Magneten an und kennt bereits eine ſalpeterhaltige Subſtanz, welche, in einer engen Röhre angezündet, ein donnerartiges Krachen hervorbringt; und er thut ſogar den Ausſpruch, man könne Wagen und Schiffe bauen, die ohne Pferde und Segel ſich ſelbſt pfeilſchnell fortbewegten. Wenn wir ſo auf der einen Seite wirk— lich eine Menge von realen naturwiſſen— ſchaftlichen Kenntniſſen bei ihm finden, fo zollt er doch auf der andern Seite auch . — — —— ů ů — — Fritz Schultze, Die Naturwiſſenſchaften im ſeiner Zeit den Tribut, indem er ſich einer Reihe von phantaſtiſchen Vorſtellungen über die Natur hingiebt. So will er „das Gleich— gewicht der Elemente“ finden; könne man dieſes hinſichtlich des menſchlichen Organis— mus herſtellen, ſo ſeien Krankheit und Tod unmöglich; habe man daſſelbe aber hinſichtlich der Metalle entdeckt, ſo könne man ohne Weiteres Gold machen, da alle anderen Metalle nur „unverdautes Gold“ ſeien. Wie hier, ſo bleiben auch ſonſt Uebertreibungen in ſeinen Gedanken nicht aus. Er ſchmäht Albert den Großen und Thomas von Aquino, daß ſie kein Griechiſch verſtanden hätten, aber in ſeinem Etymologiſiren ver- wechſelt er ſelbſt die und quo; er will ſich anheiſchig machen, Griechiſch und Hebräiſch in drei Tagen nicht blos leſen, ſondern auch verſtehen zu lehren; eine Woche Zeit hält er für ausreichend für den ganzen geome— triſchen und arithmetiſchen Unterricht, und daß Ariſtoteles noch nicht die Quadratur des Kreiſes gekannt habe, erklärt er für eine lächerliche Unwiſſenheit deſſelben. Es liegt auf der Hand, daß eine Er— ſcheinung wie Rogerus Baco ganz und gar im Gegenſatz zu ſeinem Zeitalter ſteht, und es begreift ſich, warum er von ſeinen theologiſchen Gegnern die heftigſten Anfeind- ungen zu erdulden hat. Sein ganzes Leben iſt eine Kette von Mühſeligkeiten und Ge— fahren. Im Intereſſe ſeiner Forſchungen hat er fein Vermögen geopfert; als Ange- hörigem des Franciscanerordens wird ihm ) Er hatte ſomit wohl Urſache, die Er- findung des Schießpulvers in ein Anagramm zu kleiden: Sed tamen salis petrae lure mope can ubre et sulphuris; et sie facies tonitrum et corruscationem, si seias artifi- cium (De Secretis Operibus Cap. XI.). Die | ne verboten, irgend etwas von den teufliſchen Ein Bruch dieſes Verbotes ſcheint mit mehr— Die Märtyrerkette, die mit den Namen Mittelalter. 9 | Künſten, die er erſonnen, niederzuſchreiben.“) jähriger Kerkerhaft beſtraft worden zu ſein. Ein zehnjähriges Exil iſt der fernere Lohn für die Fortſetzung ſeiner Beſtrebungen. Da kommt eine Zeit in ſeinem Leben, wo ihm die Sonne glücklicher zu leuchten ſcheint. Papſt Clemens IV. war, ehe er Papſt wurde, römiſcher Nuntius in England; er intereſſirt ſich für Baco und ſeine merkwürdigen Studien und fordert ihn auf, ſeine Entdeck— ungen für ihn niederzuſchreiben. Mit Be— geiſterung folgt Baco dieſem Rufe und ſchickt nach fünfzehn Monaten ſein unter ungeheuren Anſtrengungen und Schwierig⸗ keiten hergeſtelltes Opus majus durch ſeinen Lieblingsſchüler, Johann von London, nach Rom. Aber ſchon nach einem Jahre ſtirbt ſein päpſtlicher Gönner. Wiederum be— ginnen die Verfolgungen, eine Appellation an den neuen Papſt bleibt ohne Erfolg — wegen Verdachtes magiſcher Künſte trifft ihn ſtrenge Kerkerhaft, in der er beinahe den ganzen übrigen Theil ſeines Lebens zu— gebracht hat. Noch Jahrhunderte ſollte es dauern, ehe der neue Geiſt der freien Forſchung und Wiſſenſchaft vom Banne freigeſprochen wird. Campanella, Giordano Bruno, Lucilio Ba- nini im feurigen Scheine der Scheiterhaufen zu Ende geſchmiedet wird, ſie hat ihr erſtes Glied in Rogerus Baco. geſperrt gedruckten Worte ſind nämlich ein Anagramm des noch fehlenden Beſtandtheils: carbonum pulvere. Er fügt hinzu, daß Gi- deon mit einer ähnlichen Kunſt, obwohl nur dreihundert Mann ſtark, die Midianiter ge— ſchlagen habe. Kosmos, III. Jahrg. Heft 1. te Zur Atreitfrage des Planorbis multiformis.”) Von Dr. J. Hilgendlorf. ie Cardinalfrage, ob die Nach— kommenſchaft der Organismen im Laufe vergangener Zeiten eine andere geworden iſt, und ob ſie es noch heute wird und werden kann, iſt in zwiefacher Weiſe der Beobachtung zugänglich; erſtens am leben— den Thier oder Gewächs, durch Beobacht- ung in der Natur und durch den Zücht— ungsverſuch, zweitens paläontologiſch durch Vergleichung der verſchiedenen in den Erd— ſchichten auf einander folgenden Formen. Jede dieſer beiden Methoden hat ihre Vor— züge und Nachtheile. Die Beobachtung am lebenden Weſen bringt uns, falls wir eine Abänderung entſtehen ſehen, keine Bürg— ſchaft bei, für die relative Beſtändigkeit und Dauerhaftigkeit des neuen Erzeugniſſes, die wir bei den natürlichen Arten, den früheren burtsvorganges und damit der unumſtöß— liche Nachweis der wirklichen Blutsverwandt— ſchaft. Wir bedürfen hier zur Vervollſtän— digung unſerer Schlußreihe eines Axioms, eines Axioms aber, das glücklicher Weiſe bisher unbeſtritten und an ſich ſo wahr— ſcheinlich iſt, daß noch Niemand, ſo meinen wir, ſich die Mühe nahm es zu formuliren. Dies könnte man in folgender Weiſe thun: „Formen, die mit anderen, früher abge— lagerten, durch genügend fein abgeftufte,*) in der Zwiſchenzeit erſcheinende Uebergangs— Exemplare in Zuſammenhang gebracht wer— den können, dürfen als der früheren leib— liche Nachkommen betrachtet werden.“ Die neue Form hat alſo nicht zu gelten als ein wie den jetzigen, zu ſehen gewohnt find. Bei den paläontologiſchen Studien hingegen fehlt uns die direkte Beobachtung des Ge ) Die Wiedergabe eines M. Wagner'- chen Artikels in dieſen Blättern (Bd. II, S. 265) überhebt mich der Mühe, hier eine hiſtoriſche Schilderung des Streites den Leſern zu liefern. Nachkomme einer anderen, mit ihr derartig nicht verbundenen Form, und nicht als ein Produkt einer Generatio aequivoca, was die beiden ſonſt noch möglichen Annahmen ſein würden. Das iſt, ſo viel ich erſpähen kann, die ) In meinen reihenweis aufgeklebten Zuſammenſtellungen von Verbindungsgliedern habe ich gewöhnlich deren zehn bis fünfzehn als genügend betrachtet. Hilgendorf, Zur Streitfrage des Planorbis multiformis. einzige unbewieſene Annahme, die ſich in meiner früheren Darſtellung der Metamor— phoſe des Planorbis multiformis nachweiſen ließe. Demnach müßte ich, ſollte Imagi— nationsgabe als ein ſchätzenswerthes Talent zu betrachten ſein, geſtehen, daß Herr Croſſe im Journal de Conchiologie 1876 p. 192 mir zu viel Ehre anthut, wenn er am Schluſſe eines Artikels, beginnend mit den Worten: „Un naturaliste prussien, Mr. Hilgendorff,“ auf die ihm durch Herrn Profeſſor Sandberger gewordene Be— lehrung fußend, reſumirt: „Il faut en conelure, que imagination a eu plus de part que observation dans la com- munication faite à Académie des seien- ces de Berlin par Mr. Hilgendorff, et que ce n'est pas le travail de ce savant qui fournira aux doctrines transformistes les preuves qui leur manquent jusqu'ici.“ Es iſt indeß kaum zu glauben, daß Herr Croſſe dabei jenen oben aufgeſtellten 11 Deutſchen geologiſchen Geſellſchaft“ (1877, S. 448) erſchienenen „Neue Forſchungen in Steinheim“ ſind meiner Anſicht nach in der That ſowohl für ſich, als beſonders in Verbindung mit der Sandberger"- ſchen Münchener ſogenannten Entgegnung völlig genügend, um auch Nichttheilnehmer an jener Verſammlung, wenn ſie nur mit einiger Kritik der Lektüre ſich widmen woll— ten, zu einer Beurtheilung zu befähigen. Es haben mir denn auch ſachverſtändige und in der Gelehrtenwelt gut Beſcheid wiſſende Freunde eine weitere Polemik als überflüſſig dargeſtellt; indeß in der Litera— tur hat ſich der durch meine Bemühungen hervorgebrachte Umſchwung doch noch nicht hell genug widergeſpiegelt, um den ferner ſtehenden Kreiſen Aufklärung zu gewähren. Abgeſehen von meinem Streben, eine ſolche der Sache halber herbeizuführen, wird man es mir kaum verargen können, wenn ich meinem perſönlichen Intereſſe zu Liebe, da die Herren Grundſatz im Auge gehabt hat, da derſelbe von Sandberger ſelbſt ſtillſchweigend acceptirt wird, und ich würde demnach auf den Croſſe'ſchen Lorbeer wohl gänzlich Verzicht leiſten müſſen.“) Zwar iſt mir auf der Naturforſcher— verſammlung in München Gelegenheit ge— | worden, einer größeren Zahl von Fach- leuten einen Einblick in die wahre Sach— lage zu geben und mir eine Reihe von Zeugen für die Brapheit des Planorbis multiformis zu verſchaffen, auch der Auszug meines Vortrages dort im Tageblatt, ſowie die etwa gleichzeitig in der „Zeitſchrift der ) Obgleich ich mir die Mühe genommen habe, Herrn Croſſe über den Stand der Frage aufzuklären, ſo iſt derſelbe doch meinem gewiß ſehr billigen Verlangen, er möge in ſeinem Journal publieiren, daß ich nach einer gründlichen Reviſion meine früheren Angaben Sandberger und Croſſe nicht ſelbſt das von ihnen geſäete Unkraut auszujäten Hand anlegen, die Streitfrage völlig zur Eutſcheidung gebracht wiſſen will. Doch werde ich bemüht ſein, bei dieſem Artikel über mein eigenes Intereſſe das des Leſers nicht zu vergeſſen. Zunächſt ein Blick auf die Methode, nach der die Reſultate gewonnen wurden. Sie iſt im Princip außerordentlich einfach; man ſammelt möglichſt vollſtändig und aus möglichſt vielen Schichten der zu unterſuchen— den Ablagerung das paläontologiſche Ma— terial, ſortirt möglichſt kleinlich den Inhalt Herrn Sandberger gegenüber aufrecht er— halte, nicht nachgekommen. — Nach Abrechnung franzöſiſcher Höflichkeit glaube ich das meiner wiſſenſchaftlichen Leiſtung gegebene Prädikat mit den Worten „reiner Schwindel“ ſehr correkt in unſer „geliebtes Deutſch“ zu übertragen. ei Hilgendorf, Zur Streitfrage des Planorbis multiformis. % _ Fig. 1. Kärtchen des Steinheimer Beckens. Das Steinheimer Becken, eine knappe halbe Meile im Durchmeſſer haltend, beſitzt in der Mitte einen hufeiſenförmigen Rücken, namenlos auf den Karten, in der Literatur meiſtens der Kloſterberg genannt. Die Höhe beſteht faſt ganz aus den Planorbenkalken, die centrale, dem Dorfe zugekehrte Senkung aber aus ſonderbaren Schollen von unterem weißen Jura, braunem Jura und ſelbſt Lias, die aus beträchtlicher Tiefe heraufgehoben ſein müſſen, denn die rings um das Becken herum in gleicher Höhe lagernden Maſſen beſtehen aus oberem weißen Jura (e und wenig &). Weitläufige einfache Schraffirung iſt ohne Unterſchied für dieſe juraſſiſche Bildungen gewählt worden. Ausſchließlich die mit Strichen und Punkten bezeichneten Stellen gehen uns an, da fie die Kalke mit den Varietäten des Planorbis mul- tiformis darſtellen; wahrſcheinlich ziehen ſich dieſelben von dem Weſtabhang auch noch auf den ſüdlichen hinüber, was bei der außerordentlichen Aehnlichkeit dieſer Maſſen mit dem weißen Jura s und dem Mangel an Conchylien ſchwer zu entſcheiden iſt. Sandige und thonige Lagen, abwechſelnd mit Kalkbänken, kommen nur in der mittleren Erhebung vor, wo fie an den mit 1 (alte Grube) und 2 (Kopp'ſche Grube) gekennzeichneten Stellen, die kaum über die Sohle des Beckens ſich erheben, abgegraben werden. Eine dritte, für meine Unterſuchungen wichtige, aber nicht techniſch verwerthbare kleine Grube liegt in der mitt— leren Strecke, durch einen kleinen weißen Halbmond bezeichnet, oben auf der Höhe (die Ziffer 3 bei derſelben iſt aus Verſehen fortgeblieben). Tertiärer Kalk, aber mit abweichen— den Conchylien, lagert endlich am Weſtabhang (einfach aber enger ſchraffirt): bei dem ſchlechten Aufſchluß war es noch nicht möglich zu unterſcheiden, ob ſie über oder unter den Kalken des Pl. multiformis liegen. Die weiß gelaſſenen Flächen ſind die alluvialen Schuttmaſſen ehe— maliger Waſſerläufe. Eine Meile weſtwärts von Steinheim liegt die Fabrikſtadt Heidenheim an der Brenz. „ ——— en, Hilgendorf, Zur Streitfrage des Planorbis multiformis. 13 enug. er eleg. eo. DEN vr ED 3 AN vo Fig. 2. Stammtafel des Planorbis multiformis. Die Abbildungen find meiſt nach Querſchliffen ausgeführt, in denen alle Componenten der Geſtalt gegeben zu ſein pflegen; wo dies nicht der Fall iſt (Runzeln bei sulcatus, Mind- ungserweiterung mit einem Verdickungsring bei oxystomus, Rippenbildung bei costatus und costatus major), ſind die Schalen von oben gezeichnet. Mit Ausnahme des parvus ſind ſie nach den früher (1866) vom Verf. veröffentlichten Abbildungen wiedergegeben. Die Varie— täten der Hauptreihe (vom steinheimensis ſenkrecht aufwärts bis zum supremus) ſind etwa dreimal vergrößert, ebenſo der elegans und rotundatus, alle links davon ſtehenden Figuren dagen vier- bis fünfmal. Auf die Subvarietäten iſt keine Rückſicht genommen; Raritäten und Abnormitäten ſind überhaupt von mir bisher kaum behandelt worden, ſo daß die 19 bildlich vorgeführten Formen durchweg nur die in den betreffenden Schichten häufiger oder regelmäßig auftretenden Vorkommniſſe vergegenwärtigen. Ebenſo iſt jede Uebergangsform ausgeſchieden, deren Darſtellung mindeſtens die zehnfache Figurenzahl erforden würde. Die Anordnung nach der Höhe entſpricht den in der Natur gefundenen Verhältniſſen, ſo daß parvus und steinheimensis die tiefſte Schicht bevölkern, der supremus dagegen die oberſten Lagen kennzeichnete. Die Zonen mit revertens und supremus werden nur in der Grube Nr. 3 angetroffen. Die Verbindungsſtriche vertreten gewiſſermaßen die Reihen von Ueber— gangsexemplaren und ſind ſomit der Ausdruck der Descendenz. — Die Abkürzungen ſind in folgender Weiſe zu ergänzen: Planorbis multiformis steinheimensis, tenuis, sulcatus, discoideus, trochiformis, oxystomus, revertens, supremus, rotundatus, elegans, kraussii, dseudotenuis, parvus, minutus, erescens, triquetras, costatus, costatus major, denuda- tus. — Eigentlich ſollte der Steinheimensis unter dem Kraussii ſtehen, welcher ſeine direkte Fortſetzung bildet, während der tenuis mit den Reſten der Hauptreihe, einen wenngleich mächtigeren Seitenzweig darſtellt. Eu — U 14 Hilgendorf, Zur Streitfrage des Planorbis multiformis. einer jeden Probe und ſucht nun die ein— zelnen Typen vou oben nach unten durch die Schichtenreihe zu verfolgen. Die ins Auge gefaßte Form (Varietät, Art, oder wie man eine beſtimmt charakteriſirbare Bild— ung ſonſt nennen will) kann dabei entweder bis zu der tiefſten zugänglichen Grenze hinab unverändert bleiben, oder ſie geht in irgend einem Niveau durch Zwiſchen— formen in eine tiefer oder daneben liegende, abweichend geſtaltete über, oder, der dritte Fall endlich, ſie bricht an einer Stelle ohne Anſchluß an eine andere Varietät ab. Betrachten wir nun an einem correkten Beiſpiel das Reſultat einer ſolchen Forſch— ung und wählen wir der Bequemlichkeit halber zunächſt ein Beiſpiel, wo die Größe der Stücke uns erlaubt, ohne vorheriges mühſeliges Ausleſen unſere Beobachtungen an den Schichten unmittelbar anzuſtellen. Geht man in der alten Grube (Nr. 1 auf der Karte) von der Zone des oxysto- mus aus, der oberſten regelrechten Ablager— ung an dieſer Stelle, ſo wird man in ihr mit Leichtigkeit drei ſcharf unterſchiedene Plan- immer kein Ende; doch haben wir dabei orbis erkennen (wie auch die Stammtafel dies andeutet), von denen der oxystomus den anderen an Größe überlegen erſcheint. Durch eine Anzahl von Schichten hindurch kann man dieſe Art mit faſt unveränder— tem Aeußern wiederkehren ſehen, bis in einer thonigen Lage ein Gemiſch von In— dividuen ſie vertritt, von denen die einen deutlich an den oxystomus ſich anſchließen, andere aber durch Heraustreten des Gewin— des eine convexe Oberſeite erlangen und mehr oder weniger deutlich den Typus des trochiformis zeigen. Die Mittelformen ſind weitaus im Uebergewicht über die reinen Vertreter der Ascendenz und Descenden;. In der darunter liegenden Sandſchicht be— gegnet uns ſchon ganz normaler trochifor- mis, von oxystomus und trochiformis— oxystomus (in dieſer Weiſe bezeichne ich die Uebergangsformen) keine Spur. Eine lange Reihe von Kalkbänken und Sand— lagen hindurch herrſcht die Kegelgeſtalt, in den unteren häufiger mit zickzackförmigem Profil erſcheinend, eine Folge von noch ſtärkerer Ausziehung des Gewindes. In einem dünnen Sandſtreifen, eine Strecke entfernt davon durch eine Kalkplatte ver— treten, erkennen wir dann die Geburtsſtätte des eben betrachteten ſtattlichſten Planorben. Wiederum gelangen faſt nur die Mittel— formen zur Beobachtung, d. h. ſtumpfe Kegel, wie fie a priori aus dem discoideus und trochiformis als Zwiſchenform conſtruirt werden könnten. Durch Sand und Kalk abwärts ſteigend, ſehen wir discoideus und immer wieder discoideus, ſo weit der Be— darf der Umgegend Steinheims die Ab— grabungen gefördert hat. Jetzt genügt die bloße Betrachtung nicht mehr, Hacke und Schaufel muß uns den Weg in die Tiefe bahnen; zuerſt ein wenig lohnendes Werk, denn die „Damenbretſteine“ nehmen noch reichliche Muße, uns von dem Fehlen des trochiformis und oxystomus zu überzeugen. Nun aber wird der discoideus kleiner, die Rinne ſeiner Oberſeite tiefer, ſeine Skul— ptur runzlig (sulcatus), und noch weiter abwärts treffen wir ihn nur noch in ein— zelnen Exemplaren, die mit den anderen beiden Arten, tennis und steinheimensis, zuſammenlagern; wir ſammeln auch stein- heimensis-tenuis und tenuis-suleatus, aber den Entwickelungsmodus können wir nicht regelrecht entziffern, denn die verhältniß— mäßig ſchmalen Wände des Schachtes zeigen ſchon, daß die klare Schichtung hier einem unerquicklichen Chaos Platz gemacht hat, nur die eingelagerten Stücke von Kalk— Hilgendorf, Zur Streitfrage des Planorbis multiformis. platten und Blöcken leiten uns mit einiger Sicherheit auf die rechte Fährte. Das Grundwaſſer verhindert außerdem noch ein ſauberes Abputzen und Studiren der Flächen in der halbdunklen Grube. An anderen Stellen drängt ſich ſchon früher Jurakalk oder Thon hervor, ohne daß wir einer weiteren Planorbis-Varietät anſichtig wer— | den. Glücklicher Weiſe treten die beiden Gruben Nr. 2 und beſonders Nr. 3 für die tiefſten Zonen in die Lücke ein und bes weiſen, daß der steinheimensis dem tenuis vorangeht; eine beſondere Uebergangsſchicht für den steinheimensis-tenuis und tenuis- sulcatus nach Art der oben geſchilderten bleibt aber dermalen noch ein Deſiderium. Der gleichzeitig conſtatirte Mangel von steinheimensis-sulcatus-Exemplaren beſtä— tigt aber die Richtigkeit unſerer Auffaſſung. Mit dem oxystomus zuſammengebettet fanden wir den erescens, ſeltener den co- status major; beide können wir nach unten verfolgen, beide werden dickſchaliger, ſchrum— pfen zu gleicher Zeit bis auf 1 Millimeter Durchmeſſer zuſammen und werden daher jetzt paſſend minutus und costatus ge- nannt; etwas über der Sulcatus-Zone end— lich können wir ſie nicht mehr auseinander halten, indem die Rippen des in den Tro— chiformis-Schichten zumal ſehr regelmäßig und deutlich gerippten costatus undeutlicher und unregelmäßig werden und zu bloßen Anwachsſtreifen herabſinken. Unterhalb dieſes Niveaus, alſo in der ganzen Abtheilung mit sulcatus, tenuis und steinheimensis, würde man vergeblich nach einem einzigen Exemplar mit Querrippen ſuchen. Selbſt— verſtändlich iſt es bei dieſem Beiſpiel, das uns eine Verſchmelzung zweier ſpäter ge— ſonderten Typen vorführt, wegen der Win— zigkeit der Objekte unmöglich, in der Grube ſelbſt die Beobachtungen auszuführen. — * 57 Nach demſelben Verfahren ſind die weiteren Verbindungen ermittelt, die der Stamm— baum durch Striche ſymboliſch darſtellt. Wie kann nun über eine ſo einfach ſcheinende Unterſuchung Streit entſtehen? Sandberger hat dies Problem in der Weiſe gelöſt, daß er da etwas ſieht, wo ich nichts ſehe, und daß er das nicht ſehen kann, was ich vor Augen zu haben glaube, d. h. er ſieht „in keiner Bank nur eine Varietät, ſondern in jeder vereinzelte Exem— plare von faſt allen anderen;“ “) er kann aber Uebergangsformen nicht entdecken, die ich finde, z. B. keine trochiformis-oxysto- mus, keine minutus-costatus. Auch die gleichfalls jo einfach ſcheinende Herbeiführ- ung einer Entſcheidung hat mit ernſten Schwierigkeiten zu kämpfen. Da iſt z. B. zuerſt die, daß der Eine über einen Neben— punkt ſo intenſiv zu discutiren beginnt, daß man die Hauptſache darüber faſt ganz aus den Augen verliert. So erörtert Sand— berger umfangreich, er habe im Gegen— ſatz**) zu mir über der dem Leſer am Eingang vorgeführten oxystomus-Zone wieder trochiformis gefunden, und auch noch zwiſchen den supremus ganz oben in der Grube Nr. 3 gäbe es einzelne trochi— ) Dies iſt die Lesart, die Sand ber— ger in den „Conchylien der Vorwelt“ giebt, ein Werk, bei deſſen Angaben ſtehen bleiben zu wollen er in München proklamirte. Damit ſcheinen denn ſeine früheren Behauptungen aufgegeben zu ſein. ) Es war ſchon ſonderbar genug, daß in den „Conchylien der Vorwelt“ (vielleicht in Folge flüchtiger Lektüre) dieſe Unrichtigkeit publicirt wurde; nachdem ich aber Herrn S. darauf aufmerkſam gemacht, daß meine erſte Arbeit bereits an vier Stellen von derſelben Ablagerung ſpricht, hätte man im Münchener Tageblatt wohl die Lesart erwarten dürfen: „wie auch Hilgendorf ſtets angegeben.“ 16 formis. Herr S. ſcheint ſich nicht klar gemacht zu haben, welche Bedeutung dieſer Fund im günſtigſten Falle haben würde. Wie ich ſchon in meinem Münchener Vor— trag ihm auseinandergeſetzt,“) würde die große Errungenſchaft lediglich in der Er— bringung des Beweiſes beſtehen, daß die trochiformis viel länger gelebt hätten, als ich angenommen; der Stammbaum hätte dann eine Gabelbildung mehr aufzuweiſen, indem dieſe trochiformis den Hauptaſt bis zu Ende fortſetzen und die oxystomus nebſt revertens und supremus ſich ihm als Seitenzweig anſchließen würden. Sollte ſich vielleicht Sandberger mit dem Beweiſe nur deswegen ſo viel Mühe geben, um mir eine Freude zu bereiten? Gerade den Nach— weis derartiger Verzweigungen halte ich für noch wichtiger, als den der einfachen Um— formung eines Typus. Zu meinem Be— dauern aber muß ich nach wie vor erklären, ſowohl nach eigenem Urtheil als nach dem mehrerer Sachverſtändigen, daß dieſe nach— träglich auftretenden trochiformis aller Wahrſcheinlichkeit nach aus früheren echten trochiformis-Schichten aufgewühlt ſind und auf falſchem Bette eine zweite Ruheſtätte gefunden haben,“) Umlagerungen, worauf man in den Steinheimer Verhältniſſen a priori ſtets gefaßt ſein muß. Zu den in den Vordergrund gedrängten Neben— punkten gehört ferner der weitläufige Dis— curs über Skalaridenbildung und deren Ur— | ) Daß ©. darauf in der jogen. Entgeg- nung nicht Rückſicht nahm, darf ihm nicht falſch gedeutet werden; die Entgegnung war bereits vor meinem Vortrag concipirt worden. * Das in der Münchener Entgegnung von S. als beweiſend für ſeine Anſicht an— geführte Stück ſcheint von der nämlichen Be— ſchaffenheit zu ſein, wie eine von mir als Beweis für das Gegentheil, d. h. für die ſeeundäre Bildung der „oberen trochiformis- | Hilgendorf, Zur Streitfrage des Planorbis multiformis, ſachen, der doch, wenn er überhaupt am Platze iſt, ſich nur auf wenige Formen beziehen würde (vergl. unten bei den Re— ſultaten). Dann kommen als zweite Schwierigkeit die Mißverſtändniſſe. In den „Conchylien der Vorwelt“ S. 635 las ich z. B. zu meinem Erſtaunen: „Unter der Hilgendorf’- ſchen Zone des Pl. steinheimensis fand ich in 1,9 Meter Tiefe . .. im Haupt- bruche (Nr. 1) und zwar in nächſter Nähe der Häuſer des Dorfes nochmals loſe Sande mit faſt allen bisher erwähnten Formen. Dieſe einfache Thatſache wirft natürlich alle Theorien um, welche Hilgendorf an die von ihm angenommene Schichtenfolge geknüpft hat.“ Der Schluß iſt natürlich nicht richtig; vorausgeſetzt, die einfache Thatſache wäre bewieſen, ſo führte ſie uns auch nur zur Annahme einer Gabelbildung, ähnlich wie oben auseinander geſetzt. Meine energiſch— ſten Anſtrengungen, dieſe ſonderbare Schicht zu finden, blieben aber erfolglos; Sand— berger hatte, ſo ſagte man mir, dort überhaupt nie gegraben. In München er- klärte er dann die Sache auf ſehr einfache Art. Es war ein Mißverſtändniß von mir geweſen, als ich meinte, die „Hilgendorf'ſche Zone mit Pl. steinheimensis“ ſei eine Schicht hauptſächlich oder ausſchließlich mit dieſem Foſſil erfüllt; man hat darunter nach S. vielmehr eine Ablagerung mit discoi— deus zu verſtehen, in der ſich einzelne Schicht“ vorgelegte Kalkplatte, nämlich innen oxystomus-Schalen, in der Rinde trochiformis enthaltend. Daß der trochiformis in der su- premus-Schicht (ſecundär) vorkommt, habe ich bei der Durcharbeitung meiner Proben eben— falls und nicht gerade zu meinem beſonderen Befremden gefunden, ſo daß Herr S. das feierliche Zeugniß des Herrn Caplan Dr. Miller hierfür nunmehr entbehren kann. Die Schicht beſteht aus Trümmermaſſe. Hilgendorf, Zur Streitfrage des Planorbis multiformis. 17 Exemplare von steinheimensis vorfinden! Möglicher Weiſe läuft nun wieder ein Miß— verſtändniß von der anderen Seite unter, nämlich von der Sandberger's, der viel— leicht Exemplare, die ich Kraussii nennen würde, als Steinheimensis bezeichnet,“) ſo daß ſchließlich gar keine Differenz zwiſchen uns vorhanden, aber eine Fülle von Eloquenz geopfert worden iſt. Auch Gedächtnißfehler können die Harmonie der Anſchauungen trüben. So ſteht in der Münchener Ent— gegnung gedruckt: „Ich habe mich von dem intakten Zuſtande der gemeſſenen Schichten überzeugt.“ Nach meinen von competenter 9 Seite eingeholten Nachrichten hat Herr Prof. Sandberger unten in der Grube geſtan— den, und der damalige Herr Stud. Gottſche befand ſich oben auf der ſchwanken Leiter, um die Proben für das Profil aus der Wand zu entnehmen, die ſelbſtverſtändlich in der kurzen Zeit nicht abgeputzt werden herabfließenden Thonſchlammes und wegen des nachfallenden Sandes ein recht ver— ſchleiertes Bild darzubieten pflegt. Würde ſich Herr Sandberger noch erinnern, daß nicht er, ſondern Herr Gottſche die obere trochiformis-Schicht aus der Nähe geſehen, ſo würde er meinen Worten und photo— graphiſchen Aufnahmen vielleicht eher Glau— ben ſchenken, denſelben Glauben, den ihnen Herr Dr. Gottſche, ſo viel ich weiß, ) Beide ſtehen ſich ſo nahe, daß eine derartige Verwechſelung verzeihlich iſt, jeden— falls verzeihlicher als eine andere von mir in München conſtatirte, wo Herr S. unaus— gebildete oxystomus als revertens (von mir entdeckt und benannt) präſentirte. Zu meinem Bedauern iſt meine Bemerkung darüber nicht gedruckt worden, obgleich ich dies ausdrücklich verlangte. Es geſchah dies nicht blos in der Abſicht, Herrn S. einen Fehler nachzuweiſen. konnte, die aber wegen des bei Regenwetter nicht verſagt. Vielleicht hat er auch das Genauere über ſeine Aufenthaltszeit in Stein— heim nicht mehr recht im Gedächtniß; es ſchwebt ihm möglicher Weiſe Profeſſor M. Wagner's Angabe vor, wonach er jedes der beiden Male mehrere Tage dort geweilt hätte. Wüßte Herr Sandberger noch ſo genau, wie ich es weiß, daß er jedes Mal nur einige Stunden dort ge— weſen, ſo würde er nicht ſo apodiktiſch in der Münchener Entgegnung „den Vor— wurf flüchtiger Behandlung des Gegen— ſtandes unbedingt abweiſen“. Ein „unbe— fangener, aber erfahrener Geologe“, ſo einer, deſſen „Entſcheidung Sandberger ſich getroſt überlaſſen kann“, ſagte mir: „daß Sandber— ger in den drei Stunden nicht ins Klare ge— kommen iſt, kann ihm Niemand verübeln, aber das hätte er erkennen müſſen, daß zu einer Ueberſicht dort eine ganz andere Zeit ge— hört.“ Auf ſeine Profile beſonders ſtolz zu ſein hat Sandberger, wie hieraus ſchon einleuchtet, wenig Grund; ſo gern ich ihm zugeſtehe, daß ſie länger und breiter als die meinigen (übrigens correkten und für ihren Zweck vollkommen ausreichenden) ſind, ſo möchte ich ſie doch für etwas kritik— los in ſtratigraphiſcher und paläontologiſcher Hinſicht halten. Durch die ausgedehntere Detailmittheilung hatte ich übrigens den großen Vortheil, bereits ehe ich ſelbſt Stein— heim wiederſah, zeigen zu können, daß | bar die mir früher ſehr auffällige Angabe, daß in der Grube Nr. 2 revertens gefunden würde. Auch in der Sammlung eines Privat- liebhabers, welche S. benutzte, hat ſich, wie ich höre, der nämliche Irrthum eingeſchlichen. Dagegen fehlt der revertens in Sandber— ger's Profil der Grube Nr. 3 (Couch. d. V. S. 634), welche ich als alleinige Lagerſtätte des revertens angegeben habe und bis jetzt als ſolche kenne, und wo er eine ganze Schicht Auf der gleichen Verwechſelung beruht offen- faſt füllt. Kesmos, III. Jahrg. Heft 1. 18 Hilgendorf, Zur Streitfrage des Planorbis multiformis. Sandberger's allgemeine Bemerkungen mit ſeinen wirklichen Beobachtungen wenig im Einklang ſind, die letzteren vielmehr weit eher für mich ſprechen. Eine letzte Methode, wenigſtens die letzte, die wir in Betracht ziehen wollen, die Ent— ſcheidung und Beendigung einer Discuſſion hintan zu halten, beſteht darin, durch all— gemeine Wendungen ſich zu decken, anſtatt im Einzelnen eine Frage nach der anderen zu discutiren und aus der Welt zu ſchaffen. Faſt nie hat Sandberger weder zu einer genauen Formulirung des Streitigen, noch zu einer klaren, ſcharfen Behandlung eines weſentlichen Punktes ſich herbeigelaſſen. Von ſeiner erſten, ſehr allgemein gehaltenen und darum unklaren Publication will ich ganz abſehen, da er ſie ſelbſt nicht mehr zu vertheidigen ſcheint. In den „Conchy— lien der Vorwelt“, S. 634, Anmerkung, jagt er: „Eine detaillirte Kritik“) der Hilgen— dorf'ſchen Arbeit liegt nicht in meinem Plan, es wird bei einer Vergleichung ſeiner An— gaben mit den meinigen leicht ſein zu er— kennen, Für dritte Perſonen gewiß nicht ſo leicht! So iſt eben die Stelle, wozu die Anmerkung gehört, ein Beweis, daß für Saudberger ſelbſt dieſe Erkenntniß nicht immer ganz einfach ‚ut, denn er ſieht dort gerade eine Diffe— renz, wo keine iſt. Ich habe die Mühe übernommen, für die Abweichungen und Uebereinſtimmungen ein ſchlichtes Facit zu ziehen,“) dem Sandber ger nicht wider— ſprochen hat und das demnach recht wohl als Grundlage der Discuſſion hätte dienen ) Da Herr Sandberger nur in einem einem einzigen, wo die Differenzpunkte liegen.“ ganz nebenſächlichen Punkte können. Weiter habe ich dann nach dem Grundſatze, daß Jeder für Das Beweiſe auf— zubringen hat, wo er der Sehende, der andere der Vermiſſende iſt, verſucht, eine Art Ver— ſtändniß anzubahnen. Es handelt ſich um die von Sandberger geleugneten Uebergangs— formen. Streng genommen hätte er wohl die Pflicht gehabt, vorher das Beweis— material für meine Angaben zu prüfen, ehe er dieſe für falſch erklärte.“) Es war da— her ein ungewöhnliches Entgegenkommen von meiner Seite, als ich ihm eine Reihe von Exemplaren des trochiformis - oxystomus würde: mir ein (bedingtes) Lob zollt, kann man leicht wohl bekannt ſein mußte, ſo war eine ſo glatte Negation lediglich auf Grund deſſen, merken, daß hinter der vox media eine vox mala ſteckt. ) Zeitſchrift der Deutſchen geologiſchen Geſellſchaft. 1877, ©. 51. nach Würzburg zur Anſicht ſandte und ihn um eine Kritik derſelben bitten ließ. Ich erwartete, daß er entweder ſich äußern „An jener Stelle iſt eine deutliche Kluft zwiſchen den Extremen,“ oder: „Ihre angeblichen Mittelformen ſind überhaupt keine ſolchen, ſondern ſtellen eine dritte ſepa— rate Species dar,“ oder: „Sie haben mir zufällige Monſtroſitäten als normale Ueber— gangs-Exemplare aufgetiſcht,“ oder dergl., — oder aber zugeben, daß die Vorlage ihn von der Berechtigung meiner Anſicht überzeugt habe. Nichts von alledem: „Ich bleibe bei meiner Anſicht,“ lautete der Orakel— ſpruch. Die nämliche Zuſammenſtellung habe ich dann ſpäter einer großen Reihe competenter Fachleute (auch Antidarwinia— nern) vorgelegt, niemand hat ſie bemängelt. Wenn Sandberger mit ſeiner Bemerkung wirklich ſeiner Ueberzeugung gemäß ein negi— rendes Urtheil abgegeben hat, ſo ſteht er mit derſelben iſolirt; hat er aber in dieſer allge— ) Da meine Arbeit behufs ihrer Publi— cation der Akademie der Wiſſenſchaften in Berlin von einer Autorität vorgelegt worden war, deren kritiſche Schärfe Sandberger daß S. derartige Exemplare nicht auch ſogleich hatte finden können, wohl unſtatthaft. | a Hilgendorf, Zur Streitfrage des Planorbis multiformis. meinen Form nur ausweichen wollen, ſo ſpielt er die wenig ruhmreiche Rolle eines Händelſuchers, der, wenn es zum Ernſt kommt, nicht zu ſprechen iſt. Irgend welche weiteren Verſuche, privatim eine Verſtändigung mit meinem Widerſacher herbeizuführen, habe ich ſelbſtverſtändlich nicht gemacht. Wohl aber bemühte ich mich, anderen unbefangenen Fachleuten zu einer eigenen Beurtheilung die Hand zu bieten, und ich that dies, ſelbſt falls ſie zuerſt die größten Zweifel in dieſe oder jene Angabe ſetzten, ſtets mit dem beſten ſchließlichen Er— folge. Für jeden von mir aufgeſtellten Uebergang iſt eine continuirliche Reihe von Exemplaren in der königl. Sammlung in Berlin deponirt, für die wichtigeren oder beſtrittenen kam in Münden”) Beweis— material zur Vorlage. Ich bin weiter ge— gangen, als mir eigentlich oblag, ich habe den Beweis, ſo weit ein ſolcher mit objekti— ven Beweismitteln überhaupt möglich, auch für das Fehlen der höher hinauf erſchei— nenden Varietäten in den unteren Schichten angetreten, woes Sandberger's Sachewäre, das Vorhandenſein zu erhärten. Eine größere Anzahl von Platten mit Pl. m. steinheimensis, die den unterſten Lagen der Grube Nr. 3 entnommen wurden, habe 19 zuſuchen, ob dort ein tenuis, discoideus, trochiformis u. ſ. w. anzutreffen iſt.““) Ebenſo habe ich Handſtücke mit tenuis, andere mit discoideus, trochiformis 2c. ꝛc., auch ſolche aus Uebergangsſchichten, discoi— deus-trochiformis, trochiformis-oxysto— mus, öffentlich vor Kennern ausgelegt und in Sammlungen deponirt. Ja noch mehr, nachdem ich meine (etwa zehn) Schächte in Steinheim ausgeführt, habe ich alle in der Umgegend befindlichen, mir bekannten Fach— genoſſen,“ ) bei denen ich Jutereſſe voraus— ſetzen durfte, erſucht, zu ihrer Belehrung und meiner Beruhigung den Situs zu re— vidiren, und ich hatte zu meiner Freude bei einem Theil der Eingeladenen Erfolg. Sie werden ſchlimmſten Falls gern bereit ſein zu bezeugen, daß meine Handſtücke in den Niveaus gefunden werden, die ich als Fundſtätten bezeichne, daß die Uebergangs— ſchichten an den richtigen Stellen liegen, daß obere Formen unten fehlen u. a. m. End- lich habe ich Tage lang die Wände der Sand— gruben ſäubern und dann photographiren laſſen, um denen, die Steinheim nicht be— ſuchen konnten, eine objektive Auſchauung ich zum Frommen der Zweifelſüchtigen in München zur Anſicht unterbreitet. Freilich könnten gerade die unerwünſchten Schalen ent- fernt worden fein; allein es ſteht ja den Sfepti- kern frei, auch im Innern der Stücke nach— ) Außer in München noch in der Ge— ſellſchaft Naturforſch. Freunde in Berlin, vergl. deren Sitzungsbericht 1877, S. 263. 0 Dieſer Punkt iſt ſehr wichtig; denn, wenn in der unterſten Zone alle jene ſpäteren Formen noch fehlen, aber ſich durch Mittel- ſtufen mit dem steinheimensis verknüpft er⸗ weiſen, ſo ſind ſie aus ihm mittel- oder zu verſchaffen. Was hat nun auf der anderen Seite Sandberger gethan, um feinen Widerſpruch zu ſtützen? „Dieſe und jene Uebergangsform exiſtirt nicht, ich habe ſie nicht finden können,“ „Meine ganzen ſyſtematiſchen Anſchauungen würden über den Haufen geworfen werden, wenn es Mittelglieder zwiſchen minutus unmittelbar hervorgegangen; findet man ſie aber bereits unten ſämmtlich vor, ſo können zwar noch Umwandlungen ſtattgehabt haben, aber ſie ſind nicht mehr zwingend beweisbar. er) Herrn S. natürlich nicht; um ein mo— notones „Ich bleibe bei meiner Anſicht“ zu hören, verlohnte es ſich wohl kaum einen Brief zu ſchreiben. Te — — ME 20 Hilgendorf, Zur Streitfrage des Planorvis multiformis, und costatus gäbe,“ ) und dann endlich beſonders ſeit jeher einen Lieblingsplatz der jenes berühmte „Ich bleibe bei meiner An— ſicht“, das iſt etwa ſein Raiſonnement, das er bezüglich der erſten Gruppe der Thatſachen, d. h. des Vorkommens von Mittel— ſtufen, meinen mit großer Sorgfalt zuſammen— geſetzten Uebergangsreihen entgegenſtellt. Für die zweite Gruppe hat er ſelbſt das onus probandi zu tragen. Jemand ſchon bei zwei flüchtigen Beſuchen, ohne vorherige Orientirung, feſtzuſtellen im Stande geweſen wäre, daß „in keiner Bank nur eine Varietät, ſondern in jeder noch vereinzelte Exemplare von faſt allen anderen gefunden“ werden, und daß in der tiefſten bekannten Schicht auch ſchon ein Gemenge derſelben Formen vorliegt, welche in den Zonen bis d (steinheimensis bis oxysto- mus) zur Entwickelung kommen“, **) fo wäre vorauszuſetzen, daß ein anderer, der mit der Localität durch Monate lange, mit der Frage ſelbſt durch Jahre lange Studien vertraut iſt, bei erneutem wochenlangen Nachſuchen in beſſer aufgeſchloſſenem Terrain zwar nicht gerade in jeder Schicht, aber doch wenigſtens hier und da ebenſo glücklich ſein würde wie jener. Meine Reſultate waren aber durchgehends negativ. Gegen etwaiges Blindſein, durch Voreingenommenheit verurſacht, garantirt die zu öfteren Malen erfolgte Mitwirkung unbetheiligter Forſcher, ſowie die leicht aus— führbare Unterſuchung der transportablen Handſtücke; gegen abſichtlich falſche Angaben die Lage des Ortes, der, mitten in Deutſch— land befindlich, alljährlich von dem einen oder anderen Gelehrten aufgeſucht wird und ) In der Münchener Entgegnung aus— geſprochen, aber nicht gedruckt. Soll ſich die Natur nach S.'s Anſchauungen richten? In demſelben Saale lag gleichzeitig der leib— würtembergiſchen Landesgeologen bildete. Es müßten daher die Beweiſe Sandberger's ſchon ſehr durchſchlagender Natur fein, um gegen die eben angeſtellten Wahrſcheinlichkeits— betrachtungen ins Gewicht zu fallen. Seinen eigenen Angaben kann man einen ſolchen Wenn Werth nicht beimeſſen; denn ſie lauten 1875 anders als 1873 und widerſtreiten ſich, wenn man einige wenige Blätter ein und derſelben Arbeit umſchlägt; bei der Iden— | tificirung der Formen find Irrthümer unter- gelaufen; weiter ſpricht er ohne nähere Be— zeichnung einer controlirbaren Quelle öfter über Dinge, die er nachweisbar nie vor Augen gehabt hat. Wenn derlei Angaben, wie ab und zu angedeutet wird, auf Hyatt ſchen Mittheilungen baſiren, ſo kann dabei leicht ein Mißverſtehen der Worte dieſes Autors eine ſtörende Rolle geſpielt haben; es iſt endlich kaum anzunehmen, daß in der kurzen Zeit ſeines Aufenthalts eine Reihe von Proben mit genügender Sorg— falt geſammelt und verpackt werden konnte, um Garantien gegen zufällige Vermiſchun— gen zu leiſten. Mit Recht verzichtete daher Sandberger?) darauf, daß nach ſeinen Studien das letzte Wort geſprochen ſein ſollte, das er vielmehr Prof. Hyatt zu— erkennt. Mit Unrecht aber erklärt er dann in München, obwohl inzwiſchen weit um— fangreichere Nachunterſuchungen veranſtaltet worden waren, als Hyatt ſie ausführen konnte, ohne mindeſte Rückſicht auf dieſelben, daß er bei ſeiner Anſicht ſtehen bleiben müſſe. Die Behauptung, daß er beweiſendes Material in Händen habe, erſchien 1873 an drei Orten zu gleicher Zeit im Druck und wurde in zahlreichen Separatabzügen haftige costatus-minutus in tadelloſer Reihe aus. ) Conch. d. Vorw. S. 640. Geſellſchaft, 1877, Bd. 29, S. 417. verbreitet; namhafte Zoologen und Geologen, ) Zeitſchrift der Deutſchen Geologiſchen hieß es, ſeien dadurch von der Unhaltbar— keit meiner Anſichten überzeugt worden. Die Herren Profeſſor Weismann und von Leydig wurden (wohl kaum mit ihrer Autoriſation) namhaft gemacht, Profeſſor Eimer befand ſich unter den anonymen. Prof. Weismann und Eimer ſtimmen mir aber nach genauerer Einſicht in die Sache bei, und erſterer hat mich in München ſogar ausdrücklich autoriſirt, dies zu ver— öffentlichen; Prof. v. Leydig dagegen gedenkt, weil er die Verhältniſſe nicht ſelbſt eingehender zu prüfen Gelegenheit hatte, ſein Urtheil zurückzuhalten. Hyatt, auf den Sandberger ſich ebenfalls beruft, erkennt den genetiſchen Zuſammenhang aller Formen unter einander an, wie ich; daß feine Erfunde über Lagerungsverhältniſſe mit den meinen in unlösbarem Widerſpruche ſtehen, iſt bisher keineswegs conſtatirt, ſoweit ich ihm nach— unterſuchen konnte, harmoniren ſie im Gegen— theil damit. Mir iſt auch ſonſt kein Zoologe oder Geologe bekannt, der nach einer einiger— maßen eingehenden Prüfung der Sachlage mir noch gegenüberſtände, und kein einziger überhaupt, der bereit wäre, für die An— ſchauungen Sandberger's einzutreten, wohl aber manche, bei denen das frühere Mißtrauen gegen mich einer völligen Zu— ſtimmung Platz gemacht hat. München war der Ort, wo ich nun hoffen durfte, ſelbſt der verführeriſchen (denn auf beweiſende rechnete ich damals nicht mehr) Stücke anſichtig zu werden, und ich wurde nicht getäuſcht. Eingangs ſeines Vor— trages erzählt Herr Sandberger zwar, daß ein Theil des von ihm zur Vorlage beſtimmten Materials unbegreiflicher Weiſe nicht angekommen ſei; da er aber ein ſonſt noch vorhandenes, beſonders wichtiges Be— weisſtück in ſeiner Rede erwähnt und be— ſchrieben haben würde, ſo darf man wohl Hilgendorf, Zur Streitfrage des Planorbis multiformis. 24 annehmen, daß ich das trefflichſte vor Augen gehabt habe; auch wußten die bei den Ver— handlungen anweſenden Herren Eimer und Weismann ſich keines beſſern Ma— terials zu entſinnen. Es war dies nun eine Platte (vergl. S. 17 Anm.), eingeſtandener— maßen aus der Schicht entnommen, die Sand— berger als obere trochiformis-Schicht be— zeichnet, in der aber auch nach meiner Angabe wegen ihrer Entſtehung aus dem aufgewühlten Material verſchiedener früherer Schichten eine bunte Miſchung herrſcht, ähnlich, wie wir im Diluvium ſiluriſche und tertiäre Foſſilien neben einander finden. Das Stück, das demnach meine Angaben beſtätigt, nicht widerlegt, ſcheint im Innern ſpärliche oxy- stomus zu enthalten, auf der einen Fläche aber trochiformis, könnte alſo der Grenze der beiden Zonen entſprechen“); wahrſchein— licher iſt aber, nach beſſeren Stücken aus meiner Sammlung zu urtheilen, daß es urſprünglich als weiche Thonſcholle, oxy- stomus enthaltend, in die trochiformis- Schuttmaſſen eingebettet wurde und dort ſeine trochiformis-Rinde erhalten hat, nach— her aber erhärtete. Dies nebenbei. Im allerbeſten Falle könnte das Stück beweiſen, daß der trochiformis noch zur Zeit des oxystomus gelebt habe, was mir nicht nur gleichgültig, ſondern, wie oben dargethan, ſogar angenehm ſein würde. Indeß ich kann mir gut denken, daß einem die Sachlage nicht genauer kennenden Beſchauer gegen— über die Demonſtration wohl verfangen konnte, wenn man ſie etwa mit den Worten einleitete: „Hilgendorf behauptet, wie Sie wiſſen, daß die verſchiedenen Formen ſeiner Hauptreihe getrennt liegen, hier ſehen Sie an dieſem Steinſtück, daß zweierlei zuſam— ) Nach dieſer Auffaſſung wurden ganz dieſelben Stücke von mir in meiner erſten Abhandlung geſchildert (S. 496). Rus. een mengelebt haben müſſen.“ Ich habe ſchon in meinem Schriftchen vom Frühjahr 1877 angegeben, wie ein wirklicher Beweis ausſehen müßte und daß ihn Sandberger, wenn auch hätte führen können; in einer discoi- deus enthaltenden Steinplatte“) hätte er tro— chiformis, oxystomus, elegans, supremus iſt aber bis heute dieſen und'jeden anderen weitgehenden Vermiſchung der Varietäten, einzelner Exemplare, ſchuldig geblieben. Als die erſte Notiz von dem energiſchen und umfaſſenden Widerſpruch Sandber— ger's in Japan an mich gelangte, hat ſie mich, ich muß es geſtehen, ernſthaft beun— ruhigt, nicht als ob meine Beobachtungen an ſich mir nachträglich unſicher erſchienen wären, aber es konnten ja ſehr wohl durch ) Nr. 7 ſeines Profils, Conch. d. Vorw., S. 632. ) Er hätte, um den oben angewandten Vergleich beizubehalten, Diluvium im Silur nachweiſen müſſen, nicht, wie er es vorzieht, Silur im Diluvium. die angegebenen Thatſachen wahr wären, oder dergleichen nachzuweiſen gehabt.**) Er greifbaren Beweis für feine Behauptung jener inſonderheit eines unzeitig frühen Auftretens | | e Hilgendorf, Zur Streitfrage des Planorbis multiformis neue Aufſchlüſſe die Reſultate eine be— deutende Modification erlitten, ja auch ich ſelbſt vielleicht dies oder jenes überſehen haben; daß die Einſprache eine gewiſſe Baſis hätte, ſo viel glaubte ich dem Autor zu Ehren ohne Zweifel annehmen zu müſſen. Sehr beruhigte mich bereits auf der Rück— reiſe in Wien aber ſchon ein Blick in die „Conchylien der Vorwelt“, wo ich ſo flott Uebergangsformen, die ich früher in großer Zahl geſammelt hatte, geleugnet, aber an— dererſeits drei Viertel meiner Angaben be— ſtätigt fand. Als ich endlich die Stein— heimer Sandgruben wiederſah, war Aerger mein vorherrſchendes Gefühl, Aerger dar— über, daß ich Anderen mehr geglaubt hatte, als mir ſelbſt, und Zeit und Nachdenken verſchwendet hatte, während ſich Jemand mittelſt eines gänzlich fundamentloſen Wider— ſpruches das Vergnügen gemacht, mich um die halbe Erde herum in den April zu ſchicken. In Steinheim war Alles noch gerade ſo wie vor fünfzehn Jahren, und gerade ſo, wie ich es kurz aber richtig geſchildert hatte. (Schluß folgt.) \ — Samuel Butler's Gedanken über die Rolle der Gedüchtnih-Uebung in der Entwickelungsgelchichte.“) Von Dr. Hermann Müller. DE »- Lamarck's zu Grunde legen, A kann es, außer dem Urſprunge des organiſchen Lebens ſelbſt, wohl kaum Fragen von größerer Wichtigkeit geben, als die nach den Urſachen der Variabilität und der Vererbung. Lamarck glaubte bekannt— lich, ſo weit es die Thiere betrifft, in den Bedürfniſſen der lebenden Weſen ſelbſt, in ihrem Beſtreben, dieſelben zu befriedigen, und in dem durch daſſelbe bedingten Ge— brauch oder Nichtgebrauch ihrer Organe hin— reichende Urſachen zur Hervorbringung aller zu ihrer Anpaſſung an die wechſelnden Lebensbedingungen erforderlichen Abänder— ungen gefunden zu haben.“) Indem er ) Life and habit. By Samuel Butler. London, Trübner & Co. 1878. ) Jean Lamarck, Zoologiſche Philo- ſophie. Aus dem Franzöſiſchen überſetzt von Arnold Lang. FE . die geſammte Entwickelungs- die Vererbung von den Vorfahren erlangter 5 4 lehre, möge man ihr nun die Eigenthümlichkeiten auf die Nachkommen als a | Anſchauungen Darwin's oder Jena 1876. S. 120—121. feſtſtehende Thatſache hinnahm und für alle Lebeweſen die Fähigkeit, ihren Bedürf— niſſen entſprechend ſich willkürlich abzuändern, in vollſtem Umfange als thatſächlich be— ſtehend vorausſetzte, konnte er ſich in der That die ganze heutige Lebewelt als in ſtufenweiſer Entwickelung aus einfachſten Urorganismen hervorgegangen vorſtellen. Aber ſeine Theorie ſteht und fällt mit der genannten Fähigkeit der Organismen; und unſerer unmittelbaren Wahrnehmung wider— ſtrebt die Annahme dieſer Fähigkeit in dem Grade, daß wir es mit Darwin vor— ziehen, oder wenigſtens bisher vorgezogen haben, nur die erfahrungsmäßige Wirkung des Gebrauchs oder Nichtgebrauchs der Organe als eine uns verſtändliche Urſache des Variirens gelten zu laſſen; im Uebrigen aber die Variabilität ebenſo wie die Ver— erbungsfähigkeit der Organismen als un— ſerem Verſtändniſſe bis jetzt noch nicht er— N I nennen 24 Müller, Samuel Butler's Gedanken über die Rolle der Gedächtniß-Uebung ze. ſchloſſene Thatſachen ausdrücklich anzuerken-⸗ Schwierigkeiten entgegen, daß ich für meinen nen und ſie, unverſtanden wie ſie uns ſind, nebſt der ebenſo unbeſtreitbaren, aber zu— gleich leicht verſtändlichen“) Thatſache der überreichlichen Fortpflanzung aller organiſchen Weſen und des durch dieſelbe bedingten Kampfes ums Daſein zur Begründung der Selektionstheorie zu benutzen. Gelänge es uns, die urſächliche Be— dingtheit der Abänderungen und Vererbun— gen klar zu erkennen, ſo wären damit nicht nur die noch dunkeln Grundlagen der Ent— wickelungslehre aufgehellt, ſondern zugleich die Differenz zwiſchen Lamarck's und Darwin's Auffaſſung beſeitigt. Samuel Butler hat nun in dem tiefdurchdachten und an trefflichen Gedanken wunderbar reichen Buche, deſſen Titel oben genannt iſt, den Verſuch gemacht, über das bezeichnete dunkelſte Gebiet der biologiſchen Forſchung Licht zu verbreiten, und es ſcheint mir um ſo mehr am Platze, ſeine Schluß— folgerungen hier mitzutheilen, als er zu denſelben nicht etwa durch tiefergehende und ſchwer zu controlirende neue Beobachtungen, ſondern lediglich durch geſchickte Benutzung ganz allgemein bekannter Erfahrungen ge— langt iſt. Die Schreibweiſe des Verfaſſers ſtellt aber einem kurzen Auszuge ſo ungemeine ) Siehe: H. Müller, Befruchtung der Blumen, S. 418. **) S. 2: I have allowed myself a loose rein, to run on with whatever came uppermost. , So wird z. B. im letzten Satze auf S. 60 dem Hühnchen im Ei der höchſte Grad von Bewußtſein, im nächſtfolgenden auf S. 61 ohne irgend welche Erklärung Unbewußtheit zugeſchrieben. FT) Man vergleiche z. B. die Betrachtun— gen, welche S. 30 — 42 über diejenigen Leute angeſtellt werden, welche nichts gelernt und nichts vergeſſen haben und als geiſtiges Eigen— Verſuch eines ſolchen die ganz beſondere Nachſicht des Leſers in Anſpruch zu nehmen habe. Nicht blos geſtattet ſich nämlich Butler, wie er ſelbſt ſagt, einen ſo loſen Zügel, daß er Alles, was in ſeinen Ge— danken auftaucht, auch ſogleich zu Tage fördert,“) und verfällt dadurch von Schritt zu Schritt in Abſchweifungen und Wieder— holungen, ſondern er iſt auch in ſeinen Ausdrücken ſo wenig wähleriſch, daß es ihm gar nichts verſchlägt, wenn ſchon der nächſtfolgende Satz mit dem vorhergehen— den dem Wortlaute nach in ſchreiendem Widerſpruche ſteht.““ “) Dazu liebt er es, ſich in paradoxen allgemeinen Behauptungen zu ergehen, die viel zu unbeſtimmt ſind, um ſie entweder als unberechtigt zurückzuweiſen oder als be— rechtigt anerkennen zu können, f) und ver— ſteigt ſich bei der Durchführung eines all— gemeinen Satzes ins Einzelne nicht ſelten ins Ungemeſſene, indem er mitten zwiſchen Beiſpielen, die Jeder ſogleich als treffend anerkennt, andere vorbringt, die nur eine entfernte Analogie mit den übrigen haben, ſo daß ſie den Leſer ſtutzig machen, ob es der Verf. überhaupt wirklich ernſthaft meint, oder nicht vielmehr blos ſeinen Humor aus— laſſen willy) Nimmt man zu alledem thum nur die bereits zum gemeinſamen Beſitz des Menſchengeſchlechts gewordenen Erfahr— ungen beſitzen. Sie ſind dem Verfaſſer die große Armee der eigentlichen Vertreter der Wiſſenſchaft, in denen allein Geſundheit und Schönheit ſich darſtellt; dagegen ſind die ge— wöhnlich ſogenannten Männer der Wiſſen— ſchaft häßliche, rohe und unangenehme Leute, die nur inſofern eine gewiſſe Daſeinsberech— tigung haben, als ſie jener glücklichſten Men— ſchenklaſſe als Pioniere dienen, die ein noch glücklicheres Daſein derſelben ermöglichen. ) So wird uns auf S. 21 in einer — noch die Vorliebe des Verfaſſers für bibliſche Ausdrücke und Gleichniſſe,*) und ſeinen nichts weniger als engliſch einfachen und klaren Styl, der ſelbſt das Citiren wortgetreu überſetzter Stellen oft unmög— lich macht, ſo wird man es begreiflich fin— den, daß ich es nicht zu verſuchen wage, die charakteriſtiſchen Eigenthümlichkeiten des Werkes auszugsweiſe wiedergeben zu wollen, ſondern ſtatt deſſen mir geſtatte, diejenigen Gedanken, welche mir für die Entwickelungs— lehre in erſter Linie beachtenswerth erſcheinen, herauszugreifen, in der Regel nach meiner eigenen Auffaſſung ſelbſt zu formuliren und in möglichſtem Anſchluß an den Gedanfen- gang des Verfaſſers, wie ich ihn im Großen und Ganzen zu erkennen glaube, geordnet zuſammenzuſtellen. Daß wir durch viele Uebung die man— nigfachſten Thätigkeiten uns in dem Grade geläufig machen können, daß wir ſie un— bewußt auszuführen vermögen, iſt uns Allen wohl bekannt. Ein geübter Clavierſpieler ſpielt die ſchwierigſten Muſikſtücke, anſchei⸗ nend ohne Anſtrengung, oft während er der Unterhaltung über ganz andere Gegen— ſtände zuhört und ſich vielleicht ſelbſt an derſelben betheiligt, richtig und ſogar mit Ausdruck. Im Verlaufe von vier oder fünf Minuten mag er leicht 4000 oder 5000 Noten ſpielen und 10000 Einzel- heiten berückſichtigen, deren jede einen ge— karrikirten Darſtellung der Gravitation ohne Weiteres zugemuthet, die ohne unſer Bewußt— ſein erfolgende Wirkung der Schwerkraft auf unſern Körper mit denjenigen urſprünglich bewußten Thätigkeiten, die uns durch viele Uebung bis zur Möglichkeit unbewußter Aus- führung geläufig geworden ſind, auf gleiche Stufe zu ſetzen. ) Vergl. die Abſchnitte über Gnade und Geſetz, S. 36 — 42, über die Wunderwirkun⸗ gen des Glaubens ꝛc. Kosmos, III. Jahrg. Heft 1. Müller, Samuel Butler's Gedanken über die Rolle der Gedächtniß-Uebung ꝛc. 25 wiſſen, wenn auch noch ſo geringen Betrag von Aufmerkſamkeit, Willen und Muskel thätigkeit erfordert. Ein Violinſpieler kann daſſelbe leiſten und außerdem umhergehen. Er kennt eben ſein Stück ſo durchaus, daß es ihm in das Bereich der Unbewußtheit übergegangen iſt; und ſeine Unbewußtheit der Tauſende von Aufmerkſamkeits- und Willensbethätigungen, welche die Ausführ— ung des Ganzen doch offenbar erheiſcht, iſt in der That ſo vollſtändig geworden, daß er ſeine bewußte Aufmerkſamkeit und ſeinen bewußten Willen kaum mehr auf eine be— ſtimmte Einzelheit ſeiner Ausführung lenken kann, ohne aus dem Zuſammenhang zu kommen. Ebenſo vollſtändig ſcheint ihm am Schluſſe ſeines Spielens die Erinnerung an die Tau— ſende von Einzelheiten verſchwunden zu ſein, die er zur Darſtellung gebracht hat. Er erinnert ſich des Stückes, das er geſpielt hat, und vielleicht der einen oder anderen ihm weniger geläufigen Stelle. Alles Uebrige aber hat er ſo vollſtändig vergeſſen, wie die während des Spielens gethanen Athem— züge. Selbſt die Schwierigkeiten, welche ihm einſt das Erlernen des Stückes bereitet hat, ſind zum größten Theil ebenſo voll— ſtändig aus ſeiner bewußten Erinnerung ge— ſchwunden, als was er vor zehn Jahren an dieſem Tage gegeſſen oder was für Kleider er angehabt hat. Gleichwohl iſt es klar, daß ihm in nur unbewußter Erinnerung noch ſehr Vieles erhalten geblieben ſein muß, denn er vermeidet Fehler, die er einſtmals gemacht hat, und ſeine Ausführung beweiſt, daß alle Noten in ſeinem Gedächtniß ge— blieben ſind, obſchon er außer Stande iſt, irgend einen Takt mitten aus dem Zu— ſammenhange heraus zu ſpielen. Und doch hat es eine Zeit gegeben, wo er das, was ihm jetzt ſo leicht iſt, daß es ohne bewußte Anftrengung des Gehirns vollführt wird, nur mittelſt ſehr fühlbarer, ſelbſt Ermüdung und Pein verurſachender Gehirnarbeit in Ausführung bringen konnte. Selbſt jetzt noch ſehen wir ihn, wenn er etwas Un— gewöhnliches zu ſpielen hat, ſtocken und un— mittelbar ſeiner Aufmerkſamkeit ſich bewußt werden. Wir können daraus, wenigſtens in Bezug auf Clavier- und Violinſpielen, ſchließen: Je mehr wir mit einer Ausführ— ung vertraut ſind und ſie durchaus kennen, um fo weniger haben wir Bewußtſein dieſer Kenntniß, ſo daß es faſt ebenſo ſchwierig iſt, das gewiſſermaßen latent gewordene Be— wußtſein des völlig geläufig Gewordenen wieder wach zu rufen, als das kaum erſt höchſt unvollkommen Gelernte zum Bewußt— ſein zu bringen. Je weniger wir anderer— ſeits, bis zu einer gewiſſen Stufe ab— wärts, noch mit einer Ausführung vertraut ſind, je weniger wir ſie durchaus kennen, um ſo mehr werden wir uns derſelben bewußt.“) Was wir gar nicht kennen und was wir vollkommen ſicher kennen, entzieht ſich in gleicher Weiſe unſerm Bewußtſein. Aehnlich wie mit dem Clavierſpielen iſt es, wie der Verfaſſer eingehender erörtert, auch mit dem Schreiben, Leſen, Gehen und Sprechen, und es bilden dieſe Thätigkeiten in dieſer Reihen— folge eine Stufenleiter, deren jedes folgende Glied durchſchnittlich früher erlernt und zu größerer Fertigkeit und Sicherheit eingeübt zu werden pflegt als das vorhergehende, aber dann auch ſchwerer in ſeinen Einzel— heiten zum Bewußtſein gebracht und durch bewußten Willen beherrſcht werden kann, woraus ſich von Neuem ergiebt: Je älter die Gewohnheit und je größer die Uebung und Kenntniß, um ſo geringer die Unſicher— ) Vergl. H. Kühne, Ueber das Be— wußtſein, Kosmos III, S. 307. 26 Müller, Samuel Butler's Gedanken über die Rolle der Gedächtniß-Uebung ꝛc. heit, um ſo geringer aber auch die Fähigkeit bewußter Selbſterkenntniß und Selbſtcontrole! Verſchiedene Individuen erreichen die unbewußte Stufe voller Geläufigkeit mit ſehr verſchiedenen Graden von Schwierig— keit, einige mit großer, andere faſt ohne alle Anſtrengung. So konnte Zerah Col— burn (nach Dr. Carpenter's Mental Physiology) bereits als achtjähriger Knabe mit unglaublicher Geſchwindigkeit einſtellige Zahlen bis zur zehnten Potenz erheben, aus neunſtelligen die Cubikwurzel ziehen, ſechs— ſtellige in ihre Faktoren zerlegen oder als Primzahlen erkennen und dergl., ohne ſich der Rechnungsoperationen, durch die er faſt momentan das richtige Reſultat erlangte, bewußt zu werden. Auch in allen anderen Fällen ſo ungewöhnlich früh und anſcheinend mühelos erlangter Fertigkeit entzog ſich die Ausübung irgend einer Kunſt, ſo oft ſie mit vollendeter Sicherheit und Leichtigkeit erfolgte, dem Bewußtſein des Ausübenden und wurde nur dann bewußt, wenn ſelbſt ſeiner abnormen Fähigkeit eine Schwierig- keit entgegentrat. Unbewußtheit des Wiſſens, Wollens und Sich-Erinnerns kann alſo ebenſowohl von vollendet geläufigem Wiſſen und Wollen, als von gänzlichem Fehlen deſſelben herrühren. Bewußtes Wiſſen und Wollen ſchließt Aufmerkſamkeit, Unentſchieden— heit, Zweifel und damit einen gewiſſen Grad von Ungewißheit und Unwiſſenheit in ſich. Auch das ſcheint aus den oben angedeute— ten Beiſpielen, denen der Leſer leicht weitere, vielleicht noch paſſendere anreihen kann, als allgemeiner Satz hervorzugehen, daß unbe— wußtes Wiſſen und Wollen ausſchließlich als das Ergebniß von Erfahrung, Ver— trautheit und Gewohnheit erworben werden kann. So oft wir daher Jemand befähigt ſehen, irgend eine complicirte Thätigkeit un— bewußt auszuführen, werden wir annehmen dürfen, daß er fie ſehr oft ausgeführt haben muß, ehe er eine ſo große Fertigkeit erlan— gen konnte; daß es vorher eine Zeit gegeben hat, wo er ſie noch gar nicht ausführen konnte, und daß er in der Zwiſchenzeit alle Zwiſchenſtufen mißlungener und gelungener Verſuche, unvollkommneren und vollkommne— ren Könnens durchlaufen hat. Daß dieſer all— gemeine Satz nicht blos für körperliche Thätig— keiten, ſondern ebenſo auch für Meinungen, Denkungsarten und geiſtige Gewohnheiten gilt, könnte man ſchon aus dem angeführ— Beiſpiele des Zerah Colburn ſchließen; in noch viel beſtimmterer Weiſe läßt es ſich aus zahlloſen anderen Erfahrungen ab— leiten. Der vollendetſte Dieb iſt der Klepto— mane, der ſich ſeiner diebiſchen Neigungen gar nicht mehr bewußt iſt. Der vollendetſte Heuchler hält ſich für einen der wenigen aufrichtigen Menſchen. Von ſeiner eigenen Exiſtenz hat der Menſch die ſicherſte Kennt— niß, ſo lange er ſich derſelben nicht bewußt iſt. Erſt mit dem Bewußtſein derſelben kommen ihm die Zweifel an ihrer ſichern Begründung und die Verſuche, ſie „mit ſolchem Stroh“ (such a straw!) wie co- gito ergo sum zu beweiſen. Ebenſo haben einen feſten Glauben an einen perſönlichen Gott, an die chriſtliche, jüdiſche oder muha— medaniſche Religion nur Diejenigen, die ſich des Grundes ihres Glaubens nicht mehr bewußt ſind und das Bedürfniß eines Be— weiſes nicht mehr empfinden. Vom Bewußt⸗ ſein der Gründe und dem Verſuche des Beweiſes bis zum gänzlichen Aufgeben des Glaubens iſt nur noch ein Schritt. Ebenſo ſind der vollkommenſte Humor und die voll— kommenſte Ironie im Allgemeinen unbewußt, wie jo oft Leute beweiſen, die man gewöhn⸗ lich für trocken und witzlos hält, die aber wahrſcheinlich nur ihrer vollendeten Meiſter— ſchaft die Unbewußtheit ihrer ergötzlichen Müller, Samuel Butler's Gedanken über die Rolle der Gedächtniß-Uebung ze. 27 Eigenſchaft verdanken. — Wenn wir Je mand irgend eine Eigenſchaft zur Schau tragen ſehen, ſo dürfen wir mit Sicherheit ſchließen, daß er ſie noch nicht völlig be— ſitzt. — Oft haben ungeſchulte Leute von bedeutender praktiſcher Erfahrung richtig be— zeichnet, an welcher Stelle und in welcher Tiefe in einem gewiſſen Diſtrikt Waſſer zu finden war, oder welchen Verlauf eine Metallader in demſelben hatte, ohne Gründe für ihre Meinung angeben zu können, und dies, nachdem die ihrer Gründe ſich bewußte Schlußfolgerung der Ingenieure irre geführt hatte. Offenbar hatten die Erſteren ſich durch vieles Beobachten die entſcheidenden Thatſachen und die Schlußfolgerungen aus denſelben bis zum Unbewußtwerden geläufig gemacht, während die Letzteren noch auf der unſicheren Stufe des bewußten Wollens und Schließens ſich befanden. Wenn nun aus dieſen und vielen an— deren Thatſachen hervorgeht, daß unſer Wiſſen, Denken und Wollen bei vollendeter Geläufigkeit ſtets unbewußt wird, müſſen wir dann nicht vermuthen, daß viele Thätig— keiten, die wir beſtändig unbewußt vollführen und mit bewußter Abſicht weder auszufüh- ren noch zu hemmen vermögen, ebenfalls nur einem Uebermaß von Uebung, nicht aber einem Mangel derſelben ihre Unbe— wußtheit verdanken? In der That führt uns von denjenigen Thätigkeiten, welche wir unmittelbar nach der Geburt noch gar nicht ausführen können und offenbar nur durch viele Erfahrung und Uebung bis zum Stadium unbewußter Ausführung uns aneignen, eine Reihe von Abſtufungen unmerklich bis zu ſolchen Thä— tigkeiten, für die wir aller Analogie nach ebenfalls Erfahrung und Uebung voraus— ſetzen müßten, für welche jedoch, da ſie be— reits unmittelbar nach der Geburt unbe— 28 wußt ausgeübt werden, dieſe Vorausſetzung ihre Schwierigkeiten hat. Eſſen und trinken z. B. können wir unmittelbar nach der Ge— burt noch nicht; wir lernen es aber durch unverhältnißmäßig geringe Uebung mit ſol— cher Meiſterſchaft, daß wir es fortan un— bewußt ausüben können, obgleich es uns leicht möglich bleibt, beide Thätigkeiten auch mit unſerm Bewußtſein zu verfolgen und willkürlich zu hemmen. Schlingen (welches auch im Thierleben die früher erworbene Fähigkeit zu ſein ſcheint) können wir ſchon unmittelbar nach der Geburt und zwar, obwohl es eine complicirtere Thätigkeit iſt, nach weit geringerer Erfahrung mit noch vollendeterer und noch weit mehr bis zur Unbewußtheit geſteigerter Meiſterſchaft, ſo daß es unſerer bewußten Selbſtcontrole zum größten Theile ſich entzieht. Aller Analogie nach ſollten wir vermuthen, daß dem unverhältnißmäßig raſchen Erlernen des Eſſens und Trinkens und noch weit mehr dem des Schlingens ſchon Erfahrung und Uebung in dieſen Thätigkeiten vorausgegan— gen ſein muß. Auch das Athmen wird unmittelbar nach der Geburt erſt gelernt, gewöhnlich mit etwas Anſtoß und Schwierigkeit, aber doch ſo raſch, daß es ſelten länger als zehn Minuten oder eine Viertelſtunde in Anſpruch nimmt. Das Mißverhältniß zwiſchen der Kürze der Lehrzeit und der bis zur Un— bewußtheit geſteigerten Vollendung, mit welcher dann ſofort die ſehr complicirte Thätigkeit ausgeübt wird, iſt hier ſo groß, und die beim Erlernen des Athmens zu Tage tretenden Erſcheinungen ſind überdies ſo ähnlich dem kurzen Probiren vor dem Wiederholen einer auswendig gekonnten aber lange nicht geübten Kunſt, daß wir ſicher berechtigt ſind, weit mehr Erinnerung und Erfahrung ſeitens des das Athmen Müller, Samuel Butler's Gedanken über die Rolle der Gedächtniß-Uebung 2. lernenden Säuglings zu vermuthen, als uns entgegentritt. Aehnlich iſt es mit dem Sehen und in noch weit höherem Grade mit der Verdauung, der Thätigkeit des Herzens und der Oxpdation des Blutes der Fall. Die nach der Geburt von uns unbewußt ausgeübten Thätigkeiten bieten alſo folgende Abſtufungen dar: 1) Am meiſten bewußt und unſerer Controle un- terworfen ſind diejenigen Thätigkeiten, welche, wie die Sprache, der aufrechte Gang, die Künſte und Wiſſenſchaften, erſt von der menſchlichen Raſſe erworben worden ſind und von jedem Einzelnen immer erſt nach der Geburt erworben werden. 2) Weniger bewußt und weniger unſerer Controle un— terworfen ſind Eſſen, Trinken, Schlingen, Athmen, Hören und Sehen, von unſeren vormenſchlichen Ahnen erworbene Thätig— keiten, zu denen wir uns bereits mit dem ganzen nöthigen Apparat verſehen hatten, bevor wir das Licht der Welt erblickten, die aber doch, geologiſch genommen, verhält— nißmäßig neu ſind. 3) Am meiſten unbe— wußt und unſerer Controle entzogen ſind Verdauung und Blutumlauf, Thätigkeiten, die ſchon unſeren wirbelloſen Ahnen eigen waren und, geologiſch genommen, von höch— ſtem Alter ſind. Das weiſt wieder darauf hin, daß Bewußtſein und Willkürlichkeit der Thätigkeiten um ſo mehr ſchwinden, je älter die Gewohnheit iſt. Wenn aber alle nach der Geburt er— worbenen Thätigkeiten nur in Folge langer Praxis und durch dieſelbe erlangter voll— endeter Meiſterſchaft automatiſch von uns ausgeführt werden können, ſo iſt es unmög— lich, daſſelbe nicht auch für alle vor der Geburt ausgeübten Thätigkeiten, für die ganze Entwickelungsgeſchichte des Embryo anzunehmen, da ſich eine Grenzlinie zwiſchen ihnen nicht ziehen läßt. Ein junges Hühn— Müller, Samuel Butler's Gedanken über die Rolle der Gedächtniß-Uebung ac. chen z. B. weiß nie mit ſo vollendeter Meiſterſchaft alle ſeine Lebensthätigkeiten zu verrichten, als während es ſich als Embryo im Ei befindet. Da bildet es Knochen, Fleiſch, Federn, Augen und Krallen, und braucht dazu weiter nichts als etwas Wärme und Eiweiß; da läßt es ſich eine hornige Spitze an ſeinen Schnabel wachſen, um ſich damit ſpäter ein Loch zum Auskriechen durch die Eiſchale machen zu können, und verrichtet dies Alles in Folge Jahrtauſende langer Uebung mit ſo ausnehmend großer Erfahrung und abſoluter Sicherheit, daß es äußerſt unfähig iſt, den Operationen ſeines eigenen Geiſtes zu folgen. Iſt es aber richtig, dieſe embryonalen Thätigkeiten als gewußte und gewollte und nur durch tauſendfältige Uebung unbewußt gewordene zu betrachten, ſo folgt unabweis— bar, daß das Ei vom erſten Moment des Bebrütens an und ſelbſt vor demſelben voll Können und Wollen ſein muß, und daß das unausgebrütete Hühnchen während ſeines embryonalen Zuſtandes nur ganz daſſelbe thut, was es auch nach dem Aus— ſchlüpfen aus der Eiſchale und bis zu ſeinem Tode thut, nämlich immer dasjenige, was es unter den gegebenen Umſtänden für das Vortheilhafteſte für ſich hält, und was das iſt, das richtet ſich nach ſeinen Gewohn— heiten, ſeinen früheren Umſtänden und Denkungsarten. Was hier von dem Protoplasma des Eies als möglich verlangt wird, iſt in der That kaum mehr als das, was die Pro— tiſten als einfache Protoplasmaklümpchen wirklich leiſten. An den Protiſten ſehen wir ja in der That, daß ein Weſen ohne Gehirn zum Denken, ohne Augen zum Sehen, ohne Hände und Füße zum Ar— beiten, ein Weſen, das unſerem Auge weiter inchts iſt als ein kleines Gallertklümpchen, vermag. dieſelben zu befriedigen. 29 trotzdem die wunderbarſten Dinge zu leiſten Eine Amöbe z. B. ſchafft ſich ohne weiteres Füße, indem ſie beliebige Stellen ihres Körpers hervortreten läßt und wieder einzieht, ſie ſchafft ſich, ſobald ſie einem nährenden Theilchen begegnet, ohne weiteres einen Magen zu deſſen Aufnahme, indem ſie ihren weichen Leib um daſſelbe herumſchlägt. Ein Schleimſtern ſchickt, während er an derſelben Stelle liegen bleibt, immer neue Schleimfäden aus, die kleine Theilchen einfangen und ineinanderfließend mit denſelben in die Hauptmaſſe zurück— kehren — beide augenſcheinlich im Bewußt— ſein ihrer Bedürfniſſe und in der Abſicht, Andere dieſer kleinen Gallertklümpchen bauen ſich Gehäuſe von regelmäßigſter Form und künſtlichſtem Bau. Wenn ein menſchlicher Baumeiſter, neben einen Haufen von Steinen der man— nigfachſten Form und Größe geſetzt, es fertig brächte, aus demſelben mit weiter nichts als der möglichſt geringen Menge eines ſehr zähen aber ſehr koſtbaren Kittes einen auf beiden Oberflächen glatten Dom zu bauen, ſo würde man ihm ohne Zweifel hohe Einſicht und großes Geſchick zuſchrei— ben. Und doch iſt es genau daſſelbe, was dieſe kleinen „Gallertklümpchen“ in win- zigem Maßſtabe ausführen. Von demſel— ben ſandigen Boden pickt, nach Dr. Car- penter, die eine Art gröbere Quarzkörner auf, kittet ſie mit aus ihrer eigenen Sub— ſtanz abgeſondertem phosphorſaurem Eiſen zuſammen und baut ſich ſo ein flaſchen— förmiges Gehäuſe mit kurzem Hals und einfacher weiter Mündung. pickt die feinſten Körnchen auf und fügt ſie mit demſelben Kitt zu vollkommen fug- ligen Gehäuſen von außerordentlicher Voll— endung zuſammen, die von zahlreichen, kleinen, zierlich in regelmäßige Zwiſchen— Eine andere. 30 Müller, Samuel Butler's Gedanken über die Rolle der Gedächtniß-Uebung ꝛe. räume vertheilten Oeffnungen durchbohrt ſind. Eine andere wählt die kleinſten Sand— körner und die Spitzen von Spongien-Nadeln und verarbeitet ſie, augenſcheinlich ohne allen Kitt, durch bloßes Zuſammenlegen der Na— deln zu vollkommenen weißen Kugeln, deren jede eine einzige ſpaltförmige Oeffnung hat. Wieder eine andere, deren gerade, vielkam— merige Gehäuſe Orthoceratiten ähnlich ſind, indem die koniſche Mündung jeder Kammer in die Höhlung der nächſten hinein reicht, bildet die Wände der Kammern aus ziem— lich loſe zuſammengefügten Sandkörnern, den kegelförmigen Mund der auf einander folgenden Kammern dagegen aus dicht zu— ſammen gefitteten eiſenroſthaltigen Sand— körnchen, die es aus der allgemeinen Maſſe heraus geleſen haben muß. Dies Alles und noch viel Mannigfal— tigeres und viel Complicirteres“) vermag ein einfaches Protoplasmaklümpchen zu leiſten, wenn es viele tauſend Generationen hin— durch dieſelben Bedürfniſſe empfunden und die Befriedigung derſelben geübt hat. Denn bei den durch Theilung ſich fortpflanzenden Protiſten kann offenbar darüber gar kein Zweifel ſein, daß dieſelbe Perſönlichkeit mit allen ihren Erfahrungen in allen ihren Theilſtücken fortlebt. Dürften wir daher den Begriff der perſönlichen Identität ſo weit ausdehnen, daß dieſelbe überhaupt durch den Zeugungsakt nicht unterbrochen wird, dürf- ten wir demgemäß annehmen, daß das Hühnchen im Ei alle ſeine embryonalen Thätigkeiten in eigener Perſon ſchon viel- tauſendmal vollzogen hat, ſo wäre damit das räthſelhafte Gebiet der Bererbungs- | erſcheinungen in ebenſo einfacher als be— friedigender Weiſe erklärt. Vergegenwärtigen ) Vergl. E. Haeckel, reich, Kosmos Bd. III. Das Protiſten— | \ wir uns nun die auf einander gefolgten Zuſtände unſerer eigenen oder irgend wel— cher Perſönlichkeit, indem wir Schritt für Schritt bis zur. Geburt, dann durch die embryonalen Phaſen bis zum befruchteten Ei, bis zu der in dieſem vereinten Eizelle und Spermazelle, und bis zu den beiden Perſonen, von denen ſich dieſelben abgeſpal— tet haben, zurückgehen, und vergegenwärti— gen wir uns andererſeits die mannigfachen Abſtufungen der Fortpflanzungsarten von der Zweitheilung einer Amöbe bis zu un— ſerer eigenen geſchlechtlichen Fortpflanzung, ſo finden wir nirgends die Möglichkeit, zwiſchen den verſchiedenen Forlpflanzungs— arten eine ſcharfe Grenzlinie zu ziehen oder die perſönliche Continuität in den auf einander folgenden Generationen gleicher Abſtammung als unterbrochen anzunehmen. Von den einfachſten Protiſten bis zu den höchſten Thieren und Pflanzen hinauf ſtellt ſich uns alſo das organiſche Leben (unter der Vorausſetzung einheitlicher Abſtammung) als eine urſprünglich einfache Perſönlichkeit dar, die ſich in zahlloſe Thätigkeits- und Erinnerungs-Centra zerſpalten hat, deren jedes ſeiner Verbindung mit den übrigen Gliedern ſich unbewußt iſt. Gleichzeitig aber mit dieſer zunehmenden Zerſpaltung hat ſich eine immer größere Zuſammen— geſetztheit der Individuen entwickelt, ſo daß nur die Protiſten einfache Individuen lerſter Ordnung) geblieben ſind, während die höheren Thiere aus Billionen von Indivi— duen gebildete Staaten darſtellen, in wel— chen nicht nur die amöbenartigen Einzel- weſen (Zellen) ihr eigenartiges Leben haben, mit Geburt und Tod, ſondern auch Ge— dächtniß⸗, Willens- und Thätigkeits-Centra höherer und höchſter Ordnung beſtehen, die zwar dem regelnden Einfluß des Centrums des Geſammtorganismus unterworfen ſind, aber doch auch eine gewiſſe Selbſtſtändig— keit behaupten. Wenn hiernach jedes lebende Weſen viele Millionen Jahre alt iſt und ein intenſives, wiewohl unbewußtes Gedächtniß alles Deſſen beſitzt, was es oft genug gethan hat, um einen dauernden Eindruck davon zu behal— ten, ſo können wir uns die embryologiſche Entwickelung des Einzelweſens und ihre Uebereinſtimmung mit den Entwickelungs— phaſen ſeines Stammes (das biogenetiſche Grundgeſetz) einfach genug erklären. Jedes Individuum ſchlägt, nachdem es aus ge— ſchlechtlicher oder ungeſchlechtlicher Fortpflanz— ung von neuem hervorgegangen iſt, zur Wiedererlangung ſeiner bis jetzt vollendet— ſten Form eben denjenigen Weg ein, den es in eigener Perſon ſchon millionenmal durchlaufen hat und in deſſen einzelne Bieg— ungen und Wendungen es dereinſt durch die Macht der Umſtände und durch eigene Erwägungen gedrängt worden iſt. Die zur vollſten Unbewußtheit geſteigerte Intenſität ſeines Gedächtniſſes iſt die geheimnißvolle Urſache der leichten Ausführung feiner em— bryonalen Thätigkeiten. Wie läßt ſich aber dieſe ununterbrochene und endloſe Continui— tät des der lebenden Materie innewohnen— den Gedächtniſſes mit dem unabläſſigen Stoffwechſel alles Lebendigen in Einklang bringen? Offenbar iſt die Beantwortung dieſer Frage dieſelbe für unſere durch viele Millionen von Einzelleben pulſirende Ge— ſammtthätigkeit, als für unſer gegenwärtiges Einzelleben. Sie liegt in Folgendem: So lange ein lebendes Weſen ſich mehr oder weniger annähernd in einer Stellung behaupten kann, an die es in ſeinem und ſeiner Vorväter Leben gewöhnt geweſen iſt, vermag Nichts es zu ſchädigen oder zu aſſimiliren. Ein lebender Organismus kann nicht aſſimilirt werden! Sobald dagegen Müller, Samuel Butler's Gedanken über die Rolle der Gedächtniß-Uebung ꝛe. 31 ein lebendes Weſen aus dem, was ihm von ſeinem und ſeiner Vorväter Leben her ver— traut iſt, auf eine kurze Zeit vollſtändig herausgedrängt wird, verliert es in der Regel ſeine Erinnerungen vollſtändig, auf einmal und für immer, aber es muß un⸗ mittelbar neue erwerben. Denn Nichts kann Nichts wiſſen; jedes Ding muß ſich ent— weder ſeiner eigenen Erlebniſſe oder der— jenigen irgend eines Andern erinnern. Ein Getreidekorn z. B., das in den Magen eines Huhnes gelangt, mag vielleicht zuerſt denken, es wäre eben geſäet worden, und Vorbereitungen zum Keimen treffen; aber alsbald entdeckt es, daß es mit ſolcher Umgebung nicht vertraut iſt, wird erſchreckt, verliert den Kopf und wird nun zwiſchen den Magenſteinen zerkleinert. Es iſt der Henne gelungen, es in eine Lage zu ver— ſetzen, mit der es nicht vertraut war; von da ab war es ein leichter Schritt, es völlig zu aſſimiliren. Von da ab hört das Korn auf, ſich irgendwie mehr als Korn zu er— innern, aber es wird in alles das einge— weiht, was Hühnern jetzt begegnet und ſeit unzähligen Generationen begegnet iſt, und greift nun ſelbſt alle anderen Körner an, ſobald es welche trifft. Die erſte Frage beim Zuſammentreffen lebender Organismen iſt daher in zahlloſen Fällen einfach die: Kann ich dich in eine Lage verſetzen, mit der deine Vorväter nicht vertraut geweſen ſind oder du mich? Der Menſch iſt nur deshalb das herrſchende Thier auf der Erde, weil er dieſe Frage im Allgemeinen zu feinen Gunſten entſchei⸗ den kann. Eine andere Frage, welche ſich unſerer Auffaſſung der embryonalen Thätigkeit ent- gegenſtellt, iſt die: Läßt ſich dieſe Auf— faſſung mit den uns in ſo vieler Beziehung bis jetzt völlig räthſelhaften Vererbungs— | 32 Müller, Samuel Butler's Gedanken über die Rolle der Gedächtniß-Uebung 2c. erſcheinungen auch wirklich in Einklang brin— gen? Läßt es ſich als eine nothwendige Wirkung der von demſelben Individuum millionenmal wiederholten Erfahrungen und Ausführungen und ſeines unbewußten Ge— dächtniſſes derſelben erkennen, daß z. B. die— ſelben Eigenthümlichkeiten auf daſſelbe Lebens— alter oder Entwickelungsſtadium vererbt wer— den, daß Kinder zwar in der Regel am meiſten ihren Eltern, nicht ſelten jedoch noch mehr dem einen oder anderen ihrer Groß— eltern gleichen u. ſ. w.? In der That brauchen wir für die von uns als durch die ganze Descendentenreihe ununterbrochen fortdauernd angenommene Perſönlichkeit und ihr Gedächtniß keine anderen Eigenſchaften anzunehmen als die, welche wir während unſerer jetzigen Lebenswelle (wenn es ge— ſtattet iſt, den Abſchnitt zwiſchen Geburt und Tod der Kürze wegen ſo zu nennen) an uns ſelbſt und unſerem Gedächtniſſe beobachten, um uns dieſe und zahlreiche andere ebenſo bekannte, zugleich aber bis jetzt ebenſo räthſelhafte Vererbungserſchein— ungen erklären zu können. Nachhaltige Gedächtnißeindrücke können uns nämlich einerſeits durch eine einmalige Einwirkung von etwas höchſt Ungewohntem, das unſer Intereſſe auf das Innigſte be— rührt (z. B. durch den Aublick der Leiche einer uns nahe ſtehenden Perſon), anderer— ſeits durch oftmalige Wiederholung ſchwacher Eindrücke (wie z. B. bei allem auswendig Gelernten) verurſacht werden. Der erſteren erinnern wir uns mit Bewußtſein und lebendiger Vorſtellung gewiſſer Einzelheiten, wenn auch die meiſten derſelben raſch un- ſerem Gedächtniß entſchwunden ſind. Der letzteren, die den wichtigſten Theil unſeres Gedächtnißſchatzes bilden, erinnern wir uns in mehr unbewußter Weiſe, oft nur durch | und können in Bezug auf dieſelben folgende Beobachtungen machen: 1) Am beſten erinnern wir uns in der Regel der letzten Wiederholungen, und un— ſere jetzige Ausführung hat die meiſte Wahr— ſcheinlichkeit, der einen oder anderen von dieſen zu gleichen, von den früheren behalten wir meiſt nur einen Geſammteindruck übrig. 2) Was wir ſo oft gethan haben, daß es uns zur anderen Natur geworden iſt, können wir in der Regel nur in derſelben Reihenfolge wiederholen. 3) Wollen wir den bisherigen Gang einer feſt gewordenen Gewohnheit abändern, in— dem wir eine neue Idee in dieſelbe ein— führen, ſo wird uns dieſe Idee ihrer Neu— heit wegen bei der nächſten Gelegenheit wohl einfallen, die Ausführung derſelben wird uns aber in der Regel zunächſt, wenn überhaupt, nur mit großer Schwierigkeit gelingen. Wir werden leicht ganz in den alten Gang zurückfallen oder wenigſtens mehr oder weniger oft ihn wiederholen, ehe es uns durch immer erneute Anſtreng— ung gelingt, die neue Weiſe uns ſo geläufig zu machen, daß ſie die alte verdrängt. Nur ſelten wird ſich Jemandem ein einzelner Eindruck, eine neue Idee ſo tief einprägen, daß er ſie, wenn auch mit beträchtlicher Schwierigkeit, ſofort und auf immer in ſeine Praxis aufnimmt. Wer aber einmal ſeine gewohnheitsmäßige Ausführung in dieſer Weiſe zu ändern vermag, wird ſie im Allgemeinen auch ſpäteren neuen Ein— wirkungen gegenüber leicht ändern. Wir nennen ihn ein Genie. N 4) Unſerer gewohnheitsmäßigen Hand— lungen erinnern wir uns, wie wohl unbe— wußt, doch viel intenſiver als ſelbſt neuerer einzelner Eindrücke und Handlungen. So lange wir gewahr werden, daß wir uns die Wiederholung der Ausführung ſelbſt, erinnern oder uns anftvengen, uns zu er— Müller, Samuel Bntler's Gedanken über die Rolle der Gedächtniß-Uebung ꝛe. innern, iſt dies immer ein Zeichen, daß unſere Erinnerung mangelhaft iſt. höchſte Grad der Erinnerung iſt immer unbewußt. 5) Wenn wir durch die Umſtände zu einer gründlichen Aenderung unſerer Lebens— gewohnheiten gedrängt worden ſind, wie z. B. beim Uebergange von der Schule auf die Univerſität, oder von der Univerſität ins praktiſche Leben, ſo kann uns die Er— innerung an unſere früheren Gewohnheiten viele Jahre hindurch völlig verſchwunden ſein; ſobald wir aber in die alten Umgeb— ungen zurückverſetzt werden, taucht die alte Zeit und das Verlangen nach den früheren Thätigkeiten augenblicklich wieder in unſerem zwiſchen erlebt haben, aus der Erinnerung verſchwindet, und es ſcheint in dieſer Be— ziehung kaum eine Grenze zu geben, weder in Bezug auf Vollſtändigkeit der Erinner— ung, noch in Bezug auf Länge der Zeit. Denn einen achtzigjährigen Greis kann ein beſtimmter Geruch an einen Vorfall aus ſeiner früheſten Jugendzeit erinnern, an den er inzwiſchen nicht gedacht hat. 6) Schließlich iſt die Plötzlichkeit und ſcheinbare Launenhaftigkeit bemerkenswerth, mit der oft unſer Gedächtniß zu längſt Ver— geſſenem zurückſpringt, ohne daß wir die Gedankenbrücke zu verfolgen vermöchten. Wenn nun, wie es nach unſerer Auf— faſſung der Fall iſt, die Perſönlichkeit jedes Lebeweſens und ſein Gedächtniß in ununter— brochenem Zuſammenhange bis zum An— fange ſeiner Ahnenreihe zurückreicht, die ſo— genannten Vererbungserſcheinungen alſo blos Gedächtnißäußerungen eines und deſſelben Individuums ſind, ſo können wir aus den ſoeben mitgetheilten Eigenthümlichkeiten der Gedächtnißäußerungen in der That a priori C Der Gedächtniſſe auf, während, was wir in- 33 ableiten, was in der embryonalen Entwickel— ung thatſächlich erfolgt, nämlich: 1) Die Nachkommen gleichen in der Regel am meiſten ihren unmittelbarſten Stammeltern, d. h. ſie erinnern ſich am beſten der letzten Wiederholung ihrer Ge— wohnheit; nicht ſelten aber gleichen ſie ihren Großeltern noch mehr als ihren Eltern; denn nach Aenderung einer Gewohnheit fallen wir nicht ſelten noch einmal in den- jenigen Gang zurück, der dem zuletzt an- genommenen vorausging. In ſeinen frühe— ren Stadien befolgt der Embryo nur die allgemeine Methode ſeiner Urahnen und drängt langweilige und complicirte Geſchich— ten in einen ſehr verkürzten Auszug zuſam— men, weil er ſich keiner einzelnen Ausführ— ung ſo alter Gewohnheiten mehr insbeſon— dere erinnert. 2) Aus der zweiten der obigen Bemerk— ungen erklärt ſich, daß die Nachkommen vom erſten Anfang der embryonalen Ent- wickelung bis zur Geſchlechtsreife die ge— wohnten Entwickelungsproceſſe in derſelben Reihenfolge durchmachen. Denn durch jeden Schritt embryonaler Entwickelung wird das; befruchtete Ei an die nächſte, gewohnheits— mäßig von ihm ausgeführte Thätigkeit er— innert, in derſelben Weiſe, wie wir beim Herſagen von etwas auswendig Gelerntem an jeden folgenden Satz durch den unmit— telbar vorhergehenden erinnert werden. Dar— aus aber, daß das Kind das Leben der Eltern wohl vom Zeugungsakte an, nicht aber von einem darüber hinausliegenden Zeitpunkte an fortſetzt, ergiebt ſich, daß die Nachkommen von dem Alter an, in welchem ihre Raſſe ſich fortpflanzt, nur geringe Fähigkeit zu weiterer Entwickelung haben können, weil von da an die Möglichkeit vorhergegangener Uebung in früheren Lebens— wellen wegfällt. Kosmos, III. Jahrg Heft 1. A 34 Nach unſerer Auffaſſung müſſen wir Ae, was wirklich der Fall iſt, daß bei den Einrichtungen der Natur zur Er— haltung ihrer mannigfachen Arten die ge— ſchlechtliche Fortpflanzung über die unge— ſchlechtliche das Uebergewicht hat; denn zwei combinirte Gedächtniſſe müſſen mehr leiſten können als eines allein, und einen Mangel des einen kann der Embryo mittelſt des anderen ausgleichen. 4) Wir dürfen ferner erwarten, auf alle Thiere und Pflanzen gelegentliche Kreuzung vortheilhaft einwirkt, daß aber Kreuzung zwiſchen zwei zu weit von einan— der abſtehenden Individuen große Störungen mit ſich führt, inſofern der Nachkomme zwiſchen zwei ſich widerſtreitenden Gedächt— niſſen hin und her geworfen wird — ge— rade ſo, wie wenn auf Jemand, der eine gewohnte Thätigkeit unglücklich ausführt, eine Anzahl von Leuten, die ihn zur Ab— änderung ſeiner Ausführung veranlaſſen wollen, gleichzeitig einredet, indem die einen ihm ſagen, daß er es immer ſo, die andern ihm ebenſo laut zurufen, daß er es immer ſo gemacht habe, und er plötzlich überzeugt wird, daß ſie beide die Wahrheit ſagen. In einem ſolchen Falle wird er entweder vollſtändig ſtecken bleiben, wenn die Rath— ſchläge zu widerſtreitend ſind, oder wenn ſie weniger widerſtreitend ſind, kann er durch die einmalige äußerſte Anſtrengung, ſie zu verſchmelzen, doch ſo erſchöpft wer— den, daß er niemals im Stande ſein wird, die Ausführung zu wiederholen; oder wenn der Widerſtreit der Erfahrungen nicht groß genug iſt, um eine ſo dauernde Wirkung wie dieſe hervorzubringen, ſo wird er doch die Ausführung bei mehreren nächſtfolgen— den Gelegenheiten ſchädigen, und zwar durch die Unfähigkeit des Nachkommen, die wider— ſtreitenden Erfahrungen in ein harmoniſches daß. | Eltern zwar nicht jo weit differiren, Müller, Samuel Butler's Gedanken über die Rolle der Gedächtniß-Uebung ꝛe. Ganze zu verſchmelzen. Alle dieſe Erwart— ungen werden durch die von Darwin nachgewieſenen vortheilhaften Wirkungen der Kreuzung und durch die über die Sterilität von Baſtarden angeſtellten Beobachtungen vollſtändig beſtätigt. Bei den von uns gezüchteten Thieren und Pflanzen ſollten wir, da ſie ſehr ver— änderten Lebensbedingungen ausgeſetzt find, eine Störung des Gedächtniſſes, eine Durch— brechung der Erinnerungskette durch Aus— fall der einen oder andern der mit einan— der verknüpften Ideen und damit eine ſtarke Abweichung von dem gewohnten Ausbildungs— gange (große Variabilität) erwarten, was wieder durch die Erfahrung beſtätigt wird. Auch der Rückſchlag in uralte Charak— tere, der bei der Kreuzung verſchiedener Raſſen ſo oft beobachtet wird, läßt ſich aus der hier vertretenen Auffaſſung leicht er— klären. Denn wenn die Erfahrungen beider daß die erſte Kreuzung unfruchtbar ausfällt, aber doch ſehr erheblich aus einander gehen, ſo dürfen wir erwarten, daß der Nachkomme nur über diejenigen Punkte in völliger Klar— heit ſein wird, in welchen ſeine beiden Er— zeuger übereinſtimmten, ehe die mannigfachen Divergenzen in ihren Erfahrungen begannen. 5) Wie wir aus der dritten der obigen Bemerkungen über Eigenthümlichkeiten des Gedächtniſſes erwarten müſſen, ſo werden thatſächlich Abänderungen alter Gewohn— heiten oder neu erworbene Thätigkeiten meiſt erſt, nachdem ſie eine längere Reihe von Generationen hindurch wiederholt worden ſind, regelmäßig weiter vererbt. Daß aber auch auf das durch ſeine ganze Descendenz— reihe hindurch fortdauernde Gedächtniß eines Lebeweſens einmalige Eindrücke ſo ſtark ein— wirken können, daß ſie eine ſofortige Aen— derung ſeiner alten Gewohnheit verurſachen, Müller, Samuel Butler's Gedanken über die Rolle der Gedächtniß-Uebung 2c. | beweiſt die in mehreren Fällen beobachtete | ſekten, wie z. B. der Arbeiter- Bienen und Erblichkeit von Verſtümmelungen. 6) Hat aber das Lebeweſen irgend welche, wenn auch noch ſo complicirte Thätig— keit zahlreiche Generationen hindurch bis zur Unbewußtheit geläufig ausgeübt, ſo wird jede neue Generation ſofort ſelbſt ohne irgend welche Lehrzeit im Stande ſein, die Aus— übung zu wiederholen, wie z. B. Schwär— mer, kaum der Puppe entſchlüpft, mit vaft- loſen Flügelſchlägen ſich ſchwebend in der Luft halten und ihre langen, entrollten Rüſſel in die engen Mündungen langröhriger Honigbehälter ſenken. Endlich berechtigt uns die ſechste oben mitgetheilte Beobachtung zu der Vermuth— ung, daß ein Rückſchlag oft in launenhaft erſcheinender Weiſe auftreten müßte, wie es ja thatſächlich der Fall iſt. Alle dieſe ſogenannten Vererbungs— erſcheinungen bieten alſo der Erklärung keine andere Schwierigkeit dar, als die ge— wöhnlichen Erſcheinungen unſeres Gedächt— niſſes, und es geht aus dem Geſagten zu— gleich hervor, daß ebenſo auch die Erſchein— ungen der ſogenannten Inſtinkte alles Räthſel— hafte verlieren, wenn wir ſie als Gedächtniß— äußerungen des durch zahlloſe Einzelleben hindurch fortdauernden Individuums be— trachten. Ein Inſtinkt iſt nach dieſer un— ſerer Auffaſſung nichts weiter als eine (unter normalen Umſtänden) zweckmäßige Handlung, die ein Lebeweſen durch häufige Wiederholung in früheren Lebenswellen bis zu ſolcher Geläufigkeit geübt hat, daß es ſie mehr oder weniger unbewußt von Neuem vollzieht, ſobald gleiche Umſtände die Er— innerung an dieſelbe wieder wachrufen. Die einzige erhebliche Schwierigkeit, die ſich unſerer Auffaſſung entgegenſtellt, liegt in den beſonderen Organiſationseigenthüm⸗ der von dieſen erworbenen Eigenthümlichkeiten lichkeiten und Inſtinkten geſchlechtsloſer In⸗ ⸗Ameiſen. Aber dieſe Schwierigkeit dürfte weit mehr in unſerer noch zu mangelhaften Kenntniß ihrer Fortpflanzung,“) als in einem Fehler unſerer Erklärungsart ihren Grund haben. Wenn es nun richtig iſt, alle Ver— erbungserſcheinungen als Gedächtnißwirkun— gen zu betrachten, ſo werden wir nicht um— hin können, auch in Bezug auf die Ent⸗ ſtehung der Abänderungen dem Gedächtuniß einen erheblichen Einfluß zuzugeſtehen. Wir haben in erſter Linie zu bedenken, daß ein Wechſel in den Umgebungen und äußeren Einwirkungen, der nicht hinreicht, das Lebe— weſen zu tödten, einen Mangel ſeines Ge— dächtniſſes verurſachen muß, und zwar, je nach dem Grade der Veränderung, in jedem Grade von Intenſität, von völligem Aus— fall bis zu einer leichten Störung eines einzelnen Organs. Wir werden deshalb annehmen dürfen, daß ebenſo wie bei allen Vererbungen, auch bei allen Abänderungen von den tiefgreifendſten, die von völliger Sterilität begleitet ſind, bis zu den unbe— deutendſten, die an irgend einem unweſent— lichen Theile auftreten, Wirkungen des Ge— dächtniſſes weſentlich betheiligt ſind. Im Uebrigen werden unſere eigenen Fortſchritte und Abänderungen, da wir ſie am beſten kennen, uns am erſten auch zu einem vid)- tigen Verſtändniſſe der Abänderungen tiefer ſtehender Thiere führen; denn dieſe ſind nur dem Grade, nicht der Art nach von den unſrigen verſchieden, ebenſo wie wir annehmen dürfen, daß in Bezug auf In⸗ telligenz, Gedächtniß und Empfindung der ) Bei der vielleicht die gelegentliche un- geſchlechtliche Zeugung der Arbeiter eine weſent— liche Rolle ſpielt, welche allein die Vererbung in einfacher Weiſe erklären würde. 36 Müller, Samuel Butler's Gedanken über die Rolle der Gedächtniß-Uebung 2c. Bedürfniſſe kein fundamentaler Unterſchied zwiſchen uns und den niederſten Thieren beſteht. Maſchinen ſind die Art, in welcher der Menſch in dieſem Augenblicke variirt. Maſchinen aber werden durch Bedürfniſſe und Anſtrengungen, dieſelben zu befriedigen, ins Leben gerufen und von den einfachſten Anfängen aus, denen noch Niemand an— ſehen konnte, was daraus werden würde, durch hinzutretende neue Verbeſſerungen ſtufenweiſe vervollkommnet und zu weiter— gehenden Zwecken tauglich gemacht, wobei der Erfolg der Ausführung das Bedürf— niß bald überholt, bald hinter demſelben zurückbleibt. Obgleich nun dieſe Verbeſſer— ungen ebenſowohl glücklichen Zufällen als aus Nachdenken hervorgehender Erkenntniß des Zweckmäßigen ihre Entſtehung verdanken, und die unvortheilhofteren Abänderungen in Folge der Concurrenz durch die vortheil— hafteren von der Schaubühne des gewerb— lichen Lebens verdrängt werden, ſo können Vervollkommnungen von Maſchinen doch nie zu Stande kommen, wofern nicht der Wunſch und das Streben, gewiſſen Bedürf— niſſen zu genügen oder gewiſſe Zwecke zu erreichen, zu Grunde liegt. Immer werden wir daher auch bei den Thieren und Pflan— zen, die ſich ihren Lebensbedingungen beſſer anpaſſen, das auf dieſes Ziel gerichtete Streben vorausſetzen müſſen; zur Erreich— ung deſſelben aber werden bald der vom Willen des Weſens abhängige Gebrauch oder Nicht-Gebrauch ſeiner Organe, bald von dieſem Willen unabhängige, vielleicht durch Nahrung oder durch ſonſtige chemiſche oder phyſikaliſche Einwirkungen bedingte, zu— nächſt vielleicht das Gedächtniß betreffende Abänderungen führen. Dieſe Abänderungen können auch nach der hier vertretenen Auf— faſſung für das Weſen günſtige oder un— günſtige ſein, die durch Naturausleſe erhal— ten oder beſeitigt werden. Naturausleſe kann aber ſelbſtverſtändlich immer nur die ſtufenweiſe Anhäufung, nie die Entſtehung günſtiger Abänderungen erklären. Dieſelbe Auffaſſung, welche die Erſchein— ungen der Vererbung und Abänderung er— klärt hat, wirft auch auf Jugend und Alter, auf Leben und Tod überraſchendes Licht. „Ein lebendes Weſen, das durch eine Maſſe gefunden Stammes-Gedächtniſſes unterſtützt wird, iſt ein junges, wachſendes Weſen, frei von Schmerz und Qual und durchaus bekannt mit Dem, was es unmittelbar zu thun hat, aber auch mit Vielem, deſſen es ſich erſt noch erinnern muß. Ein Weſen, das ſich und feine Umgebungen nicht jo un- gleich denen ſeiner Eltern um die Zeit, da ſie es erzeugten, findet, daß es dadurch ge— zwungen würde zu erkennen, daß es ſich noch nie in ſolcher Lage befunden hat, iſt ein Weſen auf der Höhe ſeines Lebens.“ Ein Weſen, welches zu erkennen beginnt, daß ſeine Lage eine neue, in früheren Lebens— wellen noch nicht durchgemachte iſt, altert. Ein Weſen, das allen Gedächtniſſes beraubt wird, ſtirbt. Leben iſt Gedächtniß, Tod iſt Vergeſſenheit. Alle Lebeweſen haben als Ausgangspunkt denſelben Stoff; aber ſie erinnern ſich verſchiedener Dinge und ſind dadurch verſchieden. Ich ſchließe hiermit meinen kurzen Aus— zug des Butler'ſchen Werkes, indem ich ausdrücklich bemerke, daß, was hier als dürres Gerippe ſich darſtellt, im Original mit Fleiſch und Blut lebendig umkleidet iſt. Die Auseinanderſetzungen der letzten Capitel, in denen der Verfaſſer ſich ſehr ausführlich gegen die Darwin 'ſche Lehre wendet, welche die Anpaſſungen und Differencirungen aus zufälligen Abänderungen zu erklären ſuche, und welche er deshalb mit ſeiner eigenen Auffaſſung in grellem Widerſpruche glaubt, Müller, Samuel Butler's Gedanken über die Rolle der Gedächtniß-Uebung ze. 37 | habe ich eines Auszuges für nicht bedürftig erachtet, da ſie offenbar nur auf einem Mißverſtändniſſe beruhen. In dem um— faſſendſten und gründlichſten Werke, das über Abänderungs- und Bererbungs - Er- ſcheinungen überhaupt exiftirt, in feinem „Animals and Plants under domesti- cation“, ſpricht es ja Darwin hundert und tauſendfach klar und unzweideutig aus, daß wir zu einem urſächlichen Verſtändniſſe dieſer Erſcheinungen noch nicht gelangt ſind. Wenn daher die Darwin'ſche Theorie dieſe Erſcheinungen als ſicher feſtgeſtellte Thatſachen hinnimmt und nebſt der ebenſo feſtſtehenden Thatſache überreichlicher Ver— mehrung aller Organismen zur Ableitung des Kampfes ums Daſein und des Ueber- lebens des Paſſendſten benutzt, ſo ſtellt ſie ſich damit nun und nimmer in Gegenſatz gegen irgend welchen Verſuch urſächlicher Erklärung der Abänderungs- und Vererb— ungserſcheinungen, ſondern fordert im Gegen— theil eine ſolche Erklärung als ihre noth— wendige Ergänzung. Wird uns nun durch das vorliegende Butler'ſche Werk wirklich dieſe nothwen— dige Ergänzung geliefert? weit man es beim erſten Anlaufe billiger Weiſe verlangen kann, Ja! Denn die Ana- logieſchlüſſe, durch welche uns Butler von unſeren eigenen, zuerſt mit Bewußtſein und Anſtrengung ausgeführten, dann durch viele Uebung bis zur Unbewußtheit geläufig ge— wordenen Thätigkeiten bis zu den erſten Schritten embryonaler Entwickelung und bis zu den tiefſten Stufen des organiſchen Lebens hinabführt, ſcheinen mir ebenſo un- abweisbar wie die Continuität der Perſön— lichkeit und ihres Gedächtniſſes durch die ganze Descendenzreihe hindurch. Iſt aber wirklich unbewußte Ausübung einer Thätig— keit immer nur dadurch zu erlangen, daß Ich glaube, ſo die urſprünglich gewußte und gewollte Thä— tigkeit bis zum höchſten Grade der Geläufig— keit geübt wird, und ſetzt ſich wirklich das Gedächtniß der perſönlichen Erlebniſſe, ohne durch die Fortpflanzung unterbrochen zu werden, von Generation zu Generation fort, ſo iſt unſtreitig durch die Erkenntniß dieſer Thatſachen für das Verſtändniß der em— bryonalen Entwickelung, des biogenetiſchen Grundgeſetzes, der räthſelhaften Vererb— ungserſcheinungen und der Inſtinkte ein un- geheurer Schritt vorwärts gethan, indem dadurch alle dieſe umfaſſenden Gruppen räthſelhafter Erſcheinungen mit einem Male, wie durch einen Zauberſchlag, mit den unter unſeren Augen ſich ausbildenden Gewohn— heiten und ſich vollziehenden Gedächtniß— äußerungen auf gleiche Stufe gerückt werden. Selbſt das urſächliche Verſtändniß der Abänderungen wird durch die Erkenntniß der von Butler beleuchteten Thatſachen kaum minder weſentlich gefördert. Denn wenn wir, durch die Butler'ſche Auf- B —̃ ( —— faſſung veranlaßt, mehr als es bisher ge— ſchehen iſt, auch den untergeordneten Per— ſönlichkeiten der Organismen bis zu den Individuen erſter Ordnung, den Zellen, hinab die Fähigkeit zuerkennen, Bedürf- niſſe zu empfinden zur Befriedigung der— ſelben dienende Thätigkeiten auszuüben, dieſe Ausübung durch oftmalige Wiederholung zur automatiſchen Gewohnheit zu ſteigern, und die Gewohnheit veränderten Lebensbe— dingungen entſprechend abzuändern, und zwar alles dies mit einer gewiſſen Selbſt— ſtändigkeit, aber doch unter controlirendem und regelndem Einfluſſe des Ganzen, fo müſſen wir jedenfalls auch zugeſtehen, daß äußere Einwirkungen in unendlich umfaſſen⸗ derer Weiſe, als es nach gewöhnlicher Auffaſſung der Fall iſt, auf Anpaſſung gerichtete Thätigkeiten des Organismus = — — 38 , Müller, Samuel Bntler's Gedanken über die Rolle der Gedächtniß-Uebung ze. vorrufen und ſomit Abänderungen deſſel— ben herbeiführen können, die mit den durch Gebrauch und Nichtgebrauch der Or— gane bewirkten auf gleicher Stufe ſtehen und uns eben ſo verſtändlich ſind als dieſe. Und wenn auf den erſten Blick die An— nahme, daß die Organismen im Gefühle ihrer Bedürfniſſe abändern, wie ſie wollen und weil ſie es ſo wollen, allen unſeren Erfahrungen an den von uns jelbft ge— züchteten Thieren und Pflanzen ſowie unſe— rem eigenen Bewußtſein, nicht willkürlich un— ſeren Bedürfniſſen entſprechend abändern zu können, vollſtändig zu widerſprechen ſcheint,“) ſo muß uns die eben angedeutete Erwägung in der Aufrechthaltung dieſes Widerſpruchs mindeſtens ſehr zurückhaltend und vorſichtig machen. Wir müſſen eingeſtehen, daß es uns unmöglich iſt, eine Grenzlinie zu ziehen zwiſchen ſolchen äußeren Einwirkungen, welche im Organismus ein Bedürfniß und Be— ſtreben hervorrufen, ſeine Thätigkeiten den— ſelben anzupaſſen, und ſolchen Einwirkungen, welche dies nicht thun. Wir müſſen die Möglichkeit zugeſtehen, daß bei jeder Ab- änderung eines Organismus mindeſtens ein ) In meiner Beſprechung des Butler'- ſchen Werkes in der Jenaer Literaturzeitung (1878. Nr. 40) bin ich über dieſen Wider— ſpruch nicht hinausgekommen. derartiges Empfinden und Reagiren der Individuen erſter Ordnung (Zellen), wie es ſchon die Protiſten erkennen laſſen, be— theiligt ſein kann. Nur indem wir dies annehmen, wird uns zugleich die Möglich— keit eröffnet, ſämmtliche oben bezeichnete Vererbungserſcheinungen als Wirkungen des Gedächtniſſes und der Gewohnheit zu be— greifen. Durch die Annahme der Butler'ſchen Schlußfolgerungen ſind wir unvermerkt da— zu geführt worden, ſtatt rein phyſikaliſcher Einwirkungen vielmehr die durch dieſe her— vorgerufenen Empfindungs-, Willens- und Gedächtnißthätigkeiten der Individuen erſter Ordnung oder mit anderen Worten die Reaktionen der „Zellenſeelen“ als tiefſte Grundlage der Descendenztheorie, ſowie der biologiſchen Erklärungen überhaupt zu for— dern, eine Forderung, zu welcher, von ganz anderen Betrachtungen ausgehend, auch Haeckel gelangt iſt. Es bedarf wohl kaum eines beſonderen Hinweiſes, daß uns von dieſem Geſichts— punkte aus Lamarck's Theorie als eine vollberechtigte erſcheint, die zu ihrer Ergänz— ung nur die Darwin 'ſche Selektionstheorie nothwendig erfordert, ebenſo wie ſie ſelbſt dieſer als weſentliche Ergänzung dient. Sa Die Tyrik als palüontologifde Weltanſchauung. Von Carl du Prel. „Das Schöne iſt das vollendete und vollendende Zeugniß für die pantheiſtiſche Philoſophie.“ J. Die Naturbelebung. 4 chopenhauer ſtellt in feinem 2 Hauptwerke“) eine Behauptung auf, die ich nicht für richtig 5 halte, die uns aber vor eines der intereſſanteſten pſycholo— giſchen Probleme führt. Er jagt: „Ueber⸗ ſetzten wir etwa, während der Andere ſpricht, ſeine Rede in Bilder der Phantaſie, die blitzſchnell an uns vorüberfliegen und ſich bewegen, verketten, umgeſtalten und aus— malen, gemäß den hinzuſtrömenden Worten und grammatiſchen Flexionen, — welch ein Tumult wäre dann in unſerem Kopfe wäh- rend des Anhörens einer Rede oder des Leſens eines Buches! So geſchieht es keines— wegs. Der Sinn der Rede wird unmitel⸗ bar vernommen, genau und beſtimmt auf- gefaßt, ohne daß in der Regel Phantaſien ſich einmengten. Es iſt die Vernunft, die ) Die Welt als Wille und Vorſtellung. II. S. 67. r (Viſcher, Kritiſche Gänge, VI. 69.) zur Vernunft ſpricht, ſich in ihrem Gebiete hält, und was ſie mittheilt und empfängt, ſind abſtrakte Begriffe, nicht anſchauliche Vorſtellungen, welche ein für alle Mal ge— bildet und, verhältnißmäßig in geringer Anzahl, doch alle unzähligen Objekte der wirklichen Welt umfaſſen, entfalten und vertreten.“ Daran iſt nicht zu zweifeln, daß Schopen— hauer auf Grund genauer Selbſtbeobacht— ung ſo ſchrieb; es wird alſo etwas Wahres an ſeiner Behauptung ſein. Er irrt nur darin, daß er die Proceſſe ſeines hochent— wickelten Gehirns für die Regel hält, wäh— rend ſie ſicherlich nur Ausnahmen ſind, die zudem nicht ganz nach ſeiner obigen Dar— ſtellung verlaufen. Das Vermögen, Be— griffe zu bilden, iſt vom Vermögen an— ſchaulicher Vorſtellungen keineswegs ſo ge— trennt, daß erſteres rein für ſich thätig ſein könnte. Daß die Vernunft unmittelbar zur Vernunft ſpricht und von dieſer verſtanden wird, etwa fo, wie der Telegraphiſt das Klappern des Apparates vorſteht, ohne die geſchriebenen Zeichen deſſelben zu ſehen, be— 40 ruht lediglich auf der Schnelligkeit, womit wir die durch den Laut hervorgerufenen Bilder begrifflich erfaſſen, welches bisweilen wohl bis zum Unbewußtwerden der anſchau— lichen Zwiſchenglieder gehen kann. So ſind auch beim Leſen die Buchſtaben eine an— ſchauliche Baſis des Denkens, ſie kommen uns jedoch nur ins Bewußtſein, wenn wir leſen lernen, werden aber in Folge der Gewohnheit ganz unbewußt aufgenommen. Wie beim Leſenlernen iſt aber auch beim Denkenlernen die Fähigkeit unmittelbaren begrifflichen Verſtändniſſes nicht vorhanden, alſo nicht bei den Kindern und nicht beim primitiven Menſchen, den uns mehr oder minder annähernd unſere wilden Raſſen re— präſentiren. Laute, Vorſtellungen und Begriffe waren urſprünglich noch undifferencirt; das Denken war ein bildliches und ein lautes. Was ſchon Quintilian anempfiehlt, die Knaben laut leſen zu laſſen, geſchieht mit Recht, weil es ihnen das Denken erleichtert. Auch trifft man oft Leute, be— ſonders von älteren Jahren, welche ganz unwillkürlich das Geleſene leiſe mitſprechen, weil ihnen das lautloſe Denken Schwierig- keiten verurſacht, und nur etwas abgeſchwächt findet das Gleiche bei Leuten ſtatt, bei welchen das Leſen mit unwillkürlichen Lippen— bewegungen verbunden iſt. Ohne Zweifel iſt aber die Emancipation des Denkens von der Vorſtellung ſchwieriger als vom Laute, und nur darauf kann es beruhen, daß die Sprache mancher Wilden faſt ganz und gar bildlich iſt, nur concrete Gegenſtände kennt, abſtrakte Verhältniſſe aber nicht zu bezeich— nen vermag. Wäre auch nichts Anderes, als daß wir die Sprache auf Grund anſchaulicher Vorſtellungen erlernen, und daß uns die Maßgabe repräſentativen Bilder unſerer Begriffe im . du Prel, Die Lyrik als paläontologiſche Weltanſchauung. Leben immer wieder vor Augen treten, ſo würde das ſchon genügen für eine im Den— ken ſchwer zu beſeitigende Aſſociation von Bild und Begriff. Das Denken iſt ein gelindes Vorſtellen, noch viel mehr, als es ein leiſes Sprechen iſt, und nur das kann zugegeben werden, daß die Entwickelung allerdings in der Richtung der Emancipa— tion des Denkens von Lauten und Bildern ſich bewegt., Wir verſtehen auch abſtrakte Begriffe nur, indem wir ſie als mehr oder weniger concrete Dinge vorſtellen. Es iſt vielleicht nicht möglich, das Wort Freundſchaft zu hören, ohne daß uns blitzſchnell die Ge— ſtalten zweier Männer vorſchwebten, oder Begriffe, wie Haus, Straße, Wieſe, Kirche, Hund, Garten u. ſ. w. zu leſen oder zu hören, ohne daß ſich anſchauliche Vorſtell— ungen, wenn auch noch ſo vorübergehend und abgeblaßt, einſtellten. Solche Bor- ſtellungen ſind den ſchlummernden Erinner— ungsbildern entnommen, können daher indi— viduell ſehr verſchieden, und werden um ſo unbeſtimmter ſein, einen je größeren Reichthum von Vorſtellungen der Begriff nach den individuellen Erfahrungen umfaßt; daraus könnte alſo gerade ein ſehr reich ausgeſtattetes Gehirn leicht auf den gänz— lichen Mangel von Vorſtellungen ſchließen. Erzählt uns Jemand, er ſei über Wien, Berlin, London nach Paris gereiſt, ſo wer— den wir uns ſelbſt ſolchen Worten gegen— über nicht rein begrifflich verhalten, ſondern unwillkürlich die geographiſchen Linien in der Phantaſie ziehen und die Reiſe, in allerdings ſehr eingeſchränktem Sinne, an— ſchaulich nacherleben; und wenn wir Namen hören, wie Peter der Große, Goethe, Vol— taire, Raphael, ſo werden wir ſie unwill— kürlich, wenn auch ſehr unklar, nach unſerer Kenntniſſe als Staf— du Prel, Die Lyrik als paläontologiſche Weltanſchauung. fage der entſprechenden Culturverhältniſſe vorſtellen. Ganz läßt ſich die Anſchauung aus unſerem Denken nicht beſeitigen, ſie iſt aber mehr oder weniger bewußt. Das beweist, gerade Schopenhauer durch die Unwill⸗ kürlichkeit, mit der ihm ſelbſt in den ab- ſtrakteſten Unterſuchungen die Begriffe in Bilder umſchlagen, und gerade dieſe ſtyliſtiſche Eigenthümlichkeit iſt es, die der Leſer als eine ſtets willkommene Erleichterung des Denkens aufnimmt. Oeffentlich geſprochene Worte ſind oft vergeſſen, wenn ſie verhallt ſind; ſie werden aber bei gleichem begrifflichem Inhalte oft ſogar zu geflügelten, wenn ſie eine anſchau— liche Vorſtellung zu erwecken ſehr geeignet find. So z. B. das Wort Bismarck's: Wir gehen nicht nach Canoſſa! oder ſein Vergleich eines ruſſiſch-engliſchen Krieges mit dem Kampfe zwiſchen einem Wolf und einem Fiſche. Sprache und Vernunft haben ſich Hand in Hand entwickelt, und da für die Sprache nachweisbar iſt, daß ſie in ihren Wurzeln nur ſinnliche Dinge bezeichnet, aber nicht Abſtracta, ſo muß die Anſchauung auch die natürliche Baſis alles Denkens ſein. Das Denken iſt in der That, wie Lazarus Geiger ſagt, ein zweites Geſicht. Die hohe Entwickelung des Geſichtsſinnes, ein geſteigertes Vermögen, die Aeußerlichkeiten der Dinge zu unterſcheiden, muß es ge— weſen ſein, wodurch ſich der Menſch vom Thiere zu unterſcheiden begann, und die Sprachforſchung zeigt nicht nur, daß, wie Geiger ſagt, für den Urſprung der Sprache die übrigen Sinne gar nicht in Betracht kommen, ſondern auch, daß ſich dieſes Unter— ſcheidungsvermögen im Anfange der Sprache nur ſehr langſam entwickelt hat.“) Wird ) Urſprung der Sprache. S. 186. I | ja noch von heutigen Wilden berichtet, daß ſie es nicht vermögen, eine Zeichnung zu erkennen; *) und wenn ſogar ein Volk, wie die Chineſen, einen noch unvollkommenen Sinn für die Perſpektive beſitzt, fo läßt fi) da— raus ungefähr auf das mangelhafte Unter— ſcheidungsvermögen des primitiven Menſchen ſchließen, dem der tiefendimenſionale Raum— ſinn ſich erſt entwickelte. Niemand hat gegen das Operiren mit philoſophiſchen Begriffen, denen kein anſchau— licher Inhalt entſpricht, ſo ſehr polemiſirt, als Schopenhauer; gerade von ihm klingt daher die Behauptung befremdlich, daß ſich im begrifflichen Denkproceſſe der Urſprung der Begriffe nicht verrathen ſollte. Daß wir in der That ſelbſt in den höchſten Speculationen uns von der Anſchauung nicht gänzlich emancipiren können, verräth ſich dadurch, daß uns Begriffe unverſtänd— lich bleiben, die auf keine je wahrgenommene Erſcheinung zurückgeführt oder damit we— nigſtens verglichen werden können, wie z. B. der Unendlichkeitsbegriff. Geiger nennt den Menſchen ein „Augen— thier“, und das war er im Urſprunge ſicherlich ausſchließlich; nur vermöge dieſer Fähigkeit konnte er das werden, was ihn Lichtenberg nennt: ein „Urſachenthier“, d. h. ein vernunftbegabtes Weſen. Dem geſteigerten Geſichtsſinne — wo— runter hier natürlich nicht das Sehvermö— gen zu verſtehen iſt — entſprechend iſt die Fähigkeit, die erfahrenen Anſchauungen inner⸗ lich zu wiederholen und ſie zu combiniren, alſo das Vermögen der Erinnerung und Phantaſie. Auf dieſem aber, im Unterſchiede vom Vermögen der Abſtraktion, beruht die eigentliche Anlage des Dichters und über— haupt des Künſtlers; und wenn wir ſchon ) Lubbock, Entſtehung der Civiliſation S. 25—26. Kosmos, III. Jahrg. Heft 1. 42 im Allgemeinen in unſeren Sprachen For- men und Reſte finden, die uns auf die von der Anſchauung noch wenig abgelöſte Art des Denkens beim primitiven Menſchen ſchließen laſſen, ſo iſt es nicht zu verwun— dern, daß in der Sprache des Dichters, dem alle Gedanken unwillkürlich in Bilder umſchlagen, ſolche Reſte ſich noch zahlreicher finden, paläontologiſche Beſtandtheile, die uns mehr oder weniger deutlich eine längſt entſchwundene Weltanſchauung verrathen. Das Augenthier wird ſich im echten Poeten deutlicher verrathen, als das Urſachenthier. In der Weltanſchauung des primitiven Menſchen fehlten alle jene Beſtandtheile, welche die geſteigerte Reflexion des geſchicht— lichen Menſchen hinzugebracht hat, ſie be— ruhte nur auf Daten, welche der Geſichts— ſinn lieferte; in der Sprache der Poeſie aber muß ſich die Verwandtſchaft mit dieſer Weltanſchauung verrathen, weil ja auch der Poet, wie gefliſſentlich, aber ganz inſtinktiv, die Reflexion vermeidet und lediglich mit Daten operirt, die ihm die Anſchauung liefert. Der primitive Menſch wußte nichts von der Geſetzlichkeit der natürlichen Vorgänge, von der Gleichförmigkeit der Veränderungen unter gleichen Umſtänden, aber es fehlte hm nicht die Cauſalität als Denkform, die wir ja ſchon im Thierreich vorhanden ſehen. Er konnte alſo auf die natürlichen Verän— derungen nur jene Cauſalität übertragen, die ihm allein bekannt war, nämlich die er in ſich ſelbſt vorfand. Alle Cauſalität war dem primitiven Menſchen Motivation, d. h. alſo: die Natur war ihm belebt und be— ſeelt, und dieſe anthropomorphiſtiſche Be— trachtungsweiſe der Natur hat ihren Höhe— punkt erreicht in der Bildung von Mythen, die uns eben darum als die Produkte poe— tiſcher Phantaſie erſcheinen. du Prel, Die Lyrik als paläontologiſche Weltanſchauung. Erſcheinungen, die uns von ſelbſt ver— ſtändlich ſind, waren es eben dem primitiven Menſchen ganz und gar nicht. Um aber den primitiven Menſchen aus uns heraus— zuſchälen, brauchen wir nur zu vergeſſen, nichts zu lernen, und wenn unſere Poeten ihre äſthetiſchen Studien einſtellen wollten, und vielmehr ihre ganze Reflexion abſtreifen könnten, ſo würden ſie es weiter bringen oder aber erkennen, daß ihnen zur dichte— riſchen Produktion ſchon die Grundlage fehlt. Nehmen wir einen unſerer prähiſto— riſchen Vorfahren an, wie er am Bache ſtand und dem unermüdlichen Laufe der eiligen Wellen vor ſeiner Hütte zuſah. Von dem Gleiten verſchiebbarer Flüſſigkeiten auf ſchiefer Ebene nach dem Geſetze der Schwere wußte er nichts; er wurde alſo von der Beſtändigkeit dieſer Bewegung vielleicht be— troffen und würde ſie ſicherlich betont haben, wenn ihm ein Schilderung obgelegen hätte. Dieſe Sprache aber, die ſich ausſchließlich an die Anſchauung des Leſers wendet, nicht an ſeine Reflexion, ſpricht auch der Lyriker. So heißen die Quellen bei den griechiſchen Dichtern „ſchlummerlos“ — & — und Aehnliches finden wir auch bei den echten Dichtern, die gerade dadurch die Ur— ſprünglichkeit ihrer dichteriſchen Anlage ver— rathen, daß ſie Worte nicht vermeiden, die vom Standpunkte der Reflexion ganz und gar überflüſſig erſcheinen, wie etwa: Vor meinem Kämmerlein fließet Ein Waſſer bei Tag und Nacht. (Martin Greif: die Einſame.) Der primitive Menſch war alſo vom Stand— punkte ſeiner Naturanſchauung ganz und gar logiſch, wenn er das Waſſer für ein mit Leben und freiem Willen begabtes Weſen hielt und die Waſſergeiſter verehrte. Das lateiniſche aqua, Waſſer, iſt zu— rückzuführen auf die Sanskritwurzel ak = ſchnell (Acu, das Pferd — das ſchnelle Thier). Homer ſpricht noch ganz im ariſchen Sinne regelmäßig von den „hurtigen“ Roſſen, und das lateiniſche vado, ich gehe, ſtammt aus der Sanskritwurzel für Waſſer: vad. In der That haben die meiſten unſe⸗ rer Flußnamen die Bedeutung von gehend, lebendig, und die zahlreichen „Feiſtritz“ be— nannten Ortſchaften liegen alle an Flüſſen; Feiſtritz oder Weiſtritz aber iſt die Germa— niſirung des flaviſchen bystrica (seil. vo- da) — das ſchnelle Waſſer. Es iſt in der That nur nöthig, daß wir unſere Schulbildung vergeſſen, um den noch heute beſtehenden Anſchauungen der Wilden über Waſſergeiſter gerecht zu wer- den und etwa Fragen verſtändlich zu finden, wie jene eines intelligenten Kaffern: „Die Waſſerwogen ermüden nie; ſie kennen keine andere Beſtimmung, als unaufhörlich vom Morgen bis Abend, und vom Abend bis zum Morgen zu fließen. Wo aber halten fie inne, und wer zeigt ihnen ihren Lauf?“ *) Die Baſutos in Südafrika haben ein dieſer Anſchauung enlſprechendes, gegen Schwätzer gerichtetes Sprüchwort: „Waſſer wird nie— mals müde zu laufen“; und bei Lenau finden wir eine ähnliche Vorſtellung: Weh uns! da quoll der Murmelbach der Rede Hervor aus deines Kopfes finſtrer Nacht. (An einen Langweiligen.) Ebenſo heißt es bei Schiller ganz im Sinne der paläontologiſchen Anſchauung: Und ſieh, aus dem Felſen, geſchwätzig ſchnell, Springt murmelnd hervor ein lebendiger Quell. (Die Bürgſchaft.) In einem Medicingeſange erhält der Al— gonfinjäger auf feine Frage: wer macht dieſen Fluß fließen?“ die Antwort: „der Geiſt, er macht dieſen Fluß fließen.“ ““) ) Lrubbock a. a. O. ©. 167. ) Tylor, Anfänge der Cultur. II. 211. du Prel, Die Lyrik als paläontologiſche Weltanſchauung. 43 Wenn der primitive Menſch am Meere ſtand, mußte er, der von Ebbe und Fluth nichts wußte, es nicht für ein belebtes Weſen halten, mußte er nicht gleich unſeren Dich- tern ſagen, daß es im Sturme tobe, in der Ruhe ſchlafe? Es entſpricht daher ganz einer ſolchen Anſchauung, wenn Le— nau ſagt: Wirft das Meer in trüben Nächten Seine Wellen ans Geſtade ꝛc. Wo der reflektive Menſch höchſtens Aehn— lichkeit und Anlaß zu einem Vergleiche findet, da ſieht der primitive Menſch und der in— tuitiv producirende Dichter Identität. Jede. Bewegung und Veränderung erſcheint dann als Thätigkeit, als Willkür. Dem primi⸗ tiven Menſchen bot die Natur keine anderen Daten, als ſolche für eine automorphe Welt— anſchauung, und die Reflexion, den Augen- ſchein zu überwinden, beſaß er nicht. Ihm war die Natur beſeelt. Es kann nun zwar noch theoretiſch unterſchieden werden, ob er den Dingen eine eigene Seele zuſchrieb oder ein äußerliches ſeeliſches Agens auf ſie ein— wirken ließ, da ja aus der Vorſtellung der menſchlichen Seele eine ganze Vorſtellungs— reihe von Geiſtern, Dämonen und Göttern ſich entwickelte; in jedem Falle aber war die Naturanſchauung des primitiven Menſchen animiſtiſch. Wie weit noch bei den derzeitigen Wilden die Vorſtellung des Lebens geht, erhellt z. B. aus Capitain Lyons Bericht über die Eskimos, welche ſeine Spieluhr für die Tochter feiner Drehorgel hielten; und Chap— man's großer Wagen wurde von Buſch— männern für die Mutter ſeines kleinen ge— halten. Der Häuptling Teah behauptete ſteif und feſt, daß Lander's Uhr lebe und fi bewegen könne, und Hooker“) erzählt von Wilden, die, als ſie ein zum Zwecke 5 Lubbock, a. a. O. S. 237. — = —— m a on 44 des Gebrauches aus dem Springfedergehäuſe herausgezogenes Maßband auf den Boden werfen ſahen, ſchreiend davon liefen, weil das Band in dem Gehäuſe wie eine Schlange verſchwand.“) Es meint nun zwar gerade Spencer, das Vermögen, Lebloſes und Lebendiges zu unterſcheiden, das ja ſchon bei Säugethieren, Vögeln, Reptilien und Inſekten entwickelt ſei, könne als ein weſentliches Mittel zur Selbſterhaltung dem Menſchen nicht gefehlt haben. Es ſcheint aber, daß Spencer dieſem Erklärungsprincip, nämlich dem durch natürliche Zuchtwahl geſteigerten Unterſcheid— ungsvermögen, eine zu große Tragweite giebt. Die Selbſterhaltung erfordert lediglich die Unterſcheidung exiſtenzbedrohender Erſcheinungen von den ungefährlichen, welche Eintheilung mit der von belebten und unbelebten Dingen keineswegs zuſammenfällt. Seine natürlichen Feinde muß das Thier erkennen; es iſt aber nicht von allem Lebenden bedroht. Wenn die Katze mit einem Knäuel ſpielt, wie mit einer Maus, oder der Hund hinter den Rädern eines Wagens bellt und ſie zu beißen ſucht, ſo haben ſolche Irrthümer mit der Selbſter— haltung nichts zu thun; werden darum auch durch Zuchtwahl nicht corrigirt. Der Hund wird dabei von demſelben Impulſe getrieben, mit dem er ein laufendes Kind verfolgt. Berichtet doch Anderſon von Buſchmännern, die einen Frachtwagen für ein belebtes Ding anſahen, das mit Gras gefüttert würde, weil ſie den ſymmetriſchen Bau und die beweglichen Räder für Anzeichen eines be— lebten Weſens hielten. Dem Thiere iſt jede Bewegung Leben, es ſcheut aber nicht alle lebendigen Weſen, ſondern kennt nur inſtinktiv die gefahrdrohenden; es ſcheut aber auch die ihm ungewohnten Bewegungen lebloſer ) Spencer, Sociologie I. 126. du Prel, Die Lyrik als paläontologiſche Weltanſchauung. Dinge; es giebt für daſſelbe keine feſte Grenze zwiſchen lebenden und unbelebten Bewegungen. Ein am Stocke befeſtigter, im Winde flatternder Leinwandfetzen verrichtet ſeine Dienſte als Vogelſcheuche, und der Hund bellt gegen den Strauch, auch wenn nur der Wind es iſt, der plötzlich die Blätter bewegt. Im Uebrigen beſtreitet Spencer le— diglich, daß die animiſtiſche Weltanſchauung die der Zeit nach erſte ſei, und meint nur, daß die Verwechſelung zwiſchen Belebtem und Unbelebtem erſt ſpäter auf Grund ſe— kundärer Folgerungen aus dem Seelenglauben entſtands), — eine Streitfrage, auf welche einzugehen hier kein Anlaß beſteht. Daß, ſei es im Anfange, oder erſt ſpäter, der Menſch der Natur Leben zuſchrieb, zeigt die Sprachwiſſenſchaft; in allen Urſprachen ſind alle Dinge entweder männlichen oder weiblichen Geſchlechts; der Begriff des Neu— trums konnte ſich erſt im Zuſtande vor— geſchrittener Reflexion entwickeln. Wenn nun der Dichter lediglich ſchildert, wie er die Dinge anſchaut, und lediglich für die Anſchauung des Leſers darſtellt, ſo iſt hiezu die Unterſcheidung lebender und lebloſer Bewegungen durchaus nicht gefordert; er hat aber noch poſitive Gründe, dieſe Verwechſelung aufrecht zu erhalten, weil er in der That den Schein eines intimen Ver— ſtändniſſes der Erſcheinungen beim Leſer erzeugt, wenn er animiſtiſch ſchildert. Betrachten wir einige Naturvorgänge, wie ſie ſich dem reflexionsloſen, primitiven Menſchen darſtellen mußten: Er ſah die Sonne aufgehen, und er — der von der Achſendrehung der Erde und der Nothwendigkeit des Sonnenaufgangs nichts wußte — mußte logiſcher Weiſe das Geſtirn freudig begrüßen, das ihm freiwillig *) Vergl. S pencer: Sociologie I. p. 220. du Prel, Die Lyrik als paläontologiſche Weltanſchauung. zu kommen ſchien. „Er ſchreitet hervor“ — heißt es in einem Sanskrithymnus — „der Glanz des Himmels, der weitſehende, der fernzielende, der ſchimmernde Wanderer!“ Es war ſchon ein merkwürdiger Fall von Skepticismus, den Garcilaſſo von einem Peruaner aus der Zeit der Eroberung be— richtet, welcher ſagte: „Wäre die Sonne der allmächtige Herr der Welt, ſo würde ſie nach eigenem Gutdünken ihre Bahn ver— ändern und ſich manchmal nach Belieben ausruhen, auch wenn ſie keine Ermüdung fühlte.“ Jene Menſchen aber, welchen dieſer aus der Gleichförmigkeit des Verhaltens gezogene Skepticis mus noch fremd war, mußten den Sonnenaufgang täglich als ein freudiges Ereigniß begrüßen, und es ent— ſpricht ganz dieſer Anſchauung, wenn wir in den Veden Fragen leſen: Sonne aufgehen?“ „Wird unſere alte Freun— din, die Morgenröthe, aufgehen?“ „Werden die Mächte des Dunkels vom Gotte des Lichtes beſiegt werden?“ So kann aber auch der Dichter, der ſich ganz der Anſchauung des allmäligen Tagens hingiebt, ſagen, gleich einem alten Arier: Endlich auch nach langem Ringen Muß die Nacht dem Tage weichen. (Heine: Don Ramiro.) Jetzt ſind die Berge ſanft entzündet, Purpuriſch aus dem Flammenſchoß, Von Blitzen tauſendfach verkündet, Reißt ſich das Gluthgeſtirne los. (Martin Greif: Sonnenaufgang). Der primitive Menſch ſah Nachts die Sterne am Himmel erſcheinen, mit Anbruch der Morgenröthe wieder verſchwinden. Daß lediglich ein optiſcher Vorgang ſtattfand, war ihm unbekannt. Das Leuchten und Erblaſſen mußte ihm naturgemäß als ein Kommen und Gehen erſcheinen, und da das Gehen mit der Morgenröthe regelmäßig „Wird die ee ee nn — — zuſammenfiel, ſo ſah er darin die Urſache. Post hoc, ergo propter hoc ift ja für den unentwickelten Verſtand der geläufigſte aller Schlüſſe. Wir werden uns alſo nicht wundern, wenn wir in den Veden (50. 2) leſen: Weg ſchleichen jenen Dieben gleich Die Sterne mit den Nächten ſich, Damit allſichtbar Sura ſei — oder im Rig⸗Veda (I. 26. 10.) die Frage; „Dieſe hoch oben angehefteten Sterne, welche Nachts ſichtbar ſind, wohin gingen ſie am Tage?“ — oder endlich aus der römiſchen Mythologie: Früh verſcheucht Aurora die ſchimmernden Sterne vom Himmel. (Ovid: Metamorphoſen 32. 100). Nun iſt aber für den lyriſchen Dichter die allererſte Anforderung die Anſchaulichkeit, und je mehr er dieſer genügt, deſto mehr muß feine Darſtellungsweiſe ſich einer Welt- anſchauung nähern, welche noch ganz in der Anſchauung wurzelte. Je mehr er aber lediglich den optiſchen Schein ſchildert, wie er dem reflexionsloſen Zuſchauer ſich dar⸗ ſtellen muß, deſto ſchöner wird er ſchildern.“) Wenn Mörike ſagt: Früh, wenn die Hähne krähn, Eh' die Sternlein verſchwinden. Muß ich am Heerde ſtehn, Muß Feuer zünden. — ſo iſt das ſchön, weil lediglich der Augen— ſchein geſchildert wird — für den kein Er— blaſſen, ſondern ein Verſchwinden ſtattfindet — die Urſache aber ganz unbeſtimmt ge— laſſen iſt. Schön werden wir es auch nennen, wenn Martin Greif ſagt: ) Die Frage, warum uns eine Schil— derung um ſo mehr gefällt, je anſchaulicher ſie iſt, ſoll damit natürlich noch nicht beant— wortet ſein, und bedar einer eigenen Unter— ſuchung. 46 Die Sterne fangen an zu glimmen, (Thurm-Choral). - — aber reiner noch ftellt er die bloße An— ſchauung dar in den Verſen: Aber nah und ferne Abendglockenklang, Keimen gold'ner Sterne, Sonnenuntergang! — (Walhalla.) denn hier iſt das Sichtbarwerden als ein Entſtehungsproceß oder eine allmälige An— näherung geſchildert, was dem optiſchen Scheine ganz entſpricht. Die Sprache der Wilden iſt um ſo reicher an Metaphern, je ärmer ſie iſt, und zwar naturgemäß an anthropomorphiſtiſchen Metaphern, weil die Ausbildung der Sprache zunächſt zur Bezeichnung menſchlicher Ver— hältniſſe geſchah, und ähnlich erſcheinende Verhältniſſe bei der Unkenntniß phyſikaliſcher Vorgänge menſchlich gedeutet werden mußten. Der moderne Menſch iſt geneigt, Phanta— ſien darin zu ſehen, wenn etwa Aurora perſonificirt wird; der primitive Menſch aber ſah in den Analogien Wirklichkeit, und konnte gar nicht anders von ſeinem reflexions— loſen Standpunkte aus. Alle Mythologien, die ſich aus der animiſtiſchen Naturbetracht— ung entwickelten, verrathen uns alſo einen nothwendigen Durchgangspunkt in der Ge— ſchichte des menſchlichen Geiſtes und ſind keineswegs blos der poetiſchen Phantaſie zu— zuſchreiben. Von einer unſichtbaren Atmoſphäre wußte der primitive Menſch nichts. Er kannte — was Martius noch von den Braſilianern berichtet — nur den Begriff der bewegten Luft, die ſeine Empfindung afficirte, alſo Wind, Sturm, Orkan, und wenn dieſe entſtanden, ſo kamen ſie eben erſt für ihn heran. Kein Wunder, daß die Geiſter der Winde in den Mythologien du Prel, Die Lyrik als paläontologiſche Weltanſchauung. der niederen und höheren Raſſen eine fo große Rolle ſpielen. Major Harris er— zählt von den Danakiel, daß kein Wirbel— wind jemals über den Pfad hinwegfegen kann, ohne daß ihn ein Dutzend Wilde mit gezogenen Dolchmeſſern verfolgen, die nach dem Mittelpunkte der Staubſäule hin- ſtechen, in der Abſicht, den böſen Geiſt zu verjagen, der, wie ſie glauben, auf dem Wind— ſtoß reitet.“) Die Araukanier glauben, die Stürme würden durch die Kämpfe hervor— gerufen, welche die Geiſter ihrer Landsleute mit ihren Feinden führen; die Betſchuanen fluchen ihrem Gotte während des Gewitters, weil er ihnen den Donner geſchickt habe; und die Mincopies und Ramaquas ſchießen mit giftigen Pfeilen auf den Sturm um denſelben zu vertreiben.“) So haben ſich denn auch in unſerer Sprache Ausdrücke, wie: Das Klagen des Windes, das Heulen des Sturmes, der entfeſſelte Orkan ꝛc. als paläontologiſche Beſtandtheile einer unter— gegangenen Weltanſchauung erhalten. Es läßt ſich auch nicht leugnen, daß wir in ähnlicher Weiſe von dieſen Naturvorgängen afficirt werden, wie der primitive Menſch, wenn es uns gelingt, uns ihnen ganz un— reflektirt hinzugeben, ſie lediglich ſinnlich auf uns wirken zu laſſen und alle Natur- wiſſenſchaft zu vergeſſen. Dieſe intuitive Verſenkung aber iſt es, welche den Dichter zu ſo anſchaulich und äſthetiſch wirkender Darſtellung befähigt. Wenn es daher in Ovid's Metamor— phoſen (6. 140.) heißt: Wie der wallende Wind in dem Rohre Leiſes Geflüſter erregt, der lispelnden Klage nicht ungleich — oder bei Platen: ) Spencer, Sociologie I, 267. **) Lubbock, a. a. O. S. 190. Es ſcheint ein langes, ew'ges Ach! zu wohnen In dieſen Lüften, die fich leiſe regen. — (Sonette. 24.) ſo kann es nur abſchwächend wirken, durch einen reflektiven Vergleich die Intuition er- ſetzt zu ſehen; aber die Mächtigkeit der Scene erlaubt es dem Dichter nicht mehr, ſich in Vergleichen zu ergehen, wenn er den Meeresſturm ſchildert: . . Und ringsher toben die Winde, Trotzig mit Winden im Kampf, daß zerwühlt aufraſet der Abgrund. (Metam. 49. 80.) Es entſpricht auch ganz einer anthro— pomorphiſtiſchen Weltanſchauung, wenn Oſſian den Sturm anruft und ihn auf— fordert, zu erſcheinen; denn auch die Apo- ſtrophirung lebloſer Gegenſtände muß als | urſprünglich ganz ernſt gemeint angeſehen werden: Erhebt euch, ihr Winde des Herbſtes, Erhebt euch, durchſtürmet die Haide! Ihr Ströme der Berghöhen, brüllt; n Stürme im Wald meiner Eichen! (Lieder von Selma. 275.) — wenn ferner Len au jagt: Und wenn ins Thal mit grimmigem Frohlocken Die Stürme werfen ihre Donnerwürfe, Daß Wald und Fels herunterbricht erſchrocken — (Die Marionetten: Lorenzo.) Er geht aber noch weiter in der Per— ſonification: Plötzlich auf am Horizonte tauchen Dunkle Wolken, die herüberhauchen Schwer, in ſtürmiſcher Beklommenheit; Eilig kommen ſie heraufgefahren, Haben ſich in angſtverworr'nen Schaaren Um die ſtumme Schläferin gereiht. Und ſie neigen ſich herab und fragen: Lebſt Du noch? in lauten Donnerklagen, Und ſie weinen uns ihr banges Weh. Zitternd leuchten ſie mit ſcheuem Grauen Auf das ſtille Bett herab, und ſchauen, Ob die alte Mutter todt, die See? dein, fie lebt! fie lebt! der Töchter Kummer Hat ſie aufgeſtört aus ihrem Schlummer, Und ſie ſpringt vom Lager hoch empor: Mutter — Kinder brauſend ſich umſchlingen, Und ſie tanzen freudenwild und ſingen Ihrer Lieb' ein Lied im Sturmeschor. Es iſt ſehr charakteriſtiſch, daß Lenau dieſes Gedicht „Sturmesmythe“ benennt; denn es offenbart in der That den Keim, aus dem die Mythenbildung entſtanden ift. Bei Heine heißt es: Mein Ruf verhallt im toſenden Sturm, Im Schlachtenlärm der Winde. Es brauſt und pfeift und praſſelt und heult Wie ein Tollhaus von Tönen. Sturm.) Wird nun aber das Sauſen des Windes als Stimme aufgefaßt, ſo liegt auch noch die weitere Metapher ſehr nahe, die Shak— ſpeare dem wahnſinnigen Lear in den Mund legt, und die dem hochgeſteigerten Affekte entſpricht: Blaſt, Winde, und ſprengt die Backen! wüthet! blaſt! Ihr Katarakte und Wolkenbrüche ſpeit, Bis ihr die Thürm' erſäuft, die Höh'n ertränkt! (König Lear. III. 2.) Blaſ', Kerl, bis deine aufgeſchwellte Wange Noch ſtraffer ſei, als Pausback Aquilo. (Troilus und Creſſida IV. 5.) Der Dichter, wenn er das möglichſt zutreffende Bild eines Naturvorgangs geben will, greift eben mit künſtleriſchem Inſtinkte zu dem gleichen Hülfsmittel, wodurch ſich der primitive Menſch, der von phyſikaliſchen Urſachen nichts weiß, die Erſcheinungen ev- klärt. Und wie dieſem die Erklärung nach Analogie menſchlichen Wollens und Handelns am nächſten liegt, ſo bleibt auch uns, troß- dem wir mit phyſikaliſchen Kenntniſſen mehr oder minder ausgerüſtet in die Welt blicken, doch der eigene Wille das intimſt— bekannte; dagegen beſitzen wir durchaus du Prel, Die Lyrik als paläontologiſche Weltanſchauung. 47 72 . keinen Einblick in das Weſen der natür— lichen Kräfte, die uns vielmehr, gerade wenn wir es verſuchen, uns in ihr Weſen zu verſenken, geſpenſterhaft fremd vorkommen, während es doch Sache des Dichters iſt, den Schein möglichſt intimer Bekanntſchaft zu erzeugen. Wenn alſo die Natur tönt, wird der Dichter gleich dem primitiven Menſchen ſolche Vorgänge nach Analogie der menſch— lichen Stimme auslegen, und je nach der Art, wie ſein Ohr getroffen wird, ſehr verſchiedenartige Empfindungen der Natur unterlegen. Lenau iſt reich an ſolchen Variationen: 2 Verfangen in der Schlucht die rauhen Winde raſen, f Die zu der Wolkenſchlacht die Rieſentuba blaſen. (Täuſchung.) Daß ihre Luft ertönt von dunklen Monologen. — ö (Ebenda.) Es wimmerten die Winde, ſchluchtverfangen. (Der ewige Jude.) Wie der Wind ſo traurig fuhr Durch den Strauch, als ob er weine; Sterbeſeufzer der Natur Schauern durch die welken Haine. — (Herbſtklage.) welches letztere an die Karenen erinnert, welche die unerklärlichen Töne und Seufzer in den Dſchungeln den Verdammten zuſchreiben. Eine ganz andere Auffaſſung wiederum iſt es, oder, richtiger geſagt, einer ganz anderen Scenerie entſprechen ſeine Verſe: Donner rollen, fern verhallend, Aus des Himmels tiefſter Bruſt. Welche Wonne muß durch's große Herz des Donnergottes wallen, Wenn er läßt die ſtarke Stimme Jauchzend durch die Lüfte ſchallen! (Johannes Ziska.) Umgekehrt wird auch die Stille der du Prel, Die Lyrik als paläontologiſche Weltanſchauung. Natur je nach Umſtänden als Schweigen erſcheinen: Ringsum ſchwieg das Gewog. — (Ovid, Metam. 25. 234) Der Menſch, das Gewild und die Vögel Athmeten ruhigen Schlaf; rings ſchweigt die Hecke geräuſchlos, Rings das ſchlummernde Laub; es ſchweigt der thauige Himmel. (Ebendaſ. 32. 185.) Kein Vogelſang, kein Bach, kein Waldesſchauern, Kein Klageton entfährt dem finſtern Thal; Nur ſtummes, unermeßlich wildes Trauern. (Lenau, Gang zum Eremiten.) Der Sturm verſtummte, die Gewitter ſchwiegen. (Lenau, Lorenzo.) Doch wie wir oftmals ſah'n vor einem Sturme: Ein Schweigen in den Himmeln, ſtill die Wolken, Die Winde ſprachlos — N (Shakeſpeare, Hamlet II. 2.) Man würde nun aber den reflexions— loſen Zuſtaud des Menſchen zur Zeit der Sprachenbildung ganz verkennen, wollte man etwa annehmen, daß nur die Armuth ſeiner Sprache zu ſolchen Metaphern ihn nöthigte, in welchen er das Lebloſe belebte, und daß dann erſt in Folge dieſer Sprach- gewohnheit die wirkliche Verwechſelung all— mälig in ſeinem Geiſte ſich feſtſetzte. Dieſe von manchen Forſchern auf die Mythen angewendete Erklärungsmethode iſt unpſycho— logiſch. Vielmehr fällt dieſe Verwechſelung ganz innerhalb der Anſchauung und iſt von der Sprache ganz unabhängig. Das iſt aber das Charakteriſtiſche des echten Dich— ters, daß er ſchon in der Anſchauung dichtet, während der Imitator die Dinge eben ſieht, wie auch wir anderen Menſchen, und nur in der Sprache dichtet, wozu er fremde Augen entlehnen muß. Wäre beim primi— tiven Menſchen nicht ſchon die Anſchauung ganz unmittelbar automorph, ſo müßten wir ihm ein (nachträglich wieder verlore— — nes) Bewußtſein über die Armuth feiner Sprache zumuthen, in Folge deſſen er nach einer Analogie ſuchte, die ſich ihm durch Denkgewohnheit in Identität verwandelte. Weil nun aber auch beim echten Dichter die Verwechſelung zwiſchen Lebendem und Belebtem ganz und gar nicht auf einem reflektirten Vergleiche beruht, könnte die obige Erklärung der Mythenbildung höchſtens im Sinne ſolcher Dichter ſein, welchen das poetiſche Talent, ein Vermögen der An— ſchauung, abgeht, und die nur als Imita— toren der Mythologie ihre Vergleiche ent- nehmen, aber freilich nur eine Talmipoeſie zu Stande bringen, die leicht zu erkennen iſt. Gegen dieſe Dichter wendet ſich Höl— derlin mit Entrüſtung: Ihr kalten Heuchler, ſprecht von den Göttern nicht! Ihr habt Verſtand, ihr glaubt nicht an Helios, Noch an den Donnerer und Meergott! (An die Scheinheiligen.) Wenn man unſere modernen Poeten lieſt, ſo kann man in der That der über- wiegenden Mehrzahl derſelben das Compli— ment nicht vorenthalten, daß ſie ungemein verſtändig ſind. — Lebloſe Gegenſtände erzeugen um ſo mehr den Schein des Lebens, je beweg— licher ſie ſind; in dieſer Hinſicht iſt vor Allem das Feuer im feinen verſchiedenen Geſtaltungen zu nennen. Herodot erzählt (III. 16.): „Die Aegypter haben geglaubt, verſchlinge Alles, was es ergreifen könne; nachdem es ſich aber mit Nahrung gefüllt, ſterbe es an dem, was es verſchlungen habe.“ Es iſt nun aber wiederum ganz dieſe Anſchauung, die wir beim Dichter finden: Die Flammen züngeln auf, wie Schlangen, Verzehrend haſtig ihren Raub. (Lenau, Savonarola). du Prel, Die Lyrik als paläontologiſche Weltanſchauung. das Feuer ſei ein lebendiges Thier und ſuches, einen durch Blitzſchlag enſtandenen Brand zu löſchen, aus der Gottloſigkeit des Verſuches erklärte, ein „Donnerfeuer“ löſchen 49 Das Verbot des Pythagoras, das Feuer mit einem Schwerte zu ſchüren, findet ein Reiſender aus dem 13. Jahrhundert noch bei den Tartaren, die es vermieden, ein Meſſer ins Feuer zu ſtecken, oder in der Nähe eines ſolchen mit der Axt zu arbeiten, weil der Kopf des Feuers abgeſchnitten werden könnte.“) Ovid ſpricht von den „gierigen“ Flammen, die das Holz erfaſſen und aus— führlicher noch ſagt er: So wie das raſende Feuer auch niemals Nahrungen abweiſt, Und unzählbare Balken verbrennt, und je größerer Zuwachs Kommt, je mehreres heiſcht, und gefräßiger ſelbſt im Gewühl iſt ꝛc. (Metam. 39. 133. u. 38. 101.) Auch giebt es Berichte von Wilden, die das züngelnde Feuer für ein lebendiges ſchlangenartiges Thier hielten, das bei der Berührung beiße und ſich von Holz nähre. Desgleichen wird in den Pſalmen das Feuer häufig als „freſſendes“ bezeichnet. Von den zahlreichen abergläubiſchen Ge— bräuchen, die aus folder Anſchauung hervor- gingen, ſei nur die Mahnung erwähnt, die man noch heute an Kinder richtet, die übrig gebliebenen Brodkrumen nach dem Eſſen nicht auf den Boden, ſondern ins Feuer zu werfen. Dem Feuer entgegenzutreten, gilt unter Umſtänden für gottlos, und erſt kürzlich hörte ich in Südtyrol eine Alte, die ſich das Mißglücken des Ver- zu wollen. Wie viel Aufforderung zur anthropo- morphiſtiſchen Anſchauung das Feuer ins⸗ beſondere in ſeiner Geſtalt als Blitz enthält, ) Tylor, Urgeſchichte, S. 353. Kosmos, III. Jahrg. Heft 1. -1 50 du Prel, Die Lyrik als paläontologiſche Weltanſchauung. das zeigen Mythologie und Poeſie. „Feind— lich“ nennt ihn Horaz (1. 12. 59.), und daß dieſe uralte Anſchauung noch immer nicht überwunden iſt, das beweiſt die noch häufig zu findende Bangigkeit vor den Erſcheinungen des Gewitters, hauptſächlich Blitz und Donner, die noch unterſtützt wird durch die pathologiſche Wirkung der geſpannten Elektricität auf die meiſten Nerven. Zwar hat der Culturmenſch dem Himmel den Blitz entriſſen, vor dem der primitive Menſch floh, und die Stimme des Donners hat für ihn die alten Schrecken verloren, von denen noch Homer ſpricht: Dennoch ſcheut auch Jener den Wetterſtrahl des Kronion Und den entſetzlichen Donner, der hoch vom Himmel herabkracht. (Il. 21. 198.) aber abgeſehen davon, daß nicht ein Jeder den Blitzableiter erfunden hat, liegt für unſere Sinne etwas Charakteriſtiſches und Individu— elles in dieſen Erſcheinungen, daß wir ſehr leicht in die primitive Weltanſchauung durch ſie ver— ſetzt werden, die in dem gerade niederfahrenden Feuerſtrahl ein dämoniſches Zielbewußtſein, im Rollen des Donners das Grollen eines | feindlichen Dämons oder die Offenbarung göttlichen Zornes zu erkennen glaubte. Noch heute ſagt der Landmann in Litthauen: Perkun donnnert! oder: der Alte brummt! Vielleicht iſt es ſogar unvernünftig zu er— warten, daß dieſe Anſchauung ſchon ganz überwunden ſei, die ja nur ein Specialfall jener ſeelenvollen Auffaſſung der Natur iſt, auf der alle äſthetiſche Anſchauung beruht, jo verſchieden auch die begleitenden Em⸗ pfindungen ſein mögen. Beſtehen dieſe gerade in Bangigkeit, ſo iſt das im Grunde nicht unvernünftiger, als wenn ſie bei anderen Anläſſen angenehmer Art ſind, nun und nur darum die Kritik nicht herausfordern. Nicht jede ſeelenvolle Auffaſſung der Natur wirkt poetiſch. Man wird ſich z. B. nicht leicht befreunden können mit den Verſen, die ſich bei Lenau finden: Als wie ein ſchwarzer Aar, deß Flügel Feuer . fingen, So ſchlägt die ſchwarze Nacht die feuervollen Schwingen. (Täuſchung.) Aber es ſcheint faſt, als ob wir ſelbſt in ſolchen Darſtellungen nicht ſubjektive Willkür der poetiſchen Phantaſie zu ſehen hätten, ſoudern als ob auch dieſe einer tiefen und ganz reflexionsloſen Verſenkung in die Erſcheinung entſprängen, ſodaß ſie ſich leſen wie geiſtiger Atavismus; es erinnern dieſe Verſe ſtark an die Anſchauung der Mandanen, die im Donner den Flügel— ſchlag hören, und im Blitze die leuchtenden Augen des gewaltigen Vogels ſehen, der Manitu zugehört, vielleicht auch er ſelber ift.*) Eine ähnliche, rein individuelle Auffaſſ— ung, die aber ſehr wohl in die Weltanſchau— ung des primitiven Menſchen paſſen will, enthalten Lenau's Verſe: Doch es dunkelt tiefer immer Ein Gewitter in die Schlucht, Nur zuweilen übers Thal weg Setzt ein Blitz in wilder Flucht. (Johannes Ziska.) Die Analogien zwiſchen äußeren Vor— gängen der Natur und ſolchen der menſch— lichen Seele ſind ſogar in unſerer Umgangs— ſprache ungemein zahlreich, und auch in der Sprache der Wilden begegnen wir Meta— phern dieſer Art ſehr häufig. Aber der Himmel mit ſeinen wechſelnden Erſcheinungen iſt es vorzugsweiſe, der als Träger von Stimmungen ernſter, drohender oder freund— licher Art angeſehen wird. So auch bei den Dichtern aller Zeiten. Oſſian ent— nimmt den elementaren Vorgängen der DE) Tylor, Anfänge der Cultur, II. 263. Re — du Prel, Die Lyrik als paläontologiſche Weltanſchauung. 51 Atmoſphäre mit Vorliebe die Vergleiche zur Schilderung ſeiner Schlachtenſcenen, und das willkürliche Spiel der Wolken und Winde ſchaut er als beſtändigen Kampf an. „Unſtät ſauſt am Himmel der Wind.“ (Fingal IV. 83.) Fingal erhob ſich, ihm folgte ſein Heer, Wolkengewoge voll Gluth und Gekrach gleich, Wann zucket von Norden der Blitz Dem zagenden Segler im Sturm. (Carthon 248.) Es weichen die Reihen von Erin, Wie düſteres Wolkengebirge ; Dem ſtürmenden Hauche des Windes. (Dardul 617.) Ein typiſches Beiſpiel für die paläonto- logiſche Anſchauung der Lyrik, und ein ganz und gar in einheitlicher Stimmung ſolcher Art gehaltenes Gedicht iſt Lena u's „Himmelstrauer“: Am Himmelsantlitz wandelt ein Gedanke, Die dunkle Wolke dort, ſo bang, ſo ſchwer; Wie auf dem Lager ſich der Seelenkranke Wirft ſich der Strauch im Winde hin und her. Vom Himmel tönt ein ſchwermuthmattes Grollen, Die dunkle Wimper blinzet manchesmal — So blinzen Augen, wenn ſie weinen wollen — Und aus der Wimper zuckt ein matter Strahl. Nun ſchleichen aus dem Moore kühle Schauer Und leiſe Nebel übers Haideland; Der Himmel ließ, nachſinnend ſeiner Trauer, Die Sonne läſſig fallen aus der Hand. Was Le nau in dieſem Gedichte leiſtet, kann nur die Anſchauung leiſten, aber nicht die abſtrakte Thätigkeit des Vergleichens; der ſeeliſche Inhalt, der ihm aus der Natur ſpricht, iſt ſo ſehr mit der äußeren Wahr— nehmung verſchmolzen, daß man ſagen möchte, er ſchaue ſelber in die Natur hinein, was aus ihr zu ſprechen ſcheint. Der Akt der Anſchauung iſt hier an ſich ſchon poetiſch; ſchon in dieſer, oder vielmehr nur in dieſer liegt die dichteriſche Funktion, die aber ſo unbewußt geſchieht, daß es für den Dichter den Anſchein haben muß, als ſei das Ob— jekt an ſich ſchon poetiſch, als dichte die Natur vor ſeinen Augen, und als habe er nur abzuſchreiben. Darüber wird ſich ein Jeder klar ſein, der nur einigermaßen beim Anblick der Dinge dieſe ſymboliſirende Fähigkeit beſitzt, durch die wir uns zum All erweitern, ins All ergießen. Vielleicht ſind alle großen Dichter Pantheiſten ge weſen; denn ohne ſolche pantheiſtiſche Em— pfindungen des Individuums iſt dieſe künſtleriſche Beſeelung der Natur nicht mög— lich, die das ſymboliſirende Auge vollzieht. Wenn aber dieſe Fähigkeit als angeborene Anlage dem Individuum angehört, ſo kann doch andererſeits behauptet werden, daß dieſe ſubjektive Thätigkeit gar nicht mög⸗ lich wäre, wenn die Natur ſich ſpröde da— gegen verhielte, wenn die äußeren Erſchein— ungen keine Aufforderung zur Symbolifir- ung enthielten, d. h. alſo: wenn die Iden— tität von Geiſt und Natur nicht Wirklich— keit wäre. Ohne dieſe Identität wäre die Symboliſirung eine lediglich reflektive Thätig- keit, in der das Subjekt dem Objekt gegenüberfteht; aus ſolchem Dualismus aber zwiſchen Geiſt und Natur könnte die innige Verſchmelzung, die ſich in der poetiſchen Symboliſirung thatſächlich vollzieht, niemals reſultiren. Die Poeſie könnte kein Werk. der Intuition ſein, und niemals hätten aus der Naturanſchauung des vorhiſtoriſchen Menſchen Mythenbildungen hervorgehen können, die ſich mit poetiſchen Schöpfungen paralleliſiren laſſen. Daß aber jene alten Arier, die der Natur noch um ſo viel näher ſtanden, als wir, — denen die Re— flexion eine Kluft aufgethan hat zwiſchen der Natur und uns —, zu dieſer ſeelen— vollen Naturanſchauung gelangten, von der uns die Veden Kunde geben, das muß a 52 du Prel, Die Lyrik als paläontologiſche Weltanſchauung. uns doch beweiſen, daß auch in uns die äſthetiſche Anſchauung nicht das Werk des der Natur dualiſtiſch gegenüberſtehenden Bewußtſeins ſein kann, ſondern aus einer tieferen Region kommt, in welche die Nabel— ſchnur einmündet, die uns an die Natur knüpft. So beweiſt alſo die Thatſache der Symboliſirung die Identität zwiſchen Geiſt und Natur. Denn ſind auch die ſeeliſchen Regungen, die wir Menſchen in der äſthetiſchen Anſchauung der Natur unter— legen, in ihrer Beſtimmtheit und Menſch⸗ lichkeit lediglich Analogien, ſo beweiſt doch die Thatſache, daß wir aus der Natur uns ſelbſt herausfühlen, daß wir im tiefſten Grunde Eins mit ihr ſind, daß Nichts in uns webt, was wir nicht ihr zu ver— danken hätten, nichts Fremdes, und daß ſie uns hervorgebracht hat, wie wir äſthetiſche Schöpfungen hervorbringen: unbewußt. Nicht als Individuen erzeugen wir das Schöne, ſondern als Theile der Natur, deren Schaffensdrang in uns realiter abſchließt, während ſie ihn idealiter in uns fortſetzt. Und wie der Dichter in ſeinen Schöpfungen im Grunde nur ſich ſelber findet, ſo er— kennt die Natur im Menſchen ſich ſelber. Die moniſtiſche Weltanſchauung erhält alſo ihre Beſtätigung aus der Poeſie. — Wie das Ausſehen des Himmels nach Ana— logie eines menſchlichen Geſichtes dargeſtellt werden kann, z. B. in Schiller's Verſen: Aus der Ströme blauem Spiegel Lacht der unbewölkte Zeus. — (Klage der Ceres.) ſo natürlich auch umgekehrt. Mit Vor⸗ liebe übertragen die Dichter Vorgänge des Himmels auf die Stirne: „Meine Stirn' ſoll Euer Wetterglas ſein!“ ruft Moor ſeinen Gefährten zu. Da wölket freilich ſich die Stirne dir. (Hölderlin, an Hiller.) Sehr individuell gefärbt iſt, was Lenau ſagt: Der Himmel donnert ſeinen Hader, Auf ſeiner dunklen Stirne glüht Der Blitz hervor, die Zornesader, Die Schrecken auf die Erde ſprüht. (Wanderung im Gebirge.) Ebenſo begegnen wir aber in der Lyrik jener alten mythologiſchen Anſchauung, welche in den Regentropfen Thränen ſieht. Vom Himmelsgotte Tahiti's heißt es: Dicht fällt der feine Regen auf das Antlitz der See; Es ſind nicht Regentropfen, ſondern Thränen Oro's. (Tylor, Urgeſchichte S. 421.) Der mythologiſche Beſtandtheil dieſer Anſchau— ung iſt uns verloren gegangen, aber weil dieſelbe im Objekt begründet liegt, und dieſes zur menſchlichen Empfindung ſpricht, ſo daß nicht nur die Stimmung des Einzelnen, ſondern ſogar der Volkscharakter ſich mehr oder minder vom Anſehen des Himmels abhängig zeigt, ſind auch in der Poeſie Regentropfen noch immer Thränen: Was traur' ich, Suffolk, einzig nicht um dich, Und eifr' in Thränen mit des Südens Wolken, Das Land befeuchtend die, mein Leid die meinen. (Shakeſpeare: Heinrich, VI. 2. Theil III. 2.) Ein edler Schmerz war über mich ergoſſen, Wie wenn der Regen weit und breit ins Land Hernieder rieſelt traurig und verdroſſen. (Leopardi, die erſte Liebe. Ueberſ. von P. Heyſe.) In ſehr individueller Anſchauung aber ſagt Greif: Sprühregen, drin die Sonne ſcheint, Jetzt da, und jetzt auch ſchon vorüber, So kurz, wie wach der Säugling weint — Er wendet ſich und ſchlummert lieber. a (Aprilwetter.) So wird alſo die äußere Natur dem Dichter zum Symbol eines Innern, und zwar eines menſchlichen Innern. (Schluß folgt.) Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Das Vorkommen gediegener Eiſenmaſſen an der Erdoberfläche. enn wir irgendwo Maſſen gediegenen Eiſens in der Natur antreffen, ſo iſt der nächſtliegende Gedanke ſtets der, daß es Meteormaſſen ſeien, wie ja ſchon in einigen alten Sprachen das Eiſen als vom Himmel gefallener Stoff charakte— riſirt wurde.“) Ohne Zweifel kommt auch wirklich einem nicht geringen Theile der ſich findenden gediegenen Eiſenmaſſen, welche ſchon die Urvölker mit dem beſten Waffen-Ma⸗ terial verſahen, ein derartiger Urſprung zu, doch darf dieſe Annahme, wie wir bald ſehen werden, keineswegs auf alle derartigen Fälle ausgedehnt werden. Andererſeits hat die Aehnlichkeit beſtimmter Felsarten mit den erdigen Meteoriten in ihrer Miſchung und ſelbſt in der Form die Frage wachgerufen, ob nicht vielleicht die letzteren einen viel bedeutenderen Antheil an der Bildung der Erde haben möchten, als man insgemein glaubt. Man hat namentlich auch darauf hingewieſen, daß die Meteoritenfälle ehemals viel zahlreicher und maſſenhafter geweſen ſein müßten, da ſich der Weltraum doch fort- ſchreitend mehr von dieſen umherirrenden Welt⸗Brocken reinige, und hat ſich ſehr ver— ) Vergl. Kosmos III. S. 264. wundert, nicht öfter foſſile Meteormaſſen in ſedimentären Schichten anzutreffen. Als nun vor neun Jahren Nordenſkiöld auf ſeiner Entdeckungsreiſe nach Grönland zu Ovifak auf der Inſel Disko bedeutende Maſſen gediegenen Eiſens im Baſaltfelſen antraf, lag der Schluß nahe, einen jener längſt vorausgeſetzten Fälle darin zu ſehen und anzunehmen, es ſeien in den Baſalt— ſtrom reguliniſche Meteormaſſen hineingeſtürzt und von der feuerflüſſigen Maſſe umhüllt worden. Die Annahme wurde, da ſie keines— wegs der äußern Wahrſcheinlichkeit entbehrte, von verſchiedenen Naturforſchern getheilt, aber Steenſtrup, der dieſes und ähnliche Vor— kommen wiederholt an Ort und Stelle ſtudirt hat, ſprach ſeine Ueberzeugung dahin aus, daß dieſes Eiſen, ebenſowohl wie der ein— ſchließende Baſalt, irdiſchen Urſprungs und nur durch die eruptive feuerflüſſige Maſſe aus vorhandenen Eiſenerzen reducirt worden ſei. Zu dieſem Schluſſe wurde er einerſeits durch Graphitmaſſen, die das Eiſen begleiteten, andererſeits durch in dem Felſen enthaltene reducirbare Eiſenerze (Spatheiſen— ſtein und Hiſingerit) geleitet; Verhältniſſe, die allerdings auf eine Reduction der letz— teren durch Kohle ſchließen ließen. Eine neue Unterſuchung dieſes Gegen— ſtandes von Lawrence Smith wurde im vorigen Jahre der Pariſer Akademie ein— Bi a 54 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. geſandt und von einer Commiſſion geprüft, in deren Namen Daubrée am 9. Decem— ber 1878 einen ausführlichen Bericht er— ſtattete,k) aus dem wir das Folgende ent— nehmen: In dem nördlichen Theile der Inſel Disko, der die Meerenge von Waigat umgrenzt, zu Aſſuk, 150 Kilometer von Ovifak entfernt, an der von Steenſtrup unterſuchten Stelle, zeigt ſich der Dolerit mit Olivin, in welchem das gediegene Eiſen wie in Ovifak von Labrador umſchloſſen wird. Andere Theile der Maſſe enthalten Anorthit und Oligoklas. Die Analyſen von Wöhler, Lindſtröm und Smith ergaben zunächſt, daß die Maſſen von Ovifak ſich in ihrer Zuſammenſetzung von allen be— kannten Meteoriten unterſcheiden. In dem Bericht werden alsdann die merkwürdigen örtlichen Beziehungen zwiſchen den Maſſen ge— diegenen Eiſens, die ſeit 60 Jahren längſt der grönländiſchen Küſte entdeckt wurden, hervorgehoben. Sie ſtammen aus 7 7 Loca⸗ litäten: Sowallicke (76 „ n. B.: Entdecker Roß 1818), Fiskenäs (63 „n. B.: Rink), Niakornak (69,20 % n. B.: Rink), Glüds- Bai (69,15 n. B.: Rudolph), Jacobs— havn (69,45 % n. B.: Pfaff), Ovifak (69,200 n. B.: Nordenſkiöld), Aſſuk (70 n. B.: Steenſtrup). In Sowallicke wurde die Aufmerkſam— keit der Begleiter des Cap. Roß durch den Anblick eines großen Meſſers erregt, deſſen ſich die Eingebornen bedienten, und welches nach ihrer Ausſage von einem be— nachbarten Hügel herrührte, wo große Eiſen— maſſen exiſtirten, die je 50 — 80 Cub.-M. ent⸗ hielten. Die eine war zu zähe, als daß man Stücke hätte losbrechen können, wäh— rend die andere, welche gleichzeitig ein ſchwar— zes Geſtein enthielt, leichter zerbrochen wer— den konnte, ſo daß man kleine Eiſenſtücke *) Comptes rendus T. LXXXVII p. 911. erhielt, die zu Meſſern platt geſchlagen wur- den. Das Eiſen wurde von Brandes analyſirt, der in demſelben 3 Nickel an— führte, ohne weitere Details zu geben; es wäre aber von Intereſſe zu erfahren, ob dieſes Eiſen gleich dem von Ovifak ver— bundenen Kohlenſtoff enthält. Das Eiſen von Niakornak gleicht ebenfalls ſehr, ſowohl durch ſeine äußere Eigenſchaften wie durch ſeine Zuſammenſetzung, gewiſſen Stücken von Ovifak. Nach der vollſtändigen Analyſe, die L. Smith ausführte, nähert es ſich dieſem letzteren durch einen ſtarken Gehalt gebundenen Kohlenſtoffs, wie er ſich in den Meteoriten nicht findet. In der einen oder andern dieſer grönländiſchen Eiſenmaſſen wa— ren Kobaltmaſſen in einem zum Nickel be— trächtlichen Verhältniß enthalten. Nach der vergleichenden Prüfung, ſoweit ſie möglich war, ſchließt L. Smith, daß alle Stücke gediegenen Eiſens aus Grönland einander ähnlich und vom Meteoreiſen hinlänglich verſchieden ſeien, ſo daß ihr irdiſcher Urſprung keinem Zweifel unterliegen könnte. Als eine beſonders beachtenswerthe Thatſache hebt er dabei die gleichartige geologiſche Beſchaffen— heit der Orte hervor, an denen die Eiſen— maſſen geſammelt wurden. Obwohl die Süd— ſpitze Grönlands von der Inſel Disko durch mehr als 1600 Kilometer getrennt iſt und obwohl die Länge der Küſten, mit Einſchluß der zahlreichen kleinen Inſeln, noch viel größer iſt, wurde das gediegene Eiſen nicht in dieſer geſammten Ausdehnung des Lan— des gefunden, ſondern nur in der Baſalt⸗ gegend, welche bei 699 nördlicher Breite beginnt und ſich ohne Unterbrechung in mächtigen Wänden und horizontalen Schichten bis zum 76.“ zeigt, wo ſie unter einem Rieſengletſcher verſchwindet. Schon was man von ihr ſieht, entſpricht der Entfernung von Gibraltar bis Breſt, und wir wiſſen nicht N | | | und werden vielleicht nie erfahren, wie weit fie ſich noch nach Norden erſtreckt. Dieſen Baſaltmaſſen dienen ſtellenweiſe Lignitſchichten als Unterlage und man kann denken, daß die Begegnung von Baſaltſtrömen mit dieſen die Reduktion des Eiſens bewirkt habe, worauf fein anſehnlicher Kohlegehalt hindeutet. Jedenfalls aber beſitzen einige dieſer Eruptivmaſſen vor und nach ihrer Reduk— tion eine große Aehnlichkeit mit den Me— teoriten, und zwar diejenigen, welche man ihrer Kieſelſäure-Armuth wegen zu den Ba— ſiten rechnet und die, wie man weiß, ſehr tiefen Erdſchichten angehören. So z. B. gewiſſe isländiſche Laven, die aus Anorthit und Augit beſtehen, und die olivinhaltigen Felſen, welche in ihrer Zuſammenſetzung den gewöhnlichen magneſiahaltigen Meteoriten gleichen. Darnach ſcheint es, daß das Erd— innere eine den Meteoriten viel ähnlichere Zuſammenſetzung beſitzt, als die äußere Kruſte und das iſt eine ſowohl geologiſch, wie kos— mologiſch ſehr intereſſante Thatſache. In der That hat Daubree bereits vor drei— zehn Jahren durch eine Reduktion jener Fels— maſſen die verbreitetſten reguliniſchen Meteo— riten mit dem auffallenden Nickel- und Kobaltreichthum der eiſernen Grundmaſſe künſtlich darſtellen können. Mitunter mag die Reduktion der Metalle auch bereits im Erdinnern erfolgen, wenigſtens ſcheint hier— auf das Vorkommen gediegenen nickelhaltigen Eiſens in Verbindung mit Platin in Oli— vin haltigen Gängen des Ural zu deuten. Man kann auch vermuthen, daß die inneren Schichten gegen den Kern der Erde immer reicher an Eiſen und andern Schwermetallen werden, und daß die Meteorſteine von rein erdiger Beſchaffenheit bis zu denen aus re— guliniſchen Metallen, in eine Reihe geordnet, Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. | uns die Scala der Zuſammenſetzung der | feurigen und eruptiven Erdſchichten von außen | puano. 3) nach innen repräſentiren würde. Die alten Theorien von der Herkunft der Meteoriten aus Mondvulcanen oder zerſprungenen Welt— körpern tauchen dabei vor unſerer Erinner— ung auf und jedenfalls ſind die durch dieſe chemiſchen Analogien angeregten kosmologi— ſchen Fragen von dem höchſten Intereſſe. Die verbreitungsmiktel der palmen.“) Die Palmen beſitzen meiſtens Früchte, die ſich zur Verbreitung der Pflanze ſchlecht eignen, der Wind kann ſie nicht verbreiten und im Allgemeinen ſcheinen ſie bei den Vögeln wenig beliebt zu ſein; nur ihre mehr oder weniger kugelige Form trägt dazu bei, ſie von dem Orte, wo ſie gefallen, zu entfernen. Einige Arten ſcheinen Samen zu beſitzen, die lange Zeit der Einwirkung des Salzwaſſers wider— ſtehen und daher von einer Küſte zur andern befördert werden können, obgleich nur wenige Arten, wie die Cocos- und Nipa-Palmen, gleich beim Aufſchwemmen geeignetes Ter— rain zur Entwickelung finden. Auch die Früchte der Orania werden häufig unver— ſehrt vom Meere ausgeworfen. Die Ka— ſuare von Neu-Guinea verſchlingen jede Art von Palmfrucht, die keineswegs fleiſchig iſt und transportiren ſelbe auf weite Ent— fernung; auf den Aru-Inſeln fand ich in ihren Excrementen Samengruppen von Orania Aruensis, deren einzelne doch 55 bis 60 Millimeter Durchmeſſer haben. Be— denkt man aber, daß die Kaſuar-Arten alle auf einem engen Gebiete localiſirt und daher die Grenzen ihrer Ausflüge ſehr *) Aus dem noch im Erſcheinen begriffe— nen Werke von O. Beceari: Malesia, rac- colta di osservazioni botaniche intorno alle piante dell’ arcipelago indo-malese e pa- Genua 1878. 56 knapp bemeſſen find, fo können fie auch nur zur localen Verbreitung der Pflanze dienen, nicht aber zur Samenübertragung in ent— fernte Regionen. Hierzu würden die zahl— reichen Vertreter der Tauben-Familie paſſen, wenn die eigenthümliche Lage der Palm— früchte es jenen Thieren nicht erſchwerte, von denſelben zu ſpeiſen; durch die leb— haften Farben, welche die Früchte oft tragen, ſcheinen ſie eher die karpophagen Thiere an— zuziehen, um ſich derſelben zur Verbreitung ihrer Samen zu bedienen. Die Befruchtung der Palmen geſchieht vermittelſt Inſekten oder des Windes; die Arten, welche letzteres Mittel benutzen, bedürfen ſehr hoher Stämme, um ihre Blüthennadeln über das gewöhnliche Niveau des Waldes zu erheben; ſie beſitzen ſehr zahlreiche Staubfäden und in die Knospe zurückgebogene Faſern, um zur Blüthezeit eine größere Länge und Beweglichkeit zu erlangen. Die mit kurzen Staubfäden ver— ſehenen Species werden von Inſekten be— fruchtet, unter denen die unzähligen kleinen Curculioniden den erſten Platz einnehmen... Die Cetoniden, beſonders die Arten der Lomaptera, tragen unbewußt, während fie auf den von ihnen zerſtörten Staubfäden ihre Nahrung ſuchen, den befruchtenden Staub von Blume zu Blume. Wenn nun einerſeits die Palmen keine leichten Mittel zur Verbreitung beſitzen, ſo genießen ſie doch andererſeits Vortheile in der Aufbewahrung ihrer Samen und mehr noch in deren perfekter Reifung und Keim— ung. In der That können die meiſten Samen nicht lange aufbewahrt werden, ohne die Entwickelungsfähigkeit des Embryo zu verlieren; dagegen iſt ihr Albumen faſt immer ſehr hart, entweder von ſtarken Hüllen umgeben oder von Materien durch— drungen, die ſie den Thieren zuwider machen. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Das Periſperm hat an ſich keinen Ge— ſchmack noch beſondere Eigenſchaften, aber meiner Anſicht nach iſt es die in den Fal— ten der Ei-Wände (die bei der Reife des Samens die Rumination erzeugen) depo- nirte Subſtanz, welcher jener zuſammen— ziehende, ſpecielle Geſchmack eigen iſt, der die Areca, Catechu und viele andere Arten der Familie charakteriſirt und der, wie ich glaube, hauptſächlich zur Vertheidigung der Samen gegen die Nagethiere dient. ... Die Calamus und viele Lepidocaryineae haben ſehr harte Samen, die von einer fleiſchigen, wahrſcheinlich nahrhaften Sub— ſtanz umgeben ſind, welche von den Vögeln geſucht und gern gefreſſen wird; doch iſt dieſes Fleiſch wieder durch einen Panzer geſchützt, der aus harten, dachziegelförmigen, umgekehrt eingeſetzten Schuppen gebildet wird; wenn daher Vögel anbeißen und die Früchte dieſer Palmen verſchlingen, ſo können ſie dieſelben, auch wenn ſie ihnen des ſchlech— ten Geſchmacks halber nicht behagen, den— noch nicht wieder von ſich geben, wegen der Schuppen, die gegen die Wände des Schlun— des ſtoßen würden; ſie müſſen daher noth— wendiger Weiſe verdaut oder in anderer Weiſe aus dem Körper entfernt werden, wodurch den Samen alſo Zeit und Gelegen— heit gegeben iſt, auf größere Entfernung übertragen zu werden. Dies iſt vielleicht der Grund, weshalb das Genus Calamus ſich weiter als die anderen Palmenarten verbreitete. Ich muß hier jedoch bemerken, daß ich mich nicht erinnere, jemals Früchte von Calamus im Ventrikel der Vögel ge— funden zu haben, obgleich ich deren ver— ſchiedene Hunderte ſecirte. Wenn auch heute keine Vögel mehr dieſe Früchte genießen und der Grund, den ich zur Erklärung der verkehrten Schuppen auf den Früchten an— gebe, nicht für die Gegenwart beſtätigt *. 898928 998 würde, jo könnte derſelbe doch für eine frühere Epoche gelten, wo die Ahnen der Calamus und Lepidocaryineae exiſtirten, denen der Beſitz dieſer die Frucht verthei— digenden Schuppen zur Verbreitung nützlich war. Wenn dieſe Arten auch heute noch dergeſtalt beſchuppte Früchte beſitzen, deren ſie nicht mehr bedürfen, ſo muß man dies eben der Fortdauer dieſes erblich geworde— nen und ihnen nicht ſchädlichen Cha— rakters zuſchreiben. ... Mehr vielleicht noch als vermittelſt der Vögel iſt dieſe be— | rende Eigenſchaften beſitzen, denn da die ſondere Struktur der Verbreitung der Pal— men durch Reptilien günſtig. In der That reifen die Früchte verſchiedener Zalacca-Arten ſo nahe am Boden, daß ſich dieſelben ganz im Bereich dieſer Thiere befinden. Es iſt bekannt, daß Eidechſen und Schildkröten Ich fand von derartigen Früchten leben. in Menge Pandanaceen-Früchte im Magen treffenden Thiere bewirkt, der Lophura amboinensis, welche die Mo— lukken bewohnt — gerade wo die Zalacca wächſt, obgleich ich ſelbſt noch keine Samen dieſer Art im Magen der Lophura fand. In Borneo freſſen einige Schildkrötenarten die Früchte eines Durio, der dieſelben ganz am Fuße ſeines Stammes am Erdboden erzeugt — weshalb auch dieſe Art bei den Malayen Durian kakura oder die Duria der Schildkröten genannt wird. Und wer weiß, wie viele Species von Sauriern und karpophagen Cheloniern in vergangenen Epochen gelebt haben, die ſich heute nicht einmal mehr foſſil vorfinden? ... Um ſich über gewiſſe biologiſche Thatſachen Rechenſchaft zu geben, genügt es nicht, die Umſtände, in denen ſich die lebenden Weſen heute befinden, in Betracht zu ziehen, ſondern man muß auch zu erforſchen ſuchen, manches Intereſſante Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 57 Der ſpecielle Kitzel, den das Fleiſch der Caryota- und Arenga-Früdte verur— ſacht (wahrſcheinlich durch Raphiden hervor— gerufen), iſt ein Schutz für die Samen, die deshalb nicht vor der Reife von den Vögeln oder anderen Thieren verdorben werden können; wenn die Früchte nun wirklich reif ſind, werden die Samen ſo hart, daß ſie keines andern Schutzes mehr bedürfen; die fleiſchigen Hüllen werden unnütz und faulen. Ich glaube nicht, daß ſich unter den Palmen Früchte befinden, die emetiſche oder purgi— Samen ſehr widerſtandsfähig ſind, ſo haben ſie auch von einem langen Aufenthalt in den Eingeweiden der Thiere nichts zu leiden. Ferner kennt man keine giftigen Palmen— früchte. Ich bin der Anſicht, daß dieſe Eigenſchaft gewiſſen Pflanzen nützlich iſt, denn dadurch, daß ſie den Tod der be— gelangen die verſpeiſten Samen in fetten und ihrer Ent— wickelung günſtigen Boden. | Ueber die Cocos- Palme ift ſchon von Rumphius, Blume, Martius, Miquel und An— deren geſchrieben worden; Seeman hat in ſeiner „Flora Vitiensis“ einige Be— trachtungen über die wahre Heimath der Cocos und die damit zuſammenhängenden Emigrationen der Polyneſier angeſtellt. Ich halte es nicht für ganz unnütz, wenn auch ich meine Meinung darüber äußere, da ich Zeit und Gelegenheit hatte, an Ort und Stelle die vielfältigſten Beobachtungen zu machen. Sehr günſtig für die Verbreitung der Cocos-Palme iſt die Leichtigkeit ihrer Frucht— hüllen, die es der Frucht ermöglicht, ſich auf in welchen Verhältniſſen ſich die Voreltern dem Waſſer ſchwimmend zu erhalten, und der heutigen Thiere, auch in ſehr entlegenen ferner die große Widerſtandsfähigkeit und Zeiträumen, befunden haben mögen. Br Undurchdringlichkeit des Endocarps, in Folge Kosmos, III. Jahrg. Heft 1. 2 = 2 58 0 deſſen das Albumen und der Embryo vor dem Eindringen des Salzwaſſers während der langen Seereiſen, denen ſie häufig unter— worfen ſind, geſchützt werden. Dieſes ſind Charaktere einer Palme, die ihren Urſprung auf Seeküſten gehabt haben muß, wo alle Bedingungen vereinigt waren, um ihre Ver— breitung durch Meeresſtrömungen zu er möglichen. Die Diſſemination kann nur dort ftattgefunden haben, wo die Wirkung der Winde und der Fluthen an den Küſten die bereits fruchtbaren Kokospflanzen ſo nahe ans Waſſer brachten (vielleicht auch dieſelben durch Wurzelentblößung ins Waſſer ſtürzten), bis die Früchte ſich in dem ihrer Verbreitung günſtigen Elemente befanden. Es iſt daher nicht unwahrſcheinlich, daß das Land oder die Inſel, wo die Cocos-Palme zuerſt wuchs, jetzt vielleicht ſchon ſeit Jahrtauſen— den im Meere verſchwunden iſt. Und dieſe Annahme würde auch das Faktum erklären, daß man bisher noch nicht das wahre Vater— land dieſer nun ſo weit verbreiteten Pflanze bezeichnen konnte. Damit nun die Kokosfrüchte nach langer Reiſe eine neue Pflanze erzeugen, genügt es nicht, daß ſie an irgend einer Küſte landen, daß ein heftiger Wellenſtoß ſie aus dem Be— reiche des Wellenſpieles werfe oder ausnahms— weiſe Fluthen ſie mehrere Meter von der Strö— mung abſetzen; ſondern dieſe Küſten müſſen ſich auch unter gerade entgegengeſetzten Be— dingungen befinden als jene, von denen die Früchte herſtammen; es müſſen Küſten ſein, die anſtatt vom Meere corrodirt zu werden oder im langſamen Sinken begriffen zu ſein, ſich im Hebungsſtadium befinden, oder in Folge der Wirkung der Winde, der Strömungen oder der Flußniederlagen allmälig an Aus— dehnung gewinnen; nur dann können die unter den günſtigſten Verhältniſſen auf ihnen deponirten Kokosfrüchte keimen und wachſen. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Doch würde dies wiederum zu nichts führen, wenn die Küſtenlandſchaft, wo ſie Wurzel gefaßt, von Thieren heimgeſucht wäre, denen ihre nahrhaften Theile mundeten; und in der That, wo Wildſchweine exiſtiren, iſt die Reproduktion des Cocos ohne den Schutz des Menſchen nicht möglich. Das führt mich nun zur Annahme, daß dieſe Palme urſprünglich von Inſeln oder Landſtrichen herſtamme, die jetzt ver— ſchwunden und einſt mit dem auſtro-amerikani⸗ ſchen Continent zuſammenhingen, daß ſie ſich auf natürlichem Wege, wie oben angegeben, auf den Inſeln des Stillen Oceans verbreitete, deren langſamer Niveau-Wechſel eine con— ſtatirte Thatſache iſt. Ich glaube jedoch nicht, daß eine natürliche Diſſemination nach dem malayiſchen Archipel ſtattgefunden hat; ich halte dafür, daß die Indier und beſonders die Völker des ſüdlichen Theiles der indi— ſchen Halbinſel, die Tamil und vielleicht auch andere indo⸗chineſiſche Völker auf ihren kühnen Seefahrten bis jenſeits Neu-Guinea und nach Polyneſien, dort dieſe koſtbare Pflanze fanden und im ganzen Inſular- und Continental-Indien einführten. Die Forſchungen über die geographiſche Vertheilung der Palmen haben in Folge ihrer ſchwierigen Verbreitung einen ganz beſonderen Werth, und können mehr denn bei jeder anderen Pflanzenfamilie dazu dienen, die alten Verbindungen zu beſtim— men, welche in vergangenen Zeiten zwiſchen heute getrennten und von einander entfernten Ländern, zwiſchen Inſeln und Feſtland, exiſtirten, ſowie insbeſondere auch die Annahme über die Verbreitung der Thiere zu begründen. Wenn zwei congeneriſche Species einer Pflanze, die keine beſonderen Mittel zur Verbreitung beſitzt, ſich in zwei entfernten Ländern vor— finden, ſo kann man nicht anders annehmen, als daß in irgend einer Epoche die beiden Länder verbunden waren. Einer der Haupt⸗ charaktere der Palmen iſt deren Specialität von Formen für jede Region, ja faſt für jede Inſel, und doch finden ſich gleichzeitig ähnliche Typen in ſehr weit aus einander liegenden Gegenden, zwiſchen denen heute gar keine Verbindung mehr beſteht. Die Erklärung dafür ſcheint mir darin zu liegen, daß die noch heute exiſtirenden Palmentypen von großem Alter ſind und unverändert durch lange geologiſche Zeiträume hindurch ſich erhal— ten haben. Und während jetzt jede Spur der früheren Landverbindung im Meere begraben liegt, zeigen uns gerade dieſe unter ſich ähnlichen Palmentypen, daß jene Verbindung zu einem mehr oder weniger entfernten Zeitpunkte beſtand. Finden wir dagegen ſehr ver— ſchiedene Formen in anſtoßenden Gebieten, ſo dürfen wir gleich vermuthen, daß die— ſelben zu irgend einer Zeit getrennt waren. Eine Species von Raphia, die R. tae- digera Mart., findet ſich in der Region des Amazonenfluſſes, fünf wurden auf der Weſtküſte Afrikas entdeckt, und eine fiebente, die R. Ruffia Mart., auf Madagascar; da die Früchte dieſer Pflanzen keine leichten Verbreitungsmittel beſitzen, ſo muß man annehmen, daß der Umriß und die phyſi— kaliſchen Verhältniſſe der Länder, wo dieſe drei Arten wachſen, einſt ſehr von den heutigen verſchieden waren. Auf den Mas- karenen-Inſeln, auf Ceylon, den Nicobaren, bei Singapore, auf den Molukken, Neu— Guinea, in Auſtralien und Polyneſien finden ſich die Ptychosperma, alle von ſehr ſchwie— riger Diſſemination; ich ſchließe daraus, daß in irgend einer Epoche die Unterbrechung der Verbindung zwiſchen dieſen Ländern eine bedeutend geringere geweſen ſein muß, als heutzutage. Was dieſen Thatſachen noch mehr Ge— wicht giebt, ſind die entſprechenden Fälle Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 59 in der geographiſchen Vertheilung der Thiere. Ohne hier auf das Feld der Zoologie zu— rückzugreifen, genüge es zu bemerken, daß die aus der Verbreitung der Thiere gezo— genen Betrachtungen oft mit denen aus dem Studium der Pflanzenvertheilung gewonne— nen harmoniren und zu denſelben Schlüſſen führen. Die fo weit verbreiteten Ptycho— sperma bieten uns einen belehrenden Fall in dieſer Art. Um deren Vorkommen in ſo weit zerſtreuten Localitäten zu erklären, muß man die Exiſtenz von heut verſchwun— denen Ländern dort annehmen, wo jetzt der indiſche Ocean mit ſeinen Stürmen und Ungewittern abſoluter Herrſcher iſt: gerade dort, wo man das hypothetiſche Te muria hinlegen mußte, um ſonſt unbegreif— liche Thatſachen der geographiſchen Ver— theilung der Thiere zu erklären. Dieſe Concordanz zwiſchen der Thier— und Pflanzen-Verbreitung iſt jedoch kein allgemein gültiges Geſetz. Neu-Guinea bietet uns gerade den Fall, wo die Reſul— tate des Studiums der Thier- und Pflan- zenvertheilung ganz entgegengeſetzte ſind. Die Urſprungsverſchiedenheit der Flora und Fauna iſt unzweifelhaft. Wie ich ſpäter beweiſen werde, rührt die Flora Neu-Guineas aus- ſchließlich von der indo-malayiſchen her, wäh— rend die Fauna deutlich den auſtraliſchen Typus trägt; jeder Tag bringt neue Be— weiſe, welche Neu-Guinea zoologiſch immer enger mit Auſtralien verbinden. Ein anderes intereſſantes Faktum unter den Thieren Neu-Guineas beſonders unter den Vögeln iſt es, daß derſelbe ſpe— cifiſche Typus (im weiteren Sinne ge— nommen) auf den verſchiedenen Theilen des Papualandes ſo verſchiedene Formen auf— weiſt, daß man ſie für getrennte Species halten muß. Es ſcheint, als ob man es nicht mit den Thieren deſſelben Landes, — — — — Le ——ꝰ . — — — — — 60 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. ſondern mit Thieren verſchiedener und von einander entfernter Inſeln zu thun hätte. Ich glaube den Grund dieſer Erſcheinung, die man ſowohl bei den Thieren als bei den Pflanzen beobachtet, darin gefunden zu haben, daß 1) die Thiere einerſeits nur in beſchränkter Weiſe auswandern, und die Pflanzen andererſeits ſich nur ſchwierig ver— breiten konnten, und daß 2) Neu-Guinea in einer mehr oder weniger alten Epoche einen großen Archipelagus von verſchiedenen größeren oder kleineren Inſeln bildete, die ſich dann in Folge einer Bodenhebung zu einer großen Inſel vereinigten. Mit dieſer Annahme erklärt ſich leicht die faſt beſtän— dige Form-Varietät deſſelben ſpeci— fiſchen Typus in von einander ziemlich ent— fernten Landestheilen, ſowie die große Lo— caliſation anderer Formen. Onin-Papua, oder der ſüdweſtliche Theil, zeigt zoologiſch und botaniſch bedeutende Differenzen mit den anderen Theilen Neu-Guineas, was mich zu glauben veranlaßt, daß jener Theil einmal eine Separat-Inſel bildete; ich er— innere an die Nenga affınis, die ſich dort findet und die Nenga pinangoides von Ramoi und Andai ſubſtituirt. Der nie— drigere Theil der Nordweſtküſten hat mehr Anknüpfungspunkte mit der Salvatti-Inſel als mit dem nordöſtlichen Theile Neu-Gui— neas; ich glaube daher, daß zu einer ge— wiſſen Zeit auch dieſer Theil eine Separatinſel gebildet haben muß, wie auch wohl die beiden Küſten (öſtliche und weſtliche) getrennt waren, welche von den Waſſern der Bai von Gellvink beſpült werden. . . . Die große Verſchiedenheit der verſchiedenen Species einer und derſelben Art, beſonders von Ptychosperma (wovon man einzelne Species faſt als neue Arten aufzuführen verſucht ſein möchte), bringen uns unwillkürlich zu dem Schluſſe, daß die Formen unſerer heutigen Palmen nur die Ueberreſte und Ueberlebenden einer unzähligen Reihe von Formen ſind, welche von den älteren geo— logiſchen Epochen bis auf unſere Zeiten erhalten blieben, und daß ſie nur losgelöſte Blätter eines ungeheuren Werkes, nur iſo— lirte Ringe einer großen Kette vorſtellen. Es darf uns daher auch nicht wundern, daß es der verſchiedenen Typen viele giebt, während der ſich um dieſelben gruppiren— den Formen nur wenige ſind. Der Ent— wickelungs- oder Variabilitäts-Cyclus der meiſten exiſtirenden Palmenarten ſcheint mir im Abnehmen begriffen zu ſein, wie der größere Theil der palmenartigen Typen neuerdings keine neue Species erzeugt hat. Daſſelbe ſcheint aber auch in allen jenen Pflanzenfamilien, die im Naturſyſtem eine ungewiſſe Stellung einnehmen, woraus ich ſchließe, daß dieſelben nur lebende Denk— mäler einer ſehr alten, von der heutigen ſehr verſchiedenen Flora ſind, und in weit entfernten Zeiträumen eine viel bedeuten— dere Zahl von Spetiesformen aufwieſen als heute. Es ſind dies dieſelben Fa— milien, welche die unerklärlichſten Fälle von Vertheilung unter den Pflanzen dar— bieten. Außer den Palmen rechne ich dazu die Menispermaceae, Monimiaceae, Ano- naceae, Santalaceae, Olacineae, Icacineae, Burmanniaceae, Balanophoreae, Raff- lesiaceae, Trieridaceae, Aristolochiaceae, Nymphaeaceae, Droseraceae, Nepentha- ceae, Podosternaceae, Gymnospermeae, Aroideae und noch verſchiedene andere Fa— milien; bei denen man iſolirte (ſpecifiſche und generiſche) Formen beobachtet, die auf den verſchiedenen Continenten Vertreter beſitzen, deren Aehnlichkeiten aber nicht ſo groß ſind, daß man ſie für engverwandt halten könnte. Dieſe Familien waren einſt viel verbreiteter als jetzt und beſaßen wahr— . ſcheinlich manche Arten, die reich an eng mit einander verbundenen Species waren. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. | Aber mit der Zeit verſchwanden eine große | Anzahl von Formen in Folge der zerftö- renden Wirkungen und der auf der Erd oberfläche ſtattfindenden phyſikaliſchen, viel- leicht auch meteorologiſchen Veränderungen, während nur die Formen beſtehen blieben, die den Kampf mit den Elementen und den zerſtörend wirkenden Kräften auszuhalten vermochten. Sie ſind geblieben als die iſo— lirten Vertreter einer großen, über die ver— ſchiedenen Continente zerſtreuten Bevölker— ung, entfernte Verwandte zu einander ohne exiſtirende Bindeglieder, welche ihren gemein- 31. ſamen Urſprung beweiſen könnten. Die Urtypen der Infekten bildeten den Gegenſtand einer Abhandlung, welche Samuel H. Scudder am 5. Nov. 1878 vor der National Academy of Sciences las. Wir entnehmen einem im American Journal of Sciences and Arts, Vol. XVII (S. III.), January 1879 erſchiene— nen Berichte die folgenden Einzelheiten: Die erſten Ueberreſte von Inſekten aus den Schichten. Audouin und Corda bekannt gemacht.“ paläozoiſchen Schichten wurden 1835 von Seitdem haben viele Forſcher, namentlich Germar und Goldenberg zu unſerer Kenntniß derſelben Beiträge geliefert, ſo daß nunmehr vielleicht gegen hundert Arten be— kannt ſind. Doch gehören Inſektenreſte aus den älteſten Schichten immerhin zu den größten Seltenheiten, und bei weitem der größte Theil derſelben ſind uns einzig in rer neuerdings in Illinois entdeckter Myriapode ihren Flügeln bekannt. Von höchſter Wichtig— keit für das Verſtändniß ihres Auftretens in der Zeit iſt hierbei eine richtige Claſſifika— tion, und zwar ſcheint die Packard'ſche Eintheilung in Metabola und Heterometa- bola, d. h. in Inſekten mit vollkommener und unvollkommener Verwandlung, dem Vortragenden die der Natur entſprechendſte zu ſein Zu der erſteren Abtheilung gehören die Hymenoptera, Lepidoptera und Dip- tera, zu der andern die Coleoptera, He- miptera, Orthoptera und Neuroptera, und zwar iſt in dieſer Reihenfolge eine ab— ſteigende Ordnung ausgedrückt. Auch iſt der Vortragende geneigt, Dohrn beizu— ſtimmen, hinſichtlich ſeiner Schätzung des Ordnungs-Werthes der eigenthümlichen Ver— bindung von Charakteren bei Eugereon und andern Urinſekten, und, wenn auch mit etwas verſchiedener Umgrenzung, den auf dieſe Gruppe von Goldenberg angewendeten Namen Palaeodietyoptera zu acceptiren. Er zieht aus ſeinen Studien die folgenden allgemeinen Schlüſſe: 1) Mit Ausnahme der wenigen aus den devoniſchen Schichten ſtammenden Hexapo— denflügel erſcheinen die drei Inſekten-Ord— nungen — Hexapoden, Spinnen und Tauſend— füßler *) — gleichzeitig in der Steinkohlen— Periode. 2) Alle devoniſchen und Stein— kohlen-Inſekten ſind Heterometabola; die Metabola erſcheinen zuerſt in juraſſiſchen 3) In den paläsozoiſchen Schich— ten exiſtirten mannigfache ſynthetiſche oder zuſammenfaſſende (comprehensive) Typen, welche die Charaktere aller Heterometabolen, oder derjenigen der Orthoptera und Neu- roptera oder der Neuroptera im engern ) Anm. d. Red. Man hat in Amerika einen foſſilen Tauſendfuß innerhalb eines Si— gillarien-Stammes, wahrſcheinlich ſeiner ur— ſprünglichen Wohnung, angetroffen. Ein ande— derſelben Epoche (Anthraceps) zeigt Tracheen, welche beweiſen, daß die Athmungsöffnungen dieſer Thiere ſeit jener weit zurückliegenden Zeit kaum eine merkliche Veränderung erlitten haben. “| ee” 62 Sinne mit denen der Pseudoneuroptera“) verbanden. 4) Die devoniſchen Inſekten gehören zu den zuſammenfaſſenden Typen, und ſind entweder auf die beiden niederen Unterordnungen oder auf die Pseudoneu- roptera beziehbar; ſie waren zweifellos Waſſerthiere im früheren Leben. 5) Dieſe niederen Unterordnungen der Heterome- tabola (Orthoptera und Neuroptera) waren in paläozoiſchen Zeiten viel zahlreicher als die höheren (Coleoptera und Hemiptera). 6) Nahezu alle paläozoiſchen Orthoptera gehörten zu den niederen, nicht ſpringenden Familien. 7) Die eigentlichen Neuroptera waren in jener Zeit viel ſeltener als die niederen Pseudoneuroptera. 8) Alle dieſe früheren Typen waren daher von niederer Organiſation. 9) Der Generaltypus der Flügelbildung bei den Inſekten iſt von der früheſten Zeit an unverändert geblieben. 10) Mit Ausnahme zweier Arten von Coleopteren, waren die Vorder- und Hinter— flügel der Inſekten einander ähnlich und häutig. 11) Die durch den Fortſchritt der geologiſchen Unterſuchung gelieferten That— ſachenreihen leiten zu der Ueberzeugung von der wahrſcheinlichen Exiſtenz und möglichen Entdeckung geflügelter Inſekten in den devo— niſchen und ſogar in den ſiluriſchen Schich— ten, die in ihrem Bau noch verallgemeinerter waren, als irgendwelche, bisher in den paläozoiſchen Schichten entdeckte. Es muß ſchließlich hinzugefügt werden, daß nahezu *) Anm. d. Red. Als Pseudo- Neuroptera (falſche Netzflügler) oder Archiptera (Urflügler) bezeichnet man bekanntlich eine neuerlich von den eigentlichen Netzflüglern getrennte kleine Gruppe, zu welcher unter Andern die Eintags— fliegen, Termiten und Libellen gerechnet wer— den. Unter den foſſilen Eintagsfliegen der Steinkohle von Canada hat Dawſon eine in dieſer, heute durch Kleinheit ausgezeichneten, Gemeinſchaft einen vorweltlichen Rieſen von Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. alle Urinſekten groß, manche gigantiſch waren und ferner daß eine ſchlagende Aehnlichkeit zwiſchen der Inſektenfauna der Steinkohlen— zeit Nordamerikas und Europas beſteht. Schützende Färbung und die Farben- empfindung der Chiere. Den im Kosmos (Bd. II, S. 59) be ſprochenen Mittheilungen hat Sir John Lubbock eine neue Reihe werthvoller, ſcharfſinnig ausgedachter und ſorgſam durch— geführter Verſuche an Ameiſen folgen laſſen.“ Unter anderen ſtellte er eine lange Reihe lehrreicher Verſuche an über das Verhalten der Ameiſen gegen verſchieden gefärbtes Licht und ſchließt aus denſelben: 1) Ameiſen haben das Vermögen, Farben zu unterſcheiden; 2) ſie ſind ſehr empfindlich gegen Violet und 3) ſcheint es, daß ihre Farbenempfindungen ſehr verſchieden ſein müſſen von den unſrigen. Auch der dritte dieſer Sätze erhält durch Sir John Lubbock's Verſuche eine, wie mir ſcheint, ausreichende, thatſächliche Begründung. Das häufige Vorkommen des Daltonis— mus, einer ſo tief greifenden Verſchiedenheit der Farbenempfindung unter den Menſchen, läßt es nicht unwahrſcheinlich erſcheinen, daß ähnliche und noch erheblichere Verſchieden— heiten zwiſchen den verſchiedenen Arten der Thiere beſtehen. Auf dieſelbe Vermuthung ſieben Zoll Flügelweite entdeckt. Unter den zuſammenfaſſenden Formen iſt beſonders eine von Scudder in den devoniſchen Schichten von Neu-Braunſchweig entdeckte, den Netz— flüglern am nächſten ſtehende Form bekannt, welche gleichwohl den Stridulations-Apparat der männlichen Locuſtiden beſaß, alſo Charaktere der Neuropteren und Orthopteren vereinigte. ) Journ. Linn. Soc. Zool. vol. XIV. pag. 266. führt das Verhalten gewiſſer Schmetterlinge und Bienen gewiſſen Blumen gegenüber. Wenn z. B. Callidryas ſcheinbar achtlos an blauen Blumen vorüberfliegt und be— nachbarte gelbe oder rothe aufſucht, die uns weit weniger augenfällig vorkommen, möchte man dieſen Falter für blaublind halten, wie den Homer des Dr. Magnus. Um⸗ gekehrt ſammelte ſich an einem himmelblauen Salbei meines Gartens, ohne den daneben blühenden, von Callidryas beſuchten, leuch— tend rothen Salbei zu beachten, Melissoda Latreillii, eine prächtige, blau glänzende Biene, deren Männchen ſich durch ungewöhn— lich lange Fühler auszeichnen. Und doch darf man wohl behaupten, daß die Mehrzahl der höheren Wirbel- und Gliederthiere die Farben in ganz ähnlicher Weiſe empfindet und unterſcheidet, wie wir. Das ſoll natürlich nur ſagen, daß ſie die— ſelben Farben empfinden, wie wir, und daß ihnen und uns dieſelben Farben gleich, oder ähnlich, oder verſchieden und zwar in ähn— lichem Grade verſchieden erſcheinen. Mehr können wir ja auch von unſeren Mitmenſchen kaum behaupten, mit denen wir uns über ihre Farbenempfindungen durch die Sprache verſtändigen können. Den Beweis für meine Behauptung liefert das weite Gebiet der ſchützenden Färbungen und täuſchenden Nach— ahmungen. Die Feinde, vor denen die be— treffenden Thiere auf dieſem Wege geſchützt werden, müſſen natürlich eben ſo getäuſcht werden, wie wir. Sie können alſo 1) nicht auffallende Farbenunterſchiede bemerken, wo uns ſolche entgehen; ſonſt würde eben für ſie keine täuſchende Aehnlichkeit vorhanden ſein in allen Fällen, wo ſie für uns be— ſteht. Sie müſſen aber auch 2) alle die— ſelben, oft recht feinen Farbenabſtufungen unterſcheiden, in welchen Vorbild und Nach— bild übereinſtimmen; ſonſt hätten ſie nicht Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 63 durch Vertilgung aller minder genau über— einſtimmenden Nachahmer die Ueberein— ſtimmung auf einen oft ſo wunderbaren Grad der Vollkommenheit treiben können. Vor einem Daltoniſten würde ein kirſch— rother Käfer in grünem Laube geſchützt ſein. Es wäre wohl möglich, daß ähnliches auch in der Thierwelt vorkäme, und vielleicht ſind ſolche Fälle bisher nur deshalb nicht beo— bachtet worden, weil man nicht an die Möglichkeit ihres Vorkommens gedacht hat. Jedenfalls aber dürften ſie nur ſeltene Aus— nahmen von der allgemeinen Regel bilden. Itajahy, November 1878. Fritz Müller. Ueber die ſyſtematiſche Stellung des Ai und Aye-Aye ſind im Laufe des letzten Sommers in der Pariſer Akademie der Wiſſenſchaften mehrere Abhandlungen geleſen worden, welche dieſen beiden bisher ruhelos im Syſtem umher— geworfenen Kletterthieren endlich eine Hei— mathsberechtigung in der Familie der Halb— affen verſchafft haben dürften und deshalb von einem allgemeineren Intereſſe ſind. Bevor wir aber die wichtigſten Feſtſtell— ungen dieſer Arbeiten mittheilen, wird es nöthig ſein, einen Blick auf die in den letzten Jahren veröffentlichten Arbeiten über die Halbaffen ſelbſt zu werfen, zumal man in denſelben eine Waffe gegen die Abſtamm— ungslehre im Allgemeinen und Haeckel's Anthropogenie im Beſonderen gefunden zu haben glaubte. Wir wollen die Frage, um die es ſich hier handelt, mit den Worten eines Gegners (A. de Quatrefages!) recapituliren: „Bekanntlich beſitzen alle Säugethiere mit alleiniger Ausnahme der Beutel- und Schnabel Thiere eine Placenta, — — — k nn 6 ein Organ, das weſentlich aus einem Netze von Blutgefäßen beſteht, durch welches der mütterliche Organismus mit dem Fötus in Verbindung geſetzt, und die Ernährung des letzteren vermittelt wird. Die Huf— thiere, Zahnloſen und Wale haben eine einfache und ringsum ausgebreitete Placenta, d. h. die Gefäßzotten ſitzen überall auf der Oberfläche der Fötushüllen und treten un— mittelbar an die Innenfläche der Gebär— mutter. Alle übrigen Säuger und ebenſo der Menſch haben eine Doppel-Placenta; die eine Hälfte gehört der Mutter an, die andere Hälfte gehört zum Fötus, oder richtiger zu deſſen äußerer Umhüllung. Die Membrana deeidua überkleidet die Innen— fläche der Gebärmutter und vermittelt die Vereinigung jener beiden Placenten. Mit vollem Rechte legt Haeckel beſondres Ge— wicht auf dieſe verſchiedenartige anatomiſche Anordnung; die Säugethiere zerfallen ihm demgemäß in die beiden großen Gruppen der Indeciduata und der Deciduata. Die mit einer Decidua verſehenen Säuge— thiere zerfallen ſelbſt wieder in zwei Ab— theilungen, die Zono-Placentarier haben eine Placenta, die das Säugethier-Ei gürtel— förmig umzieht, die Discoplacentarier eine mehr oder weniger ſcheibenförmige Placenta. Die Menſchen, Affen, Fledermäuſe, In— ſektenfreſſer und Nager ſind Discoplacen— tarier, bilden alſo eine beſondere Abtheil— ung, von der alle Zonoplacentarier und zumal die Indeciduaten ausgeſchloſſen bleiben. Haeckel reiht ſeine Halbaffen (Prosi- miae) unbedenklich in dieſes Schema ein; ſie ſollen eine Decidua und eine ſcheiben— förmige Placenta beſitzen. Alphonſe Milne Edwards und Grandidier haben nun aber bei der Unterſuchung der Halbaffen, welche Grandidier aus Mada— gascar mitgebracht hatte, aufs beſtimmteſte Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. ſich davon überzeugt, daß ſie zu den Inde— ciduaten gehören, denn ſie haben keine De— cidua, ſondern eine ausgebreitete Placenta. Gemäß den eigenen Beſtimmungen Haeckel's können demnach die Halbaffen nicht als die Ahnen der Affen gelten, ja ſie können nicht einmal Ahnen von Zono-Placentariern fein, vielmehr müſſen ſie zu den Indeciduaten geworfen werden.“ Soweit de Quatre— fages !). Wir können uns nicht enthalten, einige Worte zur Charakteriſirung dieſer Art von Polemik einzuſchalten. Als Haeckel ſein Syſtem aufſtellte, waren die Placental-Ver- hältniſſe der Halbaffen noch nicht bekannt, und als er bei ihnen Ueberinſtimmung in denſelben mit den echten Affen vorausſetzte, ging er in der Richtung der größten Wahr— ſcheinlichkeit vor, irrte aber, wie der Natur— forſcher alle Tage irrt, und ein Tag den andern belehrt. Eine ganz andere Frage iſt es, ob dadurch die Verwandtſchaft und Abſtammung der echten Affen von den Halbaffen irgendwie berührt oder unwahr— ſcheinlich gemacht wird. De Quatre— fages glaubt damit einen großen Riß in das genealogiſche Syſtem Haeckel's machen zu können, und nur darum lobt er deſſen Eintheilung der Placentalthiere in Deciduaten und Indeciduaten, um Haeckel's Autorität gegen Haeckel ſelbſt ins Ge— fecht führen zu können. Allein wo hat Letzterer geſagt, daß die Deeiduaten nicht von Indeciduaten abſtammen könnten? Im Gegentheil ſcheint eine ſolche Abſtammung die ſtillſchweigende Vorausſetzung der ganzen Eintheilung, eben ſowohl wie man ge— nöthigt iſt, die Placenta-Thiere von Thieren ohne Placenta herzuleiten. Die vermittelnde Stellung der Halbaffen gewinnt durch die neuen Feſtſtellungen mehr als ſie verliert, ) Der Menſch. Leipzig, 1878, I. S. 128. A 6 und man muß ſie nun erſt recht als Aus— gangsgruppe der echten Affen und wahr— ſcheinlich noch anderer Ordnungen der höhe— ren Säugethiere betrachten, d. h. als die— jenigen Thiere der heutigen Lebewelt, die dem Grundſtamme, aus welchem die Pri— maten hervorgegangen ſein müſſen, am ähnlichſten geblieben ſind. ; Damit ſtimmen auch weitere Beobacht— ungen Grandidier's völlig überein. Derſelbe ſchenkte der Lebensweiſe des Aye— Aye (Chiromys madagascariensis), eines, wie wir bald ſehen werden, zu den Halb— affen zu rechnenden Thieres, welches Gme— lin und Cuvier zu den Nagern geſtellt hatten, genauere Aufmerkſamkeit. Er fand, daß dieſes Thier in der Zweiggabelung eines Dicotyledonenbaumes mit Sorgfalt ein großes Neſt baut, welches außen aus Ravenala⸗Blättern beſteht und mit einer kleinen Oeffnung verſehen iſt. Der Aye— Aye erſcheint durch dieſe Eigenthümlichkeit von den höherſtehenden Halbaffen (Indri— ſinen und echten Lemuren) unterſchieden, ſo— fern deren Weibchen ihre Jungen ſtets an Bruſt oder Rücken mit ſich ſchleppen und blos zwei Bruſtwarzen beſitzen. Dagegen haben die niederen Glieder der Ordnung mehrere Paare Bruſtwarzen und ſchleppen ihre Jungen nicht mit ſich herum; ſie verbergen ſie in hohlen Bäumen (Lepilemures, Chiro- galei) oder in wirklichen Neſtern (Mierocebi). Jede Brut beſteht aus mehreren Jungen, die ihre Eltern längere Zeit nicht begleiten, ſondern in ihrem Verſtecke bleiben. Das Neſt des Microcebus myoxinus ift einem Krähenneſte ähnlich. Chiromys nähert ſich daher nicht blos den höheren Nagern, ſondern auch den niederen Halbaffen in ſeiner Lebensweiſe, was ſeiner eigenthüm— lichen Stellung in ſyſtematiſcher und wahr— ſcheinlich auch in phylogenetiſcher Hinſicht Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. entſpricht. Von den höheren Lemuren weicht er, wie erwähnt, in der Lebensweiſe er— heblich ab. Was nun ſeinen anatomiſchen Bau an- betrifft, ſo legte Prof. Gervais in der Pariſer Akademie vom 29. Juli 1878 eine Arbeit von Dr. Alix vor, der einen jungen, männlichen Aye- Aye fecirt hatte. Seine Beobachtungen beſtätigen in allen Punkten die Anſichten aller jener Naturforſcher, welche in Uebereinſtimmung mit de Blain— ville gegen Gmelin und Cuvier be hauptet hatten, daß der Aye-Aye von den Nagern getrennt und den Halbaffen ange— nähert werden müſſe. Eine große Reihe in dieſer Richtung ſprechender Beweiſe ergab das Studium der Muskelbildungen. Der Extensor communis hallucis, welcher bei den Nagern an dem äußeren Höcker des Oberſchenkelbeins befeſtigt iſt, erhebt ſich beim Aye-Aye vom Schienbein. Der Supi- nator longus, welcher gewöhnlich bei den Nagern fehlt, iſt bei ihm in guter Ent— wickelung vorhanden. Der Extensor com- munis der Finger, ſowohl der Hand als des Fußes, iſt aus zwei getrennten Bündeln zuſammengeſetzt, von denen eines die Sehnen des zweiten und dritten Fingers, das andere diejenigen des vierten und fünften liefert, woraus folgt, daß der Aye-Aye gleich den anderen Halbaffen ein paariges Finger— ſyſtem beſitzt, und in dieſer Rückſicht den geſpalten-hufigen Dickhäutern und Wieder- käuern gleicht, während die anderen Säuge— thiere unter allen Umſtänden ein unpaariges Fingerſyſtem beſitzen. Dr. Alix konnte ferner das ſchon von Murie und Mivart erwähnte Vorhandenſein eines Rotator— Muskels des Wadenbeines beſtätigen. Bei der Unterſuchung des Nervenſyſtems der Nacken-Region wurden von denjenigen der Nager völlig verſchiedene Anordnungen ent— Kosmos, III. Jahrg. Heft 1. — 2 66 deckt. Zum Beiſpiel hat der Stamm des großen ſympathiſchen Nerven, welcher ſonſt von dem Pneumogaſtricus in der ganzen Ausdehnung dieſer Region getrennt ver— läuft, kein mittleres Nacken-Ganglion, ſon— dern blos ein in der Größe äußerſt redu— cirtes unteres. Das obere, unmittelbar über der Gabelung der Halsſchlagader gelegene Hals Ganglion adhärirt mit feiner faſrigen Scheide dem Pneumgaſtricus, und an der— ſelben Stelle trennt ſich der obere Kehlkopf— nerv von dem letztgenannten, indem er das Ganglion kreuzt und damit in Verbindung tritt. An der linken Seite iſt keine An— deutung einer dem Depreſſor-Nerven ent ſprechenden Faſer, während man auf der rechten zwei äußerſt feine Faſern von dem Kehlkopfnerv zu dem großen Sympathicus gehen ſieht. Nichts in dieſer Anordnung zeigt eine Aehnlichkeit mit dem bei den Nagern und vor Allen bei den Leporiden ſo deut— lich verlaufenden Nervenſtrang, der dadurch Phyſiologen Gelegenheit giebt, Verſuche von äußerſter Wichtigkeit daran anzuſtellen. Dieſer Charakter unterſcheidet den Aye-Aye auch von den Opoſſums, welche von Illiger mit den Affen und Lemuren zu ſeiner Ordnung der Pollicata vereinigt worden waren. Kurzum die Anordnung der Nerven beſtätigt die durch das Studium der Muskeln, Eingeweide, Fortpflanzungs— werkzeuge, der äußeren Geſtalt, Skelet- und Zahnbildung gewonnenen Reſultate.“ ) Hinſichtlich des Ai, oder dreizehigen Faulthieres (Bradypus tridactylus Linn.) fand Joly bei einer neuen Unterſuchung, über die er am 12. Auguſt 1878 der Pariſer Akademie Bericht erſtattete, eben— falls eine bemerkenswerthe Annäherung an die Halbaffen. Die Faulthiere ſind buch— ſtäblich, wie ſie Buffon beſchrieben hat, „) Comptes rendus. Juillet, 1878 p. 129. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. wiederkäuende Thiere, inſofern ſie vier Mägen beſitzen, aber ſie ermangeln gleich— zeitig aller der übrigen Charaktere, welche den Wiederkäuern eigen ſind. Linné im Gegentheil ſetzte ſie Anfangs unter die Primaten, aber nachher unter die Bruta — Cuvier's Edentaten — und ſeinem Bei— ſpiel folgte de Blainville. Cuvier ſetzte die Tardigraden (Bradypus) an die Spitze der Edentaten, obwohl ſie wohlent— entwickelte Eck- und Backenzähne haben. Man erſieht alſo, daß hinſichtlich der Stellung dieſer Thiere die Verwirrung der Syſtematiker äußerſt groß geweſen iſt, ſo— fern die Gattung Bradypus von den Wiederkäuern zu den Primaten und von dieſen zu den Edentaten einhergeſchwankt iſt. Neuerdings hat man — und zwar mit gutem Grunde — große Wichtigkeit auf die Bildung der Placenta gelegt, weil ſie beſtimmte Charaktere für die verſchiedenen Säugethiergruppen und werthvolle Anzeichen ihrer natürlichen Verwandtſchaft ergiebt. Die kaum fünfundzwanzig Jahr alte Claſſi— fikation Carl Vogt's in gürtelförmige, ausgebreitete und ſcheibenförmige Placenten iſt heutigen Tages als unvollſtändig, ja ſogar als in verſchiedenen ihrer Anwend— ungen irreführend erkannt, denn wir wiſſen nunmehr, Dank den Arbeiten von Tur— ner und Alphonſe Milne Edwards, daß wenn die Mehrzahl der Wiederkäuer eine viellappige Placenta beſitzt, auf der anderen Seite Kamele, Moſchusthiere und Zwerg-Moſchusthiere eine ausgebreitete Placenta haben. Aehnlich verhält es ſich bei den Zehengängern unter den Dickhäutern, (dem wilden Schwein u. A.), während die Sohlengänger (Rüſſelthiere, Klippdachſe) eine gürtelförmige Placenta wie die Raubthiere und Robben beſitzen. Bei den verſchiedenen Gattungen und ſogar bei den Arten der in der Gruppe der Edentaten vereinigten Thiere bietet die Placenta nun ſo wohlmarkirte Unterſchiede dar, daß es nach der bezüg— lichen Bemerkung von Alphonſe Milne— Edwards erforderlich wird, die Annahme näherer Verwandtſchaften derſelben unter⸗ einander aufzugeben. Joly fand die Placenta des Ai, wie ſie ſchon früher von Carus beſchrieben worden iſt, viellappig, nämlich einen wahren, häutigen, aus dem Amnion und Chorion beftehenden Sack darſtellend, und nament- lich auf ſeiner äußeren Oberfläche mit einer großen Zahl (über hundert) Lappen von mehr oder weniger unregelmäßiger Geſtalt und ſehr veränderlicher Größe (1 Milli: meter bis 2 Centimeter) verſehen. Von der äußeren Vorderſeite der Placenta angeſehen, erſcheinen dieſe Lappen (Cotyledones) theils rund und flach, wie Nummuliten, theils in der Geſtalt und Größe von Hirſekörnern. Andere, viel größere endlich, die zu vielen mit einander Gruppen bilden, erinnern durch ihren Anblick an die viellappigen Nieren der Vögel und gewiſſer Ophidier. Mehr oder weniger geräumige Höhlungen, in denen zweifellos die Gefäße der hyper— trophiſchen Schleim-Membran eingepflanzt ſtehen, ſind auf der äußerern Oberfläche der Fötal-Placenta ebenfalls ſichtbar. Auf der inneren Anſicht bilden die Lappen zahl— reiche, ſcharf begrenzte Falten, von einer häufig beträchtlichen (über 0,01 Meter) hinausgehenden Dicke, welche feſt und mit breiter Baſis auf dem Chorion haften, für den größten Theil ihrer Ausdehnung aber frei erſcheinen. Dieſer Anblick hat Carus veranlaßt, ſie mit der ſonſt vielfach ver— ſchiedenen Placenta der Kuh und des Schafes zu vergleichen. Joly hingegen ſtellt ſie mit derjenigen der Halbaffen, namentlich von Propitheeus r ———— Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 67 | aus Madagascar zuſammen, welche AL- phonſe Milne-Edwards unter dem Namen glockenförmige Placenta (Pl. en eloche ou envahissante) beſchrieben hat. Beim Ai ſowohl als beim Protopitheeus iſt das Chorion faſt gänzlich mit dicken und gedrängten Zotten bedeckt, die eine Art von Gefäßpolſter darſtellen, welches aus dem Zuſammenfluß zahlreicher unregel— mäßiger Lappen gebildet wird. Aber der Ai nähert ſich dem Propithecus nicht blos im Bau der Placenta, ſondern auch in ſeinen Gewohnheiten, denn beide ſind Baum— thiere und ernähren ſich ausſchließlich durch Pflanzenkoſt. Außerdem iſt der Uterus des Ai, wie derjenige der Affen und Men— ſchen, birnförmig, eine Eigenthümlichkeit, die in Verbindung mit den Bruſtwarzen den Bradypus noch mehr dem Propithecus nähert. Linné und de Blainville ſcheinen alſo durch eine Art divinatoriſcher Eingebung geleitet worden zu ſein, als ſie die Faulthiere Braſiliens den Primaten zu— rechneten, nur daß ſie nicht zu den eigent— lichen Affen geſtellt werden dürfen, ſondern die amerikanſchen Vertreter der niederen Lori von Oſtindien und des Propithecus von Madagascar darſtellen. Sie müſſen nach ihren meiſten Merkmalen von den Edentaten zu den Halbaffen geſtellt werden.“) Die Farbſtoffe des Menſchen-Haares. Sofern der Haarfärbung von den An— thropologen ſtets ein gewiſſer Werth beigelegt worden iſt, war es auch nach dieſer Richtung von Intereſſe, die Pigmente ſelbſt kennen zu lernen, welche dieſe Färbungen hervorbringen. Aber es bietet eine nicht geringe Schwierig— ö ) Comptes rendus, Aoüt 1878. 68 keit, aus der gegen chemiſche Agentien ziem— lich widerſtandsfähigen Hornſubſtanz des Haares den färbenden Beſtandtheil zu iſo— liren, und H. C. Sorby, der ſich dieſer Unterſuchung vor kurzem unterzogen hat, mußte zu einem ziemlich heroiſchen Mittel — Einwirkung verdünnter Schwefelſäure in der Hitze — ſeine Zuflucht nehmen, um eine Iſolirung zu erreichen. Obgleich wir nicht wiſſen, ob hierdurch nicht vielleicht eine Zerſetzung oder Umwandlung der Pig— mente bewirkt worden ſein mag, ſind die Reſultate ſo intereſſant, daß ſie als vor— läufige Anhaltspunkte im Auszuge mitge— theilt zu werden verdienen. Die Original⸗ abhandlung befindet ſich im Journal of the Anthropological Institute Vol. VIII. Für ein nicht völliges Fehlſchlagen der Methode ſpricht der Umſtand, daß aus den ver— ſchiedenen, völlig fettfreien Haaren, je nach ihrer urſprünglichen Färbung bei gleicher Behandlung, drei verſchiedene Farbſtoffe erhalten wurden, ein gelber, ein braunrother und ein ſchwarzer. Dieſe Pigmente wurden in Geſtalt unlöslicher Pulver erhalten, und von beſonderem Intereſſe war die Miſchung dieſer Farbſtoffe in den verſchiedenen Haar— Gattungen. Lebhaft rothes Haar lieferte bei der Behandlung mit verdünnter Schwefel— ſäure nur den rothbraunen Farbſtoff, aber in anſehnlicher Menge, goldiges weniger, aber je nach der Nüance mehr oder weniger gelben Farbſtoff daneben, dunkelrothes Haar wechſelnde Mengen des ſchwarzen Farbſtoffes, der den rothen feſt gebunden enthält. Sand— blondes Haar enthält neben wechſelnden Mengen des ſchwarzen und rothbraunen Pigments eine vorwiegende Menge des gelben; dunkelbraunes Haar neben roth— braunem eine ſo geringe Menge des ſchwar— zen, daß dieſe nicht ausreicht, die erſtere Färbung zu verdecken. Schwarzes Haar Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. enthält dagegen ſo viel ſchwarzen Farbſtoff, daß es die andern völlig verdeckt und höchſtens durch fie nüancirt wird. So ent- hielt z. B. ein ſehr ſchwarzes Negerhaar. ebenſoviel rothbraunen Farbſtoff, wie das gleiche Gewicht eines ſehr rothen Haares eines Europäers, eine Thatſache, die nach verſchiedenen Richtungen ſehr intereſſant iſt, z. B. was die künſtliche Rothfärbung des ſchwarzen Haares und die Abſtammung rothhaariger Kinder von ſchwarzhaarigen Eltern, wie ſie namentlich häufig bei Se— miten vorkommt, anbetrifft. Bekanntlich liebten es die römiſchen Damen, ihr ſchwarzes Haar durch Behandlung mit allaliſchen Laugen rothblond zu färben, um den Ger⸗ manen ähnlicher zu erſcheinen, und der be— kannte Kunſtkritiker Dr. A. Roſenberg in Berlin behauptet (Zeitſchr. für bildende Kunſt, Januar 1878), daß dieſe Praxis in der Renaiſſance lebhaft weiter geübt worden ſei, und daß die rothblonden Frauenköpfe Palma Vecchio's Erzeugniſſe dieſer arte biondeg- giante ſeien. Er weiſt dabei auf ein Ge— mälde des Vittore Carpaccio im Muſeum Correr zu Venedig hin, welches zwei Damen darſtellt, welche ihr mit dem geheimnißvollen Färbungsmittel geſalbtes Haar dem Sonnen— ſchein ausſetzen, wahrſcheinlich aber weniger, um es, wie Roſenberg glaubt, ſchneller zu trocknen, als um die Bleichkraft des Toilet— ten-Mittel8 durch die Sonne unterſtützen zu laſſen. Der ſchwarze Farbſtoff ſcheint durch das Alkali zerſetzt zu werden, von dem rothbraunen bemerkte auch Sorby, daß er im direkten Sonnenlichte etwas heller wird. Auf dem erwähnten lieblichen Genre— bilde haben die Damen ihr aufgelöſtes, langherabwallendes Haar mit der Solana, einem breitkrempigen Hute ohne Boden, be— deckt; wahrſcheinlich weil der öfter bedeckt noch zu dunkel war. Sehr ſchwer erklärlich erſcheint dagegen nach dem weiteren Be— funde, daß weißes Haar gar keinen Farb— ſtoff enthält, die oft und, wie man ſagt, glaubwürdig mitgetheilte Erfahrung, daß unter dem Einfluſſe deprimirender pſychiſcher Einwirkungen dunkles Haar in wenigen Stunden bleichen ſoll. Es würde das eine leichtere Zerſetzbarkeit und Reſorbirbarkeit vorausſetzen, als man nach den Unterſuch— ungen Sorby's erwarten ſollte. Weitere Unterſuchungen müſſen über dieſe und andere Fragen nähere Auskunft ergeben. Eine wiederenkdeckte antike Technik. Bekanntlich hat unſere heutige moderne Technik in mehr als einem Punkte die an- tike Kunſtfertigkeit und Geſchicklichkeit noch nicht wieder erreicht, und es ereignet ſich deshalb von Zeit zu Zeit, daß dieſe oder jene Manipulation von uns wieder neu entdeckt wird. Zu den bisher nicht zu er- klärenden oder nachzuahmenden Dingen ge— hörte für uns jener ſchöne, ſchwarze, milde Glanz, welchen die Mehrzahl der antiken Vaſen beſitzt, und wir hatten bei uns in Europa für ihn bis jetzt kaum eine andere Erklärung, als daß wir ihn im Allgemeinen für einen Anſtrich von Graphit hielten, ohne daß es uns gelungen wäre, dieſe Subſtanz in der ſchwar— zen Oberſchicht nachzuweiſen. Gleicher Weiſe zeichnen ſich viele der in prähiſtoriſchen Grä— bern und Urnenfriedhöfen gefundenen Ge— fäße durch denſelben Glanz aus, ſo daß man ſich genöthigt ſieht, anzunehmen, daß jene Technik früher vielleicht allgemein bekannt und geübt worden, inzwiſchen aber für uns gänzlich verloren gegangen ſei. Bei dieſer Lage der Dinge war es erklärlich, daß, wenn Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. — » dieſe Kunſtfertigkeit überhaupt noch auf Erden exiſtirte, dies möglicher Weiſe nur in ſolchen Kulturländern der Fall ſein dürfte, welche, außerhalb des großen Weltverkehrs liegend, derartige uralte techniſche Manipulationen unbeeinflußt von den Erfindungen der Neu— zeit bewahrt haben. Dieſer Gedanke war es, welcher Dr. Jagor auf ſeiner letzten großen Reiſe veranlaßte, in Indien darüber nachzuforſchen, ob nicht irgend eine Kaſte oder Zunft die Schwarz-Thonwaaren-Kunſt noch betreibe. Er war bei ſeinen Nach— forſchungen glücklich, denn er erfuhr, daß ſich die Technik der vorhiſtoriſchen Thon— waaren bei einer Töpferkaſte im Salem⸗ Diſtrikt erhalten habe, und es gelang ihm, in Madras einen dieſer Kaſte angehörigen Mann aufzufinden, der ihm das Verfahren zeigte. Nach ſeiner Rückkehr gab er hierüber wiederholt Mittheilungen an die Berliner anthropologiſche Geſellſchaft, zuletzt in der Maiſitzung des vorigen und in der Januar— ſitzung dieſes Jahres. Das Verfahren ſelbſt, wie es noch heut in Indien, ſowie auch in anderen Ländern, bei deren Handwerkern ſich alte Methoden erhalten haben, üblich iſt, beſteht darin, daß den Thonwaaren die ſchwarze Farbe lediglich durch die Art des Brennens ertheilt wird. Der indiſche Töpfer nahm zu dieſem Zwecke ungebrannte, lufttrockene Thongefäße, welche er zunächſt mit Hülfe eines Lappens mit rothem Oder- ſchlamm beſtrich und darauf an der Sonne trocknete. Nachdem dies geſchehen, ergriff er ein großes Bündel ſehr harter, auf— gereihter Samenkerne von Gyrocarpus asiaticus und rieb damit unter gleichzeitiger Anwendung einer ganz geringen Schicht von Seſamöl die Ockerſchicht, bis ſie einen matten Glanz zeigte. Um höheren Glanz zu er— zielen, wurde eine zweite Ockerſchicht auf— — — 20 getragen, getrocknet und polirt. Auf dieſe Weiſe vorbereitet, waren die Gefäße zum Brennen fertig. Dieſes Brennen geſchieht gewöhnlich in Erdgruben, die eine große Anzahl Gefäße aufnehmen können. Um den Verſuch im Kleinen auszuführen, im— proviſirte der Töpfer einen Brennofen wie folgt: Einige Kuhfladen, welche in einem ſehr großen Theile Indiens das allgemeine Brennmaterial bilden, und eine Hand voll Reisſtroh wurden auf dem Boden eines großen, gebrannten, unglaſirten Topfes aus— gebreitet und die kleinen polirten Gefäße darüber gepackt. Zum Verſchluß diente ein beckenförmiges Gefäß, das darüber geſtülpt und mit einem Gemiſch von Kuhmiſt und Thon feſt aufgekittet wurde. In dieſen Kranz von Kitt wurde ſo viel Aſche ein— gedrückt, als er aufnehmen konnte. Hierauf breitete der Töpfer auf der Erde eine drei— fache Schicht Kuhfladen aus, ſtellte den Topf darauf und packte ihn ringsum und oben in Kuhfladen ein, ſo daß er darin von allen Seiten eingeſchloſſen war, dann umgab er den Aufbau mit einer wenige Zoll dicken Hülle von Reisſtroh und ſtrich über dieſen Strohmantel eine zolldicke Schicht Thon— ſchlamm, ſo jedoch, daß unten ringsum ein handhoher Rand und oben eine Stelle von 15 Centimeter Durchmeſſer frei blieb. Das Stroh wurde dann angezündet, und zwar auf der Leeſeite, damit es langſamer und gleichmäßiger brenne. Als nach Beendig— ung des Brennens die Gefäße herausge— nommen wurden, zeigten ſie innen und außen die gewünſchte ſchwarze, glaſurartige Oberfläche. Diejenigen Gefäße, welche nicht ſchwarz werden ſollten, waren in einem an— deren Topfe, ohne Zuthat von Stroh und Kuhmiſt und ohne Stroh zum Thonmantel, gebrannt worden; ſolche die innen ſchwarz und außen roth ſein ſollen, werden inwen— | I | — = —— — — — —.— — Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. dig mit Stroh und Miſt, außen in freiem Feuer gebrannt. In Indien ſind derartige ſchwarze Gefäße noch heute ſehr allgemein, auch unter den dort ausgegrabenen ſind ſie häufig. Sie beſitzen mehr oder weniger den milden Glanz, den man an den antiken Vaſen bewundert, und laſſen ſich auch, wie dieſe letzteren, mit einem Meſſer ritzen, ſind aber für Waſſer ganz oder beinahe undurchläſſig. Dr. Jagor, welcher eine Reihe derartiger Gefäße in der anthropologiſchen Geſellſchaft vorlegte, hat dann weiterhin unterſucht, ob ſich nicht auch noch in anderen Ländern Proben einer ähn— lichen Technik finden, und es gelang ihm, einen ganz ähnlichen Glanz, ähnliche Farben und dieſelben phyſikaliſchen Eigenſchaften bei Gefäßen aus Syut in Ober-Egypten und auf türkiſchen Pfeifenköpfen aus Galata und Ruſtſchuck zu entdecken. Was dieſe Pfeifen- köpfe betrifft, ſo wird bei ihnen der Glanz nicht durch Poliren, ſondern durch ſehr ſtarken Druck erzielt; die fertigen Stücke ſelbſt ſind dann je nach der Art des Bren— nens roth, braun, grau oder ſchwarz von Farbe. Nachdem wir ſo zur Kunde dieſer weit— verbreiteten Technik gelangt waren, kam es darauf an, fie der localen Behandlungs- weiſe zu entziehen und die ſo zu Grunde liegende wiſſenſchaftliche Auffaſſung zu er— forſchen, die Methode ſelbſt zu vereinfachen und zugleich ihr Feld zu erweitern, eine Arbeit, welcher ſich mit ebenſo viel Eifer wie Erfolg der Chemiker der königlichen Porzellanfabrik in Berlin, Dr. Sarnow, unterzogen hat. Er ſelbſt berichtete über die bis jetzt von ihm angeſtellten Unter— ſuchungen im Anſchluß an Dr. Jagor's Mittheilungen und Vorlagen in der Januar— Sitzung der Berliner anthropologiſchen Ge— ſellſchaft Ausführliches. Zunächſt ſtellte er * Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. aus einem Thon, welcher dem der indiſchen Gefäße möglichſt ähnlich zuſammengeſetzt war, ſowie aus indiſchen Materialien, die ihm durch Dr. Jagor in ausreichender Weiſe zur Verfügung geſtellt waren, genau nach dem angegebenen Verfahren einige kleine Gefäße dar. Das Reſultat war ein gutes, die Gefäße wurden den indiſchen ſehr ähn— lich und es ſtand ſomit feſt, daß die glän— zende Oberfläche der Scherben nicht chemiſchen Einflüſſen zuzuſchreiben war, ſondern phyſi— kaliſche Urſachen hatte. Eine Erklärung für das Auftreten der glänzenden Oberfläche war bald gefunden. Reibt man nämlich, wie bekannt, einen Thon mit einem harten, mit glatten Oberflächen verſehenen Körper, ſo wird derſelbe glänzend, und zwar um ſo mehr, je fetter er iſt. Der Glanz ver— liert ſich in Folge der Einwirkung von Feuchtigkeit ꝛc. nach einiger Zeit, wird aber bleibend, wenn man den Thon einem ge— eigneten Feuer ausſetzt. Verſchiedene antike Thonwaaren haben einen ſolchen, durch Po— liren entſtandenen Glanz aufzuweiſen. In gewöhnlicher Flamme gebrannt, verändert ſich natürlich die dem Thon nach dem Brennen eigenthümliche Farbe nicht; brennt man aber in reducirender, ſtark rußender Flamme, ſo nimmt die Oberfläche einen noch tieferen ſchwarzen Ton an, wie der übrige Scherben, der Glanz wird erhöht, und was die Hauptſache iſt, die oberſte Schicht wird ſo dicht, daß ſie für Waſſer faſt undurchläſſig iſt. Ver⸗ ſchiedene Sorten von Thon ſind in der an— gegebenen Weiſe behandelt worden, unter Andern Veltener Thon, Thon aus Nien— ſtädt am Harz, ein fetter Thon aus Inow— raclaw ꝛc. Das Reſultat war durchweg ein gutes; das beſte lieferten indeß die fetteren Thone, welche oft einen ſehr ſchönen Graphitglanz annahmen. Ganz beſonders 71 that dies der rothe Thon von Salem in Indien, welcher häufig auch ſehr ſchöne An— lauffarben zeigte. Da derſelbe nahezu 16 Procent Eiſenoxyd beſitzt und überhaupt alle hier genannten Thone mehr oder weniger Eiſenoxyd enthalten, jo lag es nahe, zu vermuthen, daß dieſes in Folge der Re— duktion eine bedeutende Rolle bei der Er— zeugung der dichten und glänzenden Ober— fläche ausübe. Die daraufhin angeordneten Verſuchsreihen ergaben aber als Reſultat, daß es zum Hervorrufen des Glanzes lediglich der Einwirkung der Kohle auf den gut polirten Scherben bedarf. Zum Poliren des Thones eignet ſich jeder harte Körper mit glatter Oberfläche, namentlich Achat und Glas. Die Wirkung der Samen von Gyro- carpus asiatieus iſt alſo lediglich auf ihre harte glatte Außenfläche zurückzuführen. Ge brannt wurden die polirten Gefäße, indem fie, wenn ſie ganz geſchwärzt werden ſollten, in einem größeren Gefäß in Sägeſpäne eingehüllt und dann in einen Ofen geſchoben wurden, welcher heiß genug war, die Sägeſpäne zu entzünden. Von dieſen waren ſo viele in das Gefäß eingedrückt worden, daß die her— vorgebrachte Temperatur genügte, die rohen Scherben hinlänglich hart zu brennen. Be— vor die von den Spänen herrührende Kohle völlig verbrannt war, wurde das Gefäß aus dem Ofen genommen und abgekühlt. Sollte das Gefäß nur innen geſchwärzt werden, ſo wurde es natürlich nur innen mit Spänen gefüllt, erhielt aber außen Oxydationsflamme. Der Vorgang bei der Hervorbringung einer glänzend ſchwarzen, dichten Oberfläche auf dieſem Wege iſt leicht zu erklären: Po— lirt man ein Thongefäß durch Reiben, fo wird der Thon an der Oberfläche natürlich comprimirt, ſetzt man ihn alsdann in einer rußenden Atmoſphäre einer geeigneten Tem- en peratur aus, fo wird, ſobald die Tempera— tur hoch genug wird, das gebundene Waſſer ausgetrieben, die dadurch entſtandenen Poren werden alsbald mit Kohle erfüllt; dieſe Kohle kann, da die Atmoſphäre reducirend bleibt, nicht verbrennen und wird, ſobald der Thon ſchwindet, ſobald alſo die Thon- körperchen einander genähert werden, in den Poren comprimirt, wird dadurch glänzend und ſo dicht, daß ſie ſelbſt dem Waſſer den Durchgang nicht geſtattet. Um ſich von der Richtigkeit dieſer Erklärung zu überzeugen, ſetzte Dr. Sarnow bereits gebrannte Scherben dem— ſelben Proceſſe aus wie die rohen und fand, daß dieſe Scherben geſchwärzt wurden, wenn ſie in der rußenden Flamme nicht höher erhitzt wurden, als früher beim Brennen, ſonſt nicht. Dieſe Erfahrung gab zu einigen ſehr hübſchen Verſuchen Anlaß, indem ein bereits gebrannter Scherben mit rohem Thon überlegt und der rußenden Flamme ausgeſetzt, aber nicht ſo hoch erhitzt wurde, Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. als früher beim Brennen. Natürlich wurde nun der friſche Thon geſchwärzt, der ge— brannte nicht. Dr. Sarnow hat nun als friſchen einen ziemlich fetten Thon be— nutzt, mit dem er Zeichnungen, Figuren ꝛc. auf gebrannten Thon ausführte oder ihn als Fond auf gebrannten Thon auflegte und Figuren ausſparte. Nach dem Brennen nahm der friſche Thon oft einen ſehr ſchönen, graphitartigen, tiefſchwarzen Glanz an, und es konnten Decorationen erzielt werden, welche denen auf griechiſchen Thonwaaren glichen. Somit ſind wir denn durch die Bemühungen der beiden Herren Jag or und Sarnow in den Beſitz einer Technik gelangt, die höchſt wahrſcheinlich in ähn— licher, wenn auch local gefärbter Weiſe be— reits im Alterthum allgemein angewandt wurde. Die Verſuchsreihe iſt übrigens durchaus noch nicht abgeſchloſſen und dürfen wir ſeiner Zeit noch weiteren Erfolgen entgegenſehen. (Voſſ. Ztg.) Encyklopädie der Naturwiſſen— ſchaften. Herausgegeben von Profeſſor Dr. G. Jäger (Zoologie und Anthropo— logie), Prof. Dr. A. Kenngott (Mine— ralogie), Prof. Dr. Ladenburg (Chemie), Prof. Dr. von Oppolzer (Aftronomie), Prof. Dr. Schenk (Botanik), Prof. Dr. Schlömilch (Mathematik), Prof. Dr. von Wittſtein (Pharmakognoſie), Prof. Dr. von Zech (Phyſik). Ab⸗ theilung 1. Lieferung 1. Breslau, Ed. Trewendt, 1879. EI) / 5 ine neue Encyklopädie der Natur- O wiſſenſchaften bedarf in unſrer Zeit keine Befürwortung. Denn heute gilt nicht mehr der im Griechen- und Römerthume heimiſche Menſch, ſondern der, welcher in ſeiner eigenen Heimath, der Natur, zu Hauſe iſt, als der wahrhaft Gebildete. Wie ſehr aber eine neue Encyklopädie nöthig war, das kann gleich das erſte Heft beweiſen, denn es behandelt zwei ſehr wichtige The— mata, nach denen man gleichwohl in den älteren und neueren Encyklopädien vergeb— lich ſuchen würde. Es eröffnet dieſes erſte Heft das Handbuch der Botanik, welches von Prof. Dr. A. Schenk unter Mit⸗ wirkung von Prof. Dr. Ferd. Cohn, Dr. Detmer, Dr. A. Drude, Prof. Kosmos, III. Jahrg. Heft 1. Literatur und Kritik. Dr. Frank, Prof. Dr. Kienitz-Ger⸗ loff, Prof. Dr. Kraus, Oberlehrer Dr. H. Müller, Prof. Dr. Sadebeck und Anderen herausgegeben wird. Die Namen der Redakteure wie der Special— mitarbeiter haben einen guten Klang, und wir dürfen nach dieſer wohlgegliederten Dr- ganiſation eine vortreffliche Geſammtleiſtung erwarten. Dieſelbe iſt auf 90 Monats⸗ lieferungen à drei Mark berechnet; doch iſt das ganze Werk in mehrere Abtheilungen, welche für ſich abgegeben werden, getheilt. Die Anordnung des Stoffes wird theils alphabetariſch, theils ſyſtematiſch geſchehen, wobei ein Regiſterband die durch dieſe un— gleiche Behandlung für die Bequemlichkeit des Gebrauches etwa erwachſenden Schwierig— keiten ausgleichen ſoll. Soviel über den Plan des Ganzen, gehen wir nun zu der vorliegenden erſten Lieferung über. Dieſelbe beginnt mit einer Arbeit über die Wechſelbeziehungen zwiſchen den Blumen und den ihre Kreuzung vermittelnden Inſekten von Dr. Her— mann Müller, in welcher auf dem Raume von etwas über hundert Lexikonſeiten ein Ueberblick über dieſes geſammte, bereits ſehr ausgedehnte Wiſſensgebiet gegeben wird. Es galt hier tauſend Einzelnheiten zu einem Geſammtbilde zu vereinen, und dieſes Ziel iſt in einer Weiſe gelungen, wie es eben 10 74 nur dem beſten Kenner und Forſcher auf dieſem rieſigen Arbeitsfelde, — einer Welt für ſich, — gelingen konnte. Wir erhalten darin eine aus unzähligen einzelnen Blumen deſtillirte Quinteſſenz, eine philoſophiſche Be— handlung, welche die Wichtigkeit des Gegen— ſtandes darlegt, aber die einzelnen Beiſpiele nur ſoweit heranzieht, als ſie zur Erläuter— ung beſonderer Fragen dienen. Dabei iſt nicht nur das vorhandene Beobachtungs-Material benützt worden, ſondern es wird an That— ſachen und Schlüſſen ſo viel Neues geboten, daß der Verfaſſer in der Einleitung mit Recht ſagen durfte: „Auch Naturforſcher von Fach, welche mit dem gegenwärtigen Stande der Kenntniſſe auf dem betrachteten Gebiete völlig vertraut ſind, werden in der vorliegenden Arbeit manches Neue finden; namentlich ſind zahlreiche, mir brieflich mitgetheilte Beob— achtungen und Erklärungen meines Bruders Fritz Müller, welche die braſilianiſche Blumen- und Inſektenwelt betreffen, hier zum erſten Male veröffentlicht worden.“ Manchem Leſer könnte es befremdlich erſcheinen, daß das Handbuch der Botanik gerade mit dieſer Ab- handlung eröffnet wurde, aber wenn man ſich erinnert, daß wir in dieſen Wechſelbeziehungen der Blumen und Inſekten eines der Haupt- momente zu ſuchen haben, welche uns die Entſtehung der heutigen Pflanzenwelt ver— ſtändlich machen, ſo wirkt ſie wie ein Prolog, und der Verfaſſer bereitet uns durch eine kurze Geſchichte des Werdens in der Pflanzen— welt auf die Kenntnißnahme des Gewordenen vor. In der zweiten Abhandlung erhalten wir von Dr. Oskar Drude eine kurz— gefaßte, aber ebenſo überſichtliche als reich— haltige Darſtellung des intereſſanten Kapitels der inſektenfreſſenden Pflanzen. Mit den Schlüſſen des Verfaſſers können wir uns freilich nicht überall einverſtanden erklären, denn auf S. 140 ſcheint er die Literatur und Kritik. Nützlichkeit des Thierfangs dieſer Pflanzen in Zweifel zu ziehen (weil dieſelben auch ohne denſelben weiter vegetiren) und muß doch S. 145 zugeben, daß dieſe Nützlichkeit experimentell erwieſen iſt. Es handelt ſich alſo, wie bei den kleiſtogamen Blüthen um die Möglichkeit, der fremden Unterſtützung entrathen zu können, ohne daß daraus Je— mand einen Beweis gegen die Vortheile der Fremdbefruchtung an ſich und die Ableitung der ſie befördernden Einrichtungen aus eben dieſem Nutzen ziehen könnte. Beide Arbeiten find reich illuſtrirt, und die geſammte Aus- ſtattung iſt derartig, daß auch nach dieſer Richtung die beſten Erwartungen erweckt werden. Wir begleiten das großartige Unter- nehmen mit unſeren beſten Wünſchen und wärmſten Empfehlungen. K. Die Magie und wahrſagekunſt der Chaldäer. Unter dieſem Titel hat Frangois Le— normant, der bekannte franzöſiſche Archäo— log, bei H. Coſtenoble in Jena 1878 ein Werk in zwei Theilen erſcheinen laſſen, welches bereits 1874 in franzöſiſcher Sprache edirt wurde. Die neueſten Forſchungen hat der gelehrte Herausgeber in der deutſchen Ausgabe ſorgfältig berückſichtigt und ſo ein weſentlich verbeſſertes Werk in deutſcher Ge— ſtalt geliefert. Es bildet daſſelbe den erſten Band eines größeren Ganzen, welches die Geheimwiſſenſchaften Aſiens umfaſſen ſoll. Chaldäa und Aegypten wurden nach dem einmüthigen Zeugniß des claſſiſchen Alter- thums, ſowie der jüdiſchen und arabiſchen Ueberlieferung als die Wiege der Magie und Aſtrologie bezeichnet. Von dort aus kamen dieſe Ueberlieferungen, die in Aegypten— land auf Papyrusblättern und in Aſſyrien Literatur und Kritik. | 75 auf Tafeln aus gebranntem Thon (eoetili- bus lateribus nach Plinius) dem Zahn der Zeit widerſtanden hatten, in den Weſten nach Rom, und deſſen Erbe iſt zum Theil noch die Gegenwart. Den Urkunden der ägyptiſchen Magie iſt eine Reihe von Vorarbeiten gewidmet; be— ſonders hat ſich darum der verſtorbene Vic. de Rougs durch die Herausgabe der aſtro— logiſchen Tafeln der Thebaniſchen Königs— gräber verdient gemacht. An entſprechenden Publicationen dagegen bezüglich der Geheim— wiſſenſchaften der Chaldäer fehlte es bisher in der internationalen Literatur; die Aſſyrio— logie iſt aber bedeutend jünger als die Aegyptologie, um ſo mehr Verdienſt bean— ſprucht das Unternehmen von Fr. Lenor— mant. Dem deutſchen Publicum iſt der Ver— fänge der Cultur“, worin ſein Beſtreben dahin ging, mit den Ergebniſſen der vorge— ſchichtlichen Archäologie auf dem Boden Euro— pas, Aſiens und Afrikas die Angaben des alten Teſtamentes in Einklang zu bringen. Von beſonderem Werthe waren darin ſeine Anſichten über die Entſtehung der Bronce— cultur, die er darin den Sumeriern und Akkadiern, den turaniſchen Ureinwohnern Chal— däas, zuſchreibt.“) Dieſem turaniſchen Urvolke, welches vor der Einwanderung der Semiten und den ariſchen Stämmen die Gebirge Turans und die Ebenen Meſopotamiens bevölkerte, ſchreibt Lenormant nicht nur die Anfänge und die hohe Ausbildung der Metallurgie zu, ſondern beweiſt auch bei ihnen eng damit ver- bunden das Auftreten eines Cyclus von mytho— logiſchen Vorſtellungen, von denen die Magie der Chaldäer ihren Ausgangspunkt nahm. Vgl. I. B. S. 68—94. Im erſten Capitel des neuen Werkes giebt der Verfaſſer nach den Editionen von Rawlinſon und Norris und in Ueber- einſtimmung mit den Reſultaten Oppert's dem Leſer einen Abriß über die Urkun— den über die Magie der Chaldäer, aus denen wir Belehrung ſchöpfen. Ein in der akkadiſchen Sprache — d. h. jener turani⸗ ſchen Sprache, für welche die Keilſchrift erfunden worden iſt — aus vielen Ziegelftein- tafeln ſich zuſammenſetzendes Zauberbuch, welches ſich in der Bibliothek des Kaiſer⸗ palaſtes zu Ninive befand, giebt eine Reihe von Zauberſprüchen, die gegen Dämonen, den böſen Blick, Gift, Krankheiten u. ſ. w. helfen ſollten. Es iſt eine Sammlung von Formeln, Beſchwörungen und Hymnen der chaldäiſchen Magier, von denen z. B. Dio- | dorus Siculus jagt: „Sie ſuchen das faſſer ſchon bekannt durch das 1875 in gleichem Verlage erſchienene Werk: „die An- Böſe abzuwenden und das Gute zuzuwenden, theils durch Reinigungen, theils durch Opfer und Zaubermittel“. Rawlinſon und der nun verſtorbene G. Smith gaben dies magiſche Werk im vier— ten Band der „Cuneiform inscriptions of Western Asia“ heraus. Die Sprüche, Hym⸗ nen ꝛc. find darin ſämmtlich in akkadiſcher Sprache verfaßt, mit aſſyriſcher Interlinear— Ueberſetzung. Das ganze Material gibt Zeugniß von der Exiſtenz einer künſtlichen Dämonologie bei den Chaldäern. Es erſchließt ſich uns daraus eine ganze Welt von böſen Geiſtern. Die zwei Hauptarten der Genien heißen akkadiſch alad und lamma, aſſyriſch sedu und lamassu. Die Geiſter einer niederen Claſſe heißen in akkadiſcher und aſſyriſcher Sprache utug, gigim, maskim. Die Haupt⸗ zahl bei ihnen iſt ſieben, es gibt „ſieben Flammengeſpenſter“, „ſieben Geiſter der feurigen Sphären“, „ſieben Sterne der Pla- netenläufe“ ꝛc. Wie bei den heutigen Hin- 3 dus, fo war bei den turaniſch-ſemitiſchen Bewohnern der Tigris-Euphrat-Ebene Him⸗ mel und Erde, Licht und Dunkel, Städte und Felder mit Dämonen erfüllt, die alle zu beſänftigen und zu verbannen waren. Die höchſte und unwiderſtehlichſte Macht ruht in „dem großen Namen“, vor dem ſich Alles im Himmel und auf Erden beugt. Der Geiſt Ba kennt ihn allein. Dieſelbe Werthſchätzung eines allmächtigen und verbor— genen Namens Gottes finden wir im alten Teſtament, bei den talmudiſchen und kabba⸗ liſtiſchen Juden, ſowie bei den Arabern. Dieſer Glaube ſtammt aus Chaldäa; der Name Jehovah entſtammt eben daher. Eine weitere Kenntniß der Magie in Chaldäa entnehmen wir den mit Inſchriften verſehenen zahlreichen Talismanen. Auch ihre Beſchwörungen ſind in akkadiſcher Sprache geſchrieben; dieſelben, ſowie die Cylinder— petſchafte der Babylonier enthalten auch zahlreiche bildliche Darſtellungen, wie zu— ſammengeſetzte Ungeheuer in Stier-, Löwen, Adlergeſtalt. Ein Haupt-Talisman war ferner der Zauberſtab, die virgula divina des Cicero, die Wünſchelruthe des germa— niſchen Mythus. Die erhaltenen Hymnen, worunter von beſonderer Schönheit die Klagen des reue— vollen Herzens, akkadiſch ir sa kumal, find in lyriſche Strophen eingetheilt und zeigen als Struktur den Parallelismus der Glieder, ähnlich der hebräiſchen Poeſie in den Pſalmen. Eine Reihe von Hymnen ſetzt den Dualis— mus, der das Religionsſyſtem der Chaldäer beherrſchte, außer Zweifel. Wie das zweite Capitel nachzuweiſen ſucht, war die Religion der Magier ein abergläubiſcher Naturdienſt, ein zuſammen⸗ hangloſer Fetiſchismus: heutzutage noch die Religion aller ſchwarzen Völker, der alta⸗ iſchen Stämme, der Malayen, der Roth⸗ 76 i Literatur und Kritik. häute und der Polyneſier. — Die Aegyptier, die zweite Hauptquelle der alten Magie, pflegten dagegen die theurgiſche Magie, eine abergläubiſche Verirrung einer philoſophiſchen Religion. Dieſe Religion ging aus der Einheit des Gottes mittelſt eines gelehrten Emanationsſyſtemes hervor, jene der Tu— ranier aus der Vielheit der Götter mit ſpäterem gelehrten Anſtrich. Im Ausgangs- punkt ſind ägyptiſche und aſſyriſche Magie durchaus verſchieden und gehen auf die ver— ſchiedenen Anlagen verſchiedener Volks— ſtämme zurück; in ihren Reſultaten treffen ſie mehrfach zuſammen und verſchmelzen. Das dritte Capitel gibt einen Abriß der chaldäiſch-babyloniſchen Religion und ihrer Lehren, wie fie ſich zur Zeit der afiy- riſchen geſchichtlichen Periode unter Sargon J. und Hammuragas ausgebildet hatte, um ſo den Unterſchied zwiſchen ihr und den Principien der akkadiſchen Zauberlehre grei⸗ fen zu können. Die Chaldäo-Babylonier mit ihrer außerordentlichen Vorliebe für Aſtronomie, welche der reine Himmel Ba— byloniens begünſtigte, ſahen in der ganzen Einrichtung des Sternen- und Planeten— ſyſtems eine Offenbarung des göttlichen Weſens. Ihre höchſte Trias war Ana, der Himmel, Ba, die Weisheit, Bel, der Schöpfer. Jeder dieſer Geſtalten entſprach eine weibliche Gottheit: Anu, Dawkina, Belit. Zwölf große Götter bildeten ihren Olymp. Bel-Marduk war der Special- himmelgott zu Babylon; eine untergeordnete Götterwelt war beſchränkt auf die Local— culte. Dieſes Religionsſyſtem mit vorzugs⸗ weiſe ſolarem Charakter, verwandt mit der ſyriſchen, phöniciſchen, arabiſchen Götter— lehre, erſcheint als ein Miſchprodukt der Anſchauungen der ſemitiſchen und der tura— niſchen Raſſe, jedoch mit der Einſchränkung, daß das Grundelement nicht akkadiſch-tura⸗ Literatur und Kritik. 77 niſchen Charakters ift, ſondern ſemitiſchen Typus trägt, der mit einer ſtarken Zuthat akkadiſcher Elemente verſetzt wurde.“) Weitere Beweiſe für dieſe von manchen anderen Forſchern abweichende Anſicht bringt Lenormant in den nächſten beiden Capiteln. Die einzelnen Capitel ſind nicht frei von unnöthigen Wiederholungen und aufhalten— den Umſchweifen, was der Lektüre ziemlichen Schaden bringt; auch fehlt ein um ſo nöthi— geres Sachregiſter. Der Dualismus der akkadiſchen Religionsanſchauung zwiſchen böſen und guten Geiſtern, den Dämonen des Him- mels und der Hölle wird im Speciellen in der Analyſe einzelner Hymnen des dritten Buches der magiſchen Sammlung zum Be— weiſe gebracht, ebenſo werden die aſtrono— miſchen Vorſtellungen des akkadiſchen Syſtemes weiter ausgeführt mit der Unterwelt ge, der Wohnung der Todten kur-nu-ga, kigal, arali, dem Himmelsgewölbe ana, dem Ze— nith nuzku, dem goldreichen Wohnſitz der Götter aralli Utu; die Tagesſonne galt den Akkadern als einer der gewaltigſten Feinde der Zauberer und Dämonen. Sie bildet den Mittler zwiſchen den Menſchen und den oberſten Göttern. Der Anfang eines Sonnen⸗Hymnus lautet: O Sonnengott! aus dem Hintergrunde des Himmels biſt du getreten, Die Riegel des glänzenden Himmels haſt du geöffnet, Ja die Pforte des Himmels haſt du geöffnet. O Sonnengott! über das Land haſt du er— hoben dein Haupt! O Sonnengott! die unermeßliche Weite des Himmels und der Länder haſt du bedeckt! Man wird entſchieden durch den Ton an die Art der Rig-Vedas erinnert. Die Ur⸗ zu Folge bildet das akkadiſche Element die Grundform, und die ſemitiſche Umgeſtaltung iſt jünger. vorſtellungen der Völker haben alle etwas Verwandtes, die Kindlichkeit der Sprache und der Gedanken. Wie die Veda-Form einen Vertreter der Windgeiſter, Väyu kennen, fo die akkadiſche Religion einen eben ſolchen, Imi oder Mermer. Später ward derſelbe mit dem babyloniſchen Gotte Bin oder Ramanu identificirt. Der Feuergott, der Agni der Vedas, genoß des Weiteren als ein der Sonne naheſtehender Gott beſondere Verehr— ung; er heißt Gis-bar oder Bil-gi. Er wird als Retter und Richter angerufen. Als der Feuergott im Pantheon ſeine Bedeutung ver— lor, ward er ähnlich wie bei anderen My— thologien (vgl. Heracles, Achilles, Sigurd) als Izdhubar zum Helden eines Epos, in welchem auch der Sintfluthbericht eine beſon— dere Epiſode bildet. G. Smith nahm ihn für einen hiſtoriſchen König. Lenormant ſcheint mit der ſolaren Natur, die er ihm zuſchreibt, Recht zu haben. Es iſt derſelbe Prozeß, den eine urſprünglich mythologiſche Geſtaltung durchmacht auf dem Wege des An— thropomorphismus; ſo Achilles der Sonnen— gott in der Ilias, Odyſſeus in anderer Ge— ſtalt in der Odyſſee, Sigurd im Nibelungen— lied, Karna in der Mahabharata. Der unterdrückte Gott wird im Epos zum Helden. Den Vermittler der von böſen Geiſtern ge— plagten Menſchen macht in den akkadiſchen Hymnen Silik-mulu-khi, den eine ſpätere Zeit mit dem Marduk von Babylon iden⸗ tificirt hat, dem Gotte des Planeten Jupiter. Lenormant bemerkt die auffallende Verwandtſchaft dieſes Silik-mulu-khi mit dem Engel Craoscha der älteſten zoroaſtri— ſchen Urkunden und dem Weſen des zur Achämenidenzeit ausgebildeten Mithra. Un⸗ verkennbar trägt ſein Weſen ferner Aehnlic- keit mit dem des Hermes otro, wie der⸗ ſelbe ſich in der älteſten Griechenzeit darſtellt. Es ſind dieſelben Gottesideen bei ver— 18 ſchiedenen Völkern, ohne daß man geradezu eine direkte Wanderung derſelben anzunehmen brauchte. Dieſe direkte Einwirkung der baby- loniſchen Vorſtellungen nimmt Spiegel für die iraniſche Religion an; Lenormant will der babyloniſchen Lehre hier die akka— diſche ſubſtituirt haben. Aber warum ſoll nicht daſſelbe Land, derſelbe Himmel, dieſelben Erſcheinungen der atmoſphäriſchen Welt in den verſchiedenen Bewohnern wenigſtens ähnliche Ideen über die Geiſterwelt erzeugt haben? Eine eingetretene materielle Verwandt— ſchaft, welche beſonders die perſiſchen Fra- vashi, die perſönlichen Schutzgeiſter, die daiuoves der Griechen, zu beweiſen ſcheinen, ſoll dabei allerdings nicht abgeleugnet werden. Daß die Religion und Magie der heutigen turaniſchen Völker ihre Analogien und ihre Vollendung im akkadiſchen Dämonenſyſteme haben, ſucht mit Erfolg das nächſte Kapitel zu beweiſen. Stämme, die Abyſſen der Mongolen ſind die Magier der alten Chaldäer. Man be— dient ſich ihrer Zauberkraft nur im Falle der Noth. Bei allen Turaniern werden wie bei den Akkadern die Krankheiten als Beſeſſenheit und als Werke eines Dämons betrachtet, das der Schamane zu exorciren hat, ſo bei den Baſchkiren und den Kirgiſen. Daſſelbe Ver— hältniß finden wir bei den religiöſen Vor⸗ ſtellungen der alten Finnen, welche in ihrem Nationalepos, der Kalewala, zum Ausdrucke gelangen. Auch in Medien lebte vor den Iraniern ein turaniſches Volk und herrſchte dort bis in das 8. Jahrhunderte v. Chr.), welches vor der Religion des Zoroaſter dem Scha— manismus huldigte. Aus der Vermiſchung des akkadiſchen Religionsſyſtems mit dem der Iranier, der Religion des Zoroaſter, entftand | ) Vgl. Lenormant, lettres assyrio- | logiques, vol. 1. Die Schamanen der altaiſchen Literatur und Kritik. die Miſchreligion des fpeciell fogenannten Ma— gismus. Noch zur Zeit der erſten Achä— meniden beſtand ein tiefer Widerſtreit zwiſchen beiden Lehren, der der Magie und der der Athravas. Allmählich ſiegte über die reinen Lehren Zoroaſters der ſynkretiſtiſche Magis— mus, und die Theile des Zend-Aveſta, welche der zweiten Redaktionsperiode angehören, tragen deutlich die Spuren des Eindringens fremder Ideen an ſich. Die Widerſprüche zwiſchen den Ueberlieferungen des Herodot und Dinon über die Religion der Perſer und Meder erklärten ſich ans dieſem Jahr hunderte lang andauernden Kampfe zwiſchen der Dämonologie und dem Sabaismus. Für die germaniſche Mythologie ſind von Bedeutung die Ausführungen des Ver— faſſers über die Religion der Finnen, die ja auch in anthropologiſcher Beziehung eine Reihe verwandter Momente mit dem germaniſchen Weſen aufweiſen. Hieher ge— hört die Hauptfeier des Julfeſtes, das bei Finnen und Germanen nach Eintritt der Winterſonnenwende ſtattfand. Die Sonne ward bei den Finnen mit der Flamme iden— tificirt. Beſondere Verehrung genießt bei den Finnen der IImarinen, der göttliche Schmied; Wort und Cultus erinnern an den germaniſchen Wieland oder ohne Aſpi— ration Jeland, den die ältere Edda als Völundr einen Sohn des Finnenkönigs nennt. Solche Züge in der Mythologie verdienen beſondere Beachtung; ſie geſtatten Schlüſſe nicht nur auf den Synkretismus der Mythen, ſondern auch auf den anderer Culturerſcheinungen, beſonders der Metal— lurgie. Während ſich nämlich die Genien der Metallbereitung, die Schmiede ꝛc. bei den Akkadern auf die Bereitung der Bronce beziehen, iſt in den finniſchen Dichtungen vom Eiſen die Rede; ihr Metallgott Rauta- tekhi mit feinen Genoſſen entſpricht den Literatur und Kritik. Operationen bei der Eiſengewinnung. Das Wort für Kupfer im Akkadiſchen, urudu, iſt zudem identiſch mit dem der Finnen, rauta, und Lappen, rude, welches Eiſen bezeichnet und von dieſen Stämmen in gleicher Bedeutung zu den Slaven und Litthauern — ruda — überging. Die Sprache beweiſt hier die Andeutungen des Mythus. N Das ſechſte Kapitel geht über auf das Gebiet der Ethnologie und Linguiſtik. Für die Magie der Chaldäer exiſtirte eine eigene Sprache, die akkadiſche, und dieſe war entſchieden ein Idiom der großen altaiſch— turaniſchen Völkerfamilie, welche vor der Ein— wanderung der ariſchen Stämme ganz Iran und Kleinaſien bewohnt und beherrſcht hat. Im Gegenſatz zu früheren Anſichten, die der Verfaſſer in der Schrift „Die Anfänge der Cultur“ 1. Bd. ausgeſprochen hat, identificirt er jetzt die Akkader und Sumerier als ein turaniſches Culturvolk, welchem er die Er— findung der urariſchen Keilſchrift zuſchreibt. Vor den Semiten herrſchte am unteren Euphrat⸗ und Tigrislande, in Medien und Suſimea, ſowie ſüdlich des Kaukaſus (Tubal und Mesech-Tubalkain des alten Teſta— mentes) ein turaniſches Volk, welches die Schrift erfand und beſonders die Metallurgie betrieb. Ueber den Grad der Verwandtſchaft zwiſchen dieſen urariſchen Stämmen mit den turaniſchen Sprachen iſt allerdings zwiſchen den engliſchen und deutſchen Specialforſchern noch keine Einigkeit erzielt. Die Deutſchen, Schrader, Fr. Delitzſch und Gelzer, verhalten ſich darin noch zurückhaltend. Aus einem größeren Werke, den Etudes accadiennes, gibt ſodann Lenormant einen längeren Auszug, welcher die Ver— wandtſchaft der akkadiſchen Sprache mit den finniſchen und turaniſchen Idiomen des Weiteren nachweiſt. Das Grundelement einer turaniſchen Urbevölkerung, welche die Arier | beſonders mit der Metallbereitung bekannt gemacht hat, Handel nach Aegypten und dem Kaukaſus, nach Vorderaſien und dem Hoch— lande in Gentralafien,*) lange Jahrhunderte vor den Ariern betrieb, wird nachdenormant's Unterſuchungen ein Axiom der Culturgeſchichte für die Zukunft bilden. Specialforſchungen müſſen allerdings noch manche Zweifel im Einzelnen löſen. Das alte Teſtament kennt die Stämme der Chaldäer unter der Form Chasdim; in der Gegend von Ur, einem der vier Städte Nimrod's, iſt Alles akkadiſch. Die Keilinſchriften aber nennen Kaldu oder Kaldi einen Stamm der Akkader. Chaldäer und Akkader decken ſich hiſtoriſch und lingui⸗ ſtiſch. Dem Dualismus der Sprachen auf dem Boden Meſopotamiens entſpricht aber ein Dualismus der Raſſen; die aſſyriſche Sprache ſpricht Lenormant dem kuſchitiſchen Elemente zu. Einen großen Theil der ſe— mitiſch genannten Sprachen will der gelehrte Franzoſe den Kuſchiten, dieſer Nebenlinie der Hamiten, zugeſchrieben ſehen. Das Werk Lenormant's läßt neben dieſen beiden Dualismen in Sprache und Raſſe noch ein Drittes erkennen, die Entwickelung der Religionen, und darin beſteht das Hauptverdienſt ſeiner Abhandlungen. Der zweite, kleinere Theil von weniger allgemeinem Intereſſe iſt den Grundlehren der chaldäiſchen Wahrſagekunſt gewidmet. Er handelt von der Wahrſagekunſt mit Pfeilen und Looſen, dem Augurenthum bei den Chaldäern, den Vorbedeutungen, welche die Magie der Luft und dem Feuer, dem Waſſer und der Erde entnimmt. Auch das Material über Traumdeuterei, Bauchredekunſt, Todten⸗ beſchwörung, über Weiſſagung aus Linien und Winkeln die Grammamantie findet ſeine ) Stadt Hanah der Bibel, identiſch mit Khotan, vergl. „die Anfänge der Cultur“ 1. Bd. S. 89. 80 | Literatur und Kritik. ſpecielle Bearbeitung. Man erkennt daraus, wie ſehr die klaſſiſchen Zeiten und ſelbſt das Mittelalter bis in die Gegenwart von dem Aberglauben und der Schwarzkunſt der Chaldäer beeinflußt wurden. Dit Hauptbedeutung des Werkes aber liegt im erſten Theil und in dem Nachweis der Verwandtſchaft der turaniſchen Raſſe, der turaniſchen Sprachen und der turaniſchen Reli— gionen mit den Ureinwohnern von Babylonien und mit deren Cultur. Ihre klaſſiſche Zeit erlebten darnach die turaniſchen Stämme in fernen Jahrhunderten, wenn man als die klaſſiſche Periode eines Stammes diejenige bezeichnet, wo derſelbe auf die Entwickel— ung des Culturſtromes, in dem die Menſch— heit fortſchreitet, einem epochemachenden Ein- fluß ausübt. Dr. C. Mehlis. Der Darwinismus im zehnten und neunzehnten Jahrhundert von Dr. Fr. Dieterici, Profeſſor der arabiſchen Literatur. Leipzig, J. C. Hinrichs'ſche Buchhandlung, 1878. 228 S. 120. Auf der erſten Seite des Buches, mit welchem die Jugend ehemals das Studium der böſen Wiſſenſchaft begann, da ſtand unter dem Bilde eines Affen, der einen Apfel in der Hand hält, ein Spruch, wel— cher mir beim Leſen des vorliegenden Buches nicht aus dem Kopfe gehen wollte. Nichts Poſſirlicheres als die Grimaſſen, welche ſo ein Stock-Teleologe ſchneidet, wenn er einen Biß in den ſauren Apfel der Erkenntniß gethan hat. Der Leſer wird ein ſolches Citat vielleicht etwas unbarmherzig fin— den, aber er wird aus den hier folgenden Auszügen entnehmen können, daß es nur allzu treffend iſt. Das Buch beginnt mit den Worten: „Dieſes Büchlein bedarf eines BAHR Vorworts, denn es bedarf einer Entſchul— digung. Was hat ein Philolog ſich mit der Natur zu befaſſen? Es fragt jetzt jeder nach ſeiner Entſtehung und begnügt ſich nicht mit der nächſten Antwort auf dieſe Frage; hinauf muß man und immer weiter hinauf, bis man beim Affen an⸗ kommt; auch dort giebt's keine Ruhe, das iſt nur eine Station; weiter hinauf geht die Reiſe, und weiter, bis man etwa in der Seequalle*) oder im Protoplasma feinen Frieden findet.“ Die geſchlechtliche Zucht— wahl wird uns auf S. 51 mit folgenden Worten geſchildert: „Das trillert und ſchillert, das girrt und ſchwirrt, das rauft und ſchnauft, das kreucht und fleucht, das umkreiſt und beißt, das ſpreizt und beizt, das ſchnalzt und balzt, das ſpringt und ſingt, das zirpt und wirbt, das tänzelt und ſchwänzelt da in dem Hochzeitsmorgen der Natur dem Weibchen zu gefallen herum und ſelbſt die zarte Blume legt auf der Alpenhöhe deshalb grade den blendendſten Schmelz als Hochzeitsgewand an, um die wenigen bis hierher gelangenden Inſekten durch ihren Glanz dazu zu verlocken, in ihren Kelch einzuſchlüpfen und ſie mit dem an ihren Füßen und Flügeln haftenden Blumenſtaub zu befruchten. Und das ſind die Blumen, die ſogenannten Keuſchen der ſeatur. Ach, dieſe Nonnen auf der Höhe!“ In dieſer Buffo-Melodie geht es fort. Ich will nur noch einen Theil der Schilderung mittheilen, in welcher der Verfaſſer die Lamarck'ſchen Giraffen ſich in Kamele verwandeln läßt. () Sie fanden nämlich mit einem Male nur noch Nahrung auf dem Boden und mußten ſich viel bücken, was bekanntlich der Giraffe nicht leicht wird. „Bei dem ewigen Bücken waren die am ) Wohl eine kleine Verwechſelung mit dem Bathybius! | Widerriſt angeſammelten fleiſchigen Theile hinderlich, ſie rückten auf die Mitte und nun ſah die Künſtlerin Natur, welch' ein Vortheil ihr durch dieſen Rutſch geboten war. Da können wir, ſo dachte ſie, die nothwendige Speiſekammer für den armen Wüſtengaul anlegen. Immer dicker ward der Buckel und ſo vortheilhaft war dieſes Arrangement, daß ſich das Wüſtenthier nur einen, das Steppenthier bei reicherer Weide deren zwei anfütterte. — Jeder nach ſeinen Mitteln. Aber nun die Weibchen, die klugen Kamelinnen, ſie, die früher als Giraffinnen, da man noch vom Baume fraß, nur die Männchen mit langem Hals und ſchrägem Rücken liebten, ſie änderten den Umſtänden angemeſſen ihren Geſchmack. Wie klug ſie waren, im Weibe liegt ja recht eigentlich die Philoſophie des Unbewußten. Die Frauen aber ſind wirthſchaftlich eine volle Speiſe— kammer, das iſt ſo ihr tendre. Sie liebten deshalb fortan nur die Buckligen, am Buckel verſahen ſie ſich, der Buckligſte ward ihnen der liebſte und immer buckliger ward das Geſchlecht der Kamele. . . .“ In dieſem Tone wird das arme Kamel noch vier Seiten weiter geritten! „„Ja, das ſind ja Clown— Späße aus dem Circus! Gewiß ſehr komiſch für die Gallerie!““ Nein, verehrter Leſer, das ſind, wie uns der Verfaſſer in der Vor— rede ſehr amüſant erzählt, Theile eines Vor— trages, den er im wiſſenſchaftlichen Verein der Singakademie zu Berlin von demſelben Katheder gehalten hat, von dem ſonſt Hum— boldt oder Ehrenberg oder Helm— holtz in gewählter Sprache zu reden pfleg— ten. Was mögen die Zuhörer gedacht haben, als ihnen der berühmte Arabiſt ſeine An— trittsviſite bei dem Gorilla des Berliner Aquarium ſchilderte, und den ſchöneren Theil dieſer höchſt gewählten Geſellſchaft plötzlich apoſtrophirte: „Meine Damen, Sie haben Literatur und Kritik. 81 ſich heute alle Kaffee gekocht, welche Helden— that begingen Sie? Der Mann, der zuerſt das gefürchtetſte der Elemente faßte, der ruhig einen brennenden Scheit ergriff und das Feuer in den Dienſt nahm, das war ein Held, denn er bezwang das wü— thendſte der Elemente.“ „„Aber, wie kann man mit einem Spaßmacher ſo ſtreng ab— rechnen?““ Nun, dieſer Spaßmacher meint es ernſt, und ſein Buch iſt in ernſthaften naturwiſſenſchaftlichen Journalen ernſthaft belobt worden! Er glaubt in allem Ernſte ſchon bei den arabiſchen Philoſophen des zehnten Jahrhunderts, bei den ſogenannten lauteren Brüdern, Spuren einer darwiniſti⸗ ſchen Weltanſchauung gefunden zu haben, die, wie er ſagt, den alten Spruch beſtäti⸗ gen: „Es giebt nichts Neues unter der Sonne!“ Dieſer ſogenannte Darwinismus beſtand darin, daß die arabiſchen Philoſophen einen Uebergang vom Mineral zur Pflanze durch Pilze und Flechten, von der Pflanze zum Thier durch Palmen und eine im Rohr lebende Schnecke, und vom Thier zum Men- ſchen durch die Vernunftthiere (Pferd, Ele⸗ phant, Biene) dargeſtellt ſahen. Das hält nun der Verfaſſer für „Darwinismus“, ohne zu ahnen, welche echt darwiniſtiſchen Be— trachtungen bereits die griechiſchen Philo— ſophen, z. B. Empedokles und Ari- ſtoteles, faſt anderthalb Jahrtauſende vor ſeinen lauteren Brüdern angeſtellt haben. Glücklicher Weiſe bringt uns dieſes gründ— liche Mißverſtändniß den Vortheil, etwas an dem Buche loben zu können, nämlich die wunderbare Harmonie, die ſich darin zwiſchen Thema und Ausführung zeigt. K. Kunſt und Wiſſenſchaft in der Landwirthſchaft. Rede, gehalten am 22. Oktober 1878 von Dr. Mar- Kosmos, III. Jahrg. Heft 1. 11 — tin Wilckens, o. ö. Profeſſor an der k. k. Hochſchule für Bodenkultur in Wien. Wien 1879, W. Braumüller. Aufgabe habe, ein geſetztes Ziel nach ge— gebenen Regeln zu erreichen, ſei es Aufgabe der Wiſſenſchaft, den urſächlichen Zuſammen— hang der Erſcheinungen zu erkennen, und es ſollte deshalb eigentlich die Wiſſenſchaft der Kunſt vorausgehen; dies ſei aber ge— wöhnlich nicht der Fall, und gleichwie die Medicin, die Aſtronomie, die Chemie lange Zeit als Künſte beſtanden hätten, ehe ſie ſich zu Wiſſenſchaften entwickelt hätten, ſo ſei auch die Landwirthſchaft eine alte Kunſt, die erſt ſeit Liebig's Vorangehen im Be— griff ſtehe, ſich zur Wiſſenſchaft zu entwickeln. Während der Praktiker nach den Fällen rechne, wo gewiſſe Wirkungen eintreten, müſſe die Wiſſenſchaft die Bedingungen, unter denen dieſe Wirkungen eintreten, kennen lernen. Die Züchtungsregeln müßten auf der Erkenntniß des nothwendigen Zuſam— menhangs der Vererbungsgeſetze beruhen, und erſt wenn der Züchter die Aehnlichkeit der Nachkommen meſſend geprüft habe, ſeien ſeine Erfahrungen verwerthbar, und die Fütterungsregeln nur dann, wenn die phyſiologiſchen Wirkungen der Futterkräuter bekannt ſeien. Es ſei deshalb Aufgabe der Theorie, die gegebenen Thatſachen durch be— kannte Geſetze und dieſe durch jene zu er— die beſonderen Fälle ſeiner Praxis den all— gemeinen Sätzen und Urtheilen der Wiſſen— ſchaft unterordnen, und die Endtſcheidung der Richtigkeit der aufgeſtellten Sätze ſei Sache der wiſſenſchaftlichen Kritik und des eigenen praktiſchen Urtheils; deshalb ſolle der Praktiker wiſſenſchaftlich gebildet fein. H. —— —— Der Redner ſagt, ſowie die Kunſt die klären. Es müſſe der praktiſche Landwirth Literatur und Kritik. Beweiskraft direkter Ableitungen beſitzen. ſcharfſinnige Abhandlung F. Paulſen's —ͤ———— Die Geſetze der Anfangsgeſchwin— digkeit in den Bewegungen der Weltkörper. Eine Darſtellung der Himmelsbewegungen mit Hülfe der ein— fachſten Sätze der Mathematik. Von C. A. Werther, Dr. phil. Roſtock, Wilh. Werther's Verlag. 1877. VIII. 112 S. Die alte Crux der Naturphiloſophen bildet bekanntlich die cauſale Erklärung jener Kraft, welche, um mit Newton zu reden, die Planeten auf die Tangente ihrer Bahn warf. Der Verf. vorſtehender Schrift ſucht durch die Annahme einer ſelbſtſtändigen, der Materie eigenthümlichen Repulſions— kraft Abhülfe zu ſchaffen, welche an die Stelle jener anſcheinend ertramumdanen, vom Verfaſſer geleugneten Tangentialkraft geſetzt wird. Die Details dieſer Hypotheſe, welche, beiläufig bemerkt, den Referenten nicht zu überzeugen vermochte, muß man in der ſehr ausführlichen Darſtellung ſelbſt nachſehen. Ein Schlußartikel discutirt mit anerkennens— werthem Fleiße die numeriſchen Verhält— niſſe der einzelnen Planetenbahnen mit ſteter Rückſicht auf die neue Annahme; die er— reichten Reſultate erſcheinen allerdings ganz plauſibel, indeß iſt zu bemerken, daß alle ſolche Verificirungen a posteriori nicht die Die dem Ganzen voraufgehende metaphy— ſiſche Einleitung definirt Materie und Sub—⸗ ſtanz in einer Weiſe, welche uns nicht ſo unangreifbar erſcheint, wie dem Herrn Verf. Wir möchten ihn in dieſer Hinſicht auf die „Ueber den Begriff der Subſtantialität“ im 2. Jahrgang der „Zeitſchr. f. wiſſenſch. Philoſ.“ aufmerkſam machen. Ansbach. Prof. S. Günther. Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig. — PP — ae Phyſiologie und Plychologie. Eine kritiſche Studie von Prof. Alexander Herzen.“) öffentlichte die Revue des deux mondes einen Artikel von V. Egger, der anſcheinend dazu N beftimmt war, die Arbeiten von Luys zu kritiſiren, in Wirklichkeit aber wohl gegen die pſychologiſchen Tendenzen der mo— dernen Phyſiologie proteſtiren ſollte. — Wir wollen uns nun hier blos mit dem all gemeineren Theile jenes Artikels beſchäftigen. Egger geht von dem „Axiom“ aus, daß die Phyſiologie und Pſychologie zweierlei ganz verſchiedene und nicht auf einander reducirbare Thatſachen zu betrachten haben. Seiner Anſicht nach, gibt es einerſeits räum— liche (ausgedehnte) oder materielle Thatſachen, andererſeits nicht-räumliche (unausgedehnte) oder geiſtige; die räumlichen ſind die Fibern, Zellen und deren Aggregate — Organe und Organismen, — ſowie die Bewegungen dieſer Organismen und ihrer Elemente, oder auch die Molecular-Bewegungen materieller En— titäten, wie z. B. die Elektricität, die ) Vergl. Archivio per l’Antropologia ol. VIII. 1878. Kosmos, III. Jahrg. Heft 2 m Monat November 1877 ver- Wärme u. ſ. w., — während die Gefühle, die Gedanken und Willensakte die nicht- räumlichen (unausgedehnten) Thatſachen bil— den. Es wären alſo drei Dinge in Be— tracht zu ziehen: Das Organ und deſſen Funktion, beide räumlich, und für das Ge— hirn noch der Gedanke, als nicht räumlich. Auf dieſes Axiom gründet er nun die nach— folgende Schlußfolgerung: Der menſchliche Verſtand kennt keine größere Verſchiedenheit als die, welche ſich aus der Gegenwart der Ausdehnung im einen Falle und der Abweſenheit derſelben im andern, ergibt. Zwiſchen dem Räumlichen und Nicht-Räumlichen iſt kein Uebergang möglich; die Erklärung der pſychiſchen That— ſachen vermittelſt phyſiologiſcher Fakten er— heiſcht aber ein vermittelndes Glied zwiſchen dem Ausgedehnten und Unausgedehnten, ein Mittelglied, welches ganz undenkbar iſt; es folgt daraus, daß von allen möglichen Er— klärungen der pſychiſchen Thatſachen die phyſiologiſche die am wenigſten zuläſſige iſt und daß mithin keine Entdeckung jemals eine Verbindung zwiſchen dem Gehirn oder 84 deſſen Function, die beide ausgedehnt ſind, und dem unausgedehnten Gedanken wird herſtellen können. Der Autor ſagt dann weiter, daß es in Bezug auf den Menſchen vier Experi— mental-Wiſſenſchaften gebe: „die Pſychologie, Anatomie, Phyſiologie und Pſycho-Phyſio⸗ logie. Er behauptet, die Pſycho-Phyſiologie und die Gehirn-Phyſiologie ſeien zwei unabhängige Wiſſenſchaften; die erſte, als Syntheſis der Phyſiologie und Pſychologie, ſei eine dieſen beiden vorangehende Wiſſen— ſchaft, der es obliege, die Uebereinſtimmung der bezüglichen unreducirbaren Phänomene zu ſtudiren, welch' letztere trotz des fie trennen— den Abgrundes ſtets vereint zuſammengehen ſollten — was ſehr der präſtabilirten Har— monie von Leibniz ähnlich ſieht aber wenig mit dem harmonirt, was der poſi— tiven Wiſſenſchaft ähnlich iſt. Uebrigens hält er eine ſolche Syntheſis einſtweilen für unmöglich, aus dem Grunde, weil nach feiner Meinung die phyſiologiſche Funktion des Gehirns noch gänzlich unbe— kannt ſei; er ſcheint dies deshalb zu glauben, weil unter den Phyſiologen ſo wenig Ueber— einſtimmung wegen der Localiſation der Ge— hirn-Funktionen exiſtirt. Auf dieſen Artikel des Herrn Egger erſchien eine Erwiderung in der Revue philosophique vom 1. Jannar 1878; eine kurze, aber ſehr klare und gedanken— volle Vertheidigung der Experimental-Me— thode, von Dr. Ch. Richet, worin ſich derſelbe jedoch zu viel mit der allgemeinen Theſe beſchäftigt, ohne auf die Einzelbe— kämpfung der Egger'ſchen Behauptungen einzugehen. Dieſe Erwiderung hätte genügt, wäre nicht im Februarheft derſelben Revue eine lange und heftige Replik von Egger er— ſchienen, der wieder eine ganz kurze Ant— Herzen, Phyſiologie und Pſychologie. wort von Richet folgte; letztere ſcheint mir jedoch ungenügend, um das Gleichgewicht in der öffentlichen Meinung herzuſtellen und deshalb will ich hier eine regelrechte Abweiſung ſämmtlicher Haupt-Annahmen Egger's verſuchen. Die Frage der centralen, corticalen oder baſalen Localiſationen hat nichts mit dem allgemeinen Princip, wonach die Ge— hirnfunktion gerade der Gedanke iſt, zu ſchaffen. Wir wiſſen, um mich hier des von Egger ſelbſt gewählten Beiſpiels zu bedienen, ganz beſtimmt, daß die Taſten und Saiten des Pianofortes die Töne her— vorrufen; und dies Princip kann ſehr gut und ohne allen Zweifel feſtgeſtellt ſein, ohne daß man nothwendiger Weiſe wiſſen müßte, welche Taſte man anzuſchlagen hat und was für eine Saite vibriren muß, um einen gewiſſen Ton zu erzeugen. Dieſe Unwiſſen— heit verhindert uns jedenfalls alle Einzel— heiten des Mechanismus zu verſtehen, nicht aber deſſen Operationsmodus, wenn wir ihn als ein Ganzes betrachten, das aus vielen Theilen zuſammengeſetzt iſt, von denen wir jedoch nur einige kennen. Wenn uns auch noch Vieles in den Gehirn— funktionen dunkel, wenn uns auch noch ein großer Theil der Thätigkeit unſeres Gehirnpianofortes bis jetzt ausſchließlich durch die erſcheinenden Töne bekannt iſt, ohne daß es uns möglich wäre, die Saiten und Taſten, welche dieſen Tönen entſprechen, zu kennen — ſo haben wir doch keinen Grund zu ſchließen, es exiſtire zwiſchen jenen Tönen und den unbekannten Saiten keine Ver— bindung und man müßte das Studium der Töne von dem ſie erzeugenden Mechanis— mus durchaus getrennt halten; im Gegen— theil es iſt dies ein weiterer Grund, ſich vor einem ſolchen Schluſſe zu ſchützen, weil gerade die pſychiſchen Erſcheinungen ſich 85 Herzen, Phyſiologie und Pſychologie. außerordentlich leicht mißverſtehen und ver— drehen laſſen, und zwar um ſo mehr als ſubjektive Empfindungen, individuelle Ab— ſtractionen und innere Täuſchungen vor der Erfahrung und objektiven Beobachtung leicht das Uebergewicht erlangen. Sobald man der Gehirn-Phyſiologie die Competenz abſpricht, den Stand unſerer pſychologiſchen Kenntniſſe zu verbeſſern, ver— dammt man ipso facto die Pſychologie dazu, für immer als deduktives Gebäude zu beſtehen und benimmt ihr jede Ausſicht, ſich in eine induktive Wiſſenſchaft umwandeln zu laſſen. Da wir ohne allen Zweifel nunmehr wiſſen, daß der größere Theil des pſychiſchen Lebens unbewußt verläuft, ſo iſt es klar, daß nur ein verhältnißmäßig winziger Theil desſelben unſerm Bewußtſein zugänglich iſt. Wir können das pſychiſche Leben einem Meere vergleichen, deſſen Oberfläche die Grenze zwiſchen dem Bewußten und Un— bewußten bezeichnet; das Bewußtſein iſt verhängnißvoller Weiſe dazu verurtheilt, alles das zu ignoriren, was unter der Oberfläche vorgeht, es kann nur diejenigen phyſiſchen Erſcheinungen beobachten, die aus unbe— kannter Tiefe mit hinreichender Energie em— porſteigen, um ſich über die Oberfläche zu erheben. Wir Phyſiologen ſind aber die Taucher des pſychiſchen Meeres und wir allein können die verborgenen Urſachen der wechſelnden Beweglichkeit ſeiner oberfläch— lichen Wellen entdecken. Was würde man von einem Geologen ſagen, der jede einzelne Inſel eines Archipels als eine Individua— lität von den andern Inſeln unabhängig und getrennt, ſtudiren und der Continuität der ſie alle verbindenden tieferen Schichten keine Rechnung tragen wollte? Es würde noch angehen, wenn die pſychiſchen Thatſachen feſte und ſtabile Objekte wären, wie die In⸗ ſeln; ſie erſcheinen und verſchwinden jedoch, abwechſelnd in eilender Flucht, ſo daß man wohl das pſychiſche Leben eher dem un— ruhigen Auftauchen ebenſo vieler Delphine vergleichen möchte, deren ſchnelles Aufeinander— folgen in uns die Illuſion einer langen, wellenſchlagenden Seeſchlange erzeugt. Was würde man von einem Zoologen ſagen, der, am Meeresufer ſtehend, jedes In— dividuum einer Schaar Delphine unter— ſcheiden, oder eine neue Art Fiſche beſchreiben und uns ſagen wollte, woher ſie kommen, wohin ſie gehen? — Dann dürfen wir nicht vergeſſen, daß das Bewußtſein keine von den concreten pſychiſchen Handlungen unab— hängige Fähigkeit, ſondern eine Eigenſchaft der unbewußten pſychiſchen Handlungen iſt; — etwas, das einen Theil derſelben bildet, wie das Licht einen Theil des Irrlichtes ausmacht. Das Bewußtſein muß alſo noth— wendiger Weiſe von dieſen Handlungen be— einflußt ſein, Theil nehmen an ihrem Cha— rakter, und kann ſich in keiner Weiſe davon trennen, um ſie objektiv als etwas Verſchie— denes oder als eigen für ſich beſtehende Exiſtenzen zu betrachten. Die innere Beob— achtung vermittelſt des individuellen Be— wußtſeins kann alſo nur höchſt mangelhaft ſein, und die Art und Weiſe dieſer Procedur das gerade Gegentheil von dem, was die allereinfachſte Regel induktiver Beobachtung erfordert. Es iſt ebenſo leicht als bequem, eine rein ſubjektive Doktrin als Axiom hin zu ſtellen; denn dadurch werden wir der Be— weisführung der Vorausſetzungen, von denen wir ausgingen, überhoben. Herr Egger will in der That die Richtigkeit ferner Prä- miſſen nicht beweiſen; er gibt nicht zu, ſie ſeien die Folge eines Raiſonnementsz;ſie ſollen ein Axiom ſein, alſo eine über alle Demon— ſtration erhabene Sache. Das iſt die Art ) | 86 Herzen, Phyſiologie und Pſychologie. des Syllabus eines unfehlbaren Papſtes, aber kein wiſſenſchaftliches Vorgehen. Wel— ches öcumeniſche Concil der Wiſſenſchaft hat denn die Exiſtenz eines unredueirbaren Dua— lismus zwiſchen dem nicht- räumlichen Ge— danken und der räumlichen Materie mit der ganzen Sphäre ihrer Funktionen, die ebenſo viele Bewegungsarten ſind, procla— mirt? Auf welche Daten kann man die Behauptung begründen, eine ſpecielle Be— wegungsform, pſychiſche Funktion genannt, ſei weſentlich von den andern verſchieden, ſie ſei von den andern durch einen uner— gründlichen Abgrund getrennt? Man muß mit ſchwerer aprioriſtiſcher Blindheit ge— ſchlagen ſein, wenn man nicht ſieht, daß der einzige Unterſchied zwiſchen der pſychiſchen Bewegung und den andern Molecularbe— wegungen in dem, übrigens zum Weſen der Bewegung ſelbſt ganz nebenſächlichen Umſtande beſteht, daß die pſychiſche Be— wegung einen Theil unſeres Weſens und deſſen Modificationen ausmacht, und wir daher eine Anſchauung davon haben, wie wir ſie nicht von den andern Bewegungen haben können — die ſubjektive Anſchauung. Wir befinden uns mithin in der Unmöglich— keit, dieſelbe vollſtändig unſerm Verſtande gegenüber zu objektiviren, deſſen Objekt und Subjekt fie zu gleicher Zeit iſt, ſodaß, ob- jektiv betrachtet, ein Gefühl, eine Willens— äußerung funktionelle Molecular-Beweg— ungen des Gehirns ſind, während, ſubjektiv betrachtet, dieſe Molecular-Bewegung ein Gefühl, ein Gedanke, ein Wille iſt. — Aber darum ändert fi die Natur einer pſychiſchen Erſcheinung an ſich nicht; nur die Art un— ſeres Erkennens derſelben iſt verſchieden, vollſtändiger, weil wir eine Anſchauung davon gewinnen können, die uns nothwendiger— weiſe für alle andern Erſcheinungen fehlt. Die pſychiſche Erſcheinung an ſich bleibt immer SEN eine ſpecielle Bewegungsform, die einen Theil der allgemeinen, zuſammenhängenden Molecular-Bewegungen bildet, die wir, von unſerm Geſichtspunkte aus, künſtlich in me⸗ chaniſche, phyſiſche, chemiſche, organiſche, pſy— chiſche Bewegungen theilen, während wir dieſe letzteren wieder als verſchiedene Arten, Gefühle, Gedanken, Willens-Akte unter— ſcheiden, die ſich zu ihrem Genus verhalten mögen wie die violetten, rothen, gelben ꝛc. Vibrationen zur allgemeinen Lichtvibration. Die Phyſiologie beſitzt jetzt unzweifelhafte Beweiſe, daß der pſychiſche Proceß eine Molecularbewegung iſt; dieſe Beweiſe bilden einestheils die Fundamental-Thatſache, daß die Bildung einer pſychiſchen Handlung eine gewiſſe, verhältnißmäßig lange Zeit erfordert, und anderntheils das Corollar dieſer That— ſache: die Wärme-Entwickelung in der Ge— hirnmaſſe, im Augenblick, wo dieſelbe in Thätigkeit tritt. — Die Unterſcheidung der Bewegung, nach Egger, in ausgedehnte (räumliche) und unausgedehnte (nicht-räum⸗ liche) Bewegungen hat gar keinen Sinn; man kann nur behaupten, die Bewegung ſei räumlich, wenn man dem Attribut den Charakter der Eſſenz gibt, was in der ſogenannten „rein phyſiſchen Erſcheinungs— reihe“ der Subſtanzialiſation des Tones, der Farben, der Elektricität, der chemiſchen Af— finität gleichkäme; die Bewegung iſt jedoch uicht die Eſſenz; ſie iſt nur das Attribut oder die Funktion einer im Raume aus⸗ gedehnten Eſſenz, und exiſtirt nicht unab- hängig von ihrem Subſtrat; es gibt eine Materie in Bewegung; aber außerhalb der bewegten Materie exiſtirt. keine Bewegung. Die Bewegung an ſich iſt alſo durchaus unausgedehnt wie irgend eine Qua— lität, ein Zuſtand oder ein Modus des Seins. Wenn man nun dieſes Faktum bezüglich der phyſiſch-chemiſchen Erſcheinung x —— Herzen, Phyſiologie und Pſychologie. 87 zuläßt, ſo iſt gewiß kein Grund vorhanden, es in Bezug auf die pſychiſchen Erſchein— ungen zu verwerfen. Niemand bezweifelt mehr, daß die pſy— chiſche Bewegung eigenartig iſt; jedoch ſoll man dieſem Worte keine größere Bedeutung geben, als es wirklich hat. Das Licht iſt eine eigenartige Bewegung im Bezug zur Wärme, wie die Affinität bezüglich der Gravitation. Die pſychiſche Bewegung iſt eigenartig nur aus dieſem Grunde, daß ſie in einem beſonderen Medium ſtattfindet, und daß wir kein anderes Subſtrat kennen, in dem dieſe gegebene Form von Bewegung ſtatthaben könnte. Dies beweiſt nur, daß die pſychiſche Bewegung nur im Hirn mög— lich, ohne dasſelbe unmöglich iſt. Gehen wir nun zu andern Punkten der Egger 'ſchen Arbeit über. Er fagt? „Das anatomiſche Gehirn iſt ſichtbar und faßbar, während feine phy- ſiologiſchen Funktionen ſich jeder Beobacht— ung entziehen; man ſieht, man fühlt von ihnen nichts; es exiſtirt nichts; die Gehirn— funktion iſt eine unbekannte Größe, deren Gleichung noch nicht gefunden iſt.“ — Dies iſt jedoch in Form und Inhalt ganz und gar falſch. Können wir die Elektrizität ſehen oder betaſten? Gewiß nicht, wir ſehen ihre mechaniſchen, phyſiſchen oder chemiſchen Wirkungen und nichts mehr; daraus folgt jedoch nicht, daß die Thätigkeit der Säule eine unbekannte Größe, oder das Nichts ſei. Herr Egger erwartet von der Gehirn-Phyſiologie, daß ſie ein Häufchen Gedanken auf einem Glaſe ſammele und ihm unter dem Mikroſkope deſſen Beſtand— theile zeige. Nun, wenn er uns ein Stück Licht oder Wärme ſchickt, ſo wollen wir uns mit einem Liter Gedanken revanchiren! Stu- diren wir objektiv die Phyſiologie des Gehirns, ſo können wir die chemiſchen und mechaniſcheu Wirkungen ſeiner Thätigkeit ſehen, nicht aber die Molecularbewegung, die jene conſtituirt; die eben angedeuteten Wirkungen ſind die Zerſetzung der Gehirnſubſtanz und die Ir— ritation der motoriſchen Nerven, welche die Muskelzuſammenziehung veranlaßt. — Hier, wie überall, ſehen wir nur die ſichtbaren Wirkungen unſichtbarer Umwandlungen. Herr Egger bemerkt ferner: „Man nimmt mit Recht an, die unausgedehnte Welt ſei gleichwerthig mit der unbekannten Funktion, (von wegen jener berühmten prä— ſtabilirten Harmonie), jedoch kann ſie in der Wiſſenſchaft nie durch letztere erſetzt wer— den, denn keine Entdeckung wird je zwiſchen einem Gedanken und einem Gehirnelemente die Verbindung herſtellen können, die zwiſchen einer Drüſe und ihrer Abſonderung beſteht“. Hier ſehen wir, wo er mit ſeinen ſicht— baren und taſtbaren Dingen hinaus wollte; nämlich: jenen Vergleich, den einige Phy- ſiologen etwas unvorſichtiger Weiſe zwiſchen dem Gehirn und einer Drüſe anſtellten, in ein ganz falſches Licht zu bringen. Aber es gehört eine gute Doſis ſchlechten Willens dazu, nicht zu begreifen, daß man mit jenem Vergleiche nie etwas anderes ſagen wollte, als daß, wie die Drüſe zu der Erzeugung der Secretion unumgänglich nothwendig iſt, ſo auch das Gehirn zur Bildung des Ge— dankens unumgänglich nothwendig ſei. Es iſt Niemandem je eingefallen, den Ge— danken mit der Secretion zu vergleichen. Es kann doch nichts augenſcheinlicher ſein, als daß die von der Drüſe erzeugte Flüſſigkeit nicht die Funktion der Drüſe ſelbſt iſt. Die Galle iſt nicht die Funktion der Leber, ebenſowenig wie Urin die der Nieren iſt; die Funktion der Drüſen beſteht in einer molecularen Modification ihres Zellſtoffes, welche Modification die Erzeugung der der Drüſe charakteriſtiſchen Flüſſigkeit zur Folge 88 hat; der ſecretoriſche Akt an ſich iſt jedoch eine „unſichtbare und untaſtbare“ Molecu— larbewegung ebenſo wie der Gedanke; und was in Bezug auf das Gehirn die Secre— tion der Drüſe darſtellt, iſt nicht der Ge— danke, ſondern die im Blutlaufe weggeführ— ten Zerſetzungsprodukte der Gehirnſubſtanz.““) Um alſo in der Sprache des Herrn Egger zu reden, wollen wir ſagen, daß der Sekre— tionsproceß die nicht-räumliche Thatſache in der funktionellen Drüſenthätigkeit iſt, während die Secretion das Räumliche ausdrückt. Jedoch hütet er ſich wohl, zu bekennen, daß es ſich ſo verhalte, denn ſonſt wäre er gezwungen, ſtatt eines gründlichen Unterſchiedes zwiſchen Gehirn- und Drüſenfunktion deren voll— kommene Identität mit einander anzuerkennen. Mithin iſt die beliebte Gleichung „das Gehirn verhält ſich zum Gedanken, wie die Leber zur Galle“ abſolut falſch; dagegen iſt das richtige Verhältniß des Gehirns zum Gedanken, wie das irgend eines Organs zur ſpeciellen, deſſen Funktion bildenden, Molecularbewegung, was immer auch das Ergebniß dieſer Bewegung ſein mag. Oder ) Anm. d. Red. In einer ausgezeich- neten Arbeit über „die Statik des Stoff- wechſels“, welche der Privatdozent Dr. Zuel- | zer in Berlin im vergangenen Jahre ver- | öffentlicht hat, ſind die der Leiſtung des Gehirnes entſprechenden Zerſetzungsprodukte deſſelben einer ſozuſagen ſtatiſtiſchen Methode unterworfen worden. Da mit Ausnahme des Stickſtoffes die meiſten Zerſetzungsprodukte des Körpers durch den Urin ausgeſchieden werden, ſo läßt ſich daraus der Stoffumſatz controliren, und ſogar derjenige in den eiweiß— reichen Geweben von demjenigen in den leci— thinreichen Theilen, alſo namentlich in den nervöſen Organen, unterſcheiden, da die größte Intenſität des Stofſumſatzes in dieſen beiden Gewebs-Gruppen nicht gleichzeitig, ſondern abwechſelnd ſtattfindet. Derjenige Stoff, wel— cher im Urin dem Stoffumſatz im Gehirn | den Gehirn bietet. Herzen, Phyſiologie und Pſychologie. auch umgekehrt, es verhält ſich die Drüſe zum Erzeugniß, das ſich in Folge ihrer ſpeciellen Molecular-Bewegung ergibt, wie das Gehirn zu den Zerſetzungsprodukten der Nervenſubſtanz in Folge der pſychiſchen Molecular = Bewegung. Wenn wir nun nach dieſen Aufklärungen das Grundaxiom und die Schlußfolgerung des Herrn Egger wieder aufnehmen, in⸗ dem wir dieſelben auf ein ſozuſagen unper— ſönliches Beiſpiel anwenden, bei welchem alles Subjektive ausgeſchloſſen iſt, ſo erkennen wir ſofort deutlich deren Hinfälligkeit und Abſurdität. Wählen wir als Beiſpiel nicht das Pianoforte — denn es erfordert einen Spieler und bietet alſo keine Analogie mit der ſogenannten ſpontanen Thäiigkeit der lebenden Organismen, — ſondern die elek— triſche Säule mit geſchloſſenem Strome, welche die deutlichſte Analogie mit dem leben— Dieſe Analogie geht ſo weit, daß man ſie faſt eine vollſtändige Identität nennen möchte, wenn zwiſchen den beiden Vergleichsobjekten nicht eine ſehr große Differenz bezüglich der Complexität des materiellen Subſtrats, und mithin auch der und Nervenſyſtem numeriſch entſpricht, die Phosphorſäure, erſcheint bei Erregungszuſtän— den in dieſen Organen, alſo im Wachen, bei geiſtiger Arbeit, Erregung durch geiſtige Ge— tränke, im Fieber u ſ. w. — ebenſo wie die Kochſalzausſcheidung — vermindert; erſt in den Zuſtänden der Erſchlaffung und Ruhe, namentlich im Schlafe werden dieſe in ihrer Menge der geleiſteten geiſtigen Arbeit ent— ſprechenden Abfallsproducte durch das Blut weggeführt; das Gehirn wird von ihnen gereinigt und ausgeſpült. Umgekehrt verhält ſich die Menge des Chlorkaliums im Urin, welcher ſich in der Erregungs-Periode ver— mehrt. (Beiträge zur Medizinal-Statiſtik, herausgegeben von Schweig, Schwarz und Zuelzer. Heft III I Juli 1878] ©. 101 155.) dynamiſchen Kundgebung, exiſtirte. Schon früher bemerkten wir, daß wie der Einfach— heit in der Conſtruktion der Säule die Er- zeugung einer Elementar-Energie ent— ſpricht, d. h. einer einzigen, gleichmäßig fortgeſetzten Bewegungsart, die man einem einzelnen muſikaliſchen Ton vergleichen kann, — ſo die complicirte Conſtruktion des Gehirns der Erzeugung einer zuſammengeſetzten Ener— gie entſpreche, d. h. einer Summe von Be— wegungen, die vielfältig, verſchiedentlich und unter einander verflochten und zuſammen— geſetzt, ſich den Tauſenden von gleichzeitigen Tönen vergleichen laſſen, welche die reiche Harmonie eines muſikaliſchen, von einem zahlreichen Orcheſter ausgeführten Concertes bilden. Wie groß aber auch dieſer Unterſchied ſein mag, es iſt kein Unterſchied in der Na— tur der Sache, ſondern nur im Grade. Wir können alſo folgende Gleichung auf— ſtellen: das Gehirn verhält ſich zum Ge— danken, wie die Säule zur Elektricität. Dürfen wir in der Schlußfolgerung des Herrn Egger den zuſammengeſetzten Aus— druck durch den einfacheren erſetzen, ſo hätten wir folgende Egger'ſch e Behauptungen: Das Studium der Säule und das der Elektricität behandeln als Gegenſtand zweierlei ganz verſchiedene, nicht mit einander zu vergleichende Thatſachen, einer— ſeits die räumlichen, andererſeits die nicht- räumlichen Erſcheinungen; die erſteren find die die Säule zuſammenſetzen— den Stücke, die letzteren die Elektricität. Der menſchliche Geiſt kennt keinen größeren Unter— ſchied als denjenigen, der aus der Gegen— wart und der Abweſenheit der Räumlichkeit entſteht. Vom Räumlichen zum Unräum⸗ lichen iſt kein Uebergang möglich, mithin iſt unter allen möglichen Erklärungen diejenige Herzen, Phyſiologie und Piychologie. ö 89 der Elektricität durch die Thätigkeit der Säule von allen die unzuläſſigſte. — Es gibt in Bezug auf die Säule vier Experi— mental-Wiſſenſchaften. Das Studium ihrer Theile, d. i. die Anatomie der Säule; zweitens das Studium ihrer Thätigkeit oder Funktion, d. i. die Phyſiologie der Säule, ferner die Dynamologie; das Stu- dium der Elektricität, d. i. die Pſychologie der Säule oder die Elektrologie, und ſchließ— lich die Syntheſe der beiden letzten, das Studium der Coincidenzen der bezüglichen Erſcheinungen, jener präſtabilirten Harmo— nie, die Herr Egger Pſpchophyſiologie nennt und die wir in dieſem Falle Dyna— mo⸗Elektrologie nennen müßten. Aber trotz der beſtändigen und vollkommenen Ueber— einſtimmung, die zwiſchen den dynamolo— giſchen und den elektrologiſchen Erſcheinungen beſteht, dürfen wir nur nicht vergeſſen, daß zwiſchen der Elektricität und der Thätigkeit der Säule ein Abgrund exiſtirt, und daß die oben angedeutete Syntheſe in der That nicht möglich iſt, weil die Thätigkeit der Säule noch ganz unbekannt iſt! Demnach glauben wir, daß es dem Herrn Egger ſehr ſchwer fallen würde, wenn er uns ſagen ſollte, was die Thätigkeit der Säule ſei, wenn nicht die Elektricität; und was dieſe ſei, wenn nicht die Aktivität der Säule — ebenſogut wie es uns ſchwer fallen würde zu ſagen, was der Gedanke wäre, wenn nicht die Funktion des Gehirns, und was dieſe Funk— tion, wenn nicht der Gedanke ſelbſt. Iſt dem aber ſo, ſo gibt es keine zwei getrennte, von einander unabhängige Wiſſen—⸗ ſchaften, wie die Phyſiologie des Gehirns und die Pſychologie, ſondern nur eine Wiſſenſchaft, die wir Phyſiopſychologie nennen dürfen. Und das wollten wir eben beweiſen. Zur Sfreitfinge des Planorbis multiformis. Von Dr. . Hilgendlorf. = zeugung von der Grundloſig— keit der Angriffe auf den Planorbis multiformis iſt mir dennoch werthvoll, ebenſo werthvoll wie der Umſchwung in der Mein— ung der Fachgenoſſen, der ſich bereits in der Literatur kund zu thun beginnt. Die polemiſchen Auseinanderſetzungen mit Herrn Prof. Sandberger ſcheinen mir damit ihr Ende erreicht zu haben. Ich glaube ihm aber einen Dienſt zu erweiſen, wenn ich ſchließlich pſychologiſch anzudeuten ver— ſuche, wie er in die Verwickelung hinein— gerathen iſt. Von vornherein hatte er eine gewiſſe Antipathie gegen meine Arbeit über Steinheim, nicht ſo ſehr, weil ſie von den Anhängern der Descendenztheorie vielfach verwerthet wurde, ſondern, wie Bekannte von ihm mir einſtimmig als wahrſcheinlich hinſtellen, mehr deshalb, weil ſie aus Preußen ſtammte.“) Mit dem Wunſche, ) Auf dieſe kleine Schwäche Sand ber— ger's und ſeine Einwirkung möchte ich auch die Anſpielungen Croſſe's (naturaliste prus- sien, Académie de Berlin) in der Eingangs (Schluß.) ihr entgegen treten zu können, nach Stein- heim gekommen, wo ſich ihm in der That beim erſten Blick manches bieten mußte, was ohne genaueres Studium meiner Arbeit als Abweichung von meinen Angaben er— ſcheinen konnte, faßte er wohl bald ein wirk— liches Mißtrauen. Falſch verſtandene Notizen Hyatt's und Verwirrungen in feinen Pro— ben mochten ihn hierin ſo weit beſtärken, daß er voreilig auf der Wiesbadener Natur- forſcherverſammlung, nach ſeiner Art mit einem gewiſſen Pathos, mich als einen ober— flächlichen Beobachter“) und den Stamm— baum als ein unbegreifliches Phantaſiepro— dukt hinſtellte. Sicher hat er bei ſeinem zweiten Aufenthalt nach etwas genauerem Zuſehen dann mehr und mehr gefunden, wie meine Schilderungen doch recht viel Wahres enthielten; daher denn die ſchon ganz anders lautende Darſtellung in den citirten Stelle zurückführen, da man von die— ſem Gelehrten derartige Taktloſigkeiten ſonſt nicht gewohnt iſt. ) Ein Ausdruck, den gebraucht zu haben Sandberger jetzt in Abrede ſtellt, der aber von meinem Gewährsmann, einem Ohren— zeugen, aufrecht erhalten wird. er ER N it arte: | Hilgendorf, Zur Streitfrage des Planorbis multiformis. 91 Conchylien der Vorwelt. Nach meiner Ueber— zeugung iſt er bei Betrachtung meines Ma— terials in München ſehr wohl inne gewor— den, daß ich meine Reſultate durch recht fleißiges und auch nicht ganz gedankenloſes Forſchen gewonnen habe. Lediglich ſeine Hochachtung vor ſich ſelbſt verbietet ihm wohl das anzuerkennen und ſeinen früheren Aeußerungen zu widerſprechen. Jetzt erklärt er, die ganze Frage habe überhaupt kein theoretiſches Intereſſe für ihn, und er werde ſich weiter um dieſelbe nicht kümmern. Einige wenige Worte über die Vor— gänge auf der Naturforſcherverſammlung in München gehören der Vollſtändigkeit halber hierher. Die Erwartung, es werde hier nach einer intereſſanten Debatte der Streit zum Austrag gebracht werden, iſt, wie uns ſchon Prof. Wagner“) geſchildert hat, ge— täuſcht worden. Es war vorher nach meinem Vorſchlage abgemacht worden, daß ich in der Sektion für Geologie (der ſich die zoo— logiſche anſchloß) einen einleitenden, halb— ſtündigen Vortrag ohne darauf folgende Discuſſion halten und dann an einem ſpä— teren Tage, nachdem inzwiſchen ein Jeder Gelegenheit gefunden, in Muße die von Sandberger und mir ausgelegten Schätze, Typen, Uebergangsreihen und Handſtücke zu muſtern, den Vortrag beſchließen, nach ihm aber die Discuſſion beginnen ſollte. Statt deſſen überraſchte mich am Anfang der Sitzung der Präſident derſelben, Herr Oberbergrath Dr. Gümbel, mit der Mittheilung, daß zu einer zweimaligen Verhandlung die Zeit nicht ausreiche, und daß in dieſer Sitzung die Angelegenheit erledigt werden müßte. aufdringlich zu erſcheinen, und ein anderer that es nicht. Der Erfolg war vorauszu⸗ ſehen. Meinem Vortrage, der weſentlich ) Allg. Zeitung 1877, Nr. 342 u. 343. 2 2 Kosmos, III. Jahrg. Heft 2. die Reſultate meiner kurz vorher ausge— führten neuen Unterſuchungen und eine Dar- legung der Streitpunkte enthielt, folgte der bereits fertig ſchriftlich mitgebrachte Sand— berger's, welcher, ohne auf das von mir Vorgetragene oder auf die (noch nicht von ihm angeſehenen) Foſſilien meiner Samm⸗ lung Rückſicht zu nehmen, ſeinen alten Standpunkt, ſowie auch ich ihn eben dar— gelegt hatte, entwickelte. Das einzige Neue von ihm iſt leider, obgleich ich eigens dar- auf gedrungen habe, nicht im Druck er- ſchienen, der Ausſpruch, daß der supremus als eine Baſtardform aufzufaſſen ſei; die Eltern namhaft zu machen verſprach Herr Sandberger anfangs, vergaß es aber nachher.“) Der Skalaridentheorie, mit der er die von ihm zugeſtandene Umwandlung des discoideus zum trochiformis wohl gern bemänteln möchte, widmete er die meiſte Zeit. Da mein Vortrag bereits alles enthielt, was auf die Sandberger'ſche Entgeg— nung hätte geſagt werden müſſen, die Ant- wort auch in Lapidarſtyl auf den Schau— Tiſchen des Saales zu finden war, Spe— ) Da der Druck unter ſolchen Umſtän⸗ den doch nur auf Sandberger's ausdrüd- lichen Wunſch unterlaſſen ſein kann, darf man die Baſtard⸗Idee wohl als aufgegeben betrach— ten. Ich ſelber wäre in großer Verlegenheit, wenn ich darüber, wen Sandberger als Eltern in Verdacht haben könnte, auch nur eine Vermuthung ausſprechen ſollte. Auf einem Jahrmarkt wurde durch ein großes Placat ein Baſtard von Ente und Karpfen annoncirt, da aber der Baſtard gerade kurz vorher ge— ſtorben zu ſein pflegte, ſo beſchränkte ſich der Schauſteller darauf, dem Publikum die beiden Eltern zu zeigen. Bei dem Sandberger’- Ich mochte nicht widerſprechen, um nicht ſchen Gegenſtück hat das Familienunglück den andern Theil betroffen, der arme Baſtard hat keine Eltern. Für mich war die Baſtard— Theorie ein neuer Beweis, daß Sandber— ger vorher nicht Alles ſo gar genau über— legt, was er an die große Glocke hängt. 92 Hilgendorf, Zur Streitfrage des Planorbis multiformis. cielleres aber ohne vorherige Beſichtigung des Materials unverſtändlich geblieben ſein würde, ſo verzichtete ich meinerſeits auf eine Erwiderung. Lediglich die Conſtatir— ung der falſchen Auffaſſung Sandber— ger's bezüglich meines revertens ſchien mir nothwendig. Die nachfolgenden Redner äußerten ſich faſt nur über ihre Theorie der ſkalariden Schalen, kein einziger über die Kernpunkte des Zwiſtes, d. h. über die Vollſtändigkeit der Verbindungsglieder, über die getrennte Lagerung der Varietäten, die Lauterkeit der tiefſten Zone und die Be— deutung dieſer Momente, faſt keiner mit dem Verſtändniß, das vorherige Einſicht in die daneben liegenden Conchylien ihm gewährt haben würde. Weitergehende theoretiſche Erörterungen über Descendenztheorie und Darwinismus wurden von allen Seiten ver— mieden. — Referiren wir in Kürze! v. Ihering will den Varietäten des Pl. multiformis eben nur dieſen Rang zu— erkennen; er erklärt den trochiformis zwar für einen Skalariden, aber für einen nor— malen, nicht für eine durch äußere Verhält- niſſe herbeigeführte Mißbildung. Sand— berger ſtimmt ihm bei. (Worin? In ſeinem Vortrag hatte er das Gegentheil ausgeſprochen, indem er dort für den trochi— formis an der Waſſerlinſentheorie feſthielt und in den Steinheimer Planorbiden ver— ſchiedene Arten und Gattungen ſah.) Prof. Zittel bemerkt, daß die von Sandber— ger als Stütze ſeiner Anſicht zum Vergleich vorgelegten recenten Skalariden ihm doch etwas weſentlich anderes als die Trochi— formis-Bildung zu ſein ſchienen. Herr Cleſſin hält alle Varietäten des Pl. multiformis mit erhöhter Spira (wie auch alle lebenden Skalariden) für traumatiſche Abnormitäten; er erwähnt, daß man auch Kielbildungen bei dem Planorbis tenellus und deformis der bayeriſchen Seen nachweiſen könne, die aus dem glatten albus hervor— gegangen ſein müßten. Die Gründe für ſolche Veränderungen ſind ſeiner Anſicht nach in phyſikaliſchen Verhältniſſen zu ſuchen. Herr Steinmann macht den Vorſchlag, man möge eine Commiſſion ernennen, die das Material beſichtigen und, ſo weit hier— aus ein Urtheil zu gewinnen ſei, in einer ſpäteren Sitzung ihre Reſultate mittheilen ſolle. Herr Sandberger erwidert, daß ſich in München gar nichts (2) entſcheiden laſſe, dazu müßte man vorher die Lager— ungsverhältniſſe in Steinheim ſelbſt feſt— ſtellen. Herr Gümbel ſchließt ſich dem an und bemerkt dazu, daß der Stein— man n'ſche Vorſchlag unzuläſſig ſei. (Die Statuten, $ 21, lauten übrigens: „Eine Faſſung von Reſolutionen über wiſſen— ſchaftliche Theſen findet nicht ſtatt“; die Er— nennung einer Commiſſion zur Bericht— erſtattung iſt doch wohl etwas anderes als eine Reſolution.) Die Verſammlung trat der Anſicht des Herrn Gümbel bei (der Verf. ſelbſt nicht ausgeſchloſſen), vielleicht nur aus Unkenntniß des Statuten-Wort⸗ lautes. Das war das ganze Reſultat der Debatte. Man wünſchte offenbar von ge wiſſer Seite jedes greifbare Reſultat zu verhindern; dies iſt mein Eindruck. Ich bedaure die Handhabung der eben geſchil— derten Verhandlung dabei als nicht durch— aus unparteiiſch bezeichnen zu müſſen. Der von Herrn Gümbel angeführte Grund gegen eine doppelte Sitzung, nämlich Zeit— mangel, iſt offenbar nicht der richtige; denn da nach dem erſten halben Vortrag keine Debatte ſtatthaben ſollte, ſo bleiben die drei Summanden ſo wie ſo die gleichen, ½ Vor— trag + ½ Vortrag + 1 Debatte; letz⸗ tere, die einzige Variable, wäre bei vor— hergegangener Orientirung der Theilnehmer e Hilgendorf, Zur Streitfrage des Planorbis multiformis. wohl eher kürzer, auf jeden Fall aber fruchtbarer ausgefallen. Dazu kommt die mehrfach erwähnte Unterdrückung von Stel— len im amtlichen Bericht, deren Aufnahme ich als wichtig verlangt hatte. Mündlich verhandelt habe ich hierüber mit Herrn Dr. von Ammon; die Verantwortlichkeit für die Redaktion trägt, nach der Vorbemerk— ung des Berichtes zu urtheilen, Herr Güm— bel. Man wird mir zugeben müſſen, daß ich in jeder Beziehung beſtrebt geweſen bin, für mich und Andere Klarheit in die Frage zu bringen. Ich ſelbſt bin mit dem Mün⸗ chener Reſultat nachträglich durchaus zu— frieden, einen beſonderen Eclat habe ich nie gewünſcht; für das Intereſſe der in der Sitzung Anweſenden zu ſorgen, wo ſie es ſelbſt konnten, war nicht meines Amtes. Jetzt, wo die phylogenetiſche Entwickel— ung des Planorbis multiformis in ihren Grundzügen mir auch nach außen völlig ge— ſichert ſcheint, mag es Zeit fein, deren Re— ſultate zu ſummiren, eine Aufgabe, der ich ſelbſt mich früher abſichtlich entzogen habe, um den Werth der objektiven Thatſachen nicht durch etwaige Schwächen der Folger— ungen zu beeinträchtigen und um für mich der feſſelnden und ſtörenden Rückwirkung zu entgehen, die das gedruckte Wort öfter auf den Autor ausüben kann. Den zu Anfang des Artikels aufgeſtellten Satz be— trachte ich dabei als richtig und allgemein angenommen. 1) In dem Steinheimer Becken ſind an den Planorben eine größere Zahl von im Laufe der Zeit erfolgten Umwandlungen nachweisbar (wenigſtens zwölf bemerkens— werthere), d. h. es ſind für jeden der Fälle die nöthigen, fein abgeſtuften Zwiſchenformen vorhanden, die auch die regelrechte Lagerung beſitzen. 2) Die neuen Formen haben für eine 93 längere Zeit eine verhältnißmäßige Conſtanz erlangt. 3) Der Proceß der Umwandlung ſcheint im Vergleich zu der Epoche der Form— beſtändigkeit meiſt kurze Dauer zu haben discoideus - trochiformis, trochiformis— oxystomus, minutus - costatus). 4) Die veränderten Formen find dann zum Theil weiteren Umformungen unter legen; als höchſte Zahl wurden fünf auf- einanderfolgende bedeutendere Umwandlungen (in der Hauptreihe) conſtatirt. 5) Andere Formen find ohne Descen- denz zu hinterlaſſen ausgeſtorben (rotun- datus, elegans, pseudotenuis). 6) Ein Theil der Individuen einer Form kann in verhältnißmäßigem Still— ſtande verharren, während der andere eine abweichende Geſtalt annimmt, der Stamm kann einen Zweig erzeugen (Steinheimensis und tenuis, discoideus und rotundatus, elegans und trochiformis, costatus und minutus, denudatus und costatus). Die Zweigbildungen können ſich wiederholen. 7) Die Zwiſchenformen zwiſchen dem Stamm und dem Zweig fterben in kurzer Zeit aus. Daher zerfallen die in einer einzelnen Schicht zuſammen gefundenen Con— chylien faſt ſtets in ſcharf von einander ge— ſchiedene Typen, ähnlich, wie wir es in der jetzigen Epoche finden. 8) Eine Auflöſung der Stammform in zwei oder mehrere neue Formen mit gleichzeitigem Verſchwinden der erſteren (Gabelbildung im engern Sinne) kam nicht zur Beobachtung, auch eine gleichzeitige Ab— trennung zweier Zweige vom Mutterſtamm iſt noch nicht ſicher nachgewieſen (der tri— quetrus, eine verhältnißmäßig ſeltene Form, zweigt ſich möglicher Weiſe ſchon tiefer ab als der costatus). 9) Spätere Verſchmelzungen früher ge⸗ VVT ⅛—ßßrf . m 94 Hilgendorf, Zur Streitfrage des Planorbis multiformis. trennter Zweige (Baſtardbildung) wurden nicht beobachtet. 10) Keine Form tritt unvermittelt auf (Einwanderung, heterogene Zeugung, Ur— zeugung), jede ſteht mit früher Lebenden durch Zwiſchenformen im Zuſammenhang. 11) Keine Form hat ſich unverändert erhalten, die längſte Dauer einer Form (minutus, costatus) geht kaum über die Hälfte des Zeitraums (nach der Zahl der Zonen bemeſſen) hinaus. 12) Alle Charaktere ſind der Veränder— ung unterworfen geweſen, Zahl, Durchſchnitts— figur und Dickezunahme der Windungen, der Modus des Aufwindens und die aus dieſen Faktoren zuſammen ſich ergebende Allgemein— geſtalt der Schale, Wandſtärke, Skulptur, Bildung des Mundſaumes, Größe (auch wohl Färbung). Das Embryonal-Ende ſcheint die geringſten Variationen zu bieten. 13) Die gleichen Charaktere treten nicht zu gleicher Zeit an den verſchiedenen Zweigen des Stammbaumes auf. Die Runzelbild— ung (der Anfang der Rippen) beim co- status beginnt etwa zu der Zeit, wo der sulcatus ſie verliert (ſie erſcheinen zuerſt ab und zu beim tenuis); die Kielbildung bei tenuis und pseudotenuis iſt nicht gleich— zeitig, auch nicht die Erhöhung des Gewin— des bei rotundatus, trochiformis, denu— datus. Nur die Wandſtärke hat ſich in der Oxystomus-Zone bei allen drei dort vorkommenden Formen zu der nämlichen Zeit ſehr vermindert. 14) Aenderungen in dem einen Zweige des Stammbaumes ſind nicht nothwendig von ſolchen in den anderen Zweigen begleitet. 15) Ein einmal verſchwundener Typus kehrt ſpäter nie in genau derſelben Form wieder, wohl aber erſcheinen einzelne Merk— male zum zweiten Male in der Descendenz Furche des supremus), oder es finden . —. . Annäherungen im Allgemeinen ſtatt (rever- tens ähnlich dem Steinheimensis, deren Schalen aber gerade durch großen Mangel poſitiver Merkmale ſich auszeichnen). 16) Wenn ein Merkmal verſchwindet, ſo braucht dies nicht durch eine Umkehrung des Vorganges auf demſelben Wege zu ge— ſchehen. Die Rippen des costatus entſtehen durch Verſtärkung der Anwachsſtreifen, ſie verſchwinden (beim denudatus) durch Zahl— verminderung, aber ſelbſt bei Vorhanden— ſein von nur zwei oder einer Rippe ſind dieſelben noch wohl entwickelt. 17) Rudimentäre Bildungen können eine phylogenetiſche Bedeutung haben leine feine erhabene Linie bei oxystomus, der untern Außenkante des discoideus entſprechend, weiſt auf die Vergangenheit hin; eine oben an der Mündung bei Steinheimensis öfter vor— kommende Rinne iſt als Vorläufer der bei tenuis und sulcatus vorkommenden Längs— rinne anzuſehen). 18) Es würde ohne Kenntniß der Lagerungsverhältniſſe und Uebergangsformen ſchwer oder unmöglich ſein, allein nach der Form der Typen den Stammbaum der Wirklichkeit entſprechend abzuleiten. Daher ſind Entwickelungsreihen, die Neumayr im Gegenſatz zu den continuirlichen als intermittirende bezeichnet, nur mit großer Vorſicht für Schlüſſe zu benutzen. 19) Schwierigkeiten für die Verfolgung der Umwandlungen bieten: Schlechte Er— haltung des Materials, Seltenheit der Exem— plare eines Typus, indifferente Form der Typen (Steinheimensis, parvus), die ver— hältnißmäßige Seltenheit der Uebergangs— formen (vergl. Nr. 3), das Ausfallen von Schichten an einer beſtimmten Stelle, un— regelmäßige Lagerungen und Schichtungs— ſtörungen, Umlagerungen der Conchylien aus zerſtörten älteren Schichten in neue. Hilgendorf, Zur Streitfrage des Planorbis multiformis. 20) Die Umformungen können nicht als krankhafte Mißbildungen betrachtet werden; denn es vertritt eine jede Form in ihrer Schicht ihren Stammbaumzweig allein, und alle Exemplare derſelben Schicht pflegen einem einheitlichen Typus anzugehören. Läßt man einmal zu Gunſten der ſupponirten Krüppel die normalen Exemplare fehlen, ſo führt die Conſequenz dahin, daß überhaupt keine normalen Individuen unter den Steinheimer Planorbiden zu finden find. Der oxysto- mus wäre ein mißbildeter trochiformis, dieſer aber auch nur ein krankhafter dis— coideus, dieſer wieder ein pathologiſcher te- nuis, letzterer ein verzerrter Steinheimensis, deſſen Eltern wir vorläufig nicht kennen. Zweitens ſind die Formen ſämmtlich zum eigenen Leben und auch zur reichlichen Fort— pflanzung fähig geweſen, da ſie vollſtändig und regelmäßig entwickelt ſind und oft für eine Zahl von Schichten die direkten und indirekten Nachkommen geliefert haben. Von den Autoren wurden ſie auch faſt ausnahms— los als regelrechte Varietäten und Arten aufgefaßt. 21) Auch die hochgewundenen Formen ſind keine pathologiſchen Bildungen, beſon— ders nicht durch mechaniſche Inſulten ver— anlaßte. Außer den eben dargelegten Grün— den iſt rückſichtlich des trochiformis zunächſt hervorzuheben: Ein discoideus theoretiſch zur ſkalariden Form umconſtruirt, erzeugt eine andere Bildung, als der trochiformis ſie darſtellt, deſſen Windungsquerſchnitt eine ganz verſchiedene Figur ergiebt; *) als Gegen- ) Der Ausdruck Skalaridenbildung iſt eigentlich paſſender Weiſe auf Unregelmäßig- keiten der Aufwindung zu beſchränken. Eine kegelförmige Schale kann aus einer glatten auch rein durch Veränderung des Windungsdurchſchnittes ohne irgend welche Abweichung des Aufrollungsmodus entſtehen. Dies iſt in der That bei vielen Exemplaren | 95 probe zeigen deſkalariſirte trochiformis, die zuweilen gefunden werden, eine vom dis- coideus durchaus abweichende Geſtaltung; bei der phylogenetiſchen, normalen Deſkala— riſirung (Bildung des oxystomus) erſcheint ebenfalls nicht ein discoideus; ferner liefern die zu verſchiedenen Zeiten auftretenden Schweſterformen, der rotundatus (noch zur Discoideus-Zone gehörig) und der elegans (in den höheren Trochiformis- Schichten) wieder ganz abgeſonderte einheitliche Typen. Endlich ſtellen die als Krüppel verdächtig— ten trochiformis gerade die größten und ſchönſten Stücke für den ganzen Formen- complex. Der denudatus iſt keine einfach ſkalaride Form, da ſie von dem gerippten costatus herkommt, alſo gleichzeitig zwei Umänderungen erlitten hat. Trotz äußerſter Zartheit der Schalen ſind dieſelben doch, ſo viel ich ſehen kann, ihrer ganzen Länge nach unverletzt. Da man mit dem Worte ſkalarid gewöhnlich den Begriff des Krank— haften verbindet, iſt dieſe Bezeichnung für die genannten Typen beſſer zu vermeiden. Skalariden im gewöhnlichen Sinne und ſonſtige Mißbildungen kommen unter faſt allen neunzehn Formen gelegentlich vor, und verhalten ſich zu ihnen wie die recenten Mißbildungen zu ihren lebenden Arten. 22) Die neunzehn in genetiſchem Zu⸗ ſammenhang ſtehenden Formen?) haben unter einander Unterſchiede, welche zum Theil denen guter Arten, wahrſcheinlich aber ſogar denen der Subgenera nach heutigem Gebrauche wenigſtens ebenbürtig ſind. Dies geht aus einer einfachen Betrachtung der des trochiformis der Fall; veränderte Auf- rollung kann allerdings die Wirkung ſteigern. *) Wenn der Zuſammenhang zwiſchen Steinheimensis und der linken Hälfte des Stammbaumes auch nicht ganz ſicher und klar iſt, ſo iſt doch morphologiſch gerade hier keine beſonders große Kluft. Hilgendorf, Zur Streitfrage Synonymie hervor. v. Klein, der vor mir zuerſt dieſe Conchylien ausführlicher behandelte, unterſchied Valvata multiformis (mein discoideus, trochiformis, rotunda- tus), Planorbis Kraussi, Pl. oxystoma, Pl. eostatus, Pl. hemistoma (mein minu— tus). Die übrigen Varietäten waren ihm unbekannt. Herr Sandberger unter ſcheidet: Carinifex tenuis (mein tenuis und pseudotenuis), C. multiformis (mein suleatus, discoideus, trochiformis, rotun- datus, elegans), C. oxystoma (mein oxy- stomus, revertens, supremus), Planorbis (Gyraulus) Steinheimensis, Pl. (Gyraulus) Zietenii (mein minutus und crescens), Pl. (Gyraulus) Kraussii, Pl. (Armiger) costatus. Er nimmt alſo wenigſtens zwei Gattungen (davon die eine mit zwei Unter— gattungen) und ſieben Arten an, innerhalb der Arten dann noch zahlreiche Varietäten und Untervarietäten. Dabei haben beide Autoren, und beſonders der letztere, ſchon viel ſehr Differentes vereinigt, eben nur wegen der Uebergänge. Die große ſyſte— matiſche Verſchiedenheit von costatus und ſeinem glatten Nebenzweige betonte Herr O. Böttger mir gegenüber mit großer Entſchiedenheit, nachher überzeugte er ſich übrigens trotzdem von ihrem Zuſammen— hange. Man ſehe in irgend einer Samm— lung oder in Cleſſin's Excurſions— Mollusken-Fauna die Planorbis-Arten nach, und man wird leicht deren finden, die ge— ringere Differenzen zeigen als etwa tenuis und elegans. Die von mir früher ge— wählte Bezeichnung der Formen als Va— rietäten iſt aus rein äußeren Zweckmäßig— keitsgründen erfolgt. 23) Ueber die Gründe der Umwand— lungen Vermuthungen auszuſprechen, iſt bei der bis jetzt geringen Kenntniß der Varia— tionsbedingungen für lebende Mollusken des Planorbis multiformis, einerfeits*) und bei der Unklarheit über die ehemaligen Verhältniſſe des Steinheimer Beckens andererſeits ſehr gewagt. Aus rein äußeren Bedingungen könnte die Dünn— ſchaligkeit der Conchylien zu Ende der Trochiformis-Zeit hergeleitet werden, weil ſie ſich bei allen Formen zugleich geltend macht. Wo die nämliche Umwandlung nicht gleichzeitig bei allen Formen erfolgt (vergl. Nr. 13), iſt das einfache Einwirken rein äußerer Urſachen nicht mit Wahrſcheinlichkeit als Grund anzunehmen. Der geeignete Boden für die Forſchung nach den Urſachen der Veränderungen iſt überhaupt das Ex— periment an lebenden Thieren, ein Boden, auf dem Weismann feine Reſultate er- zielt hat. 24) Für die Richtigkeit der Descendenz— Theorie bilden die zahlreichen Umwandlun— gen des Planorbis multiformis einen der klarſten Beweiſe. 25) Für die Selektionstheorie (Dar- winismus im engern Sinne) iſt vielleicht das baldige Ausſterben der Zwiſchenformen bei Zweigbildungen von Belang. Schon wegen der Unkunde aller einſchlägigen Ver— hältniſſe kann zwar irgend eine beſtimmtere, wahrſcheinliche Angabe für den Nutzen jedes einzelnen, neu erworbenen Charakters ſchwer— lich gemacht und deshalb auch von Niemand verlangt werden; ebenſo wenig kann aber wieder die Unmöglichkeit irgend welchen Vor— theils von Jemand durchaus in Abrede geſtellt werden. Aehnlich kann für die Wirkſamkeit innerer Transmutations⸗ ) Wenn man ſelbſt einen gewiſſen Zu— ſammenhang zwiſchen Form und einem äußern Umſtand erkannt hat (3. B. Did- ſchaligkeit und ſtarker Wellenſchlag), ſo darf man ſelbſtverſtändlich den letzteren nicht ohne Weiteres als direkte und genügende, möglicher Weiſe überhaupt nicht als Urſache für die erſtere anſehen. Hilgendorf, Zur Streitfrage des Planorbis maltiformis. 97 urſachen, wie es ſcheint, weder ein Beweis noch eine Widerlegung aus dem Stamm— baum des Planorbis multiformis entnom— men werden. Wenn von demſelben Stamm in echter Dichotomie zwei Typen ſich ab- zweigten, ſo würde das eine Schwierigkeit für die Vertheidiger des inneren Umgeſtalt— ungstriebes fein, obſchon vielleicht keine un- überwindliche. Echte Dichotomie iſt aber, wie erwähnt, nicht beobachtet worden. 26) Oft find die Steinheimer Planor- ben gelegentlich der Wagner'ſchen Mi— grationstheorie angeführt worden, und zwar hauptſächlich als Beweis gegen dieſelbe. Prof. Wagner weiſt auf die Möglichkeit hin, daß ſelbſt im Steinheimer Becken noch iſolirte Brutplätze für neue Formen in Ge— ſtalt abgegrenzter, kleinerer Waſſerbecken be— ſtanden haben können. Ein poſitiver An— halt dafür liegt bis jetzt noch nicht vor, die Unmöglichkeit kann andererſeits nicht geradezu behauptet werden. Für einen ein— zelnen Fall läßt ſich aber mit ziemlicher Be N g . Ya | Fig. 3. Hydrobia-Formen von Steinheim. Die hier angeſtellten Schlußbetrachtungen laſſen wohl zur Genüge erkennen, wie wichtig eine möglichſt ſichere und minutiöſe Aus⸗ bildung des bisher in den Umriſſen auf- geführten Baues ſein würde. Es war nicht meine Wahl, wenn ich anſtatt dieſer lohnen— deren, anziehenderen und leichteren Detail— arbeit noch einmal mit grobem, aber feſtem Sicherheit nachweiſen, daß die Bildung der neuen Form ohne räumliche Abtrennung von der alten vor ſich gegangen iſt. Von der Schicht an, in der ſich z. B. der co- status zuerſt in ſeinen Anfängen in der Grube Nr. 1 erkennen läßt, wird er und die Stammform, der minutus, in allen nachfolgenden Schichten der nämlichen Grube ganz regelmäßig vergeſellſchaftet angetroffen. Daß Iſolirung eine conditio sine qua non für Ausbildung neuer Formen ſei, kann danach nicht zugegeben werden, ſo förder— lich dieſelbe in der That in vielen Fällen wirken dürfte. 27) Ohne ein energiſches und andauern— des Suchen eigens nach Uebergangs-Exem— plaren und Schichten wird man ſie ander— wärts ebenſo wenig finden, als die meiſten früher in Steinheim beobachtet wurden; auf gleiche Vollſtändigkeit wird man allerdings nur bei gleich günſtigen Erhaltungszuſtän— den und Aufſchlüſſen rechnen dürfen, und deren giebt es leider nicht zu häufig. 7 Fig. 4. Limnaeus socialis von Steinheim. Material die Fundamente zu legen unter- nommen habe. Ob meine Abſicht, am weitern Ausbau mich zu betheiligen, zur That werden wird, hängt nicht von meinem Willen allein ab. Außer den Planorben kommen in Stein⸗ heim kleine Hydrobia vor (von Sand- berger als Gillia utriculosa aufgeführt), 98 Hilgendorf, Zur Streitfrage des Planorbis multiformis. die bis jetzt noch nicht genauer unterſucht wurden. Die Extreme werden durch die Zeichnung Fig. 3 veranſchaulicht, welche beide Objekte in zehnfacher Vergrößerung darſtellt. Beide wurden in der ſogenannten obern Trochiformis-Schicht geſammelt und dürften vermuthlich einer wirklichen Trochi- formis-Schicht früher angehört haben. Die größten Abweichungen innerhalb des Limnaeus socialis, unter dem ich alle Steinheimer, unſeren Schichten zugehörigen Limnäen begreife, ſtellt die Fig. 4 in na— türlicher Größe dar. Ebenſo wie die Hy— drobien hängen alle unter einander durch Uebergänge zuſammen, die bauchigen Formen gehören den tiefſten Schichten an (Stein— heimensis- [?], Tenuis-Schicht), die ſchlank— ſten folgen bald darauf, in den Discoideus- Schichten herrſchen mittlere Formen, in der Trochiformis-Zone ſterben ſie aus. Das ſpärlichere und ſchlechtere Material erſchwert ihr Studium; zu einer ſo mannigfachen Entwickelung wie die Planorben ſind ſie indeß ſicher nicht gelangt, wie ja die Gattung Limnaeus an ſich ſchon einförmiger iſt. Die kleinen zierlichen Oſtrakodenſchalen gehören vier Arten an, von denen drei mit M. S.⸗Namen verſehen ſchon aus der alten v. Münſter'ſchen Sammlung in die kgl. Sammlung zu Berlin übergingen. ihnen iſt nach einem flüchtigen Blick von der Tenuis-Schicht bis zum supremus hinauf keine bedeutende Umformung zu Stande gekommen. Hydrobien bald bearbeiten zu können. Leider ſind alle Kieſelbildungen, wie auch Celluloſe, Chitin und ähnliche Stoffe, in Steinheim zerſtört, ſonſt würden die Diatomeen vielleicht zu intereſſanten Unter— ſuchungen Stoff geboten zu haben. Eine Arbeit, die in ganz ähnlicher Weiſe die Phylogenie direkt durch Lagerungs— Bei | verhältniffe und feinſte Uebergangsſtufen nachweiſt, hat M. Neumayr in Verbind— ung mit C. M. Paul geliefert.“) Die Gattung Paludina hat dort die reichſten Reſultate ergeben. Nach einer einfachen, glatten, anfänglich exiſtirenden Form (Neu— mayri) treten ſchließlich in den oberen Schichten fünf recht abweichende Typen auf. Davon kann die eine, Hoernesi (durch einen oberen glatten und einen unteren ge— knoteten Längskiel kenntlich), continuirlich durch eine Zahl von Exemplaren mit den erſten verbunden werden. Die Mittelglieder, für deren Abſtufungen Neumayr fünf eigene Namen hat, drängen ſich nicht in eine einzige Zwiſchenzone zuſammen, ſon— dern es giebt deren vier. Die Neumayri- Hoernesi-Reihe, die ich bei Prof. Neu- mayr ſelbſt ſehen konnte, bildet den Glanz— punkt der Collektion. Noch zwei andere Uebergänge ſind mit gleicher Sicherheit nach— weisbar, die avellana entſteht durch Aus— bildung doppelt geknoteter Querrippen aus der glatten melanthopsis, und die Zele- bori mit zwei geknoteten Längskielen aus der einfacheren Dezmanniana. Nur mit mehr oder minder großer Wahrſcheinlichkeit iſt die Zurückführung der melanthopsis und Dezmanniana, ſowie der beiden letzten End— ſpitzen der arthritica (mit oberem knotigen und unterem glatten Kiel) und der Vuko- Ich hoffe ſie und die tinoviei (ein unterer Kiel, ſtarke Spiral- skulptur) möglich geweſen. Zur Zuſammen⸗ ſetzung des ganzen Stammbaumes ſind auch ab und zu Unica, ſowie Exemplare ohne ganz beſtimmtes Niveau und aus entfern— teren Localitäten verwerthet worden. Eine Verzweigung konnte bei den Melanopsis conftatirt werden, indem aus M. harpula ) Die Congerien- und Paludinenſchichten Slavoniens. Abh. d. k. k. Reichsanſt. Bd. VII. Heft 3. 1875. N L einerſeits die M. clavigera und anderer- ſeits M. Brauni hervorgegangen iſt. Die unterſuchten Ablagerungen beſitzen übrigens die zehnfache Meilen-Erſtreckung des Stein— heimer Beckens und zerfallen oben in eine öſtliche und weſtliche Abtheilung mit ver— ſchiedenen Foſſilien. Mehrere auf einander folgende Um— wandlungen, wie in meiner Hauptreihe, wurden nicht conſtatirt, wenn man nicht etwa die verſchiedenen Etappen als ſolche auffaſſen will. Dieſe Abweichung in den Verhältniſſen veranlaßte wohl Neum ayr (zu einer Zeit, wo ich Herrn Sandber— ger das Terrain noch überlaſſen mußte) zu ſeinem Ausſpruch S. 59: „Ohne in Steinheim geweſen zu ſein und bedeutendes Material der dortigen Planorben unterſucht zu haben, können wir nur darauf hinweiſen, daß Hilgendorf's Hauptreihe morphologiſche Unwahrſcheinlichkeiten und ſo bedeutende Un— regelmäßigkeiten zeigt, wie ſie noch keine der bisher beobachteten Formenreihen erkennen läßt; immerhin ſchlöſſe der Nachweis ein— zelner Fehler das Vorkommen von Formen— reihen unter den Steinheimer Planorben Kosmos, III. Jahrg. Heft 2. Hilgendorf, Zur Streitfrage des Planorbis multiformis. 99 noch durchaus nicht aus. Jedenfalls iſt Hilgendorf der erſte geweſen, der den Ver— ſuch gemacht hat, durch die paläontologiſche Detailunterſuchung die allmälige Formver— änderung der Organismen zu beweiſen, ein nicht zu verkennendes Verdienſt, wenn auch dieſer erſte Verſuch an manchen Mängeln leiden ſollte.“ Ein ähnlicher Vorwurf, näm— lich der, daß mein Stammbaum unnatürlich ſei, kehrte von anderer Seite wieder. Auch ich war von den Reſultaten überraſcht und habe eben deswegen, wie man unter ſolchen Um— ſtänden pflegt, erſt einem ſehr kräftigen Druck der Thatſachen nachgegeben. Daß eine Bild— ung, wie hier die Kegelform, in der Natur erſcheinen kann, um bald darauf wieder zu verſchwinden, wird aber auch ſonſt theoretiſch angenommen; das Verſchwinden der Extremi— täten bei den Schlangen, der Schalen bei den Nacktſchnecken ſind offenbar ganz ana— loge Erſcheinungen. Es handelt ſich, das darf man nicht vergeſſen, hier um Fakta, bei denen man wohl über Urſachen und Bedeutung, aber nicht mehr über Wahr- ſcheinlichkeit und Unwahrſcheinlichkeit discu— tiren kann. Ituna und Thyridia. Ein merkwürdiges Beiſpiel von Mimiery bei Schmetterlingen. “) Von Fritz Müller. 6 )) Itajahy, September 1878. VE ie Gattungen Ituna und Me- thona wurden 1847 von Doubleday errichtet und zwiſchen Eutresis und Thy— ridia in die Familie der He— liconien eingereiht, aus welcher ſie ſpäter mit den Ithomien und deren ganzer Vetter— ſchaft zu den Danainen verſetzt wurden. Methona hat man neuerdings mit Thy- ridia Hübn. vereinigt und neben dieſer ſteht noch in Kirby's Verzeichniß der Tag— falter (1871) die Gattung Ituna. Man ſcheint dieſe beiden Gattungen alſo von jeher als nächſte Verwandte betrachtet zu haben und noch zu betrachten. Und doch iſt ihre Aehnlichkeit keine ererbte, auf Bluts— verwandtſchaft beruhende, ſondern eine er— worbene, durch Nachahmung entſtandene. Merkwürdig ſchon dadurch, daß die Thiere nicht etwa nur lebend flüchtige Samm— ) Anm. d. Red. Dieſer Aufſatz, wie auch der über Epicalia Acontius (Kosmos IV. S. 286), waren bereits vor dem Abdrucke der Wallare’schen Arbeit über die Farben der ler, ſondern, ſorgfältig verglichen, gelehrte Forſcher zu täuſchen vermochten, wird die Aehnlichkeit der genannten Gattungen in noch höherem Grade beachtenswerth dadurch, daß ſie ſich herausbildete zwiſchen Thieren, welche beide durch Ungenießbarkeit geſchützten Faltergruppen angehören. Auf dieſe Nach- ahmung unter geſchützten Arten findet die für die gewöhnlichen Fälle der Mimicry zutreffende Erklärung (und eine andere iſt bis jetzt meines Wiſſens nicht gegeben worden) keine Anwendung. Ituna Ilione und Thyridia Megisto, deren Flügel ich hier vorlege, find zwei bei uns ziemlich ſeltene Falter. Zu der Aehn— lichkeit der Flügel, die ſich in der Anord— nung der gelblichen Glasflecken, der ſchwar— zen Adern und Binden, welche dieſe Flecken durchziehen und trennen, und der weißen Flecken ausſpricht, welche den ſchwarzen Saum der Flügel zieren, kommt noch die Pflanzen und Thiere in unſeren Händen, wor— aus ſich, bei der Entfernung des Herrn Verf., erklärt, daß er die neueren Wallace'iſchen Aufſtellungen nicht berückſichtigt hat. . . ¹Ü¹- re ˙² 1A ²— ˙ »; ↄ ER Bd u P u Aa Dee Müller, Ituna und Thyridia. lange gelbe Fühlerkeule und die ſchwarz— weiße Zeichnung des Leibes beider Arten. Beide Falter theilen mit den Ithomien die Vorliebe für die weißen Blüthenköpfchen eines Adenostemma, das am Saume des Waldes, wie am Rande durch den Wald Fig. 1. Flügel von Ituna Ilione c 2. Flügel von Thyridia Megisto Die Merkmale, durch welche Double— day die Gattung Ituna von der im Aus- ſehen fo ähnlichen Methona und Thyridia ſchied, würden nicht hindern, dieſelben als nächſte Verwandte zu betrachten, und auch die Unterſchiede, auf welche ich jetzt hin— weiſen will, mögen recht unerheblich erſchei— nen; ſie erhalten ihre Bedeutung dadurch, daß ſie ſich wiederholen in einer langen Reihe verwandter Arten, von denen die einen mit Ituna, die anderen mit Thyridia übereinſtimmen, daß ſie alſo hinweiſen auf eine vor langer Zeit erfolgte Scheidung der Danainen in zwei Gruppen, deren eine Ituna, deren andere Tbyridia angehört, und daß ſie ſomit eine gleich frühe Trenn— ung dieſer beiden Gattungen beweiſen. 101 führender Wege zu wachſen pflegt, beſuchen aber auch andere, beſonders weiße Blumen derſelben Familie (Compositae), z. B. Vernonia, Mikania, Baccharis; auf Blumen aus anderen Familien entſinne ich mich nicht, ſie geſehen zu haben. Fig. 2. 90 Unterſeite. Fig. Die Zahlen am Flügelrande bezeichnen die Flügelrippen nach Herrich-Schäffer's Zählungsweiſe. Zunächſt ſieht man am Hinterflügel beider Arten zwiſchen je zwei Flügelrippen zwei weiße Randflecken; auch zwiſchen Rippe 1b und 2 hat Ituna dieſelbe, Thyridia dagegen die doppelte Zahl, alſo vier ſolcher Flecken. Es ſieht aus, als wäre das Feld zwiſchen dieſen beiden Rippen ein Doppel- feld, und das iſt es auch. Urſprünglich hatte jeder Schmetterlingsflügel, wie viele Nachtſchmetterlinge und die Puppen der Tagfalter beweiſen, drei Innenrandsadern zwiſchen Mittelzelle und Innenrand; bei den Tagfaltern iſt die vorderſte dieſer drei Adern oder Rippen (1c) geſchwunden, wenn auch nicht immer ſpurlos; bei Acraea Thalia z. B. iſt ihr Verlauf an den Hinterflügeln durch eine Reihe ſchwarzer Haare bezeichnet, — — Müller, Ituna und Thyridia. wie fie auch längs der übrigen, wohl ent- In vielen wickelten Flügelrippen ſtehen. anderen Fällen iſt von der geſchwundenen Flügelrippe (Le) ſelbſt kaum noch etwas zu ſehen, aber ihr früheres Vorhandenſein ver— räth ſich noch in der Zeichnung der Flügel, welche das Feld zwiſchen Rippe 1b und 2 als ein doppeltes erſcheinen läßt. Fig. 3. Vordere Hälfte der Flügelwurzel der Hinterflügel von Ituna Ilione (Fig. 3) PC Präcoſtalis. C Coſtalis. Ein zweites, die Gattungen Thyridia und Ituna unterſcheidendes Merkmal beſteht in dem Vorhandenſein einer kleinen „Wurzel— zelle“, wie ſie Herrich-Schäffer nennt, am Grunde der Hinterflügel von Ituna; dieſelbe kommt auch bei Lycorea und Da- nais vor, fehlt dagegen bei Thyridia, wie bei allen übrigen Verwandten der Ithomien. Dieſe „Wurzelzelle“ pflegte Herrich— Schäffer, wo er ſie fand, als Familien— Merkmal zu benutzen. Er unterſchied z. B. durch deren Fehlen oder Vorhandenſein die Familien der Heliconinen und Danainen, welch' letztere er auf die Gattung Danais beſchränkte. Hätte er alſo bei Ituna und Lyeorea die allerdings recht winzige Wurzel— zelle nicht überſehen, ſo würde er ſchon dieſe beiden Gattungen von den Ithomien getrennt und Danais angeſchloſſen haben. Drittens ſchließt ſich auch in der Bild— ung der Duftwerkzeuge der Männchen Thy- ridia an die Ithomien, Ituna an Lycorea . Danais an. Die Männchen von In an⸗ deren Fällen hat ſich auch dieſe Andeutung des urſprünglichen Zuſtandes verloren, und und Thyridia Megisto J (Fig SC Subcoſtalis. das frühere Doppelfeld zeigt dieſelbe Zahl von Punkten oder Flecken, wie alle übrigen. Wie bei Thyridia erſcheint nun das be— treffende Flügelfeld noch als Doppelfeld bei Dircenna, Ceratinia, Mechanitis, Melinaea, überhaupt bei dem ganzen Verwandtſchafts— kreiſe der Ithomien; dagegen wie bei Ituna einfach bei Lycorea und Danais (ſowie, | nach Abbildungen zu ſchließen, bei Hestia und Euploea). 6 0 2 — Fig. 4. 4). WZ Wurzelzelle. Ithomia und ihren Verwandten beſitzen be— kanntlich einen duftenden „Haarpinſel auf der Oberſeite der Hinterflügel, vorn an der Subcoſtalrippe“ (Herrich-Schäffer), deſſen ſich ſchon Herrich-Schäffer zur Unterſcheidung derſelben bediente. Gerade bei Thyridia Megisto iſt der Geruch dieſer Haarpinſel recht kräftig, und es iſt die ein— zige mir bekannte Art, bei welcher dieſe von den Männchen erworbene Auszeichnung auch auf die Weibchen übertragen worden iſt, freilich bei letzteren weit dürftiger entwickelt und ſchwächer duftend. Bei Ituna fehlt den Hinterflügeln dieſer Haarpinſel; dagegen beſitzen die Männchen, wie ſchon Double— day wußte, zwei fingerförmige Fortſätze am Ende des Hinterleibes, die willkürlich ausgeſtülpt und eingezogen werden können; ſie tragen einen mächtigen ſchwarzen Haar— buſch, der ſich beim Vorſtülpen nach allen Richtungen, wie eine Kugelbürſte, ausſpreizt und einen ſehr ſtarken, für mich widerlichen, Schnupftabaksgeruch verbreitet. Dieſelben Müller, Ituna und Thyridia. Duftbüſchel am Ende fingerförmiger Fort— ſätze finden ſich in ganz gleicher Weiſe bei Lycorea und ebenfalls, wenn auch minder mächtig entwickelt und ſchwächer duftend, bei Danais Gilippus und Erippus, bei welchen man ſie bis jetzt überſehen zu haben ſcheint. Auf Grund dieſer Merkmale, von denen namentlich die erſteren, weil offenbar be— deutungslos für die Wohlfahrt der Thiere, als ſichere Zeichen gemeinſamen Urſprungs gelten dürfen, find die Ithomiinen und die eigentlichen Danainen (Danais, Lycorea, Ituna; — Hestia und Euploea kenne ich nur aus Abbildungen) als zwei ſeit langer Zeit getrennte Gruppen zu be— trachten, die ſich mindeſtens ſo fern ſtehen, wie etwa Acraeinen und Maracujäfalter. Auch dieſe beiden Gruppen unterſcheiden ſich durch das Feld zwiſchen Rippe 1b und 2 der Hinterflügel, welches bei den Acraeinen wie bei den Ithomiinen ein Doppelfeld, bei den Maracujäfaltern wie bei den Da— nainen einfach iſt. Die Raupen der Acrae— inen und Maracujäfalter ſtimmen vollſtän— dig überein, nicht ſo die der Danainen und Ithomiinen; erſtere, ſo weit bekannt, auf Asclepiadeen lebend, tragen auf dem Rücken zwei (Danais Erippus), drei (Danais Gi- lippus) oder vier (Euploea Midamus) Paar langer, fadenförmiger, weicher, nicht zurück— ziehbarer „Tentakel“; letztere, ſo weit be— kannt, auf Solaneen oder den nahe ver— wandten Scrofularineen lebend, ſind ent— weder ganz ohne Anhänge oder haben unter— halb der Luftlöcher fleiſchige, kegelförmige Fortſätze (Mechanitis Lysimnia).“) Wenn nun nach allen Merkmalen Thy- ) Die von Boisduval (Spec. gen. Lepidopt. Pl. 4 Fig. 9) abgebildete, der Sta- lachtis (Nerias) Euterpe zugeſchriebene Raupe ſcheint die einer Mechanitis zu ſein; ſie gleicht aufs Haar der von Mechanitis Lysimnia. FFT 103 ridia zu den Ithomiinen, Ituna zu den echten Danainen gehört (wenn alſo letztere nicht, wie Kirby thut, durch die Ithomiinen— Gattung Athesis von Lycorea getrennt werden darf), ſo könnte die Aehnlichkeit dieſer beiden Gattungen nur dann eine von gemeinſamen Ahnen ererbte ſein, wenn in ihnen die Tracht der Urahnen aller Itho— miinen und Danainen ſich erhalten hätte. Daran aber iſt nicht zu denken. Hätten die Urahnen Flügel mit ausgedehnten Glas— flecken beſeſſen, ſo würden nicht ſo zahlreiche Arten beider Gruppen zu der urſprünglichen Bildung vollſtändig beſchuppter Flügel zu- rückgekehrt ſein. Auch würden mit gleichem Rechte Lyeorea und verſchiedene in Zeich— nung und Färbung ihr auffallend ähnliche Ithomiinen beanſpruchen dürfen, die uralte Familientracht bewahrt zu haben. So liegt alſo ein Fall erworbener Aehn— lichkeit vor, ein Fall von Nachahmung oder Mimicry. Aber welche der beiden Arten, Ituna Ilione oder Thyridia Megisto, iſt das Urbild, welche das täuſchende Nachbild? Doch kann darüber je ein Zweifel ſein? Iſt nicht das Vorbild immer eine häufige, in zahlloſen Schwärmen auftretende, das Nachbild eine hundertfach ſeltenere Art? Trägt nicht das Vorbild die ererbten Far- ben ſeiner Gattung und Familie, während das Nachbild, mit fremden Federn geſchmückt, ſeine urſprüngliche Familientracht abgelegt hat? Und iſt nicht das Vorbild durch wider— lichen Geſchmack und Geruch ungenießbar und dadurch ſicher vor Feinden, und ſucht nicht eben deshalb das Nachbild unter ſeiner Maske Schutz, weil es ohne dieſe als leckerer Ein Blick auf dieſe Figur und Fig. 10 und 11 derſelben Tafel, welche Raupen echter Da— nainen darſtellen, zeigt ſofort die große Ver— ſchiedenheit zwiſchen Danainen- und Ithomi— inen-Raupen. 104 Müller, Ituna und Thyridia. Biſſen verſpeiſt werden würde? — Schade nur, daß all' dieſe Kennzeichen gar manch- mal im Stiche laſſen. Die nachahmende Art kann, wenigſtens in einzelnen Bezirken, häufiger ſein, als ihr Vorbild. Es können ja, wenn beide Arten in ein neues Gebiet ſich verbreiten, hier die Verhältniſſe der urſprünglich häu— figeren ungünſtig, der ſelteneren günſtig fein, und es kann ſo das urſprüngliche Zahlen— verhältniß ſich umkehren; ja daſſelbe kann im Laufe der Zeit am alten Wohnſitz der Arten geſchehen. In der Provinz Santa Catharina iſt Archonias (Euterpe) Tereas faſt das ganze Jahr hindurch an Wald— wegen häufig; dagegen gehört ſein Vorbild, Papilio Nephalion, zu den ſeltenen Schmet— terlingen. Das Zahlenverhältniß verſchie— dener Arten wechſelt bisweilen recht erheb— lich in auf einander folgenden Jahren; es kann ein völlig umgekehrtes ſein auf ziem— lich nahe liegenden Gebieten. Hier am Itajahy iſt Colaenis Julia bei weitem häufiger als der täuſchend ähnliche, nur kleinere Eueides Aliphera; dagegen fand ich vor einigen Monaten im Norden unſerer kleinen Provinz, auf dem Hochlande bei S. Bento, den Eueides Aliphera in folder Menge, daß ich einige Male ihrer acht mit einem Schlage des Netzes fing, während ich Colaenis Julia im Laufe einer Woche kaum zwei- oder dreimal ſah. Es ſcheint ſogar der Fall nicht undenkbar, daß das Urbild einer nachahmenden Art ausſtirbt und letztere erhalten bleibt. So könnten, machus und Papilio Zalmoxis Nachahm— ungen rieſiger, ausgeſtorbener oder noch *) Raphael Meldola, Entomological Notes, bearing on Evolution. Ann, and Magaz. of Nat. hist. February 1878. p. 157. unbekannter Acraea-Arten fein. Im vor— liegenden Falle find, wenigſtens in Santa Catharina, beide Arten ſelten, und ihre Zahl giebt ſomit keinen Anhalt zur Er— mittelung des Urbildes. Das zweite Kennzeichen, daß das Urbild ſein eigenes, die Maske ein fremdes Gewand trägt, findet eine um ſo leichtere und ſicherere Anwendung, je verſchiedeneren Gruppen die beiden ähnlichen Arten angehören, je weiter alſo die nachahmende Art von dem gewohnten Ausſehen ihrer Verwandten ſich entfernen mußte. Wenn gewiſſe Heuſchrecken (Scaphura) ſich in Grabwespen (Pepsis), wenn andere (Phylloseyrtus) ſich in Raub— käfer (Odontocheila), wenn wieder andere ſich ſogar in Spinnen?) verkleiden, fo kann in dieſen Fällen um ſo weniger ein Zweifel darüber ſein, welches die nachahmende Art ſei, als ſofort auch der Nutzen der Ver— kleidung in die Augen ſpringt.““) Auch bei manchen anderen, ſich minder fern ſtehenden Arten, leiſtet dieſes Kenn— zeichen noch gute Dienſte; ſo iſt die ſchwarze Archonias Tereas mit dem weißen Flecken der Vorder-, dem roſenrothen der Hinter- flügel eine ganz fremde Erſcheinung unter ) Ich habe dieſe Verkleidung nirgends erwähnt gefunden; ich ſah ſie ein einziges Mal. Auf einem Blatt ſaß ein Thier, das ich zunächſt für eine Spinne hielt, welches aber doch ein etwas befremdliches Ausſehen hatte; ich beſah es von allen Seiten, ohne ins Klare zu kommen, was es ſei, bis es aufſprang und wegflog. Das Wunderlichſte f f daran waren die langen, ſpinnenartig in die nach der Meinung von Mr. Trim en und Mr. A. G. Butler,“) Papilio Anti- Mißßverſtändniß einem deutſchen Profeſſor ge— Quere geſtellten Beine. **) Und doch iſt dieſes unmöglich ſcheinende lungen. In ſeinem ſehr friſch und anregend geſchriebenen, an neuen Thatſachen und Ge— danken reichen Buche: „Die Inſekten“, das freilich über ausländiſche Arten auch ſonſt manches Verkehrte bringt, ſpricht Profeſſor 49 Müller, Ttana und Thyridia. ihren? Gattungs- und Familiengenoſſen, während Papilio Nephalion einer langen Reihe ähnlich gefärbter Arten angehört, ſo daß man, auch wo dieſer Papilio ſelten, Archonias Tereas aber häufig iſt, doch nicht in Verſuchung kommen kann, letzteren Falter als Vorbild des erſteren anzuſehen. Je näher verwandt die beiden ähnlichen Arten ſind, je ähnlicher ſie ſchon von vorn herein waren, um ſo mißlicher wird im Allgemeinen die Anwendung dieſes zweiten Kennzeichens werden; es wird völlig un— anwendbar ſein, wo der nächſte Verwandten— kreis der einen wie der anderen Art über— haupt einer gemeinſamen, eigenthümlichen, ſcharf ausgeprägten Form, Zeichnung und Färbung entbehrt. Colaenis Julia und Eueides Aliphera können hier wieder als Beiſpiel dienen. In der Gattung Colaenis findet ſich neben der feurig rothen Julia die grüne Dido und andere Arten mit wieder anderer Färbung und ganz ab— weichendem Flügelſchnitt. In der Gattung Eueides aber ſteht neben der feurigrothen | Aliphera die bunte Isabella und die Acraea-ähnliche Pavana. Von den beiden Gattungen, von welchen wir ausgegangen ſind, beſitzt nun wohl Vitus Graber (Bd. II, 1. S. 72) von „ge— wiſſen Sandwespen, welche, um ihre Beute, das Grillengenus Sphacura, leichter zu über— liſten, ſich in den Habit ihrer Opfer werfen.“ Das „Grillengenus Sphacura“ ſoll jedenfalls die Locuſtinengattung Scaphura ſein. Der Herr Profeſſor hat es für gut befunden, den Namen ebenſo zu verdrehen, wie die That— ſache. Die Wespe ſieht nicht Heuſchrecken ähnlich, ſondern die Heuſchrecke Wespen ähn— lich aus. Die Wespe trägt allerdings Heu— | ſchrecken, und zwar nichts als Heuſchrecken, | für ihre Brut ein, darunter aber niemals, jo | viel ich geſehen, Scaphuren. Dieſen dient eben ihre täuſchende Wespenähnlichkeit als | Schutz. Thyridia eine größere Zahl ziemlich ähn— licher Verwandten (3. B. Dircenna), als Ituna, und man dürfte vielleicht letztere um ſo eher für die nachahmende Art hal— ten, als ſie auch in Betreff der Blumen die Geſchmacksrichtung der Ithomiinen und nicht die der blutsverwandten Danais zu theilen ſcheint. Daß endlich drittens das Vorbild durch unangenehmen Geruch und Geſchmack vor Feinden geſchützt iſt, während die nach— ahmende Art eines ſolchen Schutzes ent— behrt und eben deshalb die Verwechſelung mit dem unſchmackhaften Vorbilde ihr nütz— lich wird, würde Vorbild und Nachbild ſicher unterſcheiden laſſen, wenn alle für inſektenfreſſende Vögel unſchmackhafte Kerfe auch für uns einen anwidernden Geruch beſäßen und wenn nicht auch für uns widerlich riechende Schmetterlinge als Nach— ahmer aufträten. Die Ithomien des Amazonas und ihre Verwandten (3. B. Mechanitis) werden, wie Bates beobachtete, von ſo vielen Schmetterlingen aus den verſchiedenſten Fa— milien nachgeahmt, daß man ſie gewiß mit Recht als durch Unſchmackhaftigkeit gegen die Verfolgung der Vögel geſichert betrachtet, und doch hat man bei ihnen, ſo viel ich weiß, einen widerlichen Geruch noch nicht wahrgenommen; ) der Geruch, den die *) Woher rührt wohl die von Profeſſor Delboeuf (Kosmos, Bd. II, ©. 106) ange- führte Angabe, daß „die Heliconiden“ (es handelt ſich a. a. O. nicht um Heliconius, ſondern um Ithomia!), „wenn fie in Gefahr kommen, eine ekelerregende Flüſſigkeit aus- ſondern, welche ſie zum unangenehmſten aller Nahrungsmittel macht.“? — Wahrſcheinlich entfloß ſie der Feder eines jener zahlreichen Nachbeter von Bates und Wallace, welche die bahnbrechenden Arbeiten dieſer unüber— trefflichen Beobachter über Mimiery und A — — 106 Duftpinſel der Männchen verbreiten, ift meiſt ſehr ſchwach und nichts weniger als unangenehm, vielmehr vanille- oder roſen— ähnlich; in ihm kann alſo die Urſache der Unſchmackhaftigkeit wohl um ſo weniger geſucht werden, als er ſeinen Sitz in den Flügeln hat, die gar nicht mit gefreſſen werden. So haben wir alſo zahlreichen Nachahmern als Vorbild dienende Arten ohne für uns erkennbare Widrigkeit. Auf der anderen Seite befindet ſich unter den mannigfachen Nachahmern der hier zweimal im Jahre in zahlloſer Menge er— ſcheinenden Acraea Thalia auch der wohl mehr als tauſendmal ſeltnere Eueides pa— vana, der dieſelbe Stinkvorrichtung am Ende des Hinterleibes und denſelben widrigen Geruch beſitzt, wie alle übrigen Maracujä— ſchützende Aehnlichkeit bis zur völligen Platt— heit breit treten und dabei glauben, durch Uebertreibung und eigene Zuthat dem oft aufgewärmten Gerichte neue Würze geben zu müſſen. Wenn Bennett (a. a. O.) meint, daß man zwiſchen der Urform von Leptalis und deren durch ihre Aehnlichkeit mit Itho— mia geſchützten Nachkommen mindeſtens tauſend Zwiſchenformen annehmen müſſe, ſo iſt auch das eine ſolche von völliger Unkenntniß des Gegenſtandes zeugende Uebertreibung, und der auf dieſe Annahme geſtützte Beweis, daß die Mimiery der Leptalis nicht durch natürliche Ausleſe habe entſtehen können, ein Luftgebilde, auf welches der treffliche Ausſpruch Harvey's paßt, an den Huxley kürzlich erinnert hat (Nature XVII, p. 418), und den ich in des Letzteren Ueberſetzung anführen will: „For those who read the words of authors and to whom impressions of their own senses do not represent the things signified by those words, conceive, not true ideas, but false eidola and inane phantoms; whence they fill their minds with shadows and chimaeras, and their whole theory (which they think to be science), represents but a waking dream or a sick man's delirium.“ — Bennett hat ſchwerlich jemals ſelbſt Leptalis und Ithomia 2228 nun wur een Müller, Ituna und Thyridia. falter. Ebenſo ift die Aehnlichkeit der drei in gleicher Weiſe ſtinkenden Vettern Eueides Aliphera, Colaenis Julia und Dione Juno ſicher höchſtens zum kleineren Theile ererbt, wenigſtens zum größeren Theile aber nachträglich erworben. Ferner haben die kräftig ſtinkenden Eueides Isabella und Heliconius Euerate entweder einander oder gemeinſam die (von dem äußerſt ſchwachen, für uns meiſt kaum wahrnehmbaren Dufte der Männchen abgeſehen) für uns geruch— loſe Mechanitis Lysimnia nachgeahmt, und unter den zahlreichen Schmetterlingen, die den drei letztgenannten ähnlich genug ſind, um gelegentlich mit ihnen verwechſelt zu werden, befinden ſich auch Arten aus den Gruppen der Ithomiinen (Melinaea) und der echten Danainen (Lycorea). fliegen ſehen. Auch er nimmt offenbar an, wie Andere, die ähnliche Einwürfe gemacht haben, daß die Stammform von Leptalis weiß geweſen ſei. Daß ſie dies aller Wahr— ſcheinlichkeit nach nicht war, daß ſie vielmehr wahrſcheinlich ähnlichen Flügelſchnitt, ähnliche Zeichnung und Färbung beſaß, wie viele Ithomiinen, habe ich anderwärts nachzuweiſen verſucht (Jenaiſche Zeitſchrift, X, S. 1. 1876). Wenn es heute weiße Leptalis-Arten giebt, zum Theil gewöhnlichen Weißlingen (Pieris) ſo ähnlich, daß ſie von Boisduval als Pieris beſchrieben wurden (Leptalis Nehemia), ſo ſind dies Nachahmer von Weißlingen. Auch wenn man den Betrag der urſprünglichen Verſchiedenheit zwiſchen Leptalis und Ithomia möglichſt hoch anſchlägt und ihn vergleicht mit dem Betrag individueller Verſchiedenheit bei veränderlichen Schmetterlingsarten, wer— den einige Dutzend Zwiſchenformen mehr als genügen, die Lücke zu füllen, wobei ſchon die erſte dieſer Zwiſchenformen eine merkbare Annäherung an die geſchützte Art zeigen, alſo einen merkbaren Vortheil ihren Verfol— gern gegenüber haben wird. Man darf nicht außer Acht laſſen, daß es ſich eben nur um eine Maske, nicht aber um tiefgreifende Um— wandlungen des Baues handelt. — = —— ne ren —— ͤ — — Miller, Ituna In die Reihe dieſer Fälle nun, in welchen die beiden ähnlichen Arten gleich gut durch Unſchmackhaftigkeit geſchützt ſcheinen, gehören auch Tbyridia und Ituna. Erſtere gehört zu den Ithomiinen, von deren Ungenießbar— keit eben geſprochen wurde, letztere zu den Danainen, welche als Vorbilder nachahmen— der Arten eine ähnliche Rolle ſpielen in der alten Welt, wie die Ithomiinen in der neuen. Ja ſie trotzen noch nach ihrem Tode vermöge ihrer Ungenießbarkeit dem in Ge— ſtalt von Milben und ähnlichem Geſchmeiß verkörperten Zahne der Zeit. Mr. Raphael Mel do la legte im vorigen Jahr der Londoner entomologiſchen Geſellſchaft die letzten Reſte einer größtentheils durch Ungeziefer zerſtörten alten indiſchen Schmetterlingsſammlung vor. „Die überlebenden Stücke gehörten alle zu geſchützten Gattungen (Euploea, Danais und Papilio), was beweiſt, daß die Eigenſchaft, die dieſe Kerfe unſchmackhaft macht, in gewiſſem Grade auch nach dem Tode erhalten blieb.“ *) Was bedeutet nun dieſe Mimicry ge— ſchützter Arten? Welchen Vortheil kann es dem ſeltenen Eueides pavana bringen, der gemeinen Acraea Thalia jo wunderbar ähnlich zu ſein? Welchen Nutzen kann es überhaupt für zwei Arten haben, einander ähnlich zu ſein, wenn jede für ſich durch Ungenießbarkeit vor Verfolgung geſchützt iſt? — Offenbar gar keinen, wenn inſekten— freſſende Vögel, Eidechſen u. ſ. w. die Kenntniß der für ſie genießbaren und un— genießbaren Kerfe mit auf die Welt bringen, wenn ein unbewußtes Hellſehen ihnen ſagt, unter welchem Gewande ſie einen leckeren Biſſen zu verfolgen, unter welchem einen ekelhaften zu meiden haben. Wenn aber jeder einzelne Vogel erſt durch eigene Er— fahrung dieſe Unterſcheidung lernen muß, *) Nature, Vol. XVI, p. 155. — Kosmos 1, S. 442. Kosmos, III. Jahrg. Heft 2. Schmetterlingsfreſſer gen hat. und Thyridia. 107 ſo wird auch von den ungenießbaren Schmetter— lingsarten eine gewiſſe Zahl dem noch un— erfahrenen jugendlichen Nachwuchſe der zum Opfer fallen. Wenn nun zwei ungenießbare Arten ein— ander zum Verwechſeln ähnlich ſind, ſo wird die an einer derſelben gemachte Erfahrung auch der anderen zu Gute kommen; beide zuſammen werden nur dieſelbe Zahl von Opfern zu ſtellen haben, die jede einzelne ſtellen müßte, wenn ſie verſchieden wären. Sind die beiden Arten gleich häufig, ſo werden beide aus ihrer Aehnlichkeit den gleichen Nutzen ziehen; jede wird die Hälfte des Tributes ſparen, den ſie der jugend— lichen Unerfahrenheit ihrer Feinde zu brin— Iſt aber die eine Art häufiger, ſo wird ſich der Nutzen ungleich vertheilen, und zwar der verhältnißmäßige Vortheil, der für jede der beiden Arten aus ihrer Aehnlichkeit erwächſt, ſich umgekehrt ver— halten, wie das Quadrat ihrer Häufigkeit.“ ) ) Seien a, und a, die Zahlen zweier ungenießbaren Schmetterlingsarten in einem beſtimmten Bezirk während eines Sommers, und ſei n die Zahl der Schmetterlinge einer wohl unterſchiedenen Art, die im Laufe des Sommers verzehrt werden, bis deren Unge— nießbarkeit allgemein bekannt iſt. Wären die beiden Arten ganz verſchieden, ſo verlöre alſo jede n Stück. Sind ſie da— gegen ununterſcheidbar ähnlich, ſo verliert die aj n az n 1 + az a + 3% Der abſolute Gewinn durch die Aehnlich— keit iſt alſo für die erſte Art n — —— erſte 55 die zweite 4, N 8 r N : A N — — und ebenſo für die zweite — a, + az al + a2 Dieſer abſolute Gewinn, verglichen mit der Häufigkeit der Art, giebt als relativen Gewinn für die erſte Art Il = — a, + 42 1 } 108 Müller, Ituna und Thyridia. Mögen z. B. in einem gewiſſen Bezirke während eines Sommers 1200 Schmetter- linge einer ungenießbaren Art vertilgt wer— den, bis dieſe als ſolche erkannt iſt, und mögen daſelbſt 2000 von einer, 10000 von einer zweiten ungenießbaren Schmetter- lingsart leben. Sind ſie ganz verſchieden, ſo wird jede 1200 Stück verlieren; ſind ſie täuſchend ähnlich, ſo wird ſich dieſer Verluſt im Verhältniß ihrer Häufigkeit unter ſie vertheilen, die erſtere wird 200, die zweite 1000 verlieren. Erſtere gewinnt alſo durch die Aehnlichkeit 1000 oder 50 pCt. der Geſammtzahl, letztere nur 200 oder 2 PCt. ihrer Geſammtzahl. Während alſo die Häufigkeit der beiden Arten ſich ver— hält wie 1: 5, verhält ſich der Vortheil, den ſie von der Aehnlichkeit haben, wie 25:1. Handelt es ſich um zwei Arten, von denen die eine ſehr häufig, die andere ſehr ſelten iſt, ſo fällt der Vortheil ſo gut wie ganz auf Seite der ſeltneren Art. Wäre z. B. Acraea Thalia tauſendfach häufiger als Eueides pavana, ſo würde letztere einen millionenfach größeren Nutzen von der Aehnlichkeit dieſer beiden Arten haben, für Acraea iſt dieſer Nutzen ſo gut wie Null. So konnte Eueides pavana durch natür⸗ liche Ausleſe zu einer der gelungenſten Nach— ahmungen von Acraea Thalia herange— bildet werden, obwohl er eben ſo unſchmack— haft iſt, wie die nachgeahmte Art. Sind dagegen zwei oder auch mehrere ungenießbare Arten nahezu gleich häufig, ſo wird Aehnlichkeit ihnen nahezu gleichen Vortheil bringen, und jeder Schritt, den die eine oder andere in dieſer Richtung thut, wird durch natürliche Ausleſe erhal— ten werden. Sie werden einander entgegen kommen und man wird ſchließlich nicht ſagen können, welche von ihnen den ande— ren als Vorbild gedient hat. So erklären ſich jene Fälle, wo mehrere verwandte un— genießbare Arten, z. B. Colaenis Julia, Eueides Aliphera und Dione Juno ein— ander ähnlich ſind, wo dieſe Aehnlichkeit ſich nicht als ererbte auffaſſen läßt, und wo doch auch keine der Arten vorwiegende An— ſprüche zu haben ſcheint, den anderen als Vorbild gedient zu haben. Es dürften hierher auch Ituna und Thyridia gehören, wenn ſchon wahrſchein— lich Ituna die größere Strecke des Weges zurückgelegt hat, der von früherer Ver— ſchiedenheit zu ihrer jetzigen Aehnlichkeit ge— führt hat. Die Tyrik als paläontologiſche Weltanſchauung. Von Carl du Prel. (Schluß.) II. Die Naturformen. 7 ſchen Ausſprüche hat gezeigt, daß die anthropomorphiſtiſche , Weltanſchauung meiſtens zu— gleich anthropopathiſch iſt. Die erſtere iſt gleichwohl in vielen Fällen der äſthetiſchen Anſchauung ganz rein vorhanden, wie wir gleich ſehen werden, wenn auch als Regel angenommen werden muß, daß in der Naturbelebung durch die dichteriſche Phan⸗ taſie beide Arten von Symboliſirung auf— treten, Form und Inhalt der Dinge einander correſpondiren und als untrennbares Ganzes angeſchaut werden, wie ja auch die menſch— liche Empfindung ihren äußeren, formellen Ausdruck in Mienen und Geberden findet und davon getrennt nicht gedacht werden kann. So ſind auch die äußeren Natur- dinge keineswegs Gefäße, in welche die dichteriſche Phantaſie jeden beliebigen Em- | pfindungsinhalt gießen kann, ſondern es entſpricht derſelbe der äußeren Form der Dinge und wird durch dieſe beſtimmt. Die rein formaliſtiſche Symboliſirung iſt relativ ſelten, aber ſie iſt intereſſant, weil ſie das Bedürfniß des Poeten, in den Naturobjekten Anklänge an die menſchliche Geſtalt zu entdecken, als rein intuitiv kennzeichnet; eine reflektive Vergleichung würde — außer etwa in Naturſpielen — ſolche Anklänge gar nicht entdecken können. Die Formen der Natur- objekte enthalten für die Reflexion nicht nur keine Aufforderung zur Vergleichung, ſondern müßten bei ihrer thatſächlichen Unähnlichkeit mit der menſchlichen Geſtalt oder Theilen derſelben uns davon abhalten. Es beweiſt alſo auch die Thatſache der Symboliſirung äußerer Formen die Unabhängigkeit der äſthetiſchen Anſchauung von der Reflexion, welche, weit entfernt ein Hülfsmittel der⸗ ſelben zu ſein, ſie ſtören würde, ja ſie ſogar verhindern müßte. Es genügt für das Auge des Dichters die verticale Stellung eines hohen, lebloſen Gebildes, um an die aufrechte Geſtalt des 110 menſchlichen Leibes erinnert zu werden. So ſchildert Homer den Alkathoos, wie er den Idomeneus zum Kampfe erwartet: Sondern gleich einer Säul' und dem hoch— gewipfelten Baume Stand er ganz unbewegt. — (Il. XIII. 437.) und wie wenn ein Baum gefällt würde, heißt es ſodann: Dumpf hinkracht er im Fall. Denn ebenſo unwillkürlich erinnert die gefällte Baumleiche, die horizontale Lage eines von Natur aus aufrecht ſtehenden Gebildes, an die Menſchenleiche. So wird Euphorbos mit einem ſtattlichen Oelbaum verglichen: Aber ein ſchnell erdrückender Sturm mit ge— waltigen Wirbeln Reißt aus der Grube den Stamm, und ſtreckt ihn lang auf die Erde. (Il. XVII. 57.) Und ähnlich an anderen Stellen, z. B. 31 W 360, IV. 482 . So benutzt alſo die Phantaſie des Dichters den geringſten ihr gebotenen An— haltspunkt, um ſich auch rein äußerlich an die menſchliche Geſtalt erinnern zu laſſen, und immer erreicht er dabei den Zweck der plaſtiſchen Darſtellung, beſonders wenn die innere Beſeelung des Naturobjektes ſich ungezwungen damit verbindet. So ſagt Goethe: Stehen wie Felſen doch zwei Männer gegen einander! (Hermann und Dorothea.) Oſſian ſagt: Suaran der Sieger drang voran, Ihm ſtemmt ſich Cuchullin entgegen, So bricht ein Vorgebirg Gewölke; Der Wind umſpielt ihm den Fels, Kraftvoll ſtreckt es empor das Haupt. (Fingal I. 281.) Im Kampf bift ein Fels Du im Sturm. (Fingal VI. 229.) du Prel, Die Lyrik als paläontologiſche Weltanſchauung. Bei Ovid heißt es: Vorwärts ragt in das Meer ein Geklipp; Oben erſtreckt's rauhzackig die Stirn' in die offene Woge. (Metam. 22. 109.) Ja, er ſymboliſirt ſogar die bloße Un— beweglichkeit des Felſen, wenn er ſagt: Staunend vernahm die Mutter, wie ſtarrer Fels, die Erzählung. (Metam. 25. 169.) Aehnlich erzeugt auch Aeſchylus durch ein einziges maleriſches Epitheton eine ſehr feine landſchaftliche Stimmung, wenn er von einem „einſam ſinnenden Felſen“ — olo- Yyowv f — ſpricht; und ein ganz maleriſches Bild thut ſich dem Leſer auf, wenn Greif ſagt: Noch liegt auf den Bergen am Meere Vom Tag ein Schein, Weit draußen ſchläft in der Leere Ein Fels allein. Lenau ſagt: Graue düſtre Felſen ſah ich trotzig ragen Aus eines Thales ſtillen Finſterniſſen, Als wollten kühn den Himmel ſie verjagen, Dem ſie den Schleier vom Geſicht geriſſen. Abgründe, ihre Rieſengräber, lauern In ſicherer Geduld zu ihren Füßen. (Die Marionetten, der Gang zum Eremiten.) Daß dieſe Art, die Dinge anzuſchanen, tief in der menſchlichen Natur begründet und keineswegs ausſchließliches Eigenthum des Dichters iſt, beweiſt nicht nur die Em⸗ pfänglichkeit, die wir ſolcher anthropomor— phiſtiſchen Malerei entgegenbringen, ſondern auch die Umgangsſprache, die zahlreiche Be- ſtandtheile dieſer Art enthält. Wir ſprechen von Bergrücken, Meerbuſen, Flaſchenhals, Gletſcherzunge, Felſenhaupt, Felſenſchlund, Höllenrachen ꝛc. Mit Vorliebe findet die Phantaſie das menſchliche Auge in der Natur wieder. Bis in die älteſten Zeiten zurück finden wir die . —T—. — du Prel, Die Lyrik als paläontologiſche Weltanſchauung. Sonne als Auge bezeichnet. Im Rig-Veda Wenn hinter'm Erdball ſich das ſpäh'nde Auge Der Sonne birgt — (I. 115) heißt fie „Auge des Mitra“; fie wird vom Indra am Himmel empor ges | führt „weit zu ſchauen“. Heſiod nennt ſie das „weitſehende Auge des Zeus“ — navra Idwv Jıög Opsakuog =; bei den Germanen heißt fie „Wuotans Auge“. -Aeſchylos in einem Fragment nennt Helios den allſehenden — zravrorrtes — und im Prometheus ruft er die allſchauende Sonne an; bei Ovid heißt die Sonne oculus mundi und ähnlich bei verſchiedenen latei— niſchen und griechiſchen Dichtern. Auch Shakeſpeare ſpricht des Oefteren von einem Auge des Himmels (3. B. Richard II. 3. 2.). Bei Oſſian heißt es: Wann ſich ſchließen die Thore der Nacht Dem Adlerauge der Sonne. (Temora VII. 3.) und ein freundlicher Blick wird ihr beige— legt in den Worten: Die Sonne lacht auf blauer Bahn. (Barthona 405.) Heine ſagt: „Die Sonne lacht mit freundlichem Blick“, und wiederum: „Die Sonne grüßte verdroſſen herab“, oder: Wie ein Greiſenantlitz droben Iſt der Himmel anzuſchauen; Rotheinäugig und umwoben Von dem Wolkenhaar, dem grauen. So vergleicht ſich auch bei Ovid der einäugige Cyklop mit der Sonne: Einzeln leuchtet das Auge mir grad auf der Stirn, doch Umfang Hat's wie ein mächtiger Schild. Wie? ſchaut nicht Alles umher Sol Hoch vom Himmel herab? Sol ſchaut mit der einzelnen Rundung. (Metam. 54. 94.) Schiller ſchildert den Sonnenunter- gang: Des Tages Flammenauge bricht im ſüßen Tod. (Erwartung.) lichen Himmels entſprechen: 111 (Shakeſpeare, Richard II. III. 3.) Was den Mond betrifft, ſo braucht nur an die über die ganze Erde verbreitete Anſchauung über das Geſicht im Monde hingewieſen zu werden, oder an die der Namaqua, die den Mond für einen Men⸗ ſchen halten, der — wenn er abnimmt — Kopfweh hat und ſeine dunkle Hand an den Kopf legt, — eine Anſchauung, die ſich in zahlreichen Variationen bei vielen anderen Völkern findet. Das Mondgeſicht, weil rein anſchaulich aus dem Objekt ab— ſtrahirt, ſpielt denn auch in der Lyrik eine große Rolle, wobei die verſchiedenen Varia— tionen den wechſelnden Scenerien des nächt— Der Mond von einem Wolkenhügel Sah kläglich aus dem Duft hervor. (Goethe, Willkommen und Abſchied.) Mond, der Nacht tiefernſtes Auge, Das du klagend niederſchlägſt ꝛe. (Emil Taubert, Mond und Sterne.) Luna, ſolcher hohen Warte Weiten Umblick neid' ich dir; Sei auch der Entfernten helle, Aber äugle nicht mit ihr. (Goethe, Neue griechiſche Liebes-Skolien.) Helles Auge der Nacht, Immer reizeſt Du mich, freundliches Auge der Nacht, Wenn du durch das Gewebe, Das der Lindenbaum webt, freundliche Blicke wirfſt. (Hölty, Hymnus an den Mond.) Suarans Auge ſtrahlte daher, Des Himmels Vollmond gleich, Wann ſchwindend Gewölk ihn läßt Still und breit in Mitte der Nacht. (Oſſian, Fingal VI. 260.) Doch um zwölf bei Nacht, wenn der Mond hell lacht, Will ich Dich, Liebe, beſuchen. (Burns, Dein Wohlſein ꝛc.) 112 Sehr ſubjektiv ift Lenau, wenn er jagt: Am Himmel zieht der bleiche Mond verdroſſen Den Wolkenmantel zu, als ob er fröre. (Nächtliche Fahrt.) Heine hat ſehr verſchiedene Nüancen der Mondanſchauung: Aus herbſtlich dämmernden Wolkenſchleiern, Ein traurig todtblaſſes Antlitz, Bricht hervor der Mond. (Sonnenuntergang.) Und der Mond, der ſtille Lauſcher, Wirft ſein gold'nes Licht herein. (Bergidylle.) Daß auch die Sterne mit Augen ver— glichen werden, und dieſe mit Sternen, liegt ſehr nahe. Schon bei den Ariern heißt der Himmel „tauſendäugig“ — sahasrakscha — Alle Stern' in Lüften Sind ein Liebesblick der Nacht, In des Morgens Düften Sterbend, wenn der Tag erwacht. (Rückert.) Aus des Himmels Augen droben Fallen zitternd goldne Funken. Und ſie blinken, und ſie winken Aus der blauen Himmelsdecke. Doch oben aus dem dunklen Himmel ſchauten Herunter auf mein Grab die Sternenaugen. (Heine, Nachts in der Cajüte.) — Und ihr, hochſchauende Sterne, Die mir damals oft ſegnende Blicke gegönnt! (Hölderlin: Menons Klage.) Stern der ſinkenden Nacht, Warum blickſt auf die Erde du? (Oſſian, Lieder v. Selma 1.) So iſt denn auch das Wort Augenſtern in die Proſa übergegangen. Das menſchliche Antlitz, den der Phan— taſie vertrauteſten Theil des menſchlichen Körpers in der Natur wieder zu finden, knüpft dieſelbe überall an. Wir vermögen es nicht, dem Spiele der Wolken zuzu— r du Prel, Die Lyrik als paläontologiſche Weltanſchauung. ſchauen, ohne daß ſie in dieſer Weiſe thätig würde. Ungefähre Umriſſe und Punkte, welche annähernd der Stellung von Augen und Mund entſprechen, genügen oft. Es beruht wohl auf einer ſolchen Anſchauung eines rothwangigen Apfels, wenn Goethe ſagt: Früchte bringt das Lebeu dem Mann; doch hangen ſie ſelten Roth und luſtig am Zweig, wie uns ein Apfel begrüßt. Aehnlich Taubert: Du ſchauſt es nicht, wie hinter den Zweigen Schelmengeſichter die Aepfel zeigen. (Das Geheimniß der Form.) Wenn nun aber von den Wahrſagern bei den Fidſchi-Inſulanern berichtet wird,“) daß ſie eine Kokosnuß ſich im Wirbel drehen und eine Frage je nach der Richtung ent— ſcheiden laſſen, wohin das Auge der Nuß ſieht, ſobald ſie ruht, ſo zeigt ſich auch an einem fo kleinen Zuge die Verwandtſchaft der paläontologiſchen und der dichteriſchen Phantaſie. Das Fenſter einer Thurmruine blickt auf uns herab wie ein geblendetes Auge; Euripides ſpricht von einer „hohläugigen“ Felſenkluft, und bei Oſſian heißt es: Die Brauen gerunzelt im Zorn, Die Augen, wie Höhlen im Fels. (Carrig-Thura. 614.) Emil Taubert ſagt ſehr ſchön: Den wüſten Berghang freudenlos herab Schaut der verfallne Thurm ins Schluchtengrab; Ihm über Höhlenaugen ziehen finſter Zuſammen ſich die Brau'n von düſterm Ginſter. (Der verfallene Thurm.) Fenſteröffnungen überhaupt ſind ſehr geeignet, von uns gleich Augen angeſehen zu werden, ſo daß — von den geſchmackloſen Kaſernen der modernen Zeit abgeſehen — es nicht leicht ein Gebäude geben kann, dem ) Ty lor, Urgeſchichte, S. 168. du Prel, Die Lyrik als paläontologiſche Weltanſchauung. wir nicht eine Phyſiognomie leihen. Auch ſprechen wir von „Fenſteraugen“, während die Liebesſprache das Wort „Augenfenſter“ kennt, — ein Wort, das ſich auch bei Shakeſpeare findet, z. B. Wintermärchen I, 1, Richard III. V, 3. Solche Phyfio- gnomien werden je nach den beſonderen Ver— hältniſſen einen ſehr verſchiedenartigen Aus— druck haben: heiterlächelnd, ernſtblickend, ſchmerzlich oder albern verzogen, vom Berge herabgrüßend, verſtohlen winkend. Lenau ſagt: Dort das Hüttlein, ob es trutze, Blickt nicht aus, die Strohkapuze Tief ins Aug' herabgezogen. (Auf eine holländiſche Landſchaft.) — und noch andere Verſe finden ſich bei Lenau, die ſich nicht wohl anders erklären laſſen, als durch Fenſteraugen. Er nennt nämlich die Heidelberger Ruine „das fteinerne | Hohngelächter der Zeit“. Es iſt nicht ſchwer, auch bei Martin Greif auf einen ähn— lichen Entſtehungsproceß in der Strophe zu ſchließen, zu der ihn das gedrückte Ausſehen des Markusdomes in Venedig mit ſeinen düſteren Portalen veranlaßt: Doch ſtumm in den Dämmer gehüllet Zeigt ſich Sankt Markus' Dom Dem wogenden Menſchenſtrom, Als ſäh' er das Schickſal erfüllet. (Venedig.) Wie dagegen ein einzelnes Thor dem Dichter leicht die Anſchauung einer Mund— öffnung verleiht, zeigt ſich bei Taubert: Des Thores Rachen ſpeit im Sturmgebraus Ein kreiſchend flatterndes Gevögel aus, Des Hungers Boten, die mit ſchwarzem Flügel Beſchatten, Regenwolken gleich, die Hügel. (Der verfallene Thurm.) Allbekannt ſind die Verſe Schiller's: Wer wagt es, Rittersmann oder Knapp', Zu tauchen in dieſen Schlund? 113 Einen goldenen Becher werf' ich hinab, Verſchlungen ſchon hat ihn der ſchwarze Mund. (Der Taucher.) Geheimnißvoll über dem kühnen Schwimmer Schließt ſich der Rachen; er zeigt ſich nimmer. (Ebenda.) Wir werden aber dieſe Auffaſſung wieder erkennen, wenn wir von Wilden leſen, die an gefährlichen Flußſtellen dem Geiſte Opfer bringen. Wenn ſie in einem Waſſerſtrudel Gegenſtände, vielleicht auch Menſcheu, ver— ſchwinden und nicht wieder zum Vorſchein kommen ſehen, wird ihnen der Strudel zum Rachen des Waſſergeiſtes, dem ſie dem— gemäß opfern werden, wenn ſie an die Stelle kommen. Der gähnende Mund iſt weit geöffnet: Abſchüſſige Gründe Hemmen mit gähnender Kluft hinter mir, vor mir den Schritt. (Schiller, Der Spaziergang.) Und das Schifflein erklimmt ſie Haſtig mühſam, Und plötzlich ſtürzt es hinab In ſchwarze, weitgähnende Fluthabgründe. (Heine, Sturm.) Sehr anſchaulich iſt es, wenn Hölty ſagt: Darauf kroch ich zum Mundloch meiner Höhle. (Bardengejang.) und Shelley: Dort gähnte eine Höhlung und verjchlang In ihrer Schlüfte Windungen das Meer. (Alaſtor.) Shakeſpeare, ſehr kühn in ſolchen Perſonificationen, ſagt: Ich zeig' Euch des geliebten Cäſars Wunden, Die armen ſtummen Munde, heiße die | Statt meiner reden. (Julius Cäſar III. 2.) Jetzt prophezei' ich über Deinen Wunden, Die ihre Purpurlippen öffnen — (Julius Cäſar III. 1.) Es iſt aber wohl auf eine Felſen⸗ klamm zu ſchließen, wenn Lenau ſagt: Todesruhe deckt die Höhen, Die verlaſſnen Felſenklippen; Kein Geſträuch und keine Blume Auf des Abgrunds bleichen Lippen. (Cl. Herbert, Der nächtliche Gang.) Im „Gang zum Eremiten“ ſagt derſelbe: Dort bricht aus dornumſtarrtem Felſenmunde Ein Quell hervor, die bange Ruh' zu ſtören, Und brauſt hinunter in den offnen Schlund. Auch andere Theile des menſchlichen Körpers, Arme, Finger, Bauch, Nacken, Rücken ꝛc. finden wir in der Natur ſym— boliſch angedeutet: Es ſtiegen Nebelbilder aus den 181 Umſchlangen ſich mit weichen, weißen Armen. (Heine, Rateliffe.) Noch ſtreckte die Arme Weit um den Rand der Länder Die mächtige Amphitrite. (Ovid, Metam. 1. 9.) Eine hämoniſche Bruſt erſtreckt, wie die Sichel gerundet, Zwei vorlaufende Arme. (Ovid, Metam. 48. 9.) Noch viel wirkſamer finden wir dieſelbe Vorſtellung bei Homer, indem derſelbe zur Plaſtik noch die Beſeelung fügt: Mitten im Meere liegt ein kleines, felſiges Eiland, In dem Sunde, der Ithaka trennt und die bergichte Samos, Aſteris wird es genannt, wo ein ſicherer Hafen die Schiffe Mit zwei Armen empfängt. (Odyſſee, IV. 844.) Die Fluth zerbarſt Im Wechſelanprall an den knorrigen Wurzeln Gewaltiger Bäume, die die Rieſenarme Ausſtreckten über ihr in Finſterniß. (Shelley, Alaſtor.) Tannenbaum mit grünen Fingern Pocht ans niedere Fenſterlein. (Heine, Bergidylle.) Von der Erdoberfläche ſagt Schiller: Endlos liegt die Welt vor Deinen Blicken, Doch auf ihrem unermeſſ'nen Rücken du Prel, Die Lyrik als paläontologiſche Weltanſchauung. Iſt für zehen Glückliche nicht Raum. (Der Eintritt des neuen Jahres.) Es erinnert dieſer Ausdruck an eine unter den Wilden ſehr weit verbreitete An— ſchauung mit zahlreichen Variationen, von welchen Tylor!) Beiſpiele anführt. So glauben die Tonganeſen, daß Maui auf ſeinem ausgeſtreckten Körper die Erde halte, und es erfolge ein Erdſtoß, wenn er ſich in eine bequemere Lage zu drehen ſuche; ſie ſchlagen dann den Erdboden mit Knütteln, damit er ſtill liege. Und der Tag, der Triumphator, Tritt in ſtrahlend voller Glorie Auf den Nacken des Gebirges. (Heine, Atta Troll.) Die kühnſten Metaphern dieſer Art finden ſich wiederum bei Shakeſpeare, der ſogar Artefakte von dieſer Betracht— ungsweiſe nicht ausſchließt. Er ſpricht von den „Marmorkiefern“ der Gruft (Hamlet I. 4.), von den „Kieſelrippen dieſer trog’gen Stadt“ (König Johann II. 2.), von Geſchützen, die mit der Mündung „tödtlich gähnen“ (Heinrich V. III. Prolog), vom Winde, der „im Nacken der Segel ſitzt“ (Hamlet I. 3.) ꝛc. ꝛc. Derlei Fragmente anthropomorphiſtiſcher Betrachtungsweiſe der Natur finden ſich nun oft in den Mythologien weiter ausgeſponnen, oder auch organiſch vereinigt, wie — um nur ein Beiſpiel anzuführen — in der Verwand— lung des Atlas, wie ſie O vid ſchildert: Groß, wie er war, ward Atlas ein Berg. Sein Bart und das Haupthaar Wallen in Wäldern dahin; ) Felshöhen find Schultern und Hände, Was ſonſt Scheitel ihm war, ift oberſter Gipfel des Berges; Knochen erſtarren zu Stein. (Metam. 23. 43.) ) Anfänge der Cultur, I. S. 358. 0 Auch bei den Germanen heißt der Wald Erdhaar, z. B. in der älteren Edda XI. 29. — F Wollten wir immer mit auf uns ſelbſt gerichteter Beſonnenheit die Dinge betrachten, ſo würden wir uns auf zahlreichen Empfind— ungsfragmenten dieſer Art ertappen, die wir in die Anſchauung einſchmelzen, und wobei wir die Objekte entweder rein anthropomor— phiſtiſch oder zugleich beſeelend betrachten: Eine Tanne, die mit horizontalem Zweige über den Waldesrücken ſich erhebt, ſcheint befehlend einen Arm auszuſtrecken; ſtark ge— neigte Bäume ſcheinen zu fliehen, offenbar eine Erinnerung an die vorgebeugte Haltung fliehender Menſchen. Baumgruppen, auf der Böſchung eines Hügels, ſcheinen gegen den Gipfel hinaufzuſchwärmen, wobei die vorge— beugte Haltung ſogar lediglich auf Täuſchung beruht, indem die Stämme zur Thalſohle ſenkrecht, aber im Winkel zur Böſchung ſtehen, ſo daß ſie dem Gipfel ſich ſcheinbar zuneigen. Wie es ſcheint verdankt jene Gruppe von Tropfſteingebilden in der Adelsbergergrotte, Calvarienberg genannt, ihre Benennung dem gleichen Scheine, indem ſie ungefähr das Ausſehen den Hügel hinanſchwärmender Menſchen zeigt. Häuſerreihen auf ſtark ge— neigter Oberfläche ſcheinen herabzumarſchiren. Ein reichliches Material zur weiteren Ausführung des Geſagten würden wir ohne Zweifel der Sagenwelt, an Ort und Stelle ſtudirt, entnehmen können. Im Verlaufe der Zeiten werden dann ſolche Sagen mehr und mehr ausgeſponnen werden, gleich den Mythen, — ein Proceß, der ebenfalls ſchon inner— halb der Lyrik ſich ſehr oft angedeutet findet. III. Die Maturbeſeelung. Daß die perſonificirende Anſchauung, wo— mit wir die Dinge betrachten, keineswegs bloß anthropomorphiſtiſch im etymologiſchen Sinne des Wortes iſt, hat ſich ſchon in | mehreren der bisherigen Beiſpiele gezeigt. 1 du Prel, Die Lyrik als paläontologiſche Weltanſchauung. 115 Die dichteriſche Phantaſie beſchränkt ſich nicht darauf, die mehr oder weniger deutlichen Anklänge an die menſchliche Geſtalt oder Theile derſelben aus den Objekten heraus— zuſchauen, auch wäre ihr bei ſolcher Beſchränk— ung ein nur ſehr geringes Feld der Thätig— keit gegeben, da ſich ſolche Anklänge nur wenig zahlreich und wenig ausgeſprochen in den Objekten finden. Aber gerade wo die rein anthropomorphiſtiſche Anſchauung erſchwert iſt, gerade ſpröden Formen gegenüber, gelingt der Phantaſie die Perſonifikation am beſten, und zwar durch das äußerſt wirkſame Mittel der Beſeelung, daher denn die Dichter in der Schilderung unbelebter Naturobjekte aus— giebigen Gebrauch von dieſem Mittel machen. Niemand hat dieſen Proceß der äſthe— tiſchen Anſchauung ſchöner geſchildert, als Schiller: Wie einſt mit flehendem Verlangen Pygmalion den Stein umſchloß, Bis in des Marmors kalte Wangen Empfindung glühend ſich ergoß, So ſchlang ich mich mit Liebesarmen Um die Natur mit Jugendluſt, Bis ſie zu athmen, zu erwarmen Begann an meiner Dichterbruſt, Und, theilend meine Flammentriebe, Die Stumme eine Sprache fand, Mir wiedergab den Kuß der Liebe Und meines Herzens Klang verſtand. Da lebte mir der Baum, die Roſe, Mir ſang der Quellen Silberfall; Es fühlte ſelbſt das Seelenloſe Von meines Lebens Wiederhall. (Die Ideale.) Wenn wir es nicht vermögen, die Dinge auf ihre bloße Form hin anzuſchauen, ſondern ſie unwillkürlich beſeelen, ſo drängt ſich die Frage auf, ob das Subjekt den Seeleninhalt beſtimmt, oder das Objekt. In ſo ferne nun, als jeder Lyriker anders in die Welt ſchaut — worauf eben der unerſchöpflich Reichthum der Lyrik beruht — läßt ſich die Art der Kosmos, III. Jahrg. Heft 2. 16 116 Beſeelung allerdings dem Subjekte zuſchrei— ben; aber dieſe Verſchiedenheit der lyriſchen Anſchauung bezieht ſich weit weniger auf den Inhalt der den Erſcheinungen untergelegten Innerlichkeit, als darauf, ob und bis zu welchem Grade uns die Dinge ſeelenhaft erſcheinen. Wir ſind alſo doch wieder an das Objekt zurückverwieſen. Nun iſt aber abgeſehen vom ſeeliſchen Inhalte, der in der äſthetiſchen Anſchauung erſt ertheilt werden ſoll, das Objekt bloße Form. Die äußere Form der Dinge, oder allgemeiner geſprochen ihr äußerliches Anſehen, und — bei wechſeln— den Formen — ihr äußerliches Verhalten iſt es alſo, was uns eine correſpondirende Innerlichkeit hineinzulegen nöthigt. Und das iſt klar genug; denn ohne dieſes müßte ja einer jeden Form jeder beliebige Seeleninhalt ertheilt werden können, und bei dem Mangel einer Correſpondenz zwiſchen Aeußerem und Innerem könnte eine bloße Metapher dem Leſer eines Gedichtes niemals ein concretes Bild geben. Daß die Trauerweide ganz all- | gemein als Symbol der Trauer gilt, muß alſo aus ihren äußeren Formen ſo gut nach— weisbar fein, als es ohne Zweifel forma- du Prel, Die Lyrik als paläontologiſche Weltanſchauung. liſtiſch begründet iſt, wenn wir dem ſturm⸗ gepeitſchten Meere ſtürmiſche Empfindungen unterlegen. In der Naturbeſeelung decken ſich alſo die äußeren Formen der Dinge mit den ihnen untergelegten Empfindungen. Die Formen mögen ſtarr ſein oder veränderlich, immer ſind ſie uns der äußerliche Ausdruck eines geheimnißvollen Innern, das wir uns in menſchlicher Art vorſtellen, weil wir außer dieſer Analogie gar keinen anderen Maßſtab des Verſtändniſſes haben. Wir, deren Mienen und Geberden ſo innig verflochten ſind mit unſeren Seelenzuſtänden, daß das jeweilige äußerliche Verhalten unſeres Leibes bis in 8 durchgeiſtigt iſt, wir ſ — — N N 5 auch aus den Geſtalten der Naturobjekte und aus ihren Thätigkeiten, wenn ſie noch ſo leiſe an menſchliches Verhalten mahnen, die corre— ſpondirenden menſchlichen Empfindungen heraus. Kurz, weil unſere Leiblichkeit immer und ganz und gar der äußere Ausdruck eines ganz beſtimmten Innern iſt, ſo erſcheinen uns auch die lebloſen Dinge bis in die letzten Ausläufer ihrer Formen beſeelt. Dar— auf beruht die äſthetiſche Wirkung aller land- ſchaftlichen Objekte; auch lebloſe Dinge erfüllen wir mit Freud und Leid, mit Liebe und Haß, und dadurch erſt treten ſie uns äſthetiſch nahe. Es liegt auf der Hand, daß der vor— hiſtoriſche Menſch bei ſeinem gänzlichen Mangel an phyſikaliſcher Einſicht in die Vorgänge der Natur, und insbeſondere bei ſeiner faſt hilfloſen Abhängigkeit von ihren Vorgängen, dieſe Auffaſſung noch mehr beſitzen mußte, als wir. Es iſt ganz aus der Seele des primitiven Menſchen herausgeſprochen, wenn Schiller ſagt: Denn die Elemente haſſen Das Gebild der Menſchenhand. In dem Maße erſt, als der Menſch es erlernte, die ſogenannten unerbittlichen Kräfte der Natur zu benützen — was nur eben auf Grund ihrer unerbittlichen Geſetz— lichkeit geſchehen konnte — nahm die Natur auch eine wohlwollendere Phyſiognomie für ihn an. Erſt als er es verſtand, im Leben des Ackerbauers ihr abzuringen, was ſie ihm bei ſeinem früheren Nomadenleben nur ſehr launenhaft bot, wurde ihm die Erde die „nährende“, wie Homer ſie nennt. Wie der Menſch in ſeinen Göttern nur ſich ſchildert — das Wort der Bibel: „Gott ſchuf den Menſchen nach ſeinem Eben— bilde“ braucht nur umgekehrt zu werden, um richtig zu ſein —, wie ſich die moraliſchen und unmoraliſchen Empfindungen des Men— chauen ſchen in ſeinen Göttern in der Art finden, ne du Prel, Die Lyrik als paläontologiſche Weltanſchauung. daß dieſe dem durch Cultur beſſer gewordenen Menſchen immer erſt nachfolgten, und ſich gleichſam ein Beiſpiel an ihm nahmen, ſo fand der urſprüngliche Menſch auch in der Natur und ihren Thätigkeiten nur den Wider— hall ſeines moraliſchen Innern. Menſchen— feindlich, erbarmungslos und grauſam waren ihm die vernichtenden Kräfte der Natur; menſchenfreundlich, liebevoll die erhaltenden, die er erſt allmählig benützen lernte. iſt wie ein Zug aus der Paläontologie des menſchlichen Geiſtes, wenn ein ſerbiſches Volks— lied Gott den „alten Würger“ nennt, wie Lenau den Ocean, oder wenn wir andrer— ſeits in einem Epigramme des Leonidas Tarentinus leſen, wie Ariſtokles der Quelle, ſetzen der heidniſchen Prieſter, daß Bonifacius aus der er getrunken, ſeinen Becher mit den Worten weiht: „Freue dich, kühles, aus dem Felſen hervorſpringendes Waller!” *) Aus ſolchen Anſchauungen heraus ent— ſtanden vorerſt die mythiſchen, ſodann aber die frei gebildeten poetiſchen Perſonifikationen; bei den modernen Dichtern endlich iſt die mythiſche Grundlage dieſer Phantaſiethätigkeit kaum noch ſichtbar, und die Natur nicht mehr ausſchließlich in ihrem Verhalten zum Menſchen charakteriſirt, ſondern in ſelbſtſtändiger Weiſe als ein Weſen, das, gleich uns, mit Trauer und Schmerz, mit Freude und Sehnſucht, erfüllt iſt. In der Entwickelung der animiſtiſchen Welt— anſchauung repräſentiren die heutigen Wilden eine frühere Stufe, als die alten Griechen. Dieſelben Vorſtellungen, denen wir bei jenen in noch rohem Zuſtande begegnen, haben bei dieſen einen künſtleriſchen Niederſchlag von voll— endeter Schönheit in Dichtungen und Mythen erfahren, während die moderne dichteriſche Phantaſie ſich von der mythiſchen Grundlage ganz abgelöſt hat und durchaus frei ſchaltet. ) Eine reiche Sammlung von Berjonififa- tionen, insbeſondere aus griechiſchen Dichtern, enthält Henſe: die poetiſche Perſonifikation. Es 4 Verfolgen wir dieſen Proceß in aller Kürze an einem concreten Beiſpiele: In der primitiven Vorſtellung mußten den Bäumen und Pflanzen logiſcher Weiſe Seelen zuge— ſchrieben werden, wie den Thieren und Menſchen; gleich dieſen ſah man ſie wachſen und gedeihen und ſchließlich abſterben. Baum⸗ geiſter und Dämonen ſind geläufige Vor— ſtellungen bei den Wilden in Afrika, Aſien und Auſtralien. Die eigentlichen Baum— ſeelen wurden in Aſien ſchon frühe durch den Buddhismus verdrängt, der die Bäume lediglich als Wohnort von Devas oder Geiſtern betrachtet. Bei den Germanen erhielt ſich | dieſe Vorſtellung bis zum Auftreten des Chriſtenthums, und es geſchah noch zum Ent— die dem heſſiſchen Kriegsgotte geweihte Eiche fällte. Bei den Griechen iſt das Leben der Hamadryade nicht getrennt vom Baume; ſie empfindet Schmerz, wenn er verletzt wird, und ſtirbt mit ihm, — eine Vorſtellung, die Baſtian noch bei einem Medicinmann der Oſchibwäs fand: Es hat ſich alſo in der klaſſiſchen Poeſie eine der primitiven Anſchau— ung noch ſehr nahe Vorſtellung erhalten und ihren poetiſchen Ausdruck gefunden. Der Dualismus zwiſchen der Baumſeele und dem ihr lediglich als Wohnort dienenden Baume iſt noch ganz undifferenzirt in der Verwand— lung der Daphne zu einem Lorbeerbaume: Kaum war geendet das Flehn, und gelähmt erſtarren die Glieder. Zarter Baſt umwallet die wallende Weiche des Buſens, Grün ſchon wachſen die Haare zu Laub, und die Arme zu Aeſten; Auch der flüchtige Fuß klebt jetzt am trägen Gewurzel, Und ihr umhüllt der Wipfel das Haupt. (Ovid, Metamorphoſen V. 97.) Phaeton's in Bäume verwandelte Schweſtern vergießen Thränen, die als Bern— U 113 ftein ausfließen *) und die von Sol ver- laſſene Klytia härmt ſich auch noch als Blume ab: Obgleich an die Wurzel befeſtigt, Dreht ſie nach Sol ſich herum, und behält, auch verwandelt, die Liebe. (Ovid, Metam. XXI. 99.) Wir werden nun aber gewiß keine be— wußte Reminiscenz darin ſehen, wenn auch in der modernen Poeſie die Bäume ihr Haupt ſchütteln: Die Mitternacht war kalt und ſtumm, Ich irrte klagend im Walde herum; Ich habe die Bäum' aus dem Schlafe gerüttelt, Sie haben mitleidig die Köpfe geſchüttelt. (Heine.) — oder wenn ſie ſehnſüchtig die Arme aus— ſtrecken: Wie feierlich die Gegend ſchweigt! Der Mond beſcheint die alten Fichten, Die, ſehnſuchtsvoll zum Tod geneigt, Den Zweig zurück zur Erde richten. (Lenau.) Wir werden vielmehr ſagen, daß die Form der Objekte es iſt, welche die beſtimmte Art der Beſeelung dem Dichter abnöthigt, und können daraus entnehmen, daß auch die klaſ— ſiſche Mythologie mit den Objekten innig verſchmolzen, aus der Anſchauung derſelben herausgewachſen iſt, daß auch für die alten Dichter das Objekt ſeinen ſeeliſchen Inhalt ſelbſt beſtimmt hat. So wird alſo in der primitiven Anſchau— ung die Natur faſt nur in ihrem Verhält— niſſe zum Menſchen, als nützliches oder ſchädliches Weſen beſeelt; in der klaſſiſchen Poeſie erſcheint die Natur als dem Menſchen objektiv gegenüberſtehend und erreicht die Be— ſeelung eine künſtleriſche, wenn auch zum großen Theile religiös gefärbte Form; in der modernen Poeſie endlich ſchaltet die Phan— taſie frei. Es iſt ganz freie, nur durch ) Ovid, Metam. VII. 396. du Prel, Die Lyrik als paläontologiſche Weltanſchauung. das Objekt an ſich beſtimmte Thätigkeit der Phantaſie, mit der wir die Vegetation äſthe— tiſch betrachten, wenn uns ein ausgedörrter Acker zu lechzen, dagegen vom Regen er— friſcht erſcheint, wenn uns eine Tanne ſtolz emporzuragen, eine Trauerweide ſchmerzge— brochen dazuſtehen ſcheint. Die Phantaſie der Modernen enthält fragmentariſch noch dieſelben Anſchauungen, aus deren Verbindung den Alten ihre Mythologien allmälig zu— ſammenwuchſen; aber während bei den Alten die poetiſche und religiöſe Naturanſchauung ſich erſt zum Theile differenzirt haben, iſt ihre Trennung bei den Modernen vollzogen; ſie verbinden die Fragmente ihrer äſthetiſchen Anſchauung nicht in mythologiſcher Weiſe, ſondern zu einem ſelbſtändigen Naturbilde von einheitlich gehaltener Stimmung, wie etwa Lenau in der „Himmelstrauer“, oder in der „holländiſchen Landſchaft“. Darum begegnen wir bei den Modernen auch mancher Klage über den Verluſt der antiken Welt— anſchauung, z. B. bei Schiller in den „Göttern Griechenlands“ oder bei Lingg: - Flüſternd noch in Laub und Rohr Ringt die Natur nach lebendigem Wort, Möchte mit uns auch wieder, wie dort, Leben und reden und jauchzen und weinen. Ach, verſtummt iſt ihre Lippe; Fern am tauben Himmel zieh'n Die entſeelten Thiergerippe Leerer Sternenbilder hin. (Mondaufgang.) Arier, Griechen und Germanen, ſind in der Entwickelung der lyriſchen Weltanſchau— ung die vornehmſten Repräſentanten, — dieſelben Völker, denen es in der Cultur— geſchichte gegeben war, den philoſophiſchen Gedanken der Menſchheit zu entwickeln —, wenn auch dieſer Hauptſtamm im Verlaufe ſeines Wachsthums da und dort Seitenzweige von mehr oder minder ſelbſtändiger Form du Prel, Die Lyrik als paläontologiſche Weltan getrieben hat. Es iſt in der Richtung dieſes Hauptſtammes, daß die Natur manchmal in einem Dichtergenius zurückgreift. In Lenau ſcheint manchmal der primitive Menſch durch— brechen zu wollen, in Wordsworth weht uns oft der ariſche Geiſt an, und in dem unglück— lichen Hölderlin ſcheint uns ein alter Grieche erſtanden zu ſein, wenn wir etwa ſeinen „Empedokles“, den „Archipelagus“, oder „Hyperions Schickſalslied“ leſen. Wenn Moderne auf die mythologiſche Form zurück— greifen, ſo iſt es in den meiſten Fällen nur | künſtliche Galvaniſirung einer Leiche; aber ein von jeder Imitation leicht unterſcheid— | bares wirkliches Wiederaufleben des griechi— ſchen Geiſtes verräth ſich, wenn etwa Hölderlin ſagt: Wo biſt Du? Trunken dämmert die Seele mir Von allen Deinen Tönen; denn eben iſt's, Daß ich gelauſcht, wie, goldener Töne Voll, der entzückende Sonnenjüngling Sein Abendlied auf himmliſcher Leyer ſpielt'; Es tönten rings die Wälder und Hügel nach. Doch ferne iſt er zu frommen Völkern, Die noch ihn ehren, hinweggegangen. (Sonnenuntergang.) Wenn nun aber ein moderner Dichter durch den bloßen Anblick der untergehenden Sonne zu einer ſolchen Darſtellung gedrängt wird, ſo zeigt ſich darin deutlich, daß eben Mythologie und Poeſie aus der Naturan— ſchauung als ihrer gemeinſchaftlichen Wurzel entſpringen. Der Sonnendienſt wäre nie— mals entſtanden, wenn nicht der Anblick des Taggeſtirnes die wilden Völker in ähn— licher Weiſe angeregt hätte, wie den moder— nen Poeten; es wurzelt dieſer Cultus in derſelben Anſchauung, die einen Goethe von der „hocherlauchten Sonne“ (Trilogie der Leidenſchaft) reden läßt. Desgleichen iſt aber auch die häufige Sitte bei wilden Völkern, den Namen „Sonne“ als Ehren— titel ausgezeichneten Männern zu verleihen, rich IV. (Theil 1. III. 2.); und noch an⸗ ſchauung. 119 in Parallele zu ſtellen mit mehrfachen Stellen bei Shakeſpeare. So ſpricht er von der „ſonnengleichen Majeſtät“ in Hein— ſchaulicher heißt es in Heinrich VI. (Theil 2. III, 4 Bis auf dem Haupte mir der gold'ne Reif, So wie der hehren Sonne klare Strahlen, Die Wuth des tollerzeugten Wirbels ſtillt. Es iſt wie das Hereinragen des primitiven Menſchen in die hiſtoriſche Zeit, wenn wir leſen, daß Xerxes den Helleſpont peilſchen ließ; aber wenn uns ſolche Handlungsweiſe befremdend geworden iſt, ſo iſt es im Grunde doch nur das von unſerer naturwiſſenſchaft— lichen Bildung beeinflußte Gebiet des Han— delns, in dem ſich dieſe Vorſtellung nicht mehr geltend macht; innerhalb der bloßen Anſchauung des Objekts ſtimmt aber mit Kerxes auch der Dichter überein, der von dem „unſinnig wüthenden Bosporus“ — insa— nientem Bosporum*) — redet. Wir können das ſturmbewegte Meer nicht ſehen, ohne es in einer Weiſe zu beſeelen, wie es dem Tumulte der „blautaumelnden Wogen“ **) entſpricht, ohne es wie ein innerlich heftig bewegtes Weſen anzuſehen. Darum konnte auch Ver— gilius ein tief aufgeregtes Gemüth nicht beſſer ſchildern, als nach Analogie des wo— genden Meeres: Irarum tantos volvis sub pectore fluctus? (Wälzeſt du in der Bruſt ſo gewaltige Wogen des Ingrimms?) — ja, bei Ovid heißt es: Cumque sit hibernis agitatum fluctibus aequor Pectora sunt ipso turbidiora mari. (Und ſo ſehr auch das Meer von den Winter— fluthen bewegt wird, Iſt unruhiger doch immer mein Herz, als die See.) (Triſt. 1. 11. 31.) ) Horat. carm. 3. 4. 30. ) Oſſian, Barthona 198. 120 und Burns ſchildert die Bangigkeit ſchwan— kender Empfindungen mit den Worten: Furcht und Hoffnung wechſelweiſe, Gleichwie Ebb' und Fluth im Streit, Flüſtern um mein Lager leiſe Mir von ihm, der ach! ſo weit. („Sinnend an des Meeres Wellen.“) Einen ſchöneren und ſchmuckloſeren Ausdruck aber, als Göthe, hat Keiner gefunden: Seele des Menſchen, Wie gleichſt du dem Waſſer! Schickſal des, Menſchen, Wie gleichſt du dem Wind! (Goethe, Geſang der Geiſter.) In der Betrachtung des raſtloſen Trei— bens wogenden Meeres fühlt ſich alſo die Seele des äſthetiſchen Beſchauers in das Objekt in einer den wechſelnden Formen deſſelben entſprechenden Weiſe unbewußt hinein, die ihm eben darum bewußt als äußerer Ausdruck dieſes inneren Gehalts erſcheinen. Ein ,„willensfreies Erkennen“ — wie es Schopenhauer nennt — findet alſo in der äſthetiſchen Anſchauung nicht ſtatt, ja dieſe ganze Darſtellung iſt gegen jene Lehre gerichtet; nur der indi— viduelle Zwecke verfolgende Wille ſchweigt in der äſthetiſchen Anſchauung. Wenn wir ſie aber gegen das Ufer heranziehen ſehen, die Wogen des tiefauf— gewühlten Oceans, eine hinter der anderen, wie ſie ihre wildflatternden Schaummähnen in die Luft werfen, dann ſind ſie uns ganz der Ausdruck des ſeeliſchen Tumultes im alten Ocean. Im ſtürmiſchen Meere ſieht daher Homer immer das zutreffendſte Bild des Wogens einer Schlacht: Dieſe rauſchten daher wie der Sturm unbän— diger Winde, Der von dem rollenden Wetter des Donners über das Feld brauſt, Und graunvollen Getöſes die Fluth aufregt, daß ſich ringsum du Prel, Die Lyrik als paläontologiſche Weltanſchauung. | Thürmen die brandenden Wogen des weitauf— rauſchenden Meeres, Krummgewölbt und beſchäumt, vorn andre und andere hinten: So dort drängten ſich Troer in Ordnungen, andre nach andren, Schimmernd in ehernem Glanz, und folgeten ihren Gebietern. (Ilias XIII. 796.) An den Felſen des Ufers aber bricht ſich die Gewalt der Wogen; darum beſeelen wir jene auch mit dem Trotze, mit dem ſie ins Meer hinausragen. i Trotzige Felſen und Klippen umſtarrten das Ufer. (Odyſſee V. 405.) Und wenn die Homer iſchen Helden den Anprall des Angriffes zum Stehen bringen, ſo werden ſie mit Felſen verglichen, an denen ſich das Meer bricht, z. B. Ilias Ve 618. Nächſt dem Meere aber ſind es Feuer und Sturm, die dem Dichter noch ganz im Sinne der primitiven Weltanſchauung den Tumult des leidenſchaftlich erregten menſchlichen Herzens ſymboliſiren. Ja alle drei beweglichen Elemente nimmt Homer in ein Gleichniß zuſammen: Nicht ſo donnert die Woge mit Ungeſtüm an den Felsſtrand, Aufgeſtürmt aus dem Meer vom gewaltigen Hauche des Nordwinds; Nicht ſo praſſelt das Feuer heran mit ſauſen— den Flammen Durch ein gekrümmt Bergthal, wenn den Forſt zu verbrennen es auffuhr; Nicht der Orkan durchbrauſet die hochgewipfel— ten Eichen So voll Wuth, wenn am meiſten mit großem Getös er daher tobt: Als dort laut der Troer und Danger Stimmen erſchollen, Da ſie mit grauſem Geſchrei anwütheten gegen einander. (Ilias XIV. 394.) Dieſes „Nicht ſo — nicht ſo“, das die Unzulänglichkeit des Vergleiches betont, iſt du Prel, Die Lyrik als paläontologiſche Weltanſchauung. übrigens charakteriſtiſch für frühere Cultur— zuſtände und findet ſich, etwas abgeſchwächt, noch in einem ſerbiſchen Volksliede: Näſſer nicht von Meerſchaum iſt die Küſte, Als von Türkenblut die Czrnagora. Verbündet gegen den Menſchen, ſind ſich aber dieſe beweglichen Elemente gegenſeitig feindlich geſinnt. Seinen mythologiſchen Ausdruck findet dieſes bei Homer, bei welchem in einer der Schlachten vor Ilion, woran auch die Götter theilnehmen, der Feuergott den Flußgott bekämpft.“) Ein intereſſantes Beiſpiel, wie ſehr in der Sprache der Wilden die Anſchaulichkeit vorherrſcht, berichtet Livingſtone. Die Binnenlandneger, mit welchen er nach der Weſtküſte reiſte, ſchilderten, zurückgekehrt, ihre Ankunft am Meere mit den Worten: „Die Welt ſagte uns: ich bin zu Ende, weiter giebt es nichts von mir!“ Daß ein ſchifffahrtkundiges Volk die weite Meeres- fläche mit gleichen Augen anſchauen ſollte, iſt nicht zu erwarten; und doch lieſt es ſich wie ein in ein einziges Wort concentrirter Reſt dieſer Anſchauung, wenn Homer von dem „pfadloſen“ Meere redet. Die Beweglichkeit und Ruheloſigkeit des Waſſers iſt es aber zunächſt, die dem Wilden ins Auge fallen und ihn dazu drängen muß, es zu beleben. So bezeichnete noch jüngſt im Kriege mit den Aſchantis ein Einge— borner dem engliſchen Correſpondenten einen Fluß mit den Worten: „Das, Herr, viel lebendig Waſſer ſein; mit Zeit wir gehen werden quer über das.“ **) Wie die Quellen, ſo iſt auch das Meer bei den Alten „ſchlummerlos“; und ganz im antiken Geiſte ſagt Hölderlin: An ſeinen alten Ufern wacht und ruft das alte Meer. (Empedokles I. 200.) 9 Ilias, XXI. 342—356, **) Spencer, Sociologie I. 444. 121 | Seelenzuſtände der verſchiedenſten Art ſind es, die dem beweglichen Elemente des Waſſers von den Dichtern beigelegt werden. Ganz im Sinne der Anſchauungen, die uns von einem „majeſtätiſch“ durch die Ebene ziehenden Strome reden, heißt es auch bei Homer, dem die Waſſergötter noch ernſt— lich leben, wie den Wilden ihre Waſſergeiſter, und wie noch heute der Ganges bei den Hindus für heilig gilt: Denn du rühmſt dich entſtammt von des Stromes breitwallendem Herrſcher. (Ilias XXI. 186.) Und wie ſich die primitive Anſchauung ver— räth bei Homer, wenn der Fluß Skaman— dros dem die Troer verfolgenden Achilles „wüthend entgegenſchwillt“, ihn zur Flucht drängt und „mit dunkelnder Fluth ihm nachdrängt““) — So in Hunderten von Beiſpielen der modernen Poeſie. Die Be— lebung iſt ganz primitiv, wenn Goethe ſagt: ö Nach der Ebene drängt ſein Lauf Schlangenwandelnd. (Mahomed's Geſang.) — und die Beſeelung iſt primitiv bei Schiller: Brauſend ſtürzt der Gießbach herab durch die n Rinne des Felſen, Unter der Wurzel des Baumes bricht er ent— rüſtet ſich Bahn. (Spaziergang.) — bei Lenau: Das Bächlein, ſonſt ſo mild, Iſt außer ſich gerathen, | Springt auf an Bäumen wild, Verwüſtend in die Saaten. (Waldlieder, II.) insbeſondere aber bei Greif: Grün und böſe In's Getöſe Lauſcht die Woge ſtumm hinauf — Jetzo wühlt ſie weiß ſich auf. (Seelieder.) *) Il. XXI. 234. 248. 122 und in weiterer Ausführung bei Byron in feiner Beſchreibung der Cascata del marmore zu Terni: Gebrüll von Waſſern! Hoch vom Felſenſitz Kömmt der Volino durch die Schlucht geſauſt; Ein Sturz von Waſſern! Nieder ſchäumt, wie Blitz, Die weiße Maſſe, die den Abgrund zauſt! Hölle von Waſſern! drinnen heult und brauſt Und kocht die Fluth von ew'ger Qual gehetzt; Der Angſtſchweiß ihrer großen Folter krauſt Sich um die ſchwarzen Klippen, die benetzt“ Den Pfuhl umſtarren, ohn' Erbarmen, doch entſetzt, Und ſteigt vom Himmel und vom Himmel rinnt Er wieder abwärts, wie ein Wolkenſchooß, Und ſeine ſanften Regenſchauer ſind Ein ewiger April für Laub und Moos, Die ſind, wie Ein Smaragd. Wie bodenlos Der Pfuhl! Wie xaſend ſpringt die Rieſenkraft Von Block zu Block, und ihres Fußes Stoß Zermalmt die Felſen, die ſie mit ſich rafft, Bis dann im grauſ'gen Spalt der Schlund entgegen klafft. (Childe Harold. IV. 69 — 70.) So zeigt ſich die Art der Beſeelung immer in vollſtändiger Uebereinſtimmung mit der Beſonderheit der Formen des Objekts, bei wechſelnden Formen aber mit der Beſon— derheit, die ſich in den Veränderungen kund giebt, und der Schnelligkeit oder Langſam— keit, mit der ſie geſchehen, und alle Details der Erſcheinung wirken concentriſch zuſammen. Ein raſch dahinſchießendes Waſſer wird vom Dichter nicht in der gleichen Weiſe be— ſeelt werden, wie ein ruhig dahinfließendes, mag auch, vom Gefälle abgeſehen, die Er— ſcheinung ganz die gleiche ſein. der Veränderung iſt eben in der Beſeelung entſchloſſenem Handeln gleich, während um— gekehrt etwa ein Waſſer, das in mehrfach gewundener Linie dahinfließt, Unentſchloſſen— heit, Zweifel oder ſpielendes Verweilen aus- drückt. So ſpricht in der That Ovid von einem Fluſſe: Raſchheit du Prel, Die Lyrik als paläontologiſche Weltanſchauung. So wie in phrygiſchen Auen der lautere Fluß des Mäandros Scherzt, und in zweifelndem Laufe gekrümmt abfließt und zurückfließt; Selbſt begegnend ſich ſelbſt, erblickt er die kommenden Waſſer, Und nun gegen den Quell, nun gegen das offene Meer hin Treibt er die unentſchiedene Fluth. (Metam. 35. 9.) Als das charakteriſtiſchſte Beiſpiel entgegen— geſetzter Art läßt ſich wohl der Blitz be— trachten. Wenn wir dieſe Erſcheinung auf ihre Beſtandtheile hin analyſiren, ſo werden wir erkennen, daß der Feuerſtrahl allein es nicht iſt, der den primitiven Menſchen mit Furcht erfüllen mußte, ſondern auch die jähe Plötzlichleit des Erſcheinens — der wir ja den Ausdruck „blitzartig“ entnommen haben —, und das in dem beſtimmt gerichteten Feuerſtrahl ſich anſchaulich darſtellende Ziel— bewußtſein, worin die feindliche Entſchloſſen— heit des blitzſchleudernden Dämons und noch für die Griechen der erzürnte Sinn des Donnerers ſich kund gab. Es würde zu weit führen, wollten wir hier die allmälige Befreiung der poetiſchen Phantaſie von den enggezogenen Grenzen weiter verfolgen, wodurch der primitive Menſch faſt ganz auf die gefahrdrohenden und wohlthätigen Erſcheinungen der Natur eingeſchränkt wurde, und die Befreiung der— ſelben von den mythologiſchen Feſſeln, und ihre freie Entfaltung, dergemäß ſie nun ein ſo reichhaltiges Leben in der Natur ſich regen ſieht, ja für jede leiſe Stimmung der Seele ein Analogon in der Natur er— blickt. Der Nachweis der Verwandtſchaft zwiſchen paläontologiſcher und lyriſcher Welt— anſchauung darf der befreiten Phantaſie nur in den erſten Schritten folgen. Es ſei daher nur noch auf ein poe— tiſches Zwiſchenglied zwiſchen den paläonto— logiſchen und modernen Anſchauungen auf- merkſam gemacht, das ſich bei den Alten findet, nämlich die Uebertragung moraliſcher Eigenſchaften auf Artefakte. Wenn wir in den homeriſchen Geſängen leſen: Aber die Speere, von muthigen Händen ge— ſchleudert, Hafteten theils anprallend am ſiebenhäutigen Schilde, Viel auch im Zwiſchenraume, den Leib nicht erreichend, Standen empor aus der Erde, voll Gier im Fleiſche zu wühlen. (Ilias 11. 571. Vergl. 15. 314 u. 8. 111.) Ein Geſchoß fliegt gradan, nicht ſich ermüdend, Eh' es in menſchlichem Blut ſich geſättigt. (Ilias 20. 99.) Und der Speer, der ihm hinſauſt über die Schultern, Stand in der Erd' und lechzt', im menſchlichen Blute zu ſchwelgen. (Ilias 21. 69.) — ſo gewinnen wir das richtige Verſtänd— niß dieſer Poeſie erſt vom ethnographiſchen Standpunkte aus, und es iſt ja nicht nur in dieſem Punkte, daß die Ethnographie uns die homeriſchen Geſänge beleuchtet. Wie in ſo manchen Fällen, würden wir auch hier Unrecht haben, eine bloße poetiſche Redensart vorauszuſetzen, der nichts Wirk— liches zu Grunde läge. Was dieſer Vor— ſtellung zu Grunde liegt, iſt der Glaube an das wirkliche Belebtſein lebloſer Gegen— ſtände. Auf den Gräbern von Häuptlingen wurden nicht nur Frauen, Sclaven, Pferde und Hunde getödtet, damit ſie dem Verſtor— benen ins Jenſeits folgen ſollten, auch die Waf— fen wurden zerbrochen ins Grab gelegt, damit die dadurch frei gewordenen Geiſter ihm nach folgen könnten. Die Garos behaupten aus— drücklich, daß dieſe Gegenſtände unzerbrochen dem Verſtorbenen nichts nützen würden.“) ) Lubbock, Entſtehung der Civiliſa⸗ tion. S. 239. Kosmos, III. Jahrg. Heft 2. du Prel, Die Lyrik als paläontologiſche Weltanſchauung. 123 Wenn ferner die Pfeile bei Homer „jammerbringend“ heißen“) und das Schwert mit einem Blitze verglichen wird **), fo finden wir die Perſonification noch viel ausgeſprochener bei den Zulus, welche ihren Waffen Namen geben. Es wird von Keu— len berichtet, die Namen führten, wie: der Freſſer, der Gramverurſacher, der hungrige Leopard, der, welcher die Furten hütet ꝛc. und ähnlich bei den Neuſeeländern.“ “) Auch in der deutſchen Mythologie hat ja Thor's Hammer den Namen Miölniv, wie auch Cid's berühmtes Schwert Tizona hieß. Bei Oſſian iſt die homeriſche Anſchau— ung ſchon abgeſchwächt: Doch mir zittert mein Schwert bis zum Griffe wach, Wild ſich ſehnend zu füllen die Hand mir. (Carthon 119.) An Gal's Seite zittert das Schwert Und ſehnt ſich zu blitzen im Streite. (Oithona 89.) Die Belebung von Artefakten iſt übrigens bei den Wilden keineswegs auf Waffen be- ſchränkt, ſondern erſtreckt ſich auch auf Ar— beitsgeräthe.f) Die alten Griechen hatten ſogar einen eigenen Gerichtshof, der über lebloſe Gegenſtände verhandelte, wenn zufällig ein Menſchenleben durch ſie verloren ging; die Verurtheilten wurden ſodann unter feier- lichen Formen über die Grenze geworfen. ß) Den Modernen freilich iſt dieſe Vor— ſtellung ſo fremd geworden, daß Körner's Du Schwert an meiner Linken, Was ſoll dein heitres Blinken? alle Poeſie für uns verloren hat. Weil ſich für unſere Anſchauung das Artefakt gegen jede Beſeelung ſo ſpröde 9 Odyſſ. 21. 12. ) Ilias, 14. 386. r), Tylor, Anfänge der Cultur I. 300. 7) Lubbock, Entſtehung der Civiliſa— tion. S. 239. ) Tylor, Anfänge der Cultur I. 283. 17 l | 124 du Prel, Die Lyrik als paläontologiſche Weltanſchauung. verhält, vermeidet es der Dichter inſtinktiv, es als Vergleichungsobjekt zu benützen. Wenn, wie ſich gezeigt hat, die poetiſche Darſtellung des Unorganiſchen darauf be— ruht, daß es vom Dichter organiſirt, alſo um eine Stufe höher geſtellt wird, und hierdurch anſchaulich und verſtändnißvoll für unſere Phantaſie wird, ſo begreift es ſich, daß die gleiche Wirkung nicht durch den umgekehrten Proceß erzielt werden kann: Die Vergleichung organiſcher Objekte oder organiſcher Bewegungen mit unorganiſchen iſt unpoetiſch für uns, denen die Unter— ſcheidung des Lebenden und Lebloſen ſchon ſo ſehr in Fleiſch und Blut übergegangen iſt, daß die dem Unorganiſchen entnomme— nen Vergleichungsobjekte nicht ſchon in ihrer Benennung beſeelt gedacht werden, ſondern die Beſeelung erſt erfordern und die Phan— taſie nöthigen, den Schritt nach abwärts wieder hinaufzuthun, um dann doch nur wieder auf dem Niveau ſich zu finden, auf dem fie vorher ſchon geweſen. Sie ver— geudet daher ihre Kraft dabei, ohne an Anſchaulichkeit und Verſtändniß zu gewinnen. Von allen unorganiſchen Objekten iſt aber das Artefakt dasjenige, das ſich am wenigſten zum Vergleiche eignet, weil uns dieſe Fähigkeit, es zu beſeelen, abhanden gekommen iſt. Man muß ſchon ein großer Poet ſein, um über dieſe Schwierigkeit hinweg— zukommen, wie es z. B. Lenau verſucht, wenn er vom Lenze ſagt: Er zieht das Herz an Liebesketten Raſch über manche Kluft, Und ſchleudert ſeine Singraketen, Die Lerchen, in die Luft — in welchen Zeilen zwar das innere Ver— ſtändniß der Erſcheinung nichts weniger als gefördert, aber wenigſtens die Anſchau— lichkeit derſelben geſteigert wird. Wenn da— gegen Rückert in längerer Durchführung — —àä—ñ— den Himmel einen Brief nennt, in den Sternen den geheimnißvollen Inhalt, in der Sonne aber das große Siegel deſſelben ſieht, ſo iſt das eben Nichts als ein trockener Vergleich, bei dem alle Poeſie in die Brüche geht. Im Bisherigen ſind nun die nöthigen Anhaltspunkte dafür gewonnen worden für die Beantwortung der Frage, warum denn mit unſerem Denken die Anſchauung ſo innig verknüpft iſt, daß das Verſtändniß gleichen Schritt mit der Anſchaulichkeit hält. Ohne Zweifel haben wir darin eine Dis— poſition des menſchlichen Geiſtes zu erken— nen, die durch Jahrtauſende ſo ſehr be— feſtigt iſt, daß ſie die moderne Vorſtellung, welche die Erſcheinungen auf Naturkräfte zurückführt, ſelbſt innerhalb der Reflexion nur bis zu einem gewiſſen Grade zur Geltung kommen läßt, aber immer hervor— bricht, ſobald der Geiſt dem freien Spiele ſeiner Kräfte überlaſſen bleibt. Man braucht kein Dichter zu ſein, um an ſich ſelber das zu erkennen. Ein Spaziergang durch Wald und Feld, durch Thäler und über Berge würde uns nicht mehr Genuß bieten, als eine Unter— richtsſtunde über die den Erſcheinungen zu Grunde liegenden Kräfte, wenn nicht die moderne Vorſtellung nur an der Oberfläche unſeres Verſtandes haften, aber deſſen eigent— liche Natur intakt laſſen würde; wenn wir es alſo nicht als eine Erleichterung empfinden würden, die Dinge in einer Weiſe anzu— ſchauen, wie es trotz aller reflektiven Bild— ung in unſerer Natur ſteckt. Auf dieſer wohlthuenden Erleichterung beruht aller äſthetiſcher Genuß, wenn er auch dadurch noch keineswegs erſchöpft wird. Die äſthetiſche Darſtellung iſt immer beſtrebt, eine anſchauliche Darſtellung zu ſein, und geht darin ſogar ſo weit, mit der Reflexion ſich in Widerſpruch zu ſetzen, re wenn die Anſchaulichkeit nicht anders zu erreichen iſt. Und mit Recht. Es wird uns auch gar nicht beifallen, etwa einen Dichter, der vom Himmels gewöl beſpricht, an Kopernikus zu verweiſen. Wir werden uns eben ſo wenig auf den Standpunkt der Naturwiſſenſchaft ſtellen, wenn Hölderlin vom Regenbogen, den die Mythe überdem in einer Blume (Iris) perſoniſicirt, ſagt: . Und wie auf dunkler Wolke beſänftigend Der ſchöne Bogen blühet — (An die Prinzeſſin Auguſte.) oder wenn wir bei Greif leſen: An der ſchönſten Ruheſtatt .. Kam das erſte welke Blatt Geſtern, ach! mir nachgelaufen. (Das erſte welke Blatt.) Beide Ausdrücke ſind ſchön, weil ſie — und darauf allein kommt es an — das Bild bezw. den Vorgang ſehr ſinnlich dar— ſtellen. Würde der Dichter nicht nach dem Augenſcheine darſtellen, ſo wären wir auch nicht befähigt, das von ihm angeſchaute Bild in congruenter Weiſe mühelos zu reprodu— ciren, — und darauf ſoll doch beim Dich— ter Alles hinzielen: die Wortſtellung, der Reim, und die Worte ſelbſt, die er wählt. Alle Bilder und Metaphern, deren er ſich bedient, entſprechen nur darum unſerem Be— dürfniſſe ſo ſehr, weil ſie uns die an unſere Phantaſie geſtellte Anforderung der Repro— duktion erleichtern.“) Dieſe Anſicht erhält eine ſehr erhebliche Stütze durch die Erwägung, daß ſo die reflektive und die künſtleriſche Thätigkeit des menſchlichen Geiſtes von der gleichen pſycho— logiſchen Baſis aus ſich erklären. Wenn ) Vergl. den intereſſanten Aufſatz von Moritz Nachelos: Zwei lyriſche Antipoden. Deutſche Romanzeitung 1879. Nr. 25 u. 26. du Prel, Die Lyrik als paläontologiſche Weltanſchauung. 125 ſich nämlich erſt jüngſt in einer Unterſuch⸗ ung ganz anderer Art“) gezeigt hat, daß das menſchliche Denken in der Bildung und allmählichen Vereinfachung von Hypotheſen das Princip des kleinſten Kraftmaßes an— zuwenden ſucht, bis diejenige Hypotheſe er— reicht iſt, in welcher ſich die in der Realität gegebene Entwickelung in der Linie des ge— ringſten Widerſtandes ideell wiederholt, ſo zeigt ſich nun, daß auch in der Poeſie die— jenige Darſtellung die beſte iſt, durch welche die Reproduktion nach dem Princip des ge— ringſten Kraftmaßes ermöglicht wird. Wiſſen— ſchaft und Kunſt haben inſofern in der That eine gemeinſchaftliche Baſis. Alle reflektive Bildung unſeres Zeit— alters hat es noch nicht zu Stande gebracht, die Cauſalität ſo verſtändlich zu machen, als es uns die Motivation iſt, wie es auch ganz erklärlich iſt; denn wenn die Moti- vation nach Schopenhauer's treffendem Ausdruck die Cauſalität von Innen geſehen iſt, ſo iſt eben die Cauſalität nur die äußere Schale. Inneres Verſtändniß der Erſchein— nungen wird nur dann geboten, wenn alle Cauſalität auf Motivation zurückgeführt wird, d. h. wenn die Vorgänge und Ver— änderungen der Natur uns ſo geſchildert werden, wie es durch den Dichter geſchieht. Alle Cauſalität erweckt nur ein ſcheinbares Verſtändniß, weil die natürlichen Kräfte, auf welche die Erſcheinungen wiſſenſchaftlich zurückführbar find, ganz und gar väthjel- haft bleiben, und nur demjenigen verſtänd— lich zu ſein ſcheinen, dem eben die Räthſel verſchwinden, ſobald ſie nur zurückgeſchoben werden. Innig vertraut iſt uns nur die Moti⸗ vation; das einzige Gebilde der Natur, das dem Menſchen verſtändlich iſt, iſt eben doch nur der Menſch; mit keiner Erſcheinung, ) Kosmos, Bd. IV, S. 251—259. . a an, 126 äußerlich wie innerlich, find wir jo vertraut, wie mit der menſchlichen Geſtalt und der menſchlichen Seele. Wenn alſo der Dichter die Form der Dinge unſerem Auge der Phantaſie möglichſt vorſtellbar machen will, ſo ſchildert er anthropomorphiſtiſch; wenn er das innere Weſen der Dinge uns vor— ſtellbar machen will, ſo ſchildert er anthro— popathiſch. Im erſteren Falle ſucht er an den Dingen eine Analogie mit der menſch— lichen Geſtalt, im zweiten Falle beſeelt er fie menſchlich. In beiden Fällen aber er- weckt er in uns das Bild nach dem Princip des kleinſten Kraftmaßes. Wie ſchon geſagt, ſoll damit nicht der äſthetiſche Genuß als ſolcher erklärt werden. Dieſes kann eine Erklärung nicht leiſten, welche die identiſche Seite von wiſſenſchaft— licher und poetiſcher Betrachtung hervor— kehrt. Die Schönheit eines Gedichtes kann nicht auf demſelben Princip beruhen, wie die Eleganz einer mathematiſchen Löſung oder die verblüffende Einfachheit der Ne— bularhypotheſe. In den beiden letzteren Fällen beruht der eigenthümliche Genuß auf der Klarheit des Verſtändniſſes, während am äſthetiſchen Genuſſe unſer Gefühl be— theiligt iſt, und etwas Unſagbares, durch die Nerven Rieſelndes in unſerem Inneren vorgeht, was nur identiſch ſein kann mit dem, was beim Myſtiker durch die pan— theiſtiſche Verſenkung in die Gottheit er— eee e 1 du Prel, Die Lyrik als paläontologiſche Weltanſchauung. weckt wird. In beiden Fällen iſt es der innerſte Kern des Menſchen, der in tiefer aber undefinirbarer Weiſe erregt wird; in beiden Fällen auch iſt die Phantaſie die Vermittlerin. Nur innerhalb dieſes Vermittelungs— proceſſes geht es an, die äſthetiſche An— ſchauung gleich der wiſſenſchaftlichen Erkennt— niß auf das Princip des kleinſten Kraft— maßes zurückzuführen, nicht aber, um die Wirkung des äſthetiſchen Proceſſes in der Gefühlsſphäre zu erklären. Wenn aber für unſere Phantaſie die automorphe Vorſtellung die das geringſte Kraftmaß erfordernde iſt, ſo erhellt daraus von ſelbſt, daß dieſe automorphe Vorſtell— ung die des primitiven Menſchen ſein mußte, weil ſeine Geiſteskräfte für eine andere nicht hinreichten, d. h. weil er nur die haben konnte, die das geringſte Kraft— maß des Geiſtes erforderte. Mit dieſer Weltanſchauung alſo mußte die Menſchheit beginnen, und in dieſer lag die äſthetiſche und wiſſenſchaftliche Betrachtung noch un- differencirt beiſammen. \ So wirft alfo die Analyſe der lyriſchen Weltanſchauung ein helles Licht auf die Mythologie, die, weit entfernt, als das Reſultat einer willkürlichen Phantafiethätig- keit zu erſcheinen, ſich vielmehr als ein noth— wendiges Produkt eines früheren Geiftes- zuſtandes ergiebt. Geographie und Geologie. In der Sitzung der engliſchen Geſell— ſchaft für Erdkunde vom 24. März 1879 hielt Prof. Geikie eine Rede über die Entwickelung der Geographie als Wiſſenſchaft, aus welcher wir nach einem Auszuge der engliſchen Zeitſchrift Nature (Nr. 491 p. 490) folgende Einzelheiten entnehmen. Für die künftige Entwickelung der wiſſenſchaftlichen Erdkunde, ſagte er, wird eine ihrer Haupt-Fortſchrittslinien in der Richtung einer engeren Verbindung mit der Geologie liegen. Die Beſchreibungen der verſchiedenen Länder der Erdkugel werden eine Ueberſicht einſchließen, auf welche Weiſe ihre gegenwärtigen Umriſſe ins Daſein traten und wie ihre Pflanzen und Thiere eingeführt und darüber vertheilt wurden. Die Principien, auf welche die entwickelungs— geſchichtliche Geographie begründet werden ſoll, haben Rückſicht zu nehmen auf die Stoffe, aus welchen das Gebäude des Feſt— landes beſteht, auf die verſchiedenen Wege, in denen dieſe Stoffe zu der feſten Rinde der Erde aufgebaut wurden, und auf den Oberflächen-Wechſel, dem fie nach und nach ausgeſetzt geweſen ſind. Das Material des Landes beſteht hauptſächlich aus dem allmäh— lich feſtgewordenen Detritus, welcher, weg— geführt von früher vorhandenen irdiſchen Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Oberflächen, in der See niedergeſunken iſt. Daher hat das Land, wie wir es nunmehr ſehen, unter dem Waſſer ſeinen Urſprung gefunden. Aber der gewöhnliche Glauben, daß über dem ganzen Erdball Land und Meer fortwährend ihren Platz gewechſelt hätten, und daß weite Continente ſogar über der Gegend der tiefſten Abgründe des Oceans geblüht haben ſollten, kann durch eine Betrachtung der ſedimentären Geſteine des Landes auf der einen Seite und der Abſätze des Seebodens auf der anderen als ungenau erwieſen werden. Die ſedi— mentären Geſteine, ſogar der ſehr maſſiven paläontologiſchen Formationen, welche die Tiefe mehrerer (engl.) Meilen erreichen, ſind aus der Zerſtörung des Landes her— vorgegangene Seicht-Waſſer-Bildungen und ſtets indeſſen Nähe abgeſetzt. Nirgends unter ihnen (ſogar die dicken Kalkſteinſchichten organiſchen Urſprungs, wie die Kreide, ein- geſchloſſen) giebt es irgend eine Formation, welche von uns als eine Bildung der Tiefſee betrachtet werden dürfte. Neuere Unter⸗ ſuchungen über die Natur des Seebodens quer durch die großen Meeresbecken haben gleicherweiſe gezeigt, daß die dort in Yort- gang befindlichen Abſätze keine wirkliche Analogie mit den Felſen des Landes dar— bieten. Der Schluß daraus wäre, daß die großen Seebecken allezeit exiſtirt haben, und daß ſich die Erdgebiete im allgemeinen BER 128 ebenfalls in derjenigen Richtung erſtreckt haben, in der ſie noch vorhanden ſind. Die Weiſe in welcher die ſedimentären Geſteinsſchichten aufgerichtet und unregel— mäßig übereinander gebracht worden ſind, zeigt, daß der Randſtreifen des Seebodens in der Nähe des Landes wieder und wieder aufgehoben und niedergebracht (worn down) worden iſt. Die Meerbecken ſcheinen von ſehr früher Zeit her Senkungsgebiete ge— weſen zu ſein, während die continentalen Erhebungen durch die Gewalt der Erdcon— traktion entſtandene Reliefſtreifen ſind. Das Land iſt periodiſchen Erhebungsbewegungen unterworfen geweſen, die mitunter von großer Heftigkeit waren, wodurch nicht allein weite Seeboden-Gebiete als Land erhoben, ſondern auch Bergkettenlinien als gewaltige Erd— wellen aufgerichtet wurden. Während dieſer Bewegungen wurden große Veränderungen in der Struktur und Anordnung der Ge— ſteine in den betroffenen Gebieten hervor— gebracht, urſprünglich ſedimentäre Maſſen wurden kryſtalliniſch gemacht und ſogar in einen ſolchen teigigen oder flüſſigen Zu— ſtand verwandelt, daß ſie in Riſſe der darüberliegenden feſteren Geſteine hinein— gepreßt werden konnten. Vulkaniſche Krater wurden gleicherweiſe eröffnet, wodurch eine Verbindung zwiſchen dem heißen Innern und der Oberfläche hergeſtellt wurde. Die bezüglichen Daten dieſer aufeinanderfolgen— den Störungen können befriedigend durch geognoſtiſche und paläontologiſche Beweis— mittel beſtimmt werden. Die Geſchichte des allmählichen Wachs— thums des europäiſchen Continents liefert | manche intereſſante und lehrreiche Iluftra- | tionen zu den Grundſätzen, nach welchen die entwickelungsgeſchichtliche ausgearbeitet werden muß. Das früheſte europäiſche Land ſcheint im Norden und Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Geographie, Nordweſten eriftirt zu haben, Skandinavien, Finnland und den Nordweſten des britiſchen Gebietes umfaſſend, und ſich von da durch nördliche und arktiſche Breiten bis Nord— amerika ausgebreitet zu haben. Von der Höhe und Maſſe dieſes urſprünglichen Lan— des kann man ſich, durch Würdigung der enormen Erdmaſſen, die von ſeiner Abtrag— ung gebildet wurden, eine Idee machen. In den ſiluriſchen Formationen der briti— ſchen Inſeln allein iſt eine von jenem Lande abgewitterte Geſteinsmaſſe enthalten, welche eine von Marſeille bis zum Nordkap ſich erſtreckende Bergkette bilden könnte, in einer Ausdehnung von 1800 engliſchen Meilen, einer mittleren Breite von über 33 Meilen und einer über den Montblanc hinaus⸗ gehenden mittleren Höhe (16000 Fuß). Die ſiluriſche See, welche ſich quer über Central-Europa bis Aſien erſtreckte, unter— lag in einigen Gegenden gegen das Ende der ſiluriſchen Epoche großen Störungen. Sie wurde zu einem Lande, welche viele Binnenſeen einſchloß, erhoben; die Gebiete einiger derſelben ſind noch heute quer von den britiſchen Inſeln nach Skandinavien und Weſtrußland verfolgbar. Eine inter— eſſante Reihe geographiſcher Veränderungen, während welcher die Seen des alten rothen Sandſteins verſchwanden, kann verfolgt werden; das Meer, welches allmälig den größten Theil Europas überzog, wurde endlich ausgetrocknet, und die Lagunen und Marſchländereien bedeckten ſich mit der dichten Vegetation, der wir unſere Stein— kohlenlager verdanken. Spätere Erdbeweg⸗ ungen veranlaßten die Bildung von Bitter— ſeen, wie ſolche im Südoſten Rußlands noch beſtehen, quer durch das Herz Europas. Aufeinanderfolgende Hebungen und Senk— ungen führten die offene See wieder und wieder quer über den Continent, und gaben Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. der Schichtenanhäufung ihren Urſprung, aus welcher der größte Theil ſeiner gegenwärtigen Oberfläche beſteht. Ju dieſen Bewegungen kann das Wachsthum der Alpen und an— derer herrſchender Erhebungslinien mehr oder weniger beſtimmt verfolgt werden. Es war jedoch erſt am Schluſſe der Eocän— Periode, als die großen Störungen Platz griffen, denen die Gebirge Europas haupt— ſächlich ihre gegenwärtigen Dimenſionen ſchulden. In den Alpen ſehen wir, wie dieſe Bewegungen zu der Faltung und Ver— werfung weiter Maſſen feſter Geſteine führ- ten, die in geologiſcher Beziehung nicht älter ſind, als der nachgiebige Thon, auf welchem London ſteht. Beträchtliche Erheb— ungen haben nachträglich in miocänen Zeiten die Alpenketten beeinflußt, während in noch ſpäteren Zeiten die italieniſche Halbinſel durch die Erhebung ihrer ſubapenninen Ketten verbreitert wurde. Die Spuren auf— einanderfolgender Perioden vulkaniſcher Thätigkeit während dieſer langen Reihe geologiſcher Veränderungen find häufig und mannigfach. Gleichzeitig haben wir die Be- weiſe für das Erſcheinen und Verſchwinden aufeinanderfolgender Floren und Faunen, jede ohne Zweifel ihrer Zeit mit demſelben Gepräge des Alters und der Dauerhaftig— keit, welches wir naturgemäß derjenigen unſerer Zeit zuſprechen. Das Geſetz des Fortſchritts iſt nicht weniger als bei Pflanzen und Thieren auch für die Oberfläche des Planeten, welchen ſie bewohnen, ſelbſt wirk— ſam geweſen. Es iſt das Gebiet des Bio— logen, der einen Reihe der Veränderungen nachzuſpüren, dasjenige des Geologen, die andere zu erforſchen. Der Geograph pflückt von beiden die Thatſachen, welche ihn in den Stand ſetzen, die jetzigen Erſcheinungs— formen der Natur mit denjenigen zu ver— binden, aus denen ſie hervorgegangen ſind. 129 Der polare Urfprung des Lebens. In der Sitzung der Londoner königl. Geſellſchaft vom 30. November 1878 gab Sir Joſeph Hooker eine Ueberſicht der Fortſchritte, welche die Wiſſenſchaft während ſeiner fünfjährigen Präſidentſchaft gemacht hat, und ging dabei u. A. näher auf eine Arbeit ein, welche der Graf Gaſton de Saporta vor einigen Jahren unter dem Titel L'ancienne vegetation po— laire veröffentlicht hat. Der franzöſiſche Paläontolog hat darin eine Idee Buffon's weiter ausgeführt und weiter begründet. In ſeinen Epoques de la Nature be— hauptete Buffon, daß, ſofern die Ab— kühlung der Erdkugel ein allmählicher Proceß geweſen ſei, die Polargegenden die erſten geweſen ſein müßten, in denen die Hitze hinreichend gemäßigt wurde, um Leben her— vortreten laſſen zu können und daß, wäh— rend die anderen Regionen noch zu heiß waren, um organiſchen Weſen den Urſprung zu geben, eine lange Periode verfloſſen ſein möchte, in welcher die nicht länger glühen— den nordiſchen Regionen ungefähr dieſelbe Temperatur gehabt haben mögen, welche die heißeſten Gegenden der Tropen jetzt be— ſitzen. Von dieſer Theſis ausgehend, ſchreitet Graf Saporta zu der ferneren Annahme weiter, daß das Ende der azoiſchen Periode mit einer Abkühlung des Waſſers bis zu dem Punkte, in welcher die Gerinnung des Eiweißes nicht mehr ſtattfindet, zuſammen⸗ gefallen ſei, und daß dann das organiſche Leben nicht in Berührung mit der Luft, ſondern im Waſſer ſelbſt erſchienen ſei. Er betrachtet nicht allein den Urſprung des Lebens als vom Nordpol oder deſſen Nähe herrührend, ſondern er hält auch dafür, daß für eine längere Periode das Leben dort allein in Thätigkeit war und ſich re— E 30 r — producirte. Zum Beweiſe dafür citirt er verſchiedene geologiſche Thatſachen, wie daß die älteren und gleichzeitig reichſten foſſilien— führenden Schichten in den kalten Breiten des Nordens angetroffen werden, nament— lich in 50 — 60“ N. B. und darüber hinaus. Es iſt im Norden, ſagt er, wo die ſiluri— ſchen Formationen vorkommen, und obgleich ſie ſich bis zum 35.“ N. B. in Spanien und Nord-Amerika ausbreiten, ſo werden die am meiſten charakteriſtiſchen Schichten doch in Böhmen, England, Skandinavien und den Vereinigten Staaten angetroffen. Die laurentiſchen Felſen ihrerſeits, ſagt er, er— reichen ihre höchſte Entwickelung in Canada, und paläozoiſche Felſen bedecken ein be— trächtliches Polargebiet nördlich von den großen amerikaniſchen Binnenſeen und er— ſcheinen an den Küſten der Baffinsbai und in verſchiedenen Theilen Grönlands und Spitzbergens. Es iſt nicht anders mit den oberen devoniſchen und den marinen kohlen— führenden Schichten, die der eigentlichen Steinkohlenzeit vorausgingen; dieſelben brei— ten ſich bis zum 76.“ N. B. in den Polar- inſeln und auf Grönland, bis zum 79.“ N. B. auf Spitzbergen aus, und er ſetzt hinzu, daß d' Archiac vor langer Zeit bereits bemerkt hat, daß die nach Norden ſo zu— ſammenhängenden Steinkohlenablagerungen ſüdlich von 350 N. B. zur Ausnahme werden. Hieraus ſchließt Graf Saporta, daß die für die Kohlenbildung günſtigen klimatiſchen Bedingungen nicht überall auf der Erde vorherrſchten, denn während die ſüdliche Grenze dieſer Formation annähernd gezogen werden kann, ſo muß ſie ſich nörd— lich bis zum Pole ſelbſt erſtreckt haben. Ich übergehe Saporta's Spekula— tionen hinſichtlich der Anfangsbedingungen des irdiſchen Lebens, welches dem Auf— tauchen der älteſten geſchichteten Felſen Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. aus dem Polarmeere folgte, und gehe zu ſeiner Discuſſion des Klimas der Stein— kohlen-Epoche über, wie es durch die Charak— tere ihrer Vegetation bedingt wird, um da— durch zu begreifen, wie dieſe unter Breiten geblüht haben kann, die jetzt mehrere Mo— nate des Jahres hindurch beſtändig des Sonnenlichtes beraubt ſind. An erſter Stelle acceptirt er O. Heer's Schlüſſe (die ſich auf die Gegenwart eines Baum— farn in den Kohlenfeldern ſtützen, der einer lebenden tropiſchen Art naheſteht), wonach das Klima über die ganze Erdkugel ohne Unterſchied der Breiten warm, feucht und gleichmäßig war. Dies veranlaßt ihn zu fragen, ob, als die Polarregionen von den— ſelben Arten bewohnt waren wie Europa ſelbſt, ſie Bedingungen ausgeſetzt geweſen ſein könnten, welche ihren Sommer in einen Tag von mehreren Monaten und ihren Winter in eine Nacht von entſprechender Länge verwandeln. Eine durch das ganze Jahr ſo regel— mäßige Temperatur, daß ſie ein reiches Wachsthum kryptogamiſcher Pflanzen begün— ſtigt, ſcheint, ſagt er, beim erſten Anblick unverträglich mit ſo abwechſelnden Beding— ungen zu ſein (wie ein Winter von einer langen Nacht und ein Sommer von ein em langen Tage); aber ſelbſt in hohen Breiten konnte eine Gleichmäßigkeit durch von ſüdlichen warmen Meeresſtrömungen erzeugte Nebel hervorgebracht werden, wie ſolche die Orkneys- und ſogar die Bären -Inſel (unter 750 N. B.) beſpülen, und ihre Sommer kühl und ihre Winter mild machen. Zu dieſer direkten Wirkung möchte er eine die irdiſche Ausſtrahlung verhindernde Wirk— ſamkeit ſolcher Nebel hinzurechnen, welche die von erſterer hervorgebrachte Kälte ver— hütet, und möchte ferner die jetzigen Be— dingungen der langen Winternacht durch die le * Hypotheſe beſeitigen, daß das Sonnenlicht während der Kohlenbildung nicht wie heute über die Erde vertheilt wurde, ſondern bei Weitem mehr zerſtreut war, indem der Sonnenkörper noch nicht ſeinen jetzigen Ver— dichtungsgrad erreicht gehabt hätte. Daß das Polargebiet der Urſprungs— Mittelpunkt für die aufeinanderfolgenden Vegetationsphaſen war, die auf der Erde erſchienen ſind, wird nach der Anſicht des Grafen Saporta durch die Thatſache be— wieſen, daß alle Formationen: Steinkohle, Jura, Kreide und Tertiärbildungen gleicher— weiſe reichlich in den Felſen dieſes Gebietes vertreten ſind, und daß ihre Beſtandtheile, in jedem einzelnen Falle, denjenigen viel niederer Breiten ſehr ähnlich find. Die erſten Anzeichen der klimatiſchen Abkühlung in dieſen Regionen werden durch die jüngeren Coniferen geliefert, welche in den polaren unteren Kreideformationen auftreten. Ihnen folgt die erſte Erſcheinung von Dicoty— ledonen mit hinfälligen Blättern, welche ihrerſeits den Zeitabſchnitt bezeichnen, in welchem die Sommer- und Winter Jahres- zeit zum erſten Male ſtark contraſtirte. Er betrachtet die Einführung dieſer Bäume mit fallendem Laube als die größte Revo— lution im Pflanzenreiche, welche die Erde geſehen hat, und meint, daß, einmal ent— ſtanden, fie in Vielheit und Verſchiedenheit der Form mit großer Geſchwindigkeit zunahm, und nicht blos an einer Stelle und da— mals, ſondern bis herab zur Gegenwart. Der Beginn der miocänen Periode end— lich war in dem Polargebiet von der Her— vorbringung einer Maſſe von Gattungen begleitet, von denen die Mehrzahl lebende Vertreter beſitzt, die aber jetzt in einer um 400 ſüdlicheren Breite geſucht werden müſſen, zu welcher ſie durch den Eintritt und das Fortſchreiten der Eiszeit getrieben wurden, Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. . und hierin ſtimmen die Schlüſſe des Grafen Saporta mit denjenigen des Profeſſor Aſa Gray!) überein, der vor nunmehr zwanzig Jahren zuerſt darthat, daß die Vertreter der Flora der Vereinigten Staaten früher hohe nordiſche Breiten bewohnten, aus denen ſie während der Eiszeit nach Süden gedrängt wurden. Die vielleicht am meiſten neue Idee in dem Eſſay des Grafen Saporta iſt die von dem diffuſen Sonnenlichte, welches (bei einer dicht bewölkten Atmoſphäre), ſeiner Anſicht nach, bewirkte, daß die Gegenſätze zwiſchen Polarſommer und Winter ver- kleinert wurden. Wird ſie angenommen, ſo befreit ſie uns ſofort von der Schwierig— keit, zuzulaſſen, daß immergrüne Bäume einen langen, total finſteren Polarwinter und einen Sommer mit beſtändiger Reiz⸗ ung durch hellen Sonnenſchein überlebt haben könnten, und wenn ferner zugelaſſen wird, daß wir der inneren Erdwärme das tropiſche Ausſehen der früheren Vegetation des Polargebietes zuſchreiben dürfen, dann bleibt keine Nothwendigkeit, anzunehmen, daß das Sonnenſyſtem in jenen Zeiten ſich in einer wärmeren Gegend des Welt— raumes befand, oder daß die Richtung der Pole ſich verändert habe, um die hohe Temperatur der präglacialen Zeiten in den hohen nördlichen Breiten zu erklären, noch endlich, daß die Hauptcharaktere der großen Continente und Oceane in früheren geo— logiſchen Zeiten ſehr verſchieden geweſen wären von ihrer jetzigen Beſchaffenheit. Graf Saporta's Anſchauungen fallen in gewiſſen Punkten mit denjenigen des Prof. Le Conte in Californien zuſammen, der ebenfalls dafür hält, daß die Gleich- förmigkeit der Klimate während der frühe— ren Verhältniſſe der Erdkugel nicht durch Vergl. Kosmos Bd. IV, S. 306. Kosmos, III. Jahrg. Heft 2. 18 132 einen Wechſel in der Lage der Pole erklärbar ſei, dagegen auf eine höhere Temperatur der geſammten Erdkugel zurückgeführt werden könne, ſei nun dieſe von äußeren oder inne— ren Urſachen abhängig, oder von der großen Anhäufung von Kohlenſäure und Waſſer in der damaligen Atmoſphäre, welche die Sonnen— wärme ſozuſagen verwahren und anhäufen würden, gemäß den von Tyndall ent— deckten und von Sterry Hunt zur Er— klärung der geologiſchen Zeiten angewendeten Principien, oder möglicherweiſe von einer wärmeren Poſition im Weltraume ... Am Schluſſe dieſes Abſchnittes ſeiner Rede erwähnte Sir John Hooker, daß noch ein vierter engliſcher Naturforſcher, Thiſelton Dyer, von der Vertheilung der Floren in der Gegenwart ausgehend, unabhängig in vorigem Jahre zu ganz ähn— lichen Schlüſſen wie Saportg, Aſa Gray und Leconte gekommen ſei, ſo daß die Uebereinſtimmung in den Schlüſſen ſo vieler, von ganz verſchiedenen Geſichtspunkten aus— gehenden Forſcher ſehr befriedigend erſcheine. (Nature N. 475, December 1878.) Die Bewegungen der Oscillarien und Diatomeen. „Unter den Hypotheſen, die man bis jetzt aufgeſtellt hat, um die ſo bizarren Gleit- und Kriech-Bewegungen der Oscil— larien und Diatomeen zu erklären“, ſagt Th. W. Engelmann,) „iſt die von Max Schultze vertheidigte ohne Zweifel die einzige, welche wohlbegründet iſt. Seiner Anſicht nach ſind dieſe Ortsveränderungen den Bewegungen des contractilen Proto— plasmas zuzuſchreiben, welches ſich an der ) Botaniſche Zeitung vom 24. Januar Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. | Oberfläche der feſten Zellhüllen ausbreitet. Die Thatſachen, auf welche Schultze ſeine zunächſt auf die Diatomeen bezügliche Hypo— theſe gründete, ſind die folgenden: Die Diatomeen bewegen ſich nur vor— wärts, wenn ſie einen feſten Stützpunkt haben. Sie ſchwimmen niemals frei im Waſſer (wodurch die Annahme widerlegt wird, daß die Bewegungen durch Vibra— tionen oder osmotiſche Strömungen bewirkt fein könnten). Sie müſſen, um ſich zu be- wegen, auf einer ihrer Nahtlinien liegen *). Im Allgemeinen geht die Bewegung ſtets in der Richtung der Naht vor ſich, und zwar ſowohl vorwärts als rückwärts; oft wechſelt die Bewegung ſehr ſchnell oder ſetzt für einige Augenblicke aus. Fremde Körper (z. B. dem Waſſer hinzugefügte Indigo—⸗ Körnchen oder andere Pigmente) heften ſich leicht an die Oberfläche der Diatomeen, wenn ſie eine der Nähte treffen und ſind dann in einer Hin- und Herbewegung längs der Naht begriffen, ſo wie es C. Th. von Siebold zuerſt in ſeiner bekühmten Abhandlung über die einzelligen Pflanzen und Thiere beſchrieben, und Schultze be⸗ ſtätigt hat. Dieſe beiden Thatſachen finden nicht ſtatt, wenn die Körnchen eine andere Stelle der Diatomeen berühren. Die Bewegung der adhärirenden Körnchen findet ebenſowohl ſtatt, wenn die Diatomee kriecht, als wenn ſie unbeweglich ruht. Dieſe Bewegung kann an jeder Stelle der Naht beginnen, ſtets die Richtung wechſeln oder einen Augen— blick anhalten. Wenn die Diatomee unbe— weglich iſt, gleitet die Ballung der Körnchen gewöhnlich bis zu einer der beiden Extre- ) Sie beſtehen bekanntlich aus zwei Hälften, die ſich in einer rings herumlaufen— den Naht berühren und durch Halbirung ver— mehren, woher der Name Spaltpflänzchen. mitäten, hält dort einen Augenblick an, ſetzt dann ſeinen Weg in entgegengeſetzter Richtung fort, indem es über den Nabel hinweg bis zum entgegengeſetzten Ende geht, von wo es nach einem mehr oder weniger langen Aufenthalt zurückkehrt u. ſ. w. Wenn die Diatomee auf der Naht über das Objectglas hinkriecht, werden Körnchen, die der oberen Naht begegnen, mit fortge— riſſen, ſei es in derſelben Richtung, in welcher ſich die Diatomee bewegt, nur leb— hafter, ſei es in entgegengeſetzter, wobei ge⸗ wöhnlich Ruhepauſen ſtattfinden. Die Größe und anſcheinend das Gewicht der Körnchen ſind gewöhnlich größer als die der Diatomee ſelbſt. Wenn dieſe ſich von ihrer Laſt befreit, ſchleppt ſie dieſelbe noch einen Augenblick hinter ſich nach, ſelbſt wenn kein merkbarer Zuſammenhang mit der Kieſelſchale mehr ſtattfindet. Endlich befreit ſie ſich wie durch eine Kraftanſtrengung davon. Auf der inneren Fläche der Schale befindet ſich con— tractiles Protoplasma, in welchem man die wohlbekannte Körnchenſtrömung bemerkt. Für die Oscillarien verweiſt Schultze auf die Beobachtungen von Siebold's, nach welchen es ſehr wahrſcheinlich iſt, daß bei dieſen Organismen eine Bewegung von äußerem Protoplasma ſtattfindet. „Es ift ſehr intereſſant,“ ſagt von Siebold, „die kreiſenden Bewegungen der Oscillarien in mit Indigo gefärbtem Waſſer zu beobach- ten. Alle Indigokörnchen, welche mit den Fäden der Oscillarien in Berührung kommen, werden in einer ziemlich engen Spirale längs des Fadens bis zu ſeinem Ende getrieben, mögen die Fäden ſelbſt in Bewegung oder in Ruhe ſein. Ich war auch erſtaunt, zu ſehen, daß dieſe ſpiralige Gleitbewegung des Indigo einigemale von den beiden Enden und nach der Mitte er— folgte, wo ſich alsdann die färbende Sub— Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 133 ſtanz in Kügelchen zuſammenballte, oder daß die Bewegung im Gegentheil von der Mitte aus nach beiden Enden ſtattfand. Ferner muß an der Oberfläche eine reichliche Abſcheidung ſchleimiger Materie ſtattfinden, denn die Indigokörnchen blieben ziemlich lange angeklebt.“ Schultze beſtätigt dieſe Beobachtungen mit Ausnahme des letzteren, den Einfluß der Mitte betreffenden Punktes... Die Analogie mit dem, was man an den Dia— tomeen bemerkt hat, wird noch vermehrt durch die ſeither von F. Cohn feſtgeſtellte Thatſache, daß die Dscillarien ihren Ort ebenfalls nicht verändern können, wenn ſie nicht eine feſte Stütze haben. Wenn man, ſagt Cohn, „die Oscillarien-Faden trennt, indem man das Waſſer im Glaſe bewegt, heften ſie ſich alle am Grunde feſt und verſchlingen ſich in kurzer Zeit zu einer Art filzigen Mem— bran, welche den Grund des Gefäßes völlig bedeckt, dann auch an den Wänden empor- ſteigt, bis ſie, eine Art cylindriſchen Sackes bildend, das ganze Gefäß auskleidet. Wenn es in dem Waſſer feſte Körper, Steine, Waſſerpflanzen u. ſ. w. giebt, bedeckt die Oscillarienſchicht ſie ebenfalls. Daſſelbe fin— det ſtatt, wenn kleine Theilchen dieſer Schicht durch Gasblaſen an die Oberfläche des Waſſers geriſſen werden; man ſieht als— dann die Fäden ſich nach allen Seiten aus- breiten und ſich zu einem dünnen Häutchen verflechten, indem ſie ſich der Waſſer— Oberfläche wie eines Stützpunktes bedienen. Niemals dagegen findet man Oscillarien frei im Waſſer ſchwimmend, wie es alle Zooſporen thun, und niemals begeben ſie ſich von einem Punkte zu einem anderen, wenn ſie nicht dorthin gelangen können, in— dem ſie ſich an feſte Körper heften. Ge— wöhnlich bedienen ſich die Oscillarien gegen— ſeitig ihrer Fäden als Stützpunkte 134 Ungeachtet ſeiner von den beſten Mikro— ſkopen unterſtützten Nachforſchungen glückte es Cohn ebenſowenig, wie M. Schultze, weder bei Diatomeen noch bei Osscillarien eine Spur der von den letzteren angenom— menen äußeren Protoplasmaſchicht zu ent- decken. Glücklicher war Engelmann bei dieſer Unterſuchung. „Mehrere Male“, ſagt er, „hatte ich be— reits die von Siebold, Schultze und Co hn beſchriebenen Erſcheinungen beobachtet und mich, wie ſie, vergeblich angeſtrengt, eine Spur dieſes vorausgeſetzten, von dem Protoplasma ausgehenden äußeren Beweg— ungsorganes zu entdecken. Eine beſonders große und bewegliche Oscillarie, welche mir im letzten Sommer vorkam, gab mir Ge— legenheit, dieſe Unterſuchungen wieder auf— zunehmen. Sie glich ſehr der unter dem Namen Oscillaria dubia von Kützing beſchriebenen und abgebildeten Art.“ . . .. Nachdem der Verfaſſer vergeblich ver— ſucht hatte, im eoſinhaltigen Waſſer die ungefärbt bleibende Protoplasmamaſſe zu erkennen, fährt er fort: „Alsdann verſuchte ich das Protoplasma durch Coagulation ſichtbar zu machen. Aus früheren, an Pflan— zenzellen angeſtellten Experimenten wußte ich, daß eines der ſicherſten und leichteſten Mittel hierzu in kräftigen Induktionsſchlä— gen beſteht.“) Sobald man einige derſelben ) Hierbei mag der ganz vor Kurzem ebenfalls von Th. W. Engelmann ent⸗ deckten Thatſache gedacht werden, daß Son— nenlicht auf nackte Protoplasmaweſen ähnlich wie ein elektriſcher Schlag einwirkt, woraus die hohe Reizbarkeit dieſer Grundſubſtanz des Lebens für die verſchiedenſten Eindrücke deut- lich erhellt. Ein amöbenartiges, aus nackter Protoplasmamaſſe beſtehendes Weſen, Pelo— myxa palustris, bewegte ſich bei zufälliger Beſchattung des Objektenglaſes ſehr lebhaft und mit verhältnißmäßigem Kraftaufwand; Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. applicirt hat, erſcheint z. B. das Proto- plasma der Zellen von Vallisneria spiralis welches vorher kaum unterſcheidbar war, mit deutlichem Umriß, dunkel und hin und wieder körnig. Dieſes Mittel verfehlte auch nicht ſeine Wirkung auf die Osscillarien. Sobald ich einige Sekunden lang große Exemplare mit Induktionsſchlägen tetaniſirt hatte, erſchien an ihrer Oberfläche eine höchſt zarte, aber dennoch ſehr ſcharfe, ſtellenweiſe granulirte Linie, an welcher hier und da kleine fremde Körperchen z. B. Indigo-Par⸗ tikelchen adhärirten. Nirgends entfernte ſie ſich um mehr als 0,0008 Millimeter von dem ſeitlichen Umriß der Zellmembranen; im Allgemeinen war ſie dieſem Umriß parallel, doch nicht ſtreng, und ſtellenweiſe fiel ſie mit ihm zuſammen, ſo daß ſie dort nicht zu ſehen war Mehrfach wurde ſie auf beiden Seiten des Fadens zugleich geſehen, durch Hinzufügen einer ſchwachen Kalilöſung wurde die beſchriebene Zone von der Zell— wand abgelöſt und allmählich aufgelöſt. Aehnlich wirkte eine verdünnte Salzſäure und eine ſtärkere Kochſalz-Auflöſung. Nach dieſen und anderen Proben kann man nicht länger daran zweifeln, daß die beobachtete Hülle wirklich Protoplasma iſt, und ſo ha— ben die Verſuche Engelmann's einen ſobald aber die Hand weggezogen wurde, jo daß ein mäßiges Tageslicht darauf fiel, ſtand die körnchenreiche Maſſe alsbald ſtill und zog ſich, wie nach einem elektriſchen Schlage, inner— halb weniger Secunden zu einer kuglichen Maſſe zuſammen. Der Verſuch wurde mehr— mals mit demſelben Erfolge wiederholt, und gelang beſonders ſchön, wenn man in ein dunkles Zimmer plötzlich das zerſtreute Licht einließ, indem ſich das ausgebreitete Weſen dann ſchnell zuſammenzog. Erhellte man da— gegen das Zimmer allmählich, ſo blieb der Reiz auf die Pelomyxa, gerade wie bei der menſchlichen Netzhaut auch, aus. (Pflüger's Archiv für Phyſiologie Bd. XIX. ©. 1). k 7 5 Kleinere Mittheilungen und Journa direkten Beweis für die Schultze'ſche An- nahme ergeben. „Es ſcheint mir nicht unmöglich,“ fährt Engelmann fort, „daß die Bewegungen der Oscillarienfäden, beſonders die ſo frap— panten wurmförmigen, mitunter periſtaltiſchen Bewegungen, welche Cohn an Beggiatoa mirabilis beſchrieben hat, von örtlichen und periſtaltiſchen Zuſammenziehungen der äuße— ren Protoplasmahülle herrühren. Alle dieſe Phänomene können durch Contraktionen er— klärt werden, unter der Annahme, daß die Energie, mit der ſich das Protoplasma ver— | kürzt, hinreiche, um in einem gewiſſen Maße den Widerſtand der elaſtiſchen Zellenmem— branen zu überwinden. Dieſe Annahme iſt durchaus gerechtfertigt. Denn erſtens iſt die Elaſticität der Zellenmembranen bei den Oscillarien, welche deutliche Biegungen zei— gen, ſehr ſchwach, und Cohn hat zu ſehen geglaubt, daß die Zellenmembranen in den Fällen, wo er wellenartig periſtaltiſche Con— traktionen anf den Fäden hinlaufen ſah, | ein wenig erweicht waren. Zweitens iſt die Kraft, welche in den Bewegungen der Oscillarien und Diatomeen entfaltet werden kann, wahrlich ſehr unbedeutend; ein Pro— toplasmafaden, der einen zu geringen Durch— meſſer beſitzt, um gemeſſen zu werden, ſo wie er ſich längs der Naht einer Navicula ausbreitet, kann in der That eine fein eige— nes Gewicht tauſend Mal übertreffende Maſſe, die ſpecifiſch ſchwerer als Waſſer iſt, leicht und lebhaft bewegen, ſogar auf— Die Daten, welche Schultze in heben. dieſer Richtung gegeben, ſind keineswegs übertrieben, und man kann leicht ähnliche bei den Oscillarien conſtatiren.“ „Die ſchraubenförmigen Ortsbewegun— gen der Spirillen und Vibrionen, welche oft mit den hier beſprochenen Erſcheinungen zuſammengeworfen werden, müſſen davon oder Geißeln hervorgebracht. durchaus geſchieden werden. Sie werden rapide und beinahe ausſchließlich von frei im Waſſer ſchwimmenden Individuen aus— geführt. Ihre abſolute Geſchwindigkeit iſt oft auch viel größer, als man ſie jemals bei protoplasmatiſchen Bewegungen beobach- tet hat. Sie werden ohne allen Zweifel, wie diejenigen der Bakterien, durch Wimpern Bei einigen Arten war man ſchon im Stande, Wimpern wahrzunehmen. Ueberhaupt kennt man keine andere Urſache für ähnliche Kraftäußerungen in der organiſchen Welt und ſie reicht auch vollkommen hin, alle Thatſachen zu erklären. Eine neue Rieſenpflanze. Der den Leſern des Kosmos und be— ſonders den Botanikern nicht unbekannte italieniſche Reiſende Odo ardo Beccari entdeckte auf ſeiner jüngſten Erforſchungsreiſe in Sumatra eine Rieſenpflanze, der Aroideen— familie angehörend, deren Blume alles bis— her Dageweſene an Größe weit übertrifft. Beccari ſtellt fie zwiſchen die Genera Cono- und Amorphophallus und giebt ihr den Namen Amorphophallus Titanum, den die Pflanze mit Recht zu verdienen ſcheint. Aus den von Beccari darüber im Bullettino della Società Toscana di Or- ticultura gegebenen Notizen entnehmen wir Folgendes: Der Knollen eines von ihm ausge— grabenen Exemplares maß 1,40 Meter im Umfang; zwei Männer waren kaum im Stande, die Pflanze von der Stelle zu ſchaffen. Dem Wurzelknollen entwächſt, wie bei den übrigen Amorphophallen, ein einziges Blatt, das in Form und Randeinſchnitten ähnlich, nur in der Größe von den Blättern dieſer Gattung abweicht — doch in welchen Dimen— lſchau. 135 | 136 fionen! Der Blattſtiel hatte an der Baſis einen Umfang von 90 Cm., verdünnt ſich etwas nach oben und erreichte eine Höhe von 3 ½ Meter; er war glatt auf der Oberfläche, grün von Farbe und mit dichten, kleinen, kreisförmigen Flecken beſäet, ähnlich jenen weißen, von den Flechten auf der glatten Rinde eines Baumes erzeugten Flecken. — Der Blatt— ſtiel zertheilte ſich oben in drei Abzweig— ungen, welche die Dimenſion eines menſch— lichen Beines hatten und ſich ſelbſt wieder— holt theilten, indem eine jede einen Laubſchnitt von 3,10 Meter Länge bildete. Das ganze Blatt bedeckte eine Fläche von 15 Meter im Umfang!! — Der Schaft eines fruchttragenden Individuums beſaß die Dimenſionen des eben beſchriebenen Blatt— ſtiels. Der Fruchtkolben war eylindriſch, dicht mit olivenförmigen Früchten von 35—40 Mm. Länge und 35 Mm. Duxd- meſſer beſetzt, die mennig- bis zinnoberroth von Farbe wie Azeroläpfel find und eine jede zwei Samen enthält. Dem Ausſehen nach und in der Farbe gleicht die Blüthe ſehr der des A. campanulatus; die Form der Blu— menſcheide iſt ſogar faſt dieſelbe. Hielt man ſchon die Blume der ebengenannteu Pflanze für ſehr groß, was muß man dann erſt von dem A. Titanum ſagen, deſſen Blüthe mehr als zehn Mal größer iſt. Das von Beccari unterſuchte Exem— plar beſaß einen Spadix von 1,75 Meter Länge (war alſo von der Größe eines Men— ſchen mittlerer Statur) den Schaft nicht ein— gerechnet und die Länge der Blüthe vom Punkte angenommen, wo die Blumenſcheide beginnt, bis zum äußerſten Ende der unfruchtbaren Keule. Der Schaft war weder ſehr dick, noch ſehr hoch, im Verhältniß zum Stiele einiger Blätter (er maß 50 Centimeter Höhe und 8 Centimeter Durchmeſſer), war grün und mit kreisrunden weißlichen Fleckchen beſetzt. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Der größte Durchmeſſer der Blumenſcheide maß 83 Centimeter, deren Tiefe ca. 70 Centi⸗ meter; Geſtalt glockenförmig, mit offenem, grobgezahnten und dicht krauſigen Rande. Im Innern erſchien die tiefſte Stelle blaßgrün— lich, während der Rand eine lebhaft dunfel- purpurne Farbe zeigte. Aeußerlich war die Blumenſcheide blaßgrün, glatt an der un— teren Hälfte und oben dicht kraus gerunzelt. A. Amorphophallus (Conophallus) Titanum Bece. ½¼% natürl. Größe. . Spadix, 1 Keule, 2 Fruchtſtand. Fruchtknoten im Längs- und Querſchnitt. 2 Der von der Blumenſcheide entkleidete Spadix überſtieg 1,50 Meter Höhe, trug jedoch nur am unteren Theile auf 20 Centi— meter Länge Griffel, über denen ſich die Staub— gefäße befanden. Unfruchtbare Organe fehlten gänzlich, der Keule blieb ſomit eine Länge von 1,30 Meter bei einem baſalen Durch— meſſer von ca. 18— 20 Centimeter, unter * r Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. allmäligem Dünnerwerden dem Ende zu, welches ſelbſt jedoch ganz ſtumpf war. Die Oberfläche der Keule war faſt glatt, aber breit und oberflächlich derLänge nach gerun— zelt. Seine Farbe war ſchmutzig gelb am unteren Theile wurde aber gegen die Spitze zu faſt grünlich gelb. Die Fruchtknoten waren violett, drei-, zuweilen zwei⸗fächerig mit einem anatropen Eichen in jedem Fache. Die Fruchtknoten waren rund mit koni— ſcher Endung, unverſchmolzen und liefen in einen langen Griffel aus, der an ſeiner Spitze eine runde, gelbliche, oberflächlich dreilappige Narbe trug. Die Staubgefäße waren ſitzend, mit runden, faſt zweitheiligen Staubbeuteln, welche durch zwei enge Ritzen oder Poren nach der Spitze aufplatzen, ihre Farbe blaßgelb. Im naturhiſtoriſchen Muſeum zu Florenz befindet ſich unter Spiritus ein Fruchtkolben von 60 Centimeter Länge, der betreffende Blüthenſchaft betrug mehr als 1½ Meter bei einem Durchmeſſer von 10 Centim. Der Marquis Bardo Corſi-Sal⸗ viati, der in ſeinen Treibhäuſern bei Florenz manche der ſeltenſten und neueſten Gewächſe aus Java und Sumatra aufge— zogen hat, beſchäftigt ſich nun auch mit der Reproduction dieſer Rieſenpflanze aus den von Beccari mitgebrachten Samen und ſo wird es auch uns Europäern bald ver— gönnt ſein, den Goliath der Blumenwelt in unſeren Floratempeln bewundern zu können. Florenz, 7. März 1879. 3 E. Zilliken. Ueu aufgefundene juraſſiſche Reptile Nordamerikas. In dem Novemberheft 1878 und dem Januarheft 1879 des American Journal 137 of Science beſchreibt Prof. O. C. Marſh, unter Beigabe von 15 Tafeln mit Abbild— ungen, wieder eine ganze Reihe höchſt inter— eſſanter und theilweiſe zu ihrer Unterbring— ung ganz neue Ordnungen erfordernder Dinoſaurier und anderer Reptile, welche durch die mit ſeltenem Erfolge fortgeſetzten Expeditionen des Yale-College's zu Tage gefördert und im Muſeum deſſelben aufge— ſtellt worden ſind. An den Abhängen der Felſengebirge kann ein ſchmaler Schichten— gürtel mehrere hundert (engl.) Meilen weit verfolgt werden, der ſich aller Orten durch die Knochen gigantiſcher Dinoſaurier kenn— zeichnet. Seine Lage iſt oberhalb der charakteriſtiſchen rothen triaſiſchen Schichten und unmittelbar unter dem harten Sand— ſtein der Dakota-Gruppe. Hayden, Cope und Andere haben dieſen Horizont als dem Kreidegebirge angehörig betrachtet, aber die zahlreichen nunmehr bekannten Wirbelthier— reſte erheben ſeine juraſſiſche Natur über alle Zweifel. Die Schichten, welche Marfh nach dem häufigſten Foſſil die Atlantoſaurus— Betten genannt hat, beſtehen hauptſächlich aus Seebucht-Abſätzen (estuary deposits) von Schieferthon und Sandſtein und ent— halten außer den Dinoſauriern zahlreiche Ueberreſte von Krokodilen (Diplosaurus), Schildkröten, Fiſchen (Ceratodus) und eine vereinzelte Flugeidechſe (Pterodaetylus mon- tanus). Ebenſo wie die Letztere iſt auch ein kleines Beutelthier (Dryolestes pris- cus) neuerdings (1878) von Marſh aus denſelben Schichten beſchrieben worden. Die Dinoſaurier-Reſte in dieſer Schich— tenfolge ſind meiſt von enormer Größe und vergegenwärtigen uns die bei weitem größ— ten unter allen bisher entdeckten Landthieren. Atlantosaurus (Titanosaurus) immanis“) Dar Vergl. Kosmos II. S. 336. Der Schenkelknochen von A. immanis iſt acht Fuß 138 muß zum Mindeſten 80 Fuß Länge be- ſeſſen haben und einige andere kamen ihm nahezu an Größe gleich. Mit dieſen Un— geheuern zugleich kommen die kleinſten aller bisher entdeckten Dinoſaurier vor; einer von ihnen (Nanosaurus) hatte ungefähr die Größe einer Katze. Die pflanzenfreſſenden Dinoſaurier dieſer Schichten bieten, ſoweit ſie bis heute bekannt ſind, ein ſpecielles Intereſſe und repräſentiren zwei verſchiedene Gruppen. Die erſte derſelben, welche Marſh früher Atlantosauridae getauft hatte, ent— fernt ſich ſo weit von den typiſchen Dino— ſauriern, daß er es für richtiger hält, eine eigene Unterordnung daraus zu machen, die er nach dem allgemeinen (d. h. nicht ſpe— cialiſirten) Charakter ihrer Extremitäten Sau- ropoda nennt. Sie ſind die am wenigſten ſpecialiſirten aller Dinoſaurier und zeigen in einigen Charakteren eine ſo große An— näherung an die meſozoiſchen Krokodile, daß ſie den Gedanken an gemeinſame Ahnen beider aus einer nicht ſehr fernen Vergan— genheit erwecken. Die bemerkenswertheſten Charaktere dieſer Gruppe ſind die folgenden: 1) Vorder— und Hinterfüße ſind von nahezu gleicher Größe. 2) Hand- und Fußwurzelknochen ſind verſchieden. 3) Die Füße ſind fünf— zehig und plantigrad. 4) Die Präcaudal- Wirbel enthalten weite, anſcheinend pneu— matiſche Höhlungen. 5) Die Neuralbogen ſind durch Nähte mit dem Centrum ver— lang, und ein Vergleich mit dem Schenkel— knochen eines Krokodiles (C. americanus) würde, angenommen, daß den anderen Thei— len ein ähnliches Verhältniß zukäme, eine Länge von 115 Fuß für das ganze Thier ergeben! Die anderen Knochen zeigen ähn— liche Dimenſionen, die Schwanzwirbel ſind über 16 Zoll lang. (American Journal of Science, March 1878.) Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. einigt. 6) Die Sacralwirbel überſteigen an Zahl nicht vier und tragen je ihre eige— nen Querfortſätze. 7) Der dritte Trochanter iſt rudimentär oder fehlt. 8) Die Bein- knochen ſind ohne Markhöhlen. — Zu dieſer Ordnung gehören die Gattungen Atlanto- saurus (Titanosaurus), Apatosaurus, Mo- rosaurus und Diplodocus, deren Beſchreib— ung ohne die zahlreichen Abbildungen, mit denen Marſh die neueren Gattungen illuſtrirt hat, unverſtändlich ſein würde und deshalb hier unterbleiben kann. Beſonders zahlreiche Arten ſind von der Gattung Morosaurus bekannt, und von einer Art (M. grandis), die ungefähr vierzig Fuß lang war, beſitzt das Yale-College ein faſt vollſtändiges Skelet. Es wandelte, wahr— ſcheinlich ſehr langſam, auf allen Vieren da— her, und war noch in vielen anderen Be— ziehungen von den twpiſchen Dinoſauriern verſchieden. Sein Gehirn war verhältniß— mäßig kleiner als das irgend eines anderen bekannten Wirbelthieres. Die ebenfalls neue Gattung Apatosaurus Marsh, welche ſich nahe an Atlantosaurus anſchließt, un— terſcheidet ſich durch die ganz ungewöhn— liche Bildung ihres Sacrums. Die Wir- bel-Centra und ihre Fortſätze ſind durch Höhlungen etwas erweitert, wie im Sa— crum von Atlantosaurus und Morosau- rus. Eine beſonders ſtaunenswerthe Eigen— thümlichkeit bietet die Weite des Rücken— markskanals, der, ſeltſam zu ſagen, im Sacrum noch von außerordentlicher Weite und dort zwei bis drei Mal ſo breit iſt, als der Durchmeſſer des Gehirns! Das iſt ein höchſt auffallendes Verhalten und ohne Gleichen bei irgend einem bekannten Wirbel— thiere. Apatosaurus Ajax Marsh war wenigſtens fünfzig Fuß lang, aber noch viel anſehnlicher war A. laticollis, deſſen Wir- bel eine Weite von viertehalb Fuß haben und deſſen Nacken im Gegenſatze zu dem ſchlanken Halſe von Morosaurus grandis 5—6 Fuß breit geweſen fein muß. Neben den Knochen der coloſſalen pflan— zenfreſſenden Sauropodier kommen zahlreiche Reſte einer in mehreren Arten vertretenen kleineren, ebenfalls pflanzenfreſſenden, aber ſehr ſpecialiſirten Gattung (Laosaurus Marsh) vor, die dem Hypsilophodon aus dem engliſchen Wealden naheſteht und alſo zu den Iguanodontiden gehört, und zwar zu den beſonders vogelähnlichen Ornithoſceliden Huxley's. Am vollſtändigſten erhalten iſt Laosaurus altus, deſſen Vorderbeine weniger als halb ſo lang wie die Hinter— beine waren und offenbar nicht mehr zum Gehen gebraucht wurden. Das un— gefähr zehn Fuß lange Thier bewegte ſich alſo, wie ſo viele Dinoſaurier, känguruartig ſpringend, die Fußknochen waren hohl, und zeigen, wie Vogelfüße, nur drei Zehen. Die fünfte Zehe fehlt ganz und die erſte iſt nur durch einen Mittelfußknochen vertreten. Die vielbeſprochene Vogelähnlichkeit des Beckens der Dinoſaurier iſt hier beſonders in die Augen ſpringend, und um dieſer ſtark umſtrittenen Frage das ausgezeichneteſte An— ſchauungsmaterial darzubieten, hat Marſh die Becken von Laosaurus, Morosaurus, Atlantosaurus, Allosaurus, Hesperornis, Geococeyx, Apteryx und Dromaius neben einander abgebildet. Den pflanzenfreſſenden Dinoſauriern ges ſellt ſich eine Anzahl fleiſchfreſſender bei, die wahrſcheinlich die natürlichen Plagegeiſter der erſteren waren und ebenfalls in zwei Grup- pen zerfallen, welche Marſh nach den sauridae nennt, und die ſich etwa zu einander verhalten wie Megalosaurus zu Compso- gnathus unter den europäiſchen Dinoſau— Kosmos, III. Jahrg. Heft 2. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 139 | zugsweiſe auf den Hinterfüßen, was bei dem 25 Fuß langen, ſchlanken Allosaurus fragilis recht eigenthümlich ausgeſehen haben muß. Die Wirbel ſind hier meiſt mehr zuſammengezogen als bei den plumperen Pflanzenfreſſern der erſten Gruppe, auch nebſt den Fußknochen durch Höhlungen er— leichtert, um dem Thiere eine ſchnellere Be— wegung zu geſtatten. Die Zähne waren wie auch bei der Gattung Creosaurus denen des Megalosaurus ähnlich, ſehr eigenthüm— lich wieder die Bildung des Beckens und beſonders des Schambeines. Zu den im Obigen nur kurz erwähnten neuen Dinoſauriern geſellte ſich ein neuer, denſelben obern Juraſchichten gehöriger Vet— ter des Ichthyosaurus, der ebenfalls von der ungeheuren Mannigfaltigkeit des Sau— rierthums in jenen Tagen ein beredtes Zeugniß ablegt. Das Fehlen der Gatt— ung Ichthyosaurus in der ausgeſtorbenen Fauna Amerikas iſt vielfach und mit Recht hervorgehoben worden, und in der That iſt von dieſer ehemals in Europa fo maſſen— haft vertretenen Gattung noch immer kein Exemplar dort gefunden worden. Nun iſt kürzlich in einer offenbar marinen Schicht der Felſengebirge, die unter den oben charak— teriſirten Atlantosaurus-Schichten liegt, mit Ammoniten und Belemniten vergeſellſchaftet, ein Thier gefunden worden, deſſen Wirbel, Rippen und andere Skelettheile kaum von denen eines echten und rechten Ichthyosau- rus unterſchieden werden können. Auch der Schädel zeigt mancherlei große Aehn— riern. Auch dieſe Thiere bewegten ſich vor⸗ lichkeiten, ſo in den langgeſtreckten Vorder— kiefern und der großen, von einem Ringe typiſchen Gattungen Allosauridae und Nano- | aus Knochenplatten beſchützten Augenhöhle, aber das eigentliche Merkmal des grauſamen und gefräßigen Ichthyosaurus, die langen Reihen ſeiner ſpitzer Zähne, fehlen, die Kinnladen ſind vollſtändig zahnlos und er— 19 140 mangeln ſogar einer Zahnrinne. So hat nun der zahnloſe Pterodaktylus (Pterano- don) ?) Amerikas in dieſem ungefähr 8—9 Fuß langen Thiere einen Collegen erhalten und kann alſo auch auf ſich das Sprich— wort: Solamen miseris socios habuisse malorum anwenden, denn beide waren Zeit— genoſſen. Marſh hat den zahnloſen Ge— ſellen Sauranodon natans genannt und ihm zu Ehren die Gemeinſchaft der Sau— ranodontidae N müſſen. Eine prähioriſch Faäbrik-Marke. Der Stand des Neuenburger Sees ift zur Zeit niedriger als jemals ſeit Menſchen— gedenken und giebt den prähiſtoriſchen For— ſchern eine reiche Ausbeute. Vor Kurzem fand Profeſſor Forel bei der Pfahlbau- Station von Corcelet ein irdenes Gefäß aus dem Bronce-Alter. Auf dem Boden dieſes Gefäßes ſind die Fingereindrücke des prähiſtoriſchen Töpfers in dem plaſtiſchen Thon vollkommen erkennbar. Von dieſen Fingern — oder vielmehr nur von dem Daumen und Zeigefinger, denn die andern Finger fehlen unglücklicherweiſe, — hat Forel einen Gypsabguß genommen und der genaueſten Unterſuchung unterworfen. Er erklärt, daß der Verfertiger des Gefäßes eine Frau geweſen ſei. Es find zwei Ein- drücke des Daumens und drei vom Zeige— finger vorhanden. Die von den Nägeln gebliebenen Eindrücke ſind vollkommen. ) Kosmos II. S. 334. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Derjenige des Daumens, welcher regelmäßig, wohlgeſtaltet und von einer eleganten Con— vexität geweſen ſein muß, mißt in der Länge zwölf und in der Breite elf Millimeter, die Länge und Breite des gleichfalls wohl— geformten Fingernagels beträgt bezw. elf und neun Millimeter, die Wölbung in der Quere erhebt ſich zu zwei Millimetern. Dieſe Nägel können, nach Herrn Forel's Meinung, einzig einer weiblichen Hand an— gehört haben, und wir können daraus viel— leicht vermuthen, daß mit ſo manchen häus— lichen Gewerben damals auch die Töpferei den Frauen oblag. Das Gefäß iſt in dem Antiquitäten-Kabinet des Kantonal-Muſeums zu Neuenburg aufgeſtellt worden. Die Maſſe von Kohlenreſten und abgebrannten Holz— ſtücken deutet darauf hin, daß die Anſiedel— ungen durch Feuer ihren Untergang ge— funden haben und ein anderer Forſcher hat aus den Reſten der halbverkohlten Winter— vorräthe an Sämereien und Früchten ſogar die Jahreszeit zu beſtimmen geſucht, in welcher der Brand ſtattgefunden haben mag. Da ſich nämlich von den Lieblings-Nahrungs— mitteln nur geringe Reſte gefunden haben, dagegen unter anderen ein Keſſel mit Eicheln, die wohl nur im letzten Nothfall angegriffen wurden (wenn fie nicht etwa Schweinefutter vorſtellten! Ref.), ſo hat man daraus ſchließen wollen, daß der Brand zu einer Zeit ſtatt— gefunden haben müſſe, in welcher die Wintervorräthe verzehrt waren, alſo am Ende des Frühjahres oder im Beginn des Sommers. (Times.) N Titeratur und Kritik. Die Thatſachen in der Wahrnehm— ung. Rede gehalten zur Stiftungsfeier der Friedrich-Wilhelms-Univerſität zu Berlin am 3. Auguſt 1878, überarbeitet und mit Zuſätzen verſehen von Dr. H. Helmholtz. Berlin 1879. Verlag von Auguſt Hirſchwald. 68 S. Kant und Helmholtz über den Ur- ſprung und die Bedeutung der Raumanſchauung und der geo— metriſchen Axiome. Von Albrecht Krauſe. Lahr 1878. Druck und Ver— lag von M. Schauenburg. VIII. 94 S. » 7 zweite der vorſtehend genannten Schriften iſt allerdings früher er— ſchienen, als die erſte, und inſofern ſollte eine gemeinſame Beſprechung beider an jene in erſter Linie anknüpfen. Thatſächlich aber liegen die Verhältniſſe ſo, daß es im Intereſſe des Geſammt-Ueberblickes gerathen erſcheint, die Helmholtz'ſche Ab- handlung zum Ausgangspunkt zu nehmen. Dieſelbe behandelt nämlich ein demjenigen ſehr verwandtes Thema, welches auch den Gegen— ſtand einer der bekannten populären Vor— träge von Helmholtz bildete, nur in allgemeinerer Herr Krauſe richtet ſeine Polemik eben gegen jenen Vortrag, und da endlich in und erſchöpfenderer Weiſe; den „Thatſachen in der Wahrnehmung“ der Krauſe'ſchen Schrift ſtetig Rechnung ge— tragen wird, ſo möchte unſer Verfahren als das geeignetſte erſcheinen, dem Leſer ein getreues Bild von dem Inhalte der beiden vielfach in einander übergreifenden Arbeiten zu verſchaffen. Die Rektoratsrede des berühmten Ber— liner Phyſikers bietet uns im Weſentlichen eine gemeinverſtändliche Erkenntnißtheorie auf exakt⸗naturwiſſenſchaftlicher Grundlage. In einem kurzen geſchichtlichen Rückblick muſtert der Redner diejenigen Vorarbeiten, welche für den heute erreichten Standpunkt als beſonders maßgebend betrachtet werden müſſen: Kant's Lehre von den transcen— dentalen Formen des Denkens und An— ſchauens, Locke's Beſtrebungen empiriſcher Natur und J. Müller's Theorie von den ſpecifiſchen Energien der Sinnesnevven, In die Materie ſelbſt eingehend, adoptirt Helmholtz den Fich te'ſchen Begriff ver- ſchiedener „Qualitätenkreiſe“, innerhalb deren die einzelnen Empfindungen ſich unter einan⸗ der vergleichen laſſen, während ein Quali⸗ tätenkreis zu jedem anderen ſich völlig dis— parat verhält. So bildet ſich denn auch innerhalb des einzelnen Qualitätenkreiſes eine ganz ſelbſtſtändige Anordnung aus; während der Sehnerv ſtrenge genommen nur drei vollkommen verſchiedene Funda— Be 142 mentalempfindungen hat, exiſtiren deren für das Ohr unendlich viele. Gleichwohl ſind Licht und Ton ihrer phyſikaliſchen Entſteh— ung nach einander ganz äquivalent, und die wahrgenommenen Unterſchiede ſind lediglich durch die verſchiedene Art und Weiſe der Reaktion des Nerven-Apparats bedingt. Auf dieſer Unmöglichkeit, daß ähnliche Ur— ſachen auf die verſchiedenen Sinnesorgane eine gleiche oder auch nur ähnliche Wirkung hervorbringen, beruht nun die Unhaltbarkeit derjenigen erkenntniß-theoretiſchen Anſchau— ung, welcher zufolge die durch die Sinne dem Centralorgan übermittelte Wahrnehm— ung jenem Objekt, von welchem die Reiz— ung ausging, conform entſprechen ſollte. Nur ein „Zeichen“, nicht aber ein „Abbild“ der äußeren Gegenſtände liefern uns unſere Sinne.“) Aendert ſich das, was wahr— genommen wird, geſetzmätzig, ſo müſſen auch die Sinneseindrücke nach einem beſtimmten Geſetze variiren, mögen auch im Uebrigen die beiden Curven, durch welche man ſich etwa beide Proceſſe dargeſtellt denken könnte, einen von Congruenz oder Parallelismus noch ſo weit entfernten Verlauf zeigen. Die Qualitäten der Empfindung weiſen ſich dem— gemäß als eine bloße „Form der Anſchau— ung“ aus. Nun liegt es nahe, zu unter— ſuchen, ob es noch andere (Grund-) Formen der Anſchauung gäbe, nämlich die Zeit, als die transcendentale Form der inneren, und den Raum, als transcendentale Form der äußeren Anſchauung, wie Kant wollte. Es muß nun ſoviel zugegeben werden, daß zwiſchen dem Raum und anderen Wahr— f 9 Würde man das Wort „Abbildung“ in dem Sinne der modernen Mathematik ge— brauchen, ſo wäre daſſelbe immerhin auch auf den hier berührten Proceß anwendbar. Be— kanntlich nennt man ein geometriſches Gebilde auf einem anderen dann eindeutig abgebildet, wenn jedem Elemente des erſteren ein und 3a Literatur und Kritik. nehmungen ein ſehr weſentlicher Unterſchied inſofern beſteht, als wir das räumliche Ver— hältniß durch unſere Willensimpulſe un⸗ mittelbar zu beeinfluſſen vermögen, während pſychiſche Zuſtände im Allgemeinen von jenen unabhängig zu Stande kommen und geſtalten. „Dasjenige, an dem keine Raum— beziehung wahrzunehmen iſt, begreifen wir als die Welt der inneren Anſchauung, als die Welt des Selbſtbewußtſeins.“ Die Frage nun, ob der Raum etwas vor aller Erfahrung Gegebenes ſei, bedarf einer eigenen ſorgfältigen Unterſuchung; gewiſſermaßen als Vorſpiel zu dieſer wird in der erſten Bei— lage „über die Localiſation der Empfind- ung innerer Organe“ gehandelt und gezeigt, wie ſehr geneigt der Menſch im Allgemeinen iſt, ſeine Empfindungen an einen falſchen Ort zu verlegen, wie vorſichtig ſomit alle auf die Wirkung der ſogenannten Lokal- zeichen ſich ſtützenden Schlüſſe gezogen wer— den müſſen. Wir denken uns einen Menſchen ohne alle und jede Erfahrung. Das erſte, was er beim Gebrauche ſeiner Gliedmaßen u. ſ. w. lernt, iſt das, daß er durch zwei entgegen— geſetzte Innervationen ſich zuerſt aus einem Anfangszuſtand heraus und ſodann wieder— um in denſelben zurückverſetzen kann. Aus einer mehr oder minder reichhaltigen Gruppe von „Präſentabilien“ werden jo einzelne Beſtandtheile und ſchließlich jeder einzelne Beſtandtheil thatſächlich „präſent“. Jedes für den Beobachter zugängliche „Nicht-Ich“ erzwingt ſich, wie Fichte ſagt, dem „Ich“ gegenüber Anerkennung. Für die Entwidel- nur ein beſtimmtes Element des letzteren Ge— bildes entſpricht. In dieſer Weiſe muß aber auch zwiſchen Objekt und Wahrnehmung eine eindeutige Verwandtſchaft ſtattfinden, wenn dieſe Beziehung die Grundlage einer wiſſen— ſchaftlichen Unterſuchung abgeben ſoll. | Literatur und Kritik. ung der Raumvorſtellung iſt ſelbſtverſtänd— lich der Taſtſinn ganz beſonders beſtimmend; er liefert uns ganz ſelbſtſtändig die Außen— dinge als eine zweifach ausgedehnte Man— nigfaltigkeit. Damit aber das taſtende Glied eine ſolche Mannigfaltigkeit erzeugen könne, muß es ſich frei in einer höheren, in einer ſolchen von drei Dimenſionen, bewegen können. So iſt denn der Raum als etwas dreifach Ausgedehntes gewonnen, nicht jedoch irgend eine von ſeinen ſonſtigen Qualitäten, wie ſie in der Form der ſogenannten Axiome des Euklides zum Ausdruck kommen, und wir gelangen ſo zu einer neuen und unſeres Wiſſens nirgendwo anders mit gleicher Entſchiedenheit wie hier betonten Wahrheit: Die Entſcheidung der Frage, ob der Raum eine transcendentale oder eine empiriſche Anſchauungsform ſei, im Sinne der erſteren Annahme, präjudicirt noch in keiner Weiſe die weitere Frage, ob die Axiome transcendentale oder Er— fahrungsſätze ſeien. Anläßlich dieſer neuen Formulirung einer wohl von Vielen ge— fühlten, nicht aber klar erkannten Thatſache geht Helmholtz in eine detaillirte Anti— kritik gegen die Krauſe'ſche Monographie ein, auf welche wir bei Beſprechung der letzteren zurückzukommen im Sinne haben. Man mag zu der hiermit angedeuteten großen Streitfrage wie immer Stellung nehmen, ſo muß man doch ehrlicher Weiſe Helmholtz's Ausſpruch unterſchreiben, daß auch ein Kant bei der Aufſtellung ſeiner Raumtheorie von dem damals ge— rade erreichten Stande mathematiſchen und phyſiologiſchen Wiſſens abhängig war, und nichts würde ſicherlich der große Kriticiſt ſchärfer verdammen, als ein einſeitiges dog— matiſches Feſthalten an den von ihm unter den gegebenen Verhältniſſen allerdings zur relativen Vollkommenheit gebrachten An— EN 143 ſchauungen. Wer von dem Charakter meta- geometriſcher — wir ſagen abſichtlich nicht wie die Vorlage metamathematiſcher — Unterſuchungen nichts wußte, dem konnte die Frage, ob nicht auch andere Raumvor⸗ ſtellungen, reſp. andere geometriſche Grund— ſätze mit unſeren Denkgeſetzen verträglich ſeien, gar nicht einmal in den Sinn kommen. Allerdings wird, wenn das, was man heut— zutage Gauß'ſchen oder Riemann'ſchen Raum nennt, angeſchaut werden ſoll, das Wort „Anſchauung“ eine etwas erweiterte Bedeutung erhalten müſſen. Bei jenen Na- tiviſten galt als „angeſchaut“ nur das, deſſen Vorſtellung ohne jedwede Verſtandes— Anſtrengung der Seele ſich einprägt, wäh— rend doch an ſich der Begriff der Anſchau— ung ſich ſehr wohl mit einer gleichzeitigen Denkarbeit verträgt. Als Anhang zu die— ſem Theile der Schrift giebt Beilage III einen Auszug aus den von Helmholtz in der engliſchen Zeitſchrift „Mind“ ver— öffentlichten Betrachtungen. Der Verfaſſer entwickelt hier die Grundzüge einer phyſi— ſchen Erfahrungsgeometrie, einer Geometrie, welche von einem aufmerkſamen Beobachter lediglich auf die Definition gegründet wer- den kann, daß „phyſiſch gleichwerthig“ die— jenigen Raumgrößen ſind, in welchen unter gleichen Umſtänden und in gleichen Zeiten die gleichen phyſikaliſchen Vorgänge ſich ab⸗ ſpielen können. Vergleichen wir nun dieſe phyſiſche Geometrie mit Kant's ideeller Geometrie, ſo können zwar beide Wiſſen— ſchaften mit einander übereinſtimmen, und ſie thun dies ja auch thatſächlich, allein a priori iſt doch dieſe abſolute Identität nicht zu behaupten. Wir können uns, wie dies Helmholtz früher an dem Beiſpiele des Beltrami'ſchen Kugelraumes aus— geführt hat, ſogar eine Nicht-Congruenz beider Geometrien vor das — natürlich 144 geübte — geiftige Auge ſtellen. Mit Hülfe dieſer Feſtſetzungen werden dann im zweiten Paragraphen der Beilage die Einwendun— gen des Engländers Land erörtert und zurückgewieſen, um ſchließlich bezüglich der Frage, ob die Kenntniß der Axiome einer transcendentalen Anſchauung entſtamme, zu der Entſcheidung zu gelangen, daß eine ſolche Abſtammung weder erwieſen, noch auch nothwendig ſei, ja daß für die Begreifung der realen Welt jene Hypotheſe ganz und gar unbrauchbar genannt werden müſſe. Wer nur dieſe letzten Concluſionen be— rückſichtigt, der möchte auf den Gedanken kommen, als ob die Auffaſſung von Helm— holtz zu derjenigen von Kant in einem unlösbaren principiellen Widerſpruche ſtände, und dieſe Meinung bildet denn auch für Krauſe's Oppoſition den eigentlichen Anhaltspunkt. Allein jene Gegenſätzlichkeit iſt in Wirklichkeit nicht vorhanden; es wird nur, was ja das Endziel wiſſenſchaftlicher Forſchung ſein und bleiben muß, jene Grenze, bei welcher Kant's Erklärungs— verſuch ſtehen blieb, weiter zurückgeſchoben. Dies gelingt, nachdem bis dahin weſentlich die Rolle des Taſtſinnes für die Conception des Raumes ſtudirt war, weſentlich durch die Beiziehung des Geſichtsſinnes. Sowohl eine genauere Vergleichung der Localzeichen der Netzhaut, als auch Beobachtungen bei operirten Blinden drängen uns die Ueber— zeugung auf, daß das Geſichtsfeld des Auges nicht für jedes Individuum ohne Weiteres eine terra cognita ift, daß vielmehr Kennt— niß des Geſichtsfeldes erſt auf dem Wege der allmäligen Uebung gewonnen werden muß. Letzteres leugnet eben die nativiſtiſche Schule, nach deren Doktrin der Menſch gleich mit dem fertig ausgebildeten Auge ins Leben tritt, im Gegenſatze zur empiriſtiſchen. Daß erſterer ungleich mehr Bedenken entgegen- Literatur und Kritik, ſtehen, als letzterer, ja daß die Nativiſten nicht einmal auf ſtrenger Durchführung ihrer eigenen Hypotheſe zu beſtehen ver— mögen, wird in einer für uns wenigſtens überzeugenden Weiſe dargethan. Sowohl das Auge, wie die an der Oberfläche des menſchlichen Körpers endigenden Nerven, reſp. der Taſtſinn, belehren uns demgemäß übereinſtimmend, daß all' unſer Wiſſen nur auf dem erfahrungsmäßig überkommenen Bewußtſein beruht, es beſtehe ein geſetz— liches Verhältniß zwiſchen den Präſentabi— lien der — gleichviel ob realen oder ſelbſt wieder nur phänomenalen — Außenwelt und unſeren eigenen Innervationen. Aus- drücklich erwähnt Helmholtz, daß es ſachlich gleichgültig ſei, ob wir bezüglich jener Welt, welche zu begreifen unſere Aufgabe iſt, die idealiſtiſche oder realiſtiſche Hypotheſe zur Baſis wählen, ja daß man ſogar bei allem Ueberzeugtſein von der Richtigkeit letzterer die Sprache erſterer und umgekehrt ſprechen könne. Abſolut that— ſächlich iſt einzig und allein das Geſetzliche in der Erſcheinung. Ein Geſetz iſt ſtets der Ausdruck einer Kraft, und damit be— zeichnen wir im Sinne Galilei's ein aus den Verhältniſſen unſerer Muskelbewegung abſtrahirtes und auf die Außenwelt über— tragenes Etwas, ein „Nicht-Ich“ nach Fichte's Terminologie. Was hinter dem Wechſel der Erſcheinungen ſteht, nennen wir das „Wirkende“ oder noch präciſer das „Wirkliche“. Die Frage nach dem Ding an ſich iſt ſonach für uns nicht ſowohl blos eine transcendente, als vielmehr ſogar eine unmögliche: „Was wir erreichen können,“ — was aber auch unſeres Strebens letztes Endziel ſein muß — „iſt die Kenntniß der geſetzlichen Ordnung im Reiche des Wirklichen, dieſe freilich nur dargeſtellt in dem Zeichenſyſtem unſerer Sinneseindrücke“ (S. 39). Wie aber dürfen wir auch nur dieſe letztere Behauptung aufzuſtellen wagen, wenn all' unſer Wiſſen ſo enge mit dem trügeriſchen Spiele unſerer Sinne verknüpft iſt? Ein Etwas muß es doch geben, ohne deſſen Exiſtenz wir auf die Begreifung der Welt, ſei es auch nur in dem ſo weſent— lich eingeſchränkten Sinne von vorhin, gänz— lich verzichten müßten, dieſes Etwas iſt das Cauſalgeſetz. Mit der Statuirung dieſes Geſetzes als eines à priori gegebenen, trans— cendentalen Geſetzes endet die geiſtreiche Unterſuchung. Wir fürchten, daß von ſtreng⸗kriticiſtiſcher Seite der Einwand erhoben werden könnte, mit dieſer Setzung des Denkgeſetzes werde jenes abſolute Myſterium, gegen deſſen Ver- drängung aus der Naturphiloſophie Hel m— holtz in ſo ſchneidiger Weiſe zu Felde zieht, durch eine Hinterthüre wieder ein— gelaſſen. Es iſt uns nicht unbekannt, daß z. B. Caspari's „Grundprobleme der Erkenntnißthätigkeit“ in ihrem unlängſt er— ſchienenen zweiten Bande weſentlich der Be— kämpfung einer ſolchen Subſtantiirung des Intellektes gewidmet ſind. Allein ohne dieſer immerhin ſchwierigen Frage materiell näher zu treten, glauben wir uns inſofern mit der von Helmholtz ausgegangenen Formulirung einverſtanden erklären zu kön— nen, als mit ihr lediglich geſagt ſein ſoll, daß ſich hier ganz ebenſo der menſchliche Geiſt eine Grenze aus Gründen der Selbſt— befriedigung ſetzt, wie er dies nach Laß— witz's ſcharfſinnigen — auch in dieſen Blättern beſprochenen — Ausführungen in dem Begriffe des phänomenalen Atomes gethan hat. Jedenfalls aber iſt auch das ſicher, daß ein Gegenſatz zwiſchen der em— piriſtiſchen Stellung Helmholtz's und der idealiſtiſchen Stellung Kant's nur dann behauptet werden kann, wenn man Literatur und Kritik. 145 an der Oberfläche bleiben und die wahren Motive des Erſteren nicht gelten laſſen will. Uns will es bedünken, als gehe derſelbe nur folgerichtig auf jenem Wege weiter, welchen der große Königsberger Philoſoph vorgezeichnet hatte, den aber weiter zu ver— folgen ihn die Zeitumſtände hinderten, von denen nun einmal auch das Genie ſich nie völlig zu emancipiren im Stande iſt. Von dem Weſen der Sinnesempfindungen, von dem, was man heutzutage Pſpychophyſik nennt, wußte Kant nichts; er blieb alſo da ſtehen, wo ſein Wiſſen aufhörte, und betrachtete Zeit und Raum als die primär geſetzten Anſchauungsformen des menſchlichen Geiſtes. Heute nun ſind wir ein Stück weiter; wenn wir den Altmeiſter des Kri— ticismus demgemäß verbeſſern und jene Anſchauungsformen erſt als ein aus der Combination von Denkgeſetz und Erfahr— ung reſultirendes Zuſammengeſetztes deuten, handeln wir nur conſequent im Sinne Kant's und verſündigen uns nicht im Eutfernteſten an den von ihm überkomme⸗ nen, allerdings unwandelbaren methodiſchen Regeln. Die Folgezeit hat die beſten Aus— ſichten, aus jenem Grenzbegriff, vor dem wir heutigen Tages Halt zu machen ge— zwungen ſind, erfahrungsmäßige reſp. be— kannte Elemente ausſcheiden und ſomit die Grenze wieder um eine Strecke hinaus— ſchieben zu können, wogegen freilich eine gänzliche Beſeitigung dieſer Grenze nicht mit den Exiſtenzbedingungen des Menſchen verträglich und ſomit — nach unſerer per- ſönlichen Ueberzeugung wenigſtens — nie— mals zu erhoffen iſt. Ganz anders denkt nun freilich über die zuletzt berührten Punkte Herr Krauſe. Ihm iſt es darum zu thun, die Differen— zen zwiſchen den beiden Forſchern, nach denen er ſeine Schrift genannt hat, als 146 möglichſt große und ſchroffe hinzuſtellen. Ob ihm das gelungen, werden wir ſehen; für den Eingang ſei nur ſo viel geſagt, daß ihm ſchwerlich das Recht wird einge— räumt werden können, für einen ganz un— befangenen Richter gehalten zu werden. Wer dasjenige anſtellt, was man heutzutage als eine Enquéte zu bezeichnen pflegt, von dem ſetzt man in erſter Linie immer vor— aus, er nehme mit voller Objektivität die ihm übertragene Aufgabe in die Hand. Wie aber ſtimmt zu dieſer Grundforderung das Schlußwort Krauſe's (S. 94), er habe die „faſt zu leichte“ Arbeit übernom⸗ men gehabt, „unſeren deutſchen Meiſter Immanuel Kant in der Philoſophie zu vertheidigen“? Ein Richter, der ſchon im Voraus über ſein ſchließliches Verdikt im Klaren iſt, wird bei der Confrontation der beiden vor ſeinen Richterſtuhl geladenen Parteien ſelten geneigt ſein, den eigenen Parteiſtandpunkt zu verlaſſen, und ſo müſſen wir von vornherein dem Zeugenverhör unſer Mißtrauen entgegenbringen. Ein wirkliches Verhör iſt es aber, was der Verf. vor— nimmt; er wirft im Eingang ſechs Fragen auf, läßt dieſelben durch Kant und Helm— holtz beantworten, reſp. beantwortet ſie ſelbſt ſo, wie ſie im Geiſte beider Autoren unterſchieden werden müßten, und ſtellt dann feſt, wie entweder gewöhnliche Schlußfehler oder Verſtöße gegen die transcendentale Logik oder endlich irrthümliche Auffaſſung von Erfahrungsthatſachen es bewirkt hätten, daß Helmholtz von den klaſſiſchen Sätzen Kant's und damit auch von der abſoluten und incorrigiblen Wahrheit abgewichen ſei. Da wird denn zuerſt erörtert, auf welchen Bedingungen überhaupt die Möglichkeit be— | ruht, daß wir Menſchen Raumanſchauungen bekommen können. Nach Helmholtz ſei dieſelbe in der Empfindung als Lokalzeichen | Literatur und Kritik. enthalten, nach Kant dagegen vor der Em— pfindung vorhanden. Erſteres iſt, wie wir ſoeben darlegten, nur ſehr cum grano salis zu verſtehen. Den Begriff der Lokalzeichen ſcheint uns Krauſe zu enge und ſpeciell aufzufaſſen, weshalb wir ihn auf den in— tereſſanten Artikel von Wundt in der von Taine herausgegebenen franzöſiſchen Revue hinweiſen möchten. Hiermit ſteht es denn auch wohl im Zuſammenhang, daß von den Empfindungen, deren inniges Verbun— denſein mit dem aprioriſtiſchen Cauſalgeſetz eben von Helmholtz nachgewieſen iſt, immer in grobſinnlicher Weiſe geſprochen wird; wenn es heißt (S. 18), der Menſch ſuche in ſeiner Empfindung vergeblich nach irgend einer Beimiſchung, welche den Raum empfindbar mache, ſo beruht dies doch auf einer ungenügenden Analyſe des Weſens der Empfindung. Bei allen Bedenken, welche nach des Referenten Anſicht der von A. Riehl (im erſten Bande der „Viertel— jahrsſchrift für wiſſenſchaftliche Philoſophie“) vorgetragenen Theorie entgegenſtehen, wird durch ſelbe doch ſo viel bewieſen, daß die von Helmholtz's Gegner beſtrittene „Bei— miſchung“ in der That exiſtirt. Wer dieſe Andeutungen weiter ausführt und mit ihrer Hülfe die Krauſe'ſchen Prämiſſen in das richtige Licht ſtellt, wird die Schlußfolger— ung des erſten Abſchnittes, Helmholtz habe einen Fehler in der „dritten Figur“ der formalen Logik begangen, nicht aner— kennen. Im zweiten Capitel tritt ein die ganze fernere Schrift durchziehendes prin— cipielles Mißverſtändniß recht augenfällig zu Tage; Krauſe ſpricht durchweg nur vom Geſichtsſinn und von den Lokalzeichen der Retina und ſcheint zu überſehen, daß in der befehdeten Lehre dem Taſtſinn eine mindeſtens gleichwerthige, wo nicht eine prä— valirende Rolle dem Geſichtsſinn gegenüber Literatur und Kritik. zugeſchrieben wird. Die Thatſache aber, daß Helmholtz nur aus der Zuſammen— wirkung aller in Betracht kommenden Appa— rate die Raumvorſtellung entſtehen läßt — einer oder der andere kann ja, wie z. B. bei Blinden, außer Dienſt geſtellt ſein, und dann iſt eben die Raumvorſtellung eine un— vollkommene —, dieſe Thatſache muß unſe— rem Verfaſſer gänzlich entgangen ſein, ſonſt könnte er ſeinen Gegner nicht zu dem ganz unverſtändlichen Schluſſe gelangen laſſen, es müſſe ebenſoviel „Erfahrungsräume“ geben, als Sinne vorhanden ſeien (S. 23). We— niger Einwendungen ſcheint uns der dritte Abſchnitt zu provociren. Mit dem, was Herr Krauſe (S. 28) über das Zu— ſtandekommen der Raumanſchauung ſagt, wird ſich bis zu einem gewiſſen Grade auch der Empiriſt einverſtanden erklären können, nur ſchießt er auch darin über das Ziel hinaus, daß jenes Dritte, auf welches ſowohl die Netzhaut als auch das Inner— vationsgefühl Einfluß haben, von Nieman— den in Abrede geſtellt und von Helmholtz nur in rationellerer Weiſe ausgelegt wird, als von Kant. Man wird aus unſerer Darſtellung nun bereits entnommen haben, daß die Dialektik weit mehr als die Logik bei der hier in Rede ſtehenden Streitfrage intereſſirt iſt; ſo iſt unter andern im vier— ten Abſchnitt die gegen Erdmann's De— finition der Geometrie als einer empiriſchen Wiſſenſchaft gerichtete Polemik in ſofern nicht concludent, als der Begriff „erfahrungs— mäßig“ ja gar noch nicht eigentlich feſtſteht und z. B. durch Avenarius unlängſt in einer Weiſe formulirt worden iſt, durch welche gar manche früheren Widerſprüche be— ſeitigt erſcheinen. Ferner wird man bei der Lektüre gerade dieſes Abſchnittes immer mehr davon überzeugt, daß im Gebiete der formalen und ſpeciell der kritiſchen Philo— 147 ſophie der Verfaſſer überaus bewandert iſt — in feiner Interpretation einer Kant'- ſchen Stelle hat er Helmholtz gegenüber wahrſcheinlich Recht (S. 32) —, daß er dagegen von dem Weſen der abſoluten Geo- metrie ſowohl wie von gewiſſen Doktrinen der neueren Phyſiologie durchaus unzu— reichende Vorſtellungen mitbringt. Was er beiſpielsweiſe vom „Sinnengedächtniß“ aus- ſagt, weiſt Helmholtz's Schrift (S. 52) als mißverſtanden nach, und wirklich machen die S. 35 mitgetheilten Erörterungen über das Gedächtniß den Eindruck einer halb abſichtlichen Selbſttäuſchung. Neue Belege für die von uns im vorigen Satze aufge ſtellten Behauptungen liefert auch der nächſte Paragraph, denn für unnütze Spielereien (S. 41) kann doch auch der eingefleiſchteſte Dogmatiker die metageometriſchen Specula— tionen nur dann noch halten, wenn er eben von Beltrami's epochemachender Ent⸗ deckung der Pſeudoſphäre nichts weiß, und die Anſicht, ein Kind müſſe ſeines kleineren Sehorganes halber Alles kleiner ſehen, als ein Erwachſener, kann im Ernſte auch Nie— mand aus Helmholtz's phyſiologiſcher Optik herausleſen wollen. Des Referenten Aufmerkſamkeit hat in beſonderem Grade der ſechſte Abſchnitt auf ſich gezogen, welcher folgende Ueberſchrift führt: „Wäre es mög— lich, daß wir veränderte Eigenthümlichkeiten des Raumes und daraus folgende verän— derte geometriſche Axiome erſinnen könnten?“ Wie zu erwarten war, iſt hier viel von den imaginären Flächenweſen die Rede. Wir ſind uns nun wohl bewußt, daß dieſe Hülfsvorſtellung den einzigen minder ſtarken Punkt des Helm holtz'ſchen Lehrgebäudes repräſentirt; wir haben uns bereits vor längerer Zeit mit ihr eingehend beſchäf— tigt“) und weſentlich nach zwei Seiten hin a 85 Kritik der Raumtheorieen von Helm— Kosmos, III. Jahrg. Heft 2. 148 unfere Bedenken formulirt: Wir halten nämlich erſtens dafür, daß es nicht zu⸗ läſſig iſt, Geſchöpfen, deren Organiſation uns unbekannt, ja unbegreiflich iſt, menſch— liche Gehirnfunktionen beizulegen, und wir glauben ferner, daß, jene Attribute zuge— geben, dieſe Flächenweſen bei conſequenter Schulbildung zu dem Ergebniß gelangen müßen, ihre Geometrie ſei nur ein Unter— fall einer allgemeineren Raumlehre von drei Dimenſionen. in Schmitz-Dumont's Broſchüre „Die Pangeometrie“ (Leipzig 1876) mit viel Scharfſinn weiter ausgeführt. Art gänzlich ab, und auch der ſchwerwie— gende erſte Gegengrund tritt lediglich in einer Anmerkung unter dem Strich (S. 51) ganz gelegentlich hervor. Was er dagegen ſelbſtſtändig zur Widerlegung von Helm— holtz beibringt, iſt nicht eben ſehr ſchla— gender Natur. Denn wenn er (S. 46) ſich dahin ausſpricht, er ſelbſt habe nach— gewieſen, „daß die Dimenſionen des eigenen Leibes keine Bedingungen ſind für die An— zahl der Dimenſionen ꝛc., ſo räumt er ja ſelbſt ein gewichtiges Bedenken aus dem Wege. Von den wirklich an Wortklauberei grenzenden Bemängelungen des von Hel m— holtz zweckmäßig eingeführten Terminus „geradeſte Linie“ wollen wir hier abſehen, allein deſſen müſſen wir gedenken, daß bei dem Beſtreben, aus den Worten Helm— holtz's einen logiſchen Fehler herauszu- conſtruiren, dem Verfaſſer ſelber ein eireu— lus vitiosus mit unterläuft. Er jagt näm— lich: durchlaufen mehr als eine Richtung. Frei— lich, aber doch nur in unſeren Augen, nicht in denen der Flächenweſen, denn dieſe wer— holtz und Schmitz-Dumont, Zeitſchrift für das Realſchulweſen, I. Jahrgang. Krauſe hingegen ſieht von Argumenten der zweiten oder aber nur höchſter Wahrſcheinlichkeit zur Letzteren Punkt findet man Alle in ſich zurückkehrenden Linien Literatur und Kritik. den nach vollendeter Durchlaufung etwa eines Meridians gewiß ebenſo des feſten Glaubens leben, in ein und derſelben Richt— ung verblieben zu ſein, wie dies für einen Menſchen gilt, der auf der Erde in gera— der Linie fortzuſchreiten vermeint, thatſäch— lich aber auf einem größten Kreiſe ſich be— wegt. Giebt man einmal die Eriftenz- fähigkeit der zweidimenſionalen Weſen zu, jo ſteht auch ihre Geometrie feſt. — Am detaillirteſten gehalten und unter dem philo— ſophiſchen Geſichtspunkt entſchieden werthvoll iſt der ſiebente und letzte Abſchnitt, in welchem unterſucht werden ſoll, ob den geometriſchen Axiomen der Charakter voller Apodicticität Seite ſtehn. Viele treffende Einzelbemerk— ungen finden ſich hier vor.“) Allein auch hier ſind eben wieder die metageometriſchen Ausführungen des Verfaſſers mit einem fundamentalen Gebrechen behaftet, mit dem nämlich, daß er ſich die erweiterte Defini— tion des Gauß'ſchen Krümmungsmaßes Einblick in den bisher viel zu wenig betrach— teten philoſophiſchen Gedankengang des großen Galilei — nicht „Galilaei“ — thun zu können, deſſen Anſchauungen über die Noth- wendigkeit der drei räumlichen Abmeſſungen in verdienſtlicher Weiſe wiedergegeben werden. — Auf der anderen Seite aber ſei auch eine unangenehme Seite der Krauſe'ſchen Pole— mik nicht verſchwiegen. Dieſe finden wir in dem ſchulmeiſterlichen Tone, in welchem gar häufig der und jener Gelehrte abgekanzelt wird, welcher ſich erlaubt, Kant's Anſichten eine anderweite Deutung zu geben. Obenan in der Reihe dieſer Prügelknaͤben ſteht Er d— mann, der ſich denn doch durch ſeine treff— lichen Kant-Ausgaben ein Recht darauf er— worben haben dürfte, nicht immer bei jeder paſſenden oder unpaſſenden Veranlaſſung mangelnder Kenntniß der Kant'ſchen Werke bezichtigt zu werden. un . NR rr er Ne er Literatur und Kritik. ſondere auf Seite 80 tritt dies klar her— vor, denn allda operirt der Verfaſſer mit einer Anzahl von Begriffen, welche er offen- bar als von vornherein gegeben anſieht, welche aber lediglich unter der Vorausſetz— ung eines „ebenen“ Raumes ihren vulgären Sinn behaupten, es bewegt ſich ſomit Krauſe's ganzer Beweis für die Mono— dromie des Raumes im Kreiſe. — Ein Schlußwort faßt die gangbaren erkenntniß— theoretiſchen Anſchauungen nochmals kurz zuſammen und ſucht feſtzuſtellen, daß nur auf dem Gebiete der Transcendentalphilo- ſophie reſp. des phyſiologiſchen Stativismus volle Befriedigung für jene Fragen erreicht werden könne, an deren endgültiger Löſung die empiriſtiſche Schule nothwendig ſchei— tern müſſe. Wir glaubten ein Recht zu haben, un— ſer Referat über die beiden gegenſätzlichen Schriften von Helmholtz und Krauſe etwas ausführlich zu geſtalten, weil durch dieſelben eine wichtige Streitfrage in der That mehrfache Förderung erfahren hat. Es erhellt bei gründlicher Vergleichung der beiden Antipoden, daß blos philoſophiſche Dialektik, und wäre ſie noch ſo fein zuge— ſpitzt, als ungenügend zur Aufklärung dieſes Grenzgebietes im eminenteſten Sinne ſich erweiſt, daß vielmehr nur die ſtete Ver— einigung erfahrungsmäßiger undintellektueller Elemente uns ein weiteres Vordringen auf dieſen dunklen Pfaden verbürgt. Den letz— teren Punkt weit prägnanter noch als in den populären Vorleſungen betont zu haben, halten wir nicht für das geringſte Verdienſt der Helmholtz'ſchen Prolegomena zu einer exakten Erkenntniß, als welche man „die Thatſachen in der Wahrnehmung“ mit allem Rechte bezeichnen kann. Berlin. Prof. S. Günther. 2 149 J. E. Taylor über Blumen, ihren Urſprung, ihre Geſtalten, Gerüche j und Farben. In engliſchen Prachtband gebunden, mit Goldſchnitt verziert, in Bezug auf Papier und Druck elegant ausgeſtattet und mit 32 farbigen Blumenbildern und 161 Holz— ſchnitten ausgeſchmückt liegt jetzt ein XXII und 347 Seiten ſtarkes populäres Werk über Blumen!) plötzlich in zweiter Auflage vor uns, noch ehe wir von der wohl reißend ſchnell vergriffenen erſten irgend etwas geſehen oder gehört haben. Gewiß ein charakteriſtiſches Zeichen der geſteigerten Theilnahme, welche den reizenden Wechſelbeziehungen zwiſchen Blumen und Inſekten, wenigſtens in Eng— land, ſelbſt in weiteren Kreiſen zu Theil wird! Natürlich aber muß, bei der Gering— ſchätzung, mit der man, in England noch mehr als in Deutſchland, den naturgeſchicht— lichen Unterricht in den Schulen bisher be— handelt hat, die Vertiefung in Einzelheiten in demſelben Grade ſich verflachen und die Darſtellung ſich immer mehr auf Erörter— ung allgemeiner Geſichtspunkte beſchränken, als der Umfang des Leſerkreiſes ſich er— weitert, welchem die heutige Blumentheorie mundgerecht gemacht werden ſoll. Das tritt uns beim Leſen des vorliegenden Wer- kes im Vergleich zu ſeinen beiden engliſchen Vorgängern recht lebendig vor die Augen. Das Darwin 'ſche Orchideenwerk““) nämlich, welches vor nun 17 Jahren die 5 =) Flowers, their origin, shapes, par- fumes and colours. By J. E. Taylor, Se- cond edition. London, Hardwicke & Bogue 1878. *) On the various contrivances by which british and foreign Orchids are fertilised by insects. By Charles Darwin. London, J. Murray, 1862. Zweite Auflage 1877. Ins Deutſche überſetzt von J. Viktor Carus: Die — 150 Literatur und Kritik. Sprengel'ſche Blumentheorie nach 70 jäh- hauptſächlichſten wildwachſenden Pflanzen riger Vergeſſenheit zum erſten Male wieder neu belebt und zugleich tiefer begründet hat, beſchränkt ſich darauf, an einer einzigen Familie die Blütheneinrichtungen bis in die kleinſten Einzelheiten des Baues als 4 | | I | Producte Kreuzung begünſtigender Natur- | züchtung nachzuweiſen; es übt daher auf Jeden, der von einer ſtarken Neigung zu ein- gehender Naturbetrachtung beſeelt iſt, durch die hingebende Vertiefung ins Einzelne einen bezaubernden Reiz, ſo wie durch die Fülle ſorgfältiger neuer Beobachtungen eine über⸗ wältigende Wirkung aus und bildet, nebſt Sprengel's „entdecktem Geheimniß“ die wichtigſte Quelle, auf welche jeder Natur- forſcher zurückzugehen hat, der in dieſem Gebiete ſelbſt mit Erfolg weiter arbeiten will. Von den beiden Compilationen nun, welche auf das bahnbrechende Originalwerk in England gefolgt ſind, verbreitet ſich das Lubbock'ſche Büchlein) über die ganze britiſche Flora und ihre Wechſelbeziehungen zu den Inſekten; und obgleich es ſich auf die in der That von ihm mit glücklichſtem Erfolge gelöſte Aufgabe beſchränkt, die all- gemein intereſſanten Verhältniſſe an ein- heimiſchen Beiſpielen klar und anziehend dar⸗ zuſtellen, ſo ſetzt es doch bei ſeinen Leſern noch ein hinreichend eingehendes natur- geſchichtliches Intereſſe voraus, um ſolche Einzelheiten, wie z. B. die Theile eines Bienenmundes oder einer complicirteren Blüthe, ſich etwas näher anzuſehen und die verſchiedenen Einrichtungen durch welche Orchi— deen von Inſekten befruchtet werden. Stutt⸗ gart, E. Schweizerbart. 1877. *) Sir John Lubbock, on british wild flowers considered in relation to insects. | England's der Reihe nach durchzugehen. Es erſcheint daher dem weiteren Kreiſe bota- niſcher Liebhaber vortrefflich angepaßt, denen es zwar keineswegs, wie man nach der Vor- rede wohl glauben möchte, Ergebniſſe eigener Forſchung bietet, die es aber mit den wich— tigſten Forſchungsergebniſſen Anderer in dem bezeichneten Gebiete in ebenſo ſachkun— diger als gefälliger und anregender Weiſe bekannt macht. Das vorliegende Taylor'ſche Werk endlich breitet ſich in noch viel weiterem Umfange über alle Geſichtspunkte aus, welche mit dem gewählten Blumenthema zuſam⸗ menhängen, verzichtet dagegen ziemlich voll- ſtändig auf ein Eingehen in Einzelheiten, welche einen Laien in der Naturgeſchichte beim Leſen des Buchs ermüden oder zurück⸗ ſchrecken könnten. Es geht z. B. trotz der zahlreichen Abbildungen nicht ein einziges Mal auf den Bau irgend einer Blume auch nur ſo weit ein, als es zum klaren Nachweis der kreuzungsvermittelnden Thä⸗ tigkeit der Inſekten oder zum Verſtändniß der wichtigſten Anpaſſungen der Blumen an dieſelben nöthig wäre; vielmehr ſind die colorirten Blumenabbildungen ſämmtlich, die Holzſchnitte größtentheils nur Habitusbilder, die loſe neben dem Texte herlaufen, und ſelbſt wo einmal ein Holzſchnitt den inne⸗ ren Bau einer Blume mehr im Einzel- nen zeigt, iſt im Texte kaum je Bezug darauf genommen. Auch die Weltanſchau⸗ ung des Verfaſſers dürfte wohl dem Be— dürfniſſe eines weiteren engliſchen Leſerkreiſes entſprechen; denn während er im erſten | London, Macmillan & Co. 1875. Deutſch von | A. Paſſow: Blumen und Inſekten in ihrer Wechſelbeziehung dargeſtellt. Berlin, Gebr. | men als zum Ergötzen des Menſchen er- Bornträger, 1877. Kapitel mit Nachdruck für die Entwidel- ungslehre eintritt und mit zahlreichen ge wichtigen Gründen gegen den Standpunkt derjenigen zu Felde zieht, welche die Blu- nnn a N ſchaffen, die Difteln und Dornen als eine Folge des Sündenfalls auffaſſen, ſchöpft er dagegen in den letzten Kapiteln ſeines Werkes aus den mannigfachen Anpaſſungen der organiſchen Natur den zuverſichtlichen Glauben, daß eine perſönliche Einſicht alle Naturproceſſe beaufſichtige und erblickt in den Schutzvorrichtungen der Pflanzen einen Beweis, daß dieſelbe göttliche Liebe, welche für die Thiere ſorge, auch die Pflanzen in ſich einſchließe. Während die bis jetzt geſchilderten Charakterzüge des Taylor'ſchen Blumen— werkes gewiß den raſchen Abſatz deſſelben weſentlich mit bedingt haben, iſt eine andere Eigenthümlichkeit deſſelben hervorzuheben, die in einer folgenden Auflage wohl ohne Beeinträchtigung ſeiner Volksthümlichkeit be— ſeitigt werden dürfte, nämlich die große Inkorrektheit der Angaben in Bezug auf die Urheber der einzelnen Entdeckungen, die hauptſächlich in des Verfaſſers völliger Un— kenntniß der außerengliſchen Literatur ihren Grund zu haben ſcheint. Nur aus ſolcher Unkenntniß läßt es ſich wohl erklären, wenn der geniale Be— gründer der Blumentheorie mit folgenden Worten abgethan wird: „Bis vor wenigen Jahren war der innere Bau der Blumen wenig bekannt und verſtanden. Sprengel und einige Andere hatten Eigenthümlichkeiten in wechſelnden Längen von Staubgefäßen und Griffeln derſelben Art, in der Anord— nung von Haaren in Blumeneingängen und manche andere Einzelheiten bemerkt und Jahren beſtätigt worden ſind“, wogegen dem Engländer Sir John Lubbock, der unbeſchadet feiner ſonſtigen wiſſenſchaftlichen Leiſtungen in der Blumenliteratur bis jetzt nur als Compilator aufgetreten ift,*) zahl— RE Die einzige eigene Beobachtung Sir hervorgehoben, welche in den letzten paar | Literatur und Kritik. 151 reiche Entdeckungen zugeſchrieben werden, an welchen derſelbe ſo unſchuldig iſt wie ein neugeborenes Kind. Gegenüber derartigen Verſtößen gegen die geſchichtliche Wahrheit, die in größter Zahl vorkommen, fallen einige wenige Unrichtigkeiten in Bezug auf Blumeneinrichtungen (3. B. daß Senecio vulgaris und Salix als windblüthig, die Blumenblätter von Caltha als zu Nekta⸗ rien umgebildet, die Randblüthen von Chry- santhemum als ſteril angegeben werden u. dgl.) kaum ins Gewicht. Trotz dieſer Mängel wird indeß das vorliegende Werk nicht nur naturgeſchichtlich ungeſchulten Blumenliebhabern willkommen ſein, ſondern ſelbſt Denen, welche mit der neueren Literatur über Wechſelbeziehungen zwiſchen Blumen und Inſekten bereits völlig vertraut ſind, viel Anregung und Belehr— ung bieten. Denn wenn es auch dieſe Be— ziehungen ſelbſt weit weniger eingehend dar— ſtellt, als ſie bereits dargeſtellt ſind, ſo verbreitet es ſich doch andererſeits über viele Fragen, welche in den bisherigen Bearbeit— ungen faſt gänzlich unberückſichtigt geblieben ſind und ſtellt das zu ihrer Entſcheidung vorliegende Material aus einer weit zer— ſtreuten Literatur zuſammen. So giebt das zweite Kapitel ein allge— meines Bild der in den aufeinander folgenden geologiſchen Formationen an verſchiedenen Fundorten bis jetzt aufgefundenen Pflanzen und Inſekten, durch welches die vom Ref. aus anderen Betrachtungen abgeleiteten Schlüſſe beſtätigt werden, daß nicht blos die Archi— ſpermen ſondern ebenſo auch die älteſten Ketafpermen windblüthig geweſen fein müſſen, daß Blumen und blumenbeſuchende Inſekten John Lubbock's welche Ref. in den british wild flowers hat entdecken können, iſt der experimentelle Nachweis, daß Bienen beim Auf- ſuchen des Honigs ſich durch Farben leiten laſſen. ) 152 gleichzeitig in gegenſeitiger Anpaſſung an einander ihre charakteriſtiſchen Eigenthüm— lichkeiten erlangt haben, und daß ſich bei den urſprünglichen Inſektenblüthlern zunächſt einfache, offne (polypetale), regelmäßige Blu— men ausgeprägt haben, die erſt ſpäter, in weiterer Anpaſſung an engere Beſucher— kreiſe, gamopetal und unregelmäßig ge— worden ſind. Nach den vom Verfaſſer mitgetheilten Ergebniſſen paläontologiſcher Forſchung würden auch die Monocotyledo— nen in ihrer Entwickelung den Dicotyle— donen vorausgegangen ſein. Es ſind z. B., wie wir hier erfahren, aus den unteren Kreideſchichten Grönlands 138 Farne, 75 Monocotyledonen und nur eine einzige Dico— tyledone beſchrieben worden. Unter 100 beſchriebenen Dicotyledonen aus den Kreide— ſchichten Dacota's befinden ſich 61 Amen— taceen und ſonſtige Apetalen, 35 Polype— talen und nur eine einzige Gamopetale. Erſt im Eocän beginnen Blumen in größe— rer Zahl, aber noch von einfacher regel— mäßiger Bildung aufzutreten; in derſelben Formation ſind die erſten unzweifelhaften Schmetterlinge gefunden worden. In den Miocänſchichten der Schweiz ſind unter faſt 900 foſſilen Inſektenarten auch Bienen und Tagfalter, unter etwa 700 Phanerogamen (wovon faſt 300 Bäume, 250 Sträucher und 160 Kräuter) auch augenfällige Blumen, wie Compoſiten und Roſifloren, gefunden worden. Selbſt Papilionaceen, deren erſte Spuren neben zahlreichen Mimoſen ſich ſchon im Eocän finden, ſind im Miocän bereits zahlreich. Nicht weniger als das Kapitel über das geologiſche Alter der Inſekten und Blu— men bietet auch der Abſchnitt über die geo— graphiſche Verbreitung der letzteren eine reiche Zuſammenſtellung wichtiger Thatſachen. Literatur und Kritik. 5 Als Urſachen, welche im Einzelnen die Vertheilung der Blumen bedingt haben und noch bedingen, werden die Ausbreit— ung ihrer Samen durch Waſſer, Wind und Thiere, das Klima, der Gehalt des Bodens an gewiſſen Aſchenbeſtandtheilen (Natron, Kalk), das Vorkommen oder Fehlen der Kreuzungsvermittler, denen ſie ſich angepaßt haben und der Weidethiere, von denen ſie vernichtet werden, theils kurz angedeutet, theils an Beiſpielen erläutert oder ſelbſt eingehender beſprochen. Zu eingehender Beſprechung wird namentlich Wallace's Aufſatz über die beſonderen Beziehungen zwiſchen Pflanzen und Inſekten, welche ſich auf Inſeln darbieten,“) recht vollſtändig verwerthet. Für die Abnahme der An— paſſungsfähigkeit der Pflanzen mit der Dauer ihres Verharrens unter gleichmäßigen Lebens— bedingungen wird das Verhalten bei uns eingeführter auſtraliſcher Blumen als tref— fender Beleg angeführt. Dieſe pflegen näm— lic ihre tiefeingewurzelte Gewohnheit, zu beſtimmter Jahreszeit zu blühen, auch bei uns beizubehalten, wenn auch ihre Blüthe— zeit in unſeren nordiſchen Winter fällt, wo— gegen unſere einheimiſchen Blumen, je nach ihrem Standort in der Ebene oder in nie— derem oder höherem Gebirge, ihre Blüthe— zeit um mehrere Monate verändern. Als Urſachen, welche im Großen und Ganzen die jetzige Vertheilung der Blu— men bedingt haben, ſind die ſeit der erſten Entſtehung von Blumen ſtattgehabten geo— logiſchen Veränderungen zu betrachten. Der Beſprechung derſelben wird die Hypotheſe abwechſelnder Vereiſung der nördlichen und ſüdlichen Halbkugeln) zu Grunde gelegt, und zur Begründung einer der Glacial— ) Nature, No. 358. p. 406-408. Bot. Jahresbericht 1876. S. 941. **) Dr. Croll, „Climate and Time“. periode der nördlichen vorausgegangenen Vereiſung der ſüdlichen Hemiſphäre auf die Ergebniſſe neuerer geologiſcher Forſchungen in Auſtralien und Neuſeeland verwieſen. Während des Vorrückens der Vereiſung auf der nördlichen Halbkugel konnten auf Ge— birgszügen Pflanzen der arktiſchen, ſubark— tiſchen und gemäßigten Zone bis zum Aequa— tor und darüber hinaus vorrücken. So läßt es ſich, da die arktiſche Zone der alten und neuen Welt zuſammenhängt, erklären, daß auf Feuerland 40—50 Arten von Phane— rogamen (flowering plants) vorkommen, die auch in Nordamerika und Nordeuropa zu Hauſe ſind, daß auf den Gebirgen des äquatorialen Amerika zahlreiche Blumen- arten vorkommen, die zu europäiſchen Gatt— ungen gehören, daß nicht minder in Afrika auf dem Camerungebirge und den Gebir— gen der capverdiſchen Inſeln und ſelbſt in der Nähe des Caps, daß endlich ebenſo in Aſien am Himalaya und auf den höheren Piks von Java europäiſche Formen unver— ändert oder mehr oder weniger abgeändert noch jetzt fortleben. Aus der abwechſelnden Vereiſung der ſüdlichen und nördlichen Halb— kugel läßt ſich das Zuſammen-Vorkommen arktiſcher und antarktiſcher Pflanzen auf den Gebirgen Braſiliens, ſowie vielleicht in den abyſſiniſchen Gebirgen das Vorkommen eu— ropäiſcher Formen neben ſolchen, die vom Cap der guten Hoffnung gekommen ſind, begreifen. Was nun ſpeciell die jetzige Vertheilung der Blumen in Europa betrifft, ſo mußte mit der zunehmenden Vereiſung Europas während der letzten Glacialperiode die reiche Flora der mit wärmerem Klima geſegneten Tertiärzeit theils erlöſchen, theils zurück— weichen (wie z. B. die Proteaceen ſeitdem auf Auſtralien, die Magnolia und Tulpen— bäume auf Nordamerika beſchränkt ſind); Literatur und Kritik. 153 nur ſolche Arten, die der allmählich zuneh— menden Kälte ſich anzupaſſen vermochten, konnten zwiſchen den immer weiter ſüd— wärts vordringenden arktiſchen Arten ſich erhalten. Beim Wiedereintritt milderen Klimas zogen ſich dann die urſprünglich arktiſchen Arten aus ihren ſüdlicheren Be— zirken nordwärts und auf die Gipfel der Gebirge zurück, während eine neue kräf— tigere Flora, hauptſächlich von Kleinaſien her, in die tiefer gelegenen Gegenden ein— drang und das Zurückwandern der durch die Vereiſung aus Europa verdrängten Pflanzen der Tertiärzeit unmöglich machte. So wurden die arktiſchen Pflanzen alpin, und es entſtand eine ſo große Uebereinſtimmung zwiſchen der nordiſchen und alpinen Pflan— zenwelt, daß z. B. von 360 phanerogamen Alpenpflanzen der Schweiz 158, alſo nahezu die Hälfte, auch in Skandinavien vorkom⸗ men, daß von den 685 Phanerogamen-Arten Lapplands 108 ſich auch in den Schweizer Alpen finden, daß im Engadin 80 Blüthen— pflanzen wachſen, die in der übrigen Schweiz fehlen, aber im äußerſten Norden Europas häufig find, daß endlich von den 132 Ar- ten, die auf dem Faulhorn im Berner Ober— lande noch bei 9000 Fuß Meereshöhe ge— funden werden, ihm 52 mit Lappland, 11 mit Spitzbergen gemeinſam ſind. Einen bemerkenswerthen Gegenſatz zu Europa, deſſen jetzige Blumenvertheilung im Großen und Ganzen durch mafjenhaftes Verdrängtwerden und Erlöſchen der Urein— wohner, durch darauffolgendes Zurückweichen der arktiſchen Einwanderer nordwärts und alpenaufwärts, und durch gleichzeitiges maſſen— haftes Nachdrängen neuer Eindringlinge von Oſten her verurſacht worden iſt, bilden die von der Vereiſung unberührt gebliebenen tropiſchen Tiefländer, deren Blumen ſich von ihrer erſten Entſtehung an ungeſtört weiter entwickeln und weiter differenziren konnten, indem ſie ſich den mit der Höher— Entwickelung des organiſchen Lebens immer complicirter geſtaltenden Lebensbedingungen ihrer dauernden Wohnſitze ſtetig anpaßten, ſo daß z. B. jeder Nebenfluß des Ama— zonenſtroms ſeine ihm eigenthümliche Flora beſitzt. Der folgende Abſchnitt, über den Bau der blumentragenden Pflanzen,“) zeigt in ſehr ſchöner, einfacher und anſchaulicher Weiſe, wie ſämmtliche Beſtandtheile der Blumen, Kelch, Blumenkrone, Staubgefäße und Stempel, nur umgewandelte Blätter ſind, die bisweilen (wie durch Abbildungen er— läutert wird) theilweiſe oder vollſtändig in ihre urſprüngliche Blattnatur zurückſchlagen, und zwar Blätter, deren Bau ſich verein— facht, deren Spiralſtellung ſich zu Quirlen zuſammengedrängt hat, wie auch ſonſt an den vom Hauptnahrungsſtrom entfernteſten Stellen, an den Gipfeln der Stengel und Zweige, eine Vereinfachung der Blattform und Verkürzung der Internodien nicht ſelten be— merkt wird. Blumen aber entſpringen ja bekanntlich immer an den vom Hauptnahr— ungsſtrom entfernteſten Stellen, an den Gipfeln der Stengel und in den Achſeln der Blätter oder Zweige. Auch leidet ihre Bildung erfahrungsmäßig durch zu reichli— chen Nahrungszuſchuß, welcher vielmehr die Ausbildung von Laubblättern befördert; ſie ) Der engliſchen Sprache fehlt unſere deutſche Unterſcheidung zwiſchen Blumen und Blüthen, auf welche ich bereits früher (Kosmos, Bd. I. S. 100) aufmerkſam gemacht habe. flowering plants bald in dem Sinne blumen— tragende Pflanzen, bald für Blüthenpflanzen oder Phanerogamen, und es iſt oft kaum möglich, aus dem Zuſammenhange mit voller Sicherheit zu erkennen, in welchem Sinne es gemeint iſt. = Unſer Verfaſſer gebraucht daher das Literatur und Kritik. wird dagegen durch Einwirkungen, welche den Nahrungszufluß hemmen (kärglichen Boden, Beſchneiden und Ringeln der Bäume) be— günſtigt; es läßt ſich daher leicht begreifen, wie die Quirlſtellung und die Vereinfachung des Baues ihrer Blätter zu Stande kam. Eine ſehr bemerkenswerthe Thatſache iſt es übrigens, und ſcheint für ſehr allmähliche Ausbildung beſonderer Quirle augenfälliger Blüthenhüllblätter zu ſprechen, daß eine der älteſten Pflanzenfamilien mit auffallenden Blumen, die bereits in der Kreideperiode erſcheinende, im Eocän äußerſt häufig auf— tretende Familie der Proteaceen (die unter anderen die Gattungen Banksia, Dryandra, Hakea enthält) noch keine zu Quirlen zu— ſammengedrängten Blüthenhüllblätter beſitzt, ſondern die thatſächlich vorhandene Augen— fälligkeit ihrer Blumen nur gefärbten Brak— teen verdankt. Die Vereinfachung des Baues der als Blumenbeſtandtheile fungirenden Blätter hat vielleicht jene große Plaſticität derſelben verurſacht, auf welche die unendliche Mannig— faltigkeit der Blumengeſtaltungen hinweiſt. Doch ſcheint zur Erklärung dieſer letzteren die Annahme einer beſonders bedeutenden Steigerung der Anpaſſungsfähigkeit der Blätter kaum nöthig, wenn wir uns die erſtaunlichen Umbildungen vergegenwärtigen, welchen auch die Stengelblätter unterliegen. Während ihre urſprüngliche Funktion wohl in der Aufſaugung des Sonnenlichts und der gasförmigen Nahrungsmittel, Kohlen- ſäure und Waſſerdampf, in der Umwand— lung der letzteren in verbrennliche Pflanzen— ſubſtanz (zunächſt Stärkemehl), ſowie in dem Einathmen von Sauerſtoff und Ausathmen der durch den Lebensproceß gebildeten Koh— lenſäure beſteht, und ihre Geſtalt, Anord— nung und Stellung ſowie ihr anatomiſcher Bau in unzähligen Fällen als Anpaſſung an dieſen Lebensdienſt ſich erklären läßt, finden wir bei vielen Waſſerpflanzen außer den dieſen Dienſt leiſtenden Luftblättern noch untergetauchte Waſſerblätter von weit abweichender Geſtalt, lang bandförmige z. B. bei Sagittaria, haarförmig zerſpaltene bei Ranuneulus aquatilis, u. a., während andere Waſſerpflanzen, wie Trapa natans zerſpaltene Waſſerblätter beſchränkt find. In anderen Fällen haben ſich die Blätter ganz oder theilweiſe (wie bei der Erbſe) zu Kletterwerkzeugen oder (wie die Knospen- ſchuppen vieler Bäume) zu Schutzhüllen oder (wie die Dornen von Berberis) zu Schutzwaffen gegen Feinde oder (bei den inſektenfreſſenden Pflanzen) zu Inſekten an— lockenden, fangenden und verdauenden Or— ganen umgebildet und dadurch wohl ebenſo | bedeutende Umgeſtaltungen erlitten, wie in den Blumen, wogegen bei gewiſſen Cactus (3. B. Phyllocactus) und ihnen ähnlichen Euphorbia-Arten der Stengel, bei Ruscus und auſtraliſchen Akazien der Blattſtiel Form und Funktion des Blattes angenommen hat. In Bezug auf den Urſprung der Blu— men ſpricht der Verfaſſer in vorſichtiger geſtellten bedeutend abweichen, nicht unbe— achtet laſſen möchten. wie Farnkräuter, Schachtelhalme und Bär— lappgewächſe, ſind zur Ausprägung gelangt vor dem Auftreten irgend welcher Phanero— gamen, mit Ausnahme vielleicht der Nadel— hölzer. Zu den älteſten Phanerogamen dürften vielleicht die Waſſerlinſen (Lemna- | Bei dieſen iſt eine Diffe- renzirung in Stengel und Blatt noch kaum ceae) gehören. vorhanden; ſie ſind von einfachem zelligem Kosmos, III. Jahrg. Heft 2. Literatur und Kritik. Er jagt: Die ver⸗ ſchiedenen Abtheilungen der Kryptogamen, Bau; ihre Blüthen find jo einfach als mög- 155 lich zuſammengeſetzt, aus 1 oder 2 Staub- gefäßen und einem einzigen Stempel mit gewöhnlich einem einzigen Samen; ſie ent— halten die kleinſten bekannten phanerogami— ſchen Gewächſe (Wolffia arrhiza iſt nur ½0 Zoll lang und ½ Zoll breit), über⸗ dies ſpricht (nach dem Verf.) ihre weite Verbreitung?) und die aus der Paläonto- 3. B. Myriophyllum ganz auf haarförmig logie bekannte Thatſache, daß Süßwaſſer— organismen oft ungeheure Zeiträume hin— durch ohne erhebliche Veränderung fortbe— ſtehen (man denke an Paludina und Unio des Wälderthons!), für ein ſehr hohes geologiſches Alter der Lemnaceen. An die Lemnaceen reiht der Verf. Callitriche, Zannichellia, Zostera, My- riophyllum, Ruppia, Vallisneria, Hippu- ris und Ceratophyllum an, ohne ſich übrigens über ihre Verwandtſchaft zu äußern. Jedenfalls iſt es gut, die Aufmerkſamkeit auf dieſe in biologiſcher Beziehung zu— ſammengehörige Gruppe zu lenken, da die Kreuzungsvermittelung der meiſten Glieder derſelben in der That erſt noch näher feſt— zuſtellen bleibt. Die hierauf folgende Beſprechung der Windblüthler und Inſektenblüthler und ihrer Weiſe nur unbeſtimmte Vermuthungen aus, die wir jedoch, da ſie von den bisher auf- beſonderen Anpaſſungen bietet im Ganzen wenig Bemerkenswerthes dar. Nur die Aus— einanderſetzung über die Entſtehung der Blumenfarben dürfte noch eine beſondere Hervorhebung verdienen, um ſo mehr, als fie zu Wallace's hier mitgetheilter Farben— theorie eine kleine Ergänzung liefert. Der Verfaſſer ſagt: „Wir haben geſehen, daß diejenigen Blüthentheile, welche gewöhnlich zuerſt in's Auge fallen und unſere Auf- merkſamkeit feſſeln, die bunt gefärbten und ) Die ließe ſich wohl auch aus der leich— ten Verbreitung durch Waſſervögel, der die Waſſerlinſen ganz beſonders ausgeſetzt ſein müſſen, hinreichend erklären. 156 mannigfach geſtalteten Blumenblätter, ein— facher organiſirt ſind, als die grünen Blätter, trotz der landläufigen entgegengeſetzten Vor— ſtellung. Sie haben keine Spaltöffnungen, Adern oder Mittelrippen, ſondern ftatt deſſen ein im Vergleich dazu lockeres Zellgewebe. Und da bunte Blumen in der Regel end— ſtändig ſind oder an beſonderen Stielen ſitzen, die aus den Achſeln der Blätter oder Zweige hervorgehen, ſo folgt, daß ſie ſich an den Stellen befinden, wo die Nahrungs— zufuhr am geringſten ſein muß. Der grün— färbende Stoff der Blätter iſt den Botani— kern unter dem Namen Chlorophyll bekannt. Früher hielt man ihn für einen einfachen, das Innere der Zellen einnehmenden Farb— ſtoff. Aber Sowerby hat kürzlich gezeigt, daß das Chlorophyll zuſammengeſetzt iſt und aus Subſtanzen beſteht, die in Farbe von Blau bis zu Gelb und Orange variiren. Dieſe Subſtanzen finden ſich im Chlorophyll nicht immer in denſelben Verhältniſſen; daher die Abänderungen in der Färbung der Blätter. Es zeigt ſich auch, daß ſie durch die Wirkung des Lichtes, ſowie durch die Zufuhr von Nahrung in verſchiedener Weiſe beeinflußt werden. Daher kann man ſich nicht wundern über die wechſelnden Herbſt— färbungen unſerer heimathlichen Bäume, die ſich vom lebhaften Roth der verwelken— den Kirſch- und Hornſtrauch (Cornus)-Blätter bis zu dem ebenſo glänzenden Gelb der Ahorn- und Pappelblätter abſtufen. In Nordamerika nehmen gegen Ende des Nach— ſommers (Indian summer) die welkenden Blätter der Waldbäume und Sträucher noch mannigfaltigere und ſchönere Farbentöne an, als die, welche unſere einheimiſchen Wälder charakteriſiren. Farbenwechſel in einem Blatte iſt deshalb naturgemäß mit dem Abnehmen oder Aufhören ſeiner Er— nährung verknüpft. Wenn Nahrungszufuhr Literatur und Kritik. ändern. und Wärme fortdauerten, ſo würde das Blatt, feine normale grüne Farbe nicht Aber wir haben geſehen, daß die Blumenblätter in der That auf eine nied— rigere Stufe hinabgeſunkene (degraded) Blätter find, die ſich an den vom Nahrungs- ſtrome der Pflanze entfernteſten Stellen be— finden und deshalb die meiſte Wahrſchein— lichkeit für ſich haben, am erſten gefärbt zu werden. Ueberdies haben wir bemerkt, daß alle Elemente des färbenden Stoffs in jedem grünen Blatte bereits zugegen ſind, und daß ſich, um ſie zu irgend einer Farbe zu entwickeln, nur der innere Bau und die phyſikaliſchen Umgebungen der Blätter ſelbſt zu modificiren brauchen. Bei nicht wenigen Pflanzen ſind die Stengelblätter faſt ebenſo lebhaft gefärbt, als bei anderen die Blumen— blätter. So ſind die Stengelblätter von Dracaena, Coleus und rothem Kohl bis— weilen nahezu prächtig gefärbt. Bemerkens— werth iſt es auch, wie die zwerghaften, dicht zuſammengedrängten oberen Stengelblätter des rothen Bienſaugs (Lamium purpureum), der im Februar den Fuß unſerer Hecken bekleidet, mit einer Miſchung vou Roth und Grün gefärbt ſind, die ſich an dem von einem Büſchel zahlreicher rother Blüthen beſetzten Gipfel ſtufenweiſe dem Roth nähert. Was hier aus dem Taylor 'ſchen Blu— menwerke herausgegriffen worden iſt, bildet von den mannigfachen in demſelben erörter— ten Gegenſtänden nur einen unbedeutenden Bruchtheil. Denn wir haben uns auf die Hervorhebung ſolcher in den bisherigen Be— arbeitungen deſſelben Themas unberückſich— tigt gelaſſener Punkte beſchränkt, welche wirk— lich zu demſelben in unmittelbarer Bezieh- ung ſtehen. Zur Ermunterung derjenigen Leſer jedoch, welche vielleicht zweifelhaft ſind, ob es ihnen lohnen möchte, das Buch ſelbſt zu leſen, wollen wir nicht unterlaſſen, zum N Schluſſe noch ausdrücklich hervorzuheben, daß in demſelben außer den in direkter Be— ziehung zum Thema ſtehenden, die aller— verſchiedenartigſten ſonſtigen biologiſchen Fragen in geiſtreicher Weiſe theils flüchtig berührt, theils etwas ausführlicher und mit Veranſchaulichung durch Abbildungen erör— tert worden ſind. H. M. Materialien zur Vorgeſchichte des Menſchen im öſtlichen Europa. Nach polniſchen und ruſſiſchen Quellen bearbeitet und herausgegeben von Albin Cohn und Dr. C. Mehlis. Mit 162 Holzſchnitten, 9 lithographirten und 4 Farbendrucktafeln. Jena, Hermann Coſtenoble, 1879. 375 S. in 8. Die Herausgeber des vorliegenden Buches haben ſich die Aufgabe geſtellt, dem deut— ſchen Publikum die in zahlreichen ruſſiſchen und polniſchen Zeitſchriften und Mono— graphien zerſtreueten Berichte über vorhiſto— riſche Forſchungen zugänglich zu machen. Es iſt das ſehr dankenswerth, denn die Kenntniß der ſlaviſchen Sprachen iſt bei— nahe gänzlich auf die Bewohner der be— treffenden Länder beſchränkt, und ſelbſt für die nächſten Nachbarn in Deutſchland und Oeſterreich waren dieſe, wie wir hier ſehen, ziemlich anſehnlichen und umfaſſenden Forſch— ungen ſo gut wie gar nicht vorhanden. Es handelt ſich dabei nicht allein um die aus— gebreiteten Unterſuchungen, welche A. H. Kirkor, die Profeſſ. Przyborowsky, Pavinsky, Lepkowsky in Warſchau, Prof. Dr. Schwartz in Poſen mit ſeinem Stabe von Gymnaſiallehrern, die beiden Grafen Tyszkiewiez und Sigis— mund Gloger in Lithauen, Dr. Kruſe in Livland, Prof. Grevingk in Dorpat u. A. angeſtellt haben, ſondern auch um Literatur und Kritik. 157 die Sammlung vieler in Tageszeitungen zerſtreuter Einzelberichte. Bei der Heraus— gabe haben ſich die beiden Autoren derart in die Arbeit getheilt, daß der Erſtgenannte die Auswahl und Ueberſetzung der einzelnen Berichte beſorgt, Dr. Mehlis die Anord— nung und Sichtung des Stoffes vorgenom— men hat. Wir können Beiden nur unſere volle Anerkennung zollen für die Art und Weiſe, in welcher ſie ſich ihrer Aufgabe entledigt haben. Es iſt zunächſt als ein großer Vorzug zu rühmen, daß wir die Fundberichte möglichſt ausführlich und mit allen, zuweilen ſehr unbegründet erſcheinen— den Anſichten der einzelnen Forſcher mit— getheilt erhalten. Nirgends iſt dieſe Ori— ginalität und Breite der Darſtellung ſo er— wünſcht, wie gerade auf dieſem Felde, wo durch vorſchnelles Generaliſiren ſchon manches Mißverſtändniß erzeugt wurde, und die ver— ſchiedenſten Meinungen neben einander vor— läufig noch ihre volle Berechtigung haben. Da kann nun gar oft eine aus der un— mittelbaren Anſchauung des Befundes ge— machte Privatbemerkung auf neue Gedanken— reihen führen, und Referent glaubt eine ganze Reihe ſolcher fruchtbaren Gedanken in dieſen Einzelberichten wahrgenommen zu haben, die ſofort verſchwunden wäre, wenn wir nicht das Rohmaterial, ſondern ein daraus gewonnenes, purificirtes Prä— parat erhalten hätten. Auch mit der Anordnung des Materials müſſen wir uns vollkommen einverſtanden erklären, fie iſt die für ein ſolches Quellen- werk weitaus angemeſſenſte, indem ſie uns die einzelnen Funde nach den Fundorten, nicht nach einer höchſt unſichern chronologi— ſchen Reihenfolge geordnet, vorführt. Wir erhalten nach einander: 1) Höhlenfunde, 2) Pfahlbaufunde, 3) Funde in megalithi- ſchen Gräbern, 4) Funde in kleineren Grä— . =) 158 Grabhügeln, 6) die Funde aus Burgwällen. Inm Allgemeinen dürfte dieſe Anordnung ener chronologiſchen Folge meiſtentheils ent- ſprechen, aber ſie hat den Vortheil, nirgends vorzugreifen, kein Syſtem in die Funde hineinzutragen, welches nicht ſchon darin liegt. Die gewöhnliche Anordnung nach den drei Zeitaltern wäre in den heutigen polniſchen und ruſſiſchen Provinzen überhaupt nicht durchführbar geweſen, da die hier anſäſſigen Bevölkerungen offenbar keine eigentliche Bronce-Periode gehabt haben. Allem An— ſcheine nach haben ſie viel länger als die Länder germaniſcher Bevölkerung in der Steinzeit verharrt, und haben dann erſt, als die Bronce-Periode in dieſen Ländern zu Ende neigte, Bronce und Eiſen gleich— zeitig erhalten. Am wenigſten Eigenartiges bieten uns | die erſten beiden Capitel, welche die Höhlen- | funde und Pfahlbautenreſte behandeln, und hier hätten ſich die Herausgeber allenfalls mit einem allgemeinen Reſumé begnügen dürfen. Vielleicht nicht ganz von der Hand zu weiſen dürfte die von Prof. Przy— borowsky bei Gelegenheit der Pfahl— bauten geäußerte Meinung ſein, daß die in Polen (und ganz Oſteuropa) überaus häufige und an viele der hier zahlreichen Seen ſich knüpfende Sage von in ihnen verſunkenen Städten ſich auf die meiſt durch Brand plötzlich vernichteten Pfahlbau-An— ſiedelungen beziehen möchten. Nicht ſowohl in dem Sinne möchte dies zu verſtehen ſein, daß ſich etwa in dieſen Localſagen wirkliche Erinnerungen an ſolche Ereigniſſe malen, als vielleicht darauf, daß man wie— |. derholt in Jahren der Dürre an den Ufern | folder Seen die unwiderlegbaren Spuren einer ehemaligen Anſiedelung im See ge— Literatur und Kritik. funden hat, von der man ſich keine Vor— bern, 5) Funde aus Kurganen oder großen | ftellung machen konnte. Mit der Vineta— Sage verhält es ſich ganz ähnlich. Die megalithiſchen Denkmale, welche im weſtlichen Europa eine fo außerordentliche Rolle ſpielen, fehlen im Oſten beinahe ganz, nur der megalithiſchen Gräber finden ſich einige, und ſelbſt da laſſen ſich noch hier und da Zweifel anknüpfen, ob ſie nicht die Reſte ehemaliger Hügelgräber (Kurgane) find, nachdem die Erdbekleidung künſtlich oder von den Winden entführt worden iſt. Viel häufiger ſind kleinere unterirdiſche Gräber mit Steinplattenauskleidung, außen wohl mit einem Ringe kleinerer Feldſteine umgeben, zuweilen kiſtenartig und mit einem Deckel aus vier bis fünf immer kleiner werdenden Steinplatten bedeckt. In dieſen Kiſtengräbern, deren letzterwähnte Form Dr. Schwartz Bienenkorbgräber zu nennen vorſchlägt, fand man als beſonders charak— teriſtiſch wiederholt neben den Urnen, welche die Aſche und Knochenreſte der Begrabenen enthalten, in demſelben Grabe eine ganze Anzahl leerer oder mit Sand gefüllter Ge— fäße vor, deren Inhalt offenbar Speiſen oder Getränke geweſen ſind. Man darf vielleicht an Methkrüge denken, und die daneben ſtehenden Schalen und taſſenartigen kleinen Gefäße ſind am Ende die Abbilder der ehemals gebräuchlichen Trinkgeſchirre. Ein derartiges Grab, welches Oberlehrer Dr. Wituski im Wronkener Bezirk auf- deckte, enthielt neben drei Aſchenurnen und der aus Oberkopf und Schale beſtehenden „Taſſe“ nicht weniger als acht ſolcher aus— ſchließlich mit Sand gefüllter Gefäße, die wohl nur Speiſen und Getränke enthalten haben können, und ſelbſt bei Speiſen dürfte ein ſo vollkommenes Verſchwinden nicht ſo leicht erklärbar fein, wie etwa bei Meth- krügen. Dr. Wituski erinnert bei Ge— legenheit dieſer Funde daran, daß ſich in \ | Literatur und Kritik. 159 Rußland bis auf den heutigen Tag die verdient gemacht, der ſeit 1871 dreimal Sitte erhalten hat, an den Gedächtnißtagen der Todten (Pominki) Teller mit einer aus Reis und kleinen Roſinen bereiteten Speiſe auf die Gräber zu ſtellen, woſelbſt ſie von den Bettlern verzehrt werden. Sehr ergebnißreich war die Unterſuch— ung der kleineren Gräber und der Urnen— friedhöfe, die häufig den Namen der Trauer— ſtätten (Zalniki) bewahrt haben. Auf ihnen ſcheinen durch eine ſehr lange Zeit hindurch, und jedenfalls bis tief in die chriſtliche Zeitrechnung hin, die meiſten Todten ver— brannt worden zu ſein, auch hat man an mehreren Stellen die Reſte kleiner run— der Ziegelbauten gefunden, die ſich wohl zu einem ſolchen Zweck geeignet haben könnten. Wir erhalten die Abbildung meh— rerer ſolcher Oefen, darunter eines wohl erhaltenen, aus Hohlziegeln erbauten Ofens, welcher 1876 in der Nähe von Kroszyna in Litthauen aufgefunden wurde, von denen auch der eine noch Pferdeknochen und Kohlen enthielt. Jene vorhiſtoriſchen Fried— höfe zeigen hier im Oſten häufig eine ſolche Ausdehnung, daß einzelne Forſcher daraus auf eine ſehr ſtarke Bevölkerung geſchloſſen haben; vorſichtigere indeſſen geben zu, daß eine ſehr lange Benutzung mit ſorgfältiger Schonung der ſchon benutzten Theile von Seiten einer und derſelben Anſiedelung dieſen Schein der ſtarken Bevölkerung eben— falls hervorbringen konnte. Zu äußerſt wichtigen Bemerkungen giebt die Lage dieſer ausgedehnten ſlaviſchen Be— gräbnißfelder Anlaß. Einerſeits finden ſie ſich nämlich hauptſächlich längs der Fluß— ufer in ſandiger, unfruchtbarer Gegend, andererſeits meiſt nicht ſehr entfernt von jetzt noch beſtehenden Anſiedelungen. Um die Erforſchung ſolcher Friedhöfe hat ſich unter anderen Sigmund Gloger ſehr Litthauen für dieſen Zweck durchforſcht hat. Die von ihm an den Ufern des Niemen und anderer Flüſſe unterſuchten Gräber ge— hörten meiſt der Periode des Feuerſteines an, die indeſſen hier ſehr weit in die chriſt— liche Zeit gereicht haben kann und ohne das Zwiſchenglied einer Bronce-Periode in die Eiſenzeit übergeht. Zwar fanden ſich neben ſehr rohen auch ſehr gut gearbeitete Feuerſteinwerkzeuge. „Wenngleich,“ ſagt Gloger, das Facit ſeiner Unterſuchungen ziehend, „ich nur wenig in Waldungen nach— geforſcht habe, wage ich es doch auf Grund von Thatſachen zu behaupten, daß die Be— völkerung in jenen Zeiten nur an den Ufern der Flüſſe gewohnt habe, woraus jedoch nicht folgt, daß alle Menſchen Fiſcher geweſen ſeien. Ich ſpreche hier nicht von den Bewohnern der Seeufer; aber der Fiſchfang auf dem Niemen iſt ſchwierig und bietet wenig Sicherheit für den Unterhalt, ſo daß auch heute noch an wenigen unſerer Flüſſe eine ſo geringe Anzahl von Fiſchern lebt, wie am Niemen. Es iſt auch faſt ſicher, daß es keine handwerksmäßigen Krieger waren, denn die Anſiedelungen befinden ſich nicht in leicht zu vertheidigender Lage, ſie machen auch nicht den Eindruck von Lager— ſtätten, und die gefundenen Waffen ſpielen eine höchſt untergeordnete Rolle. Einen Ritterſtand gab es bei dieſen Anſiedelungen nicht. Es konnten aber auch keine Acker— bauer ſein, denn dieſe hätten ſich nicht auf dem Flugſande, fern von fruchtbarem Lande und Wieſen angeſiedelt. . .. Es waren alſo hauptſächlich Jäger, die Herren des wildreichen Urwaldes, der ja das ganze Land bis zum Beginn des 16. Jahrhun- derts bedeckte.“ Als ſich nun dieſe von Jagd und Fiſcherei lebenden Bevölkerungen dem Ackerbau zuwandten, hätte man denken ———ů— 160 ſollen, daß ſie die ſandigen Ufer der Flüſſe verlaſſen würden, um Gegenden mit frucht— barerem Boden aufzuſuchen. Aber die Nähe des fließenden Waſſers war wohl in einer Zeit, wo man noch keine regelrechten Brun— nen anzulegen verſtand, ein unſchätzbarer Vorzug. Auch löſt ſich der ſcheinbare Widerſpruch, „wenn wir bedenken, daß ſich die Jägerſtämme nicht plötzlich dem Acker— bau zugewandt haben, da ſolche plötzliche Umwälzungen auf der Welt nicht vorkom— men; aber faſt aus allen vorhiſtoriſchen Anſiedlungen entſtanden vorhiſtoriſche Dörfer, welche entweder auf den urſprünglichen Stellen oder in ihrer Nähe, auch wohl am andern Ufer des Niemen erbaut ſind. Wo alſo die Anſiedelungen aus der Periode des Feuer— ſteins dichter an einander lagen, da entſtand auch eine größere Anzahl heut exiſtirender Dörfer, obwohl ſie für den Ackerbau un— bequem lagen. Es iſt nämlich bekannt, daß unſer Landvolk, wenn es auch auf dem ſan— digen Boden Noth leidet, nachdem es zum Ackerbau übergegangen, nie in Maſſen den heimatlichen Herd verläßt, um in eine fremde, aber fruchtbare Gegend überzuſiedeln.“ Na— türlich ſind nicht alle Dörfer auf ſolche Anſiedelungen zurückzuführen, aber doch ſehr viele, und jedenfalls iſt dieſe Anhänglichkeit an die Scholle ebenſo rührend, wie die Ausſtattung ihrer Todten mit dem koſt— barſten Beſitze an Waffen und Werkzeugen, die uns nun in den Stand ſetzt, daraus Schlüſſe über Zeit und Kulturſtand zu ziehen. Einzelne Forſcher haben geglaubt, aus ihren Funden ſchließen zu dürfen, daß die Slaven der hier ſeßhaften Urbevölkerung das Eiſen mitgebracht haben; jedenfalls iſt deſſen plötzliche Erſcheinung ſehr eigenthüm— | lich, und mehr als ein Grab zeigte Stein— geräthe, Bronce- und Eiſengegenſtände zu— | \ Literatur und Kritik. ihr Leibpferd, ja wohl die Gattin mit be— ſammen. Indeſſen weiſt doch wieder Au— deres auf ein allmäliges Bekanntwerden des Eiſens, nämlich aus demſelben gefertigte Schmuckgegenſtände, wie ſie hier wiederholt vorgekommen ſind. Den Löwen-Antheil des Intereſſes in dieſem Lande nehmen indeſſen die ober— irdiſchen, mit oft anſehnlichen Erdmaſſen bedeckten Gräber oder Kurgane in An— ſpruch, die, obwohl auch anderwärts vor— kommend, doch in den ſlaviſchen Ländern eine beſondere Ausbildung aufweiſen. Dieſe Kurgane euthalten meiſt unverbrannte Leichen, und zwar ſind dieſelben, ſei es in Särgen, ſei es ohne dieſelben, auf eine feſtgeſtampfte Thonſchicht niedergelegt und mit einer Holz— kohlenſchicht bedeckt worden, worüber ſich dann zuweilen ein beſonderer, aus Steinen und Holz conſtruirter Bau erhob, der dann mit Erde überſchüttet wurde. Sie ſcheinen einer Zeit anzugehören, in welcher nur noch die reichen und vornehmen Leute verbrannt wurden, denn nur in den größten derartigen Hügeln findet man die Reſte verbrannter Perſonen. Dagegen finden ſich Spuren da— von, daß man den Todten nicht blos reiche Nahrungsſpenden und alle ihre Koſtbar— keiten mitgab, ſondern den männlichen auch graben hat. In einzelnen ſolcher Hügel hat man die Leiche auf einem Pferde ſitzend gefunden, in einem andern fand Graf Tysz— kiewicz unterhalb des Skelettes des männ- lichen Grabbewohners den bloßen Schädel einer Frau. In einer Aufzeichnung von Ibn-Foßlan, der im zehnten Jahrhun— dert Geſandter des Chalifen Mhuktedir am Hofe des Kaiſers von Bulgarien war, findet man die Beſchreibung des Begräbniſſes eines rutheniſchen Kaufmanns, welche fig ſehr den Berichten nähert, die wir aus anderen Ländern in Betreff ſolcher grauſamen Sitten | ee: — 3 XT | haben.“) Ein junges Mädchen, fein Lieb— lingshündchen und ſeine beiden Leibpferde wurden, die letzteren nachdem ſie in Schweiß gejagt worden waren, an ſeinem Grabe ge— tödtet; die halb freiwillige, halb gezwungene Opferung des Mädchens vollzog ein altes Weib, welches man den „Todesengel“ nannte. | Einige dieſer Kurgane erwecken durch die Eigenthümlichkeit ihrer Anlage die Idee noch ſchrecklicherer Trauerſpiele. Im Kreiſe Waſilkow iſt 1843 auf kaiſerlichen Befehl eine derartige Grabanlage unterſucht wor— den, bei welcher ein 35 Fuß hoher Kurgan von 48 kleineren Hügeln umgeben iſt, deren Mehrzahl einen vollkommenen, geſchloſſenen Kreis bildet, einzelne aber noch innerhalb dieſes Kreiſes um den Haupthügel herum liegen. In dem erſteren fand man außer Schmuckgegenſtänden, Waffen und ſchönen Gefäßen vierzehn Skelette in regelmäßiger Anordnung. Das Volk hat eine Sage be— wahrt, nach welcher hier die Leichen eines Königs und einer Königin, die ſich irrthüm— lich ſtatt des Feindes ſelbſt angegriffen hätten, mit ihren Soldaten auf der Wahlſtatt be | ſtattet ſeien, es liegt aber wohl näher, hier an eines jener an der eben angeführten Stelle beſchriebenen Dramen zu denken, bei welchem mit dem in friedlicher Zeit geſtor— benen Fürſten ſein geſammter Hofſtaat von Würdenträgern mit beſtattet wurde. Man kann ſich dann denken, daß in dem Haupt— Kurgan der König mit ſeinen Dienern und Frauen ruhe, und daß in dem Gräberkreiſe, der das Fürſtengrab wie ein Burgwall um— ſchirmt, die Leibwache ſchläft, welche im mittelalterlichen Aſien meiſt dem Fürſten ins Jenſeits zu folgen hatte. Die wenigen Gräber innerhalb dieſes Kreiſes mögen dann die Hochwürdenträger des Reiches enthalten. Obwohl die Herausgeber einen derartigen ) Vergl. Kosmos Bd. III, S. 72. Literatur und Kritik. 161 Erklärungsverſuch nicht gemacht haben, muß Ref. geſtehen, daß ihm eine ſolche Erklär— ung die für eine ſolche geſchloſſene Anlage beinahe einzig denkbare erſcheint, die ganze Symbolik der Anlage wäre verfehlt, wenn in dem hohen Hügel nicht ein von dem geſchloſſenen Ringe ſeines Hofſtaates be— ſchirmter Fürſt ruhen ſollte. Auf einem vorhiſtoriſchen Schlachtfelde, an welches hier— bei gedacht worden iſt, dürfte man wohl ſchwerlich in der Lage geweſen ſein, ſo ſorg— fältige und reich ausgeſtattete Gräberanlagen zu errichten, und doch handelt es ſich um ein Maſſengrab, ſelbſt wenn die umgeben— den Hügel, was nicht erwieſen iſt, keine Leichenreſte enthalten ſollten. Die Anlage dieſer Kurgane, wie die in ihm gefundenen Gegenſtände, die ſämmtlich auf eine ziem— lich fortgeſchrittene Kultur deuten, ſind auf zehn zum Theil in Farben gedruckten Tafeln zur Anſchauung gebracht. Ueberhaupt hat der Verleger dem Werke eine Ausſtattung zu Theil werden laſſen, welche die höchſte n — ̃ ͤſ— ]¶ . EEE am — — — — — — Anerkennung verdient, und dem zweiten Theile, welcher unter andern die hier hei— miſchen, höchſt merkwürdigen Burgwälle be— handeln wird, ſoll eine große prähiſtoriſche Karte für Deutſchland beigegeben werden. Wir glauben, daß Niemand, der ſich für die in Deutſchland lebhaft geförderten prä— hiſtoriſchen Forſchungen intereſſirt, dieſer „Materialien“ entbehren kann, und ſehen dem Erſcheinen des zweiten Bandes dieſer außerordentlich verdienſtlichen Publication mit Vergnügen entgegen. K. Die Hypotheſe in der Schule und der naturgeſchichtliche Unter— richt in der Realſchule zu Lipp⸗ Ein Wort zur Abwehr und Dr. ſt a dt. Rechtfertigung von Hermann un 162 Müller, Oberlehrer. Bonn. Strauß. 1879. Es mußte jeden Wohldenkenden eine beſchämendes Gefühl beſchleichen, als in dem verfloſſenen preußiſchen Landtage von einer Seite des Hauſes, die auf Takt in den parlamentariſchen Debatten Gewicht legt, maßloſe Angriffe gegen einen Lehrer der Naturwiſſenſchaften gerichtet wurden, der ſich allgemeinſter Anerkennung nicht nur in wiſſenſchaftlichen Kreiſen, ſondern auch bei den vorgeſetzten Behörden erfreut. Dieſes beſchämende Gefühl wurde noch vermehrt, als ein Mann der Wiſſenſchaft, der in dem Rufe freiſinniger Anſchauungen ſteht, mit einer leichtherzigen consentio jenen unlieb— ſamen Angriffen ein gewiſſes Relief ver— lieh. Herr Virchow knüpfte dieſen Con— ſens mit einem gewiſſen Behagen an ſeine bekannte Münchener Rede an, und er ſcheint alſo ſeine Münchener Auslaſſungen nicht als Gelegenheitsphraſen, ſondern als wohl erwogene Meinungsäußerungen aufgefaßt wiſſen zu wollen. In der uns vorliegenden kleinen Schrift, die nur zum verſchwindend geringſten Theile Vertheidigungsſchrift perſönlicher Natur iſt, ſtellt nun Herr Müller zunächſt die That— ſache feſt, welche ihm von ſeiner vorgeſetzten Behörde zum Vorwurf gemacht iſt, die ein— zige Thatſache zugleich, welche den im Land— tage auf ihn geſchleuderten Beſchuldigungen zu Grunde liegt. Nämlich — man leſe und ſtaune — daß er vor Primanern und Oberſecundanern, welche er mehrere Stunden hindurch anſtatt durch Unterricht auf andere Weiſe zu beſchäftigen hatte, die drei erſten Ca— pitel des Carus Sterne'ſchen Werkes „Werden und Vergehen“ vorleſen ließ. — Ich muß offen bekennen, daß ich mir die Augen gerieben habe, ob ich nicht träumte, ein Sohn des neunzehnten Jahrhunderts Emil Literatur und Kritik. zu ſein, als ich jene Angriffe und dieſe Erklärung in Beziehung ſetzte. Wir wollen die Landtags-Politiker aus dem Spiele laſſen; ſie kennen meiſtens von Darwin, Haeckel, u. ſ. w. nur die journaliſtiſch— filtrirten, aus dem Zuſammenhang geriſſe— nen Schlagwörter, wie Abſtammung des Menſchen vom Affen u. dergl. m. Aber von Herrn Virchow darf man wohl er— warten, daß er ſich der Verantwortlichkeit ſeiner Aeußerung bewußt iſt, weil, und ſo lange er beanſprucht, in wiſſenſchaftlichen Dingen, auch in Bezug auf die Schule, einen gewiſſen Einfluß zu beſitzen, ſchon auf ſeinen Namen hin. Mit Recht beſchwert ſich Herr Müller, daß Herr Virchow dieſes Vertrauen auf ſeinen wiſſenſchaftlichen Namen mißbraucht habe, indem er, ohne Kenntniß der Thatſache, auf die fünf aus dem Zuſammenhang geriſſenen Worte hin: „Im Anfang war der Kohlenſtoff“, alſo wohl auch ohne Kenntniß des in Rede ſtehenden Buches, leichtherzig ſeine Zuſtimm— ung zur miniſteriellen Admonition erklärte, ja — und hier beginnt die Frivolität — von einer reinen Hypotheſe, welche den Schülern als fertige Lehre vorgetragen und direkt einer beſtimmten religiöſen Ueberzeug— ung entgegengeſetzt ſei, ſo friſch und fröh— lich in den Tag hinein zu fabuliren begann, als gelte es ein Plauderſtündchen mit dem Times-Correſpondentenüber den böſen Reichs— kanzler, oder aber als ſpräche er vor einer Naturforſcherverſammlung über — Ent— wickelungslehre. Der Name Virchow deckt ſolches Geplauder in der wiſſenſchaft— lichen Welt nicht mehr, aber in Landtagen darf von einem Gelehrten wohl verlangt werden, daß er wiſſenſchaftliche Fragen mit attiſcher Urbanität behandele, wenn ſie ſich, wie im vorliegenden Falle, perſönlich zu— ſpitzen. Literatur und Kritik. Den Behörden gegenüber nimmt Herr Müller den einzig correkten Standpunkt ein, ſich ſtreng an die Verfügungen des Herrn Unterrichtsminiſters zu halten. Das „ſubjektive“ Lehren gehört nicht in die Schule, ſondern auf die Univerſitäten. Eine andere Frage iſt, ob es für das Unterrichts— miniſterium nicht angezeigt wäre, den Theo- rien, welche von den Univerſitäten aus Ge— meingut der jüngeren Lehrer der Natur- wiſſenſchaften geworden find, näher zu treten. Es iſt ſo mancherlei in der Darwin'ſchen Theorie für die Schule überreif, und über ihre eminent anregende Bedeutung im Unterricht kann ja kein Zweifel beſtehen. Die vorliegende Schrift rückt das auch den Fernſtehenden verſtändlich nahe. Die Be— denken, welche der Einführung der Ent- wickelungslehre in dem naturwiſſenſchaftlichen Schulunterricht entgegenſtehen, ſind wohl nur in der Neuheit der Hypotheſe be— gründet. Die Dar win'ſchen Lehren find religiös nicht gefährlicher, als die Hypo— theſen eines Copernicus. Hält ſich der Leſer der Naturwiſſenſchaften ſtreng an die Wiſſenſchaft, d. i. vermeidet er die Beleucht— ung irgend eines Glaubensſatzes von ſeinem Standpunkte aus, was ja ſtets ſehr unfrucht— bar iſt, hält ſich der Religionslehrer ſeiner— ſeits von einem Hineinzerren naturwiſſen— ſchaftlicher Probleme in den Religionsunter— richt fern, ſo kann von Conflikten keine Rede ſein. Dieſen beiderſeitigen guten Willen muß ja auch jetzt ſchon die Schule vorausſetzen, denn das Copernicaniſche Weltſyſtem wird in der Schule gelehrt, obgleich es den Anſchauungen der Schrift und Tradition widerſtreitet. Eine ſo gut begründete Hypotheſe, wie die Dar win'ſche, welche Gemeingut der geſammten Natur- forſchung geworden iſt, darf alſo getroſt der Zukunft entgegenſehen. Die Vorur⸗ 163 theile werden aber um ſo ſchneller ſchwinden, je nachdrücklicher an ihrer rein wiſſenſchaft⸗ lichen Begründung gearbeitet wird. Der eigentliche Inhalt unſeres Schriftchens, die Methode des naturwiſſenſchaftlichen Unter⸗ richtes, iſt jo durchſichtig gefaßt, daß er auch jedem Laien zugänglich iſt Der Ver⸗ faſſer zeigt darin unwiderſprechlich, daß die von Virchow befürwortete dog matiſche Lehrmethode die denkbar ſchlechteſte, die ſkeptiſche unfruchtbar, daher die wiſſen— ſchaftliche, welche Hypotheſen als ſolche lehrt, die einzige zum Ziele führende iſt. Vor allen Dingen kann es den Fachcollegen und hohen Unterrichtsbehörden nicht dring— end genug zum Studium empfohlen werden. Frankfurt a M., im März. O. B. Geſammelte Vorträge aus dem Gebiete der Entwickelungs— lehre von Ernſt Haeckel. 2. Heft. Mit 30 Abbildungen im Texte und einer Farbendrucktafel. Bonn, Emil Strauß, 1879. 164 S. in 8. Dieſes neue Heft enthält, wie das erſte, fünf Vorträge, die, weil dem Verſtändniſſe eines großen gemiſchten Zuhörerkreiſes an— gepaßt, auch über denſelben hinaus viele dankbare Leſer finden werden. Der erſte Vortrag: Ueber Aufgabe und Entwickelung der Zoologie, wurde als Eintrittsrede Haeckel's in die philoſophiſche Facultät zu Jena am 12. Januar 1869 gehalten, und hat inzwiſchen wohl ſchon manche der darin aufgeſtellten Forderungen reifen ſehen. Der zweite enthält die geiſtreiche Theorie von der Wellenzeugung der Lebenstheilchen, und der vierte die berühmte Münchener Rede über die heutige Entwickelungslehre im Verhältniſſe zur Geſammtwiſſenſchaft. Der dritte und fünfte, über die Urkunden Kosmos, III. Jahrg. Heft 2. 22 164 der Stammesgeſchichte und über Urſprung und Entwickelung der Sinnes werkzeuge, find den Leſern dieſes Journals bereits bekannt, alle aber behandeln ſie in durchſichtiger Faſſung die wichtigſten Probleme der Wiſſenſchaft, wie ſie ſich in dem letzten Jahrzehnt geſtaltet haben. Die Ausſtatt⸗ ung iſt eine durchaus angemeſſene. Die Kunſt in ihrer Beziehung zur Pſychologie und zur Natur- wiſſenſchaft. Eine philoſophiſche Unterſuchung von Dr. Eugen Dreher. Dritte durch Beiträge zur Theorie der Farbenwahrnehmung vermehrte und ver— beſſerte Auflage. Berlin, Guſtav Hempel, 1878. 87 S. in 8. Am Schluſſe dieſer anſprechenden Darz |. ſtellung hat der Verf. feinen Gedanken über die Entwickelung des Farbenſinnes in der Thierreihe Ausdruck gegeben. Da er es für erwieſen hält, daß die Zäpfchen der Netzhaut die Farbenempfindung vermitteln, und es nun mancherlei Augen ohne Zäpf— chen giebt (nämlich bei Nachtthieren), ſo glaubt er dadurch eine Evolution der Farben— empfindung in der Thierreihe nachweiſen zu können. Aber wenn dem ſo wäre, wenn die Eule z. B. der Farbenempfindung er— mangelte, ſo würden wir hier eher an einen Verluſt der Farbenempfindlichkeit durch Nicht— gebrauch der Zäpfchen denken müſſen, wie z. B. viele Thiere ſogar ganz den Gebrauch der Augen eingebüßt haben. Die „Farben— blindheit der Griechen“, die wir längſt für mehr als hinreichend beſorgt und aufgehoben hielten, tritt hier wieder ohne ein Wort der Literatur und Kritik. Rechtfertigung in die Schranken, ja wäh— rend die anderen Verehrer der griechiſchen Blaublindheit nur die außerordentlich ſel— tenen Blaublinden unſerer Zeit als Bei— ſpiele des Atavismus auffaſſen wollten, möchte der Verfaſſer ſchon die alten Griechen des Atavismus beſchuldigen, der jedoch, wie er ſelbſt hinzuſetzt, da er ſich auf ein ganzes Volk erſtreckte, ſchwer vorſtellbar ſein würde. Wann wird dieſes klaſſiſche Mißverſtändniß endlich einmal aufhören? Der Wunderbau des Weltalls oder Populäre Aſtronomie von Dr. J. H. v. Mädler. Siebente Auf- lage. Neu bearbeitet und vermehrt von Prof. Dr. W. Klinkerfues. Nebſt einem Atlas, Aſtronomiſche Tafeln, Ab- bildungen und Sternkarten enthaltend, und dem Bildniſſe des Verfaſſers. Ber- lin, E. Bichteler u. Co., 1879. 748 S. Die Principien der Spektral⸗ Analyſe und ihre Anwendung in der Aſtronomie von Prof. Dr. W. Klin— kerfues. Berlin, E. Bichteler u. Co., 1879. 42 S. in 8. Das allbekannte und mit Recht geſchätzte Werk Mädler's, welches Humboldt bei der Ausarbeitung ſeines Kosmos ſo vielfach zu Rathe gezogen haben will, iſt nunmehr in einer ſiebenten Auflage erſchie— nen, die von dem Herausgeber durch einen auch als Separatabdruck erſchienenen Anhang über die Principien der Spektral-Analyſe, ſowie durch ein Kapitel über die Schiapa— rell''ſche Steruſchnuppentheorie ergänzt worden iſt. Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig. — Zur Würdigung erſchütterter Autoritäten. Eine Betrachtung über die Erziehung der Zukunft von Th. Bay. ie Ausdehnung der von dieſer Zeitſchrift vertretenen An— ſchauungen auf die Erzieh— ung des heranwachſenden Ge— ſchlechts ſpitzt ſich mehr und mehr zu einer bloßen Frage der Oppor— tunität zu. Und nicht ohne Grund. Ehe wir aber in dieſer Frage Stellung nehmen, iſt es vielleicht nicht überflüſſig, einen Blick auf die gegenwärtige Situation zu werfen, deren nächſte Entwickelungsſtufe wir mit unſerm beſten Wiſſen und Können vorzubereiten berufen ſind. Auch in dieſer Betrachtung leiſtet uns das „biogenetiſche Grundgeſetz“ die weſent— lichſten Dienſte. Herbert Spencer hat uns kürzlich in einer langen Reihe treff— licher Darſtellungen gezeigt,“) wie ein we— ſentlicher Theil unſerer heutigen Kultur- zuſtände die Folge wilder, kriegeriſcher Ver— hältniſſe aus früheren Zeiten ſind, wo die phyſiſche Ueberlegenheit Alles galt und der damit Ausgerüſtete, als ein Werkzeug der Kultur, die zerſtreuten Familien und Horden unter ſeine Autorität beugte und ſie nach *) Kosmos, Bd. III. lange fortgeſetzten blutigen Kämpfen in ſtaatliche Formen zwang. Die erhabene Stellung erweiterte den Blick und die Erfahrungen des Gewalt— habers. Er regelte die wilden Begierden ſeiner Unterthanen, feſtigte ſeine Stellung durch geſchickte Benutzung geheimnißvoller Naturerſcheinungen und wurde mit der Zeit ſelbſt in eine unnahbare, myſtiſche Entfernung gerückt, als eine Art göttliche Vorſehung für ſeine Untergebenen. Wenn er auch, durch die Macht der Verhältniſſe gezwungen, in der Folge einen Theil ſeiner Macht an ſeine Prieſter abtrat, ſo blieb doch noch genug übrig, um ihn die Süßigkeit der Herrſchaft nicht vermiſſen zu laſſen. Fort und fort wußte er, mit Hülfe der Prieſter⸗ ſchaft, mittelſt wohl durchdachter Vorſchriften die „expanſiven“ Leidenschaften feines Volkes zu ſeinen Gunſten einzudämmen, letzteres ſich dienſtwilliger und leiſtungsfähiger zu machen, und führte damit, bewußt oder unbewußt, die Seinigen aus rohen, dunklen Anfängen einer lichteren Geſittung und Kultur entgegen. Durch Hunderte von Generationen hat Kosmos, III. Jahrg. Heſt 3. 23 N | | 5 166 ſich der Einfluß dieſer Gewalten dem Men— ſchen eingeprägt, weiter vererbt und nach Zeit und Ort in verſchiedener Weiſe ent— wickelt. Die Vorſchriften, welche dazu be— ſtimmt waren, unſere Altvordern in die Feſſeln der Herrſchaft zu zwingen, ſind in der Folge zu allgemein anerkannten, noth— wendigen Grundlagen unſeres geſellſchaft— lichen Beſtehens geworden, und die Ehr— furcht für ihre Autorität und Allgewalt hat längſt auch die Fürſten ſelbſt ergriffen, die nur noch darüber zu wachen haben, daß das, was uns ſeit Beginn der Geſchichte ſchon als heiliges Geſetz überliefert iſt, ſeine weitere friedliche Entwickelung in den Formen ſtaatlicher und religiöſer Ausbildung finde. Befaſſen wir uns etwas näher mit dieſer mehr kühnen als glücklichen Autoritätsgewalt. Aus unſerer obigen Auseinanderſetzung geht hervor, daß dieſelbe nur dann wirken und ihres Erfolges ſicher ſein kann, wenn ſie die beſtehende höchſte Macht, nach jeder Richtung hin, darſtellt. Längſt hat die alleinige Geltung der phyſiſchen Ueberlegenheit aufgehört. Nur hier und da ragen in unſer heutiges Kultur— leben noch Zeugen der verſunkenen Pracht. Zwar ſehen wir Stanley's Snider— gewehre dort noch Wunder verrichten, wo die hervorragendſten und hingebendſten Geiftes- kräfte unſerer Miſſionsinſtitute Nichts zu | „wirken“ vermögen, aber in den gebildeten | dauernden Erfolg dieſer Täuſchungen ver— Häuſern und den gehobenen Schulen unſeres kultivirten Welttheils hat der Haſelſtock, der noch die Weltbezwinger des großen Fried- lichen Unterrichtsſtunde den ſalbungsvollen rich erzog, ſeine Rolle faſt ausgeſpielt — leider ſelbſt dort, wo er gewiſſen, auf einer niederen Entwickelungsſtufe zurückgebliebenen Individuen gegenüber oft noch ſo wohl angebracht wäre. Principien hat er aber Platz gemacht? Trotzdem die Ergebniſſe der Natur— Vuy, Zur Würdigung erſchütterter Autoritäten. wiſſenſchaften die Dogmen der herrſchenden Religionen zum großen Theile längſt ad absurdum geführt haben, und eine weniger beſchränkte, der objektiven Wahrheit näher kommende Anſchauung ſchon ſeit Generationen ererbt und durch die Erfahrungen eines jeden neuen Lebenslaufes neu gekräftigt und neu gefeſtigt wird, geben ſich Eltern und Lehrer immer noch die Miene, meiſt gegen ihre Ueberzeugung, nicht nur die unwider— legbaren, metaphyſiſchen Grundlagen, ſon— dern auch die offenbarſten Irrthümer der Kirche zur Richtſchnur einer Erziehung zu machen, die das Kind von vorn herein in den verhängnißvollſten Zwieſpalt bringen müſſen. Wo iſt aber die Macht der alten Auto- rität, die durch ihr felſenfeſtes Selbſtver— trauen ſo wohl verſtand, den Glauben an ſich auch Anderen mitzutheilen, geblieben? Iſt es ſchon verdächtig, wenn die Infalli— bilität der höchſten Autorität den „Gläu— bigen“ als eine ausdrückliche Vorſchrift ein— geſchärft werden muß, ſo ſind wir Zeuge ihrer letzten Zuckungen, wenn wir ſehen, wie Eltern und Lehrer um ſo ängſtlicher ihren Schutzbefohlnen die „Heilswahrheiten“ einzuimpfen ſuchen, je gelockerter ſie ihre eigene Verbindung mit denſelben fühlen. Die ſittlichen Wirkungen der Autorität halten hier genau ſo lange vor, als die Täuſchung. Wie kann man ſich aber einen ſprechen, wenn ſchon die vorſichtigſten Sätze der nächſten geſchichtlichen oder naturgeſchicht— Vortrag der vorhergegangenen Religions- lehre Lügen ſtrafen? Wie ſoll die Auto— rität gewahrt bleiben, wenn dem noch durch Welchen fortgeſchrittenen | promittirende“ Rückſichten getrübten naiven Kinderglauben an Wahrheit und Recht von keine Opportunitäts- und ſonſtige „com— er Vuy, Zur Würdigung erſchütterter Autoritäten. vorn herein die grauſamſte Vergewaltigung entgegentritt? — Und noch eine andere Seite dieſer antiquirten Erziehungsmethode, die ja hauptſächlich die Ignorirung der gewordenen Individualität zur Grundlage hat: Wie kann das Vertrauen, ſpeciell in die Autorität unſerer Schulen be— ſtehen, wenn der Jüngling erkennt, daß an ſeine gutwillige, aber wenig ver— mögende Leiſtungskraft dieſelben Anfor— derungen erhoben werden, wie an ſeinen glücklicher beanlagten Nachbar, Anforder— ungen, die dem Umfang der gebrachten Leiſtungen nicht die geringſte Rechnung tragen; oder wenn er, der das Unglück hat, die Folgen eines körperlichen oder geiſtigen Mangels ſeiner Eltern durch eine abnorme Beanlagung in moraliſcher oder intellektueller Richtung abzubüßen, ſtatt einer ſorgſamen, nachſichtigen Behandlung, unter aufmerk— ſamer Aufhilfe ſeiner beſſeren Charakter- ſeiten, nur rohe, rückſichtsloſe Strafen und die Ertödtung des letzten Reſtes feines Ehr⸗ gefühls erfährt; mit anderen Worten, wenn dem aus dem Mitgliede einer Herde all— gemach in eine eigenartig abgegrenzte Indi- dieſen Unterricht die veligiöfe Richtung und vidualität hineingewachſenen Menſchen gegen— über dieſer entwickelungsgeſchichtlichen That— ſache nicht die mindeſte Rechnung getragen handlung iſt überall nur eine elementare, wird und ihm von Kindesbeinen an nur antiquirte ſchablonenhafte Verbote und Straf— paragraphen entgegenſtarren? Unſer heutiges Erziehungsſyſtem ignorirt alſo vollſtändig die Individualität und prä- tendirt, von einer in der Wirklichkeit längſt überſchrittenen Entwickelungsſtufe der oben geſchilderten Autoritätsgewalt aus, den heu- faſſung in lebendigen Charakter-, Landſchafts⸗ tigen Weltbürger en masse, nach einer ziem— lich abgegriffenen Schablone, zu formen, ab- zurichten und einem in ziemlich beſcheidener Ferne feſt aufgeſteckten Ziele entgegenzu— zuführen. 167 Gehen wir etwas weiter auf die neueſte Entwickelung dieſes Syſtems ein: Aus den vielverſchrieenen, aber nur anachroniſtiſchen, Stiehl'ſchen Regulativen von 1854, entnehmen wir folgende „An— forderungen, von deren Erfüllung künftig— hin die Aufnahme in die Schullehrer— Seminarien abhängig gemacht wird“. Wir ſetzen die Hauptaufgabe der Regula— tive: „Durch ein klares und tiefes Ver— ſtändniß des göttlichen Wortes auf der Grundlage des evangeliſchen Lehrbegriffs — der religiöſen Erkenntniß — den Zög— lingen Richtung und Halt und für ihr ganzes chriſtliches Leben die richtige Grundlage zu ſchaffen,“ als bekannt voraus und wollen damit die Ziele vergleichen, die dem künf— tigen Volkserzieher in der Erkenntniß der Erſcheinungswelt, in die er hineingeſetzt wurde und mit der er ſich doch vor Allem abzufinden und in möglichſte Uebereinſtimm— ung zu ſetzen hätte, alſo namentlich in der „Naturwiſſenſchaft“, geſteckt waren. In dem dreijährigen Curſus der Ele— mentarlehrerbildung waren wöchentlich zwei Stunden dafür angewieſen. „Daß auch für Haltung nothwendige Bedingung iſt, bedarf keiner näheren Erwähnung.“ „Die Be— ſo daß aus der Erſcheinung oder dem Ver— ſuch das betr. Geſetz ohne mathematiſche Faſſung und diesfälligen Beweis zum Ver— ſtändniß gebracht wird.“ (12) „Vor Allem ſoll (bei Geſchichte, Geographie und Natur- kunde) jedenfalls dafür geſorgt werden, daß das Vereinzelte ſeine organiſche Zuſammen— und Naturbildern finde. Sodann iſt feſt— zuhalten, daß die in Rede ſtehenden Fächer nur in ſehr ſeltenen Fällen auf dem Lektionsplan der Elementarſchule ihre 168 ſelbſtſtändige Stellung und keinen— Behandlung finden werden.“ errathen, die an die beſten aus dieſer Er— ziehung Hervorgegangenen geſtellt wurden, an Diejenigen, die ſich ſelbſt wieder dem Lehr— fach zu widmen beabſichtigten: Zur Aufnahme in die Schullehrer-Seminarien „werden in der Naturgeſchichte Beſchreibungen von ein— heimiſchen Pflanzen und mäßige Vorbereitung gewähren.“ reiligiös-moraliſchen Erziehung erkennen läßt, die mit den denkbar geſchickteſten aufrichtigſten) Mitteln von dem gegebenen wickelungsſtufe das Gegentheil — nur in der denkbar ungeſchickteſten Ausführung — erblicken. Während nach den „Regulativen“ jede Stunde der religiöſen Unterweiſung zufiel, die nicht ausdrücklich den „Realien“ vor— behalten war und im Seminar „im Ganzen eine evangeliſch-chriſtliche Lebensgemeinſchaft dargeſtellt wurde“, enthalten ſich die nun an deren Stelle getretenen trockenen Para— graphen der „Allgemeinen Beſtimmungen von 1872“ aller ausdrücklichen Hervorheb— ung „höherer Principien“ und weiſen in dem feſtgehaltenen dreijährigen Curſus der Seminarbildung dem Religionsunterricht wöchentlich nur noch vier Stunden, im dritten Jahre ſogar nur die Hälfte an. Die frühere Hauptgrundlage des religiöſen | Unterrichts, der „Katechismus Luther's“ und das „Hiſtorienbuch“, wird merklich Welche ſpecielle Reſultate damit erzielt wurden, laſſen denn auch die Anforderungen Wenn ſich in dieſen Sätzen eine rück- darnach in einen weit auffallen— ſichtsloſe Hintanſetzung der intellektuellen Ausbildung zu Gunſten einer einheitlichen Standpunkt aus angeſtrebt wird, ſo können wir auf der nächſten und neueſten Ent- Thieren — zweck- Vuy, Zur Würdigung erſchütterter Autoritäten. gegangen“ —, die früher ignorirte Kirchen— falls eine mehr oder minder ſyſtematiſche geſchichte und Bibelkunde hereingezogen, kurz der ganze Religionsunterricht, der bisher „zu dem wirklichen Inhalte des evangeliſch— chriſtlichen Volkslebens in unmittelbare Be— ziehung zu ſetzen war“ und die geſammte Seminarbildung durchdrang und beſtimmte, gewinnt hier bei der ſtark verkürzten Un— terrichtszeit eine noch größere Vielſeitigkeit, bei gänzlicher Einbuße ſeiner Bedeutung und Tiefe. Er wird zu einem mit den übrigen Unterrichtsfächern gleichberechtigten Lehrſtoff herabgedrückt und ſtellt ſich (und deren und ſichtbareren Wider— ſpruch mit den Reſultaten der übrigen Unterrichtsfächer. Dazu weiſt der „Lehrplan für Natur— beſchreibung, Phyſik und Chemie“ in den den Religionsunterricht. erſten beiden Jahren vier, im letzten Jahre zwei Stunden an, genau ſo viel wie für Und was ſoll in dieſen paar Stunden nicht Alles bewältigt werden! Nach § 24: Magnetiſche, elektriſche und mechaniſche Erſcheinungen, Erſcheinungen des Lichts, der Wärme und des Schalles; anorganiſche und organiſche Chemie; Kenntniß der Samen— und Sporenpflanzen, des Linne'ſchen und eines natürlichen Syſtems, Bau, Leben und Verbreitung der Pflanzen; Zoologie ſammt Unterweiſung über den innern Bau und die Lebensverrichtungen des menſchlichen Körpers. Im letzten Jahrescurſus — der überhaupt „mehr der Ergänzung des Penſums nach der methodiſchen Seite des Gegenſtandes gilt“ — tritt dann auch eine Ueberſicht des Baues der Erdrinde hinzu. Welcher Eifer und Ernſt damit ver— bunden iſt, ergiebt ſich daraus, daß die ſpäteren, dem Volksſchullehrer offenſtehenden zurückgeſetzt — „über ihre Grenzen hinaus- Prüfungen für Mittelſchulen, Rektorats— 1 Buy, Zur Würdigung erſchütterter Autoritäten. ſtellen aller Art, die Kenntniß der Natur— lehre gegen andere Fächer ſichtlich als Neben- ſache behandeln, wenigſtens nach keiner Seite hin eine weitere Ausbildung oder Vertief— ung erfordern! Welche unbedeutende Rolle dieſem wich— tigen Zweig auf den Gymnaſien zuge— wieſen iſt, wiſſen wir Alle aus Erfahrung. Wo je einmal, als ſeltener Ausnahmefall, auf einer ſolchen Auſtalt die Naturlehre einen lebendigen, von der Bedeutung und dem wiſſenſchaftlichen wie ſittlichen Gehalt ſeiner Aufgabe durchglühten Darſteller fin— det — ſelbſtverſtändlich auf Koſten der pa— rallel gehenden Dogmenlehre —, da finden ſich alsbald Mittel und Wege, den Funken zu erſticken und die aufkeimende Saat niederzutreten. So ſinkt der naturwiſſenſchaftliche Un— terricht zu einer unbedeutenden Ausfall— ſtunde herab, die Lehrern wie Schülern meiſt gleicher Weiſe zum Ekel wird. Auf der andern Seite muß jedes ſichtbare Re— ſultat der Religionslehre, wie z. B. der regelmäßige Kirchenbeſuch, überall durch die ſtrengſten Schulſtrafen erzwungen wer— den; und wo findet ſich noch die „hohe Freudigkeit“, mit der die Schüler unſerer „humaniſtiſchen“ und Real-Gymnaſien dem Confirmanden-Unterricht und der damit zuſammenhängenden „Feier zur Aufnahme in die Gemeinſchaft der chriſtlichen Ge— meinde“ entgegen gehen? So iſt in Kürze das Erziehungsſyſtem beſchaffen, das wir ſtützen ſollen, ein Syſtem, das ſich damit genügen läßt, den ihm An— vertrauten eine gewiſſe Summe von zum Theil zweifelhaften, zum Theil gar irr— thümlichen Kenntniſſen beizubringen, nach einer Methode, die heute vielleicht noch kleine wie große Talente zu fördern verſteht, die Ausbildung großer Charaktere aber, 169 * wenn nicht unmöglich macht, ſo doch in der denkbar mächtigſten Weiſe erſchwert. Oder leugnet man etwa den möglichen Einfluß auf eine ſolche Ausbildung? Es iſt ja richtig, daß der Charakter eines Men— ſchen an ſich unabänderlich iſt, bezw. daß die Anlagen eines Individuums nur die Summe gewiſſer körperlicher und geiſtiger Eigenſchaften ſeiner Vorfahren darſtellen, die wohl nach der einen oder andern Seite bis zu einem gewiſſen Grade verſchieden— artig entwickelt, aber weder ausgemerzt, noch durch fremde Eigenſchaften erſetzt werden können. Es iſt aber nicht zu überſehen, daß durch eine ganze Anzahl von Quali— täten, die ſich zum Theil wohl in jedem Individuum beanlagt finden (Ruhmſucht, Eitelkeit, Furcht, Mitleid ꝛc.), andere Cha— rakterſeiten beeinflußt, zur Geltung gebracht oder hintangehalten werden könnten. Es ſollte die Hauptaufgabe der Schule wie des Hauſes ſein, bei den ihrer Erziehung An— vertrauten alle jene Anlagen kennen zu lernen und ſie durch zweckmäßige Benutzung und Ausbildung in diejenige Beziehung zu einan— der zu ſetzen, die das künftige Wohl des Betreffenden am meiſten zu fördern ver— ſpricht. — Von einer Kenntniß oder Be— mühung in dieſer Richtung würde man vergebens eine Spur bei unſerm heutigen Erziehungsſyſtem und deſſen Trägern ſuchen. Oder iſt es nicht ſchon ſprüchwörtlich geworden, daß die vermeintlichen Tauge— nichtſe der Schule öfter einen künftigen Mar— ſchallſtab im Ranzen tragen, während dagegen aus dem Torniſter des Primus, des ver— hätſchelten Lieblings der Lehrer, höchſtens ein Hirtenſtab oder ein künftiger Pantoffel herausſieht? Ganz gewiß iſt und bleibt die Auto— rität das einzige Haupterziehungsmittel auch für die kommenden Generationen. Aber | „ — 170 *+ man vergißt, daß das nothwendige Corre— lat der gewünſchten Ehrfurcht, des Glau— bens und Vertrauens, mit dem die Alten ihren Autoritäten entgegenkamen, in der unbedingten Ueberlegenheit begründet war, mit der ihre Autoritäten ihnen gegenüber— ſtanden. Dieſe unbeſtrittene, allerwärts geglaubte und eine fruchtbare, harmoniſche Entwickelung der Geſittung ſichernde Ueber— legenheit wurzelte aber in einem Boden, der heute, von allen Seiten unterſpült, gebor— ſten und verwaſchen, mehr und mehr unter unſeren Füßen zu ſinken und zu ſchwinden droht. Jene Autoritäten galten, ſo lange ſie in Kraft waren, vor Allem als der Inbegriff der Wahrheit. Mit dem erſten Zweifel begann ihre Allmacht zu wanken. Die verzweifelten Maßregeln, nach denen noch alle Religionen griffen, um mit Gewalt zu halten, was doch dem ſichern Einſturz verfallen war, zeugen, wie kaum etwas Anderes, für die Schwäche des Fun— daments. Die ſchlaueſten Ueberredungs— künſte, Feuer und Schwert haben den un— aufhörlichen Wechſel der Autoritäten bisher nicht zu verhindern vermocht. Mit ihnen wechſeltendie geglaubten Wahrheiten. Wieder ſtehen wir, allem Anſchein nach, vor einem drohenden Sturz. Wir haben geſehen, wie durch Inconſequenzen, Widerſprüche und Aufbietung aller möglichen Gewalten die Wahrheit der gegenwärtigen Autoritäten nur noch kümmerlich, und nicht zum Vor— theil beider Theile, aufrecht erhalten wird. Der in allen Schichten unſerer Geſellſchaft eingefreſſene Zweifel wird den ſchließ— lichen Zuſammenbruch doch endlich herbei— führen. Was wird die Folge ſein? Wird die mangelhaft gebildete, glaubensſüchtige, am Myſticismus großgeſäugte Maſſe einen neuen offenbaren Irrthum auf den Thron | des Aberglaubens ſetzen oder wird fie end- Vuy, Zur Würdigung erſchütterter Autoritäten. ) gung lich dem Banner der Wahrheit folgen, das die Beſten unter ihnen vorantragen, nicht der abſoluten, aber der entwickelungs— fähigen, nach ſteter Vollkommenheit ringen— den Wahrheit? Was aber iſt Wahrheit? Sind es die mit vorſchriftsmäßig infallibler Sicher— heit gepredigten Dogmen und Wunder der herrſchenden Kirche, die unter allen Um— ſtänden ſo hoch gehalten werden, daß es der einen Hälfte des Lehrerperſonals, bei der Handhabung der ſich einander aus— ſchließenden Lehrſtoffe, eben noch möglich bezw. aufgegeben wird, das gründlich zu discreditiren, was die andere Hälfte kurz zuvor behauptet? Iſt es die noch jüngſt nach Lehre und Beiſpiel eines der größten Gelehrten und zugleich eines der größten „Charaktere unſerer Zeit“ verbreitete Theorie, im politiſchen Leben, ſelbſt auf die ſchwerſten Folgen für ſtaatlichen und bürgerlichen Frie— den hin, kein Jota ſeiner „Principien“ zu opfern, in der Wiſſenſchaft aber vor den möglichen Folgen der Wahrheit ein Anathema zu zetern? Uns ſcheint es vielmehr das unermüd— liche, redliche Streben zu ſein, unbekümmert um drohenden Nachtheil oder Gewinn, frei von Sophiſtik und Vorurtheil, lediglich nach den Geſetzen der Cauſalität und der Logik, die Welt der Erfahrungen zu erforſchen und ſie in einen harmoniſchen, einheitlichen Zuſam— menhang zu bringen. Die Entwickel— ungslehre vor Allem aber iſt es, die uns den Weg zum Licht und zur Wahr— heit geöffnet hat. Sie ermöglicht es uns, aus dem Wuſt des Jahrtauſende hindurch geſammelten Materials die tauglichen Bau— ſteine zu finden und ſie zuſammenzufügen zu dem erhabenen Dome der Wiſſenſchaft, unter dem wir alle in Ruhe und Frieden wohnen und wirken können. Be Entwickelungslehre nicht wünſchen, daß fie nun etwa von einem autoritativen Stand— punkte gelehrt werde. Denn jedes derartige Lehren unterdrückt das Selbſtdenken. Gegen die Hypotheſe, die uns als Wahrheit von irgend einer „Autorität“ aufgedrungen wird, wendet ſich früher oder ſpäter einmal der nagende Zweifel, aber diejenige Hypotheſe, die uns als ſolche gelehrt, ſich als der beſte Ariadnefaden im Labyrinth der Mein— ungen und Erfahrungen bewährt, ſie wird uns ſchließlich höher als jede Autorität ſtehen, denn in ihr dürfen wir, wenn nicht die Wahrheit ſelbſt, doch eine der ſie als Kern ſicher einſchließenden Hüllen erblicken. Der richtig geſchulte Verſtand muß dahin gelangen, ſich auf keine Gewährsmänner zu verlaſſen, ſondern in allgemeinen Fragen ſich ſelbſt ein Urtheil zutrauen. a Und die Ethik? Wir am wenigſten können Vuy, Zur Würdigung erſchütterter Autoritäten. ) Lo Indeſſen können wir auch von der ſie vergeſſen! Sie erſcheint uns indeſſen, dem heutigen Stand der Entwickelung gemäß, weder als der einzige Grund und Zweck des Daſeins, noch, losgelöſt von den übrigen Faktoren unſerer Erziehung, als ein abſeits liegendes Studium, deſſen Ausbildung nur einigen Auserwählten obläge, während der große Haufe ſich dem Reſultat in der Form eines exoteriſchen, drohenden „Du ſollſt“ zu beugen hätte. Wir erkennen in ihr viel— mehr einen Theil der organiſchen Entwickel— ungsgeſchichte, dem wir hauptſächlich den künſtlichen Ausbau unſerer ſocialen Ver— einigungen zu verdanken haben und in dieſer Ueberzeugung erfüllen wir ihre jeweiligen Forderungen nach unſeren Kräften mit der Selbſtverſtändlichkeit, die die Erkenntniß ihrer Nothwendigkeit ergiebt. Und dieſe Lehre ſollte von unſeren Schulen ausgeſchloſſen bleiben? wie bildeten fh die Argeſteine? Von Dr. Otto Runtze. on den vielen Hypotheſen über 90 r die Bildung der Erdrinde . F dürften die ſogenannten „me— 1 IR tamorphen Hypotheſen“ heut— zutage die meiſten Anhänger haben, indem ſie auf die bis jetzt beſte Hypotheſe über die Uranfänge unſeres Erdballes, die von Kant bez. Laplace, weiter gebaut ſind, welche bekanntlich beſagt, daß ſich aus dem Urnebel durch Verdichtung die Planeten gebildet haben, wobei deren Maſſen feurig— flüſſig wurden; nach deren Abkühlung ſolle dann die ſchlackige Erdkruſte durch Waſſer metamorphiſirt worden ſein. Ich will bevorworten, daß ich keines— wegs den ehemaligen völlig glühenden Zu— ſtand unſeres Erdballes und den jetzigen glühenden Zuſtand des Erdinnern leugne; ich beſtreite nur den flüſſigen Zuſtand. Die Annahme des feurigflüſſigen Erdkerns und der plutoniſchen Hypotheſen ſtützen ſich auf die vulkaniſchen Erſcheinungen; indeß werde ich ſpäter zeigen, daß Laven, Baſalte keine urſprünglichen Geſteine ſind und ſich als ſecundäre Gebilde aus glühend-feſtem Erd— innern entſtanden erklären laſſen. Die Gründe, welche gegen die Feuerflüſſigkeit des ſpecifiſch ſchwereren Erdkernes ſprechen, ſeien für diesmal unerörtert. Daß nun die Erdkruſte, die Urgeſteine, nie gluthflüſſig waren, ſchließe ich aus fol— genden Thatſachen. Dieſelben müßten näm— lich glaſige Schmelzeinſchlüſſe und ſphäroide Poren beſitzen, wie wir dies bei allen ge— ſchmolzenen Silicaten finden. Dagegen müßten Mikrofluida fehlen, weil fie in der Hitze, wo Silicat-Urgeſteine feuerflüſſig werden, bereits zerſtört ſind. Gegen das direkte Auskryſtalliſiren der Granitminera— lien aus einem Schmelzfluß, wodurch man die Erſtarrung der problematiſchen glühend— flüſſigen Erdkruſte ohne Waſſerbeeinfluſſung und damit ohne Schlackenbildung — wenn auch nicht ohne glaſige Einſchlüſſe — zu erklären vermöchte, ſpricht, daß Granit, wenn er im Knallgasgebläſe geſchmolzen wird, doch trotz der vorſichtigſten Abkühlung nur eine glaſige Maſſe giebt, ferner daß Lava, die gemäß ihrer gleichen chemiſchen Zuſammenſetzung nur geſchmolzenes grani— Kuntze, Wie bildeten ſich die Urgeſteine? tiſches Geſtein ſein kann, ſich nicht wieder trotz langſamſter Abkühlung zu Granit differenzirt. Auch iſt gegen dieſe Annahme angeführt worden, daß die drei weſent— lichſten Mineralien des Urgebirges ver— ſchiedene Schmelzpunkte haben und daher in ungleicher Zeit hätten auskryſtalliſiren müſſen: Quarz zuerſt, dann Feldſpath, zu— letzt Glimmer. Vor Allem ſpricht aber die öfters im Urgebirge ſich findende entſchiedene Stratification, die ſedimentären Ablager— ungen gleicht, gegen ein einfaches kryſtal- liniſches Erſtarren aus einem Schmelzfluß. Unter Mikrofluida verſtehe ich die mikro— ſkopiſchen Flüſſigkeitseinſchlüſſe in Kryſtallen, die von allen Mineralogen, weil ſo hermetiſch abgeſchloſſen, daß ſie beim ſtärkſten Erhitzen nicht verſchwinden, als urſprünglich d. h. bei Bildung des Kryſtalls entſtanden be— trachtet werden, und die nicht nachträglich in die Kryſtalle eingedrungen ſein können. Sie finden ſich in den Urgeſteinen häufig, na— mentlich im Quarz des Gneißes und dort aus verſchiedenen Chemikalien beſtehend, z. B. flüſſige und comprimirte Kohlenſäure, Kohlen— waſſerſtoffe, Chloralkalien, Waſſer, — letzte res indeß nie allein, noch als conſtanter Be— gleiter — Salzſäure, ſchwefelſaure Alkalien. Die Alkalien find öfters mikroſkopiſch klein in den Mikrofluida auskryſtalliſirt, und daneben befinden ſich meiſt winzige, luft— leere Räume, Libellen genannt. für geogenetiſche Hypotheſen iſt die That— ſache, daß die Mikrofluida in einem und demſelben Kryſtall ungleiche Libellen beſitzen, (d. h. die Libellen ſtehen nicht in gleicher Proportion zur Flüſſigkeit), und daß ver- ſchiedene gaſige, flüſſige und feſte Chemi— kalien ſich gleichzeitig öfters in den Mikro— | fluida eines Kryſtalls befinden. Dieſe Mikro- fluida werfen alle metamorphen Hypotheſen über den Haufen. Kosmos, III. Jahrg. Heft 3. 173 Nun giebt es aber viele Naturforſcher, die dieſen neueren Errungenſchaften, vielleicht nur aus Unkenntniß der mikroſkopiſchen Geologie, nicht Rechnung tragen und nach wie vor die neptuniſchen Umwandlungen der hypothetiſchen Schlackenkruſte unſeres Globus befürworten. Ich habe mich daher eingehender gegen die gangbareren meta— morphen Hypotheſen mit beweiſenden Thatſachen zu wenden, wobei ich auch die phyſikaliſchen Eigenſchaften der Mikrofluida näher beleuchten werde. Selbſtverſtändlich handelt es ſich nur um die uns bekannten Urgeſteine, namentlich Gneißgranit; denn die ſpäteren Geſteine ſind mit Ausnahme der eruptiven Geſteine ſämmtlich neptuniſch, und die ſchwereren des Erdinnern ſind uns gänzlich fremd. Eine rein neptuniſche Entſtehung der Urgeſteine, wobei viel Waſſer beanſprucht wird, iſt unmöglich, weil deren Mineralien weder mechaniſch nach dem Gewicht noch druſig geordnet ſind und weil gar nicht Waſſer genug vorhanden iſt, um die äußerſt ſchwer löslichen Mineralien der Urgeſteine, alſo namentlich Quarz, Glimmer, Feldſpath aufzulöſen. Die Erdkruſte iſt uns durch Ver— ſchiebungen bis 30,000 Meter aufgeſchloſſen und beſteht weſentlich nur aus Granitgneiß; dagegen verſchwinden alle ſpäteren Geſteine relativ, Wichtig zumal ſie höchſtens ſtellenweiſe ſich mächtig finden, nie aber wie Granit gleichmäßig verbreitet find. Wir dürfen ſo⸗ gar aus dem ſpecifiſchen Gewicht der Erde folgern, daß unſer Erdball wenigſtens zur Hälfte aus denſelben Geſteinen beſtehe. Wie verſchwindend wenig iſt dagegen Waſſer vorhanden: 3000 Meter im Maxi— mum, wenn es die Erde gleichmäßig be— decken würde, und das zehnfache Volumen unſeres Erdballes wäre vielleicht nöthig! Solchen extremen Neptuniſten, die ſich haupt— TCC ddr 24 ſächlich auf die ſedimentäre Stratification mancher Urgeſteine ſtützen, welche ſich aber, wie ich ſpäter zeigen werde, auch anders erklären läßt, bleibt keine andere Ausrede, als daß das Waſſer von der Erde abge— ſchleudert worden ſei oder ſich z. Th. nach weiterer Erkaltung nach dem Erdinnern zu verloren hätte. Dagegen läßt ſich erwidern, daß die größer gewordene Erdmaſſe auch größere Anziehungskraft beſaß und daher Waſſerabſchleuderung nachträglich viel we— niger möglich war als vorher. Andererſeits kann Verſickerung des Waſſers relativ nur äußerſt gering ſein gegen das Quantum Waſſer, welches eine ſolche neptuniſche Er— klärung beanſprucht, und müßte auch unſer Erdball von zahlloſen heißen Quellen und Geyſirs überfüllt ſein; jedoch iſt gerade der Hauptbeſtandtheil unſerer Erdkruſte, der Granit, ſo gut wie waſſerdicht und läßt nur auf den Abkühlungsſpalten Waſſer ein— ſickern. — Auch für die öfter ausgeſprochene Vermuthung, daß jene Mineralien früher unter größerem Atmoſphärendruck leichter löslich geweſen ſeien, iſt man den hierfür leicht zu erbringenden experimentellen Be— weis ſchuldig geblieben. Wenn z. B. im Papin'ſchen Topf Granitpulver mit Waſſer glühend gemacht würde, müßte er ſich dieſer Hypotheſe gemäß auflöſen und beim langſamen Erkalten müßten ſich Quarz, Feldſpath, Glimmer kryſtalliniſch ausſchei— den. — Dieſe Hypotheſe iſt auch deshalb nicht begründet, weil außer Kohlenſäure in der Hauptſache die Subſtanz, durch den jener erhöhte ehemalige Druck veranlaßt ſein kann, auch nur Waſſer war. Daraus ergiebt ſich: es war entweder viel flüſſiges Waſſer auf der Erdkruſte und dann wenig gasförmiges in der Luft, wobei es alſo nur geringen Atmoſphärendruck gab, oder — und dieſer Fall iſt der wahrſcheinlichere Kuntze, Wie bildeten ſich die Urgeſteine? — es war über dem glühenden Erdball anfangs keines, ſpäter wenig flüſſiges Waſſer und viel Waſſerdampf in der Luft. War viel Waſſer in der Luft, ſo war unter dem eigenen höheren Atmoſphären— druck auf die unterſten Schichten der Koch— punkt des relativ wenigen niederfallenden Waſſers ein viel höherer, und eine Meta— morphoſe der ſupponirten ſchlackigen Erd— kruſte iſt daher discutabel. Gegen Umwandlung der ſchlackigen Erd— kruſte durch relativ wenig überhitztes Waſſer ſprechen außer der Unlöslichkeit des Granits noch folgende Gründe: a) Das abſolute Fehlen von Schlacken, Glaseinſchlüſſen, vulkaniſchen Poren, da wenig Waſſer unmöglich viel Geſtein gleich— mäßig verändern kann. Nachträgliche kalte hydrochemiſche Proceſſe des Sickerwaſſers, die dies abgeändert haben ſollten, bedingen nur eine ſtellenweiſe Metamorphoſe mit un— gleicher Vertheilung ihrer Produkte (während Granit ein ſymmetriſches Gemiſch iſt) und erklären auch nicht die kryſtalliniſche Anord— nung der Granitmineralien in Rückſicht auf Metamorphoſe aus und innerhalb einer früheren feſten Maſſe. b) Das abſolute Fehlen von Hydrat— mineralien mitten im Gneißgranit, die ſich bei allen ſpäteren neptuniſchen Umwandlungs— geſteinen und als ſolche wohl auch in den Gangſpalten der Urgebirge zahlreich finden. Es beweiſt nicht das Gegentheil, daß aus Waſſer auch manche Subſtanzen waſſerfrei auskryſtalliſiren, daß z. B. Quarz, Feld— ſpath, außer aus glühenden Gaſen, auch auf naſſem Wege darzuſtellen ſind; Glimmer enthält zwar Spuren von Waſſer, das man aber als chemiſch gebunden betrachtet, weil es ſich erſt bei Rothgluth austreiben läßt. e) Graphit iſt ein Subſtitut für Glim— mer in den Urgeſteinen, ähnlich wie Chlorit, Kuntze, Wie bildeten ſich die Urgefteine ? Talk, Eiſenglimmer ꝛc.; er iſt eines von den Mineralien, die nur auf glühendem Wege vielfach künſtlich erzeugt werden kön— nen. Dies fällt um ſo mehr ins Gewicht, als Kohlenſtoffverbindungen den weſentlich— ſten Theil unſerer chemiſchen Erfahrungen bilden; alle auf feuchtem Wege entftandene Kohle iſt amorph. Dies ſchließt nicht aus, daß Graphit ſich auch als klaſtiſches Ge⸗ ſtein in den Umwandlungsgeſteinen findet. Glühender Entſtehungszuſtand ſchließt aber neptuniſchen Urſprung aus.““) 175 — in dieſem Falle alſo ein vermuthetes überhitztes Waſſer — unbedingt aus. Mi- krofluida mit Libellen entſtehen nämlich, wenn aus einer heißen Mutterlauge ſich Kryſtalle ausſcheiden. Bei der Abkühlung nehmen die im Kryſtall hermetiſch einge— ſchloſſenen kleinen Reſte der Mutterlauge geringeren Raum ein, ſo daß Vacuolen — Libellen — neben dieſen Mikrofluida ent— ſtehen. Es verſteht ſich nun von ſelbſt, daß alle Mikrofluida eines ſolchen Kryſtalls d) Quarz, Glimmer, Feldſpath ſind auf naſſem Wege nicht ſynchronogenetiſch, während Granitgneiß dieſelben doch ſo zeigt, daß ſie zu gleicher Zeit entſtanden ſein müſſen. Auch Kalk und Quarz ſind öfter, wie überhaupt alle Mineralien der Urgeſteine, ſynchronogenetiſch; aber ein neptuniſcher chronogeneſis der Urgeſteinmineralien iſt nur durch ihr Entſtehen aus Gaſen erklärlich. e) Die heterogenen Mikrofluida in Quarzkryſtallen des Gneißes ſchließen jedes Entſtehen aus einer homogenen Flüſſigkeit ) Graphit wird wohl von keinem Geo— logen mehr als phytogen, oder gar als Be— in Proportion zur Größe der Libelle ſtehen und aus gleicher Mutterlauge beſtehen müſſen. Beides iſt aber bei denen des Urquarzes nicht der Fall, ſo daß ſeine Entſtehung nur aus einer heterogenen Atmoſphäre erklär— lich ift.*) Sind nun alle Hypotheſen ausgeſchloſſen, | welche die Entſtehung des Granit-Gneißes Kalkkryſtall bildet ſich z. B. ſchnell, ein Quarzkryſtall äußerſt langſam. Dieſe Syn⸗ weis, daß in der laurentiſchen Periode orga- niſches Leben exiſtirte, angeſprochen. Abgeſehen unter Beeinfluſſung von Waſſer erklären, und iſt auch ein einfaches Auskryſtalliſiren aus einer homogenen feuerflüſſigen Maſſe infolge der fehlenden Schmelzeinſchlüſſe, ſphäroiden Poren, der vorhandenen Mikro- fluida und öfterer Stratification unmöglich, ſo bleibt keine andere Annahme, als daß dieſe Mineralien direkt aus Gaſen ſich aus- ſchieden. Bevor ich nun dieſe Anſicht weiter begründe, will ich mich gegen ſolche Hypo— theſen wenden, die beſagen, daß ſich das davon, daß die niederſten Organismen und ſolche dürfen für jene Periode höchſtens | vermuthet werden — gar nicht zur Kohlen- bildung befähigt ſind, iſt kein einziges Bei— ſpiel bekannt, daß Pflanzen, außer Kalkſalzen, Kryſtalle ausſcheiden. Dagegen iſt Bitumen im Gneiß an einer Stelle gefunden worden; doch habe ich a. a. O. ausführlich gezeigt, daß Bitumen, Asphalt, Petroleum ebenſowohl aus Graphit wie aus anderem Kohlenſtoff entſtehen können, und nicht blos aus orga- niſchen Reſtern entſtanden zu ſein brauchten. (Vergl. meine „Schutzmittel der Pflanzen und das ſalzfreie Urmeer“, S. 110 — 124.) | ) ) Es giebt zwar infofern zwei Ausnahmen, als bei Steinſalz und Lagunenſalz ſich un— gleiche Libellen, aber nur neben gleichen Mutterlaugen-Mikrofluida finden; dieſe beein- fluſſen indeß obige Folgerung nicht, denn beim Steinſalz, das auf dem Grunde von Salzſeen entſteht, wird aus zugeſchwemmtem organiſchen Detritus entwickeltes Gas oft mit eingeſchloſſen, und beim Lagunenſalz wird in Folge der flachen, vom Winde bewegten Waſſerflächen Luft in die Salzkryſtalle eingeſchloſſen, zu— mal wenn letztere bei ihrer Entſtehung nur zeitweiſe vom Waſſer bedeckt ſind. 176 Kochſalz zuletzt aus der Atmoſphäre nieder⸗ geſchlagen habe, oder daß es ein vulkani— ſches Sublimationsprodukt ſei, und alſo vor dem Niederſchlag der atmoſphäriſchen Waſſer bereits auf dem heißen Erdball exiſtirt habe, fo daß nach dem erſten Regen ſofort ſalzige Oceane entſtanden ſeien. Wir finden Kochſalz in den Mikrofluida und chlorhaltigen Apatit mikroſkopiſch im Granit eingeſchloſſen; ein Beweis, daß ſich das Chlor ſchon früher gebunden hatte. Dies Aſt auch der chemiſchen Natur des | Chlors nach nicht anders zu erwarten, denn Chlor hat nächſt Fluor von allen chemiſchen Elementen das größte Beſtreben, ſich chemiſch zu binden, und muß ſich alſo, ſobald es die Hitzegrade erlaubten, mit den Silicaten und zwar, wie ich ſpäter zeigen werde, bei Roth— gluth gebunden haben. Da nun Chlor ein relativ ſeltenes Element im Vergleich zu den Beſtandtheilen der Erdkruſte iſt, ſo iſt die Vermuthung, daß nach der Bildung der Granitmineralien und der darin befind— lichen Chlorverbindungen noch Chlor übrig geblieben ſein ſoll, ohne allen Anhalt. Aus Vulkanen ſublimiren zuweilen aller— hand Chlorverbindungen; es iſt dies ein Reſultat des ins Innere der Vulkane ein— dringenden ſalzigen Meerwaſſers, indem das Chlornatrium des letzteren in großer Hitze bei Gegenwart von Waſſer chemiſch durch Kieſelſäure zerſetzt wird, wobei kieſelſaures Natron entſteht und Salzſäure frei wird. Wie ſollen dieſe Verhältniſſe aber auf eine früher glühende Erdkruſte, auf der noch kein Waſſer exiſtirte, anwendbar ſein? In den Abkühlungsſpalten des Ur- gebirges begegnen wir öfter gewiſſen waſſer— loſen Erzgängen, deren Mineralien wir aus verſchiedenen Gründen als ſublimirte an— ſprechen dürfen. Chlorverbindungen finden wir aber dort nicht, vielleicht eben weil Kuntze, Wie bildeten ſich die Urgeſteine? das Erdinnere ſo große Hitze hat, daß bei deſſen Entſtehung Chlorverbindungen ſich noch nicht niederſchlagen konnten, ſo daß Chlor erſt ſpäter in den Beſtandtheil des Erdſphäroids eingetreten iſt. Uebrigens ge— nügt der Chlorgehalt des Granits völlig, um den jetzigen Meeresſalzgehalt durch Ver— witterung des Granits ) zu erklären, und es müßten bei anfänglichem Salzgehalt der Oceane im Meere anſtatt 3½ PCt. viel- leicht 10 pCt. oder mehr Salze ſich finden. Da wir überhaupt wiſſen, wo das Chlor vorhanden iſt und ein Plus nicht nur nicht bedürfen, ſondern es zur Er— klärung anderer Thatſachen gar nicht ge— brauchen können, find ſolche Hypotheſen zum mindeſten überflüſſig, und Hypotheſen von Salzſäure-Meeren und feuerflüſſigen Salzſtrömen ſind haltloſe Phantaſien. Außerdem finden wir Kochſalz nie als beſonderen Beſtandtheil, ſondern nur als acceſſoriſchen in minimalen Mengen und nie trocken im Granit; erſteres müßte doch ſein, falls es ſich in größeren Mengen auf der glühenden Erdkruſte niedergeſchlagen hätte, weil Granit nicht ausgelaugt ſein kann und weil er in ſeinem urſprünglichen glühend-plaſtiſchen Zuſtand doch mancherlei Umwälzungen und ſelbſt Eruptionen unter— worfen war, ſo daß etwaiges vor dem erſten Regenfall auflagerndes Kochſalz als trockener iſolirter Beſtandtheil zuweilen in dem waſſerdichten Granit in größeren Par— thien eingemengt worden wäre. Die heutigen vulkaniſchen Geſteine, be— hauptete ich, ſeien ſecundäre Bildungen; da— für ſpricht: a) Daß die älteſten Geſteine, obwohl fie mit Baſalten und heutigen Laven chemiſch faſt gleich zuſammengeſetzt ſind, keine glaſi— *) S. Kosmos Bd. IV. S. 39, 40. Kuntze, Wie bildeten ſich die Urgeſteine? gen Schmelzeinſchlüſſe enthalten und, wie ich zeigte, nicht metamorphiſirt ſein können. b) Die bei Rothgluth entſtandenen Mineralien der älteſten Geſteine ſchmelzen blos durch Knallgas, dabei werden deren Mikrofluida zerſtört und es entſtehen ſphä— roide Poren, ſo daß ſie zu Laven werden. In den Urgefteinen finden ſich höchſtens Hohlräume mit Kryſtallflächen, und wenn ſie, ſelten genug, leer ſind, ſo iſt dies durch nachträglich entſtandene Spalten im Kryſtall erklärlich. e) Wäre Lava nur feuerflüſſiges Erd⸗ innere, ſo müßten in allen Perioden die Eruptivgeſteine gleich ſein; ſie werden aber | erſt im Verlauf der Zeiten glafig und porig und zwar um ſo mehr, je jünger ſie ſind; ein Beweis, daß die Hitze, welche Eruptivgeſteine veranlaßte, im Innern immer größer in ſpäteren Perioden ward und daß hinein gebrachte Faktoren entſtanden iſt. Die Entſtehung der eruptiven Geſteine läßt ſich im Anſchluß an dieſe Thatſachen Früher, wenn Waſſer ins feſte, glühende Erdinnere drang, nur wie folgt erklären: konnte es ſich durch die minder feſte, noch wenig erkaltete Erdkruſte leichter befreien; die Feldſpathgeſteine waren in geringerer find; erfolgten dann Eruptionen, jo geſchah dies im großartigſten Maßſtabe, bedingt durch den Gegendruck erkalteter Continente, ſo daß wir mit älteren eruptiven Geſteinen, Granit nicht ausgeſchloſſen, ganze Länder flach überdeckt ſehen. Je mehr die Erdkruſte erkaltete und feft wurde, um fo mehr wurde ins glühend— feſte Erdinnere eingedrungenes Waſſer im Innern gefeſſelt und zerſetzt, wobei ſich Knallgas entwickelte; dieſes vereinte ſich reiſen geſehen habe, ſind für die meiſte Zeit dieſe größere Hitze durch fremde, von außen enthält, erhalten haben können; erſt wenn Verſchiebung der Felſen total verſtopft ſind, Tiefe noch glühend und in Folge deſſen ſchwach plaſtiſch, was ſie jetzt nicht mehr miſch in minderen, nicht ſo heißen Tiefen, | Waſſer fällt wieder in größere Tiefen, jo 177 wieder zu Waſſer, wobei unter Knallgashitze die Feldſpathgeſteine ſchmolzen. Deshalb die ſteigende Progreſſion im Verlauf der geo— logiſchen Perioden von Schmelzflüſſen und Poren im Eruptivgeſtein, alſo auch von Hitze für deren Erzeugung, und die ſteigende quantitative Abnahme der Eruptionen über— haupt und ihrer Mikrofluida, ſo daß die jetzigen Eruptionen im Gegenſatz zu den älteren ſehr klein und local beſchränkt ſind, kein Verſinken von Erdtheilen mehr ver— anlaßen — die ſäculare Senkung iſt bei dem etwas plaſtiſchen, glühenden Erdkern nicht ausgeſchloſſen — und deren ausfließende Eruptivmaſſen faſt nur aus ſchwammig— poröſen Gläſern beſtehen. Die heutigen Vulkane, deren ich eine Anzahl in Aſien, Amerika und Europa beſucht und noch mehr während meiner See— nur Solfataren; ſie hauchen viel Waſſer nebſt Chlor- und Ammoniakverbindungen ſowie Schwefel aus, welche Subſtanzen ſie nur aus dem ſtets naheliegenden Meer, welches Chlor- und Schwefelverbindungen in Löſung hat und etwas ſtickſtoffhaltige Luft gemiſcht ihre Canäle einmal durch irgend welche wird vulkaniſches Erdbeben und Lava ver— anlaßt. Die vulkaniſchen Erdbeben — es giebt ja auch andere — ſind jedenfalls nur durch die Reaktionen des eingedrungenen Waſſers erklärlich: Das im Innern ab— geſchloſſene Waſſer wird in größeren, hei— ßeren Tiefen zerſetzt, vereint ſich wieder che— wobei Felſen durch die Hitze abſchmelzen müſſen; das dadurch aufs Neue gebildete daß ſich dieſe Reaktionen oft wiederholen müſſen, bis die Verſtopfung der vulkaniſchen —— qÜ.p ——— 'n. —— — 178 Canäle dem Widerſtand dieſer innen wir— kenden Kräfte nicht mehr widerſtehen kann, bis das Waſſergas und das Feuergarben liefernde Knallgas, die dampfdurchtränkte Lava einen Ausweg finden, worauf der Vulkan lange Zeit ſich ruhig zeigt. Wegen der die Lava hebenden Kraft iſt nicht außer Acht zu laſſen, daß Waſſergas chemiſch zer— ſetzt halbmal mehr Volumen beanſprucht. Dieſe Erklärung dürfte ſich mit allen bekannten Thatſachen zuſammenreimen. Noch möchte ich eine Art Tuff, den bimſteinartigen, hier erwähnen, weil er faſt ſtets die feurigvulkaniſchen Ausbrüche be— gleitet. Bimſtein iſt nicht aufſchwimmender Lavaſchaum, wie man bisher glaubte, ſon— dern entſteht, wenn dünnflüſſige, alſo die heißeſte Lava — oder analog künſtliche Schlacken — mit viel Waſſer in Berühr— ung kommt; er entſteht z. B. regelmäßig, wenn ſolche Lava ins Meer fließt. Wenn nun die Bedingungen für Bimſtein ſchon im Erdinnern ſich finden, ſo muß er als ein zerreibliches Geſtein unter den ſtatt— findenden Druck- und Reibungsverhältniſſen ſo zerkleinert werden, daß er als bimſtein— artiger Tuff bei Eruptionen herauskommt. Ich erwähnte wiederholt, daß Urgeſteins— mineralien bei mäßiger Rothgluth entſtan— den ſein dürften. Dafür ſpricht, abgeſehen von den Thatſachen, die überhaupt beweiſen, daß die Erdkruſte einſt glühend war: a) Ueber Weißgluth können fie nicht ent- ſtanden ſein, weil ſie nie geſchmolzen waren und weil die Mikrofluida bei ſtarker Roth— gluth zerſetzt werden. b) Unter Rothgluth find fie wahrſcheinlich nicht entſtanden, weil ſich das Waſſer, was Bildung „des Schnees und der Gletſcher, ſie enthalten — es iſt nur im Glimmer ſehr wenig vorhanden und chemiſch gebun— | den — erſt bei ſchwacher Rothgluth ent- fernen läßt. Wären ſie bei niederer Tem— Kuntze, Wie bildeten ſich die Urgeſteine? peratur entſtanden, ſo wären auch Mine— ralien in den Urgeſteinen, deren Waſſer bei niederer Hitze ſich austreiben ließe. — Da ſich der erſte Regen unter einem großartigen Atmoſphärendruck vielleicht ſchon bei 200 bis 3009 niedergeſchlagen haben dürfte, und die Urgeſteinsmineralien, wegen ihrer antineptuniſchen Eigenſchaften, wie ich zeigte, vorher entſtanden ſein müſſen, iſt die unterſte Temperaturgrenze ihrer Entſtehung ange— deutet. Außer der negativen Begründung, in— dem ich andere geogenetiſche Hypotheſen den Thatſachen nicht entſprechend zeigte, will ich nun für die Entſtehung der Urgeſteins— mineralien aus Gaſen poſitive Beweiſe zu liefern verſuchen und einige Conſequenzen ziehen. a Zunächſt ſind Kryſtalle von Urgeſteins— mineralien, namentlich Quarz, Magneteiſen, Eiſenglanz, Graphit, aus Gaſen bei Glüh— hitze künſtlich dargeſtellt worden. Feldſpath hat ſich aus Gaſen von Hochöfen auskry— ſtalliſirt, Granat iſt in Vulkanen als Su— blimat nachgewieſen worden, wobei die De— finition ebenſo berechtigt iſt, daß er durch Wechſelwirkung der heißen Gaſe entſtanden ſei. Nur Glimmer iſt noch nicht aus Gaſen erzeugt worden, doch daran mögen wohl die nicht zahlreichen derartigen Verſuche Ur— ſache ſein; daß er glühend entſtehen kann, beweiſen uns die Laven, aus denen er häufig auskryſtalliſirt. Daß einige von den citir— ten Mineralien noch auf andere Weiſe ent— ſtehen können, beweiſt nicht, daß ſie auf andere Weiſe entſtanden ſein müſſen. Graphit aber iſt nur glühend darſtellbar. Dann iſt als lehrreiches Analogon die ſowie die Eigenſchaften des Gletſchereiſes in Betracht zu ziehen. Wie ſich aus der Atmo— ſphäre Schneekryſtalle ausſcheiden, die bei Kuntze, Wie bildeten ſich die Urgeſteine? wärmeren Graden zuſammenſintern, ſo daß dem zeitweiſen Schneefall entſprechende Stra— tificationen aufweiſt und trotz Feſtigkeit noch ſo plaſtiſch iſt, daß es ſich bewegt und alle Ungleichheiten der Unterlage ausfüllt, wie auch bei ſeiner Entſtehung aus Schnee die luftigen Zwiſchenräume verdrängt werden: | jo können wir auch nur die Entftehung des Granits uns erklären, nur daß andere Temperaturgrade und ſtatt eines Minerals deren mehrere, meiſt nur drei, in Rückſicht kommen, die aus atmoſphäriſchen chemiſchen Proceſſen reſultirten. Auch der Granit zeigt nur kryſtalliniſche Struktur und iſt etwas plaſtiſch geweſen, wie der Eruptivgranit beweiſt und wodurch allein die Homogenität des Granits, der ſicherlich wie die Sonnen- oberfläche ſeiner Zeit von Gaseruptionen durchwühlt worden iſt, wieder hergeſtellt ſein kann. Seine Kryſtalle, weil viel ſchwerer, mußten beim Zuſammenſintern die zwiſchen— befindliche Luft viel energiſcher verdrängen als das Gletſchereis. Auch in den Ur— geſteinen finden wir oft Stratification, wie ſie analog der zeitweiſe Schneefall bedingt; ja die ſymmetriſche Anordnung ungleich großer Mineralkörper mit verwiſchten Kry— ſtallflächen läßt kaum eine andere genetiſche Erklärung zu. liche kryſtalliniſche ſpätere Geſteine, aber dann nur — vom Marmor, der durch glühende Contaktmetamorphoſe entſtand, ab— geſehen — mit klaſtiſchen und ſolchen Ge— ſteinen und Kryſtallen gemiſcht, welche die neptuniſche Einwirkung beweiſen. Die verſchiedenartigen Beſtandtheile der Mikrofluida, ſowie ihrer improportionalen Libellen laſſen keine andere Erklärung zu als die, daß ſich die Granite bei Gegenwart von verſchiedenen Gaſen, die ſich verdichteten, alſo jedenfalls aus einer chemiſch etwas variablen Wohl giebt es auch ähn- 179 Atmoſphäre gebildet haben. Wenn wir einmal das kryſtalliniſche Gletſchereis entſteht, das flüffige oder nur gaſigecomprimirte Kohlenſäure allein, ein andermal Kohlenwaſſerſtoffe, Salz— ſäure neben mehr oder minder concentrirten bis überſättigten Löſungen von Chloriden und Sulfaten von Kali, Natron, Kalk, wobei bald das eine, bald das andere Salz vorwaltet, mit oder ohne begleitende Kohlenſäure finden, jo iſt jedes Auskryſtalliſiren aus einer homogenen Flüſſigkeit ausgeſchloſſen. Wir werden unwill— | kürlich zu der Annahme gedrängt, daß die Granitmineralien aus einer Atmoſphäre ſich niederſchlugen, die weſentlich aus Waſſerſtoff— | verbindungen — die uns ja von den meiſten chemiſchen Elementen als die flüchtigſten Ver— | bindungen bekannt find — der Elemente jener Mineralien beſtand, daß die ſeltneren chemiſchen Beſtandtheile jener Atmoſphäre zerſtreut mit in den Kryſtallen Aufnahme fanden und daß als Reſiduum dieſer Proceſſe Waſſer, Kohlen- ſäure, Stickſtoff und Sauerſtoff übrig blieb, aus denen ſich dann die organiſche Welt entwickelte. Nur Gaſe und Flüſſigkeiten, die in der Atmoſphäre bereits in die dort gebildeten Kryſtalle hermetiſch eingeſchloſſen waren, konnten auf der ſtark glühenden Erdkruſte erhalten bleiben. Die flüſſige Kohlenſäure im Gneiß— quarz wird als Beweis angeführt, daß die Feſtwerdung der Urgeſteine unter hohem Druck vor ſich gegangen ſei. Das Reſiduum der Atmoſphäre nach der Granitausſcheidung kann man wie folgt ſchätzen: Jetzige Atmo— ſphäre 7,5 Kilo auf 7,5 U Ctm. (15 Pfd. auf 1 U Zoll) = 1 Kilo auf 1 U◻ Ctm. 2000 Meter hoch ſei die Waſſerſäule gedacht, wenn alles heutige Waſſer die Erde gleich— mäßig bedeckte; dann würden 200000 Cubiketm. Waſſer jedem I Ctm. auflagern, und da 1000 Cubik Ctm. Waſſer = 1 Kilo iſt, würde dies 200 Atmoſphären m — — 2 — — 180 entſprechen; wollte man 3000 Meter gleich— mäßige Meerestiefe annehmen, ſo würden es 300 Atmoſphären ſein. Die Kohlenſchätzungen find uoch größeren Schwankungen unterworfen; nach Liebig ſoll die Kohlenſäure der Luft 2800 Billionen Pfund Kohle entſprechen und ebenſoviel ſoll in England allein vergraben liegen. Biſchoff ſchätzt die Kohle in der Erde ziemlich will— kürlich 6620 Mal ſoviel, ſodaß, da die Kohlenſäure nur ungefähr ½0 o der heutigen Luft beträgt, dies 3 ½¼ Atmoſphären entſprechen könnte; doch die Fehlerquellen ſind hierzu bedeutend. Berückſichtigt man nun, daß auch die geſammte organiſche Welt einmal aus Kohlenſäure, Waſſer Luft reſultirte, ſo wird man vielleicht den Atmoſphärendruck, der nach Niederſchlag der Urgeſteine noch übrig blieb, auf 200 — 250 annehmen dürfen. Wie aber auf glühendem Eiſen ein Waſſertropfen tanzt, wie zwiſchen beiden eine heiße trockene Luftſchicht beſteht, mußten auch über dem rothglühenden Erdball ähnliche Verhältniſſe exiſtirt haben und über ihm zunächſt die trockne ſchwerere Kohlenſäure, darüber die 200 Atmoſphären Waſſerdampf ſich gelagert haben, ſolange bis der Erdball ſoweit erkaltete, um niederfallende Regen nicht mehr abzuſtoßen. ſolchen Atmoſphärendruck das erſte Waſſer vielleicht bei 200 — 300 anſtatt bei 100 C. ſiedete und niederfiel, iſt eine berechtigte Vermuthung. Wir dürfen annehmen, daß wie auf dem Gletſcher das Firnfeld und loſer Schnee in Kryſtallen auflagert, auch auf dem durch untere größere Wärme zuſammengeſinterten Granit noch deſſen Mineralien in loſen Kryſtallen auflagerten und beim erſten Regen mannigfaltig zuſammengeſchwemmt und vom heißen Waſſer cementirt wurden, ſo daß wir Daß unter einem Kuntze, Wie bildeten ſich die Urgeſteine? in der cambriſchen Periode ſo mannigfaltige, zweifellos neptuniſch-ſedimentäre Geſteins— miſchungen finden, die vorzugsweiſe aus denſelben urſprünglichen, nicht metamor— phoſirten Mineralien wie die des Urgebirges beſtehen. Viele Geologen ſind, weil jene Mineralien der cambriſchen Periode unleugbar unter Einfluß von Waſſer entſtanden ſind, zu dem irrigen Rückſchluß verleitet worden, daß auch die aus gleichen Mineralien be— ſtehenden laurentiſchen Geſteine, die aber nicht ſo mannigfaltig gemiſcht ſind, neptuniſch ſeien. Während wir bei den monotonen Ur— geſteinen die einzelnen ungleich großen Mi— neralien, welche alſo trotz gleichem fpecifi- ſchen Gewicht ungleich ſchwer ſind, in ſym— metriſchen Anordnungen, und deren Kryſtalle wohl zuſammengeſintert, aber nicht zerpul— vert finden, ſehen wir bei den mannigfal— tiger gemiſchten cambriſchen Geſteinen die urſprünglichen, gaſogenen, noch loſe geblie— benen Kryſtalle mit Zerreibungsprodukten — namentlich ſind die zarten Lamellen der Glimmerſorten, des Eiſenglimmers und Graphits pulveriſirt worden — zuſammen— geſchwemmt, und zwar ſind ſie meiſt aus gleich ſchweren Beſtandtheilen gemengt oder, wenn letztere ungleich groß gehäuft ſind, fehlt ihnen die ſymmetriſche Anordnung. Es erſcheint gewiß Vielen, der Gedanke abſtoßend, daß einmal glühende Steine nie— dergefallen ſeien und erbſen- bis nußgroße Mineralien in der dichteren comprimirten Atmoſphäre ſchwebten, — größere Aus— nahmen analog Hagel zu Schnee ſind ſelten genug im Urgebirge — indeß die übliche Annahme, daß aus dem Atmokosmos ſich concentrirende, alſo niederfallende Fluida den Erdball geformt hätten, muß als vielen Thatſachen widerſprechend aufgegeben werden. Schied ſich aber aus dem Atmokosmos das Meiſte nur feſt aus, fo dürfen wir auf Grund des Gravitationsgeſetzes weiter folgern, daß ſich aus dem Chaos die ſchwerſten glühenden Kryſtalle — es giebt ja genug unſchmelzbare Körper — am meiſten, alſo am eheſten anzogen und ſich zu verſchieden großen Ballungen häuften, zwiſchen denen ſich planetare Bewegung einſtellen mußte; ebenſo, daß dieſe erſten Planeten je nach ihrer Größe mehr gaſogene Mineralien anzogen, daß ſie aber noch nicht groß genug waren, um alle atmoſphäriſchen Mineralien anziehen zu können, ſo daß auch Planeten nur aus den leichteren Mineralien entſtanden, wie das verſchiedene ſpecifiſche Gewicht der Pla— neten zeigt. Für den Mond, der mit der Erdkruſte gleiches ſpecifiſches Gewicht hat, iſt die Vermuthung wohl die gerechtfertigſte, daß in der Atmoſphäre ſchwebende Mineral— kryſtalle am Aequator, wo die Rotation die größte iſt, zu einem Ring — analog dem Saturn — gehäuft wurden, der größer geworden die Erdanziehung überwand und ſich ballte. Die kraterbedeckte Oberfläche des Mondes giebt uns noch kein Recht dar— auf zu ſchließen, daß er feuerflüſſig war, denn aus jedem plaſtiſchen Körper, gleich— viel von welcher Temperatur, befreien Kosmos, III. Jahrg. Heft 3. Kuntze, Wie bildeten ſich die Urgeſteine? 181 ſich eingeſchloſſene Gaſe unter Kraterbild- ung, ſei dies z. B. geſchmolzenes Metall oder ein Waſſerdämpfe durchlaſſender kalter Schlammpulkan. Auch die pyroplaſtiſche Erdkruſte der laurentiſchen Periode, alſo vor dem Regen— fall, mag derartige Kraterbildungen viel gehabt haben; ſie mußten aber ſchließlich bei der plaſtiſchen Natur der Urgeſteine und ihrer langſamen Abkühlung völlig ver— ſchwinden. Umgekehrt kühlte der Mond, weil ihm die größere Erdmaſſe faſt alle Atmoſphäre entzog, ſchneller ab. Die Sonne ſehen wir vielleicht noch in einem derartigen Zuſtand, wie er dem der Erdkruſte zur laurentiſchen Periode entſpricht; daß dies mit der Erde auch einmal ſo war, bezwei— feln wohl Wenige. Der Unterſchied der An— ſchauungen dürfte weſentlich in dem nicht glaſig⸗feuerflüſſigen, ſondern in dem ſchwach plaſtiſchen, kryſtalliniſchen, obwohl glühenden Zuſtand liegen, welchen wir gemäß den phyſikaliſchen Eigenſchaften der Granitmine⸗ ralien als ehemals vorhanden annehmen müſſen. Mögen dieſe Erörterungen der Löſung geogenetiſcher Fragen förderlich ſein. 25 2 Infuſorien als Defruchtungs -Vermittler bei Norideen. Ein Beitrag zur Kenntniß der Wechſelbeziehungen zwiſchen Pflanzen— und Thierwelt. Von Dr. Arnold Dodel- Port. ö Wie Kenntniß der Abhängigkeit „blühender, prangender und honigabſondernder Pflanzen von den ſie beſuchenden In— ſekten iſt — Dank den bahn— brechenden Arbeiten von Darwin und namentlich auch von Hermann Müller | — zum Gemeingut der biologiſchen Forſcher welt geworden, und es wird nicht lange dauern, bis die Grundzüge der „Blumen- Philoſophie“ durch Wort und Bild in die hinterſte Bank der aufklärenden Volksſchule gedrungen ſein werden. In der That eignet ſich kaum ein anderer Theil des modernen Naturerkennens beſſer für den geiſt- und gemüthſtärkenden Unterricht unſerer Jugend, welchem wir die bisher oft nur zu trocken behandelte moderne Botanik wieder zum Range der wirklichen Seientia amabilis er- heben können.. Hermann Müller hat bereits in dieſer Zeitſchrift“) die Entſtehungsgeſchichte der Blumenwelt ſkizzirt und gezeigt, auf welcher Grundlage die ganze Wechſelbeziehung zwiſchen Blumen und Inſekten beruht. Jene Grund— lage iſt der an der obern Grenze der vor— | hiſtoriſchen Kryptogamenwelt ſich vollziehende Uebertritt der männlichen Geſchlechtszellen aus dem tropfbarflüſſigen Medium des Waſſers in als gerade dieſes höchſt äſthetiſche Kapitel von der Wechſelbeziehung zwiſchen Blumen— und Inſektenwelt. dagogen werden es dem Oberlehrer Dr. Hermann Müller in Lippſtadt Dank wiſſen, daß er in ſeiner Antwort auf die kürzlich erneuerten Angriffe gegen ſeine Lehr— weiſe und Lehrtendenz uns Allen, die wir u lehren haben, den Weg gezeigt hat, auf die trockene Atmoſphäre. Bei der großen Mehrzahl der geſchlechtlichen Kryptogamen ſind die männlichen Sexualzellen aktiv be— weglich, indem ſie ſich nach dem Austritt aus dem männlichen Organ mit Hülfe leb— Und die deutſchen Pü- | haft ſchwingender Cilien durch das Waſſer bewegen und ſomit die Fähigkeit beſitzen, wie ein frei lebendes Waſſerthier ſich ſelbſt— ſtändig zum entfernten weiblichen Organ hin zu begeben und dort die Befruchtung =) Kosmos Bd. I. S. 100 und Bd. III. 314, 403, 476. AN Dodel-Port, Infuſorien als Befruchtungs-Vermittler bei Florideen. zu vollziehen. Bei den trockenblüthigen Landpflanzen, den Phanerogamen, iſt die Selbſtbeweglichkeit der männlichen Sexual- zellen zur Unmöglichkeit geworden. Es be— darf zur Vereinigung der Pollenkörner mit dem empfängnißfähigen Theil der weiblichen Blüthe in allen Fällen der Mitwirkung eines außerhalb der männlichen Zelle wir— kenden Moments. In vielen Fällen, vor— wiegend in den unteren Regionen der Blüthenwelt, iſt es die Schwerkraft oder der Wind, oder es ſind dieſe beiden Mo— mente zugleich, welche die Vereinigung der beiderlei Sexualzellen vermitteln; bei der großen Mehrzahl der höheren Blüthen— pflanzen dagegen ſind es bekauntlich die Inſekten oder gelegentlich auch andere Thiere, welche den Transport des Pollens übernehmen. Nun giebt es aber auch eine große Zahl von Kryptogamen, bei denen die ins Waſſer entleerten männlichen Sexualzellen des Vermögens ſelbſtſtändiger Bewegung entbehren, da fie keine Cilien beſitzen und darum dem Spiel außer ihnen wirkender Kräfte überliefert ſind. Hierher gehört die große formenreiche und hochdifferenzirte Abtheilung der ſogenannten Rothtange oder Florideen, jener Waſſerpflanzen, die in Form und Färbung einen wunderbaren Lichtzauber entfalten, den Niemand vergeſſen wird, der einmal in die geheimnißvolle Flora der von Ebbe und Fluth ewig be— unruhigten Meeresküſte einen Blick geworfen hat. Ihre meiſt kugeligen Spermatozoiden werden vom männlichen Organ als unbe— wegliche Zellen ins Waſſer entleert und in ähnlicher Weiſe dem Spiel der Waſſer— ſtrömungen überliefert, wie bei unſeren windblüthigen Landpflanzen die Pollenkörner als Staub aus den Antheren in die Atmo— ſphäre übertreten und dem Spiel der Winde anheimfallen. Wer die verſchiedenen Familien der Florideen-Ordnung rückſichtlich der Sexual⸗ Verhältniſſe zum Vorwurf ſeiner Beobacht— ungen und Unterſuchungen macht, dem können zahlreiche Analogien zwiſchen manchen Roth— tangen einer- und den höheren Blüthen— pflanzen andererſeits nicht entgehen. So treffen wir z. B. unter den Florideen zahl- reiche Arten, bei denen die beiderlei Sexual- Organe auf getrennten Individuen vorkom— men, ähnlich wie bei den niederſten Blüthen- pflanzen unter den Gymnoſpermen und bei vielen Phauerogamen höherer Ordnung. Da zeigen ſich denn hinſichtlich der Chancen für die Befruchtung ganz ähnliche Verhält— niſſe bei dieſen Florideen, wie bei unſeren diöciſchen Phanerogamen. Oft ſind die männlichen Stöcke weit von den weiblichen Individuen derſelben Tang-Species ent— fernt, wie dies ja häufig auch bei den diöciſchen Landpflanzen vorkommt. So habe ich z. B. im Frühjahr 1878 während vier Wochen mikroſkopiſcher Unterſuchungen adria— tiſcher Rothtange durchweg nur weibliche und geſchlechtsloſe (tetraſporenbildende) In— dividuen von Polysiphonia subulata J. Ag. angetroffen und während dieſer Zeit umſonſt nach männlichen Stöcken geſucht und ſuchen laſſen. Erſt gegen den Schluß meiner Unterſuchung gelangten männliche Exemplare jener Alge in meinen Beſitz. Die Stand— orte der weiblichen und männlichen Stöcke waren entſchieden ſehr weit aus einander gerückt; und trotzdem traf ich jederzeit fruktificirende weibliche Exemplare in allen Stadien vor und nach der Befruchtung. Die von den männlichen Pflanzen entleerten Spermatozoiden gelangten alſo trotz ihrer Bewegungsloſigkeit, trotz ihres paſſiven Ver— haltens gelegentlich auf die weit entfernten weiblichen Pflanzen. Das den Transport vermittelnde Medium — das Meerwaſſer a Ni: 184 — mußte demzufolge häufig in lebhafter Bewegung geweſen ſein. Die Vermuthung lag denn auch ſehr nahe, daß in dieſem Falle am Ende gar Thiere mitzuwirken im Stande ſeien. An kleinen Meerthieren aller Art, an In— fuſorien, Krebſen, Würmern, Seeſternen, Bryozoen, Spongien ꝛc. ꝛc., die ſich im Buſchwerke der Florideenwälder herum— treiben, iſt ja niemals Mangel. Ganz auffallend war mir das regelmäßige Vor— kommen zahlloſer Glockenthierchen auf den ſtrauchartig verzweigten Stöcken von Poly- siphonia subulata. Bei der Beobachtung am weiblichen der Befruchtungsvorgänge Organ, vor, während und nach der Copulation des Spermatozoids mit der empfängnißfähigen Trichogyne, gelangte ich denn auch zur vollen Gewißheit, daß kleine, lebhafte Meerthiere, im vorlie— genden Falle die mit langem Stiel feſtſitzenden Vorticellen, bei der Uebertragung des Spermato— zoids an die Trichogyne weſent— lich mitwirken können und gewiß bei dieſen oder jenen Florideen auch ganz geſetzmäßig mitwirken, ähnlich wie die auf blühenden Weidenſtöcken pollenſammelnden Bienen bei der Befruchtung der weiblichen Weidenkätzchen geſetzmäßig thätig ſind. Da meine diesbezüglichen Beobachtungen an fructificirenden Florideen meines Wiſſens bis heute noch vereinzelt ſtehen, da ferner die Durchforſchung der Sexualverhältniſſe der Florideen überhaupt kaum über die erſten Anfänge hinaus gediehen iſt, mithin zu erwarten ſteht, es werden in nächſter Zukunft Aufhellung dieſer noch dunklen Partie des botaniſchen Wiſſens angeſtellt werden, ſo erachte ich es als Pflicht, hier das Reſume meiner erſten Beobachtungen mitzutheilen, | | | zahlreichere Unterſuchungen zur Dodel-Port, Infuſorien als Befruchtungs-Vermittler bei Florideen. hoffend, es werde in der Folge gelingen, bei anderen Florideen ähnliche Verhältniſſe nachzuweiſen, wie ich ſie bei Polysiphonia subulata J. Ag. und der maſſenhaft auf ihr lebenden Vorticella erkannt habe. Fig. 1. Das männliche Organ (Antheridium) von Polysiphonia subulata. st Stielzelle; gh Gabelhaar; sm Spermato— zoiden-Mutterzelle; s. s entleerte Spermato— zoiden. Vergrößerung 480. Die männlichen Fortpflanz— ungsorgane unſerer Florideen ſind, wie Fig. 1 zeigt, zapfenartige Antheridien. Sie erſcheinen oft in großer Zahl an den oberen Zweigenden der männlichen Pflanze, ſeitlich und unweit des fortwachſenden Scheitels, an der Stelle, wo ſonſt (im vegetativen Zuſtande) junge vegetative Zweige abgehen. Wie dieſe letzteren, ſo ſtellen auch die An— theridien im jüngſten Stadium eine ein— fache Zellreihe dar. Durch wiederholte Längs- und Quertheilungen differenzirt ſich Gewebskörper, der auf einer kurzen Stiel— Dodel-Port, Infuſorien als Befruchtungs-Vermittler bei Florideen. | zelle (st Fig. 1) ſitzt und auf der dem mütterlichen Thalluszweig abgekehrten Seite von einem Gabelhaar (gh) geſchützt iſt. Das reife Antheridium erinnert durch ſeine äußere Erſcheinung an den Bau eines reifen Maiszapfens. In der Längsaxe des zapfenartigen Gebildes repräſentirt Reihe von 4 — 6 cylindriſchen Zellen (aa) die ſchlanke Zapfenſpindel. Ihre ganze Oberfläche iſt von zahlreichen, an die Körner des Maiszapfens erinnernden Spermato— 185 aber alsbald ein langgeſtreckter vielzelliger zoiden-Mutterzellen (sm sm) bedeckt. Letztere ſind beim unreifen Antheridium polyedriſch, gegen einander abgeplattet; beim Heran— reifen runden ſie ſich aber ſo viel, als es der Raum geſtattet, ab, indem die Wand— ungen ſich ſtark über die Außenfläche des Antheridiums vorwölben. Alle Theile des eine männlichen Organes ſind farblos; die Sper— matozoiden-Mutterzellen aber von fein— körnigem Plasma erfüllt, das ſich alsbald in einen kugeligen Körper differenzirt, der in der Folge als Spermatozoid (8s) aus der Mutterzelle entleert wird. Fig. 2. Carpogontragendes Zweigende einer weiblichen Pflanze von Polysiphonia subulata mit zwei Vorticellen, von denen die eine rechts mit ihrem Wimperkranz in voller Thätigkeit iſt, während die andere links ſich eben auf die Baſis des Stieles zurückzieht. eg ganz junges Carpogon; eg, eg zwei empfängnißfähige Carpogone; t' unbefruchtete Tricho— gyne; t' befruchtete Trichogyne mit einem Spermatozoid an der Spitze. Vergrößerung 300. Das reife Antheridium entläßt in kurzer Zeit ſämmtliche 400 — 800 kugeligen Sper= | matozoiden in das umgebende Meerwaſſer. Das einzelne Spermatozoid iſt ein mem— branloſes Plasmakügelchen ohne jegliches | Bewegungsorgan. Im Centrum dieſer kugeligen Primordialzelle erkennt man bei ſtarker Vergrößerung ein ſtark lichtbrechen— des Körperchen, um welches ſich einige kleinere farbloſe Plasmakörnchen gruppiren. In Freiheit gelangt, repräſentirt das im Waſſer ſchwebende Spermatozoid das Ana— 186 Dodel-Port, Infuſorien als Befruchtungs- Vermittler bei Florideen. logon für das dem Spiel der Winde preis- der folgen. Selbſtverſtändlich iſt das oberſte gegebene Blüthenſtaubkorn einer windblüthi- Carpogon das jüngſte, die nächſtfolgenden gen Phanerogame. find ſucceſſiv älter und weiter entwickelt, Das weibliche Organ von Poly- ganz ähnlich, wie dies bei den männlichen siphonia subulata iſt ein mehrzelliges Car- Pflanzen mit den Antheridien der Fall iſt. pogon von relativ hoher Differenzirung. Es iſt hier nicht der Ort, die Entwickelungs— Es entſteht auf der weiblichen Pflanze eben- geſchichte des Carpogons von ſeinen erſten falls dicht unter dem Scheitel der Thallus— Anfängen an bis zum Stadium der Em zweige (vergl. das junge Carpogon eg’ in pfängnißfähigkeit zu beſchreiben; ich beſchränke Fig. 2) und zwar meiſtens nach einander mich darauf, in gedrängter Kürze den Bau zu mehreren, die in ungleichen Abſtänden des weiblichen Organs wie er ſich zur Zeit von der Zweigſpitze aus abwärts auf einan= | der Befruchtung darbietet, zu ſchildern. Fig. 3. Ein empfängnißfähiges Carpogon Ca während der Befruchtung, mit dem die Copu— lation befördernden Glockenthierchen Vort. Fuß des Carpogons; eg mittlerer fertiler Theil des Carpogons; gh Gabelhaar; t Tricho— gyne, am Scheitel das mit ihr copulirte Spermatozoid s“ tragend; s, s im Waſſerwirbel tanzende Spermatozoiden; s' ein ſeitlich an der Trichogyne hängengebliebenes Spermatozoid. Vergrößerung 480. Auf dieſem Stadium läßt das Carpo— gon drei weſentlich verſchiedene Theile unter— ſcheiden (Fig. 3): 1. Den Fuß f. 2. Den fertilen, ſporenbildenden Theil eg. 3. Den Haar-Apparat t und gh. Der Fuß f beſteht aus fünf parallel neben einander verlaufenden Röhrenzellen, von denen wir in Fig. 3 nur die zwei uns zugekehrten dargeſtellt ſehen. Ueber dem Fuß folgt der fertile Theil eg, welcher einen ver— kehrt-eiförmigen Zellkörper darſtellt und aus ca. 20 — 26 Zellen beſteht. Eine centrale Zelle, die reichlich mit körnigem Plasma erfüllt iſt, wird von einer größeren Zahl unregelmäßiger, peripheriſcher Zellen um— geben und harrt der Befruchtung, um her- nach zum ſporenbildenden Apparat heran— zuwachſen, indeß die 19 — 25 peripheriſchen Wandzellen durch weitere Theilungen zur Hülle der Sporenfrucht werden (vergl. auch Fig. 4 hh). Der oberſte Theil des weiblichen Or— gans iſt der Haar-Apparat, der bei Polysiphonia subulata aus dem Gabel— haar sh und der Trichogyne t (Fig. 3) beſteht. Das Gabelhaar differenzirt ſich ſchon ſehr frühe am jungen Carpogon und zwar ſchon lange bevor ſich die Trichogyne bildet. Es iſt, wie die Entwickelungs— geſchichte des ganzen Organs lehrt, durch— aus ſcheitelſtändig, obſchon es bisweilen an— ſcheinend neben dem Scheitel ſteht. Sein geſetzmäßiges Vorhandenſein zur Zeit der Befruchtung und die Dauer ſeine Exiſtenz — es verſchwindet kurz nach der Befrucht— ung — ſprechen dafür, daß es ein bei der Befruchtung nützlich mitwirkendes Hülfs— organ iſt. Der weſentlichſte und wichtigſte Theil des Haar-Apparates iſt jedoch die Trichogyne (t in Fig. 2 und Fig. 3), d. i. das Empfängnißorgan, wel— Dodel-Port, Infuſorien als Befruchtungs-Vermittler bei Florideen. 187 chem ja bekanntlich bei den Florideen eine ähnliche Bedeutung zukommt, wie dem ſtiel— artig verlängerten Griffel ſo vieler höherer Blüthenpflanzen, während der ſporenerzeu— gende mittlere Theil eg des Carpogons das Analogon für den geſchloſſenen Fruchtknoten der Angioſpermen darſtellt. Die Trichogyne iſt ein zartes, farbloſes, aus einer einzigen Zelle beſtehendes Haar, das neben dem Scheitel des Carpogons ſich aus letzterem erhebt und nicht völlig die Länge des Gabel— haares gh erreicht. Sie bildet ſich kurz vor der Zeit, da alle übrigen Carpogon— theile jene Höhe der Differenzirung erlangt haben, die ihnen während der Befruchtung zukommt. Im ausgewachſenen Zuſtand iſt die Trichogyne von unten bis oben gleich dick und am Scheitel plötzlich abgerundet. Die zarte Membran dieſes Empfängniß— organs wird im Reifeſtadium ſo modificirt, daß kleine plasmatiſche Körper, wie Sper— matozoiden, welche mit der Trichogyne in Berührung kommen, dort kleben bleiben, ähnlich wie der Blüthenſtaub auf der feuch— ten Narbe des Griffels unſerer Angioſper— menblüthen. Im engen Canal der Tricho— gyne liegt feinkörniges, farbloſes Plasma. Vorgänge der Befruchtung. Wenn Spermatozoiden von Polysiphonia subulata, die friſch aus den Antheridien benachbarter männlicher Pflanzen entleert und zufällig von Waſſerſtrömungen daher getragen werden, mit dem obern Theil der Trichogyne in Berührung kommen, ſo hleiben ſie, wie bereits oben bemerkt, an dieſer feſthaften. Beſonders der Scheitel der Trichogyne beſitzt in hohem Grade die Fähigkeit, das kugelige Spermatozoid feſt— zuhalten. Es erfolgt dann eine Verſchmelz— ung der beiden ſich berührenden Theile derart, daß der körnige plasmatiſche Inhalt des Spermatozoids in das Innere der Tricho— | | . 185 gyne ſelbſt übertritt (Fig. 3, 8s“). Der ganze Körper der männlichen Geſchlechtszelle geht hierbei alſo eine Copulation mit der Trichogyne ein. Ein Theil ſeines plasma— tiſchen Beſtandtheiles wandert im Tricho— gynen-Canal abwärts in den fertilen Theil des Carpogons, um dort an die eigentliche weibliche Zelle, die Centralzelle des Carpo— gons, den befruchtenden Impuls abzugeben, ähnlich wie das aus dem keimenden Pollen— korn in dem Pollenſchlauch durch den Griffel bis zum Fruchtknoten hinunter wandernde männliche Plasma der höhern Blüthen— pflanzen an den in den Samenknospen liegenden Eizellen die eigentliche Befruchtung vollzieht. Da den Spermatozoiden der Florideen aktive Bewegungsorgane abgehen, ſo beruht ſelbſtverſtändlich die Möglichkeit der Be— fruchtung, d. h. in erſter Linie die Berühr— ung und Copulation des Spermatozoids mit der Trichogyne durchaus auf einem glücklichen Zufall. Die Spermatozoiden gelangen paſſiv, entweder durch ihre eigene Schwere oder durch die Strömungen des Meerwaſſers, in Folge des Wellenſchlags bei Wind oder ſtürmiſcher See, oder durch die Waſſerbewegung in Folge von Ebbe und Fluth, in vielen Fällen ganz gewiß auch durch die munteren Bewegungen von Meerthieren hinüber zu den weiblichen Or— ganen. Je größer die Entfernung zwiſchen Antheridien und Carpogonien, deſto geringer ſind ſelbſtverſtändlich die Chancen der Be— fruchtung; je lebhafter die Waſſerbewegung in der Nähe und zwiſchen den getrennten Sexual-Organen, deſto wahrſcheinlicher tritt der glückliche Zufall der Vereinigung beider Geſchlechts-Elemente ein. Bei der mehrwöchigen Unterſuchung der Fortpflanzungsverhältniſſe von Polysiphonia subulata an immer wieder friſch beſchafftem Dodel-Port, Infuſorien als Befruchtungs-Vermittler bei Florideen. lebendem Material fand ich faſt regelmäßig auf dem buſchigen Thallus, insbeſondere auf den oberen jüngſten Zweigen (mit den fruktificirenden Organen) eine Unzahl von langgeſtielten Glockenthierchen (Vorticella), die ſich da feſtgeſetzt hatten und unabläſſig ihr lebhaftes Weſen bethätigten. Dieſe oft zu Dutzenden auf demſelben Geſichtsfeld er— ſcheinenden Infuſorien, deren jedes ja in regelmäßigen Intervallen wirbelartig kreiſende Waſſerſtröme veranlaßt, waren häufig bei der mikroſkopiſchen Arbeit ſehr ſtörend und unliebſame Gäſte bis zu jener Stunde, da ich ihre freundliche Mitwirkung bei der Befruchtung direkt beobachtet hatte. Nach— dem ich friſche weibliche und männliche Exemplare von Polysiphonia, deren Serual- organe das Reifeſtadium für die Befrucht— ung erreicht hatten, in einer Glasſchale mit friſchem Meerwaſſer vereinigt hatte, brachte ich Zweig-Stücke mit den beiderlei Geſchlechts— organen unter das Mikroſkop, fie mit Waſſer verſetzend, in welches vorher zahlreiche reife Spermatozoiden entleert wurden. Während der folgenden paar Stunden war es mir leicht, alle Stadien der Befruchtung zu be— obachten und in zahlreichen Figuren zu fixiren. Wiederholt ſah ich den in Fig. 3 dargeſtellten Vorgang, bei welchem zahlreiche | Spermatozoiden in jenem Strudel mit- tanzten, den ein in der Nähe ſitzendes Glockenthierchen abwechſelnd in Bewegung verſetzte, wobei häufig Spermatozoiden mit der Trichogyne in Berührung kamen und dort längere oder kürzere Zeit haften blieben (Fig. 3 8“ u. s“). Dieſem munteren Thier- chen hatte ich es zu verdanken, wenn es mir gelang, die Vorgänge der Copulation von Spermatozoid und Trichogyne von Anfang bis zu Ende zu verfolgen. Da die ge— ſtielten Vorticellen nicht allein mit Hülfe ihres Wimperkranzes einen Waſſerwirbel, ſondern durch ihre periodiſch wiederkehren— den Contraktionen, durch ihr abwechſelndes Zurückſchnellen auf die Baſis des ſpiralig eingerollten Stieles und nachheriges Aus- ſtülpen und Zurückkehren in die frühere Lage eine ganze Reihe der mannigfaltigſten Waſſerbewegungen zu erzeugen vermögen (vergl. in Fig. 2 auch die abwärts ge— richteten Pfeile links, wo ein Glockenthier— chen ſich ſoeben auf die Baſis ſeines Stieles zurückzieht), ſo müſſen kleine paſſive Körper, die im Waſſer ſuspendirt ſind, alſo auch die bewegungsloſen Florideen-Spermato— zoiden eben durch dieſe munteren Weſen in die mannigfaltigſten Bewegungen verſetzt werden. Die Anweſenheit zahlreicher In— fuſorien verleiht den cilienloſen Spermato— zoiden eine Art ſchwärmender Bewegung, wie ſie jenen Sperma-Zellen der anderen Kryptogamen zukommen, welche mit Cilien behaftet und deshalb activ beweglich ſind. Daraus ergiebt ſich von ſelbſt mit mathematiſcher Gewißheit eine im— mens größere Wahrſcheinlichkeit für die Copulation von Spermatozoid und Trichogyne, als wenn keine Thiere vorhanden wären. Gleichzeitig wird einleuchten, daß dieſe Wahrſcheinlichkeit bei Polysiphonia subu- lata noch geſteigert wird durch die Anweſen— heit des in nächſter Nähe der Trichogyne ſtehenden und dieſe letztere überragenden Gabelhaares (gh in Fig. 3.), welches in vielen Fällen ſekundäre Waſſerwirbel hervor— rufen muß und oft den von der Vorticella veranlaßten Wirbel ſpalten wird. Häufig trifft man bei Polysiphonia subulata un- befruchtet gebliebene Carpogone (u. eg in Fig. 4), und es wird nach dem oben Mit— getheilten nicht befremden, wenn dies nament— lich an Stöcken beobachtet wurde, die weni— Dodel-Port, Infuſorien als Befruchtungs-Vermittler bei Florideen. ger ſtark von Vorticella bevölkert find. Kosmos, III. Jahrg. Heft 3. = Fig. 4. Ein reifes, ſporenentleerendes Cyſto⸗ carp Cy und zwei unbefruchtet gebliebene abortirte Carpogone u. eg. hh Hülle des Cyſtocarps; pl ſporenerzeugende Placenta. Vergrößerung 90. Auf der anderen Seite darf es nicht befremden, wenn dieſe Vorticella, die ich oft zu Hunderten auf einem und demſelben Aſte des ſtrauchig verzweigten Thallus an⸗ traf, mit Vorliebe auf dieſer Floridee Platz nimmt, da fie ſich gern mit den Sperma- tozoiden von Polysiphonia subulata füttert. Wir hätten hier alſo ein analoges Ber- hältniß vor uns, wie es diejenigen Blumen darbieten, welche von pollenſuchenden In— ſekten beſucht und beſtäubt werden. Der Conſum dieſer von Vorticellen verſchlunge— nen Spermatozoiden kann gegenüber dem großen Vortheil, den die Glockenthierchen durch die Begünſtigung der Copulations⸗ Chancen unſerer Floridee bringen, kaum in die Wagſchale fallen. Eine Vergleichung der männlichen Pflanze mit dem weiblichen Individuum von Polysiphonia subulata ſagt uns, daß auch hier, wie bei den Blüthen— pflanzen, tauſendmal mehr männliche Zellen 26 190 gebildet werden, als zur Befruchtung noth- wendig wären, ſofern jedes erzeugte Sperma— tozoid je mit einer Trichogyne zuſammen— treffen müßte. Nach vollzogener Befruchtung entwickelt ſich das Carpogon zur ſporenbildenden Frucht, die man bei den Florideen bekannt— lich Cyſtocarp genannt hat (Fig. 4). Kurz nach der Copulation des Spermatozoids mit der Trichogyne verſchwindet nämlich der ganze Haarapparat, das Gabelhaar gh ſowohl, als auch die Trichogyne t (Fig. 3). Die Wandzellen des Carpogons fangen nun an raſch zu wachſen und durch Wände ſenk— recht zur Oberfläche ſich zu theilen. Sie werden zur kapſelartigen, parenchymatiſchen Hülle (hh Fig. 4), welche frühzeitig, lange bevor die Sporen reif ſind, am Scheitel ein rundes Loch beſitzt. Mittlerweile beginnt die Centralzelle des befruchteten Carpogons eine Menge dichtſtehender, kurzer Zweige zu bilden, die als Zellreihen — nach allen Richtungen hin ausſtrahlend — die Baſis der kapſelförmigen Frucht erfüllen. Jene Centralzelle wird daher Placenta genannt. An den Enden der von ihr ausſtrahlenden verzweigten Zellreihen bilden ſich birnför— mige, dunkelroth gefärbte Sporen, ſogen. Carpoſporen, die, ſobald ſie eine gewiſſe Größe erreicht haben, ſich ablöſen, durch die Oeffnung am Scheitel der Kapſelfrucht ins Freie treten (sp Fig. 4), und alsbald als entwickelungsfähige Fortpflanzungszellen zu keimen beginnen. Die gänzliche Abweſenheit von aktiven Bewegungsorganen bei den Spermatozoiden der Florideen deutet auf einen gemeinſamen Vorfahren hin, von dem die verſchiedenen Zweige der Florideen-Ordnung die Beweg— ungsloſigkeit der Spermatozoiden ererbt haben. Gewiß ſind während der Differen— Dodel-Port, Infuſorien als Befruchtungs -Vermittler bei Florideen. cirung der Rothtang-Gewächſe manche Formen wegen ausbleibender Befruchtung in Folge der Paſſivität der männlichen Sexualzellen ausgeſtorben, während andere Formen ſich auf Standorte zurückgezogen haben, die durch lebhafte Waſſerſtrömungen den Befruchtungs— Akt trotz der Bewegungsloſigkeit der Spermato— zoiden begünſtigen. Bekanntlich finden wir die meiſten jetzt lebenden Florideen-Arten an den vom Wellenſchlag fortwährend beſpülten Küſten wärmerer Meere, während die nörd— lichen, einen großen Theil des Jahres von ſtarrer Eisrinde bedeckten Meeresküſten ſehr arm an Rothtangen ſind. Wie weit bei manchen dieſer Waſſerpflanzen die Differen— cirung der Arten im Sinne einer Anpaſſ— ung an die ſie bevölkernden kleinen Meer— thiere, welche eine Befruchtung in oben ſig— naliſirter Weiſe begünſtigen, vor ſich gegan— gen iſt, muß erſt die Zukunft, müſſen erſt zahlreichere weitere Unterſuchungen ergeben. Wenn manche Tange in ihren buſchigen oder ſtrauchartigen Thallus gewiſſen Infuſorien, Bryozoen, Spongien, Hydren, Krebſen oder Würmern und kleineren Seeſternen vorzüg— liche Schlupfwinkel oder Weideplätze dar— bieten, jo daß fie mit beſonderer Vorliebe eben von dieſen Thieren aufgeſucht und be— völkert werden, ſo iſt es doch wohl möglich, daß ſich gelegentlich eine für beide Theile gleich wohlthätige Anpaſſung, eine Correla— tion bildete, die ihre Analogien im Reich der buntgeſtaltigen Wechſelbeziehungen zwi— ſchen höheren Blüthenpflanzen und Inſekten finden würde. In dieſem Sinne meine ich hier ein bis jetzt in der Biologie der Rothtange überſehenes Moment zur Erklär— ung der morphologiſchen Differencirung untergetauchter Waſſerpflauzen zur weiteren Prüfung der Kritik unterlegen zu müſſen. Zur Bevölkerungs-Statiſtik im Thierreich. Von Dr. 9. . j dem Zoologen, der die Thiere fleißig im Freien, in der leben— 1 Fr den Natur beobachtet, jedem Bio— N logen, muß die durchſchnittliche N) Conſtanz der Individuen— zahl jeder Thierart an einem beſtimm— ten Ort — zu denken geben. Die That- ſache ſelbſt, daß jede Thierart in einem gewiſſen Diſtrikt ſtets ungefähr in derſelben Frequenz ſich erhält, wird wohl Jeder zu— geben. Als zoologiſche Sammler drücken wir es ja wohl auch ſo aus: Dieſe Art iſt hier oder dort ſelten, jene ziemlich häufig, eine dritte gemein. So ſind z. B. die Raubvögel überall ziemlich ſelten; ſo iſt es auch der Kukuk und die meiſten Inſektenfreſſer unter den Vögeln, während andererſeits die Körnerfreſſer unter den Vögeln überall in einer gewiſſen Menge auftreten, unſere Hausſperlinge z. B. in Nordamerika, wohin ſie importirt werden, aller Orten, an welche ſie gelangen, bald zu Schwärmen anwachſen. Aber auch in allen anderen Thierklaſſen giebt es Arten von ganz verſchiedener Individuenzahl, auch gewiſſe Inſekten, gewiſſe Schnecken, gewiſſe ſchon die ſogenannten Raubthiere z. B., in Weinland. Würmer, ja ſogar gewiſſe Infuſorien find und bleiben, wie wir wiſſen, innerhalb eines gewiſſen Diſtrikts ſelten, während andere conſtant einer großen Individuen— zahl ſich erfreuen. Doch auch bei den Letzteren, den individuenreichen, iſt es nicht etwa ſo zu verſtehen, daß deren Vermehr— ung eine endloſe ſein könnte; auch ihrer Zahl iſt eine Grenze geſetzt, wie wir ſpäter ſehen werden. Zur Erklärung jener conſtanten Indi⸗ viduenzahl denkt man wohl zunächſt an die verſchiedenſten feindlichen Agentien, lebendige und andere, die ins Spiel kommen können und bei der einen Art mehr, bei der anderen weniger der weiteren Zahlen— vermehrung der Individuen im Wege ſtehen, und es iſt ja zweifellos, daß, abgeſehen von den gewaltſamen Eingriffen des Men— ſchen, der manche Arten ganz ausrottet, ziemlich bedeutendem Grade zahlenmoderirend auf viele Thierarten einwirken. Bei näherer Betrachtung ſcheint uns jedoch dieſes Agens, das zunächſt in die Augen ſpringt, ver— hältnißmäßig nur wenig zu bedeuten P 192 Weinland, Zur Bevölkerungs-Statiſtik im Thierreich. | gegenüber einem anderen. Seltenheit und Artgenoſſen neidiſch und fie abtreibend, laſſen Häufigkeit einer Art und ſchließlich auch die anderen Vögel faſt ganz unbehelligt, die Zahlgrenze der individuenreichſten Spe- ähnlich die Meiſen, doch etwas verträglicher, cies, kommt vielmehr principiell, wie uns die Goldammern und die Sperlinge aber dünkt, weſentlich auf die herbe Magen- ehrlich ſich nährend, „lebend und freund— frage hinaus. lich leben laſſend.“ Es iſt, wie wir uns mehr und mehr Woher dieſe verſchiedenen Charaktere überzeugt, wohl faſt ausſchließlich die Er- dieſer paar Vögelarten? Wenn die Amſeln nährungsconcurrenz, der Nahrungs- durch Hunger ſo gierig und neidiſch gewor— überfluß und der Nahrungsmangel, die den, warum, ſo dürfen wir wohl fragen, die Individuenzahl einer beſtimmten verjagen fie nicht zunächſt die Fremden, Thierart in einem gewiſſen Diſtrikt re- die viel Schwächeren, die Ammern und guliren. Wenn im Uebrigen die Ver- Sperlinge, von dem gemeinſamen Futterplatz? hältniſſe zu der Exiſtenz einer Art paſſen, In der Antwort darauf liegt, ſo ſcheint d. h. wenn das entſprechende Klima vor- uns, die ganze Löſung des Problems. Ein herrſcht, wenn die Oberfläche des Bodens Thier, das durchſchnittlich, durchs ganze das günſtige Medium abgiebt, wenn die Jahr, überall leicht und reichlich ſein Futter vielen Schutzverhältniſſe, die die verſchiede- findet, wird ſich auch an der winterlichen nen Arten zu eigenem Unterſchlupf oder Futterkrippe friedlich vertragen in dem ruhi— zur Bergung ihrer Brut bedürfen, vor- gen, durch die Gewohnheit inſtinktiv ge— handen ſind, ſo richtet ſich die Fre- wordenen Bewußtſein, immer noch reichlich quenz der Art nur noch darnach, zum Leben zu finden. Eine andere Art wie viele Individuen in dem Di- dagegen, die Jahr aus, Jahr ein auf eine ſtrikte ihre Nahrung finden. ſchwerer zu ſuchende und zu erwerbende, d. i. Dieſer Satz ſcheint auf den erſten Blick auf eine ſeltenere Nahrung angewieſen iſt, aus der Erfahrung ſchwer zu beweiſen und mag wohl leicht neidiſch und eiferſüchtig doch ſind wir überzeugt, ein Geſetz der werden in der Concurrenz mit anderen, organiſchen Natur überhaupt damit aus- eiferſüchtig natürlich zunächſt auf die, die geſprochen zu haben, das überall in der ihm feine ſpecifiſche Nahrung vor dem Munde lebenden Welt, am deutlichſten aber im wegſchnappen, d. h. ſeine Anverwandten. Thierreich, den Menſchen nicht ausgenom— Darum allein ſind durchſchnittlich z. B. men, ſeine Geltung hat. die Körnerfreſſer unter den Vögeln und Die Charakterverſchiedenheit einiger faſt noch mehr die Allesfreſſer, wie die Wintervögel, die wir täglich vor unſerem Raben und Staare, geſellig, wie eben des— Fenſter ſehen, hat uns zunächſt dieſen Ge- halb auch, wegen durchgängig wohl gedeckten danken nahe gelegt. Amſeln, Meiſen, Gold- Tiſches, — individuenreicher; die Inſekten— ammern, Sperlinge erhalten da ihr täglich freſſer aber ungeſellig und — verhältniß— Brot und alle greifen eifrig zu. Wie ver- mäßig ſelten, d. h. die Arten individuenarm. ſchieden iſt aber das ſociale Gebahren dieſer Und iſt es nicht ähnlich unter den verſchiedenen Vögel, ihr geſelliges Verhalten Menſchenvölkern? Iſt nicht auch das acker— zu den Kommenſalen! Die Amſeln gierig, bautreibende Volk durchſchnittlich gutmüthig, gegen ihres Gleichen und gegen ihre eigenen verträglich und geſellig im befriedigenden 1 Weinland, Zur Bevölkerungs-Statiſtik im Thierreich. Bewußtſein, ſtets noch ſeiner Nothdurft ge— nügen zu können, das Jägervolk aber leicht mißtrauiſch und eiferſüchtig auf ſein Revier, jenes zahlreich, dieſes volksarm? Doch zurück zum Thiere! In einem breiten Hag, nahe meinem Wohnhaus in H. W. auf der Alb, findet ſich alljährlich im Frühjahr ein Rothkehl— chen ein mit ſeinem Weibchen. Wohl ſieht man deren Anfangs oft einige Tage lang mehrere, aber ſie kämpfen bitter mit ein— ander und bald iſt ein Paar Meiſter ge— worden und hat die anderen ganz vertrieben. Im Sommer verſchwindet dieſes ſodann eine Zeit lang im nahen Wald, um dort zu brüten. Im Nachſommer erſcheinen ſie wieder, jetzt mit Familie, oft bis zu ſechs, im Herbſt ziehen fie zuſammen ab. Im Frühjahr kommen natürlich dieſelben, ſo— weit ſie nicht von den Italienern verzehrt worden oder ſonſt verunglückt ſind, wieder zurück, oft vier und mehr, aber nur ein Pärchen bleibt, wie ſchon oben erwähnt, es vertreibt die anderen und in der ganzen Nachbarſchaft bleibt es allein, es kommt nie zu einer Vermehrung der Zahl. Woher die ſpecifiſche Eiferſucht dieſes ſonſt ſo liebenswürdigen Vogels? Das Rothkehlchen lebt im Sommer ausſchließlich von Inſekten und deren ſcheint es ja genug zu geben. Doch iſt es, wie man am ge— fangenen beobachten kann, ſehr wähleriſch und ich kann mir ſeinen wirklich biſſigen Neid gegen ſeines Gleichen und die ſtrenge Wachſamkeit über ſeinen Bezirk nur daraus erklären, daß die Inſekten, die es gern und vorzugsweiſe jagt, doch nicht in ſolcher Zahl vorhanden ſind, um innerhalb eines ge— wiſſen Diſtriktes mehr als einem Pärchen zu genügen. (Aber es wäre uns gar nicht undenk— bar, daß derſelbe Vogel, dieſelbe Art, im Süden oder vielleicht auch an einem anderen —— Orte unſerer Zone jenen unduldſamen Charakter nicht zeigte, wenn nämlich dort die ihm gefällige Inſektennahrung vielleicht in reicherem Maße vorhanden wäre.) Eine ähnliche Erfahrung machten wir hier in der Stadt an den Amſeln. Mein Wohnhaus ſteht mitten in der Stadt neben zwei großen Gärten. In dieſen, bald in dem einen, bald in dem anderen, brütet alljährlich ein Amſelpaar. Schon wieder— holt haben ſie ſich bis zum Herbſte bis zu ſechſen vermehrt und eben jetzt, im Januar, kommen täglich vier, zwei Männchen und zwei Weibchen, auf unſere Altane. Im Sommer aber iſt ſtets nur ein Paar vor— handen, das ſtärkſte wohl, die andern alle ſind fort, verſchwunden, von ihren Eltern, ihren Geſchwiſtern oder ihren Kindern ver— trieben, denn alle gehören wohl, wer weiß aus wie langer Zeit ſchon, derſelben Fami— lie an. In einem Albdorfe nahe H. W. habe ich die Neſter der Hausſchwalbe (Hirundo urbica) ſeit Jahren beobachtet. Sie bezieht allfährlich im Frühjahr dieſelben Neſter wieder, beſſert ſie aus und ſelten wird ein neues gebaut. Ihre Zahl bleibt ſo ſtationär wie die der menſchlichen — Neſterwohn— ungen, an die ſie ſie ankleben. Kämpfe um ihre Behauſungen zwiſchen Schwalben und Schwalben mögen hin und wieder vor— kommen, ich habe ſie aber nie geſehen. Bei dieſen äußerſt intelligenten Thieren ſcheint die Sache in der Regel friedlich ab— gemacht zu werden. Aber auch hier weichen die etwaigen Ueberzähligen und die Zahl bleibt ſich durchſchnittlich gleich, vermuthlich weil die Luftregion über einem gewiſſen Diſtrikt wohl nur eine gewiſſe Anzahl von Fluginſekten enthält, die zur Nahrung ſich eignen. Bei H. W., einem einſamſtehenden Hof— 194 gut, gab es früher gar keine Schwalben. Da zog die Rauchſchwalbe (Hirundo rustica) im Jahre 1862 ein und zwar, wie es ſcheint, nach einer Berathung in einer Volksverſammlung. In jenem Früh— jahr erſchienen plötzlich Rauchſchwalben in einem ganzen Schwarm auf den Hofge— bäuden, flogen in Scheunen und Ställe hinein, unterhielten und beriethen ſich dann wieder auf dem Blitzableiter, offenbar in großer Aufregung. Gegen Abend ver— ſchwanden ſie. Das dauerte drei Tage nach einander, am vierten Tage kam nur ein Paar und dieſes blieb. Sie vermehrten ſich und brachten es ſchon nach zwei Jahren zu vier Neſtern auf dem Hof. Bei dieſen iſt es geblieben, ja öfters blieben ein oder zwei Neſter leer. die Zahl, die über dem rings von Wald umgebenen Gute Nahrung findet? (Ueber hohen Wald fliegen bekanntlich die Schwalben nicht gern.) Anders die Staare. Auch ſie ſind Inſektenfreſſer, aber, wie man ſich leicht an Gefangenen überzeugen kann, ſehr wenig wähleriſch. Dabei fliegen ſie auf große Ent— fernungen, Stunden weit, wenn es ſein muß, täglich auf Nahrung aus, wodurch ſie ihr Revier außerordentlich vergrößern. Auch ſie fehlten früher auf dem Gut, aber es gab deren in einem nahen Albdorf. Im Jahre 1862 hing ich ein Käſtchen aus, es war ſofort genommen. Jetzt hat man dort die Zahl der Neſter ſozuſagen in ſeiner Wahl. Jedes irgendwie gut ſituirte Käſt chen wird ſofort beſetzt. Warum find die Kukuke in Deutſch— land aller Orten ſelten und ſo eiferſüchtig gegen einander, jeder auf ſein Revier? Nach meinem Dafürhalten wohl nur, weil ſie in ihrer Nahrung wähleriſch ſind, weil die Inſekten, die ihnen munden, beſonders Iſt dies durchſchnittlich Weinland, Zur Bevölkerungs-Statiſtik im Thierreich. die behaarten Raupen, durchſchnittlich auch nicht ſehr individuenreich auftreten. In den Tropen, wo faſt Jahr aus Jahr ein ſich Ueberfluß von Inſekten aller Art findet, ſcheint das anders zu fein. In Halti wenig— ſtens iſt eine Kukuksart in den fetten Thal— niederungen einer der gemeinſten Vögel. Man ſieht ihn in jeder Hecke. Es ließen ſich, wenn man das Auge darauf richtet, noch viele Beiſpiele der Art finden. Auch unſere Jäger ſprechen ja von einem überſetzten oder mit Wild übervölkerten Revier, wie die Schäfer von einer über— ſetzten Weide, was auf denſelben Grund— ſatz hinauskommt. So hat auch die An— zahl des zahmen Hausgeflügels, die man mit Nutzen auf einem Hof, die Zahl der Enten, Gänſe oder Schwäne, die man in einem gewiſſen Waſſer halten kann, ſeine beſtimmten Grenzen. Je genauer man in die noch wenig unterſuchten Nahrungsver— hältniſſe jeder Art eindringt (die, was zu beachten, oft bei zoologiſch nahe verwand— ten Species ſehr verſchieden ſein können), um ſo mehr wird ſich unſer obiger Satz bewähren, daß die Individuenzahl der Art in erſter Linie immer nur von der Nahrungsconcurrenz ab— hängt, nicht, wie man gemeiniglich an— nimmt, von aggreſſiven feindlichen Agentien. Und auch bei dem Menſchen iſt es ja nicht anders. Das Jägervolk, wie wir ſchon oben berührt, bleibt volkarm im Ver⸗ hältniß zu dem großen Diſtrikte, den es benöthigt. Die Art iſt, zoologiſch geſprochen, immer ſelten, individuenarm. Das Ackerbauvolk kann auf verhältniß— mäßig kleiner Erdoberfläche, je nach Klima, Culturhöhe und Bodenqualität außerordent— lich ſich vermehren. Doch ſind auch hier immer Grenzen geſteckt, die ohne Schaden nicht überſchritten werden können. Eine — a 2 Weinland, Zur Bevölkerungs-Statiſtik im Thierreich. einzige Culturpflanze kann hier den größten Einfluß ausüben. Die Kartoffel z. B. hat die Bevölkerung von Europa ver- doppelt oder verdreifacht. Hätte aber die Kartoffelkrankheit bis zur Vernichtung dieſer Culturpflanze geführt, ſo hätte die Bevölker— ähnliche Zahl wieder zurückgehen müſſen, durch Epidemien oder Kriege oder ſociale Umwälzungen, deren Urſachen man dann gemeiniglich in ganz anderen Agentien ſucht, die aber in der That nur Veranlaſſung, nicht Urſache waren. Die natürlichſte Aushülfe bei ſolcher Uebervölkerung wäre die Aus— wanderung in Maſſe, wie ſie ja auch bei den Thieren, z. B. bei den Lemmingen, bei den Heuſchrecken, bei den Bienen (regelmäßig wiederkehrend), auch bei Spinnen plötzlich mit inſtinktivem Drang ſich vollzieht. Auf einem gewiſſen Theil der Oberfläche unſeres Planeten kann eben unter gegebenen Culturbe— dingungen nur eine gewiſſe Menſchen— zahl leben. Aber die Induſtrie! wird man mir einwerfen. Ja wohl die Induſtrie! Auch ſie kann die Boden- und Nährfläche nicht vergrößern. So lange wir freilich ihre Produkte exportiren und Nährſtoffe dafür einführen können, kann ſich die Volkszahl ſteigern, aber das iſt nur eine künſtliche Steigerung, die ſich rächen muß, ſobald die Ausfuhr der Induſtrieprodukte nachläßt und dies iſt, wie es ſcheint, für Europa bereits eingetreten, weil eben jetzt zu viele Nationen auf dieſem Weltmarkte der Induſtrie con— curriren. Jetzt ſind die Nationen ſo zu ſagen auf ihren Boden und ſeine Nährfläche zurück— geworfen. Die Waaren, mit denen fie bis— her die fremden Nährmittel bezahlte, finden im Auslande keine Abnehmer mehr, die 195 künſtliche Uebervölkerung tritt jetzt offen an den Tag. Daher die ſociale Krankheit unſerer Zeit, die man mit dem Socäaliſtengeſetz allein nicht heilen wird. Könnte man jedem Socialdemokraten ein Stückchen Boden zu eigen geben, auf dem ung ohne ein anderes Surrogat um eine er ſich und ſeine Familie nähren könnte, ſo wäre jeder dieſer Bedauernswerthen bald von ſeinem Wahne curirt. Das iſt aber leider z. B. innerhalb Deutſchland's unmöglich. Nur eine großartige, wohlwollend vom Staate ſelbſt geleitete, nöthigenfalls ſogar bezahlte Auswanderung könnte uns helfen. Aber damit nicht der Schwarm, den wir ausſtoßen, für den deutſchen Namen und das Vaterland gar verloren gehe, wie es bisher durchgehend der Fall geweſen, ſollten wir Colonien haben oder wenigſtens in irgend einem für unſere Raſſe paſſenden Lande brauchbaren Boden in großen Com— plexen ankaufen und ganz mit Deutſchen beſiedeln. Es giebt ja noch Land genug auf unſerem Planeten, wo fleißige Menſchen ein ſicheres und glückliches Leben führen können. Doch wir fürchten, wir predigen tauben Ohren. Je mehr Volk, je beſſer; je ſtärker die alljährliche Vermehrung, um ſo höher ſoll ja, nach der Lehre der modernen Volks— wirthſchaft, der Volkswohlſtand ſtehen und wie ſtolz waren wir immer auf unſere raſche Vermehrung den Franzoſen gegenüber. Das iſt auch ſo ein Satz, wie deren ſo manche in den letzten Jahrzehnten zur Geltung ge— kommen, nicht beſſer als jene von Handels— und Gewerbe- und Wucher-Freiheit. Wir meinen anders. So lange wir keine Colonien oder etwas dem Aehnliches haben, iſt weitere Vermehrung unſeres Volks kein Glück, es iſt nur eine Vermehrung von — Unzufriedenen. .. m 3 2 Der Achlangeumythus.“) Von Joli. H. . 4 Lg) ine in ganz natürlicher Schluß a folge ausgeführte Betrachtung 8 > R hat uns in dem Artikel: (Bd. II, a S. 141 flgde.) „Ein Wendepunkt 5 in der Urgeſchichte des Menſchen— geſchlechts“ zu der Annahme geführt, daß Schiffer, die an den Geſtaden von auf tiefer Stufe ſtehenden Wilden landen, von dieſen als Meerungeheuer eines unbekannten, gewaltigen und ſchrecklichen Charakters betrachtet werden und wurden, z. B. die ariſchen Vanen von den *) Bor etwa zwei Jahren kam der Verf. des vorliegenden Aufſatzes nach einem lang— jährigen Aufenthalte in Nordamerika zu mir, ſeinem Schulkameraden, und erſuchte mich um Nachweis von Quellen über den Schlangen— kult, namentlich deſſen, was in den letzten Jahren bei uns etwa darüber geſchrieben ſei. Er habe über deſſen Urſprung durchaus von den landläufigen abweichende Ideen gewonnen, die er ausführlich darzuſtellen beabſichtige. Er hielt mit allen Angaben darüber vollſtändig zurück, da er der Sache erſt genauer nach— zugehen beabſichtigte, und ich ſagte ihm nun meinerſeits, daß ich über gewiſſe Formen des Schlangenmythus ebenfalls zu neuen Anſichten gekommen ſei, nämlich, daß nach genauer Er— Hecker. in der Cultur tief ſtehenden urmongoliſchen Zwergvölkern. Man vergegenwärtige ſich das Bild einer Heerde dieſer Urwilden, wie fie am Strande einer ruhigen Bucht, Mu- ſcheln ſuchend und verzehrend, eines Tages das noch nie geſehene Schauſpiel eines in Schlangenwindungen über die Oberfläche des Waſſers gleitenden langen Körpers ge— wahrten, aus dem ein kürzerer Oberkörper mit langem blondem Haar, röthlichem Bart, oder, wenn in eine Stierhaut eingehüllt, wägung die Schlangen-, Drachen- und Fiſch— götter in manchen Fällen, namentlich wo ſie, wie ſo häufig, als mythiſche Ahnen einer Dynaſtie aufträten, mir als die Symboliſirungen und Vergötterungen fern übers Waſſer hergekom— mener Culturbringer erſcheinen wollten. Zu dieſer Anſicht war ich namentlich durch das Studium der Dagon-, Dannes-, Kadmos- und Erechtheus-Sagen, ſowie gewiſſer altweltlicher Begräbniß-Ceremonien, welche eine jenſeits des Waſſers liegende Urheimath (Paradies) vorausſetzen, gekommen. Kaum hatte ich dieſe Anſicht angedeutet, als mein Freund mit einem heftigen Goddam! aufſprang und mir, weniger erfreut als überraſcht, zurief, dies eben ſei ſeine Meinung von der Sache. 1 Hörnern als Kopfputz in die Höhe | Becker, Der Schlangenmythus. wie war ragte. Ihr erſter Impuls, dem fie, alle Urwilden, jedenfalls der, ſofort Folge gaben, dort angekommen, verſuchten ſie ſogleich mit einem Fuchteln der Arme, Beine und des ganzen Körpers, im Vergleich mit welchen die Geſtikulationen unſerer Freunde im Weſten der Ardennen als eiskalte Ruhe erſcheinen würden, ihren Genoſſen das neue und ſchreckliche Meerwunder begreiflich zu machen. In der Sprache der Heerde, wenn man die paar einſilbigen Wurzelworte und Interjektionen, die bei jeder- Horde des Ge— bietes verſchiedenen Sinn hatten, überhaupt davon und zur größeren Heerde ihrer Genoſſen zu laufen. Schreiend 197 ſchenantlitz herausgeſehen habe. Daß dieſes Haupt einem menſchlichen Körper zugehörte, den das Ungeheuer eben verſchlungen hatte, war vielleicht der am leichteſten ſich dar- bietende Schluß, der die Begriffsverwir— rung der Wilden in paniſchen Schrecken ausarten ließ. Man beſchloß, und verkroch ſich ſogleich in den nächſten Höhlen, um den Abzug und das Wiederverſchwinden des Ungethüms abzuwarten. Trat dies wirk— lich ein, ſuchte der ariſche Kahn einen anderen Theil der Küſte auf, ſo erhielt ſich wohl die Erinnerung, von Zeit zu Zeit eine Sprache nennen darf, beſchrieben ſie ihre Eindrücke. Alle ſtimmten darin über— ein, daß das, was ſie geſehen, ein Waſſer— ungeheuer geweſen; und um das auszudrücken, ſchrie der Eine: „Fiſch!“, Muth gehabt und das Unthier genauer an— geſehen hatte, ſuchte zu erklären, daß dieſe Fiſchſchlange ſtiergehörnt ſei, und der Vierte, der Geſcheidteſte und Kaltblütigſte von Allen, wollte ſogar wiſſen, daß aus dem Rachen des ſtierköpfigen Schlangenfiſches ein Men— Durch ein eingehendes Studium der ameri— kaniſchen Mythologie war er zu derſelben Meinung gekommen, wie ich durch die Be— trachtung der altweltlichen. durchaus nicht die Anſicht meines Freundes von dem allgemeinen Urſprunge aller Schlangenmythen aus dem Meere theile, und namentlich ſeinen etymologiſchen Nachweiſen keine zwingende Ueberzeugungskraft beilege, jo glaube ich doch, daß das hier mitgetheilte Zuſammentreffen der Ideen zweier gar nicht ein Anderer „Schlange!“; der Dritte, der vielleicht mehr durch eine ähnliche Erſcheinung aufgefriſcht, und wurde zum Geiſte des Waſſers und des Fluſſes.) Da die mongoliſchen Horden, obwohl ſie jetzt ſeit fünf Jahr— tauſenden der Berührung mit der ariſchen Raſſe ausgeſetzt geweſen und ſogar bedeu- Obwohl ich nun hierüber in Verbindung geſtandener Grübler dem Leſer wenigſtens Muth machen müſſe, der Deduktion des Verfaſſers aufmerkſam zu folgen. dankenganges wäre es freilich erwünſcht, Zum beſſern Verſtändniß ſeines Ge- tende Blutsvermiſchung mit ihr gehabt haben, noch heute großentheils auf dem Religionsſtandpunkte ſtehen, in dem jede Bewegung der Natur einem individuellen „Geiſte“ zugeſchrieben wird, der natürlich nach Belieben ſichtbar werden könne, er— ſcheint uns dieſe Annahme für jene Zeit als die einzig zuläſſige. Vielleicht aber war die Küſtenſtelle reich wenn der Leſer den im Eingange eitirten Artikel (Kosmos II, S. 141 u. 241) noch⸗ mals vergleichen wollte. K. ) „Wun da“ heißt in den oſtauſtrali⸗ ſchen Idiomen ein Geiſt. Als die Weißen dort erſchienen, ging der Name auf ſie über, und in allen Theilen von Oſtauſtralien heißt „Wunda“ deshalb heute noch bei den Ein- gebornen zugleich „Geiſt“ und „weißer Mann.“ (S. Journ. Anthrop. Inst. of Gr. Brit. 1873. p. 269). — „Einige der Negerſtämme der Guinea-Küſte betrachteten die Weißen als Götter des Meeres; der Maſt galt ihnen als die Gottheit, die das Schiff vorantrieb.“ (Lubbock, On the origin of civilization, p. 202.) Kosmos, III. Jahrg. Heft 3. 27 198 an Naturprodukten, wohl geeignet zur Jagd und Fiſcherei; der ariſche Kahn, durch ein Paar Genoſſen verſtärkt, blieb, und die ſchwarzen Zwerge flüchteten ins Innere. Recht häufig mochte ſich mit der Zeit ein ganz gutes Einvernehmen zwiſchen beiden Parteien herſtellen, der böſe Dämon der erſten Begegnung nahm die Heerde der Zwerge, die ohnehin gewöhnt war, dem Stärkſten als Führer ſklaviſch zu folgen, unter ſeinen Schutz; der ariſche Kahn— fahrer wurde der Häuptling der Urtartaren— horde, der Wane oder Wang der Ur- chineſen, beide als dem Waſſer entſtiegene, fiſchſchwänzige Schlangen- und Drachen— gottheiten mit Ehrfurcht betrachtet. Aus dem ſchreckhaften Ungeheuer wurde in dem Grade, in dem die Heerde unter der in— telligenten Leitung ihres neuen Gebieters zur Horde ſich entwickelte, der Agatho— daemon des Schlangenmythus, der mit der Zeit ſeiner Horde ſogar den Ackerbau und viele andere von ihnen nie geahnten Künſte und Geſchicklichkeiten, die ſehr guten Ertrag lieferten, beibrachte, und zur Gottheit der Heilkunſt, der Weisheit überhaupt wurde. So verbreitete ſich die Mär von den dem Waſſer entſteigenden Schlangengöttern und Meeresungeheuern von allen Küſten, an welche die ariſchen Kähne gelangten, ins Innere der Länder, ſo weit eben die ge— flohenen Heerden der Urwilden verkehrten. So wurden auch die Nachkommen der erſten ariſchen Wanen die Khane und Könige der Küſtenländer. Aber ihnen nach drängten auf immer beſſer gebauten Schlangenkähnen, die ſich zu großen Ruderbooten und durch die Erfindung der Segel zu fliegenden Drachen (drake [engl.] = Enterich) ent wickelten, die urgermaniſchen Wikinge, und verlangten ihren Theil an der neuerworbe— nen Herrſchaft. So groß waren die Kähne Becker, Der Schlangenmythus. geworden, daß Reihen von Ruderern an beiden Seiten ſaßen, und die Mär von hundertköpfigen, hundertarmigen Schlangen und Drachen verbreitete ſich über die Länder. Natürlich widerſtanden die erſt im Beſitze und Genuſſe der Herrſchaft befindlichen Söhne der urſprünglichen ſchlangengöttlichen Geſchlechter dem Andrängen der Folgenden, und gewaltige Kämpfe begannen zwiſchen den „Landrieſen“ und den immerwährend wieder aus dem Meere auftauchenden Un— geheuern, die mit wechſelnden Erfolgen ge— führt, doch auf die Länge ſo regelmäßig mit dem Siege der friſcheren Einwander— ung endeten, als die ältere durch den Luxus der Herrſchaft verweichlicht und weniger tüchtig geworden war. In den größeren Kähnen aber wurden auch, vereinzelt zwar und inmitten der Käm— pen auf den Ruderbänken der ſchrecklichen Schlangenhäupter, ariſche Frauen aus der Heimath mitgeführt, und die Sage be— reicherte ſich mit der Erzählung von den „Schlangenmüttern“, die bald den Feinden ſchrecklich, — wie Echidna, Me— duſa und die Gorgonen, die Skylla nnd die anderen ſchlangenhaarigen und ſchlangen— umgebenen Göttinnen, bald — nach erfolg— tem Siege und im Genuſſe der Herrſchaft — wohlthätig, wie Pallas Athene, die Göttin der Weisheit, und ſämmtliche „Muttergöttinnen“ der Urculturvölker er— ſcheinen. Der wimmelnde Sagenſchatz aller Völker enthält eine ſolche Ueberfülle von Beſtätig— ungen unſerer hier vorgelegten Löſung des mythiſchen Räthſels, daß der geringe Raum, den wir für dieſe Ausführungen beanſpruchen können, uns in Bezug auf die Auswahl der geeignetſten Beiſpiele in Verlegenheit ſetzt. Ein Umſtand muß von vornherein erwähnt werden, weil er allen Bearbeitern Becker, Der Schlangenmythus. des Schlangenmythus gleicherweiſe aufgefallen iſt. Es iſt dies die vertraute Beziehung der mythiſchen Schlange zum Waſſer, die, weil ſich Waſſer in der Urzeit ſicherlich ebenſo wenig mit Feuer vertragen hat, als heutzutage, mit der verſuchten Ausleg- ung der Schlange als eines Symbols des Feuers unverträglich ift.*) „Alle Drachenſagen ſpielen an Gewäſſer und Sumpf, die Winkelriedſage am Bache des Roy-Loches und am Oedwilers-Sumpfe, die Sintram- und Bertramsſage an der Ginſenau der Burgdorfer Emme, der Beatus— drache am Beatenfall des Thunerſees; der Pilatusdrache am Pilatusſee und im Kriens- bache. In der älteren Sage verräth ſich daſſelbe Verhältniß. Der Beowuffsdrache wohnt an der Meeresklippe, der Siegfrieds— drache an der hohlen Wand am Rhein; König Frotto erſchlägt den Drachen, der von der Tränke auf die Inſel zurückkommt, und ſein Sohn Friedler tödtet den anderen, der eben aus dem Gewäſſer auftaucht.“ So ſagt Rochholtz, der Bearbeiter Schweizer Sagen, und Schwarz, der ihn citirt und an vielen anderen beigebrach— ten Beiſpielen die Richtigkeit dieſer Beobachtung erhärtet, iſt zu dem verzweifelten Auskunfts— mittel gezwungen, ſeine Theorie, daß die Schlange (Drachen ſind, wie allgemein zu— ) An merk. der Red. Eine ſolche Deklamation wird keinen beſonnenen Mythen— forſcher abhalten, die egyptiſchen, indiſchen, perſiſchen, griechiſchen und römiſchen Feuer— gottheiten, die zum Theil, wie der egyptiſche Phtah, als menſchenköpfige Schlange, zum Theil, wie die in den Vulkanen wohnenden Titanen, als ſchlangenfüßig dargeſtellt wur— den, auch ferner als Symbole der züngeln- den, ziſchenden und beißenden Feuerſchlange zu betrachten. Man denke nur an die mittel- alterlichen Sagen vom „feurigen Drachen“ und dem im Feuer lebenden Salamander. Im Gegenſatz zu den aus dem Meere geſtie— 199 gegeben wird, nur größere, gewöhnlich ge— flügelt gedachte Schlangen) ein Symbol des Blitzes ſei, damit zu rechtfertigen, daß die ſo erwähnten Bäche, Ströme, Quellen, Sümpfe, Seen und Meere nur bildlich an Stelle der den Blitz begleitenden Regen- wolken verſtanden werden müßten. Bei den Griechen, ſo giebt er zu, wohnt „Hydra“ (die „Waſſerſchlange“) im lernäiſchen Sumpfe an den Quellen der Amymone; Apollo tödtete den Python an einer Quelle; Kad— mos tödtete den Drachen, der die Aresquelle bei Theben hütete und ihm das Waſſer wehrte. Faſt alle alten Flußgötter griechi— ſcher Mythe ſind zugleich Schlangengötter, die von den Herakliden bekämpft, getödtet und vertrieben werden. Die Inſel Rhodus, ein uralter Sitz der „Seeräuber“, wird durch den Beinamen ophiusa als Schlangen— inſel bezeichnet. Müller, dem wie manchem anderen Mythologen die Schlange fo ziemlich Alles bedeutet, „bald die Zeit, bald die Welt, bald das Waſſer, oder die jährliche Ver— jüngung in Keimen und Blüthen, den ewigen Kreislauf der Natur, die Herrſchaft, die Weiſſagung, die Erde, die Heilkraft“, auch das „böſe Princip“, das „Prinzip der Fruchtbarkeit“, und die „wüſte, unfruchtbare Natur“ u. ſ. w.“), räumt in feinen „Ameri— genen Schlangengottheiten gab es nicht nur ſchlangengeſtaltete Feuergötter, ſondern auch zahlreiche chthoniſche Schlangengottheiten, wie denn jeder beliebige Genius loci ganz naturgemäß in Geſtalt der aus der Erde hervorkommenden Schlange gedacht wurde. Daſſelbe Symbol kann eben höchſt verſchiedene Ideenkreiſe verſinnlichen und die Meer— ſchlange iſt nur ein bisher meiſt überſehener Einzelfall. K. *) Lubbockſagt in Orig. of Civ. p. 175: „Müller in ſeiner wiſſenſchaftlichen Mytho— logie hat verſucht, die Erklärung aufzuſtellen, daß die Schlange nicht nur die unreine, un— 200 kaniſchen Urreligionen“ ein, daß in Indien Schlangen Genien von Seen ſeien. Das Pendſhab hat den Namen „Schlangenlän— der“ (Nagakhanda) und uralten Schlangen— kultus. Auch der Waſſergott Wiſchnu erhielt das Schlangenattribut. Bei den Chineſen konnte ebenfalls das Waſſer mit der Schlange bezeichnet werden, bei den Peruanern heißt die Rieſenſchlange „die Mutter des Waſſers.“ Er citirt Tanner (S. 201): „Die Schlange bewacht nach den Vorſtellungen der Rothhäute das Waſſer.“ Nach den Sagen der Algonquins bekämpft Manabosho in mannigfacher Geſtalt die Schlangen in den großen Seen und treibt ſie nach langen Kämpfen gegen Süden; nach den Ueberlieferungen der Irokeſen geht die feindliche Schlange aus den Seen und Flüſſen hervor, ſetzt ſich auf den Wegen zwiſchen ihren Dörfern feſt und ſtört deren Verbindung. Die civiliſirten Völker Mexicos und Central-Amerikas aber bezeichnen das Vorfahrenpaar ihrer göttlichen Culturhelden, daſſelbe Paar, das ſich über das Waſſer der großen Fluth rettete, als „Waſſer— ſchlange“ oder, ohne irgend welchen Unter- ſchied, als „Schwertfiſche“ oder „ZFiſch— ſchlange“. Aber nicht nur die der Nahuas, ſondern alle Culturhelden Amerikas, die ſchlangengöttlich ſind, entſteigen dem Waſſer. In Peru, wo der Culturheld Con oder Viracocha, der Schaumgeborne, dem Meer entſteigt, werden in ſeinen Tempeln Schlangen verehrt. Bei den Meer- und Flußanwoh— fruchtbare Natur, ſondern auch Jugend und Geſundheit ſymboliſch darſtelle. Ich glaube nicht, daß dies die wahre Erklärung iſt. Es mag ſein, daß der Schlangengott zuerſt als ein böſes Weſen auftrat, und daß man ihm ſchmeichelte, wie es grauſamen Herrſchern gegenüber immer geſchieht. Dieſe Schmeichelei, Anfangs blos von der Furcht erzeugt, wurde im Laufe der Zeit ein Glaubensartikel.“ . Becker, Der Schlan genmythus. nern waren die Fiſche heilig, beſonders bei den Chingas der Walfiſch, dann auch der Haifiſch. Die Collas betrachteten die Fiſche eines Fluſſes als ihre Brüder, weil ihre Vor— fahren ehedem aus demſelben Fluſſe entſtanden wären. Auch Manco Capac ſtieg aus dem Waſſer. Im Tempel Pachacamacs, des höchſten Gottes der peruaniſchen Küſtenbevölkerung, der von den Inkaperuanern (des Binnen— landes) auch als Gott der Rieſen angeſehen wurde, fanden ſich Fiſchgötter. Beim Haupt— feſte der Muyscas figurirten maskirte Prie— ſter, welche in der Proceſſion Krokodile und Schlangen vorftellten. Unter den Sculp⸗ turen des Palaſtes zu Uxmal findet ſich eine Figur, halb Schlange, halb Fiſch, mit Federn geſchmückt, welche ein Menſchenhaupt im geöffneten Rachen hält. (Alles nach | „Müller, Urreligion“.) Der Schlangengott konnte (nach Schoolcraft) Menſchengeſtalt annehmen. Der große Geiſt wird oft als Schlange, aber auch als Krokodil verehrt, mitunter verwandelt er ſich auch in eine Fiſchotter. Die Wahrheit iſt, daß, obwohl die Bezeichnung „Schlange“ als Attribut der Götter und Culturhelden am häufigſten vorkommt, dieſelbe in den amerikaniſchen Ueberlieferungen, ohne daß irgend welcher bemerkbare Unterſchied gemacht wird, in irgend ein anderes amphibiſches oder ſonſt im Waſſer lebendes Thier übergeht. Ganz derſelbe unmerkliche Uebergang von Schlange zum Fiſch, der die Sagen und Symbolik der neuen Welt charakteriſirt, findet ſich auch in der alten, und es prägt ſich derſelbe beſonders deutlich bei allen den zu— ſammengeſetzten Figuren aus, die bald | ſchlangen-, bald fiſchſchwänzig oder -füßig in Bild und Tradition dargeſtellt werden. Was bei allen dieſen zuſammengeſetzten Figuren bemerkenswerth iſt, iſt der Um— ſtand, daß der Schlangen- oder Fiſchtheil immer dem unteren Theil des Leibes, — und dieſen faſt ohne Ausnahme in liegender Stellung nur das äußerſte Ende des Schlangen- oder, unnatürlich genug, auch des Fiſchſchwanzes faſt immer in die Höhe gebogen, — und zwar ſo darſtellt, Becker, Der Schlangenmythus. | | 201 fach gewundenen, dem darauf figenden Ober— körper als breite Unterlage dienenden Schwanz, der mit Fiſchſchuppen bekleidet iſt, deſſen Windungen aber, über das Biegungsver— mögen irgend eines Fiſches weit hinaus— | | | | als ob dieſe Unterlage den aufrechtſtehenden menſchlichen oder ſäugethierartigen, auch vogel— köpfigen Oberleib trüge. Solche zuſammen— geſetzte Figuren ſind übrigens in Amerika verhältniß mäßig ſeltener als in der alten Welt. | Doch beſchreibt Boſſu ein Idol der Arkanſas, das er Vistipuli-Quickapuk nennt,“ deſſen oberer Theil Menſchengeſtalt hatte. Auf dem Kopfe ſaß ein Hirſchgeweih, auf dem Rücken ein Paar Flügel, während der Unterleib dem Alligator ähnlich gebildet war.“ Votan, der Culturheld von Chiapan, wurde als Schlange mit Vogelkopf dargeſtellt, und nach einer peruaniſchen Sage ſoll der Gott der Reichthümer, der gewöhnlich als eine Schlange mit einem goldenen Kettchen am Schwanze dargeſtellt wurde, einmal als eine ſolche mit einem Hirſchkopfe erſchienen ſein. Uebrigens iſt ſogar Schwarz, der die Schlange als den Blitz erklärt (Urſprung der Mythologie) gezwungen einzuräumen, daß von der mythologiſchen Schlange zum mythologiſchen Fiſch ein allmählicher Ueber— gang ſtattfinde. In den Illuſtrationen von Ferguſſon's großem Werke „Tree and Serpent Worship“ aber läßt ſich dieſer Uebergang, der die Aufſtellung einer unter— ſcheidenden Grenze zwiſchen Schlange und Fiſch oder anderen amphibiſchen Waſſer— thieren gar nicht erlaubt, aufs deutlichſte erkennen. Die zu dieſem Zweck treffendſte Illuſtration (a. a. O. S. 56) iſt einem alten chineſiſchen Werke entnommen. Sie ſtellt das Götterbild eines Buddha-Tempels dar. Daſſelbe hat einen menſchlichen Leib. Seine Beine aber werden erſetzt durch einen mehr— gehend, der Schlange angehören. Dieſer Fiſchſchlangenleib trägtüber den Menſchenkopf hinaus in der ſymmetriſchen, halbkreisförmigen Anordnung, wie ſie in indiſchen Darſtell— ungen gewöhnlich ift, Steben (anſcheinend) aus den Schultern herausgewachſene Schlan— genhälſe und Köpfe. In demſelben chine— ſiſchen Werke, dem Ferguſſon dieſe Illu— ſtrationen entnahm, befinden ſich aber noch drei andere deſſelben Gottes. In der erſten erheben ſich drei, in der zweiten fünf, in der dritten (eben beſchriebenen) ſieben, in der vierten neun Schlangenhäupter über das Menſchenhaupt des Gottes hinaus. Im erſten und zweiten Bilde ſind die unteren Extremitäten gefleckt wie ein Schlangen— ſchwanz, im dritten und vierten dagegen ſchuppig wie ein Fiſchſchwanz. Daß auch ſonſt die Chineſen ihre mythiſchen Schlangen gerade wie andere Nationen mit dem Waſſer verbinden, beſtätigt auch die von Kämpfer mitgetheilte Ueberlieferung, wanach Con— fucius, der in einer Höhle geboren worden war, von zwei Schlangen bewacht wurde, als er zum erſten Male gewaſchen wurde und zu dieſem Zweck ein wunderbarer Quell in der Höhle ausbrach. Höhlen, namentlich feuchte und dunkle Höhlen, find überhaupt ein Lieblingsaufent— halt der mythiſchen Schlange. Die heilige Schlange von Lanuvium, in der Nähe Roms, ſaß in einer Höhle, die in einem dichten und dunklen Haine lag. In einem dichten und dunklen Haine wohnte auch die Aesku— lapſchlange zu Epidaurus. Auf den Fidſchi— Inſeln aber liegt Degei, einer der Haupt— götter, in Geſtalt einer Schlange in der 2 202 Höhle von Navata, eines Berges an der Küſte von Viti Levu. Dagon oder Derketo war übrigens auch ein Fiſchgott der alten Phönicier. Was bei dem eben erwähnten chineſiſchen Fiſchſchlangengotte ſchon aufgefallen ſein muß, nämlich die ungerade Zahl der Schlangenköpfe, kann als ein allgemeines Geſetz der mythiſchen Darſtellung bezeichnet werden. Es dürfte kaum möglich ſein, einen einzigen Fall anzuführen, in dem die Zahl der Köpfe einer Schlange, wenn ſie nicht etwa in runder Summe auf Hundert oder Tauſend angegeben wird, eine gerade iſt. Die Zahl der Ruderer in einem größern Kahne iſt, wie jeder praktiſche Seemann weiß, eine gleiche an jeder Seite und ein Steuer— mann, alſo immer ungerade, und auch ſymme— triſch vertheilt, gerade wie die Schlangenköpfe der in Ferguſſon's Tafeln über und hinter den Menſchenköpfen der Nagarajas (Schlangenkönige) muſchel- und kapuzenför— mig ſich ausbreitenden Schlangenſchirme ſymmetriſch vertheilt ſind. „Der Kampf des Herkules mit der lernäiſchen Hydra“, ſo ſagt Ferguſſon, „zeigt das Auf— tauchen der vielköpfigen Schlangen, die in der indiſchen Mythologie ſo häufig ſind, im Weſten. In den früheſten Darſtellungen hatte die Hydra, wie es ſcheint, nur ſieben Köpfe, aber ſpäter wurden dieſe, wie in Indien gleichfalls, ſchrankenlos vervielfältigt. Auf einem Marmorſarkophag in Florenz (im öſtlichen Corridor der Uffizi) ſind die Arbeiten des Herkules dargeſtellt, und die — „ „ „ 5 N ITEM > 1 1 1 * 4 7 Hydra erſcheint hier mit einem menſchlichen In dem Meer tiefinnen ihre Geburt. Kopfe und Oberkörper, der ſich von der Bruſt an in einen Schlangenleib verwan— delt. Aus dem Schultertheil erheben ſich ſieben Schlangen. Sie unterſcheiden ſich von den vielfachen indiſchen Beiſpielen nur dadurch, daß jede von ihnen einen beſon— Becker, Der Schlangenmythus. deren Hals und Kopf hat, während dieſe in Indien durch eine Zwiſchenhaut verbun— den ſind. Noch eine frühere Beſchreibung der Hydra findet ſich im Homer, der ſie als eine dreiköpfige Schlange als Zierrath am Schilde Agamemnon's angebracht fein läßt.“) ) Weitaus die Mehrzahl aller indiſchen Naga's ſind von der ſiebenköpfigen Schlangen— kapuze überſchattet. Auch anderwärts über— wiegt die ſiebenköpfige Schlange im Verhält— niß zu den dreiköpfigen oder neunköpfigen, die wohl auch vorkommen, oder zu den ent— ſchieden einer ſpäteren Zeit angehörenden hundert- und tauſendköpfigen Drachen. Sieben iſt bekanntlich die heilige und auch „böſe“ Zahl. Hyde Clark iſt, wie ich aus einer Kritik ſeines „Siva and Serpent- Worship“ (London, Trübner, 1877), in dem Sitzungs— berichte des Amerikaniſchen Congreſſes (1877 S. 161 flgde.) erſehe, auf die Verzweigung eines Wortthemas, Sibu, Zibu, ebenfalls auf— merkſam geworden. „In der alten Welt nimmt dieſes Wort Sibu, Zibu, Zubo die Bedeutung „Idol“ oder „Opfer“ oder „Him— mel“ oder „Teufel“ an, kommt auch als dame der Schlange vor im Dewoi: Zebe, Zewe; im Tharu in Indien Sapa; und der Sibi der Bribri iſt identiſch mit dem phrygi— ſchen Saba oder Sabazios, dem griechiſchen Seba, dem Sanskrit Siva u. ſ. w.“ Ich möchte die Vermuthung ausſprechen, daß allen dieſen Worten in erſter Linie das germaniſche „Schiff“, in zweiter Linie die Zahl „Sieben“ zu Grunde liegt. Der chal— däiſche Hymnus (der Keilinſchriften) lautet: „Sieben ſind ſie, ſieben ſind ſie; In des Meeres Tiefen ſieben ſind ſie; In des Himmels Aether ſieben ſind ſie; Während einer langen Periode der ur— geſchichtlichen Zeit muß die ariſche Auswan— derung in Kähnen (engl. Skills) vor ſich ge— gangen ſein, die ſechs Ruderer und einen Steuermann oder Schiffer faßten. Eine ſolche Schiffs mannſchaft hieß eine Civitas, Sept oder Sippe, ſlaviſch: Zupe (auch Mjere, Mir Obwohl Schlangentödter wird Herkules doch durch ſeine Verbindung mit der ſchlangen— genannt); aus der ſich in den Einwanderungs— ländern der Clan entwickelte, ſemitiſch: Sche— beth, chineſiſch: Tso und Tscheu. Der Schiffer war ihr Anführer und Richter und wurde bei der Anſiedelung der Schöffe, gothiſch: Zaopan, flavijch: Zupan, ſemitiſch: Schoffet, chineſiſch: Tscheu (Fürſt). (In Athen hieß der Clan die „Naukratie“, die „Herr— ſchaft der Schiffsſippe“.) Die Anzahl der Köpfe im Schiffe wurde, weil allgemein als feſtſtehende Zahl bekannt, unter den Ariern einem neuen Zahlwort: „Sieben“, hebräiſch: Scheba, chineſiſch: Tschi, ſiameſiſch: Schet, zu Grunde gelegt, welches das offenbar ehe— mals vorhanden geweſene, zuſammengeſetzte fünf und zwei verdrängte. Dieſes Zahlwort findet ſich ſogar in Amerika in der Hidatſa— Sprache: Sapua, während die Mythe des Popol Vuh die von den Nahuas „Chicomoz- toc“, Sieben Höhlen (Sciffe?), genannte Einwanderungsſtation der ſchlangengöttlichen Vorfahren als Tulan Zuiva bezeichnet. Bei den Dacotas dagegen, deren Sprache mit der Hidatſa anerkanntermaßen verwandt iſt, be— zeichnet Zaptan „Fünf“, auf Madagaskar Sivi, in allen verwandten malayiſchen Sprachen bis nach den Philippinen hin die wohl ver— ſtümmelten Formen Siyam, Sin: Neun. Auch die nubiſchen Formen Zeitan, Tse, Neun, mögen hierher gehören. Im Chineſiſchen tritt die Form Schip, im Siameſiſchen Sip noch einmal auf als „zehn“, wobei ich bemerke, daß Ischowu im Chineſiſchen ein Schiff (oder einen Baumſtamm, mit dem man übers Waſſer ſetzt), wie auch im Aino: tsippe = Kahn bedeutet. Im Sanskrit iſt Saptam — ſieben, Satam = G hundert (man denke an die ſieben— und hundertköpfigen Nagas der Mythe); und im abgeleiteten Pali ſcheinen beide Worte identiſch: Sata zu lauten. Ich ſchließe dar— aus, daß das Zahlwort „Sieben“ in ſeinen verſchiedenen, über die Welt zerſtreuten Formen diejenige Zahl bezeichnet, die zur Zeit, als ſich der Begriff feſtſetzte, die gebräuchliche Zahl der Köpfe einer Schiffsmannſchaft war. Deutet die griechiſche Sprache im Worte tekton (nach Curtius) darauf hin, daß die ariſche Becker, Der Schlangenmythus. | füßigen Echidna als der Stammvater der ganzen Raſſe der ſchlangenanbetenden Skythen Kunſt und Geſchicklichkeit beim Schiffszimmern angefangen habe, ſo wird dies dadurch be— wieſen, daß das Wort: sepp, tsaeppe (im Finniſchen „Schmied“) im Gebiete der urali— ſchen Sprachen als Bezeichnung eines ge— ſchickten Mannes, eines Meiſters weit ver— breitet iſt. Es dürfte nicht gewagt ſein, an das griechiſche sophos zu erinnern. In den turkiſchen Sprachen iſt ein tschibor (Schiffer) „ein gewaltiger tüchtiger Mann“, ein „Held“, und dieſe, von den Chineſen Schi-wei genannt, „übten einen entſcheidenden Einfluß auf die Geſchicke der Mongolei und Chinas aus.“ (Isweſtiya der Kaiſ. Ruſſ. Geogr. Geſellſch. Bd. VI. 2. S. 234). Auf den Karolinen herrſchten Könige, die Tschipau, auf dem Hoch— land von Bogota ſolche, die Zippa hießen, während ein anderer König ebendaſelbſt „Zak“ genannt wurde. In der Culturſprache Centralamerikas heißt Zak „weiß“ (türkiſch ak, mongoliſch tschagan, griechiſch S Fös, ariſch skan ? Curtius). Tzib oder tzibah (ich erinnere an das Finniſche) heißt „ſchreiben“, und der amerikaniſche Votan, der als Cultur— held unter den nackten Wilden dieſes Landes erſchien, ſagte zu ihnen, als ſie ihn angafften: Ich bin Votan (Bootsmann); ich bin eine Schlange (kan); vom Geſchlechte der Cham (Kämpfer, Kahnfahrer, Wanderer, Wanen), von der Raſſe der Tschivim (Schiffer). Dar— auf nahm er die Kerle beim Ohr — am Kragen konnte er ſie nicht nehmen, weil ſie von Kleidern noch keinen Begriff hatten —, civiliſirte fie, wurde ihr „Canek“ (König) und der Gott der ſpäteren Geſchlechter. Dieſe Ableitung wird durch die lautliche Harmonie zwiſchen dem „ilippu“ der aſſyri— ſchen Keilinſchriften, das „Schiff“ bedeutet, und den ſemitiſchen Zahlen Alf, Alaf, IIef, Elf, was im Hebräiſchen 1000, im Ambhara ı und Tigre aber noch eine unbeſtimmte große Zahl (10 000, auch eine Million) bezeichnet, noch wahrſcheinlicher gemacht. Der Vergleich mit dem deutſchen „Elf“ liegt auf der Hand, auch der mit dem polyneſiſchen Ribu, Libu, auf Madagaskar Arivu, was ebenfalls 1000 bedeutet. (Ueber Neun ſpäter.) 204 dargeſtellt. Hierin liegt keine Inconſequenz. Das Zeitalter, in dem er lebte, war das des Ueberganges, durch den eine alte tura— niſche, ſchlangenanbetende Raſſe mit ihrer Religion verſchwand, um in Griechenland den Ariern und ihren geiſtigeren Religions— formen Platz zu machen. Herkules, in dem ſich die Ueberlieferungen dieſes Zeitalters verkörperten, wurde ſowohl als der Zerſtörer des Alten, wie als Erzeuger deſſen, was ſich erhält, angeſehen.“ Ein paar weitere Notizen aus Ferguſ— ſon's großem Werke werden die Beziehungen der Schlange zum Waſſer in der indiſchen Mythologie über allen Zweifel erheben. Die Schlangen von Caſhmir, wo bis in ſpätere Zeiten, im Geheimen vielleicht noch heute, Schlangendienſt beſtand, flüchteten, von Garuda verfolgt, in den See Satideſa, und ſalbten dort Nila als ihren König. Durch vier Alter (ages) wird das Land ab— wechſelnd von den neuen ſchlangenfeindlichen Eindringlingen und von den Schlangen in unſtätem Beſitz behauptet. Endlich verſöhnen ſich beide Parteien durch die Vermittelung eines Brahmanen. Die neue Einwanderung nimmt die religiöſen Geſetze und Vorſchriften des Schlangenkönigs Nila an, und ſeit jener Zeit herrſchte wieder Frieden und Schlangenverehrung im Lande Caſhmir. “) Ein buddhiſtiſcher Prieſter, Bhikſhu, wurde zur Schlange, weil er den Baum Elepatra getödtet hatte und in einem ſchönen See nahe der Gegend ſchönes Wetter oder Regen haben, ſo begaben ſie ſich zu dem See in Begleitung eines Prieſters und riefen den aber findet er ſich in einer wunder— Im Cambodja war der große Tempel Drachen an.““) von Nakhon Vat dem Schlangendienſt ) Ferguſſon 252. *) Ferguſſon 49. 5 | 4 Becker, Der Schlangenmythus. geweiht. Jede Ecke jedes Daches iſt mit einer ſiebenköpfigen Schlange geſchmückt, und das Geſims mit einer fortlaufenden Reihe dieſer ſiebenköpfigen Gottheiten, die aber keinen Kamm haben, während die erſteren einen Federkamm tragen. Von dieſen ſind an dem Tempel mehrere hundert, die kammloſen zählen nach Tauſenden. Jede Baluſtrade, faſt jedes architektoniſche Glied iſt auf dieſelbe Weiſe dekorirt. (Wer die Akroterien des klaſſiſchen Tempelſtyls mit den Schlangenkapuzen der indiſchen Nagas vergleicht, dürfte über den Urſprung der erſteren kaum im Zweifel bleiben.) Die Einrichtungen des Tempels ſind für den Schlangendienſt gemacht. Die Skulpturen haben nichts mit dem Buddhis— mus gemein, ſondern ſtellen Scenen aus dem Rämäyana, und Mahäbhärata und anderen Heldengedichten des Hindus dar. Alle Tempelhöfe find als Waſſer— baſſins angelegt. Alle Einrichtungen ſind denen der Tempel von Caſhmir ähnlich, aber zehnmal großartiger. Dieſer Tempel iſt 600 Fuß im Quadrat und erhebt ſich in der Mitte um 180 Fuß. In allen Cambodja-Ueberlieferungen ſpielt die Tochter des Drachenkönigs eine Hauptrolle, und von ihr beanſprucht das königliche Geſchlecht abzuſtammen: Ein ver— bannter Prinz, Phra Thong, kam nach einer langen Seereiſe zu einer Inſel, wo ein wunderbarer Talok-Baum wuchs („Grewia Takſhaſila wohnte. Wollte ſpäter das Volk inaequalis*). Er ſteigt in deſſen Zweige, um ſich umzuſehen, aber der Baum wächſt ſo ſchnell, daß er faſt fürchtet, nicht mehr zur Erde zu gelangen. Beim Herunterſteigen baren Höhlung des Baumes, wo er mit der Tochter des Drachenkönigs zu— ſammentrifft und ſie heirathet. Der Vater ſtimmt zu, und er baut die Stadt Nakhan Becker, Der Schlangenmythus. Thom. Jener kommt häufig dorthin um ſeine geliebte Tochter zu beſuchen, aber die Leute beklagen ſich über ſeine Gegenwart, und ſeine undankbaren Kinder ſcheuchen ihn hinweg, indem ſie ein Bild des viergeſichtigen Brahmas über das Thor der Stadt ſtellen. So intereſſant die in dieſen Erzählungen angezeigten Verbindungen der Schlange zu Bäumen, in deren Höhlung ſie Jungfrauen findet, auch ſind, müſſen wir doch zuerſt auf die eine Hauptſache aufmerkſam machen, die nicht nur in Indien, ſondern auch in Amerika ſo klar zu Tage tritt, daß ſie mit aller naturphiloſophiſchen Haarſpalterei nicht hinweggeläugnet werden kann, nämlich daß die „Schlangen“ eine ſogenannte prae⸗hiſtoriſche Kaffe repräſentiren. Ferguſſon zieht aus den Ruinen und Ueber— lieferungen Cambodjas folgenden Schluß: Die einzige übrigbleibende Hypotheſe iſt die, daß dieſe (tempelbauende) Raſſe in Cambodja zur See von Indien direkt dorthin gekommen iſt. Die eigenen Tradi— tionen des Landes ſagen mit Beſtimmtheit: „Unſere Vorfahren kamen von Myang Rom oder Romaviſey, das nicht weit von Taklaſila liegt.“ *) Faſt alle Städte in Cambodja und Siam haben Sanſcrit-Namen. Das auf den Skulpturen als herrſchend darge— ſtellte Volk hat den Typus der ariſchen Inder. Die Eingebornen dagegen ſind als eine unter— worfene Raſſe dargeſtellt, die von der höheren Raſſe ſehr grauſam behandelt wird.“ Im Süden Vorderindiens, wo durch die Unterſuchungen der Neuzeit das moderne Beſtehen faſt allgemeiner Schlangenverehrung nachgewieſen iſt, beanſpruchen nach Ferguſ— ſon (65) die Rajas von Chota Nagpur „Nagabanſis“ oder von Schlangenabſtam— mung zu ſein; und haben oder hatten bis ) Baſtian, Völker des öſtlichen Aſiens, I. S. 393. Kosmos, III. Jahrg. Heft 3. 205 vor Kurzem die Lünette ihres Schlangen— vorfahren auf ihrem Siegelringe als Beweis ihrer Abſtammung eingegraben. 5 Nach der Sage der Oraon, der Ein- wohner dieſes Landes, „führten Hindus, die vom Ganges her, durch die Fruchtbarkeit des Landes angezogen, einwanderten, einen Brah— manen mit ſich, dem es durch Liſt gelang, einen am Ufer in einem tank (Waſſerbehäl⸗ ter) gefundenen und von einer Naga oder Schlange beſchützten Knaben als König an— zubringen.“ *) Auch die Rajas von Garha Mandla, von Karond, der Häuptling von Khairaghur und Andere beanſpruchen von Najas abzu— ſtammen. Der Raja von Baſtar, ein Radſchput, folgte einer Naga-Linie, die in einer Inſchrift vom Jahre 1073 Abſtam— mung von Kaſyapa beanſpruchte. Kaſyapa iſt der mythiſche Vorfahr der Sonne, der aber durch Kadru, eine ſeiner Frauen, auch der Erzeuger der Schlangenraſſe iſt. „Das ſeltſamſte Ueberbleibſel einer Schlangenver— wandtſchaft findet ſich vielleicht im Tempel von Buran Deva, in Chattisgarh, der aus ſehr alter Zeit ſtammt. Er enthält nur das Bild einer Cobra; und daneben liegen zwei Inſchriften, deren eine eine Liſte von zweiundzwanzig Königen enthält, die ihre Abſtammung auf die Verbindung eines Schlangengottes mit der Tochter eines Heiligen zurückführen, der im Süden der Narbada lebte.“ Alſo ähnlich wie Alexan— der der Große. Die Nagas waren wahrſcheinlich in den erſten Jahrhunderten der chriſtlichen Aera eine beſondere Raſſe, und es beſtehen Gründe anzunehmen, daß in und um Mittel-Indien ein mächtiges, fremdes Element ſich befand, das ſich durch feine Achtung für Schlangen götter — entweder religiöſer Natur oder auf ) Laſſen I. 443. 28 — zu Vorfahrenverehrung beruhend — als ihre Stammväter auszeichnete.“ “) Es wird bei Ferguſſon noch aus— drücklich bemerkt, daß dieſe in Südindien göttlich verehrte Schlange (Naga) als „dviga“, d. i. zweimal geboren (oder von ariſcher Abſtammung) angeſehen wird. Dieſe indiſchen Nagavances ſtammen von der älteren Einwanderung der Arier ab, die von dem neuen, ſogenannten Mond— geſchlechte, den Helden des Mahabharata-Epos nach Süden verdrängt wurden. Obwohl die Sieger den alten Schlangenkultus theil— weiſe unterdrückten, hat die Sage dennoch nicht unterlaſſen, auch ihre Abkunft mit dem Waſſer in Verbindung zu bringen. „Der Berggott Kolahala verliebte ſich in die Flußgöttin Euktimati, welche zur Stadt der Kedi herausſtrömte und hemmte aus Liebe zu ihr ihren Lauf. Vaſu ſchlug den Berg mit ſeinem Fuße und befreite die Göttin. Dieſe darüber erfreut, gab ihm ihre Kinder. Den Sohn machte er zu ſeinem Heerführer, die Tochter (Girika) nahm er ſich zur Frau. „Aus dieſer Verbindung wurden durch die Vermittlung einer durch den Fluch des Brahma in einen Fiſch verwandelten Apſaraſe Adrika, die in der Jamuna lebte, Zwillinge, eine Knabe und ein Mädchen geboren und von den Fiſchen dem Könige gebracht. Den Sohn machte er zum Könige der Matſja („Fiſche“ eines Volksſtammes), die Tochter wurde die Satjavati, die Mutter des Vjaſa.“) „Nachdem Cantanu, der Letzte der Kauraſa-Dynaſtie 36 Jahre regiert hatte, findet er in einem Walde an der Ganga einen göttergleichen Jüngling. Es iſt der von der Ganga auferzogene Sohn. Der König führt ihn nach der Stadt und macht ihn zum Juvaraga d. h. Mitregenten. Vier ) Grant bei Ferguſſon 66. Laſſen I. 768. Becker, Der Schlangenmythus. Jahre ſpäter fand er an der Jamuna die göttlich geſtaltete Tochter des Königs der Daſa, welche beſchäftigt war, nach dem Befehle ihres Vaters Leute über den Fluß zu fahren. Dieſe iſt die Satjavati, die Tochter des Königs Vaſu von Magadha und der in einen Fiſch verwandelten Apſaraſe. Dieſe hatte der Riſhi Paracara auf einer Pilger— fahrt bei ihrer Beſchäftigung gefunden und umarmet. Ihr Sohn iſt Vjaſa, der An— ordner der Veda und der Verfaſſer des Mahabharata. Für ihre Gunſt gewährte ihr der heilige Mann ſtatt des ihr ſeit ihrer Geburt anklebenden Fiſchgeruchs den lieblichſten Wohlgeruch.“ “) Von dieſer Satjavati aber ſtammen die Pandavas ab, die in der Sage als Ver— treter und Führer der neuen, vom Norden des Himalaya herabſteigenden Welle ariſcher Wanderer ſiegend und erobernd auftreten. Im Ramapana verführen fünf Apſaraſen den Büßer Mandakarmin; ſie wurden ſeine Frauen, er ſchuf einen Teich, und in dieſen ein unſichtbares Haus, wo er ſich mit ihnen ergötzte. In den ſpäteren Liedern aber werden dieſe Apſaraſen in Krokodile verwandelt.“ Prithra, die Tochter Guras, gebar als Jungfrau dem Sonnengotte den Sohn Karna, der mit den goldenen Ohrgehängen ſeines Vaters und einem unſpaltbaren Panzer zur Welt kam. Die Mutter ließ ihn durch ihre Milchſchweſter in einen Kaſten legen und im Fluſſe Agvanadı ausſetzen. Er trieb bis in die Ganga. Der kinderloſe König von Anga befand ſich zufällig mit ſeiner Frau Radha am Ufer. Sie zog den Kaſten heraus und öffnete ihn; er erkannte, daß der der jungen Sonne an Glanz gleiche Knabe von Göttern erzeugt und ihm gegeben worden ſei, worauf er ihn an Sohnes ſtatt annahm. ) Laſſen I. 776. W Zu Karna wurde König von Anga und ein Heerführer der Kuru.“ Auch anderwärts ſchwimmen die Helden, wenn ſie nicht geradezu als Schlangen oder als ſchlangen- oder fiſchſchwänzig dargeſtellt ſind, im Kaſten auf dem Waſſer. Perſeus wird in einem Kaſten den Wellen des Meeres preisgegeben. Auch der Kaſten des Oſiris ſchwimmt über das Meer, und Bacchus wird im Kaſten bei Brafiae ans Land getrieben.“) Es ſieht gerade ſo aus, als ob die Völker der Urzeit ſich ſo an das Aufſteigen der Helden aus den Tiefen des Waſſers gewöhnt hätten, daß ſie irgend einen anderen Hergang gar 'nicht mehr als natürlich anſahen. In der finniſchen Sage ruft Wainamoinen, als die Welt von einer Rieſeneiche verdunkelt wurde, die Niemand zu fällen vermochte, ſeine Mutter an, und bittet ſie, ihm aus dem ſtark bevölkerten Waſſer Jemand zu ſchicken, der dieſer Aufgabe gewachſen wäre. Es erſcheint ein Däumling, an dem Alles kupfern iſt, und dem „der Bartſchmuck über's Knie reicht“. Auf die verächtliche Frage Wainamoinen's, was er wolle, — „Sprach der kleine Mann vom Meere, Antwort gab der Held der Fluthen: Bin wohl gar ein Mann, wenn Einer, Von dem Heldenvolk im Waſſer. Komme, um den Stamm zu fällen, Um den Baum hier zu zertrümmern.“ Er geht an's Werk, und wächſt dabei zu jo rieſiger Geſtalt, daß bald der Waina— moinen neben ihm als Däumling erſcheint, der den neuen Abkömmling als Sohn der Sonne begrüßen muß. ) Anmerk. d. Red. Das Schiff des Oſiris u. Bacchus wird in anderen Mythen zu einem hohlen Erika-Baum, oder einer Holz— ſäule, die den Gott verbergen, d. h. der hohle Baum iſt eben das Urſchiff (Einbaum) und hier dürfte der Grund liegen, warum die Schlange in den Mythen beſtändig mit dem Baum in Verbindung gebracht wird. K. Becker, Der Schlangenmythus. 207 Noch heute unternehmen die Schamanen der Finnen die Reiſe in die Unterwelt in der Geſtalt des Saivo-Fiſches oder der Saivo-Schlange (zu Schiff), wenn fie Jemand bei ſchweren Krankheiten nach dem Beiſpiele ihres Gottes Wainamoinen's, der zu gleichem Zweck als Hecht nach Pohjola reiſte, vom Tode losbitten wollen. Nach eſthniſchem Aberglauben lockt immer noch der blendende Glanz der Krone des Schlangenkönigs ſämmtliche Schlangen in den Sirtſoſee öſtlich vom Peipusſee. In dieſem bilden ſie um ihren König einen Haufen von der Höhe eines Heuſchobers, aus welchem das Haupt des Königs gleich der Sonne hervorleuchtet.“) Nirgend aber iſt der Feuerdienſt zu ſolcher ausſchließlichen Herrſchaft gelangt, als im alten Eran, und wenn eine allge— meine Tendenz der menſchlichen Natur vor— läge, die Schlange als Symbol des Feuers aufzufaſſen, ſo ſollte man erwarten, daß dieſelbe unter den Feueranbetern Perſiens zum Ausbruch gelangen mußte. Das Gegentheil iſt der Fall. Es giebt keinen Schlangendienſt im alten Eran.“ **) „Die ariſchen Einwanderer ſtellten die reine Feuer— religion her“. Nichts deſtoweniger wird in der eraniſchen Mythe gerade wie in ger— maniſchen Sagen, von Drachenkämpfen be— richtet. So erzählt das Königsbuch, daß Sam, der Held von Segeſtan, einſt ein Feuer auf der Schlange Cruvara machte, um ſein Mittagseſſen zu kochen. Der Schlange war dieſes Element offenbar antipathiſch, denn „es wurde ihr zu heiß, ſie bewegte ſich und lief ins Waſſer, jo daß Sam er— ſchreckt zurückſprang.“ Später bekämpfte und tödtete er ſie.“ ““) ) Kreutzwald der Eſthen abergl. Gebr. *) Ferguſſon 42. *) Anmerk. d. Red. Nachdem der in 208 Gar zu leicht würden wir ung den Beweis unſerer Hypotheſe machen, wollten wir die allgemein bekannte Thatſache, daß die nor— diſchen Seekönige ihre Schiffe regelmäßig Drachen und Schlangen nannten, zu dieſem Nichts deſtoweniger Zwecke heranziehen. können wir nicht umhin, die Frage aufzu— werfen, warum eigentlich dieſe ſo ſprechende Thatſache von den Erklärern des Mythus ſo ganz ohne Beachtung gelaſſen worden iſt? Geht dieſe Nichtachtung nur aus Unkenntniß des „Warum in die Ferne ſchweifen“, oder aus Unkenntniß der unbeſtreitbaren Thatſache hervor, daß die alten Germanen und Nord— männer, ihrem ganzen phyſiſchen Habitus ſowohl, als auch dem ſocialen Charakter ihrer Inſtutionen nach, den Typus der ariſchen Raſſe am reinſten repräſentiren? Wäre es nicht möglich oder harmonirt es nicht etwa mit aller uns bekannt gewordenen Geſchichts— erfahrung, daß dasjenige Volk, das ſich ſelbſt am wenigſten gemiſcht und von fremden Einflüſſen unberührt erhalten hat, auch die Auffaſſungen und Ueberlieferungen der Urzeit getreuer erhalten konnte, als die erſt durch vielfältige Miſchung mit fremden Elementen | Indien als gute Gottheit verehrte Ahriman bei den Perſern zur böſen Gottheit geworden war, dachte man ihn, ebenſo wie ſeine Meta— morphoſe Azhis Dahaͤka, d. h. die „Schlange“ Dahaka, als einen ſchlangengeſtalteten Teufel, der das Urbild zur hebräiſchen Paradieſes— ſchlange wurde. Genau ebenſo wurden der alte geſturzte Feuergott der Inder, Azi oder Ahi, der mit ſeinen ſchlangenfüßigen Titanen den Himmel ſtürmen wollte, Prometheus und die ebenfalls ſchlangenfüßigen griechiſchen Ti— tanen, und der alte egyptiſche Feuergott als Schlange gedacht. Alle dieſe Geſtalten Ahi, Ahriman, Dahaͤka, Phtah, Prometheus, Vulkan und ſeine ſchlangenfüßigen Nachkom⸗ men, Loki, Lucifer, Mephiſto liegen, nachdem ſie ehedem eine angeblich verderbliche Herr— ſchaft entfaltet, nunmehr aus den Wolken ge— 1 Becker, Der Schlangenmythus. zuſammengeballten alten Kulturvölker, die zur Zeit, als fie die erſten Ueberlieferungen für unſeren Gebrauch aufzeichneten, ſchon lange aufgehört hatten, reine Arier zu ſein? Faſt einen komiſchen Eindruck macht es, wenn Schwarz einerſeits richtig ſagt: „Ueber— einſtimmend treten in griechiſchen und deutſchen Sagen die Drachen und Schlangen in Be— ziehung zum Waſſer, zu Schätzen und zu Jungfrauen auf, die ſie bewachen, oder denen ſie in Liebe ſich nahen, und dazu ſtimmt der noch in Deutſchland fortlebende Aberglaube von feurigen und fliegenden Drachen. . .. Er zeigt ſich nämlich als langer, feuriger Streif bei Nacht, er hat dann die Größe eines Weſeboms, einen Kopf ſo groß wie ein Melkeimer und einen langen Schwanz, mit dem er Ringe ſchlägt. Er heißt geradezu Feuerſchwanz, Langſchwanz, Glühſchwanz.“ “) — andrerſeits ſich abmüht, zu beweiſen, daß dieſer Ringe ſchlagende Feuerſchwanz auch nur der Blitz ſein könnte. Hat Schwarz nie ein in dunkler Nacht durch ein phosphoreszirendes Meer ziehendes Langboot geſehen, auf welches dieſe Beſchreibung buchſtäblich paßt? Dieſer Nichtbeachtung der nordiſchen ſtürzt, gelähmt und gefeſſelt in der feurigen Unterwelt, es ſind, wie ich in einigen Ar— tikeln über den „Titanenkampf“ und „die gött- lichen Schmiede“ unzweifelhaft nachgewieſen zu haben glaube, die von einer ſpätern Cul— turſtufe entthronten und geſtürzten Feuergötter der Urzeit. Auch hinſichtlich der Deutung des Schlangenmythus müſſen Neptunismus und Plutonismus neben einander berückſichtigt werden, wie in der Geologie wird ſich zeigen, daß beide zur Erklärung erforderlich ſind. Nichts kann verfehlter ſein, als in der Mytho— logie, dem Tummelplatze der Völkerphantaſie, Alles aus einem Prineip erklären zu wollen; ich meinestheils glaube im Schlangenkult, neben dieſen beiden wichtigſten, noch manche andere Ideen lebendig zu ſehen. K. ) Urſpr. d. Myth. 56. Becker, Der Schlangenmythus. 209 Drachenſchiffe gegenüber iſt eine Notiz Pumpelly's in ſeinem „Across America and Asia“ intereſſant, wonach er in China einem Drachenfeſte beigewohnt, das durch eine Kahnwettfahrt gefeiert wurde. Lange ſchmale, hübſch angeſtrichene Kähne nahmen an ihr Theil, die an ihrem Schnabel „Drachen— häupter“ trugen. Der bekannte Conſervatis— mus der Chineſen bürgt dafür, daß dieſe Drachenkähne bei religiöſen Feſten keine Neuerung ſind. Die uralte chineſiſche Hiero— glyphe „lung“ (Drache) wird durch ein deutlich erkennbares menſchliches Haupt dargeſtellt, und dieſe Drachen leben in Gewäſſern und Flüſſen, und namentlich Mü vertreibt fie nach der Sintfluth aus den noch nicht regulirten Gewäſſern des Tieflandes. “) Es giebt aber ſogar Notizen von der Sorte, die unſere „klaſſiſch“ gebildete Welt nun einmal gewöhnt iſt als viel werthvoller zu betrachten, wie germaniſche oder chineſiſche Sitten, nämlich aus dem klaſſiſchen Alter- Todten in das Land ihrer Geburt zur thum, die unmittelbar auf die Beziehung der mythiſchen Schlange zur Schiffahrt hinweiſen. Eine Anzahl Schriftſteller erzählt, daß die Römer im Jahre der Stadt 461 zur Rettung von einer Seuche eine feierliche Geſandtſchaft an die Wunderſchlange von Epidaurus ab— ſchickten. Dieſe ſoll dann unter dem Bilde. des Gottes, das einſt Thraſymedes verfertigt, hervorgekrochen ſein und auf der Tiberinſel, wo jetzt die Kirche San Bartolomeo ſteht, ſich im Schilfe verſteckt haben. Dort wurde der Aesculaps-Tempel, und zwar nach Livius, in Geſtalt eines Schiffes ge baut. Uebrigens war „Naos“ der gewöhn- lich Kreuzer's Symbolik: ***) Allerheiligſte) der alten Tempel, in dem die Götterbildſäulen aufgeftellt wurden. Der liche Namen für denjenigen Theil (das 5) Plath's Unterſuchungen über das alte China. ——— Ausdruck erhält ſich im „Schiff der Kirche“ bis auf den heutigen Tag. Der Urſprung dieſer techniſchen Bezeichnung der Baukunſt wird durch unſere Hypotheſe vollkommen dahin aufgeklärt, daß eben in der Urzeit Schiffe vorzugsweiſe als paſſende Wohnung der Götter, — namentlich der Schlangen— götter — angeſehen wurden, und demnach die älteſten Tempel nach dem Modell von Schiffen gebaut wurden. Dieſe Anſchauung ging aber wieder aus der noch älteren hervor, die ſich bei vielen Naturvölkern in deutlichſter Weiſe im Begräbniſſe in Kähnen, bei uns in der modificirten Form des Sargbe— gräbniſſes erhalten hat. Wir können auf dem uns beſchränkten Raume vorläufig nur andeutungsweiſe darauf hinweiſen, daß dieſe Begräbnißform, wie es auf den poly— neſiſchen Inſeln n) noch ganz deutlich zu er— kennen, ſich wiederum aus dem ſelbſt bei modernen Völkern — bei den Chineſen in der höchſten Potenz — noch feſt gehaltenen Beſtreben ſich entwickelt, die Leichen der ewigen Ruhe zu ſchicken. Inſofern die „Schlangenwanderer“ der Urzeit über See oder zu Waſſer in ihre neue Heimath ge— langt waren, wurde ihre Leiche demnach zuerſt in einem Kahne den Wellen wirklich anvertraut, dann in einem Kahne, einem Sarge, einer Steinſchiffſetzung, wie ſie Grewingk ““) an den baltiſchen Küſten nachgewieſen, endlich einem Naos oder Tempel— ſchiffe beigeſetzt und mehr oder minder als göttlich verehrt. Noch ein unzweideutiges Zeugniß aus dem klaſſiſchen Alterthume entnehme ich wört— „Nun bemerken wir noch mit Wenigem, ) Siehe Waitz. *) S. Archiv für Anthropologie 1877. n IV. 209. Erſte Aufl. 210 auf welche Weiſe Ceres die Tochter ſuchte. Auch hier tritt wieder ein Bild bedeutend hervor. Es iſt die Schlange, die wir ſchon in Peloponneſiſchen Tempeln ihr verbunden ſahen. Auch am Hauptorte zu Eleuſis war ein Drache, der nun wieder ſeine mythiſche Geſchichte bekam. Er war aus Salamis vertrieben und nun nahm Ceres zu Eleuſis ihn als ihren Diener auf. Bald ward ein Schlangenmann daraus gemacht. In jedem Fall haben wir hier eine Schlange, als Camillus, der bald als böſer Erddämon, bald als guter Genius erſcheint. Es iſt bekannt, daß nach der gewöhnlichen Vor— ſtellung Ceres auf einem mit Schlangen beſpannten Wagen ihre Tochter ſuchte. Im Homeridiſchen Hymnus auf Ceres wird blos bemerkt: „Und ſie entflog, wie ein Vogel, durch feſtes Land und Gewäſſer.“ .̃ . Als einen Beitrag will ich hier nur ein noch nicht bekanntes Fragment des Attiſchen Geſchichtsſchreibers Philochorus logiſchen Philoſophie bis niederlegen, das in dieſen Mythenkreis ge— hört. Dieſer jagt (apud Scholiast. mser. Aristid. Panat. 105): „Das Schiff, worin Triptolemos fuhr, wurde deswegen für unten beflügelt gehalten, weil es mit günſtigem Winde eilends dahin fuhr.“ Es folgt eine Erklärung über den Drachenwagen, wonach man ſich darunter ein Schiff Namens & zu denken habe; beflügelt (rrsowzo») heiße es von dem Tauwerk oder von den Segeln (va de,. Hier haben wir wieder den charakteriſtiſchen Ausdruck oro irres, den auch Apollodorus braucht, und nach den angenommenen drei Perioden dieſer Bildwerke lerſt Wagen und Schlange die Unterſuchung der unendlichen Zahl alter ohne Flügel, dann der Wagen allein be— flügelt, endlich die Schlangen beflügelt) hätten wir hier einen Beleg für die zweite NE ne alſo | im Bauche des Walfiſches aufhielt, oder Becker, Der Schlangenmythus. Vorſtellungsart. Dieſe zweite Manier herrſcht auf mehreren Vaſen, wie Visconti zu unſerer Vaſe (Tafel XIII), wo wir ſie auch beobachtet haben, ausführlicher bemerkt hat. Die dritte Art iſt auf Bildwerken nicht ſelten, auch auf Münzen, z. B. auf der Alexandrini'ſchen von Adrian, wo der Genius der Stadt auf einem Wagen mit geflügelten Schlangen fährt.“ — Wenn uns nun die keltiſche Mythe er— zählt, daß „Hu die Arche Kyd baute, die mit Korn beladen und, von Schlangen in die Höhe gehalten, durch die ſchrecklichen Waſſer der großen Fluth drang“, und wenn uns die aztekiſche Ueberlieferung erzählt, daß „Quetzalcoatl nach ſeiner Vertreibung aus Cholulla nach Coatzacoalco, dem „Schlupf— winkel der Schlangen‘, am Oſtmeere flüch— tete, und ein aus zuſammengewundenen Schlangen gebildetes Schiff beſtieg, das ihn nach Tlapallan brachte“, ſo bedürfen wir kaum noch einer Erläuterung zu einem beſſeren Verſtändniß dieſer Erzählungen, als alle in die Ferne ſchweifende mytho— jetzt geliefert. Wir begreifen auch ohne Weiteres, daß Herkules etwas Alltägliches that, wenn er die Hydra, die er bekämpfte, mit brennen— den Pfeilen von ihrem Lager aufjagte, und daß es ganz natürlich zuging, wenn Herakles in den Schlund des Drachens ſpringt, ihm die Leber aufſchlitzt, von der Gluth der Eingeweide verbrannt wird und dabei die Haare verliert. Eine eben ſo natürliche Leiſtung war die des Jonas, wenn er ſich die des Orpheus, Taras und Anderer, die auf Delphinen durchs Meer ritten. Wer mit Hülfe des von uns gegebenen Schlüſſels Drachenſagen und Schlangenmythen weiter führt, wird erſtaunen, wie leicht ſich faſt Becker, Der Schlangenmythus. alle dieſe Erzählungen als Wikingsſagen der Urzeit entpuppen. Es giebt noch ein anderes Volk, bei dem ſich die wahre Bedeutung des urzeit— lichen Mythus eben ſo klar darſtellt, als bei den Germanen. Der Grund iſt wohl der, weil beide Völker ſich fortwährend mit der Schiffahrt beſchäftigten, und weil des— halb Kähne und deren Inſaſſen in ihren Augen nicht, wie bei den waſſerſcheuen Ur— raſſen unbegreiflich, wunderbare Waſſer— ungeheuer werden konnten. Dieſes Volk ſind die Polyneſier. Auch bei ihnen beſteht Schlangencultus, wie aus dem ſchon ange— gebenen Beiſpiele von den Fidſchi-Inſeln hervorgeht, deren Bevölkerung überwiegend mit der Papua⸗Raſſe gemiſcht iſt. Aber die große und hervorragende Stellung, die der Schlangenmythus bei den Völkern dieſer Culturſtufe einnimmt, hat derſelbe auf den Inſeln der Südſee nicht. Dagegen wimmeln die Ueberlieferungen der Polyneſier geradezu von „heiligen Kähnen, auf denen die Götter“, die Vorfahren der ariſtokratiſchen „Arii“ nach der Sintfluth zunächſt nach Samoa und von dort vor 88 und mehr Generationen nach den anderen Inſelgruppen gelangt ſeien.“) Sogar bei den verkommenen Bewohnern des troſtloſen auſtraliſchen Continentes findet ſich, wie ich einer neueren Nummer des ) Waitz, Anthropologie. Polyn. **) Die Weſtauſtralier. R. Andree. Bd. XXXII Nr. 5; 1877. 211 Globus“) entnehme, der Schlangenmythus: Ein „fabelhaftes Waſſerungethüm, in den Tiefen der Gewäſſer hauſend, mit über— natürlichen Kräften begabt, das den Ein— geborenen zu überwältigen und zu ver— ſchlingen vermag, hat die Geſtalt einer ge— flügelten Schlange und wird »Waugal— genannt.“ „Waka“ aber nennen die Polyneſier den „heiligen Kahn“ der Mythe (und mit Bezug auf „Sippe“ ſchalte ich ein, daß derſelbe Ausdruck zur Bezeichnung der Clans gebraucht wird). Wakan, Wahcond, Wagon, nennen die Dacota-Irokeſen Nord— amerikas die mythiſchen Schlangen und ihre Götter, und ein von Wak bis Pok vari— irender Wortſtamm hat in Amerika, wie ich in einer Zuſchrift an den 1877er Ameri— kaniſten-Congreß nachgewieſen, in Götter— Helden- und Häuptlingsnamen die weiteſte Verbreitung. Er fällt lautlich mit Bhaga, einem vediſchen Gottesnamen, mit perſiſch baga, mit ſlaviſch bogu (Gott) zuſammen, welche Worte Fick (Wörterb. d. indogerm. Urſprache) auf die Wurzel bhag (zutheilen) zurückführt, woraus er die Urbedeutung des Göttertitels als „Brotherr“ ableitet. Die— ſelbe Wurzel findet ſich in der Form Pakba, mandſchu: phaszba) „hoch, ehrwürdig, heilig“ u. ſ. w. in den uralaltaiſchen Sprachen. „Es iſt niemals Name, ſondern bloßer Titel.“ (Schott. Abh. Berl. Ak. d. Miſſ. 1875 S. 53 und 1847 S. 419). (Schluß folgt.) Kleinere Mittheilungen und Journallchau. Die Neubildungen in der Nähe des Hyginus auf dem Monde. 7) ® In Bezug auf die Entdeckung eines „) neuen Mondkraters durch Dr. H. J. > liſche Aſtronomen in neuerer Zeit Zweifel daran ausgedrückt, daß es ſich hier Klein in Cöln?) hatten einige eng- wirklich um Neubildungen handeln könne, namentlich hatte Henry Pratt in Brigh- ton darauf hingewieſen, daß es ſich um gut ſichtbar ſei, als die aufgehende Sonne nicht über 10° hoch ſtehe, dann aber, nament⸗ lich wenn die Sonnenhöhe 22“ erreicht hat, unſichtbar werde, woraus ſich ein Ueberſehen deſſelben durch viele frühere Beobachter leicht erkläre. Herr Dr. Klein antwortet darauf in einer Zuſchrift an die „deutſche Rund— ſchau für Geographie und Statiſtik“ (Heft 7, April 1879), welche die Pratt'ſchen Bemerkungen reproducirt hatte, Folgendes: Da mehrere Behauptungen des britiſchen Beobachters auf unvollſtändiger Kenntniß der Thatſachen beruhen, und bei den Nicht— beobachtern ſowohl wie bei Allen, die nicht ſpeciell in Mondbeobachtungen erfahren find, zu ſehr irrthümlichen Anſichten führen ) Vergl. Kosmos Bd. III, S. 434. können, ſo erlaube ich mir an dieſer Stelle folgende Bemerkungen. Herr Pratt hat den Krater N über- haupt noch gar nicht geſehen, kann alſo über deſſen Augenfälligkeit im Verhältniß zu benachbarten Objekten aus der eigenen Erfahrung natürlich kein Urtheil begründen. Aber auch ſämmtliche britiſche Mondbeobachter ſind in den beiden letzten Jahren vom Wetter wenig begünſtigt worden, jo daß gute Wahr- nehmungen nur theilweiſe gelangen. Dieſe aber ſtehen in vollſtändiger Uebereinſtimmung mit ein Objekt handele, welches nur ſo lange meiner Behauptung von der Exiſtenz eines augenfälligen, kraterähnlichen Objektes. Die Frage iſt nun die: Iſt dieſes Objekt erſt in den letzten Jahren entſtanden oder war es früher bereits vorhanden und iſt nur überſehen worden? Dieſe Frage kann nur von Demjenigen beantwortet werden, der den Gegenſtand in verſchiedenen Phaſen ſeiner Sichtbarkeit ſelbſt beobachtet hat und außerdem die bis— herigen Unterſuchungen über die betreffende Mondgegend genau kennt. Die nothwendigen Erforderniſſe zu einem begründeten Urtheile habe ich mir zu verſchaffen geſucht, ehe ich die Neubildung öffentlich be— kannt machte. Urtheile, die auf gelegent— lichen Wahrnehmungen baſiren, haben bei dieſer Lage der Sache durchaus keinen Werth und find nur geeignet, die Klarheit der Sachlage zu trüben. So iſt z. B. auch die Behauptung, das Objekt ſei auf der Rutherford'ſchen Photographie vom 6. März 1865 ſichtbar, ganz und gar un— richtig. Herr Chriſtie ſagt: „Auf Ruther— ford's ſplendider Photographie des Mondes vom 6. März 1865 wird der Ort von Dr. Klein's Krater eingenommen von einem kleinen Flecken, der heller iſt als das um— gebende Mare. Dies iſt das gewöhnliche Aus— ſehen eines kleinen Kraters unter höherer Be— leuchtung ...“ Ich habe die Ruther— ford'ſche Photographie des Mondes vom 6. März 1865 genau unterſucht, bevor ich das Erſcheinen des neuen Kraters an— kündigte. Derſelbe Fleck, den der britiſche Berichterſtatter für den Krater hält, iſt nichts anderes als ein Hügelzug, der in hoher Beleuchtung lebhaft glänzt. Der Berichterſtatter bemerkt, daß die kleinen Krater unter höherer Beleuchtung gewöhnlich als helle Flecken erſcheinen. Dies iſt aber nur der Fall bei Kratern mit deutlichen Wällen, nicht bei ſolchen, die blos große, runde Vertiefungen darſtellen, ohne umgeben— den Wall. bilden die ſogenannten Kratergruben, welche Herr Neiſon ſo ſchön beſchrieben hat.“) Der Krater N iſt eine der größten dieſer Kratergruben. beginnt ungefähr einen Tag vor dem Erſten Viertel, und wenn dann die Lichtgrenze über ihn gegen Oſten fortgeſchritten iſt, erſcheint er als großer, runder, mit tief-ſchwarzem Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Dieſe letzteren Formationen Seine Sichtbarkeit Schatten erfüllter Schlund, an Deutlichkeit und Augenfälligkeit dem Krater Hyginus faſt völlig gleich. Dieſe ſchwarze Beſchattung )Neiſon, Der Mond und die Beſchaffen— heit und Geſtaltung ſeiner Oberfläche. Auto— riſirte deutſche Original-Ausgabe. Mit Atlas. Braunſchweig. 1878. erhält ſich noch einen Tag nach dem Erſten Viertel, dann zieht ſich der Schatten mit ſteigender Sonne zuſammen, der Krater zeigt im Innern eine kleinere, kreisförmige, ſchwarze Fläche, von graubraunem Halb— ſchatten umgeben. Etwa einen Tag ſpäter iſt der Kernſchatten vollſtändig verſchwunden und man ſieht nun am Orte des Kraters einen matten, grauen Fleck, der raſch völlig unſichtbar wird. Es iſt hiernach völlig verfehlt, den Krater auf einer Mondphoto— graphie ſuchen zu wollen, die zu einer Zeit aufgenommen iſt, als der Krater ſelbſt der direkten Beobachtung mit den ſchärfſten Fern- gläſern ſich entziehen mußte! Daß unbedingt eine genauere Kenntniß der Mondoberfläche erforderlich iſt, um die Discuſſion des in Rede ſtehenden Gegenſtandes zu fördern, beweiſt der Umſtand, daß die Beobachter — mit Ausnahme der beiden gründlichen NKondkenner Neiſon und Schmidt — ihre alleinige Aufmerkſamkeit dem neuen Krater zuwenden und die viel großartigere Neubildung des ungeheuren, mehrere Meilen langen Thales, das von einer ſchneckenförmig gewundenen Berggruppe gegen den Hyginus zieht, ganz ignoriren. Hätte ich die Exiſtenz dieſer gewaltigen Thalſchlucht ſelbſt nicht angezeigt, ſo müßte doch Jeder, der nur einigermaßen dieſe Mondgegenden kennt, beim erſten Blicke dorthin ſtutzig werden und ſich fragen: Warum iſt dieſes Thal bis zum Mai 1877 allen Mondbeobachtern entgangen? Dieſe Frage habe ich mir in der That vorgelegt und bin nach ſorgfältiger Prüfung des geſammten Materials zu dem beſtimmten Reſultate gekommen, dieſes Felſenthal, ebenſo wie die Krater, als Neubildung zu betrachten. Die völlftändige Begründung dieſes Schluſſes würde hier zu weit führen; ich will daher jetzt nur bemerken, daß ich Kosmos, III. Jahrg. Heft 3. 29 214 gegenwärtig in der Lage bin, den Beweis der Neubildung für das große Thal ſo vollſtändig zu führen, daß damit ein- für alle— mal die Frage entſchieden iſt. Seit einigen Monaten habe ich nämlich eine bisher noch nicht veröffentlichte Zeichnung Gruithuiſen's aufgefunden, die von dieſem am 28. November 1824 Abends 5½ Uhr angefertigt wurde und die nord— öſtliche Umgebung des Hyginus darſtellt. Dieſe Zeichnung iſt von einer ſo wunder— vollen Feinheit und Treue, daß ſie über— haupt nicht beſſer zu machen iſt. Sie enthält eine Anzahl der feinſten Gegenſtände der Mondoberfläche, aber — das große Thal fehlt! Wäre es damals vorhanden geweſen, ſo mußte es zur Zeit der Zeichnung mit ſchwarzem Schatten erfüllt erſcheinen. Gegenwärtig zeigt es ſich unter derſelben Beleuchtung in der That ſo. Wäre über— haupt noch ein Zweifel an der Entſtehung dieſes Thales in den letzten Jahren möglich, ſo würde er nun durch Auffindung von Gruithuiſen's Zeichnung?) vollkommen ge— hoben ſein, und man darf jetzt behaupten, daß dieſe Neubildung mit einem ſo hohen Grade von Gewißheit conſtatirt iſt, wie ſolcher über— haupt durch menſchliche Beobacht— ungen dieſer Art erreicht werden kann. Leider erſtreckt ſich Gruithuiſen's Zeich— Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. nung nicht ſo weit nach Weſten, um auch die Gegend zu umfaſſen, in welcher ſich | der neue Krater befindet. — Die Anmerkung des Herrn Pratt: „Ob das neue Objekt wirklich ein Krater iſt, ſcheint zweifelhaft“, iſt für den Mond— ) Sie erſcheint, in Lichtdruck reprodueirt, im 3. Hefte der „Sirius“. aſtronomiſchen Zeitſchrift | kenner etwas unverſtändlich. Ich habe das Objekt als Krater bezeichnet, nach Ana— log ie des bisherigen allgemeinen Verfahrens, ohne damit ausſprechen zu wollen, es ſei ein Vulcan wie unſere irdiſchen Feuerberge. Meine Beobachtungen haben mir dagegen — wie ich längſt veröffentlich habe — genugſam gezeigt, daß das Objekt keinen Wall hat, ſondern ein Schlund iſt, der (zum Theil) trichterförmig unter die Mond— oberfläche führt. Ob ſich in dieſem Schlunde Dämpfe zeigen, muß ich zunächſt unent— ſchieden laſſen, auf keinen Fall ſind dieſelben aber auch nur entfernt ſo dicht als die gewaltigen Nebel, welche zu Zeiten den weſtlichen Krater Meſſier umlagern und theilweiſe verhüllen. Daß der Krater N am 17. Oktober 1878, als Herr Pratt die Gegend zeichnete, unſichtbar war, iſt merkwürdig. Ebenſo räthſelhaft iſt es aber auch, daß die ſüdlich von ihm liegenden kleinen Krater, die ſchon Mädler kannte und die bei ſchräger Beleuchtung der auf— gehenden Sonne ſo überaus augenfällig find, von Herrn Pratt nicht geſehen wurden. An demſelben Abend ſahen indeß die Beob— achter auf der Sternwarte des Lord Lindſay mit einem Fernrohre von 15 engl. Zoll Oeffnung einen dieſer kleinen Krater mit vieler Mühe, auch zeigte ſich nahe am Orte des neuen Kraters ein hügelartiges Gebilde. Leider ſind die Zeichnungen, welche Lord Lindſay und Dr. Copeland über ihre damaligen Wahrnehmungen publicirt haben, äußerſt unbeſtimmt gehalten und unvoll— kommen, ſo daß ſich für vorliegenden Ge— genſtand nicht viel daraus ſchließen läßt. Wie dem aber auch immer ſein möge, Thatſache iſt, daß auf dem Monde in neuerer Zeit Veränderungen vor ſich gegangen ſind, welche an Großartigkeit die analogen Vorgänge, welche auf der Erde in geſchicht— rechne ich die Bildungen beim Hyginus, ſowie ferner die Entſtehung von zwei merkwürdigen, mit Ringen dunkler Materie umgebenen Kratern in einer grauen Mond— fläche, die den Namen Mare Nektaris führt. Fernere Verſuche über die künſtliche Darſtellung der Feldſpathe. Durch einen von der Methode Haute— feuille's!) ziemlich verſchiedenen und der natürlichen Entſtehung analogeren Proceß iſt auch den Chemikern F. Fouqué und Michel Levy kürzlich die künſtliche Her— ſtellung verſchiedener Feldſpathe gelungen. Sie ſchmolzen im Schlöſing'ſchen Ofen in einem Platintiegel bei einer von dieſem gerade noch ohne Schmelzung ertragenen Temperatur Kieſelſäure und Thonerde, kohlenſaures Natron, Kali und Kalk, um die ſämmtlichen Beſtandtheile der Feldſpathe in höherer Temperatur mit einander in Berührung zu bringen. Man erhält einen gleichmäßigen Fluß, der beim plötzlichen Er— kalten ein iſotropes Glas ergeben würde; ſtatt deſſen ſchnell auf einen Bunſen'ſchen Gebläſebrenner gebracht und 48 Stunden hindurch auf einer dem Schmelzpunkt ziem- lich naheſtehenden Temperatur erhalten, ſieht man ihn hierbei allmählich pilzartig ſich auf- annehmen. Unter dem Miekroſkop erkennt man, daß die Maſſe in kryſtalliſirten Feld— ſpath übergegangen iſt, und es wurden auf dieſe Weiſe Oligoklas, Labrador und Albit in den Formen dargeſtellt, wie ſie in eruptiven Geſteinen vorkommen. Fouqué und Levy hoffen nach derſelben Methode auch bald 9 Kosmos, Bd. III. S. 82. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. licher Zeit ſtattfanden, übertreffen. Dahin blähen und ein porzellanartiges Ausſehen 215 die anderen einfacheren und zuſammenge⸗ ſetzteren Feldſpathe nachliefern zu können. (Comptes rendus, T. LXXXVII p. 700.) Merkwürdige Umwandlung von Maispflanzen bei künſtlicher Ernährung. Die Möglichkeit der Erkenntniß un— mittelbarer Urſachen, welche in einem ge— gebenen Falle die Umwandlung eines Orga— nismus hervorbringen, gehört bekanntlich zu den größten Seltenheiten; um fo mehr Auf— merkſamkeit beanſprucht ein Fall, den Prof. Wilhelm Knop in Leipzig im vergan— genen Jahre beobachtet und nebſt Abbild- ung einer ſozuſagen gänzlich neuen und künſtlich erzeugten Grasart, genau beſchrieben hat (in den Berichten der k. ſächſiſchen Akademie d. Wiſſenſch. Bd. XX. S. 39). Er hatte ſeit mehreren Jahren Maispflanzen in einer Nährſtoffflüſſigkeit erzogen, die aus einem Gemiſch von Salzen hergeſtellt wurde, welches in der tauſendfachen Gewichtsmenge Waſſer aufgelöſt war. Dieſes Salzge— miſch beſtand aus fünf Theilen Kalkſalpeter, zwei Theilen Kaliſalpeter, zwei Theilen phosphorſaurem Kali und einem Theil ſchwefelſaurer Magneſia. In dem Waſſer wurde außerdem eine geringe Menge phos- phorſaures Eiſenoxyd aufgeſchwemmt, und die jungen Pflanzen wurden in Flaſchen mit durchbohrten Korken eingeſetzt. Früher waren die Pflanzen in dieſen Nährſtoff— löſungen zu einer völlig normalen Aus⸗ bildung gelangt, aber bei neuen Verſuchen, die Prof. Knop im Juli 1878 in Ge— meinſchaft mit einem ſeiner Zuhörer, Herrn von Sandersleben, anſtellte und bei denen alles wie früher angeordnet war, nur daß ſtatt der ſchwefelſauren Magneſia dem 216 Waſſer ein gleiches Gewicht unterſchwefel— ſaurer Magneſia zugeſetzt worden war, wurde ein ganz abweichendes Reſultat er— halten. Es zeigten nämlich ſämmtliche (neun) in dieſer veränderten Flüſſigkeit ge— zogene Maispflanzen eine derartige Um— wandlung ihres geſammten Blüthenſtandes, daß eine neue Pflanze entſtanden zu ſein ſchien, die mit dem echten Mais wenig Aehnlichkeit hatte. Die Blüthenähre war an der Spitze männlich, weiter abwärts ſtand eine einzelne, kurzgeſtielte, männliche Blüthe neben einer gleichfalls einzelnen weiblichen auf demſelben Wulſte. Die Blü— then des rein männlichen oberen Theiles der Aehre waren ſitzend, einzeln und ge— paart, die drei oberſten unfruchtbar; alle übrigen enthielten bei den beiden vollkom— menſten Pflanzen je drei Staubgefäße. Beiderlei Blüthen ſtanden faſt zweizeilig an der gebogenen Spindel, die männlichen und weiblichen am untern Ende der Aehre etwas von einander entfernt. Die beiden größten Exemplare hatten fünf kräftige weibliche Blumen, aus jeder derſelben hing ein über 10 Ctm. langer, vollſtändig aus— gebildeter Griffel herab. Die Umgeſtalt— ung geſchah bei drei Pflanzen in einem Sprunge; nur traten ſonderbarer Weiſe gerade an den dürftigſten Pflanzen ſpäter aus einer der untern Blattſcheiden die Spitzen der Hüllen eines Maiskolbens her— vor. Prof. W. Knop bemerkt hierzu: „Hier haben wir endlich einmal neue Mais— pflanzen, welche eine tiefeingreifende Form— veränderung unter Wachsthumsbedingungen erlitten haben, die dem Experimentator qualitativ und quantitativ vollkommen be— kannt ſind. . . . Dazu kommt noch, daß das ganze Verfahren, bei welchem dieſe Formveränderung zu Stande kam, ſo ein— fach iſt, daß man nicht einſieht, warum bei Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Wiederholung deſſelben nicht daſſelbe Er— gebniß wieder erzielt werden ſollte, wenn es auch noch einige Anſtrengung koſten könnte, die Reihenfolge der Bedingungen feſtzuſtellen, unter denen man es beſtändig wieder erhält. . . . Es iſt ferner nicht an— zunehmen, daß mit der Maispflanze gerade die einzige Pflanzenart aus dem Syſtem herausgegriffen worden wäre, die ſolcher Umwandlungen fähig iſt. Gelänge es aber, auf dem eingeſchlagenen Wege allgemeinere und tief eingreifende Formveränderungen durch materielle Mittel hervorzubringen und dieſe durch fortgeſetzte Züchtung beſtändig zu machen, ſo würde das Endergebniß er— heblich genug ſein. . . . Die Frage, ob die Gegenwart der Unterſchwefelſäure unter den Nährſtoffen als das urſächliche Moment der Formveränderung anzuſehen iſt, kann mit abſoluter Gewißheit augenblicklich nicht beantwortet werden. Indeſſen müßte eine kaum glaubliche Vervielfältigung von Zu— fällen eingetreten ſein, wenn dieſe Mais— pflanzen ſämmtlich ohne Mitwirkung der Nährſtoffe alle dieſelbe Formveränderung erlitten hätten, und dieſes um ſo mehr, als dieſen neuen Verſuchen eine lange Reihe anderer vorausging, durch welche ſich zeigte, daß die vier Baſen ebenſo wie die vier Säuren, welche zur Ernährung der grünen Pflanze nothwendig ſind, in mannigfaltigen Verhältniſſen abgeändert werden können, ohne daß man dadurch irgend welche Form— veränderung hervorbrächte. Jedes einzelne Glied der Nährſtoffreihe hat bei den frü— heren Verſuchen quantitativ die mannigfach— ſten Abänderungen erlitten, und ſelbſt in den Fällen, wo ein ſolches völlig ausge— ſchloſſen wurde und Krankheitserſcheinungen eintraten, iſt die ſpecifiſche Form der Pflanze ſtets unangetaſtet geblieben. Ebenſo ver— hielt es ſich in allen den Fällen, wo ich | Kleinere Mittheilungen und Journa die vier Baſen (Kali, Kalk, Magneſia und Eiſenoxyd) und die vier Säuren (Phos— phor-, Schwefel-, Kohlen- und Salpeter— ſäure) durch verwandte Subſtanzen ganz oder theilweiſe erſetzt hatte. . . . Es iſt denkbar, daß die Unterſchwefelſäure direkt umändernd auf die Bildung und Wandlung der Eiweißkörper in der Pflanze einwirkt. Vielleicht wirkt ſie aber nur mittelbar, in— dem ſie einen Einfluß auf die Aufnahme der übrigen Nährſtoffe ausübt.“ Von Luft lebende Thiere. Die meiſten Thiere unterſcheiden ſich bekanntlich von den grünen Pflanzen da— durch, daß ſie ſich nicht wie dieſe von der Luft und den Mineralſtoffen ernähren kön— nen und des Lichtes als einer nothwendigen Lebensbedingung nicht bedürfen, vielmehr Jahre lang im Finſtern exiſtiren können. Aber den grünen Pflanzen, die des Lichtes als der erſten Lebensbedingung bedürfen, entſprechend, ſcheint es auch grüne Thiere zu geben, die von demſelben Pigment, dem Chlorophyll, erfüllt, eine pflanzenartige Ernährung beſitzen. Da nun das Chloro— phyll der Pflanzen nur unter dem Ein— fluſſe des direkten oder zerſtreuten Sonnen— lichtes die Ernährung der Pflanze bewirkt, indem es die in Luft oder Waſſer enthal— tene Kohlenſäure zerſetzt und den Kohlenſtoff unter Ausſcheidung des Sauerſtoffes bindet, ſo lag die Frage nahe, ob vielleicht auch bei jenen grünen, chlorophyllreichen Thieren ein auch ſonſt ähnlicher Lebensproceß ftatt- finde, und dieſe intereſſante Frage iſt in der That durch kürzlich von P. Geddes im Laboratorium von Roskoff an der bre— tagniſchen Küſte angeſtellte Verſuche mit Ja beantwortet worden. In der Sitzung der en 217 | | Pariſer Akademie vom 30. Dechr. 1878 wurde darüber das Nachfolgende berichtet:“) An der Küſte von Roskoff ſind am Strande grüne Planarien ſehr häufig, und ihre Neigung das Licht aufzuſuchen, augenſchein— lich. Wenn das Wetter nicht gar zu trübe iſt, ſieht man dieſe Plattwürmer auf dem weißen Sande, ohne Schutz von Felſen oder Algen, im ſeichten Waſſer dem Lichte ſich exponiren. In einem kleinen Aquarium ſuchten ſie ebenfalls ſtets die Lichtſeite auf, und wenn die Sonne ſie beſchien, ſah man von ihrem Körper eine Gasentwickelung ausgehen, die derjenigen am Laube einer grünen Alge durchaus nichts nachgab. Um das Gas zu unterſuchen, wurden die Thiere unter eine mit Waſſer gefüllte Glasglocke gebracht, und hatten am Abend ſo viel Gas entwickelt, um ein kleines Probirglas damit zu füllen. Ein glimmendes Zündhölzchen entzündete ſich darin zur lebhaften Weiß— gluth; es war alſo vorwiegend Sauerſtoff— gas, und zwar 43 — 52 PCt., wie eine genauere Analyſe ergab. Das Verhalten war alſo demjenigen grüner Pflanzen ſehr ähnlich. Ja, es will ſogar ſcheinen, als ob dieſe Thiere vorzugsweiſe auf dieſe Ernähr— ung angewieſen ſeien, jedenfalls iſt die Ein— wirkung des Lichtes auf ihren Lebensproceß ſehr wichtig, denn ſie konnten derſelben nicht lange entbehren. Nachdem ſie den Trans— port von Roskoff nach Paris glücklich über— ſtanden hatten, ſtarben ſie innerhalb zwei bis vier Tagen ſämmtlich, wenn man ſie im Dunkeln hielt, während ſie im zerſtreuten Tageslicht fortfuhren, die Kohlenſäure zu zerlegen und mindeſtens zwei Wochen am Leben blieben. Mit Alkohol ließ ſich eine prachtvoll grüne Chlorophyll-Löſung aus— ziehen, und der entfärbte Reſt der Plana— rien gab durch Kochen mit Waſſer eine ) Comptes rendus T. LXXXVII. p. 1093. Flüſſigkeit, die ſich mit Jodwaſſer dunkel— blau färbte, alſo beträchtliche Mengen ge— wöhnlicher Pflanzenſtärke enthielt. Es ſind das wieder Beobachtungen, welche die Kluft zwiſchen pflanzlicher und thieriſcher Lebens— weiſe überbrücken und daran erinnern, daß auf den unterſten Stufen zwiſchen beiden Reichen kein Unterſchied geweſen zu ſein braucht, daß ſie möglicher Weiſe aus einer und derſelben Wurzel entſproſſen fein können. Gab es ſchon während der Steinkohlenzeit Schmetterlinge? In drei Aprilnummern der engliſchen Zeitſchrift Nature (p. 501, 554 und 582) iſt die Frage behandelt worden, ob es ſchon in der Steinkohlenzeit Schmetterlinge und bunte Blumen gegeben haben möchte. Man hatte bisher angenommen, daß die älteſten Spuren von Schmetterlingen im unteren Oolith vorkämen, und da ſich Blumen und honigſaugende Inſekten wahrſcheinlich in Wechſelwirkung mit einander entwickelt haben, ſo iſt die Frage nach allen Seiten hin wichtig. Nun hatte man ſchon vor längerer Zeit in den belgiſchen Steinkohlenſchichten, einen Inſekten-Flügel gefunden, den man anfangs als einen Hinterflügel einer Ortho— ptera betrachtete, die nach ihrem Entdecker (M. de Borre) Pachytylopsis borinen— sis, genannt wurde. Bei genauerer Unter— ſuchung glaubte der Letztere den Flügel aber einem Schmetterlinge zuſchreiben zu dürfen, und taufte denſelben daher Breyeria bori— nensis, einer Anſicht, der A. R. Wallace auf Grund einer der Originalabhandlung (Annales de la Société Entomologique de Belgique XVIII. Pl. V.) beigefügten Photographie beipflichten zu müſſen glaubte. Der engliſche Entomologe R. Me. Lachlan Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. unterſuchte das betreffende Foſſil 1877 zu Brüſſel ſelbſt, und fand, daß die erſtere Benennung der Wahrheit näher kam, und daß der betreffende Flügel wegen ſeiner dichten Queraderung zu der älteſten In— ſektenklaſſe (Pseudo - Neuroptera) und der Familie der Ephemeriden geſtellt werden müſſe. Darauf antwortet nun A. R. Wal— lace in einer neuen Zuſchrift: „Ich kann Mr. Me. Lachlan's Beziehung der inter— eſſanten Breyeria borinensis zu den Ephe— meriden nicht acceptiren, obwohl er das Foſſil ſelbſt unterſucht hat und keinen Zweifel darüber behielt. Die Photographie, welche ich beſitze, iſt ſo ſchön und ſcharf, daß ſie die geringſten Details wiedergiebt, und eine genaue Unterſuchung und Ver— gleichung derſelben mit Naturobjekten und Zeichnungen leitet mich zu dem Schluſſe, daß der allgemeine Charakter der Flügel— aderung ſtreng ſchmetterlingsartig und zwar vom Spinner-Typus iſt, die Coſtal-, Sub- coſtal- und Median-Nerven mit deren Ver— zweigungen und Gabelungen beſitzt, die genau arrangirt ſind, wie in dieſer Familie, und nur abweichen durch die viel größere Länge der Flügel und durch die vermehrte Zahl der Subcoſtal-Nerven-Zweige — ſieben anſtatt vier. Bei einigen Chalkoſi— iden ſind oft ſechs Seitenzweige dieſes Nerven vorhanden, aber in Folge des viel kürzeren Spitzentheils des Flügels zuſammengedrängt und mitunter anaſtomoſirend. Bei dieſer Familie finden wir ebenfalls öfter einen falſchen Mittelnerven, wie er an dem Foſſil deutlich ſichtbar iſt. Daher muß ich, bis ich auf eine Inſektengruppe aufmerkſam ge— macht werde, mit der es näher übereinſtimmt, glauben, es ſei ein Ur-Schmetterling, obwohl nach Haeckel und Skudder Schmetter— linge in der Steinkohlen-Zeit nicht exiſtirt haben ſollen. Nach einer genauen Ver— Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. gleichung der Photographie mit Exemplaren und Zeichnungen von Ephemeriden, kann ich nicht die geringſte Aehnlichkeit mit der Familie wahrnehmen, mit welcher Mr. Me. Lachlan es ſo vertrauensvoll verbindet, während die dichte Queraderung, auf welche er hinweiſt, mir gänzlich von einer Runzel— ung der Membran herzurühren ſcheint, und ſicherlich keine nahe Aehnlichkeit mit der ſtarken Netzaderung der Ephemeriden dar— bietet, auch einzig am Grunde des Flügels überall ſichtbar iſt. Die allgemeine Form des Flügels und die Anordnung der Ner— ven ſind indeſſen ſo verſchieden, daß ſie entſcheidend gegen eine ſolche Auffaſſung ſind.“ Dennoch dürfte Mr. Wallace hier im Irrthume fein, und wenn er die Ar- beit des Herrn Fritz Müller!) über die Aehnlichkeit des Flügelgeäders der Schmetter— linge mit dem der Frühlingsfliegen, die den Netzflüglern ſchon näher ſtehen, geleſen hätte, würde er ſich wohl auch weniger ent— ſchieden ausgedrückt haben. Das Hautſkelet der Ganoiden Lepidosteus und Polypterus. Im Verlaufe einer größeren Arbeit über das Hautſkelet der Fiſche unterſuchte Prof. Osk. Hertwig jüngſt das Hautſkelet der Ganoiden (Gegenbaur, morphol. Jahr— buch V. I, 1879) und kam dabei zu einigen allgemeinen Ergebniſſen, die wir im Nachfolgenden kennen lernen wollen. Die erſte beachtenswerthe Darſtellung vom Hautffelet der genannten lebenden Ganoi— den-Gattungen gab Prof. L. Agaſſiz in ſeinen grundlegenden Arbeiten über die foſſilen Fiſche, wobei er nachwies, daß dieſe Schuppen, ebenſo wie die Belegknochen 9 Kosmos Bd. IV, S. 388. 219 des Schädels, auf ihrer freien Oberfläche mit einer Schmelzſchicht überzogen ſeien. Den feineren Bau hat ſpäter beſonders Reiſſuer erforſcht, und zugleich die in— zwiſchen von Leydig und Anderen erhobenen Zweifel an der Schmelznatur dieſes Ueber— zuges beſeitigt. Vor Allem intereſſirt uns hierbei die Frage, in welchem genetiſchen Ver— hältniß dieſes Hautſkelet zu demjenigen der Selachier und der anderen Fiſche ſtehen möchte. Prof. Hertwig ſagt hierüber: Als die phylogenetiſch älteſten Haut- verknöcherungen ſind ohne Zweifel die kleinen Zähnchen zu betrachten . . . die in weiteſter Verbreitung bei Lepidosteus nachgewieſen werden können und zwar in der nackten Haut an der Unterſeite des Kopfes, in einzelnen Be— zirken des Schuppenpanzers, auf den Floſſen— plättchen und endlich auf den Belegplatten des Kopfes und des Schultergürtels. Da— gegen finden fie ſich bei Polypterus bichir nur in einem ſehr beſchränkten Bezirke: auf Knochenplättchen an der Baſis und an der hinteren Fläche der Bauchfloſſen, ſowie auf den kleineren Belegſtücken des Schulter— gürtels. In der Verbreitung der Zähnchen zeigt uns daher das Hautſkelet bei Lepi— dosteus weit primitivere Zuſtände als bei Polypterus, bei welchem ſich die Haut— zähnchen faſt vollſtändig rückgebildet haben. Die Bedeutung dieſer Funde beruht nun darin, daß wir durch fie Anknüpfungspunkte an das Hautſkelet der Selachier gewonnen haben. Denn wie ich früher nachgewieſen habe, ſind die Placoidſchuppen der Selachier und die Hautzähnchen, welche hier und da bei Knochenfiſchen zur Beobachtung gelangen, einander homolog, gleichzeitig repräſentiren ſie uns auch die Grundform, von welcher ſich alle übrigen Theile des Hautſkeletes ableiten laſſen. . . . Für das Integument der beiden Ganoiden wird ein Zuſtand — —— er 220 vorauszuſetzen fein, wo alle Schuppenfloſſen— plättchen und Belegknochen ſchmelzfrei, aber mit Zähnchen bedeckt geweſen ſind, wo ſie mithin die Beſchaffenheit uns darboten, durch welche ſich der Hautpanzer von Hypo- stoma noch heute auszeichnet. . . . Es leitet der Verfaſſer nun im Allgemeinen aus ſeinen Beobachtungen vier Entwickelungs— ſtufen ab: 1) Urſprünglich war die geſammte Haut— oberfläche der beiden Ganoiden mit kleinen Hautzähnchen, den phylogenetiſch älteſten Integuments-Verknöcherungen, bedeckt, ſo daß bei ihnen gleichfalls ein Zuſtand des Integuments beſtand, wie er noch jetzt bei den Selachiern erhalten iſt. 2) Von dieſem Ausgangspunkte aus ſind, durch Zuſammenwachſen von Zahn— gruppen, zahntragende Schuppen, Floſſen— plättchen und Belegknochen des Schädels und Schultergürtels entſtanden, wie ſie in ähn— licher Weiſe bei vielen Panzerwelſen vor— kommen. 3) Darauf iſt auf das Knochengewebe an allen den Stellen, wo die Verknöcherung bis unter die Epidermis vorgedrungen iſt, Schmelz (wie nach Analogie der Zahnent— wickelung geſchloſſen werden kann, wahr— ſcheinlich von der unterſten Epidermisſchicht) ausgeſchieden worden. 4) Endlich hat ſich auf den emaillirten Schuppen, Floſſenplättchen und Belegknochen der Zahnbeſatz entweder vollſtändig oder theilweiſe zurückgebildet. Bei Lepidosteus osseus finden ſich im Integument neben einander Haut-Oſſifikatio— nen vor, die auf der einen oder andern der vier Entwickelungsſtufen ſtehen. Es wäre ſehr intereſſant, wenn dieſe Schlüſſe entwickelungs— geſchichtlich bei Lepidosteus, Polypterus und Panzerwelſen von ſolchen Forſchern con— trolirt würden, denen das Material zu Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. —— Gebote ſteht. Es darf z. B. bei Lepi- dosteus erwartet werden, daß feine Jugend— formen über den ganzen Körper reich be— zahnt ſein dürften. Die Lage des Gartens Eden, d. h. die Frage nach der Oertlichkeit, welche die Urheber der bibliſchen Sage vom Para— dieſe im Auge gehabt haben könnten, iſt ſeit altersher der Gegenſtand eines lebhaften Streites geweſen. Im Alterthume verlegte man ſie meiſt in die Gegend von Damas— kus, ſpäter kam Chaldäa, nachher Indien, Ceylon, ſchließlich das Plateau von Pamir in Betracht. In neuerer Zeit gewinnt die Annahme, welche der Engländer Hopkin— ſon bereits 1593 in ſeiner Deseriptio Paradisi vertreten hat, daß nämlich unter den vier Flüſſen des Paradieſes (Piſon, Gihon, Hiddekel und Phrat) Euphrat, Tig— ris und zwei Kanäle derſelben zu verſtehen ſeien, bedeutend an Wahrſcheinlichkeit. Auch in neuerer Zeit legte man (3. B. der Orientaliſt Wetzſtein) das Hauptgewicht bei dem Nachweis auf dieſe Flußnamen, und dieſe ſcheinen in der That auf die rechte Spur geleitet zu haben. Nachdem der zu früh verſtorbene G. Smith nachgewieſen hatte, daß die bibliſchen Sintfluth-und Thurm— bau-Mythen aus Babylon ſtammen, wenig— ſtens in den alten aſſyriſchen Schriften in einer viel urſprünglicheren Faſſung als in der Bibel vorliegen, konnte man denn auch die Sage vom Garten Eden als eine ver— muthlich ebendaher ſtammende anſehen. In der That fand Sir Henry Rawlinſon in den Keilſchrift-Ueberbleibſeln das Para— dies unter dem Namen eines „Gartens des Gottes Dunu“ erwähnt. Profeſſor Fr. Delitzſch hat nun im vergangenen Jahre Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 22]: in London aſſyriſche Topographien aufge: funden, unter denen ſich auch ein Verzeichniß Namen Piſan und Guchon aufgeführt find. Offenbar ſind dies Grundformen der beiden außer Euphrat und Tigris benannten Pa- radiesflüſſe. Merkwürdiger Weiſe iſt dieſes urſprüng⸗ liche Paradies jetzt die ungeſundeſte Gegend von der Welt, der eigentliche Peſtherd Aſiens geworden. Dieſes Land wird in ſüdlicher Richtung mitten von der Pilger— ſtraße der Schiiten durchſchnitten, welche mehrmals im Jahre den weiten Weg vom iraniſchen Hochlande bis zu den Paſſions— Kosmos, III. Jahrg. Heft 3. ſtätten jenſeits des Euphrats, Kerbela und Nedſchef, zurücklegen, meiſt in Begleitung der Kanäle befand, von denen zwei mit den der ſogenannten Todten-Caravanen, welche die irdiſchen Reſte wohlhabender und be— ſonders frommer Perſer nach der Ruhe— ſtätte der Nationalpatrone Ali und Huſſein befördern. Die Anhäufung der Leichen an dieſen Orten und ihre nachläſſige Beſtatt— ung werden für eine Haupturſache der Peſt gehalten; im Uebrigen ſcheint aber dieſe Krankheit ſchon im alten Aſſyrien ge— wüthet zu haben, denn ihre Dämonen— Verzeichniſſe führen einen ſpeciellen Peſt— Dämon auf. 30 Titeratur und Kritik. Die Kraft. Eine real-moniſtiſche Welt— anſchauung. Von J. G. Vogt. Erſtes Buch: Die Contraktionsenergie, die letzt— urſächliche, einheitliche, mechaniſche Wirk— ungsform des Weltſubſtrates. Leipzig, Verlag von Haupt und Tiſchler. 1878. VIII und 658 S. >» ie ausgeſprochen moniſtiſchen Ten— denzen der naturphiloſophiſchen Bes mus, wie aus den beiden genannten Grund— ſtrebungen der Neuzeit ſind von ſo tiefgreifendem Einfluſſe auf unſer heutiges Denken, daß ſich ihm ſelbſt der ſchroffſte Empiriſt, obwohl er gewöhnlich taub iſt gegen alle und jegliche philoſo— phiſchen Argumente, nicht zu entwinden vermag. Ohne hier auf derartige philo— ſophiſche Begründungen einzugehen, können wir dieſen ſo zu ſagen inſtinktiven Drang nach einer einheitlichen Weltauffaſſung in der einfachſten, zugleich klarſten Weiſe, auf Grund des im Menſchen unaufhörlich regen Cauſalitätsbedürfniſſes, dahin erklären, daß durch die Reduktion unſerer Fragen nach den letzten Urſachen auf die möglichſt geringſte Zahl dieſes Cauſalitäts— bedürfniß am eheſten befriedigt werden würde. Wenn der Menſchengeiſt auch nie hoffen darf, volle Antwort auf alle Fragen zu erhalten, ihm überdies jedes endgültige Kriterium, jeder Prüfſtein der abſoluten Wahrheit abgeht, ſo klammert er ſich doch mit Macht an den Monismus, weil ihm dieſer in Ausſicht ſtellt, nur eine einzige Erkenntnißfrage unbeantwortet zu laſſen, nämlich diejenige nach dem innerſten Weſen einer mit Bewegung und Empfind— ung ausgerüſteten einheitlichen Sub— ſtanz. Dieſes innerſte Weſen werden wir nie zu erfaſſen oder begreifen vermögen; zu erklären verſpricht uns hingegen der Monis— eigenſchaften die vor uns ausgebreitete Welt ſich entwickeln konnte, alſo mit Ausnahme der Frage nach dem ureigentlichen Weſen der Subſtanz, läßt er uns die Beantwort— ung aller weiteren Erkenntnißfragen erhoffen. In dieſer Faſſung verkörpert der Monis— mus unſtreitig die großartigſte Aufgabe, welche die Erkenntnißlehre je formulirte. Bis jetzt konnte dieſe Aufgabe lediglich als geſtellt bezeichnet werden, ohne daß irgend ein nennenswerther, der Kritik irgend— wie Stand haltender Erfolg ſich an die mehrfach unternommenen Löſungsverſuche geknüpft hätte, ſei es nun in Bezug auf die Zurückführung aller mechaniſchen Kraft— äußerungen auf die als fundamental vor— ausgeſetzte Bewegungsenergie, ſei es in Bezug auf die Zurückführung der or— ganiſchen bez. biologiſchen Welt auf das Be Literatur und Kritik. Empfindungsquale diefer einheitlichen Sub— ſtanz. Ein neuer, beachtenswerther Löſungs— verſuch liegt uns in dem hier in Rede ſtehenden Werke vor, welches zunächſt den rein mechaniſchen Theil der bezeichneten Frage behandelt, d. h. als materielle Grund— lage der geſammten Erſchein ungswelt zuerſt die rein mechaniſche Bethätigungsform der Subſtanz losſchält, während die analoge Bearbeitung der zweiten fundamentalen Eigenſchaft des einheitlichen Subſtrates: der Empfindung, in ſpäteren Büchern folgen ſoll. Die Hoffnung des Verfaſſers, dieſe Grundräthſel zu löſen, iſt weſentlich auf Rechnung zweier radicaler Neuerungen zu ſetzen, als Erſatz für gewiſſe Daten der bisherigen Anſchauungen über das Grund— weſen der Materie, welche ſich zu einer endgültigen Löſung des obigen Erkenntniß— problems im ſtreng moniſtiſchen Sinne als ſchlechterdings unzulänglich erweiſen. Ganz allgemein ausgedrückt ſetzt der Verf. an Stelle der bisher angenommenen linearen Bewegung, d. h. der, wenn auch nach allen Richtungen, doch ſtets gerad— linig vor ſich gehenden Vibrationsbeweg— ung der kleinſten Maſſetheilchen, wobei die letzteren ohne Volumenfluktuationen, als ſtarre, feſte Körperchen in ihrer Totalität den Ortsveränderungen unterworfen gedacht werden, eine concentriſche Vibrations— bewegung, unter deren Einfluß die Vo— lumina der elaſtiſchen Maſſetheilchen be— ſtändigen Fluktuationen, Schwankungen, aus- geſetzt ſind, ohne daß ſie dabei zunächſt ihren Ort zu ändern brauchten. Dieſe con— centriſche Vibrationsbewegung wurzelt in dem Verdichtungs- oder Contrak— tionsbeſtreben der Maſſetheilchen, welches als das ureigentliche, zugleich ein— heitliche mechaniſche agens der Subſtanz poſtulirt wird. 223 Der zweitwichtigſte Fundamentalſatz dieſer neuen Theorie gründet ſich auf die abſolute Continuität der Subſtanz, im Gegenſatz zu den bisherigen Annahmen von im leeren Raume vibrirenden diskre— ten Maſſetheilchen. Mit Hülfe dieſes, jet es an ſich, ſei es in feinen Conſequen— zen, weder gegen die Beobachtung, noch gegen unſer Vorſtellungsvermögen verſtoßenden Poſtulates gelingt es dem Verf., eine ab— ſolute Mechanik von Fernwirkungen, unter conſequenter Ausſchließung jeder unver— mittelten actio in distans, handgreif— lich unſerem Verſtändniß zu erſchließen. Vogt verwahrt ſich vor Allem gegen jede prätendirte Definition des ureigent— lichen Weſens dieſes einheitlichen Sub— ſtrates, welches er unter Verweiſung auf eine ſpätere nähere Umſchreibung ſeines Kraftbegriffes vorerſt mit der vermittelnden Bezeichnung „Kraftſubſtanz“ belegt, es dem Leſer überlaſſend, je nach den For— derungen ſeines Vorſtellungsvermögens, eine zäh⸗elaſtiſche, contraktile Subſtanz oder Maſſe an Stelle des reinen Kraftbegriffes zu ſetzen. Nach feiner Anſicht kann die Erkenntniß— lehre nur an der Wirkungsform der Subſtanz anknüpfen, ohne je über dieſe hinaus bis zum Weſen der letzteren zu gelangen. Auch die Kinetik iſt ja nur im Stande über dieſe Wirkungsform ihrer Atome, über deren Bewegungsenergie zu muthmaßen, ohne das Geringſte über die Natur dieſer Atome ausſagen zu können. Es muß einleuchten, daß, wenn unter ſolch' beiſpiellos einfachen Vorausſetzungen: aus einer einheitlichen continuirlichen Sub— ſtanz, welche mit dem ausſchließlichen mechaniſchen agens, dem Verdichtungs- oder Contraktionsbeſtreben, ausgerüſtet gedacht wird, die unendliche Reihe der Erſcheinun— gen und Kraftäußerungen, unter ſtetiger 224 gewiſſenhafter Anlehnung an den vom Verf. als Grundforderung der Erkenntnißlehre poſtulirten Satz der Vorſtellbarkeit aller vorgeführten Daten, deducirt wird, eine außerordentliche Minutioſität der Un— terſuchung, ein mühſames Eingehen auf die gerinfügigſten Modificationen erſte Beding— ung iſt, welcher auf dem hier beſchränkten Raum kaum Rechnung getragen werden kann, um ſo weniger, als wir hier ferner der zahlreichen Illuſtrationen entbehren müſſen, mit deren Hülfe der an und für ſich äußerſt ſchwierige Gegenſtand leichter zugänglich gemacht wird. Der Leſer muß ſich daher mit folgenden kurzen Andeutun— gen begnügen; denn will er ſich wirklich von der vollſtändigen Neuheit und der un— gewöhnlichen Tragweite des Gegenſtandes überzeugen, ſo muß er ſich eben eingehend mit dem vielleicht bahnbrechenden Buche be— ſchäftigen. Wir gelangen zu der richtigſten Vor— ſtellung von dem Verhalten der continuir— lichen contraktilen Kraftſubſtanz, indem wir uns einen ſymboliſchen Vorgang vergegen- wärtigen, welcher in ſeiner rohen Hand— greiflichkeit allerdings ſtark gegen den frag- lichen ſubtilen Gegenſtand contraſtirt, jedoch durch kein beſſeres Beiſpiel zu erſetzen iſt. Man denke ſich ein flaches Stück Kautſchuk über einen Tiſch ausgebreitet und an den Tiſchkanten befeſtigt. Auf dieſer Kautſchuk— platte ſollen beliebig viel Hände, in gleichen Entfernungen unter ſich, flach aufliegen, oder vielmehr aufkleben, an der Kaut— ſchukfläche feſtſitzend. Werden nun dieſe ſämmtlichen Hände gleichzeitig ge— ballt, d. h. ſchließen ſie ſich und häufen in Folge ihres Feſtſitzens auf der Kaut— ſchukplatte Kautſchukmaſſe in den Hand— höhlen an, ſo wird ſich zunächſt in den von den Händen unbedeckt gebliebenen Zwiſchen— 1 Literatur und Kritik. räumen allmählich ein Spannungszu— ſtand des Kautſchukes geltend machen, wel— cher ſich dem Zuſammenziehen der Hände antagoniſtiſch entgegenſtellt, das fernere Zu— ſammenziehen ſchließlich ganz unmöglich machen wird. Nehmen wir an, die Spann— ung in dieſen Zwiſchenräumen erreiche ihr Maximum, nachdem die Hände nur zur Hälfte geſchloſſen werden konnten, ſo er— übrigt uns erſtens ein weiterer Thätigkeits— bereich für die Hände, zweitens aber muß einleuchten, daß wenn jetzt irgend eine der Hände dieſe weitere Thätigkeit manifeſtiren, ſich alſo etwa ganz ſchließen wollte, dies nur dadurch ermöglicht würde, indem irgend eine oder auch mehrere der übrigen Hände ſich dem entſprechend wieder öffneten und Kautſchukmaſſe frei gäbeu, da ja die Zwiſchenraumsmaſſe das Maximum der Spannung erreicht hat, ſomit vollſtändig unnachgiebig iſt und nur noch die Ver— mittlerrolle der gegenſeitigen Einwirkungen der Hände übernehmen kann. Das unaus— geſetzte energiſche Beſtreben der Hände iſt, ſich zu ſchließen. Die Kraftſubſtanz haben wir uns nun zunächſt abweichend in den drei Raum— dimenſionen ausgebreitet zu denken und das iſolirt, fremdartig auftretende agens, die ſich zuſammenballenden Hände, durch die der Kraftſubſtanz inhärente Contraktions— energie zu erſetzen, welche überall und zu allen Zeiten zur Wirkung gelangt. Dieſe Wirkung kann nur in der Hervorrufung punktueller Maſſenanhäufungen, ſogenannter Verdichtungs- oder Contraktions-Centren, welche der Verf. einfach Kraft-Centren nennt, geſucht werden. Die letzteren ſind von ewigem Beſtande, ſie entſprechen den von verſchiedenen Naturphiloſophen ange— nommenen Uratomen, aus welchen ſich erſt die ſogenannten chemiſchen Elemente ent— Centren ſich befindende Subſtanz beſtändig das Maximum der Spannung, iſt völlig unnachgiebig und vermittelt lediglich die unter den Kraftcentren ſich abſpielenden Gleichgewichtsſtörungen. — Sämmtliche mechaniſchen Proceſſe gehen einzig und allein aus den Wechſelwirkungen der Kraftcentren unter ſich hervor und da dieſe Wechſel- wirkungen in letzter Linie unabänderlich durch entſprechende Vol um ſchwankungen der kleinſten Maſſetheilchen zum Ausdruck gelangen, läßt ſich allen mechaniſchen Pro— ceſſen ein ausſchließlich räumlicher Maß— ſtab unterbreiten, was ſich ja bekanntlich die neuere Mechanik als höchſtes Ziel geſetzt hat. Zur Demonſtrirung des kosmiſchen Ent- wickelungsproceſſes knüpft der Verf. an einen hypothetiſchen Gleichgewichtszuſtand der Kraft— ſubſtanz an, in welchem allen Kraftcentren gleiches Volumen, alſo abſolut gleiches Verhalten zukommen würde, welch' letzteres wir mit dem Zuſtande der halbgeſchloſſenen Hände, nach obigem Beiſpiele, vergleichen können. Dieſes dem hypothetiſchen Gleich— gewichtszuſtande entſprechende Volumen wird als mittlere Intenſität oder Dich— tigkeit bezeichnet. Auch den Kraftcentren iſt Spielraum gegeben, dieſe mittlere In— tenſität zu überſchreiten und ein Maxi- mum der Verdichtung zu erreichen, jedoch ſelbſtverſtändlich nur unter der Be— dingung, daß dem entſprechend andere Kraft— Centren wieder gelockert werden, eben— falls bis zu einem nicht zu überſchreitenden Maximum. Zwiſchen dieſen beiden Maxi— ma der Verdichtung und der Lockerung ſpielen ſich die Vibrationsbewegungen der Kraft— Centren ab und wird jede fortſchreitende Verdichtungsbewegung, jede Contraktion als poſitive, jede rückgängige Auflöſungs— Literatur und Kritik. wickelt hätten. — Genau wie im obigen bewegung, jede Lockerung, als negative Beiſpiele beſitzt auch die zwiſchen den Kraft- 225 Schwankung bezeichnet. Die Initiative zu allen Gleichgewichtsſtörungen, das Zwin— gende derſelben, iſt unabänderlich in den poſitiven Schwankungen zu ſuchen, welche alle Kraftcentren zu forciren trachten; kein Kraftcentrum wird hingegen aus freien Stücken ſich lockern, die negative Schwank— ung muß ihm ſtets durch in der Verdicht— ung begünſtigtere Kraftcentren aufgenö— thigt, aufgedrungen werden. Bei der abſoluten Continuität der Kraft— ſubſtanz muß nun offenbar jeder poſiti— ven Schwankung eines oder mehrerer Kraft— centren eine negative Schwankung eines oder mehrerer anderer Kraftcentren ent— ſprechen, jede Verdichtung an dem einen zieht eine Lockerung an dem anderen Orte nach ſich. Alle Kraftäußerungen, ob ſie als Gravitation oder Licht, Wärme, Chemismus, Elektricität, Magnetismus claſſificirt werden, gehen aber nach dieſer Theorie mit dieſen poſitiven und negativen Schwankungen Hand in Hand, ſo daß ſich vermöge der angedeuteten räumlichen Com— penſationen das Princip von der Er— haltung der Kraft in der denkbar greifbarſten Form zum Ausdruck bringen läßt; und zwar unter gleichzeitiger ſcharfer Unterſcheidung zwiſchen potentieller und aktueller Energie, über welch' erſtere bekanntlich die neuere Mechanik uns noch jede exakte Definition ſchuldet. — Iſt das ausſchließliche, energiſche Beſtreben der Kraft— ſubſtanz die Verdichtung, die Contraktion, ſo iſt klar, daß dieſes Beſtreben um ſo vollkommener befriedigt ſein wird, je mehr ſich ein Kraftcentrum dem Maximum der Verdichtung, alſo dem von ihm erreichbaren kleinſten Volumen nähert. Seine an⸗ fänglich heftigen Contraktionsimpulſe, ſeine kräftigen Contraktionsvibrationen werden zu— 226 nehmend ſchwächer, feine Angriffe gegen die ihm benachbarten Kraftcentren, welche es zu lockern ſucht, eben um ſich auf ihre Koſten verdichten zu können, verlieren an Intenſität, wir können ſagen, ſeine äußere Arbeit nimmt in demſelben Maße ab. Da jedoch der einem Kraftcentrum innewohnende ab— ſolute Kraftwerth daſſelbe nicht verlaſſen, nicht auf andere Kraftcentren übertragen | werden kann, ſo wird dieſer Kraftwerth jetzt darauf verwendet, den mühſam errungenen höheren Dichtigkeitsgrad feſtzuhalten, ſich jeder Lockerung von außen ſo energiſch wie möglich entgegenzuſtemmen. Das Kraft— centrum verrichtet nunmehr eine vorwiegend innere Arbeit, und die auf ſie ver— wendete Kraft wird als potentielle Energie charakteriſirt. Die letztere wächſt in dem Maße, in welchem ſich das Kraft— centrum ſeinem maximalen Dichtigkeitsgrad nähert, erreicht mit dieſem ſelbſt ihr Maximum. Je mehr hingegen ein Kraftcentrum gelockert wird, um ſo intenſiver gelangt ſein Verdichtungsbeſtreben zum Ausdruck, um ſo energiſchere Contraktionsvibrationen wird es ausführen, um wieder einen höheren Dichtigkeitsgrad zu erreichen; um ſo hef— tiger wird es ſomit auch ſeine Umgebung angreifen, mit anderen Worten: eine um ſo größere äußere Arbeit wird es ver— richten. Der in dieſen zunehmenden Con— traktionsvibrationen ſich manifeſtirende Kraft- werth wird als aktuelle Energie (le bendige Kraft) unterſchieden. Bei dem ſich gleichbleibenden abſoluten Kraftwerthe wird demnach in jedem Kraftcentrum die poten— tielle Energie in dem Grade geſchwächt, in welchem die aktuelle Energie ſich ſteigert und umgekehrt. Im maximalen Dichtigkeisgrad äußert ſich der geſammte Kraftvorrath als“ potentielle, im maximalen Lockerungsgrade Literatur und Kritik. dagegen als aktuelle Energie. Die Umſetz— ung der einen Kraftmodalität in die andere iſt hier klar präciſirt, ſowie jede Kraftmo— dalität für ſich nicht minder klar charakteri— ſirt, wohingegen wir an die Vertreter der Kinetik vergeblich die Fragen nach dem Weſen der potentiellen Energie, ſowie ihres Umſetzungmodus in die aktuelle Energie und vice versa, richten. Dieſe Auffaſſungs— weiſe liefert nicht allein die poſitivſten An— haltspunkte für die Verwerthung, des Prin— cips von der Erhaltung der Kraft auf den hier in Rede ſtehenden Subſtanzbegriff, und zwar im Einklang mit der Helmholtz'- ſchen Formulirung: daß die Summe der potentiellen und aktuellen Energie zu allen Zeiten conſtant ſein müſſe; ſie erſchließt uns auch das weitere Corollar: daß unter Zuſammenfaſſung der im geſammten Univerſum vor ſich gehenden Gleichgewichts— ſtörungen die Summe der potentiel— len Energie für ſich, ſowie die— jenige der aktuellen Energie für ſich, conſtant iſt, alſo damit ein von Manchen vorausgeſetzter, ſchließlicher, allge— meiner Erſtarrungszuſtand der Welt illu— ſoriſch wird. Denn in Bezug auf dieſes Corollar wurde ja ſchon oben betont, wie in Folge der Continuität der Kraftſubſtanz keine Verdichtung, keine Anhäufung poten— tieller Energie vor ſich gehen könne, ohne daß ihr gleichzeitig irgendwo eine Lockerung, alſo eine Vermehrung der aktuellen Energie entſpreche, welch' letztere offenbar wiederum nur unter einer correſpondirenden Umſetzung potentieller Energie zum Vorſchein kommen kann. Für jedes neu entwickelte Maß po— tentieller Energie muß an einem andern Orte ein gleiches Maß verſchwinden; das— ſelbe gilt bezüglich der aktuellen Energie. Jeden Contraktionsimpuls eines Kraft— centrums, jede poſitive Schwankung be— zeichnet der Verf. als Verdichtungs— moment, welches auf dasjenige oder die— jenigen Kraftcentren fortgepflanzt wird, die durch eine entſprechende Lockerung antworten, alſo die endgültige Verdichtung des erſteren ermöglichen. Das ſich contrahirende Kraft— centrum ſtößt das Verdichtungsmoment aus, das ſich lockernde Kraftcentrum a b— ſorbirt es. ihm aufgedrungene negative Schwankung auf andere wieder abzuwälzen. Ein Verdichtungs— moment kann auf dieſe Weiſe nicht allein auf die unmittelbar benachbarten Kraftcen— tren, ſondern durch dieſe auf die nächſtfol— genden, ja bis ins Unendliche fortgepflanzt | werden. Auf dem Verdichtungsmoment und ſeinem Fortpflanzungsmodus beruhen die Erſcheinungen von Licht, Wärme, Eleftrici- | tion); es bildet ſich ein kugelförmiges Conglo— tät, Magnetismus ꝛc. Indem jedes Kraft— centrum ſein unaufhörliches Beſtreben der Verdichtung zu befriedigen ſucht, dies aber ſtets nur auf Koſten anderer Kraftcentren möglich iſt, ſo reſultirt nothgedrungen ein ebenſo unaufhörlicher gegenſeitiger Kampf unter den Kraftcentren, in welchem das Recht des Stärkeren in feiner ganzen Nadt- heit zur Geltung gelangt. Die überwiegende Stärke iſt nach dem entwickelten Maße po- tentieller Energie zu bemeſſen, denn je ver— dichteter ein Kraftcentrum, deſto entſchiedener wird es äußeren Angriffen widerſtehen, deſto energiſcher die Abſorption von Verdichtungs— momenten zurückweiſen. Die Ausſtrahlung von Verdichtungsmomenten erfolgt daher ſtets in der Richtung des geringſten Widerſtandes, d. h. in derjenigen, in wel— cher ſich Kraftcentren von den niedrigſten Dichtigkeitsgraden vorfinden. In dem eben erwähnten Gleichgewichts— zuſtande der differencirten Kraftſubſtanz iſt Literatur und Kritik. Da aber mit jeder Locker⸗ ung auch ein erhöhtes Verdichtungsbeſtreben wach wird, ſucht jedes Kraftcentrum die der Verdichtung. es nun undenkbar, daß alle Krafteentren des unendlichen Univerſums abſolut gleich— mäßig vibriren, weshalb eben dieſer Gleich— gewichtszuſtand ein hypothetiſcher genannt wurde. An zahlreichen Punkten wird es ſich ereignen, daß vereinzelte Kraftcentren den übrigen um einen oder mehrere Dichtig— keitsgrade voraus ſind und ſo gering dieſer Unterſchied auch ſein möge, ſie entwickeln demzufolge ein höheres Maß potentieller Energie, welches ſie widerſtandsfähiger macht. Haben ſie einmal das Uebergewicht über ihre Umgebung erlangt, ſo ſtoßen ſie ihre Verdichtungsmomente ununterbrochen aus, unter Annäherung an den Maximalwerth Gleichzeitig folgen ihnen aber auch die zunächſtliegenden Kraftcentren im Verdichtungsproceſſe unter nothwendiger Ortsveränderung und Annäherung an das erſtere (in Folge ihrer eigenen Volumenreduk— merat von Kraftcentren, das, unter gewiſſen Umſtänden zu außerordentlichen Dimenſio— nen anwachſend, ſeine Verdichtungsmomente nach allen Richtungen ausſtrahlt. Indem ein ſolches kugelförmig geballtes Conglomerat vom Mittelpunkte nach der Peripherie zu wächſt, im erſteren ſomit der Verdichtungsproceß ſtets am weiteſten vorgeſchritten iſt, nehmen auch die Dichtigkeitsgrade des geſammten Con— glomerates zu jeder Zeit progreſſiv gegen den Mittelpunkt zu. Solche Anhäufungen, welche den hypothetiſchen Gleichgewichts- zuſtand der Kraftſubſtanz ſtören, nennt der Verf. Störungscentren. Sie ſind die Bildungsherde der eigentlichen Materie, die Keime der Weltkörper. — Bei der ab— ſoluten Homogenität der Kraftſubſtanz, bez. ihrer Wirkungsform werden ſich ſolche Störungscentren im ganzen Univerſum bilden müſſen, allein nicht alle werden ſich gleichzeitig zu behaupten vermögen, indem 228 jeder Verdichtung an einem Orte eine Locker— ung am anderen zu entſprechen hat, ſomit unmöglich die mittlere Intenſität an allen Orten gleichzeitig im poſitiven Sinne über— ſchritten werden könnte. begünſtigten, ſtärkſten Störungs-Centren werden ſich weiter entwickeln, während die ſchwächeren wieder aufgelöſt werden. Die Theile des Univerſums, in welchen die lebensfähigen Störungscentren zur wickelung gelangen, werden als domi— nirende Weltzonen, von denjenigen Theilen, in welchen die Störungscentren wieder aufgelöſt werden, als den rück— gängigen Weltzonen unterſchieden. Dominirende und rückgängige Weltzonen ſtehen in beſtändigen Wechſelbeziehungen zu einander und wechſeln im Laufe der Aeonen ihre Rollen. das Glied einer dominirenden Weltzone, welche ihren heutigen Verdichtungsproceß auf Koften anderer rückgängiger Weltzonen durchläuft, bis ſie nach Vollendung deſſelben den Angriffen dieſer heute rückgängigen Welt— zonen unterliegt, indem letztere vermöge der ſich in ihnen anſammelnden enormen Summen lebendiger Kraft unſere Weltzone allmählich wieder einer totalen Auflöſung entgegenführen, ſich ſelbſt zu dominirenden Weltzonen aufſchwingend. An der Hand dieſes, mit Nothwendigkeit aus ſeinen Prä— miſſen ſich ergebenden kosmiſchen Kreispro— ceſſes, gelangt der Verf. zu einer völlig neuen, intereſſanten Interpretation der Milch— ſtraße, ſowie der charakteriſtiſchen Vertheil— ung der Sternhaufen und Nebel, als gleich— zeitiges Beweismaterial für ſeine Deduk— tionen. Nur die meiſt⸗ Literatur und Kritik. Die uns ſichtbare Welt iſt Legen wir nun dem erſten Entwidel- | ungsmomente der Störungscentren die oben erwähnte mittlere Dichtigkeit der Kraft— centren zu Grunde, ſo würden alle einem äußern müßten. Ent⸗ mittleren Dichtigkeitsgrad. Auf dieſe Weiſe ausſchließlich Störungscentrum beitretenden Kraftcentren eine, von dieſer mittleren Dichtigkeit an ge— rechnete poſitive Schwankung annehmen, während alle in den Zwiſchenräumen zwiſchen den ſich bildenden Störungs-Centren ver— weilenden und die Verdichtungsmomente aus denſelben abſorbirenden Kraftcentren nothwendig eine negative Schwankung Die erſteren ſinken alſo unter, die letzteren ſteigen über dieſen laſſen ſich die Maſſen der Störungscentren ſcharf abgrenzen, als die erſten Anlagen oder Keime von Weltkörpern. Sie werden als Stoffmaſſen von den die Zwiſchen— räume erfüllenden Maſſen, dem Aether, unterſchieden. Die erſteren charakteriſiren ſich ſomit im Allgemeinen als die Träger der größten Summen potentieller, die letzteren eben ſolcher aktueller Energie, ein beſtändig vor Augen zu haltender fundamentaler Unterſchied zwiſchen Stoff— maſſen und Aether. Die Verdichtung der Störungscentren ſchreitet unaufhaltſam weiter und in dem— ſelben Maße muß nothwendig die negative Schwankung des, die Verdichtungsmomente abſorbirenden Aethers zu— nehmen. Schließlich aber wird die nega— tive Schwankung oder die Spannung der Aethermaſſen einen ſolch' hohen Grad erreichen, ein ſolch' hohes Maß lebendiger Kraft in ihnen entwickelt werden, daß ſie dem weiteren Verdichtungsproceſſe der Stör— ungscentren einen nachhaltigen Widerſtand entgegenſetzen, ihn theilweiſe zum Stehen bringen. Bei der als überaus intenſiv vorauszuſetzenden abſoluten Verdichtungs— energie der Kraftſubſtanz haben wir ein raſches Umſichgreifen der Störungs-Centren anzunehmen, denſelben alſo ungeheuere Aus— dehnungen (Durchmeſſer von mehreren Licht— ET Literatur und Kritik. jahren) zu vindiciren, der Widerſtand des hochgeſpannten Aethers wird ſich daher zu— nächſt nur an der Peripherie der Störungs- centren geltend machen können, während die centralen Schichten ihren Verdichtungspro— ceß noch ungehindert fortſetzen. Die aus den letzteren ausgeſtoßenen Verdichtungs- momente, welche der Aether nun nicht mehr abſorbirt, können jetzt nur auf die peri— pheren Stoffmaſſen abgewälzt werden, welche dadurch aufs Neue gelockert und genöthigt werden, ſelbſt zum Aether überzutreten. Es entſteht ein Wiederauflöſungsproceß der peripheren Stoffmaſſen. Je mehr indeſſen periphere Schichten aufgelöſt werden, während die Spannung des Aethers, ungeachtet des Zuſchlags der wiederaufgelöſten Maſſen, unter der fortgeſetzten gleichzeitigen Ver— dichtung aller Störungscentren eher ge— ſteigert als geſchwächt wird, deſto ver— dichtere Schichten treten allmählich an die Oberfläche und in Contakt mit dem angreifenden Aether. Der Auflöſungspro— ceß geſtaltet ſich demzufolge zunehmend heftiger, gewaltiger, die ſtark verdichteten Schichten leiſten einen ſolch' energiſchen Widerſtand, daß die Wiederauflöſung keine vollſtändige mehr iſt, ſondern zu einer nur theilweiſen wird; d. h. die Kraft- centren treten nicht mehr vereinzelt zum Aether über, unter gleichzeitiger negativer Schwankung, ſondern haften in ganzen Gruppen zuſammen, werden als kleine iſo— lirte Partikel, als eigentliche Körperatome losgeſprengt. Der anfängliche Wieder— auflöſungsproceß ſchlägt in einen förmlichen Sprengungsproceß, in den Bildungs— proceß der Atome, der jogen. chemiſchen Elemente, um. — Da die Verdichtung im Centrum am intenſivſten vor ſich ging, werden auch dementſprechend die peripheren, zuerſt losgeſprengten Schichten die kleinſten 229 Gruppen, vom zugleich geringſten Dichtig— keitsgrad ihrer Kraftcentren, die centralwärts folgenden Schichten hingegen progreſſiv größere Gruppen von zunehmend höheren Dichtigkeitsgraden geliefert haben. Die erſteren entſprechen den leichteſten und leichten, die letzteren den ſchweren und ſchwerſten Atomen. Es entwickelt ſich auf dieſe Weiſe der Kant⸗Laplaceiſche urſprüngliche Nebel— ball, indeſſen mit dem großen Unterſchiede, daß während Kant den letzteren ohne irgend welche weitere Motivirung aus einem beliebig poſtulirten Chaos herausgriff und wir über die Vertheilung der Stoffmaſſen und ihre plötzliche Gruppirung um einen Mittelpunkt völlig unaufgeklärt blieben, wir hier einen geſetzmäßigen Entwickelungs— proceß vor Augen haben, ſowie über die wichtige, durch die Spektralanalyſe noch ſchärfer charakteriſirte Frage nach der Ver— theilung der Materie im Weltraume, den befriedigendſten Aufſchluß erhalten. — Im engen Anſchluß hieran begründet Vogt im Gegenſatze zu der Kant-Laplace'ſchen Hypotheſe über die Planetenbildung die letztere nach demſelben Entwickelungsprincipe. Wenn nämlich die Wirkungsform der Kraft— ſubſtanz eine abſolut gleichmäßige iſt, ſo werden ſich die Störungscentren an allen Punkten entwickeln müſſen, auch in den Zwiſchenräumen zwiſchen den oben behandelten größten, mächtigſten Störungs— centren, aus welchen die eigentlichen Sonnen hervorgehen. Dieſe kleineren Störungscentren, welche die Zwiſchenräume gleich oder an— nähernd gleich großer, ſich berührender Kugeln ausfüllen, geben die Planeten und Monde ab und es ſtimmen mit dieſer Aus— legung die wahren Größenverhältniſſe zwiſchen Sonne und Planeten in auffallender Weiſe überein. Demgegenüber weiſt der Verf. Kosmos, III. Jahrg. Heft 3. 31 \ 230 die Schwäche nwelche der Kant-Laplace'- ſchen Hypotheſe anhaften, wie er glaubt, ſchlagend nach. Von der größten Anregung ſind un— ſtreitig die Kapitel über die Mechanik der | | Gravitation, ſowie die Bahnbeſtimmung Bezug auf den letzteren als extrinſives des geſammten Sonnenſyſtems im Welt— raume. Ungeachtet des Sprengungsproceſſes der Störungscentren, muß bei der fortge— | ſetzten Verdichtung ihres Kernes die Aether- | ſpannung ſtetig zunehmen. Da jedoch eine quantitative Ueberlegenheit durch eine qualitative compenſirt wird und um— gekehrt, ſo werden die in immer größeren Ent— fernungen die gebildeten Weltkörper um— ſtellenden, quantitativ wachſenden Aether— maſſen, vermöge zunehmend geringerer Spannungsgrade, den, den Weltkörpern näheren, quantitativ abnehmenden Aether— ſchichten das Gleichgewicht zu halten ver— mögen, auch ohne die den letzteren durch die ſich verdichtenden Weltkörper aufgedrunge— nen Verdichtungsmomente weiter zu ab— ſorbiren. Auf dieſe Weiſe legen ſich eigentliche Spannungsſphären um die Weltkörper, aus kugelförmigen, über einander lagernden Aetherſchichten aufgebaut, deren Spannungsgrade dem Quadrate der Entfernung der Schichten von der Ober— fläche des Körpers umgekehrt proportional ſind. Irgend ein Körper, welchen wir in eine ſolche Spannungsſphäre bringen, wird gegen den Stützpunkt der letzteren, gegen den von ihr umgebenen Weltkörper, fallen müſſen, indem die hochgeſpannten Aether— kraftcentren ſich auf ſeine Koſten zu ver— dichten trachten, ihn als Sättigungsobjekt ihrer eigenen Verdichtungsenergie nachhaltig angreifen. Hier werden nun diejenigen Aetherkraftcentren, welche das höhere Maß aktueller Energie beſitzen, den Ausſchlag geben, die der Oberfläche des Weltkörpers Literatur und Kritik. näher gelegenen Aetherſchichten mit ihren progreſſiv höheren Spannungsgraden wer— den das fragliche Sättigungsobjekt den pheripheren Schichten der Spannungsſphäre entreißen. Dieſer Einfluß der Spannungs- ſphäre auf den fremden Körper wird in Bewegungsmoment bezeichnet; es ent— ſpricht genau der von Newton poſtulirten Schwerkraft. — Sofern nun aber dieſer fremde Körper, welcher wiederum ein Welt— körper fein kann, ſelbſt noch nicht das Maxi— mum der Verdichtung erreicht hat, alſo noch verdichtungsfähig iſt, wird er ſich nicht völlig indifferent gegen das extrinſive Be— wegungsmoment verhalten. Er wird ſein eigenes Verdichtungsbeſtreben zum Ausdruck bringen, daſſelbe aber nur in derjenigen Richtung befriedigen können, in welcher der geringſte Widerſtand vorherrſcht, d. h. hier in derjenigen, in welcher die Aetherkraft— centren das geringſte Maß aktueller Energie beſitzen, weniger heftig angreifen, alſo ſelbſt leichter angegriffen werden können. Die eigene Verdichtungsenergie treibt ſomit den angezogenen Körper vom anziehenden ab; der erſtere entwickelt ein intrinſives Be— wegungsmoment, welches mit dem ex— trinſiven combinirt allein die Bewegungs- bahnen der Weltkörper liefert. Vogt ſtellt dem conſtant wirkenden extrinſiven das ebenſo conſtant wirkende intrinſive Be— wegungsmoment gegenüber, er verwirft die bisherigen Behauptungen als unhaltbar, nach welchen der conſtant wirkenden Schwer— kraft die aus einem einmaligen erſten Impulſe entſpringende Tangentialkraft, unter einem durchaus ungerechtfertigten Ap— pel an das Trägheitsgeſetz, beſtändig das Gleichgewicht halten ſollte. Es iſt unmöglich, hier auf die Fülle neuer Geſichtspunkte, welche in Bezug auf — — — Literatur und Kritik. die Bewegungserſcheinungen der unabhängigen wie abhängigen Weltkörper, vornehmlich auch der Kometen, Sternſchnuppen und Meteo— riten eröffnet werden, ſelbſt nur annähernd einzugehen und haben wir den Leſer auf das Werk ſelbſt zu verweiſen. Nicht minder gilt dies bezüglich der Geneſis der Kometen, Sternſchnuppen und Meteoriten, als den Zerſetzungsprodukten kernloſer Weltkörper oder eigentlicher Nebel. In unmittelbarem Anſchluß an den Ent- wickelungsproceß der Weltkörper, welche wir nicht mehr als beliebig zuſammengewürfelte Stoffmaſſen, ſondern als eigentliche, fo zu ſagen organiſch gegliederte Gebilde aufzufaſſen haben, gelangen wir im geſchloſſenen Syſteme zur Entwickelung der wichtigſten phyſikaliſchen Grundbegriffe. Zunächſt wird der heute nicht mehr zweifelhafte Zuſammen— hang zwiſchen Gravitation und Wärme, ſowie das Weſen der Aggregatzuſtände der Stoffmaſſen klargelegt. Dann folgen wir dem Verf. auf das ſchwierige Gebiet des Chemismus, wo wir zum erſten Male einer handgreiflichen Definition der Affinität und vor Allem der Erklärung des merkwürdigen Zuſammenhanges der meiſten ſpecifiſchen Eigenſchaften der chemiſchen Elemente mit ihren Atom gewichten begegnen, ein Zuſammenhang, der nach den bisherigen An— ſchauungen jedem Begreifen ſpottete. Wärme, Licht, Elektricität, Magnetismus finden ihre Begründung im abſolut mecha— niſchen Sinne an der Hand deſſelben Grund— gedankens. Es treten uns unausgeſetzt die Wirkungen des Verdichtungsmo— mentes im Weſen ſtets unverändert ent— gegen, lediglich die äußeren Bedingungen, unter welchen es in die Erſcheinung tritt, ändern ſich und führen zu der Claſſificir— ung ſeiner Wirkungen als Licht, Wärme, Eben der Umſtand, daß Elektricität ꝛc. 231 dieſer neue Grundgedanke außer für Wärme und Licht, welche die neuere Mechanik bis jetzt allein zu bewältigen vermochte, auch das volle Verſtändniß für eine nicht minder abſolute Mechanik der Gravitation, der Cohäſion, des Chemismus, der Elek— tricität und des Magnetismus mit ihren gegenſätzlichen Polaritäten erſchließt, ſomit den Monismus im ausgeprägteſten Relief, in ſeinen radicalſten Conſequenzen ermöglicht, zeugt für ſeine Lebensfähigkeit. Die Kinetik iſt gegenüber der Gravitation, Cohäſion, dem Chemismus ꝛc. völlig machtlos, ſie gelangt ungeachtet der größten Anſtreng— ungen günſtigſten Falles zu dogmatiſirenden Sätzen, aber zu keinen begrifflich conſtruir— baren Erkenntnißdaten, abgeſehen davon, daß ſie ſich über den ihr ſo unentbehrlichen Aether, weder in ſeinem unterſchiedlichen Weſen gegenüber der ſogen. Materie, noch in ſeiner ſpecifiſchen Wirkungsform, irgend— wie klar zu werden vermag. Dieſe aphoriſtiſche Darlegung möge ge— nügen, dem Leſer das umfangreich und kühn angelegte Werk zu kennzeichnen. Jeder, der ſich für naturphiloſophiſche Fragen intereſ— ſirt, wird ſich mit demſelben vertraut zu machen haben, auch wenn es nur der Originalität und völligen Neuheit der Grund- idee halber wäre. Sind die Sätze Cas— pari's: „Was im praktiſchen Leben Macht und Dauer find, iſt in der Wiſſenſchaft bei einer Theorie das Plus von Er— klärung, das ſie anderen Theorien gegenüber bietet. Wer mehr und am meiſten erklärt, iſt am höchſten in der Wahrheit,“ — als richtig anzuerkennen, dann haben wir dieſes Buch, vorausgeſetzt, daß ſeine Sätze der eingehenden Kritik Stand halten, höher zu ſtellen, als alles Andere, was in dieſer Richtung bis zur Stunde geboten wurde. O. C. N Profeſſor Albert Heim, Ueber die rinde. Baſel 1878, Schwabe'ſche Ver— lagsbuchhandlung. 33 S. in 8. in demſelben Verlage erſchienene größere über den Mechanismus der Ge— birgsbildung, im Anſchluß an die geologiſche Monographie der Tö— di⸗Windgällen-Gruppe“ (2 Bände mit Atlas von 17 Tafeln), hinzuweiſen, indem es die Reſultate deſſelben in ge— drängter Kürze zuſammenſtellt. Die neuere Geologie neigt dazu, die Gebirgsketten nicht mehr wie früher geſchah, als durch aus langen Spalten empordringende Eruptivgefteine ge— hobene Schichten anzuſehen, ſondern als die Folge einer der allmählichen Zuſammenſetz— ung des Erdkerns entſprechenden Faltung ſeiner Oberfläche (vgl. Kosmos, Bd. IV, S. 212). Die ältere Anſchauung erſchien ſcheinbar da— durch geſtützt, daß die Centralmaſſive der Gebirge von plutoniſchen Geſteinen gebildet werden, und einige neuere Naturforſcher (3. B. Studer) hängen ihr deshalb noch heute an. Ihre Gegner (Favre, Süß, Lory u. A.), denen ſich Heim anſchließt, behaupten, daß die Eruptivgeſteine der Alpen durchweg viel älter ſeien, als die Alpen— erhebung, und ebenſo paſſiv, wie die über— lagernden ſedimentären Schichten, durch Falt— ung erhoben ſeien. Heim hat dafür aus ſeiner Beobachtungszone weitere ſchlagende Beweiſe erbracht und zeigt, daß auch die innere Struktur der Centralmaſſive völlig dieſen Anſchauungen entſpricht. Es ſind demnach alſo die Kettengebirge, die durch Faltung der Erdrinde entſtanden find, und ihre Einzelberge und Gipfel erſt der ſpä— kn Eroſion verdanken, wohl zu unter- Stauung und Faltung der Erd⸗ Werk des Verfaſſers: „Unterſuchungen | | Vorliegende kleine Schrift hat den Zweck, weitere Leſerkreiſe auf das gleichzeitig und Literatur und Kritik. ſcheiden von aufgeſchütteten Vulkankegeln und Domen, zu denen z. B. unzweifelhaft die Kuppen des Siebengebirges gehören. Ueber die mechaniſchen Vorgänge bei der Faltung der Erdrinde ſagt der Verfaſſer: „Die Annahme, daß die Geſteine zur Zeit der Faltung alle noch weich geweſen wären, iſt im Widerſpruch mit Allem, was wir von den zur Erhärtung von Sedimenten nothwendigen Zeiten und Bedingungen ken— nen oder vermuthen und was wir von dem relativen Alter der Bildungs- und Yaltungs- Vorgänge verſchiedener kennen. Geſteine An ohne Bruch homogen umgeformten Geröllen aus der Nagelfluh, an geſtreckten Belemniten, elliptiſch gezogenen Ammoniten ꝛc., an nachträglich wieder gefältelten Adern läßt ſich der ganz ſcharfe Nachweis führen, daß alle Umformungen, kleine wie große Faltungen der Geſteine, welche mit der Entſtehung der Alpen zuſammenhängen, ſich an Material vollzogen haben, welches längſt annähernd in gleichem Grade feſt und hart, ſogar ſpröde geworden war, wie wir es heute vor uns ſehen. Die Umformung der Geſteine in den jüngeren Sedimenten der äußeren Ketten iſt oft eine Umformung mit Bruch. Die alten Brüche ſind zu Adern geworden. Aus der Anordnung, Weite und Form der Adern läßl ſich aber faſt immer nach— weiſen, daß dieſelben allein ohne Plaſticität des Materiales nicht genügt haben können, die Spannungen auszugleichen. Zertheilung durch Riſſe und Rutſchflächen, Stellungs— veränderung der Theile und Wiederverkitten derſelben durch Sekretionen iſt oft der mechaniſche Vorgang, an welchen die Um— formungsfähigkeit vieler Geſteine ſich knüpft. Wir finden ausgedehnte Schichten von in ſolcher Weiſe innerlich zertrümmerten, in eine Breccie umgewandelten Geſteinen. Sehr Literatur und Kritik. häufig aber geſchieht die Umformung ſelbſt bei den ſprödeſten Geſteinen ohne Bruch. Dieſer Fall verdient eingehendere Unter— ſuchung, denn die Umformung ohne Bruch iſt eine höhere mechaniſche Leiſtung, als Umformung mit Bruch. Diejenigen Geſetze, welche ſich direkt blos aus der Beobachtung der Erſcheinungen ergeben, habe ich zunächſt in ſechzehn „Geſetze der Erſcheinung“ zufam- mengefaßt. 1) Umformung ohne Bruch findet ſich bei den verſchiedenſten Geſteinsarten. 2) Die gleichen Geſteine der gleichen Schichten, welche an der einen Stelle die Umformung durch Brechen (Aderbildung) ermöglicht haben, ſind an anderen Stellen ohne Bruch umgeformt. 3) Das gleiche Geſteinsſtück kann Um— formungen mit Bruch und vorher oder auch nachher Umformung ohne Bruch erleiden (bruchlos gefältelte Adern). 4) Die aus verſchiedenen Geſteinen beſtehenden gleichzeitig gefalteten Schichten der gleichen Localität zeigen oft Unterſchiede in der Umformung, welche von der Geſteins— natur abhängen. 5) Bei den mit der Gebirgsbildung in Verbindung ſtehenden großen und kleinen Falten ſind die Schichten ſtets an den Schenkelſtücken der Falten dünner, an den Umbiegungsſtellen dicker, was beweiſt, daß die Faltung der Schichten durch von außen herantretende Kraft, aber nicht aktiv durch innere Quellung erzeugt worden iſt. 6) Die mikroſkopiſch oft nachweisbaren Klüftchen und Gefügelockerungen genügen trotz ihrer Häufigkeit ebenſowenig, die Um— biegungen zu erklären, als die größeren Spalten. 7) Durch Anhäufung von faſt mikro— ſkopiſch kleinen Verſchiebungen, welche aus kleinen Fältchen hervorgehen, kann, beſonders 13) Die Streichrichtung des Elivage —— !!!!!! . — 9 233 De plaſtiſcheren Geſteinen, eine ſchiefrige Struktur, das Ausweichungsclivage, entſtehen. | 8) Eine zweite Art von Transverſal— ſchieferung, das Microclivage, entſteht da— durch, daß alle Geſteinstheilchen in lamellare oder ſtenglige Form in der Ausweichungs— richtung, die meiſt ſenkrecht zur Maximal- druckrichtung ſteht, gequetſcht werden. 9) Eine dritte Art von Clivage entſteht dadurch, daß alle lamellaren und ſtengligen Mineralelemente in einem Geſteine parallel geſtellt ſind. Um den Gedankengang nicht zu unter— brechen, muß ich hier zwiſchen hinein ſchnell der Hauptreſultate früherer, namentlich durch die engliſchen Geologen erzielten Reſul— tate gedenken: J) Jeder Druck, welcher ein ſeitliches Ausweichen erzeugt, hat die Folge: a) daß alle nach ihrer Cohäſion ungleichen Geſteinstheile ſenkrecht zur Maximaldruckricht— ung in lamellare Form gequetſcht werden, und: b) daß alle ſchon in der Maſſe vorhandenen lamellaren und ſtengligen Theile ſich mehr und mehr parallel einer Ebene ſtellen, welche ſenkrecht zur Maximaldruckrichtung ſteht. Dadurch entſteht ſchiefrige Struktur. II) Die Richtung der Clivageſchieferung iſt unab— hängig von der Lage der Schichten. Ge— ſteine mit Transverſalſchieferung (Clivage) find immer gequetichte Geſteine. Das wirkliche Clivage iſt durch die ganze Maſſe in jedem aus derſelben herausgebrochenen Stück zu beobachten. 10) In allen Fällen, wo Petrefakten umgeformt worden ſind, iſt im umgebenden Geſteine Clivage zu beobachten. 11) Die Streckungsrichtung der Petre— fakten fällt dabei ſtets in die Schieferungs— ebene des Geſteines. 12) Auf den Clivageflächen erkennt man häufig noch eine lineare Streckungsrichtung. 234 fällt im Allgemeinen in den Alpen mit der Streichrichtung der Schichten und Ketten zuſammen, während das Fallen meiſtens ziemlich ſteil iſt und die Schichten ſchneidet. 14) Clivage iſt meiſtens in der Nähe viel deutlicher entwickelt, als an den ent— fernteren Theilen der Faltenſchenkel. 15) Im Allgemeinen nimmt die Stau— ung oder bruchloſe Umformung der Schichten mit der Tiefe unter der allgemeinen Ge— birgsoberfläche zu. 16) Bruchloſe Umformung an unpla— ſtiſchen Geſteinen findet ſich nur in großer Tiefe unter der urſprünglichen Gebirgs— oberfläche. Eine geſchichtete Maſſe formt ſich leichter als eine homogene durch Druck um, und die Umformung iſt vorherrſchend Faltung. Eine homogene Maſſe erfordert zur Um— formung mehr Kraft, als eine geſchichtete, und das Reſultat iſt vorherrſchend Clivage. Weil die Erdrinde geſchichtet iſt, konnten Faltengebirge entſtehen. Weil Doppelkrümm— ung auf viel größeren Widerſtand trifft, als einfache Krümmung, ſind die Falten alle viel länger als breit. Die Falten eines Gebirges ſind um ſo länger im Vergleiche zu ihrer Breite und Höhe, je ſteifer die Schichten find und je gleichförmiger der erzeugende Horizontalſchub ſich verbreitet. Die Zuſammenſtellung einiger Schlüſſe aus den Beobachtungsreſultaten mit Be— obachtung und Experimenten über die rück— wirkende Feſtigkeit der Geſteine ergiebt als Reſultat die Theorie der bruchloſen Umform— ung der Geſteine: In eine gewiſſen Tiefe unter der Erd— oberfläche ſind die Geſteine weit über ihre Feſtigkeit hinaus belaſtet. Dieſer Druck pflanzt ſich nach allen Richtungen fort, ſo daß ein allgemeiner, dem hydroſtatiſchen — — latent plaſtiſchen Zuſtand verſetzt. der Umbiegungsſtellen und an dieſen ſelbſt Literatur und Kritik. Drucke entſprechender Gebirgsdruck allſeitig auf die Geſteinstheilchen einwirkt. Dadurch ſind dort die ſprödeſten Geſteine in einen Tritt eine Gleichgewichtsſtörung durch eine neue Kraft — den gebirgsbildenden Horizontal- ſchub — hinzu, ſo tritt die mechaniſche Umformung in dieſer Tiefe ohne Bruch, in zu geringen Tiefen bei den ſpröderen Materialien mit Bruch ein. Im Hauptwerke erfolgt der genaue Nach— weis, daß alle beobachteten Umformungen unter einer oft gewaltigen, jetzt durch Verwitterung und Eroſion zerſtörten Bedeckung mit Ge— ſteinen ſtattgefunden haben, und daß die Belaſtungen, welche dadurch gewirkt haben, vollſtändig mit den von der Theorie gefor— derten Beträgen übereinſtimmen. Manche Geſteinsmetamorphoſen, wiez. B. die ſtellenweiſe Umwandlung von dichtem Kalkſtein in Marmor in den Alpen, weit entfernt von Eruptivgeſteinen, die Umwand— lung des Hämatit im Eiſenoolith in Magnetit ſtehen mit der Quetſchung dieſer Geſteine in nahem Zuſammenhang, ſo daß eine Art Metamorphismus, der ſelbſt chemiſche Umwandlung in ſich begreift, als höchſte Potenz der mechaniſchen Umwandlung, welche eben die Starrheit in der Lage der Theilchen überwunden hat, erſcheint! Möchte einſt die Tragweite der hier endeckten Vorgänge nicht nur durch die Beobachtung allein, ſondern auch durch das Experiment feſt— geſtellt werden“.“) Aus der vorliegenden Ueberſicht, die noch mancherlei wichtige Feſtſtellungen über die Geſteine ſelbſt und die Entſtehung des jetzigen Alpenreliefs durch Verwitterung, Eis- und Waſſer-Eroſion enthält und auf das Studium des Hauptwerkes begierig macht, geben wir noch den Schluß, ſeiner E ) Vergl. Kosmos III. S. 436. — — — — — intereſſanten allgemeinen Bemerkungen wegen, wieder: n „Wenn wir Kettengebirge in Gedanken wieder ausglätten, ſo erhalten wir ein Zuviel von Erdkruſte. Der Erdumfang um denjenigen Betrag größer, welcher ſich aus dem Ausglätten der Kettengebirge im Vergleich zu der jetzigen Breite der Ge— birgszone ergiebt. Ich habe, ſoweit die Profile genügend bekannt ſind, aus denſelben dieſen Zuſammenſchub abgemeſſen und für den Jura zu 5000 bis 5300 M., für die Alpen zu etwa 120000 M. gefunden. Früher um den genannten Betrag breiter. Dieſe Zahl iſt der abſolute Zuſammenſchub, der ein Gebirge gebildet hat. Die jetzige Breite des Gebirges dividirt durch die Breite den relativen Zuſammenſchub (¾2 bis ¼ für den Jura, ½ für die Alpen). Theilen wir den abſoluten Zuſammenſchub durch die Zahl der Ketten oder Falten, ſo erhalten wir ein Maß für die durchſchnittliche In— einem zum andern Querprofil ſtark wechſeln kann. Da der Erdumfang 40023 512 M. beträgt, war er vor der Alpenbildung 40143512 M. groß; er hat ſich ſomit ganz ½ U. menſchub ab, ſo finden wir, daß die Um— Kruſte zu klein geworden iſt, iſt, ſeitdem war alſo vor der Stauung der Gebirge war die betreffende Zone der Erdrinde dieſer Rindenzone vor der Faltung ergiebt tenſität der Falten, welch' letztere Zahl von Literatur und Kritik. durch die Alpenbildung doch blos um das 0,003 fache verkleinert — d. h. um nicht | Schätzen wir die Faltung der andern von dem Gentral-Alpenmeridian geſchnittenen Gebirge noch in ihrem Zuſam⸗ fangsverkürzung durch die geſammte Gebirgs- bildung bis jetzt nicht ganz 1% betragen hat! Daß der Erdkern allmählich für die reich für uns und unſer Erfaßen, verſchwin— wir auch die Centralmaſſive als Produkte eines Zuſammenſchubes erkannt haben, keine Abſpülung wird gleich einer zweiten Minute 235 Theorie mehr, ſondern ein einfaches, ganz ſicheres Beobachtungsreſultat. Jede Theorie über die Beſchaffenheit des Erdinnern, welche dieſes Faktum nicht erklären kann, muß verworfen werden. Soweit iſt unſer Gedankengang frei von Hypotheſen. Die Berechnung zeigt, daß der Materialverluſt des Erdinnern durch Eruptionen nicht genügt, dieſe Verkleinerung zu erklären, wohl aber iſt leicht zu berechnen, daß ſchon ein geringer Fortſchritt in der Abkühlung des Kernes vollſtändig zu der für die Erklärung der Kettengebirge nöthigen Contraction führt. Ob wir uns dieſen Kern dabei als feſt oder flüſſig vorſtellen wollen, iſt ſelbſtverſtändlich vollkommen gleichgültig. Wenn die Rinde an manchen Stellen Gebirge faltet, muß ſie an anderen über ausgedehnten Flächen einſinken. Dadurch entſtehen die Meerbecken, es bleiben die Continente zurück. So erſcheint uns das ewige Schwanken der Erdrinde, die große vertikale Gliederung, durch ungleichförmiges Nachſinken und dadurch bewirkte Stauung der Erdrinde gegeben. Während der Zeit, da der Erdradius ſich um 50000 M. verkleinerte, hat der durch- ſchnittliche Niveau-Unterſchied von Meergrund und Feſtland in dieſer Zahl mehr als zehn Mal in je wieder ganz anderer Gruppirung Raum genug gefunden. Ruhe, Gleichge— wicht, Abflachung wird erſt dann eintreten, wenn die Contraction aufhört. Die Alpen, deren reichen Erſcheinungen unſere Unter— ſuchungen vorwiegend gewidmet waren, ſind ſelbſt nur durch eine lokale Phaſe des allgemeinen Contractionsproceſſes der Erd— kugel geſtaut, — unermeßlich groß und dend klein im Vergleich zur Erdkugel. Ihre Stauung war gleich einer Minute, ihre in der Geſchichte des Planeten fein, der ſelbſt nach Raum und Lebensdauer unter den anderen Sternen zwiſchen der Ewigkeit der Vergangenheit und der Ewigkeit der Glieder wirken als gleiche, aber der Zukunft verſchwindet.“ Die Geiſteskräfte der Menſchen verglichen mit denen der Thiere. Ein Bedenken gegen Darwin's Anſicht über denſelben Gegenſtand von Profeſſor Ludwig Strümpell. Leipzig 1878, Veit u. Co. 64 S. in 8. Dieſe Schrift mit ihren gewundenen Redensarten zeigt, wie ſehr viel ſchwerer | es iſt, die Natur ohne Zuhülfenahme Dar- win'ſcher Principien zu erklären, als mit denſelben. Sie verſucht zu zeigen, daß das geiſtige Vermögen des Menſchen nicht gra— duell, ſondern abſolut verſchieden ſei von dem des Thieres, ſo daß man, wenn man die Abſtammung des Menſchen aus dem Thierreiche annehmen wollte, mindeſtens zu— geben müſſe, daß in dem Verſtande des Menſchen etwas ganz Neues, in der thie— riſchen Entwickelung nicht Vorbereitetes und Gegebenes hinzugekommen ſei. Der Verf. geht, ohne es zu bemerken, auf den Stand— punkt des Ariſtoteles zurück, welcher lehrte, die Thiere hätten zwar eine Seele, aber eine ſolche, die nur mit Empfindung, Gedächtniß und Leidenſchaften, nicht aber mit Vernunft begabt ſei. Um nun zu beweiſen, daß das Thier wirklich ohne alle Vernunft ſei, muß unſer unbewußker Ariſtoteliker natürlich die wunderbarſten logiſchen Sprünge machen. So z. B. ſoll die Freude des Hundes, der ſeinen lange abweſend geweſenen Herrn wiederſieht, nicht daher rühren, daß er ihn wirklich wieder erkennt. „Ich meine,“ ſagt der Verf. (S. 34), „dieſe Deutung iſt durchaus unrichtig. Zunächſt bezweifle ich, daß der Hund ein Bewußtſein hat von der Gleichheit der durch die neue Wahr— nehmung des Herrn wieder belebten alten Vorſtellung mit dieſer Wahrnehmung: beide überſinnliche Gedanke der Gleich— heit ſelbſt kommt in einer Hundeſeele nicht vor; ſie denkt nicht, der geſehene Herr iſt der alte Herr u. ſ. w.“ Wir nehmen an, daß auch Herr Profeſſor Strümpell, wenn er einen alten intimen Studienfreund nach längerer Trennung wiederſieht, nicht erſt die philoſophiſche Betrachtung anſtellen wird, daß erwähntes Geſichtsobjekt dem nämlichen „Dinge an ſich“ entſprechen dürfte, mit dem er einſtmals Smollis ge— trunken, hoffen vielmehr, daß die Wirkung und Freude des Wiederſehens auch bei ihm eine unmittelbare ſein wird. Doch ſehen wir weiter: Der Verfaſſer ſetzt den geiſtigen Zuſtand des Hundes und den des Thieres im Uebrigen ganz gleich dem— jenigen eines jungen Kindes, welches noch nicht ſprechen kann, wenn es der Mutter oder Amme, die nach einiger Abweſenheit wiederkehrt, beim Anblick derſelben entgegen— jauchzt. „In ſolchem Falle,“ ſagt er, „tritt uns die Unmittelbarkeit der Wirkung noch reiner entgegen als beim Hunde, weil wir gar nicht geneigt ſind, einem unmündigen Kinde geiſtige Thätig— keiten zuzuſchreiben, von denen wir wiſſen, daß ſie in ſolchem Alter nicht möglich ſind.“ Der Herr Verfaſſer ſcheint in dem Ueber— maß ſeines Eifers gar nicht bemerkt zu haben, wie er mit dieſer Identificirung ſeiner ſelbſt geſpottet hat. Aus dem Kinde, welches nach ſeiner eigenen Darlegung den geiſtigen Horizont des Thieres beſitzen ſoll, wird innerhalb weniger Jahre der vernunft— begabte Menſch, wie die alltägliche Erfahr— ung lehrt; dennoch ſoll ſich, ſelbſt innerhalb Literatur und Kritik. | Literatur und Kritik. vieler Jahrtauſende, aus der thieriſchen In— telligenz niemals im Laufe einer natürlichen Entwickelung die menſchliche Vernunft haben herausbilden können. Will man den ortho— doxen Glauben retten, ſo muß man aber mehr thun, als hier geſchieht, man muß ſelbſt über Ariſtoteles noch hinaus- gehen und der Meinung des Carte— ſius beipflichten, wonach die Thiere über— haupt keine geiſtigen Fähigkeiten beſitzen. „Es iſt Schade,“ ſagte ſchon Bayle, „daß des Carteſius Meinung (über die Thier— ſeele) ſo ſchwer zu behaupten und ſo un— wahrſcheinlich iſt; denn davon abgeſehen, iſt ſie dem orthodoxen Glauben ſehr vortheil— haft. . . . Sie iſt den hüchſt gefährlichen Folgerungen der ordentlichen Meinungen nicht unterworfen.“ Ref. räth dem Ver— faſſer den ſiebzehn Folioſeiten langen Artikel „Rorarius“ in Bayle's Lexikon?) zu leſen; er wird dort ſein Buch mehr als 150 Jahre, bevor es geſchrieben wurde, aufs Beſte widerlegt finden. Nicht ohne Glück hatte Rorarius, der Nuntius Clemens des Siebenten, um die Mitte des ſechszehnten Jahrhunderts in einem beſon— deren Buche zu beweiſen geſucht, daß die Thiere Vernunft haben und ſich derſelben oft beſſer als der Menſch bedienen. — Voll- kommen muß ich indeſſen der Meinung des modernen Autors über die Geiſteskräfte der Thiere, beiſtimmen, wenn er (S. 10) klagt, daß unſere meiſten Thiergeſchichten, wie ſie Züchter, Liebhaber, Jäger u. ſ. w. erzählen, ſtark von der allgemeinen Neig— ung des Menſchen zur Vermenſchlichung der todten und lebenden Naturdinge gefärbt zu ſein pflegen, ſo daß ſie in der Regel, den Scharfſinn der Thiere betreffend, ſehr ) In der Gottſched'ſchen Ausgabe von 1744 findet man gleich die Bemerkungen von Leibniz dazu. mn nn n Kosmos, III. Jahrg. Heft 3. 237 übertrieben ſind. So erzählt z. B. der Verfaſſer des „Thierlebens“, der von der großen Menge und auch von ſich ſelber für _ einen bedeutenden Naturforſcher angeſehen wird, einem Liebhaber allen Ernſtes die Gedächtnißrede auf einen Papageyen nach, welcher Holländiſch, Deutſch und Franzöſiſch verſtand, und der, wenn ihm einmal die paſſende Vokabel in der einen Sprache nicht gleich einfiel, ſie flugs aus der andern Sprache entlieh und namentlich holländiſche Worte ſinnig zwiſchen deutſchen anbrachte. Mehr kann man doch billiger Weiſe von einem Papageyen nicht verlangen, — und da ſollen die Thiere trotz deſſen keine Ver— nunft haben! Teleologie und Darwinismus von Dr. S. Kaliſcher. Berlin 1878. Guſtav Hempel. 71 S. in 8. Dieſes Buch gehört zu den zahlreichen Schriften, welche die Stellung Carl Ernſt von Baer's zum Darwinismus beleuch— ten, und die Gerechtigkeit fordert zu ſagen, daß es dem Verfaſſer vorzüglich gelungen iſt, die Unbeſtimmtheit und das Schwankende des Baer'ſchen Standpunktes darzulegen. Allein der Verfaſſer hat es unterlaſſen, den tieferen Gründen der nicht zu leugnenden Inconſequenz des Baer'ſchen Denkens nach— zuſpüren. Baer war vollkommen geneigt, die Darwin'ſche Theorie in allen ihren Einzelnheiten zuzugeben, und ich glaube, man könnte dies Satz für Satz aus ſeinen affirmativen zerſtreuten Bemerkungen be— weiſen; auf der nächſten Buchſeite aber oder am folgenden Tage ſcheint er freilich wieder von alledem nichts wiſſen zu wollen und das gerade Gegentheil von jenem zu be— haupten. Daran war aber eigentlich nur ein äußerer Umſtand ſchuld, nämlich der, 238 daß die größere Anzahl der Anhänger Darwin's ſeine Theorie ſo auslegt, als ſchließe ſie den Idealismus, zu welchem v. Baer eine ſehr ſtarke Hinneigung be— ſaß, vollkommen aus. Allein dies iſt gänz— lich falſch. Realismus und Idealismus ſind nur zwei verſchiedene Standpunkte, von denen aus wir jede Erſcheinung betrachten können, alſo auch den Darwinismus. Den einen oder den andern Standpunkt einzunehmen, hängt weſentlich von der Gemüthsanlage ab, der peſſimiſtiſch Gefärbte wird zum Realismus neigen, der optimiſtiſch Geſinnte zum Idealismus, aber ſo lange die Ver— treter dieſer beiden Richtungen die That— ſachen und die daraus gezogenen Schlüſſe, ſo weit ſie unabweisbar ſind, anerkennen, kann man nicht ſagen, daß der Eine mit ſeiner Weltauffaſſung mehr Recht habe, als der Andere. Der Eine ſagt, ich ſehe, wie durch die natürliche Zuchtwahl und einige ähnliche Urſachen die Schönheit und Zweck— mäßigkeit der Naturdinge entſtehen konnten, ich halte mich an das, was ich begreifen kann, die Lücken, die mir dunkel bleiben, haben für mich nicht eher Intereſſe, als bis ſie ſich meinem Verſtändniſſe zu öffnen beginnen: das iſt der Realiſt. Der Andere thut noch ein Uebriges, er will keine Zweifel und Lücken, und füllt ſie mit einer trans— cendentalen Anſchauung aus; er kann die Darwin'ſchen Geſetze anerkennen, aber nur in dem Sinne, daß der Urheber des Alls ſich dieſer Geſetze bedient habe, um die Welt zu einem beſtimmten Ziele zu führen. Sein Plus an Ideen gehört nicht mehr der Forſchung an, denn ſie ſind ebenſo wenig zu beweiſen als zu widerlegen, und gerade deshalb will der Realiſt nichts von ihnen wiſſen. Dieſer mag dazu gute Gründe haben, aber auch Jener hat ſie, denn dieſes Plus macht ſein Glück, ſeine Ruhe aus. | Literatur und Kritik. Solche Idealiſten waren Leibniz, Eras— mus Darwin, Ernſt v. Baer, und es wäre dem Letzteren nicht eingefallen, gegen den Darwinismus aufzutreten, wenn er nicht in dem Irrthum befangen geweſen wäre, man müſſe Realiſt fein, um Darwiniſt fein zu können. Und das kam wiederum daher, weil die meiſten Anhänger des Darwinismus (nicht ſein Urheber!) die realiſtiſche Seite übermäßig hervorgekehrt hatten. Dieſelben hatten vielleicht Unrecht, denn zum Weſen des Darwinismus gehört weder die Eine noch die Andere, es ſind, wie geſagt, lediglich zwei verſchiedene Anſchauungsweiſen der— ſelben Sache; wir können durchaus nicht ſagen, auf welcher Seite die Brille gefärbt iſt, obwohl ſie es auf der einen wohl ſein muß. Wie gemäßigt im Uebrigen der idealiſtiſche Standpunkt Baer's war, mag folgendes Beiſpiel beweiſen. Ich hatte in meinem Buche: „Werden und Vergehen“, nach Abweiſung der ſtark idealiſtiſchen Auf— faſſung Wallace's, der zufolge die na— türliche Züchtung einer beſtändigen Ober- leitung bedurft haben ſoll, geſagt: „Wenn man der Darwin'ſchen Theorie Zielloſigkeit vorwirft und ſie deshalb troſtlos findet, ſo läßt ſich bemerken, daß ſie nur das kleinliche Zweckſuchen verwirft, größere all— gemeine Ziele jedoch weder ausſchließt, noch, ſo weit ich ſehe, entbehren kann. Leben, Wirken, Fortſchreiten ſind dieſe Ziele, denn wenn der Lebensdrang und der Fortpflanz— ungstrieb nicht in den Körpern läge, ſo würde es keinen Kampf ums Daſein, keine natürliche Zuchtwahl und keinen Fortſchritt geben.“ In dieſen durch vorhergehende und nachfolgende Bemerkungen noch eingeſchränk— ten Sätzen fand Baer, was er die „Ziel— ſtrebigkeit“ nannte, und erklärte ſich mit dieſem doch wahrlich geringen Entgegen⸗ kommen bereits „vollkommen zufrieden“. Literatur und Kritik. Doch ich gerathe auf Abſchweifungen. Der Verfaſſer hat in ſeinem Buche gezeigt, daß v. Baer faſt überall, wo er gegen den Darwinismus kämpfte, Unrecht hatte, allein es ließe ſich auch zeigen, daß er von ſeinem Standpunkte aus mitunter vollkommen im Rechte war, ſofern er eben nur die einſeitige Auffaſſung des Darwinismus bekämpfte. Aber freilich muß der Idealismus immer den Kürzern ziehen, wenn er ſich in einen wiſſenſchaftlichen Streit einläßt. Er iſt keine Wiſſenſchaft, ſondern ein Gemüthsbedürfniß. K. Profeſſor Dr. Carl F. W. Jeſſen, Deutſche Excurſions- Flora. Die Pflanzen des Deutſchen Reiches und Deutſch-Oeſterreichs nördlich der Alpen mit Einſchluß der Nutzhölzer und Zierhölzer. Mit 34 Original-Holz⸗ ſchnitten. Hannover 1879, Phil. Cohn. 711 S. in 12. Dieſes außerordentlich compendiöſe Buch ſchließt ſich, ſo eng als dies bei dem jetzi— gen Zuſtande der Botanik und einer Flora überhaupt möglich iſt, der Darwin'ſchen Weltanſchauung an, und verdient daher unſererſeits eine eingehendere Berückſichtig— ung. Der Verfaſſer ordnet die Pflanzen zunächſt nach einem Syſtem, welches die großen Abtheilungen nach der Befruchtungs— weiſe abgrenzt, nämlich in Aörogamen, Luftblüthler (Phanerogamen) und in Hygro— gamen, Waſſerblüthler (Kryptogamen). Der Name Kryptogamen für die zweite Ab— theilung war ſchon lange nicht mehr be— rechtigt, und die neue Eintheilung iſt als Pflanzengeographie eingeführt, nämlich ein viel correkter zu loben. Die übrige Ein- theilung iſt von den bisherigen Methoden nicht weſentlich verſchieden, dagegen verräth ſich in der Anordnung der Familien eben— falls der darwiniſtiſche Standpunkt, ſofern die Sympetalen und unter dieſen die Com- poſiten, als die wahrſcheinlich jüngſten Pflan⸗ zen, an die Spitze des Syſtems geſtellt wer— den. „Zu einer Art rechne ich,“ ſagt der Verfaſſer, „alle die Formen (Abarten), welche bei wiederholter Ausſaat in demſel— ben Boden und Klima dieſelbe Geſtalt an— nehmen. Leider ſind ſolche Verſuche bisher nur in ſehr geringem Umfange angeſtellt. Formen, welche im Laufe des Jahrhunderts in der Hoffnung auf künftiges Auf— finden feſterer Charaktere leichthin als be— ſondere Arten aufgeſtellt ſind, habe ich als Abarten eingereiht. Die Wiſſenſchaft wird gefördert durch ſorgſame Zuſammenſtellung aller Abarten unter ſicher umgrenzte Arten, nicht durch unſichere Unterſcheidung vieler angeblicher Arten, noch weniger da— durch, daß Uebergangsformen der Abarten, Krüppel und Mißgeſtalten ohne alle Beweiſe als Baſtarde bezeichnet werden. Iſt auch dauernde Unfruchtbarkeit ein recht ſicheres Kennzeichen wirklicher Baſtarde, ſo iſt die Zahl guter Arten, welche in ein— zelnen oder ſelbſt mehreren Jahren unfrucht— bar ſind, beſonders am Strande, auf Blößen u. ſ. w. keine kleine.“ Die Zahl der Gattungen iſt den neuer- dings ſo zahlreich aufgefundenen Uebergangs— formen gemäß zum Vortheile der Ueber— ſichtlichkeit ſehr verringert worden. In manchen Familien (Gräſer, Doldengewächſe u. ſ. w.) find obendrein die Gattungs- unterſchiede unbedeutend und von geringerem Werthe. Eine beſonders intereſſante Neuer— ung hat der Verfaſſer in Bezug auf die kleines Kärtchen von Deutſchland, kaum halb ſo groß wie ein Fingernagel, welches jeder ſeltneren Art beigedruckt iſt und uns mit einem Blick über die Verbreitung derſelben u 240 orientirt. Daſſelbe iſt nämlich nach folgen— dem Schema in ſechszehn Gebiete getheilt, von denen jedes in dem Miniaturkärtchen durch einen ſeine Stelle einnehmenden Punkt vertreten wird. Schlesw.] Mecklb. Holſtein Vorpom. ee ls Mittel | m... (Holl.) [Hann. Htr⸗Pm. Preußen Rheinpr. Weſtph.] Harz Mark —Poſen 11 Heſſen [Thür. Sachſen Schleſien Süd⸗ |m- 5 Mähr. Rhein Würtbg.] Bayern Böhmen Ne Wer ſich den Punkt merkt, welcher ſeine Provinz in dem kleinen Kärtchen bedeutet, ſieht nicht allein ſofort, ob die betreffende Pflanze daſelbſt vorkommt, ſondern auch zugleich ihre fernere Verbreitung. Als Schlüſſel geht eine diagnoſtiſche Ueberſicht voraus, bei welcher u. a. Holzpflanzen und Kräuter, Landpflanzen und Waſſerpflanzen geſchieden ſind. Außer— dem iſt noch eine Ueberſicht der Gattungen und Familien nach dem Linne'ſchen Syſtem vorhanden, ſo daß die Beſtimmung mög— lichſt erleichtert wird. Eine Reihe von Ab— bildungen, theils Analyſen der ſchwierigeren Familien, theils unregelmäßige Blüthen, theils auch Habitusbilder ſolcher Pflanzen darſtellend, die dem Anfänger regelmäßig Schwierigkeiten bereiten (wie Limosella, Li- torella, Hydrocotyle u. ſ. w.), ſind ange— nehme Zugaben, leider ſind ſie zum Theil zu winzig, um ein klares Bild zu geben. Außer den wildwachſenden Pflanzen ſind zweckmäßig auch die üblichen Nutz- und verbreiteteren Gartenpflanzen, ſowie ſämmt— liche bei uns aushaltende Zierhölzer auf— genommen. Von den Hygrogamen finden wir nur die Filicineen und Characeen be— rückſichtigt. Ein ſehr ausführliches Regiſter mit den Synonymen vermehrt die Brauch— barkeit ungemein. Man muß erſtaunen, welch' eine Unmaſſe Material hier in durch— aus origineller Weiſe zu einem Taſchen— pflegt. Literatur und Kritik. buche vereinigt iſt. Wenn der Druck etwas klein und die vielen Abkürzungen Uebung verlangen, jo muß man das als nothwen— dige Uebel in den Kauf nehmen, ſie wiegen um ſo geringer, als man ein ſolches Buch nur an hellen Sommertagen zu benutzen Die neuen Ideen und die Sorg— falt der Anordnung verdienen unſere vollſte Anerkennung. K. Hesperien. Zur Löſung des religiös— geſchichtlichen Problems der alten Welt von Dr. Joſeph Wormſtall, Ober— lehrer am königl. Gymnaſium zu Münſter in Weſtphalen. Trier 1878, Fr. Lintz'ſche Buchhandlung. 80 S. in 8. Es iſt eine altbekannte Erfahrung, daß Jemand, der namentlich auf mytho— logiſchem Gebiet, einen neuen Gedanken hat oder zu haben glaubt, um denſelben ſofort das geſammte Material gruppirt, und alle Welträthſel erklären zu können glaubt, müßte auch die geſammte bisherige Forſchung da— durch auf den Kopf geſtellt werden. Nad- dem man ſo lange das Paradies im Oſten geſucht hat, beweiſt uns der Verfaſſer des vorliegenden Buches mit einem Aufwand großer Beleſenheit und Combinationsgabe, daß es vielmehr im Weſten, im Herzen Europas, gelegen habe. Warum in die Ferne ſchweifen? Der Paradiesberg Atlas ſei nicht in Afrika oder Aſien, ſondern in den Alpen zu ſuchen, hier und nicht im Norden wohnten die ſeligen Hyperboreer und Aripäer, in ſeinem Süden lag Hesperien— Italien, das Eden, nach dem ſich die aus— gezogenen Völker ewig zurückſehnten; von hier ging alle Kultur- und Bergverehrung nach Oſten, hier bei Patavium ſtand das älteſte Troja, von hier zog Dardanos aus und brachte die Kultur den Griechen u. ſ. w. u. ſ. w. 1 Literatur und Kritik. Ja ſelbſt Dinge, die bisher noch Niemand zu erklären gewußt hat, erklären ſich nun— mehr mit Leichtigkeit, ſo die „überhimm— liſchen Waſſer“ der Geneſis: die Feſte näm— lich, das Fundament, ſei nicht die Erde, wie man bisher geglaubt, ſondern das Ge— birge, welches den Himmel trägt; der ſie rings umfließende Okeanos ſei nicht das Meer, ſondern der Wolkenring, der ſich um die Alpengipfel legt; er ſtellt die überhimm— liſchen Waſſer vor. Als Hauptbeweismomente benutzt der Verfaſſer dabei unter Anderm die Anſichten Max Müller's über den Urſprung der Mythologie aus einer „Sprach— krankheit“ und ähnliche abſurde Vorausſetz— ungen. Was nicht ſtimmt, wird einfach mit dem bekannten, bergeverſetzenden Glauben dahin „verſetzt“, wo es nach der neuen Theorie hin gehört; mit dieſer Manier kann man bekanntlich auf mythologiſchem Gebiet Alles beweiſen, was man nur erdenken kann. Aber die Sache wird damit kaum gefördert. Es iſt nicht unintereſſant, den Inhalt dieſes Buches mit einem Vortrage zu vergleichen, den Geh. Rath Hepke am 3. Mai 1879 in der Berliner geogra— im Anſchluß an die Programmſchrift des die Wormſtall in den Alpen entdeckt zu haben glaubt, vielmehr die alten Chineſen zu verſtehen ſeien. nehmen,“ ſagte Herr Geh. Rath Hepke nach einem uns vorliegenden Bericht, „daß Schriftſtellern ſo oft genannte Volk der Hyperboreer, dieſes glücklichſte, gerechteſte, friedlichſte und einträchtigſte Volk der Erde, das als der beſondere Liebling Apollo's verherrlicht wird, eine reine Erfindung der „Es iſt nicht anzu⸗ 241 Phantaſie ſei, ſondern man darf glauben, daß dieſes Volk entweder, wie ſein Name beſagt, „über den Boreas hinaus“ gewohnt habe oder doch als dort wohnend gedacht worden iſt. Als dieſes Volk glaubt Herr Direktor Gladiſch nach ſeinen, eine Reihe von Jahrzehnten hindurch fortgeſetzten Stu— dien mit immer größerer Sicherheit die alten Chineſen bezeichnen zu müſſen. Das verbindende Glied bildet hier ein nachweis— barer Zuſammenhang zwiſchen der Philo— ſophie des Pythagoras und der uralten religiöſen Weltanſchauung der Chineſen. Dieſe Weltanſchauung, welche nach der Mittheilung des gelehrten franzöſiſchen Miſſionars Amiot auf den beiden heiligen Tafeln Ho-tou und Lo- chou verzeichnet iſt, wurzelt in den Zahlen 1 bis 10, durch welche das Weſen und die Harmonie alles Beſtehenden ausgedrückt werden ſoll. Die Zehnheit umfaßte bei den alten Chineſen das Weſen aller Dinge, auch in der chi— neſiſchen Schrift wird der Begriff des Weltalls durch die Figur Ché, welche die Alles umfaſſende Zehn verſinnlicht, dargeſtellt. Hiermit ſtehen die zehn Weltkörper der phiſchen Geſellſchaft gehalten hat, und der Pythagoreer in Einklang, auch hat ſich bei beiden daraus die mathematiſch-muſikaliſche Gymnaſial-Direktor Gladiſch über „die | Hyperboreer und die alten Schineſen“ zu | beweiſen ſucht, daß unter den Hyperboreern, Weltanſchauung gebildet, welche zu der Entwickelung einer vollſtändigen Weltmuſik geführt hat, da die Muſik nach Anſicht ſowohl der Pythagoreer wie der alten Chine— ſen die Macht hat, im ſittlichen Leben der Menſchen die Harmonie herzuſtellen. Auch wurde die Muſik nicht blos bei den alten Chineſen als Straf- und Er— das von den alten griechiſchen Dichtern und ziehungsmittel benutzt und einem böſen Menſchen ſo lange Zaubergeſänge vorge— geſungen, bis „Wirkung“ erfolgte und er | Beſſerung verſprach, ſondern auch den Py— werden ähnliche Epoden zu— ſich der chineſiſche thagoreern geſchrieben. So wie 242 Urſtaat durch eine Urſprache und eine Ur— bauart ausgezeichnet, ſo war auch der py— Wiederholung dieſes Urſtaats, dieſer Ur— Lehrſatz iſt den Chineſen ſchon 600 Jahre früher bekannt, ſo daß wir auf eine Identität der chineſiſchen und der pythagoreiſchen Weltanſchauung ſchließen können. Fragen wir nun nach dem äußeren Zuſammenhang dieſer Identität, ſo finden weiſen uns viele Sagen und Berichte auf der Hyperboreer. Die deliſche Sage meldet bemerkt iſt, an. eines Reiſenden, des Prokonneſiers Ariſteas, meldet von einer Reiſe ins Land der Iſ— ſedonen, hinter denen die Arimaſpen wohnen ſollten und dahinter die goldhütenden Greife und zuletzt die Hyperboreer „bis an das Meer hinab.“ Der Rhodier Simmias bezeichnet die Hyperboreer auch mit dem Namen der „Halbhunde“ oder „Hunds— köpfe“, ſie wären hiernach alſo ein Volk, deſſen Kopfbildung mit den ſeitwärts auf— fallend hervorſtehenden Backenknochen der des Hundes verglichen wird, eine Bezeichnung für welche die mongoliſche Geſichtsbildung der Chineſen eine Erklärung abgiebt. Herodot beſchreibt den Weg nach den Hyperboreern; einer kritiſchen Unterſuchung unterzogen worden und erhellt daraus Folgendes: Der Weg zu den Hyperboreern iſt eine uralte Handelsſtraße thagoreiſche Bund nichts Anderes als eine dürre Steppe, durchſchnitt das mit Seen familie. Auch der bekannte pythagoreiſche führte in die Nähe des heutigen Niſchnei— wir ihn in dem apolliniſchen Cultus, wie der Vortragende ausführlicher entwickelt. Der von den Hyperboreern ſtammende Apollocultus war die Quelle, aus der Pythagoras ſeine Lehre ſchöpfte. Nun das öſtliche Aſien hin, als den Wohnſitz dies, der Name ſelber kündet es, wie bereits Auch der uralte Bericht ſeine Schilderung iſt durch K. E. v. Baer | für auf das große Werk des Baron v. Tempeln verſehen Colonie Gelonos, zwiſchen ſtythiſch und griechiſch ſprachen. wandte ſich die Karawane wieder nordwärts, Literatur und Kritik. ſkythiſch-griechiſche Karawanen. Er überſchritt den Tanais am Aſow'ſchen Meer, ging durch das Land der Sauromaten, eine angefüllte Waldland der Bukiner, und Nowgorod weiter nach der mit griechiſchen Murom und Kaſan, deren Einwohner Von hier um nach ſieben Tagen ins Land der Thiſſageten zu gelangen, überſchritt hier den Ural, entweder bei dem heutigen Jekatarinenburg oder in der Nähe von Orenburg, und wendete ſich dann ganz nach Oſten über die Ebene der ſkythiſchen Nachbarvölker, bis ſie am Fuße eines Gebirges endlich ins Gebiet der kahlköpfigen, plattnaſigen, mit langem Kinn verſehenen Aripäer gelangte, welche nach v. Baer für Mongolen oder Kalmücken gehalten werden. Der Vortragende unter— ſucht die Frage, wo dieſer Vorpoſten der Mongolen zu finden iſt und entſcheidet ſich mit v. Baer dahin, daß die Colonie der Aripäer ſich an den oberen Zuflüſſen des Jaxartes befindet, und daß der Hauptſtock dieſes Gebirges, des Pamyr, dem weiteren Vordringen der Karawanen ein Ziel geſetzt habe. In der That iſt dieſes Gebirge, „das Dach der Welt,“ wohl hierzu geeignet. Nun dürfen wir aber annehmen, daß ſich die Handelsbeziehungen hier nicht in einer Sackgaſſe verlaufen haben werden, ſondern daß die Mongolen, welche das jenſeitige Gebiet inne hatten, ihre Waaren dorthin brachten und alſo die Fortſetzung des Hero— dotiſchen Handelsweges in das Tarimbecken und Lobnor-Gebiet Inner-Aſiens zu legen ſei. Für die weitere Fortſetzung dieſes Weges bezieht ſich Hr. Geh. Rath Hepke Richt⸗ | hofen über China. Dieſer hervorragende Forſcher und Gelehrte habe bekanntlich die Urſitze der großen Culturvölker in das Tarimbecken in die Gebiete des Oxus und Jaxartes verlegt, auch ſei das Tarimbecken Jahrtauſende hindurch das Gebiet einer mächtigen Handelsſtraße geweſen und es ſei deshalb auch denkbar, daß auf dieſem Wege die uralte chineſiſche Weltanſchauung ihre Wege nach Griechenland gefunden habe.“ Referent glaubt dieſer Gegenüberſtellung nicht Weiteres hinzuſetzen zu brauchen, um es klar hervortreten zu laſſen, wie viele Willkür bei der geographiſchen Fixirung von Mythen ins Spiel kommt, die, von einem Volke zum andern übergehend, möglicherweiſe gar keinen geographiſchen Hintergrund, möglicherweiſe auch mehrere Heimſtätten haben können. Der Menſch und ſeine Ideale. Betrachtungen theoretiſcher und praktiſcher Art von Dr. Leopold Beſſer. Bonn, Emil Strauß, 1878. 264 S. in 8. Der Verfaſſer glaubt, daß es hohe Zeit ſei, immer lauter gegen die Jahrtauſende alte Vorausſetzung zu proteſtiren, „daß es eine pſychiſche, von den kosmiſchen Beweg- ungsformen unabhängige Potenz ſei, die uns die Dinge zeichnen laſſe und überhaupt erſt Erfahrung ermögliche.“ Er verſucht die alte Frage vom Chaos leiſe und ſicher umzudrehen, und ſtatt des alten Dogmas der Philoſophie: „Das Ordnende liegt im Sinn Literatur und Kritik. 243 ſeine Reſultate auf dieſem, wie man meint, völlig abgeernteten Felde, ſcheinen dem Ref. bedeutend genug zu ſein. Von dem theo— retiſchen Gebiete geht er im zweiten Theile zu der mehr praktiſchen Frage nach unſeren Idealen über, indem er die Forderung voranſtellt, „daß die Principien, die prak— tiſche Richtſchnur, die ſittlichen Grundſätze, die Normen und Maximen, die wir im täglichen Leben, in unſeren gegebenen geſell— ſchaftlichen und ſtaatlichen Zuſtänden, vor— finden, nicht im Widerſpruche mit den Re— ſultaten unſeres theoretiſchen Erkennens ſtehen.“ Seine Beobachtungen und Folger— ungen führen ihn dabei zu optimiſtiſchen Anſichten, indem er findet, daß niemals vorher ſo viel praktiſche Menſchenliebe thätig geweſen ſei, wie in unſeren Wohlthätigkeits— Anſtalten und gemeinnützigen Beſtrebungen. Von dieſen und anderen Geſichtspunkten aus tritt er dem Peſſimismus v. Hartmann's u. A. lebhaft entgegen. Das Buch enthält viel originelle und anregende Gedanken und ſei allen Moralphiloſophen beſtens empfohlen. Profeſſor Dr. Friedr. Pfaff, die Natur— kräfte in den Alpen, oder phyſikal. Geographie des Alpengebirges. Mit 68 Holzſchn. München, R. Oldenbourg. 281 S. in 8. Ueberſichtlich geordnet erhalten wir in dieſem Buche eine Sammlung des ziemlich und draußen iſt das Chaos,“ die Erfahr⸗ ungsthatſache zu verdeutlichen: „Im Neu- gebornen iſt das Chaos“, und in den kos- miſchen Bewegungsformen, alſo im Reiz, kommt die Ordnung zu ihm.“ Im erſten Theile ſeines Buches prüft er daher die kräfte“ Bewußtſeinsfrage mit aller Strenge und dem lernbegierigen Alpenfreunde ſehr will— zerſtreuten Materials über die orographiſchen, hydrographiſchen, meteorologiſchen und geo— logiſchen Verhältniſſe der Alpen. Obwohl die Darſtellung etwas trockener iſt, als man bei einem ſo anregenden Vorwurf und dem Zweck des Buches — es bildet den 24. Band der Volks-Bibliothek: „Die Natur- — erwarten konnte, wird es doch 3 kommen fein. Den ſchwächſten Theil bildet, wie uns ſcheint, der Abſchnitt über die Geo— logie der Alpen, welcher kaum den mäßigjten Anſprüchen genügen dürfte. Ausſtellungen ſind eigentlich nur gegen den Titel gerichtet, welcher einfach „Phyſikaliſche Geographie des Alpengebietes“ lauten müßte. In dieſem Falle würde nämlich der Inhalt völlig den Erwartungen entſprechen, die man nach dem Titel hegen muß; das Buch be— ſchäftigt ſich eben nur nebenher mit den ſchaffenden und wirkenden Naturkräften, dagegen vorzugsweiſe mit dem Gewordenen, und das in verdienſtlicher und lehrreicher Ausführlichkeit. Goethe's Werke. Nach den vorzüglich— lichſten Quellen revidirte Ausgabe. — Dreiunddreißigſter Theil: Zur Morphologie. — Zur Mineralogie und Geologie. CLXXXIV u. 567 S. in 12. — Vierunddreißigſter Theil: Zur Meteorologie. — Zur Naturwiſſen— ſchaft im Allgemeinen. — Naturwiſſen— ſchaftliche Einzelnheiten. XVI u. 296 S. — Fünfunddreißigſter Theil: Beiträge zur Optik. — Verſuch, die Elemente der Farbenlehre zu entdecken. — Zur Farbenlehre: Didaktiſcher und Polemiſcher Theil. LXIV u. 619 S. Allein dieſe Literatur und Kritik. Dieſe drei Bände bieten uns die natur— wiſſenſchaftlichen Schriften Goethe's beſſer geordnet und vollſtändiger als alle frü— heren Ausgaben, während die Einleitungen des Herausgebers angenehm orientirend wir— ken, ſo daß dieſelben auch den Beſitzern an— derer Ausgaben beſtens zu empfehlen ſind. Dr. H. Griesbach, Zum Studium der modernen Zoologie. Leipzig und Heidelberg, C. F. Winter'ſche Ver— lagsbuchhandlung. 47 S. in 8. Von einem ziemlich vorurtheilsfreien Standpunkte erörtert der Verfaſſer die Ele— mente des Studiums der Zoologie, welche durch Darwin nicht nur zu einer Wiljen- ſchaft allererſten Ranges, ſondern auch zu „einer allgemeinen und tief eingreifenden Familien-Angelegenheit“ geworden ſei, und betont mit Recht die Wichtigkeit der „All— gemeinen Zoologie“, die nur ausnahms— weiſe mit dem gehörigen Nachdruck gelehrt und ſtudirt werde. Die kleine Schrift ent— hält anregende Gedanken, wenn wir auch | ihre Vorſchläge zur ſtrengen Verbannung des Darwinismus von der Realſchule erſter Ordnung, zum Leſen des Plinius und Strabo, und zur Einführung des Grie— chiſchen auf derſelben nicht für glücklich halten. Der Schluß der Schrift ſpitzt ſich Mit Einleitungen und Anmerkungen her- zu einer ſachgemäßen Erörterung der Real— ausgegeben von S. Kaliſcher. Berlin, | ſchulfrage, namentlich in Hinblick auf das Guſtav Hempel. 1 Studium der Medizin zu. Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig. RAN Js iſt eine merkwürdige und das Nachdenken herausfordernde Er— Ihe ſcheinung in der Culturentwickel— ung der abendländiſchen Völker, daß eine relativ ſo wohl be— gründete und auf gutem Wege ſich befin— dende Naturanſchauung, wie ſie die griechi— ſchen Naturphiloſophen ohne Zweifel ge— ſchaffen hatten, in der Folgezeit nicht blos gänzlich verloren gehen, ſondern auch dafür eine ſo hochgradige Naturverachtung an die Stelle treten konnte, wie wir dieſelbe ge— ſchichtlich wohl zu erklären, nicht aber — und glücklicher Weiſe nicht — gemüthlich noch nachzuempfinden verſtehen. Die Unter— ſuchung der Entſtehungsurſachen dieſer Natur- verachtung iſt nicht blos geſchichtlich inter— eſſant, ſie iſt vielmehr auch für die Gegen— wart und Zukunft inſofern werthvoll, als ſie, ich möchte ſagen: eine prophylaktiſche Bedeutung hat. Indem wir die feindlichen Elemente durchmuſtern, welche gegen Ende . des klaſſiſchen Alterthums und im Mittel- Enkftehungsgeſchichte der Aaturverachkung. Von Prof. Dr. Fritz Schultze. I. Anfänge im klaſſiſchen Alterthum. alter die Sonne der Naturerforſchung unter den geiſtigen Horizont der Menſchheit hinab— drückten, drängt ſich uns von ſelbſt ein Vergleich jener Zeit mit der unſrigen auf. Wir bemerken, daß dieſelben Feinde noch heute leben, wenn fie auch an Macht ver-. loren haben, und daß ſie noch heute be— müht ſind, die Naturerkenntniß möglichſt zum Stiefkind zu machen. Wir zeichnen alſo zugleich die gegenwärtigen Feinde, wenn wir die aus der Vergangenheit in ihrem Weſen erfaſſen. Eine Hauptbedingung, den Sieg zu erringen, iſt ja doch die genaue Kenntniß der Eigenſchaften des Gegners, ſeiner Stellung, ſeiner Mittel, ſeiner Stärken und Schwächen. Wir wollen alſo hier eine Geſchichte der Naturverachtung zu geben verſuchen, zu deren vollem Verſtändniß wir allerdings vorausſetzen, daß der Leſer ſich mit dem Inhalt unſerer früheren Aufſätze im Kosmos) „Ueber das Verhältniß der ) Bd. II, S. 95, 191, 295 u. 397 flgde. Kosmos, III. Jahrg. Heft 4. . — . 7§76,1 m E griechiſchen Naturphiloſophie zur modernen Naturwiſſenſchaft“ vertraut gemacht habe. Bereits die griechiſchen Sophiſten hatten angefangen, den menſchlichen Geiſt von der Natur abzulenken und der Betrachtung der abſtrakten Begriffe zuzuwenden. Bei So— krates ſpielte der abſtrakte Begriff eine ſo große Rolle, daß es ſtets und in jeder Beziehung ſeine Aufgabe war, den allge— meinen Begriff feſtzuſtellen, wobei das dem— ſelben zu Grunde liegende concrete An- ſchauungsmaterial nur eine ganz ungenügende Beachtung fand, und ſo ſehr trat dieſer Allgemeinbegriff in den Vordergrund des Denkens, daß Platon ihm unter dem kamen der „Idee“ ſogar eine reale Exiſtenz, unabhängig vom und außerhalb des menſch- lichen Denkens, zuſchrieb. Aus dieſer Idee wuchs, wie wir früher eingehend zeigten, im Gegenſatz zur materiellen Welt die Ideenwelt hervor, mit der eine Fülle von religiös gefärbten Lehren im engſten Zu— ſammenhange ſtand, die dazu beſtimmt waren, Theorie und Praxis der Menſchheit für die folgenden Jahrtauſende völlig umzuwälzen. Den ſchroffen Dualismus zwiſchen der ma— teriellen diesſeitigen und immateriellen jen— ſeitigen Welt, welchen Platon geſchaffen hatte, ſuchte Ariſtoteles aufzuheben, in— dem er Materie und Idee in einheitlicher Verbindung dachte; aber wir wieſen bereits darauf hin, daß, ſo gut auch die dualiſtiſche Trennung von Ariſtoteles am Anfang ſeines Syſtems überwunden zu ſein ſchien, am Ende deſſelben der Widerſpruch zwiſchen | Materiellem und Ideellem doch auf allen Punkten und in allen Formen wieder zum Durchbruch komme. Gerade dieſe Thatſache iſt für die Entſtehung der Naturveracht— ung von höchſter Wichtigkeit, und wir müſſen | uns deshalb die Grundgedanken des Ariftote- | lismus in kurzem Abriß vergegenwärtigen. Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. Ariſtoteles iſt es, der alle in der griechiſchen Philoſophie vor ihm gefundenen Hauptbegriffe in ſeinem Syſtem zu ver— einigen ſucht: Zunächſt die Begriffe von Stoff und Form oder Materie und Idee. Die Idee iſt bei ihm nicht wie bei Pla— ton etwas von der Materie Getrenntes, ſondern ſie iſt ein dem Stoffe Immanentes. So lange die Ideen außerhalb des Stoffes ſtanden, ſtanden die wirkenden Kräfte, denn dies waren ja die Ideen, außerhalb des— ſelben, mithin war bei Platon die Ma— terie an ſich ganz kraftlos, ohnmächtig und nichtig, das un 5, das relativ Nicht— ſeiende. Wenn dagegen dieſe Kräfte in der Materie ſelbſt ſind, ſo iſt dieſe ein kraftbegabtes, dynamiſches Princip, und ſo faßt denn auch Ariſtoteles die Materie als das dvvausı ôv, in welcher als dem ewigen Sein der dualiſtiſche Gegenſatz mit- hin zunächſt ausgeglichen zu ſein ſcheint. Es iſt ja nun die Aufgabe der in der Materie enthaltenen Ideen oder formenden Kräfte, eben dieſe Materie nach ſich zu geſtalten. Die Löwenidee z. B. geſtaltet den Stoff nach ihrer Form, ſie macht aus der Materie Löwen, und ſo in jedem an— deren Falle. Die Form ſoll ſich alſo in der Materie entwickeln, oder was daſſelbe heißt, der Stoff ſoll von der Idee zu ihrer Form hin entwickelt werden. Offenbar iſt dieſe Entwickelung eine zweckmäßige. Die Idee iſt es, welche, um auf das Beiſpiel zurückzugreifen, die Materie ſo harmoniſch geſtaltet oder zweckmäßig bildet, daß ein Löwe daraus wird. Wir haben es alſo mit einer rein teleologiſchen Naturauffaſſung zu thun. Jedes Ding iſt nichts anderes als das Produkt oder der Ausdruck eines in ihm wohnenden und wirkenden Natur- zweckes, eine Entelechie, wie Ariſto— telles es nennt, d. h. ein Ding, welches feinen Zweck oder feine bildende Kraft in ſich ſelbſt trägt. Das Werden der Natur beſteht in dieſer zweckmäßigen Entwickelung, der wir jetzt noch näher auf den Grund gehen müſſen. Der Stoff ſoll geſtaltet werden nach den in ihm wohnenden Ideen. Nun ſetzt die Geſtaltung des Stoffes doch alle— mal eine Bewegung der Theile deſſelben voraus. Mithin iſt die nothwendige Be— dingung dieſer zweckmäßigen Geſtaltung der Natur die Bewegung der Materie, und zwar die Bewegung, bewirkt durch die im Stoffe vorhandenen Ideen. Jedes Natur— ding iſt alſo in ſteter zweckmäßiger Beweg— ung befindlich. Es wird bewegt von einem Anderen, und es ſelbſt bewegt wieder ein Anderes. Es iſt demnach ein Bewegt— Bewegendes. Die Urſachen dieſer Be— wegung ſind zunächſt die Ideen; aber wo— her haben dieſe ihre bewegende Kraft? Es muß doch einen erſten Anfang der Beweg— ung geben, eine erſte Urſache, die alle Bewegungen in der Welt erſt bewirkt hat. Wenn wir alſo auch zunächſt in der Er— klärung der Bewegung der Naturweſen auf die Bewegung der Ideen kommen, ſo müſſen wir doch darüber hinaus nach der erſten Urſache aller Bewegung auch für die Ideen fragen. Offenbar muß dieſer Anfang aller Bewegung ein Bewegendes ſein. Aber wenn dieſes erſte Bewegende ſelbſt von einem Andern bewegt würde, ſo wäre es ja nicht das erſte Bewegende; mithin iſt das erſte Bewegende ſelbſt ein Unbe— wegtes, und ſo ergiebt ſich die berühmte ariſtoteliſche Formel für das primum mo— vens: Die erſte Urſache aller Bewegung iſt das Unbewegt-Bewegende, das AxivnTod xıvodv. Hier find wir an der Stelle angelangt, wo in Ariſtoteles' Gedankengang der 1 Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. 247 Dualismus wieder unaufhaltſam hervor— bricht. Alle Naturdinge ſind bewegt und bewegend. Das Unbewegt— Bewegende ſteht alſo im vollen Gegenſatz zu dem Bewegt-Bewegenden, kann alſo ein Naturding nicht ſein. Mithin iſt das Unbewegt-Bewegende, der Anfang aller Bewegung, ein Außer natürliches und Ueber natürliches; mithin iſt es auch außer⸗ und überſinnlich und liegt demnach nicht in der Erfahrungswelt. Die Erfahrungswelt iſt die ſtoffliche Welt. Das Unbewegt-Bewegende iſt alſo auch kein Stoffliches: Es iſt unſtofflich, imma— teriell. Als Unſtoffliches iſt es auch nicht dem Schickſal alles Stofflichen, der Ver- gänglichkeit, unterworfen: Es ift mit- hin ein Ewiges. Das Unbewegt-Be— wegende, außernatürlich, übernatürlich, im- materiell, ewig, wie es iſt, iſt demnach nichts Anderes, als die Gottheit ſelbſt, 6 Ieoc. Und fo fehen wir alſo, wie in dieſer Gedankenfolge des Ariſtoteles, obgleich zuerſt Materie und Idee, Stoff— liches und Unſtoffliches völlig zuſammen— gelöthet ſchien, am Ende die Löthung doch wieder aus einander bricht, und genau wie bei Platon ein Gott erſcheint, der, völlig transcendent, im ſchroffen Dualismus der Welt gegenüberſteht. Was finden wir alſo als das letzte Facit und das Hauptreſultat der griechiſchen Philoſophie in ihren beiden höchſten Kory⸗ phäen? Das bedeutſamſte Endergebniß ihres Philoſophirens iſt der Dualismus von Stoff und Form, von Materiellem und Immateriellem, von Körper und Geiſt, von Welt und Gott, und deshalb der Dua— lismus auf all den Gebieten, die überhaupt unter dem maßgebenden Einfluß jener Grund— begriffe ſtehen. Die dualiſtiſche Weltan⸗ ſchauung iſt mithin von den größten Denkern — 248 der Zeit proclamirt, wirklich Neues wird auf philoſophiſchem Gebiete in den nächſten zwei Jahrtauſenden nicht mehr erzeugt, und ſo bleibt denn naturgemäß dieſe Folgezeit unter dem Banne dieſes Dualismus stehen Das Denken wen— det ſich ausſchließlich und allein den Ideen, dem Ueberſinnlichen, dem Immateriellen, der Gottheit zu, womit ſchon geſagt iſt, daß die Natur und ihre Wiſſenſchaft immer mehr in den Hintergrund tritt, bis ſie end— lich dem Intereſſe des Menſchen ganz und gar entſchwindet. Hinſichtlich der Entſteh— ungsurſachen der Naturverachtung werden wir alſo zu zeigen haben, wie in dieſer Zeit die religiöſen Vorſtellungen und my— ſtiſchen Syſteme immer üppiger empor— ſchießen, und in demſelben Maße die Liebe zur Natur immer gründlicher verkümmert, bis fie endlich von einem wahrhaften Natur- haß völlig verſchlungen wird. Mit Pla— ton und Ariſtoteles, deren Vorläufer Sokrates und die Sophiften, beginnt in der Entwickelung des menſchlichen Denkens die Pflege der abſtrakten Begriffe im Ge— genſatz zur Pflege der conereten Natur- erſcheinungen, und es geſchieht alſo in die— ſem langen Zeitraume nichts anderes, als daß die von jenen Philoſophen geſchaffene Ideenlehre praktiſchen Einfluß auf die Menſch— heit gewinnt und zwar ſo ſehr, daß ſie die geiſtige wie die materielle Welt derſelben völlig nach ſich umgeſtaltet. Indem die Ideen— lehre ſich nach allen Richtungen hin ausbreitet, trifft ſie mit einem Gedanken— ſtrome zuſammen, der von Judäa ausgeht. Aus der Vereinigung jener helle— niſchen und dieſer jüdiſchen Elemente geht das Chriſtenthum hervor. Dieſes genauer darzu— legen, wird ebenfalls unſre Aufgabe ſein müſſen, wollen wir das Entſtehen der höchſten Potenz der Naturverachtung gründlich begreifen. Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. Schon jetzt verſtehen wir aber, warum ſowohl Platon als beſonders Ariſto— teles von der Kirche des Mittelalters als ihre Haupt- und Grundphiloſophen aner— kannt werden konnten, und zwar ſo, daß für die nächſte Zeit der Entſtehung des Chriſtenthums Platon grundlegend wird, im Mittelalter dagegen Ariſtoteles anfängt Platon zu verdrängen, ſo daß der Stagirit, wenigſtens in der Faſſung des Thomas von Aquino, der eigentliche Kirchenphiloſoph der katho— liſchen Kirche bis heutigen Tages geblieben iſt. Daß Ariſtoteles zu dieſer aus— gezeichneten Ehre gelangt, dazu tragen aller— dings außer den angeführten Gründen noch eine Reihe anderer Urſachen bei. Mit Ari— ſtoteles iſt die große Entwickelungsperiode der griechiſchen Philoſophie und des klaſſiſchen Griechengeiſtes überhaupt zu Ende. Von den Epigonen wird nichts mehr an neuen bahnbrechenden Ideen hervorgebracht. Ari- ſtoteles hat in ſeinem Syſtem alles ver— einigt, was an bewegenden Gedanken bis dahin aufgetreten iſt. Nicht blos bezieht ſich dies auf die metaphyſiſchen Grund⸗ principien, auch die ſämmtlichen empiriſchen Kenntniſſe des Alterthums ſind in ſeinen Werken aufgeſpeichert. Was auf dem Ge— biete der Naturforſchung, der Politik, der Ethik, der Aeſthetik oder welches Feld wir ſonſt nehmen mögen, der antike Geiſt an Hauptgeſichtspunkten erzeugt hat, Arifto- teles hat es mit dem Bienenfleiße des raſtloſen Gelehrten geſammelt. So ſind ſeine Werke eine große Encyklopädie der Wiſſenſchaften geworden, und dieſe Geltung behalten ſie bis in das 16. Jahrhundert hinein. Die Wiſſenſchaften werden von nun an aus Ariſtoteles geſchöpft. Aber nicht blos, daß er dieſes empiriſche Material in ſeinen Werken aufgehäuft hat, er hat Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. es auch, wenigſtens im Sinne des Mittel— alters, vollkommen cauſal durchdrungen und erklärt; er ſcheint alſo das Welträthſel voll— ſtändig gelöſt zu haben. Seine Erklärungs⸗ principien, die logiſchen Kategorien, die Be— griffe der Materie, der Entelechie, der Be— wegung, des Unbewegt-Bewegenden u. ſ. w. ſtehen da wie erzene Säulen, auf denen die Welt bis zur ewigen Gottheit hinauf zu ruhen ſcheint. Zwar Baco von Ve— rulam ſagte, Platon habe die Natur- auffaſſung durch Theologie, Ariſtoteles ſie durch logiſche Kategorien verdorben. Was aber Baco dem Ariſtoteles zum terielle handelt, fortgeſetzt innerhalb des Gebietes des Materiellen liegen. Wo aber plötzlich ein ganz anderes Genus eingeführt Vorwurf macht, gerade das hebt ihn hoch in den Augen des Mittelalters. Er hat die logiſchen Kategorien geliefert, nach denen die beſten Geiſter der nächſten zwei Jahr— tauſende ihr Denken reguliren. Was über die Bildung der Begriffe, das Urtheilen, Schließen und Beweiſen das Alterthum Scharfſinniges entdeckte, er hat es in ſeinen logiſchen Werken ſo meiſterhaft bearbeitet, daß ſelbſt für uns ſeine Formulirungen noch muſtergültig ſind. Schriften werden das Organon des Denkens und Forſchens für die Folgezeit, und ſo denken hat. nüge, wie Ariſtoteles zu ſeiner unum⸗ ſchränkten Herrſchaft über die Geiſter kom— men konnte und mußte. naturwiſſenſchaftlichen Entwickelungsproceß, in welchem den religiöſen Syſtemen der Boden bereitet wird, iſt die Begründung dreier philoſophiſcher Richtungen, die ganz und gar unter dem Einfluß jenes platoniſch— ariſtoteliſchen Dualismus ins Leben gerufen werden, nämlich des Skepticis mus, 249 des Epikureismus und des Stoi— cis mus. 1) Der Skeptieismus. Wo der Dualismus anfängt, hört die Möglichkeit der Erkenntniß allemal auf. Denn die Erkenntniß fordert eine wider- ſpruchslos in ſich zuſammenhängende Kette von Urſachen und Wirkungen. Dieſe feſt geſchloſſene Continuität der Cauſalreihe ſetzt aber voraus, daß Urſache und Wirkung ſtets von einer und derſelben Art, daß fie ejus- dem generis find; alſo, daß Urſache und Wirkung, wenn es ſich z. B. um das Ma⸗ wird, reißt die einmüthige Kette des Cauſal— nexus ab, und wir ſtehen dann vor einer Kluft, die wir nicht zu überbrücken ver⸗ mögen. So iſt demnach die Erkenntniß allemal da unmöglich, wo das Immaterielle | als Erklärungsgrund für das Materielle geſetzt wird. Dieſe logiſchen Denn erſtens kennen wir ja das Immaterielle in ſeinem Weſen und ſeinen Eigenthümlichkeiten nicht: es iſt nie— mals Gegenſtand der Erfahrung, der Wahr- liefert er nicht blos den Stoff des Denkens, | ſondern auch das Inſtrument des Denkens | und zeigt die Methode, wie man richtig zu So erklärt es ſich zur Ge nehmung, es iſt keine Erſcheinung. Selbſt das, worauf man als auf einen Erkennt— nißgrund für das Immaterielle hinweiſt, unſer Denken, iſt ja an materielle Grund- lagen gebunden und nie ohne dieſe vor⸗ handen, ſo daß wir auch da, wo wir allein hoffen könnten, es zu erfaſſen, nämlich in Der erſte Schritt nun in dem anti- den Vorgängen unſeres Denkens, keine Ein- ſicht in ſein Weſen erhalten können. Wir wiſſen alſo nicht, was das Immaterielle iſt, mithin wiſſen wir auch zweitens nicht, wie es wirkt. Wir dürfen das Wirken des Immateriellen natürlich nicht nach der Analogie des Wirkens des Ma- teriellen beurtheilen, die Wirkungsweiſe des U 250 Materiellen alſo nicht zur Erklärung auf das Gebiet des Immateriellen übertragen, denn beide ſind ja gänzlich verſchieden. Wir tappen alſo völlig im Dunkeln hin— ſichtlich ſeiner Wirkungsweiſe, ſogar inner— halb ſeines eigenen Genus, wir kennen alſo drittens erſt recht nicht, wie nun das Immaterielle wirken ſoll auf das abſo— [ut entgegengeſetzte Materielle, mit dem es ja auch nicht einen einzigen Punkt identiſch hat. Wo demnach der Dualismus ausge— ſprochen wird, da muß gleichzeitig die Un— möglichkeit der Erkenntniß mit ausgeſprochen werden, und ſo iſt denn der erſte conſe— quente Schritt, den jetzt die nachariſtoteliſche Philoſophie unter dem Druck dieſes Dua— lismus thut, zu erklären: Erkenntniß giebt es nicht. Die Philoſophie, welche ihr Haupt erhebt, iſt der Skepticis— mus, der mit Energie und im Selbſt— bewußtſein ſeines Rechts ſich Luft zu machen ſucht. Schon unmittelbar nach Arifto- teles wird dieſer Skepticismus verkündigt durch Pyrrhon von Elis, nach welchem er deshalb auch als Pyrrhonismus bezeichnet wird; aber es iſt ſehr charakteri— ſtiſch, daß er mit aller Schärfe in Pla— ton's Schule ſelbſt hervorbricht. Es iſt die ſogen. mittlere Akademie, eine Weiterentwickelung der platoniſchen Schule, welche auf Grund des Platonismus und ſeines Dualismus die Unmöglichkeit der Erkenntniß behauptet und den Zweifel an Allem als das einzig richtige Princip pro— clamirt. Mit Sicherheit können wir nichts erkennen; anſtatt einer Wahrheit giebt es höchſtens eine unſichere Wahrſcheinlichkeit; man thut in allen Fällen am beſten, ſein Urtheil zurückzuhalten — das ſind die Re— ſultate, die jetzt gewonnen werden. Und dieſer Skepticismus iſt viel wirkungsvoller Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. und durchgreifender und deshalb viel be— denklicher, als der Skepticismus, den wir bei den Sophiſten vor Sokrates finden. Der Skepticismus der Sophiſten lag noch vor der gewaltigen Entwickelungsperiode der griechiſchen Philoſophie, wie ſie in Sokrates, Platon und Ariſtoteles heranwächſt. Er hatte hinter ſich nur erſt die Naturphiloſophie und ſchöpfte aus den Widerſprüchen dieſer den Beweis für die Unmöglichkeit der Erkenntniß. Der jetzige Skepticismus dagegen hat die große Entwickelung der ganzen griechiſchen Phi— loſophie hinter ſich und kann deshalb von ſich ſagen und ſagt es: Das einzige Re— jultat alles Forſchens und Denkens über- haupt iſt nichts Anderes als die Einſicht in die Unmöglichkeit des Erkennens. Ich, der Skepticismus, bin das einzig Mög— liche, die alleinige Wahrheit, das A und das O des menſchlichen Denkens. Dieſer | Skepticismus wird deshalb auch im Alter- thum kritiſch und erkenntniß⸗theoretiſch nicht mehr überwunden, wie der Skepticismus und Nihilismus der Sophiſten durch So— krates überwunden wurde. Er bleibt und unterhöhlt fortgeſetzt die Fundamente des antiken Weſens; er zerfrißt die geniale Selbſtſicherheit des klaſſiſchen Geiſtes und nimmt eifrig Theil an der Arbeit, den Zuſammenſturz der vorchriſtlichen Weltan— ſchauung herbeizuführen. Bald ſteigt er auf zu größerer Höhe, bald ſinkt er wieder herab zu geringerer Wirkſamkeit, aber bis weit in die chriſtliche Zeitrechnung hinein macht Der ſich geltend, und erſt da verſchwindet er, wo der chriſtliche Glaube ſo erſtarkt iſt, daß er als Welteroberer die Zweifellehre, die ihm mit zum Siege verholfen hat, ſelbſt diktatoriſch zu Boden werfen kann. Welches iſt nun der Einfluß, den dieſer Slkepticismus auf das wiſſenſchaftliche Den— Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. ken und Forſchen ausübt? Wenn es uns | möglich iſt, theoretiſch irgend etwas mit Sicherheit hinzuſtellen, ſo iſt damit auch ausgeſprochen, daß es Thorheit wäre, ſich mit wiſſenſchaftlichen Problemen irgendwie abgeben zu wollen. So liegt in dieſem Skepticismus die unmittelbare Anleitung, von jeder gründlichen Beſchäftigung mit wiſſenſchaftlichen Unterſuchungen ſich abzu— wenden. Mithin wird nicht blos die Natur- wiſſenſchaft, ſondern auch alles übrige ge— ſunde philoſophiſche Denken bei Seite ge— ſchoben werden. Durch Mangel an Uebung im Denken und Forſchen büßt jetzt natur⸗ gemäß der menſchliche Geiſt an Kraft ein und ſinkt von ſeiner früheren Höhe herab, und die unmittelbare Folge dieſer Trägheit und Schwäche im Denken iſt natürlich die Hinneigung zu zügelloſen Phantaſtereien und der dunkeln Myſtik des Wunderbaren, von deren trüben und regellos hereinbrechenden . Fluthen die fruchtbare Ackerkrume natür— licher Cauſalerkenntniß bald völlig weg— geriſſen wird. Zu demſelben Reſultat führt aber auch die andere philoſophiſche Richtung, die ſich neben dem Skepticismus und zum Theil unter ſeinem Einfluß Bahn bricht und deſſen Wirkung beträchtlich vergrößert. 2) Der Epikureis mus. Wenn es ganz unmöglich iſt, irgend eine theoretiſche Sicherheit zu gewinnen, ſo bleibt offenbar für das Intereſſe des Menſchen das Feld der praktiſchen Lebensführung als Gegenſtand ſeines Nachdenkens allein übrig, und es beſchäftigt ihn nur noch die einzige Aufgabe, wie er ſich ſein Leben ſo glücklich wie möglich geſtalten könne. Das theo— retiſche Erkennen wird alſo zu Gunſten rein praktiſcher Fragen der menſchlichen 251 Glückſeligkeit bei Seite geſchoben. Wie können wir glücklich leben? Dieſe nunmehr brennend gewordene Zeitfrage will Epikur (geb. 341 v. Chr.), eine groß— artige und keineswegs im Sinne des Schlem— mers, der Carricatur des echten Epikureers, zu denkende Perſönlichkeit beantworten. Um glücklich zu leben, müſſen wir uns zunächſt von alle dem befreien, was uns unglücklich macht, alſo von dem ganzen Heer der Leiden, denen der Menſch ausgeſetzt iſt. Volle Leidensfreiheit in körperlicher wie geiſtiger Beziehung iſt alſo die negative Beding— ung zum Glück. Aber poſitiv werden wir erſt dadurch glücklich, daß wir wirklich genießen. Der höchſte Gipfel, nicht blos des materiellen, ſondern vor allen Dingen des geiſtigen Genuſſes, auf welchen Epikur ein ganz beſonderes Gewicht legt, muß er— ſtiegen werden, will man der Glückſeligkeit ſich theilhaftig machen, und nun rechnet Epikur mit außerordentlichem Scharfſinn alle die Bedingungen aus, durch welche der Menſch ſich zu dieſem Zuſtand höchſter Be— friedigung erheben kann. Um fortgeſetzt genießen zu können, dazu gehört vor allen Dingen die fortgeſetzte Erhaltung der Genußfähigkeit. Dieſe wird aber nur dann vollſtändig bewahrt, wenn der Genuß nur ſelten und in mäßi- gem Grade geſucht wird. Zu viel genießen macht in jedem Falle unfähig zum Genuß: Die Genüſſe ſind der Tod des Genuſſes. Mäßig genießen! iſt darum der erſte Grund— ſatz, den Epikur ausſpricht, und erſt der ſpätere Epikureer ſinkt, fern von der gei— ſtigen Größe des Stifters der Schule, in den Abgrund der Schlemmerei hinab, wo die Horaziſche Bezeichnung „sus de grege Epicuri“ auf ihn paßt. Der echte Epi- kureer dagegen iſt der durch und durch mäßige Mann, der ſich für die feinſten 252 körperlichen wie geiſtigen Genüſſe fort- während friſch erhält. Was nun die Welt- und Naturauf- faſſung des Epikureers anbetrifft, ſo kann offenbar nur ein ſolches Syſtem ihm ge— nügen, das möglichſt genau zu ſeinem Glück— ſeligkeitsideale paßt. Eine Welt, wie Pla- ton ſie wollte, voll von dämoniſchen und fataliſtiſchen Einflüſſen, die mit unberechen— barer Willkür den Menſchen ergreifen und ſeinem Glücke entreißen können, iſt dem Epikureer unheimlich. Eine ſolche Welt— auffaſſung mit ihren Geſpenſtern und trüben Nebeln flößt dem Gemüthe Furcht ein und quält die Einbildungskraft mit allerlei Be- denken und Schauern, welche die Behaglich— keit des Genuſſes zerſtören. Darum denkt ſich der Epikureer die Welt blos als Na— tur; etwas Uebernatürliches kann und darf es für ihn nicht geben, und ſo iſt denn die Lehre Demokrit's, der rein atheiſtiſche Materialismus, die phyſikaliſche Grundlage für die ethiſche Lehre des Epikureismus. In dieſer Welt des bloßen Stoffes, wo alles nur nach mechaniſchen Urſachen und Wirkungen geſchieht, giebt es keine unheim lichen Dämonen, kein Fatum, das den Menſchen in ſeiner deſpotiſchen Launenhaf— tigkeit grundlos überfallen könnte; die Götter werden (eine andere Art der Götterdämmer— ung) von Epikur aus der Natur hinaus in die leeren Zwiſchenräume zwiſchen den verſchiedenen Welten verbannt, und es wird ihnen, mediatiſirt wie ſie ſind, nicht der Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. proclamirt und doch die Herrſchaft über die Genüſſe gefordert. Nicht der Menſch ſoll dem Genuß, ſondern der Genuß dem Men— ſchen unterthan ſein. Der Genuß ſoll nicht an ſich letzter Zweck, ſondern nur Mittel zur Glückſeligkeit ſein. Bei ſchwachen Cha— rakteren, alſo bei der Mehrzahl der Men— ſchen, wird ſich aber dies Verhältniß ſtets umkehren, zuerſt der materielle Genuß den geiſtigen ganz und gar verdrängen, und dieſer dann ſelbſt in üppige Maßloſigkeit und wüſte Schlemmerei ausarten. Und das ſind denn auch die Früchte, die der Epi— kureismus wirklich trägt. Wolluſt und Völlerei glauben durch Epikur ihre phi- loſophiſche Begründung und Rechtfertigung erhalten zu haben, und tragen mit der furcht— baren Schamloſigkeit, wie ſie in ſpäterer Zeit uns Juvenal's Satiren ſchildern, ihre geile Nacktheit zur Schau. Die Folge davon iſt körperlicher wie geiſtiger Verfall, und noch wirkſamer als der Skepticismus befördert ſomit der Epikureismus das Ent— ſtehen von Schwäche und Faulheit im Den— ken. Trotzdem, daß Epikur ja gerade die Natur als verehrungswürdige Göttin auf den Thron erhoben hatte, als welche ſie auch ſeinen congenialen Jüngern, wie dem Lu crez, erſcheint; trotzdem, daß man erwarten ſollte, gerade von hier aus die Naturwiſſenſchaft einen neuen Aufſchwung nehmen zu ſehen — zeigt ſich, daß in dem | geringſte Einfluß auf die Natur und Men- ſchenwelt gelaſſen. Wenn dies in kurzen Zügen das Bild des Epikureismus iſt, ſo liegt es auf der Hand, daß, um wirklich im Sinne deſſel-⸗ ben zu leben, es außerordentlich ſtarker und willenskräftiger Charaktere bedarf. es wird ja hier der Genuß als Princip Denn 1 bloßen viehiſchen Genuß des Natürlichen das wahre Intereſſe an der Natur bald zu Grunde geht. Völlige Theilnahmlaoſigkeit für jede ernſte Forſcherarbeit über Welt und Natur vernichtet bald jedes Verſtändniß für das wirkliche Weſen derſelben, abergläubiſche Phontaſterei ſetzt ſich dafür an die Stelle, und ihr Myſticismus leitet von ſelbſt hin- über zur poſitiven Naturverachtung. Auch der Stoicismus endlich, ſo würdig ſonſt Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. ſeine äußere Erſcheinung iſt, wirkt doch in letzter Inſtanz an der Heraufbeſchwörung dieſes Zeitverhängniſſes mit. 3) Der Stoieismus. Bei genauerer Betrachtung hat Epikur die Bedingungen zur ſicheren Erreichung der Glückſeligkeit doch nicht richtig angegeben. Die Frage: wie werde ich glücklich? muß tiefer, gründlicher, ethiſcher gefaßt und be— antwortet werden, und eben das erſtrebt der | Stoicismus, deſſen Begründer Zeno von v. Chr.). Worin iſt offenbar der Epi- kureismus mangelhaft? Das Glück ſoll beſtehen in der Leidensfreiheit und im Genuß. Aber wir können die Leidens freiheit nicht ohne weiteres befehlen; die ganze Fluth körperlicher, geiſtiger und ge— müthlicher Leiden in der Welt ſtürzt auf uns ein, und wir können ihr nicht ent— fliehen. unrealiſirbare Chimäre. Und wenn mein Glück abhängig iſt vom Genuß, ſo iſt es So bleibt die Leidensfreiheit eine gehren, als was er in ſich ſelbſt findet. Das Nächſte nach dem „Begehre nichts!“ iſt deshalb der zweite Satz: Sei dir ſelbſt genug! Die Selbſtgenügſamkeit iſt das nothwendige Correlat der Begierde— loſigkeit. Wenn ich wirklich von der Welt nichts mehr begehre, wenn ich alles aus mir ſelbſt ſchöpfe, ſo wird auch nichts in der Welt mehr mich aus dem ruhigen Gleichgewichtszuſtande meines Gemüths her— ausbringen können, nichts mich bewegen und erregen oder gar erſchüttern können. Was Cittium wird (lebte zwiſchen 350 und 258 könnte man mir anhaben? Ich will nichts. Man könnte mir das Leben nehmen — auch das begehrt der Stoiker nicht. Es giebt kein Daſeinsverhältniß mehr, daß ihn erſchüttern könnte. So iſt neben der Be— gierdeloſigkeit und Selbſtgenüg— ſamkeit die Unerſchütterlichkeit die dritte Bedingung zur Erreichung voll- endeter Glückſeligkeit. Offenbar muß nun der Stoiker alle Mittel aufſuchen, die zur Erlangung und offenbar auch abhängig von den Gegenftän- | den des Genuſſes, den Genußmitteln. Fehlen mir jemals dieſe, wo bleibt mein Glück? Ja, die Entbehrung nach dem Beſitze wird den Mangel um ſo ſchmerzlicher empfinden laſſen. Darum ſagt der Stoicismus: Nur dann biſt du glücklich, wenn du überhaupt keinen Mangel irgend welcher Art empfindeſt. Wer begehrt, empfindet Mangel, denn be— gehren iſt vermiſſen, iſt haben wollen, was hin von jedem Unglück dich befreien, ſo mußt du aufhören, irgend etwas zu be— gehren. Begehre nichts! lautet die erſte große Mahnung des Stoicismus. Der Menſch muß alſo ſich ſelbſt vollkommen | genug fein, nichts anderes brauchen und be Erhaltung dieſer unerſchütterlichen Gemüths— ruhe des Weiſen dienlich ſind. Das iſt der Grund, warum die ſtoiſche Schule ihr Augenmerk vorzugsweiſe auf die Pflege der Logik richtet. Der Grund davon iſt leicht einzuſehen. Der Stoiker muß in allen ſeinen Ueberzeugungen und in ſeiner geſammten Weltauffaſſung unverrückbar feſt wurzeln können. Was er für richtig hält, muß er ſich und Anderen gegenüber auch als abſolut | richtig durch zwingende Schlüſſe beweiſen man leider nicht hat. Wer aber Mangel empfindet, iſt unglücklich. Willſt du mit können. Die formale Richtigkeit, wie ſie die Logik verbürgt, iſt ihm alſo ein kräf— tiges Mittel zur Fundamentirung ſeiner Glückſeligkeit. Auch feine Welt- und Naturauf⸗ faſſung muß er ſeinen ethiſchen Ideen entſprechend geſtalten. Wie beim Epikureis⸗ mus, ſo beſtimmt auch hier die Ethik die Kosmos, III. Jahrg. Heft 4. 34 em unverſtändig. 254 Wahl der Phyſik. Es iſt die Weltanſchau— ung Heraklit's, zu welcher der Stoicis— mus ſich bekennt. Nach Heraklit be— findet ſich Alles in einem ewigen, unabän— derlichen Fluſſe. Der ganze Weltlauf, wie der einzelne Menſch, hängt an dieſer ehernen, unzerreißbaren Kette von Urſache und Wirk— ung: davon giebt es keine Ausnahme, da— gegen keine Nichtigkeitsbeſchwerde. Der natür— liche Cauſalnexus iſt das große Schickſal aller Weſen und Dinge. Lehne dich nicht unnützer Weiſe auf gegen dieſen unwider— ſtehlich alles mit ſich fortreißenden Strom! Laß dich von den Ereigniſſen, auch wenn ſie dir ungünſtig ſind, nicht erſchüttern, denn über das Nothwendige zu trauern, wäre Die Unerſchütterlichkeit muß ja jede traurige Gemüthsſtimmung aus— ſchließen, der Stoiker muß alſo Alles als ſchlechthin nothwendig auffaſſen. Zu dem echten Stoiker gehört ohne Zweifel noch in höherem Maße als zu dem echten Epikureer ein gewaltiger Charakter, und die ſtoiſche Schule hat einige Vertreter aufzuweiſen, die in dieſer von der Welt ſich abwendenden Selbſtgenügſamkeit ganz und gar im Sinn des urſprünglichen Chriſten— thums denken, ſo daß man aus den Sätzen der Stoiker Epiktet und Mark Aurel und den Ausſprüchen des Apoſtels Paulus mit Leichtigkeit eine förmliche Evangelien— harmonie zuſammenſtellen könnte. In dieſen großen Charakteren iſt auch der Stoicismus groß. Aber in den kleinen Geiſtern artet die Begierdeloſigkeit zu einem blaſirt-vor⸗ nehmen Naſerümpfen über die Unannehm— lichkeit der Berührung mit der Welt aus, deſſen wahres Motiv Unfähigkeit im Han— deln und bequeme Faulheit iſt. Die Selbft- genügſamkeit entpuppt ſich als kraſſer Egois— mus und hochmüthige, in der Einbildung eines nicht vorhandenen perſönlichen Werthes Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. ſich blähende Eitelkeit, die ſtolz und rück— ſichtslos über die Häupter der Anderen hin— wegſchreiten möchte, und für Unerſchütter— lichkeit wird in philoſophiſcher Schönfärberei Das ausgegeben, was in Wahrheit nur gänzlich intereſſeloſe geiſtige und gemüth— liche Stumpfheit iſt. Es geht alſo dem Stoicismus wie dem Epikureismus: er wird ſeiner ethiſchen Tiefe bald beraubt, und nur die Verrottetheit der Zeit iſt es, welche ihre Fehler mit ſeinen ſchnell verdrehten Principien zu bemänteln und zu verhüllen ſucht, wovon die Folge, daß dieſe verunſtalteten Principien den ſchon vorhandenen Zeitübeln nun erſt recht neuen Antrieb und Nahrung gaben und dieſelben ſomit erweitern und vergrößern. Wie könnte mit ſo blaſirter Faulheit, mit ſo ſtumpfer Intereſſeloſigkeit noch irgend welches ein— gehende Studium der Natur und ihrer Erſcheinungen ſich vertragen? Auch Spi— noza wollte „nichts betrauern, nichts belachen, nichts verabſcheu— en“, aber er fügte dieſem ſeinem berühm— ten Satze das Wort hinzu „aber alles erkennen“. Dieſen Zuſatz vergißt der Stoicismus nur allzuſehr und wird damit eine neue Triebfeder zur Abwendung von der Natur, und eine neue Quelle für die Entſtehung der Naturverachtung. Die ein— zigen theoretiſchen Unterſuchungen, die er anſtellt, die rein logiſchen, ſind nicht geeignet, dieſem Entwickelungslauf eine an— dere Richtung zu geben, vielmehr befördern ſie den Proceß, da ſie ſich rein auf das Abſtrakt-Begriffliche beziehen, ſo daß für die Erforſchung des Concret-Na— türlichen auch nicht einmal ein Minimum von Zeit und Kraft übrig gelaſſen wird. Die erſte Gruppe der Urſachen für die Entſtehung der Naturverachtung, die dem Geſagten zufolge bis in die Höhezeit I TTT: e 2 — ee en . Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. des klaſſiſchen Alterthums hineinreichen, haben wir damit dargelegt: Die Sophiſten, Sokrates, Platon und Ariſtoteles lenken das Augenmerk auf das rein Abſtrakt— Begriffliche — Platon's und Ariſto— teles' Dualismus zerreißt den Faden na— türlicher Cauſalerkenntniß und präparirt den Sinn für das ausſchließliche Verſinken in die Myſtik des Uebernatürlichen — Sfep- ticismus, Epikureismus und Stoicismus tragen jeder ſeinen Theil bei, den Menſchen der Natur, dem Heimathboden ſeiner ſtarken 255 Kraft, zu entfremden. So ſind denn die Geiſter empfänglich für die rückhaltloſe Auf- nahme des einſeitig Religiöſen, und bereit, ſich völlig in das Transcendente zu ver— lieren. In demſelben Maße, als die Ver— ehrung des Jenſeits zunimmt, nimmt die Verehrung der Natur ab. Wo erſtere unendlich groß wird, iſt letztere un— endlich klein geworden. Dieſen Ent— wickelungsproceß darzuſtellen, wird der Ge- genſtand unſeres nächſten Aufſatzes fein. Die Veränderungen der Organismen als geologiſches Zeitmaß. Von Prof. Dr. R. Poernes. I verſchiedenartigen Schichten, N E welche die Rinde des Plane- ten bilden, zu enträthſeln, ift * eine der Hauptaufgaben der Geologie, welcher ſie in ihrem hiſtoriſchen Theil, der Formationslehre, gerecht zu werden verſucht. Der hiſtoriſche Theil der Geologie macht uns mit den einzelnen Epochen — „Formationen“ — der Erdgeſchichte bekannt, lehrt uns ihre Bildungen unter— ſcheiden und ſelbſt in entlegenen Gegenden wiedererkennen, — beides hauptſächlich nach den in den Sedimenten erhaltenen, orga— niſchen Reſten. Die Trennung der Epochen, Formationen und einzelnen Horizonte erfolgt, ebenſo wie ihre Paralleliſirung, faſt aus— ſchließlich auf Grund palläontologiſcher Thatſachen. Man lehrte früher, daß jede einzelne Epoche ihre eigene, ſelbſtſtändige, organiſche Welt beſeſſen habe und daß die ein— zelnen Formationen durch große, den ganzen Erdball umfaſſende Kataſtrophen von einander getrennt ſeien, durch welche am Ende jeder Epoche die geſammte organiſche Welt ihren Untergang gefunden habe, um durch eine Neu— n X N IC ie Geſchichte der Erde an den ſchöpfung abgelöſt zu werden. Dieſe Kata— ſtrophen-Theorie, als deren hauptſächlichſte Vertreter Cu vier und Agaſſiz nam— haft gemacht werden müſſen, hat durch Lyell ihre Widerlegung gefunden, — es wurde nachgewieſen, daß die Veränderungen, welche an der Oberfläche unſeres Planeten ſtatt— fanden, nicht in plötzlichen und allgemeinen Kataſtrophen beſtauden, ſondern vielmehr einen allmählichen und localen Charakter trugen, ſo daß die Continuität des orga— niſchen Lebens, ſeitdem es auf dem Plane— ten auftrat, niemals unterbrochen wurde. Die Formationslehre hat in den letzten Jahren einen ganz neuen Charakter erhalten. Früher glaubte man auf Grund umfaſſender Unterſuchungen in Deutſchland, England und Frankreich, ein allgemein gültiges Schema der Epochen und Etagen aufſtellen zu können, in welches ſich die Bildungen aller Gegenden ohne Schwierigkeit einreihen ließen; man hoffte, die ſcharfen Grenzen, welche in den zuerſt unterſuchten Ländern die unterſchiedenen Formationen trennten, allenthalben wieder zu finden, und dachte, Silur, Devon, Carbon, Dyas, Trias, Jura, Hoernes, Die Veränderungen der Organismen als geologiſches Zeitmaß. Kreide, Tertiär, Diluvium überall ohne ſonderliche Schwierigkeiten und zwar in un- gefähr derſelben Gliederung, wie in Weſt⸗ Europa unterſcheiden zu können. Je mehr indeß die geologiſche Forſchung ſich über die Oberfläche des Erdballes erſtreckte, deſto mehr wurde auch dieſe Erwartung zu Schan— den. Man machte die Erfahrung, daß die einzelnen Formationen nicht nur ſehr un— gleichwerthig, ſondern auch ſehr unzweck— mäßig aufgeſtellt worden waren, da faſt alle Formations-Grenzen, die in Mittel— und Weſt⸗Europa ſehr ſcharf ſich ziehen ließen, ſchon in den Alpen ihren Dienſt ver— ſagten. Zugleich erkannte man aber auch, daß die „alpine Entwickelung“ mit ihrer vorherrſchenden Verbindung der ununter— brochen auf einander folgenden Horizonte eine weit größere Verbreitung beſitzt, als die mittel- und weſteuropäiſche mit ihrer lückenhaften, und aus dieſem Grunde haupt⸗ ſächlich durch ſo ſcharfe Formations-Grenzen ausgezeichneten Sedimentreihe. Daß die früher vorgenommene, ſcharfe Abgrenzung der einzelnen Epochen oder Formationen nicht mehr dem heutigen Standpunkt der Wiſſenſchaft entſpricht, ergiebt ſich ſchon aus einem Ueberblick der hiſtoriſch-geologiſchen Streitfragen der letzten Jahrzehnte. Ich verweiſe hier auf die neueſten Meinungs- Differenzen über die Grenze zwiſchen Silur und Devon; auf die Unmöglichkeit, die Grenzen, welche die Dyasformation Mittel- und Weſt⸗Europas von der Carbon- und Triasformation trennen; auch in den Alpen wieder zu erkennen, auf die Einſchiebung einer eigenen, vermittelnden Formation, der rhätiſchen Stufe, nach langem Federkrieg über die Grenze zwiſchen alpiner Trias und alpinem Lias; auf die Controverſe über die Grenze zwiſchen oberem Jura und un- terer Kreide in den Alpen; endlich auf die 257 zwiſchen Kreide und Tertiär ſchwankenden Ablagerungen Nordamerikas, die ihrer Fauna nach der älteren, ihrer Flora nach der jüngeren Epoche zugezählt werden müßten. Es ſtellt ſich wie im Großen zwiſchen den einzelnen Formationen, ſo auch im Kleinen zwiſchen den Horizonten und Etagen, in | welche man die Formationen getheilt hat, eine allgemein gültige, ſcharfe Abgrenzung als unmöglich heraus. Alle nach der älte— ren Manier unterſchiedenen Formations— glieder haben nur für größere oder kleinere Territorien Gültigkeit, und es wird ſtets gelingen, in einer benachbarten oder ent— fernten Gegend gerade an jener Stelle einen vollſtändigen Uebergang zu conſtatiren, an welcher man eine ſcharfe Grenze zu finden vermuthen müßte, wenn man eben die älteren Anſichten von der allſeitigen Ver— breitung der Formationen u. dem Durchlaufen ihrer Grenzen zur Richtſchnur nehmen würde. Die bisher fixirten Grenzen zwiſchen den größeren Epochen der Erdgeſchichte haben eben ſo wie jene, mittelſt welcher man kleinere Abſchnitte zu trennen verſuchte, einen ſehr verſchiedenen Charakter. Oft ſind es nur Lücken in der Ablagerung, es fehlt ein Glied, welches an anderer Stelle ent— wickelt iſt; — oder aber es findet ein Wechſel in der Beſchaffenheit der aufeinander⸗ folgenden Ablagerungen ſtatt, der ſehr ver— ſchiedener Natur ſein kann. Da der Gegen— ſtand eine ausführlichere Beſprechung ver- langt, werde ich auf die chorologiſche Ab— ſtufung der Sedimente, welche durch Mojſi— ſovies in der Einleitung ſeines Werkes: „Die Dolomitriffe von Südtyrol und Venetien“ zum erſten Male in präciſer Weiſe dargeſtellt wurde, in einer eigenen Mittheilung einzugehen haben. Ich hoffe in derſelben zeigen zu können, daß die oft beklagte Lückenhaftigkeit der geologiſchen Ur⸗ 258 kunde zum großen Theile in der geringen Beachtung der chorologiſchen Verhältniſſe der Sedimente ihre Erklärung und zwar in der Weiſe findet, daß nur in wenigen und ganz localen Fällen wirkliche Unter— brechungen, in den meiſten aber Wechſel im chorologiſchen Charakter der Schichtreihen ſich finden. Jene Conſequenzen, welche man aus der angeblichen Lückenhaftigkeit der geo— logiſchen Urkunde gegen die Descendenzlehre abgeleitet hat, erweiſen ſich dann als nicht ſtichhaltige, grundloſe Einwürfe. Hier ſei jedoch nur bemerkt, daß Mojſiſovices dreierlei chorologiſche Abſtufungen der Sedi— mente nach dem Bildungsmedium, nach dem Bildungsraum und nach den phyſikaliſchen Verhältniſſen des Bildungsortes unter— ſcheidet. In der erſten Kategorie haben wir zwiſchen marinen und terreſtren (lacu— ſtren, fluviatilen) Sedimenten zu unter— ſcheiden, — in der zweiten bedingen die Eigenthümlichkeiten der phyto- oder zoo— geographiſchen Provinz die Verſchiedenheit der in den Sedimenten eingebetteten Reſte; — in letzter Reihe ſtehen endlich die mannig— fachen, mit dem Namen „Facies“ belegten Variationen (Einfluß bathymetriſcher Zonen, des petrographiſchen Materiales der Ablager— ung, u. ſ. w.) — Die ungemein häufigen Facies-Unterſchiede auf einander folgender Ablagerungen ſehen wir mit Vorliebe zur Unterſcheidung kleinerer Etagen angewandt, wobei größere und kleinere Mißgriffe un— abwendbar ſind; während Lücken in der Serie der Bildungen, ſowie Wechſel im Bild— ungsmedium als Grenzen größerer Epochen: — „Formationen“ — gewählt wurden. Die ungleich wichtigeren, freilich aber auch viel ſchwieriger zu conſtatirenden provinciellen Verſchiedenheiten entzogen ſich bis in die neuere Zeit der genaueren Unterſuchung, während man ihnen gegenwärtig die ver— Karen Hoernes, Die Veränderungen der Organismen als geologiſches Zeitmaß. diente Aufmerkſamkeit zuwendet, und zu ganz überraſchenden Reſultaten in dieſer Richtung gelangte. e Auch die Wechſel im Bildungsmedium, und noch mehr die localen Lücken in der Sedimentreihe, welche man für die wichtig— ſten Formationsgrenzen hielt, erweiſen ſich, weil nur über mehr oder minder ausge— dehnte Territorien verfolgbar, als ſchlechte Hülfsmittel in der geologiſchen Chronologie. So ſcheinen die an der Grenze von Jura und Kreide in Nordweſt-Europa ſich ein— ſtellenden terreſtren Bildungen eine ſcharfe Trennung der beiden Formationen zu ermöglichen; wir wiſſen jedoch, daß in den Alpenländern die Kreidebildungen ſich ohne Lücke an die Jurabildungen anſchließen, daß die Entwickelung der Faunen eine continuirliche, und die Grenzlinie eine voll— ſtändlich künſtliche iſt. So finden wir wenig mächtige, meiſt pflanzenführende Ablagerungen an der Grenze von Trias und Jura in Mittel-Europa, und ein Lager von Wirbelthierreſten (Bonebed) bezeichnet in erſtaunlicher Ausdehnung aufs ſchärfſte den Schnitt, der beide Formationen trennt; zin den Alpen aber begegnen wir an der Stelle dieſer Ablagerungen ungeheuer mächtigen, wohlgeſchichteten Kalken, die ſich durch eben fo weite Verbreitung auszeich— nen, und ſchwierig vom alpinen Lias, noch ſchwieriger aber von den oberſten Trias— gebilden getrennt werden können. Der „Dachſteinkalk“ der rhätiſchen Stufe iſt von jenem der karniſchen kaum zu trennen, und dieſelbe Faciesentwickelung ſcheint an manchen Stellen noch ziemlich weit in den Lias hinaufzureichen. Die gegenwärtig übliche Eintheilung der Erdgeſchichte in Epochen und Forma— tionen erweiſt ſich ſonach als eine voll— ſtändig willkürliche, in vielen Fällen un⸗ Hoernes, Die Veränderungen der Organismen als geologijches Zeitmaß. zweckmäßige; ſie hat nur den Werth eines vorläufigen Verſtändigungs-Mittels, wie etwa das heute gebräuchliche, ſogenannte natürliche Syſtem der Zoologie und Bo⸗ tanik. Das wahre natürliche Syſtem iſt jenes, welches mit der Stammverwandt— ſchaft zuſammenfällt, und ſobald wir dieſe erkannt haben, werden wir das vorläufige Verſtändigungsmittel ohne Schmerz über Bord werfen. Ganz daſſelbe gilt von der gegenwärtigen Formations-Eintheilung der Erdgeſchichte, welche nur zur vorläufigen Orientirung dienen kann, und jedenfalls aufgegeben werden muß, wenn die geo— logiſche Forſchung die bisher nur auf einem kleinen Theil der Oberfläche des Planeten gewonnenen Erfahrungen durch Unterſuch— ung aller übrigen zugänglichen Theile er— weitert, und wenn unſere heute noch ſehr lückenhafte Kenntniß von der Filiation der organiſchen Welt ſich ſoweit vervollſtändigt haben wird, daß die Veränderung der Or— ganismen zur Aufſtellung einer allgemeinen geologiſchen Chronologie hanreicht. Bei der Würdigung der gegenwärtigen Formationslehre und ihrer Principien iſt vor allem zu berückſichtigen, daß es ſich ſtets nur um relative, nie um abſolute Zeitbeſtimmungen handelt. Wir werden unten einen Blick auf verſchiedene Verſuche werfen, mittelſt welcher man abſolute geolo— giſche Zeiten feſtſtellen wollte — müßige Be | rechnungen, deren Prämiſſen mehr oder minder willkürlich genannt werden müſſen. Das älteſte und am meiſten in An— wendung gebrachte Mittel der abſoluteu Zeitbeſtimmung geologiſcher Perioden iſt jenes der Vergleichung der Mächtigkeit der Sedimente. Die Wahrnehmung, daß das Inundationsterrain mächtiger Ströme bei alljährlichen Ueberſchwemmungen um einen ſehr geringen Betrag durch den jedes— 259 maligen Schlammabſatz erhöht wird, ver— anlaßte zunächſt die Zeit, welche derartige Flüſſe zur Bildung ihrer Alluvionen brauch— ten, zu berechnen. Das bekannteſte Beiſpiel derartiger Speculationen liefern die Verſuche, das Alter der Nil-Alluvionen zu berechnen. Am Nil konnte nun untrüglich nachgewieſen werden, daß die Zunahme der Erhebung an verſchiedenen Orten eine verſchiedene iſt, und zwar, daß ſie ſich in dem Verhältniſſe vermindert, in welchem ſich der Fluß dem Meere nähert. So ſoll das Land bei der Inſel Elephantine in 1700 Jahren um 9 Fuß, bei Theben um 7 Fuß und bei Heliopolis oder Cairo um 5 Fuß 10 Zoll in derſelben Zeit anwachſen. Noch geringer iſt die Erhöhung im Delta, an den Münd— ungen. Dies zeigt aber auch, daß derartige Berechnungen ſich an keiner Stelle auf die geſammte Dicke der Alluvionen ausdehnen laſſen, da die Verhältniſſe, unter welchen der Nil in früherer Zeit, als ſeine Allu— vionen noch nicht im gegenwärtigen Maße das früher eine ſchmale Meeresbucht dar— ſtellende Thal erfüllten, ſedimentirte, ganz andere geweſen ſein müſſen als heutzutage. Dies zeigt, daß nicht einmal die Alluvionen eines ſo regelmäßig ſedimentirenden Stromes aus ihrer Mächtigkeit die Zeitdauer mit einiger Sicherheit zu berechnen geſtatten — viel weniger iſt dies natürlich bei den mannig⸗ fachen Bildungen des Meeres der Fall. Es ſei hier nur als draſtiſches Beiſpiel die verſchiedene Mächtigkeit angeführt, welche Korallenriffe in der gleichen Zeit unter der Bedingung der Stabilität der Küſte einer⸗ ſeits und unter jener der langſamen Senkung andererſeits erlangen können. Wir wiſſen auch, daß im Allgemeinen der Bau riffbildender Korallen ſehr langſam vor ſich geht, doch kennt man andererſeits auch Fälle außerordentlich ſchnellen Wachsthums. 260 — So citirte Darwin Beobachtungen von Dr. Allan an der Oſtküſte von Madagascar, nach welchen auf eine Sand— bank, drei Fuß tief bei Ebbeſtand im De— cember 1830 gepflanzte Korallenſtock-Frag— mente im Juli 1831 nahezu das Niveau des Meeres bei Ebbeſtand erreicht hatten, — ebenſo eine Mittheilung des Lieutenant Wellſtead, welche beſagt, daß an einem Schiffe im perſichen Meerbuſen der kupferne Boden im Verlaufe von 20 Monaten mit einer 2 Fuß dicken Schicht von Korallen incruſtirt war, welche zu entfernen große Kraft erforderte, als das Schiff in die Docks geſchafft worden war.“) Im All— gemeinen iſt jedoch das Wachsthum der Korallen ein viel geringeres. Die Verſuche Dr. Allan's haben auch gezeigt, daß ver— ſchiedene Korallen-Species ſehr verſchieden raſch wachſen, ſo daß neben den local gün— ſtigeren oder ungünſtigeren Verhältniſſen für das ſchnellere oder langſamere Anwachſen eines Korallenriffes auch das mehr oder minder häufige Vorkommen gewiſſer Arten entſcheidend ſein wird. Die Mächtigkeit von Korallriffbildungen wird alſo nicht in ſteti— gem Verhältniß zu den Zeiträumen ſtehen, in welcher ihre Bildung erfolgte. Ganz daſſelbe gilt jedoch auch von allen übrigen marinen Abſätzen. Wenn auch ganz abgeſehen wird von den großen Un— regelmäßigkeiten, die in der Mächtigkeit der— | Hoernes, Die Veränderungen der Organismen als geologiſches Zeitmaß. große Contraſte in der Mächtigkeit der gleichzeitig abgelagerten Sedimente herbeizu— führen. Conſtante Windrichtungen, Ebbe und Fluth, Strömungen ſpielen da eine Rolle, noch mehr aber die Tiefe des Waſſers. Die Tiefſee-Unterſuchungen haben uns darüber belehrt, daß Kalkabſatz nur bis zu einer Maximal-Tiefe von 2700 Faden ſtattfindet, während in größerer Tiefe die daſelbſt vorhandene Kohlenſäure die hinabſinkenden Foraminiferen⸗Schälchen auflöſt und ein eigenthümlicher, rother Schlamm als unlöslicher Rückſtand zum Abſatz gelangt. Es iſt klar, daß dieſe Sedimente der Tiefſee an Mächtigkeit außer⸗ ordentlich hinter den Seichtwaſſer-Bildungen zurückſtehen, ſo zwar, daß, da der Charak— ter älterer Bildungen nicht immer mit wünſchenswerther Genauigkeit zu erkennen iſt, ein Schluß aus ihrer Mächtigkeit auf die zu ihrer Bildung nöthige Zeit kaum mit einiger Sicherheit gemacht werden kann. Noch gewaltiger iſt der Contraſt zwiſchen der Mächtigkeit gleichzeitiger mariner und terreſtrer Bildungen. Es fer in dieſer Be- ziehung an das bereits oben erwähnte Bei— ſpiel der rhätiſchen Stufe erinnert, welche in Mitteleuropa nur wenige Meter, in den Alpen eben ſo viel hunderte und darüber mächtig iſt. — Erwägt man dieſe Ver— hältniſſe, jo gelangt man unwillkürlich zu ſelben durch die großen Ströme verurſacht v „ werden, welche an einzelnen Stellen ge— waltige Sedimentmaſſen in bringen, während an anderen Stellen keine dem Schluſſe, alle Verſuche, aus der Mächtig— keit der Schichten auf die Zeit, welche ſie | zur Ablagerung brauchten, zu ſchließen, für die Meere derartige Zufuhr ſtattfindet, bleiben im Meere ſelbſt Urſachen genug übrig, um vergeblich zu erachten. Und doch finden wir ſo häufig für die verſchiedenen Forma— tionen aus der durchſchnittlichen Mächtigkeit Minimalzeiten angegeben, die freilich jed- *) Ch. Darwin: Ueber den Bau und die Verbreitung der Korallenriffe — überſetzt von Viktor Carus. Stuttgart, 1876. — S. 78 u. 79. | weder Begründung entbehren. Ein anſcheinend etwas beſſeres Mittel, abſolute Werthe für die geologiſche Zeit zu gewinnen, iſt die Berechnung der Tem— Hoernes, Die Veränderungen der Organismen als geologiſches Zeitmaß. peraturannahme. Es unterliegt keinem Zweifel, daß auf der Oberfläche der Erde einſt eine viel höhere Temperatur herrſchte, als dies heute der Fall iſt. Abgeſehen von kosmiſchen Erwägungen zwingt zu einer derartigen Annahme ſchon die Verbreitung tropiſcher Pflanzen- und Thier-Formen in älteren, über die ganze Erdoberfläche aus— gedehnten Ablagerungen. Es iſt allerdings nicht ſo leicht, einen ſicheren Ausdruck für die Zeit zu gewinnen, welche hinreicht, um die Eigenwärme des Planeten an ſeiner Oberfläche um einen Grad zu erniedrigen; aber geſetzt auch, es wäre dieſe Zeit voll— kommen genau bekannt, ſo würde es noch ungleich ſchwieriger fein, die mittlere Tem— peratur irgend einer Periode zu beſtimmen, um aus der Differenz die Anzahl der Jahr— tauſende zu berechnen, die zu der entſprechen⸗ den Abkühlung nöthig waren. Zu welch' eigenthümlichen, mit allen übrigen geologi- | ſchen und paläontologiſchen Erfahrungen im | Widerſpruch ſtehenden Reſultaten man auf dieſem Wege gelangt, mag das Beiſpiel Haughton's zeigen, welcher in letzter Zeit dieſes Problem in einer Abhandlung über die Klimate geologiſcher Zeiten be— handelt hat.?) Haughton zeigt zuerſt ausführlich, daß die Hypotheſe von der Verſchiebung der Pole nicht zuläſſig iſt, um | Aenderungen im Klima der verschiedenen geologiſchen Formationen zu erklären, — es iſt dieſe Erörterung deshalb von In— tereſſe, weil erſt neuerlich der Verſuch gemacht wurde, verſchiedene geologiſche Pro— bleme durch die Annahme wandernder Pole zu erklären.“) Es iſt nach Haugh— *) „Nature“, Vol. XVIII. p. 266. — „Der Naturforſcher“, 23. November 1878. *) Franz Heger: Verſuch zur ein- heitlichen Löſung verſchiedener Fragen der modernen Geologie. „Zeitſch. der geograph. Geſellſch.“ Wien, 1879. — Kosmos, III. Jahrg. Heft 4. 261 ton unmöglich, große Aenderungen in der Lage der Pole als eine Urſache für die Veränderungen der geologiſchen Klimate an— zunehmen, weil, ſo zahlreiche Beweiſe auch für ein warmes Klima nahe dem Nord— pol in früheren geologiſchen Perioden vor— handen ſind, kein einziges Vorkommen arktiſcher Foſſilien in den Tropen conſtatirt werden konnte. Man ſei vielmehr zu dem Schluſſe berechtigt, daß bis etwa in die mittlere Tertiärzeit die Klimate hauptſäch⸗ lich von der inneren Wärme der ſich ab— kühlenden Erde abhingen. Dann aber könnten wir die in foſſilem Zuſtande auf- bewahrten Pflanzen und Thiere der ark— tiſchen Gegenden als jelbft = regiftrivende Thermometer bezeichnen, welche in den Perio— den der Erdgeſchichte die mittlere Temperatur verzeichneten. Außer denſelben hätten wir noch: die jetzige Temperatur der arktiſchen Gegenden, die direkt beobachtet iſt, und zwei andere Temperaturen, die durch phyſikaliſche und phyſiologiſche Bedingungen beſtimmt ſind; dies ſind die Temperatur des ſieden— den Waſſers und die, bei welcher Eiweiß gerinnt. Es konnten keine geſchichteten Felſen auf der Erde ſich gebildet haben, bevor der erſte Punkt der Abkühlung er— reicht war, da kein Waſſer vorhanden war, ſie zu bilden; und es konnte kein Leben auf der Erde exiſtirt haben, bis ſie auf die letzte Temperatur abgekühlt war. Haugthon ſtellt ſonach für die ark— tiſchen Gegenden folgende Scala der ſucce— ſiven Temperatur auf: 1) 212 F.: Sieden des Waſſers, 2) 122 F.: Gerinnen des Eiweißes, 3) 689 F.: triaſiſche und juraſſiſche Zeit, 4) 489 F.: Miocäne Tertiärzeit, 5) 320 F.: Klima von Labrador, 6) 09 F.: Jetziges Klima. Die Zwiſchenzeit zwiſchen der erſten Hoernes, Die Veränderungen der Organismen als geologiſches Zeitmaß. und zweiten Epoche entſpräche den azoiſchen | Haughton die Procentverhältniſſe der Felſen; das Intervall zwiſchen der zweiten Zeit, die ſich aus der Theorie der Abkühl— und dritten den paläozoiſchen Felſen und das zwiſchen der dritten und vierten den neo— zoiſchen Felſen. Gegen die eben angeführten Tempera— turſtufen wäre zu erinnern, daß ſich die erſte nicht unweſentlich aus dem Grunde verſchiebt, weil der Druck der Atmoſphäre zur Zeit, als ſich das erſte tropfbar flüſſige Waſſer auf dem Planeten bildete, viel be- deutender war als gegenwärtig, daher auch Quellen abgeleiteten Zahlen bemerkenswerth, ſchon bei höherer Temperatur Waſſer exi— ſtiren konnte. Die mittleren Temperaturen für Trias und Jura — ſowie für die geeignete relative Maß der geologiſchen Pe— Tertiär-Formationen — erſcheinen ferner will— kürlich angenommen. Haughton hätte eben jo gut 78% wie 580 Fahrenheit als mittlere Temperatur der meſozoiſchen Epoche angeben können, da die wenigen lebenden Verwandten der damaligen Ge— wächſe kaum zu einem ſicheren Schluß in dieſer Richtung hinreichen. ſchiebungen aber bedeuten hunderttauſende von Jahren in den bezüglichen Berechnungen. Es iſt ſodann in Erinnerung zu Derartige Ver⸗ bringen, daß die Unterſcheidung der älteren „azoiſchen“ Sedimente von den jüngeren, Reſte organiſchen Lebens enthaltenden, eine ganz willkürliche, nur auf die Mangelhaf— tigkeit der paläontologiſchen Ueberlieferungen ſich ſtützende iſt. Denn eine gewaltige Maſſe ſogenannter „azoiſcher“ Felſen wurde zu einer Zeit gebildet, da längſt organiſches Leben auf der Erde herrſchte, die betreffen— den Lebeweſen aber entweder keine Hart— theile beſaßen, welche fie zum Gegenſtand der Verſteinerung hätte machen können oder Reſte hinterließen, die durch ſpätere Neubild- tende Veränderung ſtattfand (eine Erwäg— ungsproceſſe gänzlich zerſtört oder wenigſtens bis zur Unkenntlichkeit verändert wurden. Es hat daher wenig Werth, wenn | ung der Erde ergeben, mit den Procent- verhältniſſen der größten Dicke der Ab— lagerungen in der nachſtehend angeführten Tabelle vergleicht: Periode Abkühlung Dicke der Schichten Azoiſch (212-1220 F.) 33,0 pCt. 34,3 pCt. Paläozoiſch (122 —68 0 F.) 41,0 „ 42,5 „ Neozoiſch (68-48 0 F.) 26,0 „ 23,2 „ Haughton findet die Uebereinſtimm— ung zwiſchen dieſen aus ganz verſchiedenen — ſie ſcheint ihm den von vielen Geologen aufgeſtellten Satz zu rechtfertigen, daß das rioden die größte Dicke der Schichten iſt, die während dieſer Perioden gebildet wor— den. Doch dürfte man eher berechtigt ſein, beide Hülfsmittel der Schätzung des rela— tiven Maßes der geologiſchen Epochen als unzulänglich und zu vielen Irrthümern An- laß gebend zu verwerfen. Haughton's Beſtrebungen, dem geologiſchen Zeitbegriff näher zu kommen, werden ſchon durch eines ſeiner Hauptreſultate ad absurdum geführt. Er gelangt nämlich durch ſeine Berechnun— gen zu dem Schluſſe, daß uns ein größeres Zeitintervall von der miocänen Tertiär— zeit trenne, als jenes, welches während der Ablagerung aller ſecundären und tertiären Schichten von der Trias bis zum Miocän verſtrichen iſt. Wenn man jedoch überlegt, welche ungeheure Entwickelung das organiſche Leben von der Trias, deren untere Etagen eine Fauna von ganz paläozoiſchem Habitus beſitzen, bis zum mittleren Tertiär durch— gemacht hat, während zwiſchen Miocän und Gegenwart eine verhältnißmäßig unbedeu— ung, die auch durch die Vergleichung der Mächtigkeit der betreffenden Sedimente wei— tere Unterſtützung findet, wenn man ſchon auf dieſes Hülfsmittel Werth legen will), ſo wird man kaum in der Lage ſein, den Ausführungen Haughton's beizupflichten. Dieſer meint zwar, daß das enorme Zeit— intervall, welches uns von der miocänen Epoche trennt, reichlich Gelegenheit biete für die Entwickelung der rieſigen Säuge— thiere, von denen man gewöhnlich annehme, daß ſie auf allen Continenten plötzlich auf— getreten und plötzlich verſchwunden ſeien. Gerade die Filiation der Säugethiere aber verlangt einen ungemein langen Zeitraum zwiſchen Kreide und Miocän, in welchem die Entwickelung der Hauptſtämme der Klaſſe erfolgte, während die miocänen Säugethiere (wenige aberrante und ſeither ausgeſtorbene Typen abgerechnet) den recenten bereits ſehr nahe ſtehen. Man kann mit Fug und Recht, blos auf die Entwickelung der Säuge— thierformen geſtützt, behaupten, daß der erſte Zeitraum der Tertiärformation bis in die Mitte der Miocänſtufe ungleich länger ge— weſen ſei, als jenes Intervall, welches uns von der Miocänzeit trennt. Wir ſehen alſo, daß die Abkühlung der Erde uns bei dem gegenwärtigen Stande unſerer Kenntniſſe kaum ſichere Anhaltspunkte für die Abſchätzung der geo— logiſchen Zeiträume liefern kann; noch mehr gilt dies von jenen Erſcheinungen, deren Periodicität zwar von vielen Seiten be— hauptet wird, aber durchaus nicht ſicher feſtgeſtellt erſcheint. Die Periodicität der Eiszeiten oder der Umſetzung der Meere wäre allerdings ein ſehr bequemes Mittel, nicht blos relativ, ſondern auch abſolut ſicheres geologiſches Zeitmaß zu erhalten; allein es läßt ſich nicht leugnen, daß die bezüglichen Verhält— niſſe uns heute noch nicht in ihrer Weſen— heit bekannt ſind. Es iſt gegenwärtig noch Hoernes, Die Veränderungen der Organismen als geologiſches Zeitmaß. 263 nicht einmal ſicher geſtellt, daß es periodiſch wiederkehrende Eiszeiten giebt, und bezüg— lich der Perioden, welche Adhemar, Schmick, Pilar u. A. berechnet haben, muß bemerkt werden, daß zwar ihre Rech— nungen vollkommen richtig, ihre Prämiſſen aber ziemlich willkürlich find. E. Sueß !“) hat auf den bemerkenswerthen Umſtand aufmerk— ſam gemacht, daß die auffallenden Trans— greſſionen in Nord- und Mitteleuropa ſtets mit dem Vorkommen eingeſtreuter, fremder Geſteinsblöcke zuſammenfallen, bezüglich wel— cher man den Eistransport anzunehmen ge— neigt iſt. Sueß betont, daß in allen be— ſonders auffallend übergreifenden Ablager— ungen, welche dem unteren Theile der per— miſchen Formation, dem oberen Jura in ſeiner arktiſchen Entwickelung mit Aucella mosquensis, der mittleren und oberen Kreide, der Oligocänzeit und endlich der Diluvial— periode angehören, eisgetragene Blöcke als vorkommend angeführt werden: „Im Roth— liegenden hat fie Ram ſay ſeit langer Zeit beſchrieben; im oberen Jura Schottlands, und zwar gerade in Begleitung des Am- monites alternans, welcher im ruſſiſchen Jura wieder auftaucht und bis an die Pe— tſchora reicht, hat ſie Judd nachgewieſen; aus dem Cenomon von Cambridge kennt man fie durch Sol las; aus der weißen Kreide hat ſie Godwin Auſten ſchon vor längerer Zeit beſchrieben; die Ausſtreu— ung großer Blöcke in die oligocänen Flyſch— maſſen des Alpenſyſtems bis ins ſüdliche Italien iſt ſeit lange bekannt, ebenſo jene der Diluvialzeit. Ich will hinzufügen, daß in ähnlicher Weiſe einige entfernte Anzeichen für die rhätiſche Stufe ſprechen.“ Wenn Sueß von dieſen Betrachtungen meint, daß fie mit manchen der Vorausſetz⸗ ungen der zahlreichen Nachfolger Adhe— Die Entſtehung der Alpen, S. 117120. | 264 mar's übereinſtimmen, welche bald, wie Croll, einen periodiſchen Wechſel der Tem— peratur, bald, wie Schmick, eine abwech— ſelnde Anhäufung des Meeres an dem einen oder dem anderen Pol annehmen, ſo muß dagegen erinnert werden, daß die von letz— teren berechneten Perioden viel zu kurz für die geologiſchen Zeiträume, wie auch der Betrag der von Schmick und Pilar angenommenen Umſetzung des Waſſers viel zu gering für die Erklärung der großartigen Transgreſſionen erſcheint. Während es viel— leicht bei weiteren Fortſchritten der Geologie möglich ſein wird, periodiſche Vorgänge in der Geſchichte des Planeten zu conſtatiren und hierdurch gleiche Abſchnitte an die Stelle der ungleichwerthigen Formationen zu ſetzen, iſt es ſicher, daß gegenwärtig ein derartiger Verſuch noch nicht von Erfolg begleitet ſein kann. Vorläufig wird man, gänzlich abſehend von dem Ideal einer abſoluten Beſtimmung der geologiſchen Zeiträume, fi damit be- gnügen müſſen, möglichſt gleichwerthige Zeit— abſchnitte in der Geſchichte des Planeten zu gewinnen. Die Darwin'ſche Theorie der allmählichen Veränderung der Organismen liefert in ihrer conſequenten Anwendung auf die hiſtoriſche Geologie ein vortreffliches Mittel zur Fixirung geologiſcher Einheiten. Mojſiſovices erörtert in einem be— reits eingangs erwähnten Werke über die Dolomitriffe von Südtyrol und Venetien zum erſten Male die Principien einer hi— ſtoriſchen Claſſification der ſedimentären Ab- lagerungen mit Zugrundelegung der Des— cendenzlehre und der von ihm ſelbſt neube— gründeten chorologiſchen Abſtufung der Se— dimente. Er betont zunächſt die Unzuläng— lichkeit der gegenwärtig üblichen Eintheilungen der geologiſchen Zeit: „Die hergebrachten conventionellen Grup⸗ WE Hoernes, Die Veränderungen der Organismen als geologiſches Zeitmaß. pirungen genügen in keiner Weiſe. Man fühlt dies allgemein und ſucht theils durch Aufſtellung neuer Gruppen, welche dem in den Kinderjahren der hiſtoriſchen Geologie nach mitteleuropäiſchem Zuſchnitt angefertig— ten Schema eingezwängt werden, theils durch weitgehende Zerſpaltungen der alten Ab— ſchnitte Abhülfe zu verſchaffen. Aber die meiſten dieſer Auskunftsmittel leiden an dem gleichen Gebrechen wie die alten Grup— pen. Sie tragen das Gepräge nackter Em— pirie; ihre Begrenzung iſt eine willkürliche, zufällige. — — Am Draſtiſchſten machen ſich dieſe Uebelſtände bei der Zuſammen— ſtellung von allgemeinen, vergleichenden For— mationstabellen geltend. Es zeigt ſich da— bei ſehr deutlich, daß die Inconvenienzen der großen alten Gruppen nicht eliminirt, ſondern nur auf die engeren neuen Gruppen übertragen, mithin vervielfältigt ſind.“ Als chronologiſche Einheit wird nun— mehr die paläontologiſche Zone aufgefaßt, wie fie zuerſt von Oppel in die hiſtoriſch— geologiſchen Studien eingeführt ward. Oppel hat, indem er den mitteleuropäiſchen Jura in paläontologiſche Zonen zerlegte und auf die Unterſuchung der Faciesverhältniſſe den gebührenden Werth legte, den erſten Anſtoß zu einer naturgemäßen Claſſification ge— geben. Der Begriff der paläontologiſchen Zone hat freilich erſt dann ſeine volle Be— deutung erhalten, als Oppel's Nachfolger den Anforderungen der Descendenzlehre ge— recht wurden und die chorologiſche Deut— ung der einzelnen Ablagerungen weitere Fortſchritte machte. Heute bedeuten die paläontalogiſchen Zo— nen einzelne Entwickelungsphaſen des or— ganiſchen Lebens. Um dieſelben feſtzuſtellen | iſt es zunächſt nothwendig, die in den ein- zelnen Schichten eingebetteten Reſte viel ſorg— fältiger zu ſtudiren, als dies bisher zumeiſt 2 SU Hoernes, Die Veränderungen der Organismen als geologiſches Zeitmaß. geſchah — es zwingt die neue Methode der paläontologiſchen Forſchung auch zu viel engerer Faſſung der Arten und Formen. Wir wiſſen, daß fie alle in einander über- | gehen und daß die ſcheinbaren, ſcharfen Grenzen, die eine ſogenannte „gute Art“ bezeichnen, nur in Lücken unſerer Kennt- niß, nicht aber in der Natur begründet ſind. Es mag, ſo lange es ſich um die Erörter— ung der gegenwärtigen Lebeweſen handelt, erlaubt ſein, alle durch unmittelbare und unmerkliche Uebergänge verbundenen Formen zu einer Art zu vereinigen; ſobald es ſich aber um geologiſch ältere und jüngere For— men handelt, wird die Sonderung und Auszeichnung durch einen eigenen Namen nothwendig, da durch den letzteren eben ein Entwickelungsſtadium im geologiſchen Sinne bezeichnet werden muß, wenn die Veränder— ung auch eine geringfügige wäre. Mit Recht bemerkt Mojſiſovics: „Für den Zoologen und Botaniker mag es gleich— gültig ſein, ob die Reihenfolge der Binde— glieder zwiſchen zwei geologiſch verſchieden— altrigen Typen durch Artnamen ausgezeich— net wird oder nicht, obwohl es auch dieſen conveniren wird, die einzelnen Stadien be— ſtimmt bezeichnen zu können. Beim Geo— logen kommt aber namentlich auch der chro— nologiſche Standpunkt in Betracht. Für ihn haben die einzelnen Entwickelungsſtadien eine chronologiſche Bedeutung, und er würde fi freiwillig der koſtbarſten Documente be- geben, wenn die in beſtimmter geologiſcher Altersfolge auftretenden Zwiſchenformen in eine ſogenannte „gute Art“ zuſammengezogen würden. Solche Arten wären überdies eine | thatſächliche Fälſchung, da die angeblichen Varietäten nicht gleichzeitig, ſondern nach einander exiſtirten.“ Durch die ſcharfe Faſſung der einzelnen Stadien in den Ent- wickelungsreihen gelangt man zur Feſtſtell⸗ 265 ung der paläontologiſchen Zonen, deren Zeit maß übrigens ſelbſtverſtändlich nur ein relatives iſt. Keineswegs entſprechen die einzelnen Zonen beſtimmten, ziffermäßig ausdrückbaren Zeitabſchnitten. Es muß ferner hervorgehoben werden, daß ſie keine allgemeine Bedeutung beſitzen, ſondern nur für durchaus gleichartige, einem Bildungs- medium und einer Bildungsprovinz ange— hörige Ablagerungen Geltung haben. Für jede andere Provinz wird eine ſelbſtſtändige chronologiſche Gliederung durchzuführen ſein. Es wird daher für die einzelnen Epochen ſo viele getrennte Chronologien geben, als ſelbſtſtändige Provinzen exiſtiren. Die fort— währende Verſchiebung der letzteren bietet jedoch ein Mittel, dieſe getrennten Chrono— logien in Zuſammenhang zu bringen. Wenn früher getrennte Provinzen durch Hinweg— fall der Scheidewand ihre Vereinigung fan— den, wird es ſtets möglich ſein, aus der Unterſuchung der Verſteinerungen den Zeit— punkt dieſes Ereigniſſes abzuleiten; — wiſſen wir ferner, daß die verſchieden gegliederten Ablagerungen dieſer beiden Provinzen eine gleichartige, einem gemeinſamen Bildungs- raume entſprechende Unterlage beſitzen, ſo iſt es, wenn die phylogenetiſche Verkettung der eingebetteten Verſteinerungen das Vor- handenſein einer Lücke ausſchließt, wohl ge— ſtattet, die Geſammtheit der Zonen des einen Gebietes der Geſammtheit der Zonen des anderen Gebietes gleichzuſtellen. Die einzelnen paläontologiſchen Zonen aber dür— fen in dieſem Falle einander nicht paralle- liſirt werden, was meiſtens wohl ſchon aus dem Grunde unausführbar iſt, weil die Anzahl der Zonen eine ungleiche ſein wird. Die Trias der Alpen liefert hierfür nach den Unterſuchungen von Mojſiſo— vics ein ausgezeichnetes Beiſpiel. Die Ablagerungen der unteren Trias entſprechen — f . 266 einem gemeinſamen Bildungsraum; zur no— riſchen Zeit erſcheint die mediterrane von der juvaviſchen Provinz ſcharf geſchieden, und mit dem Beginne der karniſchen Stufe ſtellt ſich allmählich die Verbindung wieder her. Während jedoch die noriſche Stufe der mediterranen Triasprovinz nur in zwei paläontologiſche Zonen zu zerlegen iſt, zer— fällt jene der juvaviſchen Provinz in nicht weniger als fünf. Am ſchwierigſten geſtaltet ſich die Ver— gleichung von Ablagerungen aus verſchiedenem Bildungsmedium. Die Entwickelung des or— ganiſchen Lebens auf dem Feſtlande und im Meere hält keineswegs gleichen Schritt. So können wir z. B. im Miocän Oſteuropas eine ganz verſchiedene Chronologie auf Grund der aufeinander folgenden Säugethierfaunen des Feſtlandes und der marinen Conchylien— Faunen aufſtellen. Während im Meere die Ablagerungen der erſten und zweiten Me— diterranſtufe ſtattfanden, und ſelbſt wäh— rend zur Zeit der ſarmatiſchen Stufe Abſätze aus bereits etwas ausgeſüßtem Waſſer erfolgten, während die Conchylien— Fauna des Meeres die durchgreifendſten Aenderungen erlitt, perſiſtirte die von den öſterreichiſchen Geologen als erſte Säuge- thierfauna des Wiener Beckens bezeichnete Bevölkerung des Landes ungeſtört, um erſt bei Beginn der Ablagerung der Congerien— ſchichten der zweiten Fauna Platz zu machen. Außerordentlich eingehende Detailſtudien ſind in ſolchen Fällen nothwendig, um die Gleich— zeitigkeit ſo verſchiedener Ablagerungen nach— zuweiſen. Die Anwendung der paläonto— logiſchen Zonen hat demnach mit nicht ge— ringen, in der Sache ſelbſt begründeten Schwierigkeiten zu kämpfen. Zu dieſen iſt vor allem auch der Umſtand zu zählen, daß die Variabilität der verſchiedenen Klaſſen, Ordnungen, Familien, Gattungen, Formen— Hoernes, Die Veränderungen der Organismen als geologiſches Zeitmaß. reihen eine ſehr verſchiedene iſt, und Ver— änderungen ſelten gleichzeitig eintreten. Man könnte nach Mojſiſovics dieſer Ver— legenheit nur durch zweckmäßige Wahl von Normal-Vergleichungstypen entgehen, welche man unter den am häufigſten ſich ändern⸗ den Organismen wählt. Wünſchenswerth wäre es, für die ganze Formationsreihe ſich conſtant eines und deſſelben Vergleich— ungstypus bedienen zu können. Ein ſolcher, der brauchbar wäre, exiſtirt aber nicht. Man wird deshalb für die paläozoiſchen Forma— tionen wahrſcheinlich die Trilobiten und Ce— phalopoden (ſubſidiär auch die Brachiopoden), für die meſozoiſchen Formationen die Am— monitiden (nach Umſtänden ſubſidiär andere Ordnungen), für die känozoiſchen Forma— tionen die Gaſtropoden wählen. Der Gedanke, in conſequenter Anwend— ung der Descendenzlehre die Veränderung der Organismen als geologiſches Zeitmaß zu verwenden, findet durch Darwin ſelbſt in einem ſchmeichelhaften Schreiben an Mojſiſovies mit folgenden Worten Billigung: „Ich habe endlich Zeit gefunden, das erſte Kapitel Ihrer Dolomit-Riffe zu leſen, welches mein Intereſſe in außerordentlichem Maße erregt hat. Was für eine wunder— volle Veränderung der geologiſchen Chrono- | logie ſtellen Sie durch Zugrundelegung der Descendenztheorie und durch Anwendung der graduellen Veränderung derſelben Gruppe von Organismen als Zeitmaß in Ausſicht! Ich habe nie gehofft zu erleben, daß Je⸗ mand einen ſolchen Schritt vorſchlagen würde. Oppel, Neumayr und Sie werden ſich ein dauerndes und bewundernswerthes Ver— dienſt um die edle Wiſſenſchaft der Geologie erwerben, wenn Sie Ihre Anſichten ſo ver— breiten können, daß ſie allgemein bekannt und angenommen werden.“ | Die Marcgraviaceen und ihre Honiggefäße,”) Von Dr. Ludwig Wittmack, Privat-Docent an der Univerſität Berlin. ö graviaceen verdankt ihren Na— men der Hauptgattung Mare- gravia, welche Plumier zu geb. zu hat bei Pirna am 20. Sept. 1610, geſt. 1644 an der Küſte von Gui- nea, 1638 Ingenieur und Geograph des holländiſchen Gouverneurs von Braſilien, Grafen Moritz von Naſſau, benannte. Sie umfaßt nur 4 Gattungen mit 36 Arten, welche ſämmtlich im tropiſchen Ame— rika zwiſchen dem 20.9 nördl. Br. und dem 25.“ ſüdl. Br. heimiſch ſind und ihre Hauptverbreitung in Braſilien haben. Die meiſten ſind kletternde oder epiphytiſche Sträucher, welche theils mit Kletterwurzeln nach Art unſeres Epheus ſich anheften, theils auch Luftwurzeln ausſenden, einige nur 1— 2 Meter hoch und in der ſubal— e Region zwiſchen Sphagnum wachſend 0 Anm. d. Red. Der Herr Verf., welcher die Familie der Maregraviaceen vor Kurzem für Martius' Flora brasiliensis (Fasc. 81) bearbeitet hat, hielt obigen, uns gütigſt zur Verfügung geſtellten Vortrag zunächſt in der (jo Norantea Jussiaei Tr. u. Pl. = Maregravia spieiflora Juss. auf Guade— loupe), andere längs der Flüſſe an die ſandige Meeresküſte hinabſteigend (ſo Sou— roubea- Ruyschia-bahiensis Mart.), die meiſten aber an feuchten Orten im tropiſchen Urwalde, an Bäumen hoch emporklimmend und mit ihren blühenden Zweigen dieſe ſelbſt oft überragend. Im anatomiſchen Bau der ganzen Fa— milie zeigt ſich das Princip: Leichtigkeit mit Stärke zu verbinden, wie es für Kletter- pflanzen nöthig iſt, deutlich ansgeprägt. Das Holz“) iſt von außerordentlich zahl— reichen und weiten Gefäßbündeln, etwa wie bei Vitis und Bignonia, durchzogen, die Markſtrahlen ſind dabei breit, das Mark (wenigſtens in den fertilen Zweigen, die ich unterſuchen konnte) gefächert, die Parenchym⸗ zellen in Stamm, Blatt, Blüthe und Frucht außer mit Raphiden überall reichlich mit Sitzung vom 18. Februar 1879 der Geſell⸗ ſchaft naturforſchender Freunde in Berlin. ) Nördlicher, Querſchnitte von 100 Holzarten, II. Bd. (Maregravia umbellata L. und Ruyschia clusiaefolia Jacg.). — — 268 mächtigen, verzweigten, ſtark verdickten Zel— len, ähnlich wie bei Camellia*) und Thea**), durchſetzt, die im Blatte oftmals geradezu Strebepfeiler zwiſchen Ober- und Unterſeite bilden. Auffallend iſt bei der Gattung Mare- gravia, daß hier beſondere Zweige zum Kriechen oder Klettern und wiederum beſon— dere zum Blühen und Fruchttragen aus gebildet werden. Erſtere ſind vierſeitig und dicht mit zweizeiligen, ſitzenden, ei- herzför— migen oder rechteckigen Blättern beſetzt, denen gewöhnlich kurze, dichtfilzige Kletterwurzeln Wittmack, Die Maregraviaceen und ihre Honiggefäße. auf der Unterſeite entſprechen. Dieſe Blätter find gewöhnlich unterſchlächtig (suecuba), nach Art mancher Jungermannien, und ähneln ihnen auch darin, daß ſie ſich feſt an das Subſtrat, welches hier nicht blos Bäume, ſondern auch Felſen ſein können, anlegen.“ *) Die fertilen Zweige dagegen ſind rund, aufrecht oder hängend, oft von 10 Meter Höhe bis auf die Erde herab— geneigt, mit ſpiralig geſtellten Blättern, die weit größer, kräftiger und gewöhnlich lanzett- lich, oval oder länglich ſind, verſehen und enden an der Spitze in eine Blüthen-Dolde. Fig. I. Maregravia pieta Willd. (nepenthoides Seemann). A Blüthenzweig. B Kletterſtamm mit Luftwurzeln und einem hervorſproſſenden fertilen Zweige. Bei den anderen Gattungen dieſe „Arbeitstheilung“, wie Eichler) fie treffend bezeichnet, nicht vor. Wohl aber findet ſich in der ganzen Familie eine ) Sachs, Lehrb., 4. Aufl. S. 21. Fig. 16. ) Vogl, Nahrungs- und Genußmittel, 68. Fig. 60. . *. Aublet hielt die ſterilen Zweige, die von den anderen in der That ganz ver— kommt andere Art der Theilung der Arbeit, welche vor einigen Jahren der Gegenſtand einer geiſtreichen Ausführung Delpino's ff) geworden iſt und auch früher ſchon die ſchieden ſind, für ein Farnkraut und beſchrieb ſie als Polypodium minimum (efr. Seemann in Journ. of Botany VIII. 246.). ) Eichler, Blüthendiagramme, II. 249. -++) Delpivo, Ulteriori osservaz. s. dicoc. Aufmerkſamkeit der Botaniker erregt hat: Das iſt die Uebertragung der Nektar— Abſonderung auß beſondere Organe außerhalb der Blüthe. — Durch dieſe Nektarien, welche meiſt große, eigenthümlich geformte, ſchön ſcharlach, purpurn oder reitende Sporne ꝛc. darſtellen, unterſcheidet ih die Familie der Maregraviaceen habi— tuell ſehr leicht von den ihr ſonſt nahe verwandten Ternſtrömiaceen, mit denen ſie neuerdings wieder von Manchen vereinigt wird); ſyſtematiſch weicht fie von den Ternſtrömiaceen im engeren Sinne durch einen eiweißloſen Embryo, ein häufig nur Fig. II. wandelte Brakteen angeſehen dunkelpurpurn gefärbte Schläuche, Kapuzen, F 1 Wittmack, Die Maregraviaceen und ihre Honiggefäße. 269 unvollkommen gefächertes Ovarium und einen ſehr kurzen oder fehlenden Griffel ab. Seit A. L. de Juſſieu ““) find die meiſten Autoren darüber einig, daß die Nektarien der Marcgraviaceen als umge— werden müſſen“ “ *), die ihre normale Stellung an der Hauptachſe der Inflorescenz aufgegeben haben und mehr oder weniger weit am Stiel der Einzelblüthe hinaufgerückt oder gar mit ihm verwachſen ſind, ähnlich wie bei vielen Solanaceae, Nolanaceae und manchen Sedum- Arten), oder etwa wie das Flügelblatt der Linde mit der In— florescenzachſe verwachſen iſt. f Ey N u 9 \ ey, U N o Blüthenknospe mit ſpatelförmiger Braktee von Norantea anomala H. B. K. — p Längsſchnitt der letzteren, um die Honigdrüſe zu zeigen. — 9 Einzelblüthe mit löffel— förmiger Braktee aus der langen Traube von Ruyschia clusiaefolia Jacg. — r, s Anſicht und Querſchnitt derſelben, um die Honigdrüſen zu zeigen. — t Einzelblüthe mit kugel— förmiger Braktee aus der Traube von Ruyschia sphaeradenia Delpino. — u Das kugelige Honiggefäß. (Atti d. Soc. Ital. d. Scienz. nat. di Milano XII. 178. und in Nuovo Giorn. Bot. Ital. I. 257.) *) Hook. et Benth., Gen. plant. I. 181. — Triana et Planchon, Prodr. Flor. Novo-Granat. (Ann. sc. nat. IV. ser. XVII. 359.) — Baill., Hist. des plant. IV. 239. — Eichler, Blüthendiagramme II. 248. Kosmos, III. Jahrg. Heft 4. ) A. L. De Jussieu (Ann. d. Museum XIV. (1809) 402.) e) Vergl. die Citate der abweichenden Anſichten bei Delpino, a. a. O. S. 202. +) Payer, Elem. d. bot. 118. 120. 121. (eitirt nach Triana und Planchon in Mem. de Cherbourg IX. 72). — Eichler, Blüthen⸗ diagramme I. 199. 206., II. 241. oo (er) 270 Wittmack, Die Maregraviaceen und ihre Honiggefäße. Es ſei geſtattet, hier etwas näher auf dieſe merkwürdigen Bildungen einzugehen: Am einfachſten iſt das Verhältniß bei der Gattung Ruyschia (im engeren Sinne). Bei der äußerſt ſeltenen R. sphaera- denia Delpino iſt der Stiel der Braktee mit dem Blüthenſtiel etwa bis zur Mitte verwachſen, der Limbus aber in eine recht— winklig abſtehende, faſt ſolide kleine Kugel, die nach außen etwas zugeſpitzt iſt, umge— wandelt (vergl. Fig. It, u). Bei R. elu- siaefolia Jae. dagegen, wo die Ver— Fig. III. | wachſung von Brakteen- und Blüthenftiel | bis zum Kelche reicht, iſt der Limbus in einen nach außen hohlen Löffel oder Spatel umgeformt (Fig. II q, r, s). Der Aushöhlung an der äußeren oder unteren Seite entſpricht ſelbſtverſtändlich eine Convexität, eine Hervor- ſtülpung an der inneren oder oberen, und wir haben hier ſchon eine Andeutung dafür, daß die bei den anderen Gattungen auf— tretenden Säcke, Kapuzen oder Sporne durch Emporſtülpen der urſprünglich flachen Blattſpreite der Braktee entſtanden find. » Unterer Theil der langen Blüthentraube von Souronbea guianensis Aubl. — w Das reitende Nektarium (Braktee) derſelben. — x Längsſchnitt. — y Die Entſtehungs— weiſe derſelben aus der Braktee, erläuternde Uebergangsform. — 2 Einzelblüthe von Sou- roubea exauriculata Delp. — a Einzelblüthe von Souroubea crassipes Var. didyma Wittm. — b Einzelknospe von Sonroubea pilophora Wittm, Die Gattung Souroubea Aubl., Inflorescenzen; der Stiel der Braktee iſt welche von vielen Autoren mit Ruyschia zuſammengezogen, von Delpino aber, nach meiner Anſicht mit Recht, wieder getrennt iſt, hat, gleich wie Ruyschia, aufrechte, traubige mit dem Blüthenſtiel meiſt auf deſſen ganzer Länge verwachſen und ihr Limbus bei der bekannteſten Art: Souroubea guia- nensis Aubl. (Ruyschia Souroubea r 2 KU Au U iu u ı iu I u en u Wittmack, Die Maregraviaceen und ihre Honiggefäße. Schwartz) in einen hohlen Sporn aus— geſtülpt, der zwei große Schenkel oder Ohren an ſeiner Baſis zeigt, die in allen Theilen meiſt ſchön ſcharlachroth gefärbte Braktee gleichſam auf dem Blüthen- ſtiele reitet. die Blumen im Vaterlande auch den Na- men caballitos (kleine Reiter), wie Triana und Planchon bemerken.“) roubea exauriculata Delp. ſind die Flügel verkümmert und der Sporn hat mehr die Geſtalt eines Trichters; bei S. pilophora Tr. u. Pl. dagegen iſt der emporgeſtülpte Theil ſehr kurz und weit, der nur wenig gewölbte Rand der Braktee aber ſehr breit, ſo daß das Ganze die Form eines breitkrempigen Hutes an— nimmt (Fig. III v, w, x, y, 2, a, b). Die Gattung Norantea bietet mehr Verſchiedenheit in der Inflorescenz. Viele Arten bilden Trauben, die oft 7 bis 1 Meter lang werden können und häufig dicht mit meiſt einſeitswendigen, ganz kurz oder langgeſtielten Blüthenſtielen beſetzt ſind, während bei anderen Arten die Inflores— cenzachſe ſo verkürzt iſt, daß die Blüthen, die in dieſem Falle ſtets lang geſtielt ſind, ſcheinbar Dolden bilden. Die Brakteen ſind im erſteren Falle in große, ſchön ſchar— lach⸗ oder (ſeltener) purpurrothe Säcke oder Schläuche ausgeſtülpt, deren oft ſchmale Oeffnung am unteren Ende ſich findet, ſo z. B. bei Norantea guianensis Aubl., (einer der wenigen Repräſentanten dieſer Familie in unſeren Gewächshäuſern), oder auch in hohle Halbkugeln (N. brasiliensis Choisy) oder endlich in helm- oder kapuzen— al Gebilde (N. anomala H. B. K.). 79 1 et Planchon, Sur les bractees des Marcgraviees in Mem, d. Soc, d. sc. nat. de Cherbourg IX. (1863) 74. (eigentlich Pferdchen). mit welchen Aus dieſem Grunde führen Bei Su- Jussiaei, daß die Blumenblätter zu einem 271 Eine ganz beſondere Eigenthümlichkeit bietet N. Jussiaei Tr. u. Pl., Maregravia spieiflora Juss., dar: Hier tragen die langgeſtielten Blüthen unterhalb der Mitte ihres Stiels eine ſpatel- oder löffelförmige Braktee, ſo daß dieſe Art dadurch an Ruyschia elusiaefolia Jacg. erinnert, die aber viel kürzer geſtielte Blüthen beſitzt. (Höchſt merkwürdig iſt ferner bei Norantea Ganzen verwachſen ſind, und dadurch ſich den zu einer Calyptra verwachſenen Blüthen der Gattung Maregravia nähern.) — Im letzteren Fall — bei doldenartiger Inflorescenz — ſind die Brakteen der Norantea-Arten ſtets ſackförmig und meiſt hängend. Die Art und Weiſe der An— wachſung des Brakteenſtiels an den Blüthen— ſtiel iſt verſchieden; beide können bis unter— halb der Mitte, bis zur Mitte, oder bis zum oberen Ende des letzteren verſchmolzen fein und bildet dies gute ſpecifiſche Unter- ſchiede. Nur in den wenigſten Fällen ge- lingt es übrigens, bei den Marcgraviaceen, Brakteenſtiel und Blüthenſtiel wirklich neben- einander herlaufen zu ſehen; meiſt ſind ſie vollſtändig zu einem Ganzen verſchmolzen, ſo daß man nur theoretiſch eine Anwachſung ableiten kann. Einer dieſer ſeltenen Fälle findet ſich bei Norantea Delpiniana Wittm., wo der Brakteenſtiel entſchieden an der Hauptſache der Inflorescenz entſpringt und ſich deutlich ſelbſtſtändig, obwohl an— gewachſen, bis zu ¼ der Länge des Blüthen— ſtiels hinaufzieht (vergl. Fig. IV 8—n). Die ſackartige Form der Brakteen kehrt auch bei den meiſten Arten der vierten Gattung, Maregravia, wieder und nur bei wenigen Arten derſelben kommt die helmförmige Geſtalt vor. Abweichend von den übrigen drei Gattiugen finden ſich l bei Maregravia aber die Brakteen, nicht an den Wittmack, Die Marcgraviaceen und ihre Honiggefäße. | Fig. IV. g Einzelknospe mit ſchlauchförmigem Nektarium von Norantea Delpiniana Wittm. — h Nektarium von Norantea cacabifera G. Don. — i, k, 1 Schläuche an den Blüthen von Norantea guianensis Aubl., aufrecht, von der Honigfülle umgeſchlagen und im Längs- ſchnitt. — m Einzelblüthe von Norantea brasiliensis. — n Deren Nektarium größer. Fig. V. c, d Nektarium von Marcgravia coriacea Vahl, in der Anſicht und im Längs— ſchnitt. — e Nektarium von Maregravia Eichleriana Wittm. — f Nektarium von Maregravia Trianae Baill. mit faſt ausgewachſener Knospe, die ſonſt unterdrückt wird. bei dieſer Gattung (nicht bei den anderen) auftretenden unvollkommenen Blüthen. Die Inflorescenz der Maregravia- Arten bildet nämlich eine Scheindolde, die oberſten Blüthen (die centralen) ſind verkümmert und ihr Stiel iſt nicht blos mit dem Stiel, ſondern auch mit dem hohlen, ſackförmigen Limbus der Braktee auf deren der Rhachis zugekehrten Seite verſchmolzen, ſo daß die unfruchtbaren Blüthen im günſtigſten Falle als Miniaturblüthen, in vielen Fällen nur als kleine, oft kaum ſichtbare Knöpfchen etwas vor dem oberen (geſchloſſenen) Ende der Säcke hervortreten. (Vergl. Fig. TA und Fig. Vf.) Ueber die Art und Weiſe, wie aus den Brakteen die eigenthümlichen Schläuche ꝛc. der Marcgraviaceen entſtehen, waren die Anſichten früher verſchieden. Aug. de St. Hilaire!) ſprach die Anſicht aus, daß ſie durch Verwachſung der Ränder gewöhnlicher blattartiger Brakteen entſtanden ſeien, während A. L. de Juſſieu (Ann. de Mus. XIV. pag. 403) angenommen hatte, die Schläuche der Maregravia ſeien durch Herabſchlagen der Braktee und An— wachſen ihrer Ränder an den Blüthenſtiel gebildet, ſo daß das oben geſchloſſene Ende der Säcke gewiſſermaßen die Baſis darſtelle. Das Verdienſt, die wahre Art der Entſteh— ung: durch Hervorſtülpung der ur— ſprünglich flachen Spreite der Braktee nach oben (etwa wie ein Handſchuhfinger) zuerſt gezeigt zu haben, gebührt Triana und Planchon.“ «) Mit richtigem Takt er- ) Aug. de St. Hilaire, Flora Bras. mer. I. 242 (nicht 313, wie Triana u. Planchon in M&m. de Soc. Imp. d. Sc. de Cherbourg IX. pag. 76. citiren). — Au g. de St. Hilaire, Morph. veg. 198. (cit. nach Tr. u. Pl. I. ch). Wittmack, Die Maregraviaceen und ihre Honiggefäße. gewöhnlichen fertilen, ſondern nur an den kannten ſie an ihrer Norantea mixta, wo die unterſten Brakteen blattartig und 273 an der Hauptachſe befeſtigt, die mittleren etwas gebuckelt, die oberſten ſackartig erſchei— nen, daß dieſe Buckel der erſte Anfang zur ſackartigen Ausſtülpung ſeien und wandten dieſe Theorie dann auf alle Marcgraviaceen an.“ **) Bei dem reichen Material, das mir bei Bearbeitung der Maregraviaceae für die Flora brasiliensis bereitwilligſt von dieſer in den Herbarien meiſt ſchwach vertretenen Familie allerſeits zur Verfügung geſtellt wurde, gelang es mir, noch eine große Zahl von Fällen aufzufinden, welche dieſe Ausſtülp— ungstheorie vollkommen beſtätigen. (Einen der ſchlagendſten habe ich auf Taf. 40. II. B. der Martius'ſchen Flora 1. c. von Mare- gravia rectiflora Tr. u. Pl. abge⸗ bildet.) An einem Exemplar, das Herr Con- ſul Krug in Portorico ſammelte und das ich der Güte des Herrn Dr. F. Kurtz verdankte, fand ſich eine Braktee, die im Längsdurchſchnitt einen bereits zum hohen Buckel emporgeſtülpten mittleren Theil zeigte, während die Spitze des Blattes ſich an— ſchickte, in die an der Mündung der Mare- gravia-Schläuche ſo häufig auftretende Zunge ſich umzubilden. Auf. Taf. 41. I. iſt a. a. O. der ſeltene Fall abgebildet, wo auch an den Blüthenſtiel einer fertilen Blüthe eine Braktee und zwar nur eine ſchwach kapuzen⸗ förmige angewachſen iſt. Auch Norantea brasiliensis Chois. bot mehrere intereſſante Fälle dar, wie z. B. Martius' Fl. bras. fasc. 81. t. 47. IV. J., wo eine Braktee noch vollſtändig % Triana u. Planchon, Mem. d. Cherbourg IX. pag. 76. h Durch freundliche Darleihung des Ori— ginalexemplars ſeitens des Herrn Triana war ich in der Lage, auf Taf. 45. I. der Flora brasiliensis Fasc. 81. die merkwürdige N. mixta abbilden zu können. blattartig und an der Hauptachſe der Inflorescenz inſerirt ſich zeigte und in ihrer Achſel eine Blüthe trug, während eine (auffallenderweiſe) etwas tiefer ſtehende Braktee ebenfalls an der Hauptachſe inſerirt war, aber ſchon eine bedeutend kleinere Spreite mit den Anfängen zu den bei dieſer Art typiſchen zwei Buckeln aufwies. — Bei N. brasiliensis bot ſich auch Ge— legenheit, an einem Exemplare (I. c. J. j.) die Sache entwickelungsgeſchichtlich zu ver— folgen. An einer ganz jugendlichen In— florescenz zeigten ſich die breit-eiförmigen Brakteen flach, aber mit einer Andeutung zum Spatelförmigen; meiſtens trat in der Mitte eine ſchwache Criſta auf, zu deren Seiten ſich die beiden Buckel auszubilden anfingen, die ſpäter als zwei Backen auf der Innenſeite der Halbkugel, welche die Braktee ſchließlich darſtellt, erſcheinen. Die Entwickelung iſt an genanntem Orte auch ſchematiſch dargeſtellt. Aehnliche Verhältniſſe finden ſich bei Norantea anomala H. B. K., von der Größere Schwierigkeiten bieten auf den erſten Blick die reitenden Brakteen Abarten, die bisher gewöhnlich, wie z. B. 8. Mart. ꝛc., als beſondere Arten ohne genügen— den Grund unterſchieden wurden. Jedoch gelang es auch hier, allerdings nur ein einziges Mal, die Entſtehung aus einer blattartigen Braktee nachzuweiſen und dies iſt oben Fig. III y dargeſtellt. Die ab- norme Braktee, welche dieſer Zeichnung zu Grunde liegt, beſteht aus einem flachen, dreieckigen, an der Baſis etwas pfeil— förmig eingeſchnittenen Blatt, welches nahe vor einer Spitze in einen kolben— (Ruyschia) bahiensis Mart., S. amazonica Wittmack, Die Maregraviaceen und ihre Honiggefäße. auch jüngere Zuſtände unterſucht werden konnten, wieder. (Siehe a. a. O. Taf. 48. III.) von Souroubea guianensis und deren vielen förmigen Sporn, wie er eben der Souroubea guianensis eigenthümlich, emporgeſtülpt iſt. Denkt man ſich die Einſchnitte an der pfeilförmigen Baſis tiefer gehend, ſo erhält man die beiden Schenkel (Beine nach Triana und Planchon) der Braktee, welche dem Blüthenſtiel an der Außenſeite reitend auf— ſitzen. N Bezüglich der Art der Umwandlung einer flachen Braktee in eine faſt ſolide Kugel, wie ſie bei R. sphaeradenia Delp. auftritt, konnten keine erläuternden Beiſpiele aufgefunden werden. Theoretiſch läßt ſich aber leicht aus der ſpatelförmigen, dickwandigen Braktee der verwandten R. elusiaefolia Jacq. die Entſtehung der Kugel erklären, indem man annimmt, daß die Ausſtülpung nach beiden Seiten erfolgt. (Fig. III qu.) Im Allgemeinen folgt aus allen auf— geführten Beiſpielen, daß die Schläuche der Marcgraviaceen in der That durch Empor— ſtülpung der Blattſpreite, nicht durch Ver- wachſung der Ränder entſtehen. Auch der anatomiſche Bau der Innenſeite der Schläuche ſtimmt mit dieſer Auffaſſung, die Innenſeite entſpricht der Unter ſeite des Blattes; man findet in einzelnen Fällen ſelbſt Spalt- öffnungen und, wie noch ſpäter gezeigt werden ſoll, auch Drüſen, wie ſie bei manchen Arten dieſer Familie auf der Unterſeite der Blätter, namentlich zwei am Blattgrunde, vorkommen. Der Vergleich der Ascidien der Maregraviaceae mit denen der Ne- penthes, Sarracenia 2c. iſt deshalb nicht zuläſſig, weil bei dieſen letzteren die Innen— ſeite der Becher der O berſeite des Blattes entſpricht. Faſt alle Reiſenden, welche die Marc— graviaceen im lebenden Zuſtande ſahen, berichten, daß ihre Schläuche mit Nektar gefüllt ſind, und ohne Zweifel trägt neben S r rr n rr r un ihrer Schönen Farbe und ihrer anſehnlichen Größe, gegen welche die Blüthen z. Th. ganz verſchwinden, dieſer ſüße Inhalt mit dazu bei, die Inſekten (wie Delpino vermuthet, auch kleine Vögel) anzulocken. Die Brakteen dienen alſo ohne Frage als Vermittler der Befruchtung. Unbekannt war aber bisher, wo der Nektar abgeſondert werde und namentlich, wo deſſen Austrittsöffnungen ſeien. Triana u. Planchon, welche dieſem Gegenſtande eine ganz beſondere Aufmerk— ſamkeit widmeten, ſagen (a. a. O. S. 86), fie hätten bei N. guianensis zwar eine papillöſe Epidermis an der Innenſeite der Schläuche gefunden, geben aber ſelbſt zu, daß eine ſolche Epidermis (ſie hätten hin— zufügen können, eine meiſt noch papillöſere) auch auf der Außenſeite vorhanden iſt. „Nichts im Uebrigen, was auf beſondere Austrittsöffnungen für das Sekret hinweiſt“, daß doch vielleicht die Zellen der inneren Epidermis, welche ein ſchlaffes Gewebe überdecken, eine Flüſſigkeit ausſchwitzen. — Bei Maregravia vermuthen ſie die ſecer— nirende Fläche in den Falten der inneren Epidermis, die nach ihnen in das innere Gewebe der Braktee einſpringt. Auch mir gelang es lange Zeit nicht, die Austrittsöffnungen für den Nektar zu finden, bis ich endlich — gerade an der ſeltenſteu Art: Ruyschia sphaeradenia, die an und für ſich ſchon zum eingehendſten Studium aufforderte, ſie entdeckte. Es zeigen ſich Rhachis zugewendeten Seite der kugelför— migen Braktee zwei feine, nadelſtichartige Oeffnungen, welche in zwei kleine Höhlungen der ſcheinbar ſoliden Kugel führen. Die Höhlungen ſind von zartem Parenchym— gewebe (nicht von papillöſen Zellen) umgeben nämlich (ſ. oben Fig. II t, u) an der der [BE Wittmack, Die Maregraviaceen und ihre Honiggefäße. heißt es weiter. Sie vermuthen ſchließlich, 275 und wird ohne Zweifel der Nektar in dieſem Gewebe abgeſondert und durch ein— fache Durchſchwitzung in das Honiglager, die beiden Hohlräume, geführt. Auffallend iſt hierbei, daß ſich an jüngeren Erem- plaren nur die Hohlräume, nicht aber die Ausführungsgänge finden und ſcheinen dieſe letzteren erſt zur Blüthezeit, wenn die Honigabſonderung beginnt, vielleicht durch bloßes Auseinanderweichen der Zellen, ſich zu bilden. Die Spärlichkeit des Materials erlaubte bei dieſer Art keine zahlreichen Unterſuch— ungen. Der Weg zum Auffinden der Nektar-Ausführungsgänge war aber gezeigt und es war nun nicht ſchwer, auch bei anderen ſie zu entdecken. Zunächſt bei der verwandten Ruyschia elusiaefolia Jaeg. Hier zeigten ſich ganz deutlich in der Mitte der Innenſeite der Braktee zwei kleine Schwielen mit feiner Oeffnung. — Ein Querſchnitt belehrt, daß ſie in zwei unregelmäßige halbkreisförmige Kanäle führen, welche die Braktee der Länge nach auf eine Strecke durchziehen. (S. oben Fig. II I, s.) Eben ſolche zwei Schwielen oder Drüſen mit feinem Porus finden ſich auch auf der Innenſeite bei Norantea anomala H. B. K. vor, wie man das beſonders bei jüngeren Brakteen deutlich ſieht (Fig. II o, p). Hier ſind ſie aber mehr am oberen Ende, dem künftigen Helm. Aehnlich iſt das Verhal— teu bei allen anderen Norantea-Arten; ſelbſt bei den verhältnißmäßig dünnwandigen Braf- teen der Norantea guianensis, N. paraensis w. erkennt man innen im oberen Theile des Schlauches die zwei Oeffnungen in Form von zwei Drüſen mit feinen Oeffnungen wieder (ſ. oben Fig. IV ). — (Nebenbei ſei angeführt, das der hohle Innenraum der Brakteen bei dieſen Arten C 276 oft durch eine Scheidewand in eine große und eine kleine Kammer getheilt iſt.) Auch bei Maregravia finden ſich innen, im oberen Theile der Braktee, zwei Poren vor, und ein Längsſchnitt zeigt, daß dieſe mit dem Nektar abſondernden Gewebe, welches in einer concentriſchen Schicht die dicke, holzige Wand des Schlauches durch— zieht, in Verbindung ſtehen. (S. oben Fig. Vd.) Die concentriſche Schicht hatten auch Triana und Planchon ſchon gefunden. Wir haben ſomit bei allen vier Gattungen zwei Poren als Austrittsſtellen für den Nektar und zwar meiſt auf der Spitze zweier Drüſen. Dieſe beiden Drüſen ſind ohne Frage denjenigen analog, welche ſich faſt bei allen Arten der Marcgraviaceen auf der Unterſeite der Blätter finden“); wahrſcheinlich entſprechen ſie ſpeciell den bei— den nahe dem Blattgrunde faſt nie fehlenden, Drüſen und wir haben auch in dieſen Poren alſo eine Andeutung für die Blatt- natur der Nektarien. — Im Jugendzuſtande ſind die Drüſen auf der Unterſeite der Blätter gleich den zahlreichen Randdrüſen geſchloſſen und mit einer harzigen Maſſe erfüllt (der Honig iſt das Analogon dieſes Harzes). Später fällt die Harzmaſſe aber heraus, die Drüſen ſind dann oft weit geöffnet und es hat häufig den Anſchein, als ob die entſtandenen Gruben von In— ſektenſtichen herrührten. Man kann um fo mehr zu letzterer Auffaſſung ſich verleiten laſſen, als nicht ſelten Milben ꝛc. ſich dieſe Gruben als Schlupfwinkel aufſuchen. In einzelnen zweifelhaften Fällen wandte ich mich an Herrn Prof. Thomas in Ohr- ) Die Drüſen auf der Unterſeite der Blätter ſind oft ſo zahlreich, daß ſie Art— unterſchiede abgeben, jo z. B. bei Maregravia myriostigma Tr. u. Pl. und bei M. Eichleriana | Wittm. Wittmack, Die Marcgraviaceen und ihre Honiggefäße. druf; doch auch dieſer genaue Kenner der durch Milben ꝛc. veranlaßten Deformationen kam, wenngleich er nicht immer ganz ſicher entſcheiden konnte, zu dem Reſultat, daß die Mehrzahl der Gruben nicht durch äußere Einflüſſe veranlaßt ſei. Bemerkt zu werden verdient noch hin— ſichtlich der Nektarien, daß, obwohl ihre Oeffnung gewöhnlich nach unten gerichtet iſt, doch der Honig nicht ausfließt. Bei den meiſten Norantea-Arten mit großen Schläuchen ſchlägt ſich der Schlauch, wenn er mit Honig gefüllt iſt, um, wie ſchon Aublet abbildet.“) (Vergl. Fig. IV k.) Bei Souroubea guianensis, wo die Brakteen reiten, biegt ſich der anfangs aufgerichtete Sporn ebenfalls nach unten, wenn er nicht ſchon durch Zurückſchlagen des Blüthenſtieles früher in dieſe Lage gekommen ſein ſollte. Bei Maregravia aber iſt die ganze Inflo⸗ rescenz hängend, ſo daß die großen Schläuche doch mit ihrer weiten Oeffnung nach oben kommen. Man ſieht, die Natur hat auch hier alle Vorkehrungen getroffen, um die Be— ſtäubungs-Vermittler anzulocken, und eine künſtliche Beſtäubung iſt nöthig, weil die Blüthen protandriſch ſind. — Aus allem Angeführten folgt aber weiter, daß die kleine Familie der Maregraviaceae in anatomiſcher, morphologiſcher und phyſiolo— giſcher — fügen wir noch hinzu, auch in ſyſtematiſcher Hinſicht — höchſt intereſſant iſt. Zu bedauern bleibt es nur, daß die meiſten Arten trotz ihrer Schönheit ſich noch nicht in unſern Gewächshäuſern finden. Freilich nur ſelten auch dürften ſie in ihnen zur Blüthe kommen, denn es ſcheint, als wenn ſie erſt viele Jahre alt werden müſſen, ehe ſie ſich dazu anſchicken. Y Pl. d. I. Guiane I. t. 220., (vergl. auch Martius, F. bras. fasc. 81. t. 47. III.). W 0 Die oben erwähnte intereſſante Studie Delpino's über die Maregraviaceae iſt im kurzen Auszuge wiedergegeben von Hildebrandt in Bot. Zeit. 1870 S. 671.; Vgl. auch Herm. Müller, Die Befruchtung der Blumen durch Inſekten S. 152. — Ferner iſt noch hinzuweiſen auf H. Müller's Auszug aus Thomas Belt, the Naturalist in Nicaragua, Lon- don 1874 in Jaeger ꝛc, Encyclopädie der Naturwiſſenſchaften 1879. S. 16, wo an Maregravia nepenthoides die Beftäub- ung durch Vögel beſchrieben iſt (Abbildung leider ſehr unbedeutend, vergl. dagegen oben Fig. J nach Martius' J. c. t. 44.). — Bemerkenswerth iſt andererſeits, daß Fritz Müller zu Itajahy, Santa Catharina, in der Bot. Zeitung 1870 S. 275 die Beſtäubung bei Norantea durch Vögel, wie Delpino vermuthete, bezweifelt, da die Färbung der Blüthen eine dunkele iſt (doch nur bei wenigen Arten, W.); er hat nie Kolibris, welche vor Allem helle, grelle Farben lieben, daran geſehen. Reſultate: 1. Die Nektarien der Marcgraviaceen find in den meiſten Fällen durch Ausftülp- ung der Spreite blattartiger Brakteen nach oben entſtanden. 2. Der Honig wird im Gewebe der Kosmos, III. Jahrg. Heft 4. Wittmack, Die Maregraviaceen und ihre Honiggefäße. Nektarien-Wandungen abgeſondert und durch zwei Poren nach außen geführt. 3. Dieſe zwei Poren entſprechen wahr— ſcheinlich den beiden Drüſen am Grunde der normalen Blätter. 4. Der Honig iſt gewiſſermaſſen ein Analogon des in den normalen Blattdrüſen vorkommenden Harzes.“ ) ) Anm. d. Red. Wenn man die höchſt merkwürdigen Nektarien-Bildungen bei Mare— graviaceen, Orchideen und anderen Pflanzen— familien, und die umfaſſenden Studien be— trachtet, welche Sprengel, Darwin, H. Müller, Delpino u. A. an denſelben an- geſtellt haben, ſo kann man es nur als ein Beiſpiel der nicht ſeltenen „Beobachtungen mit geſchloſſenen Augen“ anſehen, wenn M. G. Bonnier in der Sitzung der Pariſer Akademie vom 24. März 1879 behauptet: An der ganzen angeblichen Inſekten-Anlockung der Blumen ſei nichts Wahres, es gäbe keine gegenſeitige Anpaſſung zwiſchen Blumen und Inſekten, die honigabſondernden Gewebe und Nektarien ſeien einfach Nahrungsſtoff-Reſervoire, wie man Stärkemehl und Inulin in beſtimmten Theilen der Pflanzen abgeſondert fände, um gelegentlich wieder reſorbirt zu werden. (Revue scientifique 5. Avril 1879 p. 951.) So hatte ſchon Dr. Erasmus Darwin den Blüthenhonig für ein Nahrungs- und Stärkungsmittel der Geſchlechtswerkzeuge der Pflanzen angeſehen. (Vergl. Kosmos, Band IV. S. 407.) 37 Der Achlangeumythus. Von Joh. I. Becker. (Schluß.) N m fange “ fo lautet die Sage Ueberaus häufig iſt in allen alten Mythen 57 2 der Orphiker, „war Waſſer und die Verbindung des Schlangenleibes und 155 der befruchtende Schlamm. Aus Fiſchſchwanzes mit einem Stier- oder ftier- N dieſem kroch hervor die Schlange. gehörnten Menſchenkopfe. Nach dem „Bun⸗ Sie hatte Widder- und Stier- deheſch“ iſt der Stierfiſch in allen Meeren köpfe, auch Löwenköpfe, und in der Mitte zu finden. In Egypten wird ſogar der das Antlitz eines Gottes, Flügel aber auf („Waffer“-) Stier („Apis“ von Apa — den Seiten. Es war Phanes.““) Aqua) ſelbſt an Stelle der Schlange der Im Anfang, ſagt Beroſus, ſei Alles heiligſte Gegenſtand der Verehrung, und Waſſer geweſen, in dieſem lebten Thiere die egyptiſchen Könige trugen zwar auch an von furchtbarer Geſtalt, Fiſche und Gewürm ihrem Diadem das Schlangenabzeichen zum mit Köpfen anderer Thiere.) Beweiſe ihrer Abſtammung, aber größer „Oannes, ein Weſen in Fiſchgeſtalt, ſtieg als dieſes waren die Stierhörner, die fie aus dem Meere, und lehrte die Menſchen, auf dem Kopfe trugen. Stiergehörnt, wie die wild wie die Thiere lebten, Städte zu ſie, waren aber noch in geſchichtlicher Zeit bauen, die Aecker zu beſtellen, zu ſäen, zu die alten Germanen, und denkt man ſich ernten, kurz alle Kenntniſſe, die zum menſch- einen ſolchen Urgermanen in einem Schlan— lichen Leben gehören, auch die Kunſt der genkahne an den Geſtaden des Mittelmeeres Feldmeſſung. Von den ſo belehrten Men- landend, und aus dem Kahn, in ſeine Stier— ſchen erhielt Alorus die Herrſchaft; unter haut gehüllt, ans Land ſteigend, ſo hat man ihm und ſeinen ſechs Nachfolgern ſetzten auf einmal ein volles Verſtändniß aller der ſechs andere Fiſchmenſchen die Belehrung Sagen, in denen die Schlange ſich in einen des Oannes fort.“ * Stier verwandelt. Der Stier, d. h. das Feen Symb. I. 104. 2. Aufl. Rind überhaupt, iſt aber das erſte und ) Spiegel, Eran. I. 453. älteſte Haus- und Zugthier der ariſchen ) Ebendaſ. I. 472. Raſſe, und die eraniſche Sage läßt den we. ———— Becker, Der Schlangenmythus. Urſtier zugleich mit dem erſten Menſchen geſchaffen werden. Sprachunterſuchungen be— weiſen dagegen, daß den Urſemiten, alſo wahrſcheinlich allen Völkern Vorderaſiens und der angrenzenden Geſtade des Mittelmeeres, das Rind unbekannt war, und daß erſt die ariſchen Einwanderer es ihnen brachten. Da— her erklärt ſich den nun vollſtändig, wenn die Mythen Vorderaſiens und des griechi— ſchen Sagenkreiſes den Stier und die Kuh gerade wie die Schlange als dem Meere ent— ſteigend betrachten. Nach der germaniſchen Mythe wohnen die Aſen mit den Lichtelfen in Aſaheim. Höher noch als Aſaheim iſt Gimle. Nie- Wanderer des uraliſchen Volkes waren, driger dagegen liegt Mannaheim, und über dieſes hinaus Wanaheim. Dann folgt ein breiter Strom, jenſeits deſſen Yötunheim liegt. ſchwarzen Zwerge, die mit den Göttern Aſa- und Wanaheims im Streite liegen. Hier iſt auch das Ginungagap, der gähnende Schlund des Meeres, und Utgard, wo Ut- | gard-Pofe, der grimmigſte Feind der Aſen, obwohl ſelbſt von ihrem Geſchlecht abſtam— mend, herrſcht. Wenn wir nun Gimle mit dem ſchnee— bedeckten, ſchimmernden Hochgebirge des Hin— dukuſch, Mannaheim mit dem Thalgelände ſeiner Nordabhänge, Wanaheim mit der an- grenzenden Küſte des Diluvialmeeres des aralo-kaspiſchen Beckens, den Meeresſtrom mit einer tiefen Einbuchtung dieſes Meeres nach dem Balkaſch-See hin, Yötunheim mit dem Lande an den Ausläufern des Weſt— Altaigebirges, das Ginungagap mit der von Humb oldt im Kosmos beſchriebenen Furche, durch die in der Diluvialzeit der aus dem Becken des ſchwarzen Meeres kommende Saharaſtrom, die „Midgardſchlange“, in das nördliche Eismeer abfloß, Utgard mit dem Gebirgslande des Ural, und Nifelheim Hier wohnen die Rieſen und die 279 mit dem Ocean des Nordens vergleichen, ſo beweiſt ein Blick auf eine gute Höhen— karte des aralo-kaspiſchen Gebietes, daß die geographische Vorſtellung der germaniſchen Mythe den Bedingungen der Diluvialzeit?) fo genau entſpricht, als man nur erwarten kann. Aus dieſem Grunde ſtellen wir den Phanes der Orphiker, den Oannes der Babylonier mit den Wanen der germani— ſchen Mythe zuſammen, indem wir voraus— ſetzen, daß eben dieſe Wanen, die Küſten— bevölkerung der altariſchen Heimath, die erſten, und ſo lange die eiserfüllten Päſſe des ſüdlichen Hochgebirges unpaſſirbar blieben, die einzigen Kahn fahrer und und daß ſich von dieſer Beziehung ihr Name ſelbſt herleitet. Wer immer ſich mit dem Studium der Urgeſchichte befaßt, muß auf die außerordentliche Verbreitung eines Wurzel— ſtammes in alten Völker- und Ländernamen und Herrſchertiteln aufmerkſam werden, deſſen Urform mit größter Wahrſcheinlichkeit Kwan war. Schon Bachofen empfand in ſeinen Unterſuchungen über das „Mutterrecht“ das Bedürfniß, den Sinn dieſer Wurzel auf zuhellen.**) Er glaubt, daß dieſelbe die „Erde in ihrer heiligen Mutterbedeutung“ bezeichne. Laſſen in ſeiner „Indiſchen Urgeſchichte“ (Bd. I, S. 722) dagegen läßt ſich über ) Nicht lange vor der Veröffentlichung unſeres Artikels: „Ein Wendepunkt in der Ur— geſchichte des Menſchengeſchlechts“ (Kosmos, Bd. II. S. 141, 241), erſchien im März⸗ hefte (1878) von Petermann's geographiſchen Mittheilungen eine Karte von Europa zur Eiszeit, die die geographiſchen Verhältniſſe der Urzeit zu veranſchaulichen geeignet iſt, obwohl ſie leider nur den weſtlichen Theil des aralo-kaspiſchen Beckens mit einbegreift. **) Mutterrecht, S. 175, 201, und im Index Kandake. vana“ als Stammesname aus, das im Norden in Turan, an den Grenzen Indiens, in Südarabien, endlich in Griechenland lin der Form „Jonier“) und an anderen Stellen auftrete und offenbar eine generelle Bedeut- ung haben müſſe. Er glaubt, daß dieſe mit „jung“ identificirt werden könne. An einer anderen Stelle (I, 781) ſucht er den Namen der Pandava, der Eroberer und Helden des Mahabharata, der ebenfalls auch außerhalb Indiens vorkommt, als „weiß“ zu erklären. Wir glauben nicht, daß irgend eine dieſer Erklärungen das Richtige getroffen oder der Wurzelbedeutung auf den Grund nachgeſpürt hat. Die Bachofen'ſche ver- werfen wir von vornherein, weil die abſtrakte Philoſophie, aus der ſich der Begriff „Erde in ihrer Mutterbedeutung“ entwickeln konnte, offenbar ſpäteren Datums iſt als die Sprach— wurzel. Gegen die concreten Erklärungen Laſſen's hätten wir dem Sinne nach nur einzuwenden, daß die Bezeichnung: „jung“ doch wohl kaum auf Volksſtämme angewendet werden würde. Der weitere Einwand aber iſt der, daß, wie auch Bach— ofen bemerkt hat, die Form Pandu ge— ſchichtlich in häufige und enge Beziehung mit der Form Kand, Kund (Kunti, Mutter der Pandavas, Kandake, Ganamegaja, ein Nachfolger der Pandavas) zu treten ſcheint. Wir ſind demnach zur Ueberzeug— ung gelangt, daß die erwähnten drei Formen nicht nur unter ſich, ſondern mit vielen anderen Worten zuſammenhängen, deren weite Ausdehnung (neben den von Bach— ofen S. 201 zuſammengeſtellten Bei— | ſpielen) aus den Worten Khan (tartariſch), | Wang, und Khwan (dinefifch) | König, Fürſt und Mandarin, Kanek, König, und Kan, Schlange, in der Sprache der Kung Becker, Der Schlangenmythus. das häufige Vorkommen des Wortes „Ja⸗ alten Kulturvölker Centralamerikas und dem deutſchen „König“ ſelbſt zu erſehen iſt. Hierher ſtellen wir denn auch nebſt den Wanen, dem Phanes und Oannes, nicht nur die Javana, ſondern auch die Pandava des Mahabharata, den Pan— dion, den Pan und die Pane griechiſcher Ueberlieferung, den Janus und die Faune der Lateiner, den Kain der Bibel u. ſ. w. (Völkernamen, in denen dieſe Wurzel vor- kommt, ſind ſo zahlreich, daß wir im Raume dieſes Artikels auf Beiſpiele ver— zichten müſſen). Mit dieſem Wurzelſtamme verbinden wir aber auch die „Gand-harven“ der indiſchen, die „Kent-auren“ der griechiſchen Mythe. Nach Laſſen (J, 913) erſcheinen die Gandharva als Frauen ſehr liebend, ſind große Freunde der Muſik, haben Pferde, hatten ihren Wohnſitz im Norden (des Himalaya) in der Nähe des Manaſa-Sees, in der Nähe der Wohnung der Kuvera (deutſch Kufe, ſiehe unten Kap). Sie nehmen an menſchlichen Schlachten Theil und können von menſchlichen Helden beſiegt werden. Nach Spiegel (Eran) gehört Gandareva der Waſſerwelt an, ſteigen aber nach Belieben ans Land. Der Dämon Gandarf, der im See Vouru Caſha lebt und dem das Waſſer blos bis an die Füße reicht, wird wiederholt von den Hel— den des Königsbaches bekämpft. Auch in den indiſchen Ueberlieferungen halten ſich die Gandharven gern in Strömen und überhaupt am oder im Waſſer auf. Die griechiſche Tradition ſtimmt mit Han Cha⸗ rakter überein.“) 5 Das Thema der Gandharven und der noachiſchen Einwanderung habe ich in meinen Artikeln „Zur Entwickelungsgeſchichte ſemiti— ſcher Sitten (Voſſ. Zeitg. Sonntagsbeil. Nr. 25-30, 1878) des Weitern ausgeführt. | Nun heißt kandhara*) in der indo⸗ germaniſchen Urſprache, ??) kandola im Sanskrit: „Korb, Rohrkorb“. Ein ſolcher man ſich ſchon eher, wie die mythiſchen Gandharven gern thun, im Waſſer beluſti— gen kann. Iſt er aber mit Häuten über⸗ zogen, ſo haben wir eine Art Kahn, wie ſie noch heute bei vielen Stämmen gebräuch— lich iſt. Die Kelten nannten ein ſolches Fahrzeug „Coracle“. Höchſt wahrſchein— lich war das „Knara“, das im Altgerma— niſchen“ *) „Schiff“ bedeutet, ein „Gand— hara“, d. h. wie wir es erklären, ein „ge— flochtener Kahn“ r) oder noch richtiger ein „geflochtenes Gefäß“. Denn „hohles Gefäß“ iſt wohl die urſprünglichſte Be— deutung des Namens Kwan, von dem ſich das deutſche Kahn, Kanne, Wanne, Pfanne gleicherweiſe ableiten läßt. (Merk— würdig analog dem Deutſchen iſt in dieſem Falle das Chineſiſche, in dem Kuan ſowohl den „Sarg“ als den „Hut“, und ähn— liche Worte andere Hohlgefäße, z. B. Pfanne, Koffer u. ſ. w. bezeichnen.) Aus derſelben Grundbedingung erklären wir auch gvana, Weib, als genetrix, das „Gefäß“ des Geburtsproceſſes. Von den Ableitungen heben wir noch gens hervor, weil dieſes Wort ſowohl auf die Bedeutung des Zeugens, als auch, nach der Analogie von „Sippe“ und „Naukratie“, geradezu auf Kahn zu— ) Es hat ſich uns ſogar die Frage auf— gedrängt, ob nicht die Kandravanca, das „Mondgeſchlecht“ der Sanskrit-Ueberlieferun— gen, mehr mit dieſem Kandhara als mit dem Monde an ſich zu thun haben. Jedenfalls iſt der heilige Mond immer eine wagrecht ſtehende Mondſichel, die ſehr leicht mit einem Kahn verwechſelt werden kann. Man ſehe die ſprechende Illuſtration in Ferguſſon's Tafel 85, in der die eine der beiden weib— lichen Statuen ſtatt der gewöhnlichen Form Becker, Der Schlangenmythus— iſt an ſich noch keine Gondel, mit der 281 rückgeführt werden könnte. Konko, Mu⸗ ſchel, kan, tönen, das im Germaniſchen von Tonne, ebenfalls einem Hohlgefäß, abgeleitet wird; vanga, Feld (eine hohle Thalmulde), gandha, Kinnbacken, Gau— men, küanos (griech.) ſowohl und cham (jem. und egypt.), als kvanya (ſlav.) in den Bedeutungen „dunkel“, „warm“ und „leer“, vom Innern des hohlen Gefäßes abgeleitet, gehören alle hierher. Die egyptiſche Hiero— glyphe kam iſt eine flache Schale, diejenige für kan dieſelbe Schale, aber als Kahn über Waſſerwellen ſchwebend. Die hervorragendſte urhiſtoriſche Wich— tigkeit haben die Begriffe, die ſich aus „Kahn“ entwickeln. Weil der Kahn in der Diluvialzeit das einzige Wanderfahr- zeug der zwiſchen dem Meere und dem ſchimmernden, ſchneebedeckten Hochgebirge ein— geengten Arier war, entwickelte ſich aus kwan der Begriff des Wanderns (kand, Fick, II. 339) und der Inſaſſe des Kahns erhielt denſelben Namen: Wane. Weil aber die Wanderer ſich ihren Weg erſtreiten und dabei überhaupt irgendwelche Arbeit und Mühe auf ſich nehmen mußten, verband ſich mit ghan, van, der Begriff des Käm— pfens und jener ganzen Reihe von Bedeut— ungen, die Fick (III. 286) aufzählt. Auch venja, Freund, bezeichnete an fremder Küſte den Vanen, der ſeinen Genoſſen als Retter in der Noth zu Hülfe kam. des Naga-Abzeichens eine Kandra (Mondſichel oder Gondel?) auf dem Kopfe trägt, in wel— cher der Schlangenfiſch als Paſſagier ſitzt. „Der Mond erſcheint oft als gehörnter Stier. Der Stiermond oder Fiſchmond trägt den Helden oder dient ihm als Brücke, ſtatt ihn zu verſchlingen.“ (Gubernatis-Hartmann, Thiere der indogerm. Myth. 597.) ) Fick, Wörterbuch. ) Ebendaſ. II. 354. r) Ebendaſ. III. 67. Weil aber die Kwana oder Jawana, wie es bei urgermaniſcher Sitte und Erbrecht nicht anders ſein konnte, junge Männer und jüngere Söhne waren, nahm eine andere Variation des Stammes den Sinn von juvenis, jung, an. Vom Begriffe „wan— dern“ übertrug ſich der Stamm auf Wanderthiere, zunächſt auf die, die, wie die | Wanen ſelbſt, mit dem Waller vertraut waren, und fo leitet ſich Hanſa (und zwar | ebenſowohl die heilige Gans Brahma's, als die deutſche Hanſa, die in den indi— ſchen Panis ihre Vorgänger hat, ſowie Genſerich, der Vandalen (Gandharen?) König, Schwan, Ente ab. Mit den Vandalen ſtehen die Wenden in ſehr naher Beziehung, und wir ſchließen uns alſo der Anſicht Schaffarik's vollſtändig an, der die Wenden, Vindeliker, Givy— net u. ſ. w. mit den Wanen der ger⸗ maniſchen Mythe identificirt, nur beſchrän- ken wir dieſe Identification nicht auf das Herrenelement (die polniſchen Pane) des ſlaviſchen Miſchvolkes. Denn in Panuco, Mexiko, läßt die Mythe die einwandernden Schlangengötter landen; in der Quichna- ſprache (Peru) heißt panta „umherſchweifen“, und dem egyptiſchen Punt, womit ſowohl die Javanen Südarabiens, als auch die Punier des Mittelmeeres bezeichnet wurden, die beide von der blonden Raſſe der Tamhu abſtammten, legt Ebers denſelben Sinn bei. Als endlich die Wanderungen der Wa— nen auf dem feſten Lande fortgeſetzt wurden, wurde das dem Menſchen ſich freiwillig an— ſchließende Wanderthier Hund, lateiniſch canis, chineſiſch khiuen und huan, die menſchlichen Wanderer aber Chun nan, Hunnen, chineſiſch Jouan (dieſe wohnten am obern Jeniſey und hießen auch Arintzi) u. ſ. w. genannt. warum der ſchlangenfüßige Pan der Griechen Wir verſtehen nun, vorgegangen ſei. Becker, Der Schlangenmythus. auch der „Hund“ der großen Göttin genannt wird (weil er nämlich nicht nur die Meere, ſondern auch die Länder durchſtreifte), ſowie die ganze Hunde- und Wolfsmythe. Auch der Zuſammenhang von to hunt, jagen, wird klar.“) Die Wanen wanderten und kämpften (gonda, Gunderich) nicht blos, ſondern ſiegten und herrſchten, und deshalb wurden ſie Khane in Turan, Wang in China, Kanek in Centralamerika, Kandake ) in Indien und Aethiopien, Kungana, Kan— da, Konja ſogar im Innern Afrikas, Könige überall. In dem Maße, in dem die Würde an Anſehen gewann, entſtand der Begriff, daß fie kvanta, heilig ſei. Zu die— ſen Königen gehören auch die Kava nen,) ) Was ſollte bei ſolcher Sprachmengerei und Willkür nicht „klar“ gemacht werden können? Red. ) Bachofen, Mutterrecht. 20. er, Kwan wird durch Einwirkung der Laut— geſetze des Uralaltaiſchen Kawan, Kapa, Kap oder Kip, welche Formen auch im Indoger⸗ maniſchen (Kappe — chineſiſch kuan; caput; Kufe; kaufen? wie Handel und Wandel von khwan), Semitiſchen (kabu, nach Schra— der altaſſyriſch Gewölbe; kabah das Schiff des Mekkatempels. Arabiſch iſt mer-keb — mer-kabah = Schiff; egyptiſch kabent Flotte; Lauth, Neuer Kambyſes-Text. 1875), im Centralamerikaniſchen (kab die hohle Hand, welches Wort, wie die von ihm abgeleiteten Formen der Zahl fünf, ſelbſt nur ein kwan ift) vorkommen. Kap oder Kip heißt im Ugriſchen der hohle Baum (die Wurzel kava heißt über— haupt im uralaltaiſchen Sprachſtamme „aus— höhlen“; Schott), und die goldene Horde Kaptschak (Kap-tschaken, die Saken der hohlen Bäume?), die ſeit mindeſtens einem Jahrtauſend in Centralaſien die Herrenkaſte bildet und in direkter Linie von dem blonden Usün (der Chineſen) abſtammt, erzählt, daß ihr Vorfahr aus einem hohlen Baume her— Nach einer von Schott „ „ das ureraniſche Herrſchergeſchlecht des Königs- buches, deren Nachkommen, die Kaya niden, | noch heute den Adel Segeſtans bilden. „Die Sarbandi (Serpentes?) theilten in alter | Zeit mit den Kayani und Schahreki die Herrſchaft in Seiſtan. Alle drei gingen unter dem Sammelnamen Nakhai.““) Dieſer Name Nakhai iſt für die Urgeſchichte von faſt derſelben Wichtigkeit, als die eben verfolgten Verbreitungen der Wurzel Kwan. Nakhai kommt von Nak- wan“), deſſen modern deutſche Formen „Nachen“ und „Napf“ wohl den urſprüng— lichen Sinn des Wortes als den eines aus— genagten hohlen Gefäßes, mit dem man auf dem Waſſer fahren konnte, getreu an— deuten. Die egyptiſche Hieroglyphe Neb wird ebenfalls durch einen flachen Napf ausgedrückt, was wir in Bezug auf die viel— fachen Nebu's, die in der Geſchichte Vorder— aſiens ſich bemerkbar machen (die Nabatäer u. |. w.) bemerken. Nachen aber ſtellen wir zuſammen mit Naga, der in Indien göttlich verehrten Schlange, von der die alten Herrſcher abzuſtammen ſich rühmten. Auch mit Nagnagit, dem Könige der Gandharven (Laſſen, I. 79), welcher Name ein fortlaufender Titel geweſen zu ſein ſcheint (I. 809). Auch mit Nahusha oder Naghuſha, der ob ſeines Stolzes von den Göttern aus dem Himmel gewor— fen, verflucht ward, Tauſende von Jahren als „Schlange“ zu leben. Auch mit na— hash (hebräiſch: Schlange; Naheschon hieß der erbliche Stammfürſt von Juda) und mit dem Noah der Bibel, der wohl („die echten Kirgiſen“) gegebenen chineſiſchen Quelle aber hielten die Uſze jährlich ein großes Feſt am Ufer des Fluſſes, dem ehe— dem ihr Vorfahr entſtiegen war. ) Schlag intweit, Seiſtan, im „Glo- bus“, Bd. XXXII, Nr. 12, 1877. ) Fick, Wörterb. III. 175. Becker, Der Schlangenmythus. 283 als urgermaniſcher Wiking von Noatun kam, wo nach der Edda Njord (Naga-ord? der Nachenbauer?) als Herr der „Wanen“ reſidirte. Ebendaher kam wohl auch der keltiſche Nos oder Neiv Nau Neivion, der auf einem Schiffe, das eines der drei Wunder der Welt war, die Vorfahren der Druiden nach dem Weſten führte. Wenn ſich die Letzteren in ihren heiligen Geſängen rühmten: „Ich bin ein Druide, ich bin ein Baumeiſter, ich bin ein Prophet, ich bin eine Schlange!“ wußten ſie vielleicht noch, was es mit dieſem ſymboliſchen Ausdruck auf ſich hatte.“) Zu demſelben Wurzelſtamme zählen wir natürlich auch die Najaden, den Inachos and die Anakes, wie in Athen die Dios— kuren genannt wurden, die hauptſächlich als Schutzgötter der Schifffahrt verehrt wurden. Identiſch mit ihnen ſind die Naſatyas oder Acvinen der indischen, und mit dieſen fällt der Naoghaitva der eraniſchen Mythe zu— ſammen. „An dieſen Namen,“ ſagt Spie— gel“), „ſcheint ſich in der Urzeit eine reiche Mythologie angeſchloſſen zu haben.“ Im Bundeheſch heißt er Nakait oder Na— ) Anm. d. Red. Der obige Druiden- ansſpruch dürfte wohl zugleich bedeuten, daß der Prieſter nicht nur Prophet, ſondern zu- gleich weisheitsvoller Schlangen— fetiſchman, d. h. Heilzauberer, war. Denn die Schlangen gehörten urſprünglich vorzugsweiſe zu dem Gewürm und Ottern— gezücht, das Krankheit, Unheil und heimtückiſchen Tod brachte. Das Feuer vertrieb Raubthiere und verzehrte das Gewürm; da nun das Feuer ſchlangenartig züngelnd ſich fortbewegte, wurde daſſelbe als Heilſchlange und fetiſchiſtiſcher Erlöſer angebetet, und Alle, die das Feuer handhaben lernten, waren Heilende und heilige Schlangenmänner. Vergl. Ca- ſpari, Urgeſchichte der Menſchheit. 2. Aufl. Bd. II. S. 133 flgde. * Eran, I. 129, \_ 284 vanhas; Navagas iſt ein wendiſcher Name der Vorfahren der Prieſterkaſte; Naglfari, ein Edda-Gott, der mit Schiffen zu thun hat, und Naharvalen, ein von Tacitus erwähnter germaniſcher Stamm, der beſonders die Alces, d. i. die Dios Denn die Kuru ſind ja daſſelbe ältere Gerade wie Sieben von Sippe, kuren verehrt habe. der Mannſchaft des ſiebenrudrigen Schiffes, jo ſcheint Neun, plattdeutſch: Negen, ſanskrit: Na vam, u. ſ. w., von der An— zahl der Köpfe im neunrudrigen Nachen abgeleitet. Im Kalmückiſchen, Mongoliſchen und Türkiſchen ſind die Nohyons oder Inaks, von den Chineſen Nganki ge— nannt,*) die Stammesvorſteher. Die mon— tenegriniſche Clanbezeichnung Nahia er— innert wieder an die Naukratie Athens. Im korniſchen Keltiſch tritt nak außerdem noch in Ignack oder Ednack —= Eilf auf. Nopa, Newi, Naui in verſchiedenen amerika— niſchen Sprachen heißt zwei und vier; Napeinwanka in der Dacotaſprache aber neun. Endlich gründet der amerikaniſche Votan, der Schlangengott, als erſten Kulturſitz die Stadt Nachan: Nahuas iſt der National- name der civiliſirenden Raſſe Mexikos, die aber auch Culhuas genannt werden und früher in Nacuix oder Necuametl gewohnt hatten. Von den Weſtauſtraliern, die den Waugul als geflügelte Waſſer— ſchlange verehrten, ſagt dieſelbe, ſchon im vorigen Artikel citirte Stelle im „Globus“ “), daß eine ihrer vier Hauptfamilien Naganok heiße, und daß Kole ein ſehr häufiger Eigenname ſei. Dieſe Nebeneinanderſtellung von nag kul oder kol ift um ſo auf- fälliger, als coa im Mexikaniſchen genau ) Plath, Geſch. Oſtaſiens, I. 610. **) Bd. XXXII. S. 74. 1877. und Becker, Der Schlangenmythus. daſſelbe bedeutet, wie Naga in Indien, nämlich die (in beiden Ländern hochverehrte) Schlange. Aber die Wurzel col ſelbſt erſcheint in Indien im verbreiteten Völker— namen der Kols. Noch wichtiger wird dieſelbe in ihrer älteren Form kur. Herrſchergeſchlecht der Sonnenraſſe, das von der neueren ariſchen Einwanderungswelle der Pandavas angegriffen und zum Theil ver— drängt wird. Im Bereiche dieſer älteren Herrſchaft aber waltete der Schlangendienſt vorzugsweiſe, ihre Fürſtengeſchlechter waren bis auf heutige Nachfolger die Nan ga— vanſes oder „ſchlangenentſtammten“, gött— lichen, „zweimal geborenen“ Geſchlechter Indiens. Nach der indiſchen Mythe aber giebt es Kuru auch außerhalb Indiens, und dieſe, die Uttara Kuru (die langleben- den Seligen im Norden, die Hpperboreer der Griechen), ſcheinen ſogar nach der my— thiſchen Auffaſſung die erſten und echten Kuru zu fein, von denen die indiſchen Kuru ſich abgezweigt hatten. Vielleicht war daſſelbe mit den Culhua Amerikas der Fall, die anſtatt, wie die indiſchen Kuru, nach der Fluth nach Süden, vielmehr nach Oſten und übers Meer gewandert ſind. Auch in der griechiſchen Mythe iſt der Stamm kur durch die Korybanten und Kureten vertreten. Im Keltiſchen war Coracle ein „geflochtener Korb kahn“, wie wir ſchon bei Betrachtung des Wortes Gandharba erwähnten. Endlich könnte eine Unmaſſe alter Völker- und Stammesnamen, wie Kurden und Chaldäer, Colchier, Gor— dier, Gallier u. ſ. w. (wir haben keinen Raum für fie!) auf dieſelbe Wurzel zurück— geführt werden. Zu ihnen gehört wohl auch das Kuſch der Bibel, da die Ab— ſchleifung von kur zu kus ſprachlich nicht eben ſelten ift, wie ſchon aus dem deut— ſchen küren — kieſen (kor, erkoren) hervorgeht. Die Grundbedeutung der Wurzel aber iſt in dem mexikaniſchen coloa, krüm⸗ men“), in den Worten Curve, endlich hohl, vollſtändig erhalten, und das Co— racle wurde wohl jo genannt, weil es ein gekrümmt geflochtenes, hohles Gefäß war. Die in dieſem hohlen Gefäß ſich dem Meere anvertrauten und auswanderten, erhielten den Namen Cur ..., Kuru, Kuſchiten, Culhua, Gaul. Zwiſchen den Kuru und den Pandu beſteht nun der ſchon erwähnte Unterſchied, der ein allgemeinerer zu ſein ſcheint, daß jene die erſtere und ältere Welle der ariſchen Auswanderung repräſentiren, die ſich ſprach— lich zumeiſt mit den unterworfenen Raſſen verſchmolz und demnach in der (ſpäteren) Geſchichte nicht mehr als ariſch, ſondern vielmehr als den Ariern ganz beſonders feindlich angeſehen wird, weil die Kuru eben die Herrſcher und Könige der fremden Raſſen geworden waren. Dieſe ältere Kuru⸗Welle nun repräſentirt auch in allen Ländern vorzugsweiſe die Schlangenverehrer. Die nach— folgende Welle der Pandus, Javana und Wan en überhaupt dagegen, — die ſich von der ariſchen Heimath etwa um die Mitte des zweiten Jahrtauſends vor unſerer Zeit— rechnung in Bewegung geſetzt zu haben ſcheint, und die in den folgenden Jahr— hunderten in Indien erobernd auftritt, in Eran durch die Zoroaſtriſche Reformation den reineren ariſchen Feuerdienſt wieder her— *) Der Stamm or findet ſich in ganz derſelben Bedeutung auch in den altaiſchen Sprachen. Er geht in ger über, und finniſch in kääri, wovon kärmet „Schlange“. (S. Schott, Abh. d. Berl. Akad. d. Wiſſenſch. 1847. S. 355—357, 387.) Becker, Der Schlangenmythus. 285 ſtellt, die zu gleicher Zeit vom ſchwarzen Meere aus über das Mittelmeer ſich ergießt, dort den kuſchitiſchen Völkern Canaans die Herrſchaft ſtreitig macht, Egypten wieder— holt angreift, Lybien erobert, und aus deren Verſchmelzung mit der früheren Bevölker— ung das ſpätere Hellenenthum und die mittelländiſche Civiliſation ſich entwickelte, — tritt allenthalben dem Schlangendienſte feindlich auf und behält auch, nachdem ſie ſich in den eroberten Ländern zur Herrſchaft emporgeſchwungen, die ariſche Sprache. Wir dürfen annehmen, daß dieſe zweite Welle, ſtärker als die erſte, genügte, um ariſche Begriffe, nach denen ein Kahn mit ſeinen Inſaſſen eben kein wunderbares Meerunge— heuer mehr war, dem naiven Wunder glauben der von den Kurus beherrſchten Urraſſen gegenüber zur Geltung zu bringen. Wohin aber dieſe zweite Welle nicht ge— langte, da erhielt ſich, — wie in Amerika, in China, in Theilen Südindiens, in Afrika, — die Verehrung der Schlange als Agatho— dämon und Vorfahr der edlen Geſchlechter bis in die neueſte Zeit.“) Bei der ſpäteren Welle tritt in dem Maße, in dem der Schlangenkultus zurück— gedrängt wird, die wahrere Bedeutung des— ſelben im Auftreten der Baummythe zu Tage. Gerade wie in der germaniſchen Mythe aus Eſche und Ulme die erſten Menſchen hervorgehen, ſo ſind am Pontus Euxinus die (nach Auffaſſung der Urbe⸗ völkerung) „ſchlangengöttlichen“ Geſchlechter *) Uebrigens möchte ich dem Mißver- ſtändniß vorbeugen, als ob eine ſcharfe Trenn— ung der beiden Wurzelſtämme kwan und kur, die zwei ſcharf getrennten Wellen der Aus- wanderung entſpräche, vorhanden ſei. Die letzteren gingen wohl in einander über, die Auswanderung ſcheint aber ums Jahr 1500 v. Chr. eine merkliche Steigerung erfahren zu haben. Kosm os, III. Jahrg. Heft 4. 286 (nach Auffaſſung der ariſchen Zuwanderer ſelbſt) die „eſchengeborenen“. Wir erinnern daran, daß Eſche und Ulme gerade dieje— nigen Baumarten ſind, die vorzugsweiſe zu Rudern verarbeitet werden. Die Berg— eſche wurde von den nordiſchen Völkern noch in der ſpäteren Wikingszeit nicht nur zu Runenſtäben, ſondern auch zum Bau der Schiffskörper ſelbſt benutzt.“) Noch Adam von Bremen braucht asco-manni, Eſchenmänner, im Sinne von Piraten (Wikingen), weil Wurfſpieße und Schiffe von Eſchenholz waren. „Ascus vel navis“, „Eſche oder Schiff“, heißt es in den ſaliſchen Geſetzen: 23. 2. Angelſäch— ſiſch äse-bora, hastifex. “*) Helm bezeich— net im Engliſchen heute noch Steuerruder. Einige Fälle, in denen die Schlange mit dem Baume (und auch mit dem hohlen Baume) in Berührung gebracht wird, habe ) Anm. d. Red. Den mythologiſchen Zuſammenhang über die am Pontus Euxinus „eſchengeborenen“ Geſchlechter und der Schlan— gengöttlichkeit dürfte man auch in einer an— deren Art aufzuhellen im Stande ſein. Be— denkt man nämlich, daß aus dem Holze das Feuer gerieben wurde, und Athem, Leben und Seele als etwas Feuriges galten, ſo lag der früheſten mythiſchen Denkweiſe die Schluß— folgerung nahe, daß nicht nur das Feuer, ſondern auch die Seele und die Geſchlechter der Menſchen aus dem Holze (hier die Eſche) ihren Urſprung genommen haben. — Feuer- reibung und Zeugung war bei den Indern und Urgriechen einerlei; beide Begriffe be— rühren und vermiſchen ſich in den Pramantha— und Prometheus-Mythen vollſtändig. Prome— theus, die Umwandlung des indiſchen Pra— mathi, d. h. des perſonificirten Feuerquirls, und ſein Doppelgänger, der „Sohn der Eſche“, „Phoroneus“ (Bhuranyu der Inder), wurden gleichzeitig als Feuer- und Menjchenerzeuger | gefeiert. (Siehe Caſpari, Urgeſchichte der Menſchheit, 2. Aufl. Bd. II. S. 73.) ) Schaffarik, Slav. Alterth. I. 486. Becker, Der Schlangenmythus. ich ſchon im vorigen Artikel angeführt. Sie könnten leicht vermehrt werden, da ſie ſich ſogar in Amerika vorfinden, doch erzwingt der Raum Beſchränkung auf das folgende Beiſpiel: Manaboſho bekämpfte einen anderen Geiſt, Paup Pup Keewis. Er verfolgte ihn einſt; da hüllte ſich Paup Pup Kee— wis in einen Wirbelwind und verbarg ſich in einen hohlen Baum. Manaboſho tödtet nun mit einer Art von Blitz die Schlange. Doch Paup Pup Keewis entzog ſich der Schlangenhülle noch zur rechten Zeit, er entkam und floh zu einem Manito, der in einem Felſen wohnte. Manaboſho erregte ein Erdbeben, das beide erſchlug. Aber die Seele des Paup Pup Keewis wurde in einen Königsadler verwandelt, der die Herrſchaft über die Vögel erhält. Wir ſind übrigens weit davon entfernt, in den Fehler der Uebertreibung verfallen zu wollen, deſſen ſich die naturphiloſophiſche Anſchauung ſchuldig macht. Wir bean⸗ ſpruchen nicht, daß unſere Deutung die allein richtige ſei, d. h. daß das Symbol der Schlange nicht oft in der Mythologie, gerade wie heute noch in bildlicher Sprache, zur Verſinnlichung anderer Ideen gebraucht wurde. Wir möchten die geſammte Miy- thologie jedes Volkes mit einem aus drei Strähnen zuſammengewundenen Tau ver— gleichen. Der eine der Strähne beſteht aus der Erinnerung der im engeren Sinne geſchichtlichen Erfahrung des Volkes; der andere aber, wie wir glauben urſprünglich nur bei den auf der erforderlichen Geiſtes— höhe angelangten Ariern, aus Naturſym— bolik;*) während der dritte geradezu phan— taſtiſches Beiwerk iſt, jedes Zuſammen— ) Anm. d. Red. Die genauere pſycho— logiſche Theorie des Mythus lehrt, daß die Phaſe der Naturſymbolik bei allen Völ— hanges und Sinnes entbehrend, das im Laufe der Zeit ſich durch den Mangel an Verſtändniß und Gedächtniß der Er— zähler ſelbſt in die Ueberlieferungen ein— geſchlichen. Was bei irgend einer ein— zelnen mythiſchen Erzählung der einen oder der anderen dieſer drei Entſtehungsurſachen zuzuſchreiben iſt, das zu entſcheiden iſt nur dann möglich, wenn es gelingt, die betreffende Erzählung in ihre gehörige Stelle des my— thiſchen Taues einzureihen und die Strähne des letzteren von Ende zu Ende zu verfolgen. Wenn z. B. Schwarz („Urſprung der Mythologie“) auseinander ſetzt, daß der Blitz als Schlange gedacht wurde, ſo kann dies für mehrere der angeführten Fälle un— bedenklich eingeräumt werden. Was wir aber gegen die Verallgemeinerung dieſer Deutung einzuwenden haben, iſt der Um— ſtand, daß der gefährliche Blitz — nicht das unſchuldige Wetterleuchten — immer vom, lauten, brüllenden Donner begleitet iſt. Die Gefährlichkeit der Schlange, auf welcher ſich das Anſehen, welches das Thier ſelbſt bei den Urvölkern beſaß, gründet, beſteht aber gerade in dem unheimlich geräuſchloſen, ſchleichenden Herannahen derſelben zu ihrem Opfer. Es fehlt alſo gerade für die Beob— achtung des Urmenſchen, deſſen Gehirn nur die Furcht, der Hunger und die Liebe in Bewegung ſetzt, das wichtigſte Element der Vergleichung beim gefährlichen Blitze, wäh- rend es andererſeits beim geräuſchlos durch das Waſſer ziehenden Kahn im hüchſten Maße vorhanden iſt. Um ſo weniger können wir vergeſſen, daß das eigenartige Symbol des Blitzes denn doch von Hellas bis zum Lande der Azteken nicht ſowohl die ſich oben— drein in wellenförmigen und mie in gerad— kern durchlaufen wurde, bei denen die my— thiſche Denkweiſe Früchte getrieben. Dies war Becker, Der Schlangenmythus. 287 linig gebrochenen Bahnen bewegende Schlange, als vielmehr der Pfeil geweſen iſt. Eben- ſo wenig iſt es zweifelhaft, daß das Feuer ſelbſt, namentlich das auf trockner Steppe faſt geräuſchlos und ſchlängelnd dahinzün— gelnde Feuer, oft und treffend mit einer Schlange verglichen wird. Gleichzeitig denken wir daran, daß bei den nordiſchen Völkern der „rothe Hahn“, bei den ſüdlichen der rothgelb gemähnte Löwe recht eigentlich als das Symbol des Feuers gegolten. Daß andererſeits die Midgardsſchlange den ocea— niſchen Meeresſtrom (Okeanos) darſtellt, kann doch wohl kaum bezweifelt werden. Alle die hier erwähnten Arten der An— wendung des Schlangenſymbols aber treten in der geſammten Mythologie nur neben— ſächlich auf. Ferguſſon hat den Unter— ſchied zwiſchen dieſen Schlangen und den eigentlichen göttlichen Schlangen wohl des— halb ſo klar geſehen, weil in Indien dieſe Unterſcheidung am ſchärfſten feſtgehalten worden iſt und ſich in älterer Zeit ſogar auf die Namen erſtreckte. Die hei— lige Schlange heißt nämlich Naga, wäh— rend der gewöhnliche allgemeine Name der Schlange Sarpa iſt. Im Kultus des Waſſergottes Wiſchnu erſcheint nun die erſtere, die göttliche, ſiebenköpfige Naga, die ihre ſchützende Muſchelkapuze über den Gott ausbreitet. Erſcheint die Schlange dagegen, was viel ſeltener geſchieht, im Giva-Kultus, ſo iſt es die irdiſche Cobra. Sie iſt „ein Werkzeug in der Hand des Gottes, ein Schwert, ein Dreizack, und ihr Zweck der— ſelbe, wie der der Todtenſchädel, den Zus ſchauer einzuſchüchtern und zu überwältigen. . .. Dieſe Schlange iſt niemals vielköpfig und ſcheint niemals als Schutzgott ange— ſehen zu werden.“ Trotzdem aber beſteht thatſächlich, na= aber bei den meiſten der Fall. mentlich bei den waſſerſcheuen Raſſen, die 288 ja die eigentlichen Schlangenverehrer ſind, eine gewiſſe Verquickung mit der Natur— veligion,*) die ſich aber aus unſerer Dar- ſtellung vollkommen leicht und natürlich er— klärt. In der durch die erſte Schlangen— kahn-Einwanderung geſchaffenen urturaniſchen Civiliſation wurden eben die Schlangen— waſſergötter, d. h. die Wanen ſelbſt, Prieſter— könige der neuen Civiliſation und Religion, und als ſolche im Glauben des Volkes ſpäter mit den Naturgöttern identificirt. In Folge deſſen wurde bei allen ſpäteren Naturvölkern, auf welche ſich dieſe wohl zuerſt von der ſchlangengöttlichen Kaſte der turaniſchen Prieſter zu einem regelmäßigen Syſtem ausgebildete Religion und Philo— ſophie ganz oder theilweiſe vererbte, der Schlangenkultus, mit der Naturreligion der Urarier gewiſſermaßen verwachſen, einge— führt. Mit Recht ſieht auch Caſpari in ſeiner „Urgeſchichte“ und Carus Sterne in ſeinen Artikeln über „Das Feuer in der Urgeſchichte“ **) die fo zu einem Syſtem erhobene Urreligion weſentlich als einen Feuerdienſt an; und daß dieſer Feuerdienſt in der älteſten geſchichtlichen Zeit bei den Kulturvölkern Aſiens zu einer Verehrung ) Wake (Journal of Anthrop. Inst. of Gr. Brit. 1873. p. 385. „Serpent Worship“) zieht folgende Schlüffe, von denen wir den zweiten allerdings und zwar deshalb für falſch halten, weil er dem Urmenſchen abſtrakte phi— loſophiſche Betrachtungen zuſchreibt: 1) Die Schlange wurde mit religiöſer Furcht oder Verehrung ſeit den älteſten Zeiten betrachtet und erſcheint ganz allgemein als Symbol verſtorbener menſchli— cher Weſen. In dieſer Geſtalt wurden ihm die Attribute des Lebens, der Weisheit und der Heilkraft beigelegt. 2) Die Idee einer einfachen Wiederfleiſch— werdung des Geiſtes gab Grund zur Idee, Becker, Der Schlangenmythus. des indiſchen Agni und des akkadiſchen Silik-mulukhi, d. h. des für menſchliche Zwecke zu gebrauchenden, mit Bewußtſein durch den Pramantha-Quirl erzeugten, wohlthätigen, Metalle ſchmelzenden Feuer— gottes gelangt war, iſt unbeſtreitbar. Wir ſind aber weit davon entfernt, dieſen Charakter des Feuergottes als den urſprünglichen anzuſehen. Schon die That- ſache, daß Silik-mulukhi von den Akkadiern als der Sohn Mulge's, des Zermalmers (engl. mulcher), des Gottes der Unterwelt angeſehen wurde, und daß ſelbſt die indiſche Mythe uns erzählt, daß die Angiraſen, ein uraltes Prieſtergeſchlecht, den Agni, der ſogar ſelbſt auch Apam napat, „waſſer— geboren“, erſt in einer Höhle aufgefunden und hervorgelockt hätten, würde unſer Be— denken erragen. Ein gewichtigerer Einwand als dieſer aber geht aus der Betrachtung hervor, daß bei urwilden Völkern die erſten religiöſen Begriffe immer den Gefühlen der durch ungewohnte ſchreckliche Ereigniſſe er— zeugten Furcht entſpringen. So hoch die Arier bei der erſten Berührung über den dunkleren Raſſen ſtanden, ſo wenig glauben wir, daß die erſten Anfänge der geiſtigen 3) Dieſe Legende wurde mit dem Natur— oder richtiger Sonnendienſt verbunden, und die Sonne wurde deshalb als die göttliche Schlange, als Vater der Menſchen und der Natur angeſehen. 4) Schlangendienſt, als ein entwickeltes Religionsſyſtem, entſtand in Centralaſien, der Heimath der großen ſkythiſchen Raſſe, von welcher alle civiliſirten Raſſen der hiſtoriſchen Periode abſtammen. 5) Dieſe Leute ſind die Adamiten, und ihr Stammvater wurde von der Legende einſt als die große Schlange betrachtet, deſſen Abkömmlinge in einem beſonderen Sinne daß das Menſchengeſchlecht urſprünglich von einer Schlange abſtammte. (?) Schlangenverehrer waren. *) Voſſ. Ztg. Sonntagsbeilage, 29—34, Jahrg. 1876. und religiöſen Entwickelung bei ihnen eine Ausnahme von der Regel bilden. Deshalb würden wir ſchon den Gott des Blitzes und Donners, der unzweifelhaft ſelbſt den ſtumpfſinnigſten Wilden Schrecken einflößt, für eine ältere Form des Feuergottes halten, als den des wohlthätigen, dem Menſchen dienſtbar gewordenen Feuers. Aber ſelbſt den Donnerer der Gewitter— wolke halten wir nicht für diejenige Gott— heit, die ſich aus der Menge der bewegen— den Geiſter der Natur, welche der Urwilde fürchtete und ſcheute, und durch Verehrung zu beſänftigen ſuchte, zuerſt zum Götter- königthum emporſchwang. Es giebt eine viel gewaltigere, viel aufregendere, weil viel gefährlichere Erſcheinungsform des Feuer- und Donnergottes, als die in der Gewitterwolke. Wer jemals ein Erdbeben erlebt, einem vulkaniſchen Ausbruch beige— wohnt hat, wird mir beiſtimmen, wenn ich behaupte, daß im Vergleich zu dem Ein— druck, den eine ſolche immer unerwartet kommende Naturerſcheinung auf den Men- ſchen, gleichviel ob urwild oder bis zur höchſten Potenz nervöſer Humanität civili— ſirt, macht, diejenige aller anderen Natur⸗ erſcheinungen gar nicht in Betracht kommen können. Wir gelangen demnach folgerichtig zu dem Schluß, daß der Gott des unterirdiſchen Gewitters, der Erdbeben und vulkaniſchen Ausbrüche der zuerſt in der Phantaſie des Urmenſchen zu Anſehen und Verehrung ge— langte Urgott unſerer Raſſe und — da wohl ſchwerlich irgend eine andere Raſſe überhaupt zur Bildung eines wirklichen Gottheitsbegriffes ſich emporgeſchwungen, ehe die ariſchen Schlangenkähne an ihren Küſten landeten, — des Menſchengeſchlechtes überhaupt iſt. Dieſe Auffaſſung wird durch die ger— maniſche Mythe weſentlich beſtärkt, in der Becker, Der Schlangenmythus. 289 ein Seitenſtück des Agni der Inder kaum aufzufinden iſt, aber an der leeren Stelle die gewaltige Figur Thors, der die Berge ſpaltet und die Midgardſchlange, den all— umfluthenden Okeanos ſelbſt, aus ihrem Bette reißt, erſcheint. Wie ſich der Urbe— griff bei den ethniſch am wenigſten ver- miſchten nordiſchen Germanen viel reiner erhalten hatte als bei den Kulturvölkern Aſiens und ſogar bei den Indern ſelbſt, ſo erhielt ſich ein faſt ebenſo getreues Abbild des Urgottes am anderen Ende der Verzweig— ung des Urarierthums, in dem iſolirten Cenlralamerika, wo das häufige Vorkommen von Erdbeben das Bild Hurakans immer wieder auffriſchte. Er iſt dort der Ge— waltige, das „Herz“ des Himmels und der Erde, faſt der Inbegriff der geſammten Naturkraft, der Gott der Erdbeben und Stürme, den die ſchlangengöttlichen Vor— fahren ſchon bei ihrer Ueberfahrt über das Meer anbeteten, dem ſie bei ihrer Landung an den rettenden Küſten Dank abſtatteten. Ja ſogar bei den Polyneſiern, die auch in einem von Erdbeben geſchüttelten Lande wohnen, hat ſich ſein Andenken erhalten, und noch heute ſingt man Hymnen zum Preiſe Taaroa's, des Großen, des Welt— ſchöpfers, der das Land Hawaii in die Höhe gehoben. Hawaii!) aber nennt der Polyneſier nicht nur eine Inſel, ſondern im Allgemeinen die größte, die „Mutter- inſel“ ſo zu ſagen einer jeden Inſelgruppe, und die Mythen der Neuſeeländer wiſſen von drei verſchiedenen Hawaii zu erzählen, über die ihre Vorfahren aus der Urheimath, dem Sitze der Götter, nach Neuſeeland gekommen. In der That, ſo gewaltig erſcheint der uralte Charakter Hurakans, Taaroa's und ) hafja, havana, Hof, heben, to heave, (Fick, Wörterbuch, III. 62). 290 Thors, des ſtärkſten der Götter, daß man in Verſuchung kommen könnte, an einen urſprünglichen Monotheismus zu glauben, und dieſen Gott für den „Schöpfer aller Dinge“ des Chriſtenthums zu halten. Bei näherer Betrachtung aber verſchwindet dieſe Auffaſſung. Taaroa ſchafft nicht das Land, ſondern hebt es nur aus dem Waſſer heraus; und dieſe Idee der Weltſchöpfung iſt es, die allen alten Mythen gemein iſt und ſelbſt da fortlebt, wo die Figur des Urgottes, des Emporhebers, ſelbſt abge— ſchwächt wurde. Das Letztere aber iſt ſogar bei der Auffaſſung Thors in der germaniſchen Mythe der Fall, nur daß ſich in ihr unſchwer der ältere Thor, nicht der Genoſſe der Aſen, ſondern der, der vor den Aſen ſeine ſchö— pferiſche Thätigkeit äußerte, noch erkennen läßt. Es iſt der Rieſe Aurgelmer, der Trud— gelmer, die feſte Erde, und durch ihn den Berg⸗gelmer, die Berge ſelbſt, erzeugt, d. h. wie in dieſer Reihenfolge deutlich zu ſehen, emporhebt, wie der Taaroa der Polyneſier das Land Hawaii. Es iſt bemerkenswerth, daß ſogar in faſt allen Mythologien, in denen die Rieſen— geſtalt des hebenden Gottes abgeblaßt iſt, ſich ſein Name noch forterhalten hat. Schon Bachofen!) hat die weite Verbreitung und die hohe urgeſchichtliche Wichtigkeit dieſes Namens in der Form Tyros oder Tylos, Taulus, Talas, den er mit Eros gleich— ſtellt, u. ſ. w. erkannt, und nicht unrichtig als Bezeichnung der zeugenden Naturkraft angeſehen, hat aber, weil ſeine Studien über Mutterrecht im Gebiete der germani— ſchen Völkerſchaften unfruchtbar waren, ver— ſäumt, dieſen Namen mit dem des germa— niſchen Thor zu vergleichen. Seine Ver— breitung geht aber viel weiter. Der keltiſche ) Mutterrecht, 339. Becker, Der Schlangenmythus. Taran, der ugriſche Tarom, eſthniſch Ta— ara, in Amerika bei den Irokeſen Taron hiwagon, bei den Tarascos in Michoacan Taras, auf dem Iſthmus von Panama Tuyra, Gott des Sturmes, auf dem Hoch— lande von Bogota Turachoque, u. a. m., können ohne weiteres ihm gleichgeſtellt wer— deu. Weiter noch geht die Verbreitung, wenn Thor, wie die Form Touar und die auf den polyneſiſchen Inſeln neben Taaroa vorkommende Form Oro rechtfertigt, als eine Zuſammenziehung von Dev Hor er— klärt wird. Der Ahura der Eranier, der Horus der Egypter, der HurakanCentral— amerikas, der Urajas Japans, der Eros der Orphiker und Pythagoräer werden in dieſer Form wieder erkannt, wie auch der Varuna ſowohl als Surja, als Hara der Vedas, der Uranos der Griechen wohl der— ſelben Wurzel entſpringen, die G. Cur— tius unter ſeinen Wurzeln der griechiſchen Sprache in Nr. 488, 490, 492, 500 als ar, or oder ir bezeichnet, und der er den Sinn „heben, erheben“ beilegt. “) Da die Zendform hvar und giri ebenfalls mit dieſer Wurzel in Verbindung gebracht wird, dürfte ihre Form ſowohl der Ur— form als vielleicht auch dem Sinne nach am eheſten im deutſchen Worte „Quirl“ enthalten ſein, aus dem ſich einerſeits die ſchon behandelte Wurzel eur-eul „krümmen“, ) „Die Wurzel er, ir, or kehrt in allen Sprachen des altaiſchen Geſchlechtes wieder und bezeichnet außer der Mannheit auch Stärke, Gewalt, Tugend.“ (Schott, Abh. d. Berl. Akad. d. Wiſſenſch. 1847. S. 376.) Nichts⸗ deſtoweniger finden ſich auch Worte, wie tun— guſiſch: uro, urjo, finniſch: wuori, „Berg“, finniſch: wieri, „kreiſen, ſich drehen“, mand— ſchuriſch: weren, Wirbel im Waſſer, die die Zurückführung des Stammes auf die im Text vorausgeſetzte Wurzel auch für den ural— altaiſchen Sprachſtamm nothwendig machen. andererſeits die hier erforderliche Wurzel, die in „Wirrwarr“ doppelt erhalten iſt, abzweigte. Sie bezeichnete offenbar die Thätigkeit einer ungeordneten, hebenden Kraft, wie fie dem Gott der unterirdiſchen Gewal— ten naturgemäß zugeſchrieben wird. Dieſer aktiven Kraft Ahura's aber wird als Paſſivum, mythologiſch ſowohl als etymologiſch, die gehobene „Erde“ gegen— über geſtellt, die, ebenfalls als Gottheit ge— dacht, mit dem Präfix dev, di, ta ausge- ſtattet als terra (Dora im Japaneſiſchen) u. ſ. w. erſcheint. Recht deutlich ſtellt ſich die Zendform Tuirja für Turan als ein ſolches Compoſitum dar. Turan heißt alſo urſprünglich das „gehobene Land“. Mit der Form Turan deckt ſich aber vollfom- men die Form Tulan, die zur Verzweif— lung amerikaniſcher Alterthumsforſcher An— laß gegeben hat, da ſie, gerade wie Hawaii in den Mythen der Polyneſier, jo oft als ſucceſſive Heimath der civiliſirenden Raſſe wiederkehrt: „Vier Perſonen kamen von Tulan aus der Richtung der aufgehenden Sonne, dies iſt ein Tulan. Ein anderes Tulan liegt in Xiralbay; und ein anderes, wo die Sonne untergeht, und dorthin kamen wir. In der Richtung der untergehenden Sonne iſt aber noch eines, ſo daß es vier Tulans giebt; und es iſt von dort, wo die Sonne untergeht, daß wir nach Tulan gekommen ſind, von der anderen Seite des Meeres, wo dieſes Tulan liegt; und dort iſt es, wo wir empfangen und erzeugt wurden von unſeren Müttern und unſeren Vätern.“ So erzählt der Popol Vuh, das von Braſſeur de Bourbourg ans Licht gezogene Nationalbuch der heiligen Ueber— lieferungen der Quiches Centralamerikas. Daurien und Taurien bezeichnen ziem— Becker, Der Schlangenmythus. 291 | lich genau die äußerſten Grenzen des alten Turans. Aber auch das deutſche Wort „Thurm“, das engliſche Wort „Tower“ ſcheint, wie ſchon Bachofen muthmaßt, derſelben Wurzelverbindung zu entſpringen. Dura, Tyrus, Troja, Dur ſind über— aus häufig vorkommende Namen alter Städte (aufgethürm ter Bauten). Vielleicht fällt Ilion mit Troja, das keltiſche Llion deſſen „Meer, ausbrechend, die Sintfluth verurſachte“, mit Turan etymologiſch zu— ſammen, indem das göttliche Präfix, das in Tu-irja aufgegangen, wegfällt und das r in 1 verwandelt wird. Von allen den vielen anderen Verzweig— ungen deſſelben Wortſtammes, die bis nach Afrika und Amerika verfolgt werden können, gilt wohl, was Kreuzer!) jagt: „Tar⸗ ſos ſei ſo genannt worden, weil hier zu— erſt die Erde trocken geworden nach der Fluth, indem hier nach Ablauf der Waſſer ins Meer die tau iſchen Berge zuerſt zum Vorſchein gekommen.“ **) Uns intereſſirt bei allen dieſen Worten nur, daß durch ſie der Begriff „Thor“ oder „Ahura“ als die Länder aus den Fluthen he— bende Urkraft über allen Zweifel feſt— geſtellt wird. Bei weitem beſſer als die indiſche ) Symbolik, IV. 62. *) So ſtimmt finniſch: turpaha, Torf, Raſen (was mit engliſch: to rise, ſich erheben zuſammenhängt), einerſeits mit dem torfva der Schweden, andererſeits mit dem türkiſchen toprak, mongoliſchen towarak, tunguſiſchen tuor, turu, tor, was alles die „Erde“ in ihrer Weſenheit bedeutet. Daſſelbe Wort fin— den wir bei den Arabern: tarb und tarab, „Erde“, „Staub“. Dies iſt ein Beiſpiel von Urwurzelverwandtſchaft. (Schott, Abh. d. Berl. Akad. d. Wiſſenſch. 1847. S. 305.) Turi iſt im Auſtraliſchen eine Waſſerpflanze und wird auch als Ortsname gebraucht. (Journ. Anthrop. Inst. 1873. p. 258.) 292 Götterlehre zeigt die eraniſche die Urform des ariſchen Glaubens. In ihr iſt die Entwickelung der Feuer-Religion in der Reihenfolge der fünf heiligen Feuer recht deutlich zu erkennen. Das erſte und hei— ligſte, das „vor Ahura Mazdacs iſt“, d. h. wohl den Begriff der Gottheit erſt her— vorgerufen hat, iſt das Feuer „Cpeniſta,““) das in der Erde und auf den Ber— gen ſich befindet, d. h. wohl, bei vul— kaniſchen Ausbrüchen und gleichzeitigen Erd— beben auf den Berggipfeln ſich zeigt. Das zweite Feuer, Vohufryana, iſt das Feuer im Körper des Menſchen. Das dritte, Urvaziſta, iſt das in den Bäumen befind— liche Feuer. Erſt das vierte, Vaziſta, iſt das Blitzesfeuer, womit auch dem Donner— gott ſeine richtige Stellung angewieſen iſt. Endlich das fünfte, Berezivagha, „das großen Nutzen gewährende“, iſt das ge— wöhnliche Feuer, welches der Inder in ſeinem Ag ni verherrlicht hat.““) Indem die hier vorgetragene Auffaſſung den Urſprung und ſämmtliche Erſcheinungs— formen des Schlangenmythus auf die einzig natürliche, d. h. concrete Weiſe erklärt, in— dem ſie nicht, wie es heute Mode zu ſein ſcheint, vorausſetzt, daß die Urwilden erſt ) Wir folgen der Andeutung Spie— gel's, daß in den eraniſchen Schriften eine Namensverwechſelung des erſten und fünften Feuers ſtattgefunden hatte, die ſehr wohl da— durch erklärt werden kann, daß eben das jüngere, „den Menſchen nützliche“ Feuer all— mählich in der religiöſen Achtung den erſten Platz einnahm, und zur Zeit der Abfaſſung der heiligen Schriften als „Cpenista“, das „Heiligſte“ angeſehen wurde. Indem der Ver— faſſer der Schriften ihm dieſen Namen bei— legte, war er natürlich gezwungen, den übrig— bleibenden, ganz ſinneswidrigen Namen Be- rezivagha dem durch ſeine Verwechſelung namenlos gewordenen erſten Feuer beizulegen. *) Spiegel, Eran. II. 49. Becker, Der Schlangenmythus. einen Curſus Hegel'ſcher Philoſophie ab— ſolvirten, ehe ſie ihre Gottesbegriffe bildeten, ſpricht es ſehr zu ihren Gunſten, daß durch ſie auch viele andere mythologiſchen Auf— faſſungen erklärt werden. Abgeſehen von der Stier -, Hund- und Wolfsmythe, die faſt nur als Nebenerſcheinungen des Schlan— genmythus ſich offenbaren, iſt dies nament- lich der Fall mit der Sintfluth-Mythe, deren weite Verbreitung die Zurückführung ihrer Entſtehung auf lokale Fluthen als unge— nügend erſcheinen läßt. Eine beſondere Be— ſtätigung unſerer Auffaſſung ergiebt ſich noch aus dem Fehlen einer eigentlichen Sintfluthmythe bei den Eraniern, die viel- mehr nur von einer großen Ueberſchwemm— ung früher trockenen Niederlandes und von einem gleichzeitigen Eintreten großer Kälte zu erzählen wiſſen. Gerade ſo mußte die in den ſüdlichen, höheren Gebirgsthälern lebende urariſche Bevölkerung von der Fluth betroffen werden. Auch die Egypter ſcheinen die Sintfluthmythe nicht zu kennen, und ein Blick auf die Karte zeigt, daß Egypten durch den im Norden des Mittelmeeres vorliegenden großen Hochlands- und Ge— birgswall gegen die eigentliche ozeaniſche Triftwelle geſchützt war, und alſo nur die Welle des Mittelmeerbeckens auszuhalten hatte, die ſich im Delta ſchon erſchöpfen mochte. Auch die Sage der Griechen von der untergegangenen Atlantis, von dem glück— lichen Lande, das jenſeits der hyperboreiſchen Berge liege: von dem goldenen Zeitalter, erklärt ſich vollkommen. Braſſeur de Bourbourg, der beharrlichſte und aus— gezeichnetſte Forſcher der Neuzeit auf dem Gebiete der amerikaniſchen Archäologie, wurde durch die offenbaren Spuren ariſcher Be— ziehungen der Kulturvölker zur Annahme gedrängt, die im atlantiſchen Ocean ver— ſunkene Atlantis jet die Urheimath der Kultur beider Welten. Sein Irrthum be— ſtand darin, daß er die Atlantis am un— richtigen Orte ſuchte, wie es allerdings die (ſpäteren) Griechen mit der ihnen ſonſt un— verſtändlich gewordenen Mythe auch ſchon gethan. Nicht im modernen atlantiſchen Ocean, ſondern in dem mit ihm in Ber- bindung ſtehenden und nach dem Glauben der Urarier offenbar identiſchen allumfaſſen— den Okeanos der urgeſchichtlichen Eiszeit lag die Atlantis. Sie verſchwand, nicht weil ſie verſank, ſondern weil ſie aus dem Meere emporſtieg. Und ihr, der gemein— ſamen Urheimath der Kultur, entſprangen jene gemeinſamen Züge, die, wenn wir ſie bei Etruskern und Akkadiern wahrnehmen, ohne dieſes Mittelglied faſt ebenſo ſchwer verſtändlich ſind, als wenn ſie in Egypten, Indien, Centralamerika und China zu glei— cher Zeit gefunden werden. Für die durchſchnittlich obwaltende mo— derne Auffaſſung der Geſchichte mag die hier vorgetragene Theorie faſt ans Wunder— bare grenzend erſcheinen. Thatſächlich aber liegt der Wunderglaube ganz und gar auf der anderen Seite. Denn ein Wunder, von uns natürlich erklärt, iſt ihr das Verfallen und Verblühen alter Civiliſation in beiden Erdtheilen; ein Wunder das Auftreten der Germanen, eines Volkes, das in der bisher ſogenannten Geſchichte gar nicht zu exiſtiren ſcheint, bis es, als deus ex machina auf Becker, Der Schlangenmythus. 20 | die Bühne tretend, ſofort das gewaltige römiſche Reich zittern macht; ein Wunder die Entſtehung des ausgeprägten Typus der ariſchen Raſſe in der Mitte des großen Continents oder in den Niederungen Süd— rußlands in unmittelbarer Beziehung mit anderen Raſſen; ein Wunder — doch wo— zu uns weiter aufhalten! — Die ganze bisher gelehrte Geſchichte iſt eine fortlaufende Kette an einander gereihter Wunder und Zufälligkeiten, zwiſchen denen auch nicht die Spur eines logiſch verbindenden Fadens zu erkennen iſt! Wir glauben nicht an Wunder, wohl aber an logiſche Entwickelung. Nicht an eine Entwickelung, die ſich hübſch in Acht nimmt, um nicht durch allzu lautes Ge— räuſch oder eine unangenehme Berührung die zarten Nerven der beſſeren Geſellſchaft dieſes oder jenes Bienenkorbes, Ameiſen— haufens oder menſchlichen Staates zu er— ſchüttern, ſondern an eine Entwickelung, die die Frucht vom Baume fallen läßt, wenn ſie reif, und den Baum und jedwede Geſtalt— ungsform ſelbſt mit einer „Kataſtrophe“ ſtürzen läßt, wenn er oder ſie zu ſchwach geworden, länger zu beſtehen, und ſich nicht im Geringſten darum kümmert, ob die erſte einem faulen Schläfer oder träu— meriſchen Philoſophen auf die Naſe, oder das zweite den an dieſer Form klebenden bewußtloſen oder bewußt-humanen Atomen mißfällt! eee Kosmos, III. Jahrg. Heft 4. 39 Der locale Charakter ° 0 egenüber der vielfach ausgeſprochenen Spuren wir in ſo weiter Ausdehn— ° dehnung antreffen, eine kosmiſche Urſache gehabt hätten, die fi in einer all- gemeinen Temperatur-Erniedrigung über die geſammte Erdoberfläche äußerte, hat J. F. Campbell im Quarterly Journal of Geological Society (Vol. XXXV.) eine längere Arbeit veröffentlicht, um aus vierzigjährigen Studien, die ſich über einen großen Theil der Erde erſtreckten, die Ueber— zeugung zu begründen, daß die Gegenwart mindeſtens ebenſo kalt ſei, als irgend eine Periode, aus der wir geologiſche Merkmale beſitzen, und daß ſich Spuren von Eis wirkung finden ſeit der Zeit, in welcher irgend ein Theil der Erdoberfläche hoch und kalt genug geworden war, um ein Schnee- anſammler zu werden. Wir geben im Folgenden die Ueberſicht ſeiner Schlüſſe nahezu wörtlich wieder, wie er ſie am Schluſſe ſeiner Arbeit ſelbſt zuſammengeſtellt hat. „Alles,“ ſagt er, „was ich über das Eis und die Eismarken ſeit 1848 gelernt habe, lehrt, daß die „Gletſcherperiode“ eine irdiſche, keine himmliſche, eine meteorologiſche, Anſicht, daß die Eiszeiten, deren rühren. Der kalte atlantiſche Strom macht Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. keine aſtronomiſche iſt; daß die alten Gletſcher— ſpuren locale Klimaveränderungen im großen Maßſtabe andeuten, welche von localen Niveau-Aenderungen und ſich daraus ergeben- den Vertheilungswechſeln von Land und Meer, Luft- und Waſſerſtrömungen her— jetzt Grönland zum hauptſächlichſten Con— denſator in der nördlichen Hemiſphäre, und | in Folge deſſen iſt ein Gebiet, faſt jo groß wie Indien, hier in Eis gehüllt, welches in 60% n. Br. bis zum Meeresſpiegel niederfließt und bis 37 forttreibt. Der warme atlantiſche Strom fließt hingegen längs der Küſte von Europa nordwärts, und in Folge deſſen iſt das Meer bis zum 700 n. Br. eisfrei. Dieſe beiden ſehr verſchiedenen Klimate an den entgegengeſetzten Küſten reſultiren aus dem oceaniſchen und atmoſphäriſchen Kreislauf. Aber Skandi— navien war früher Grönland ähnlich. Es iſt über ſein altes Nibeau geſtiegen, welches längs ſeiner ganzen Küſte ſehr deutlich mar— kirt iſt. Ein großer Reichthum von Meeres— muſcheln beweiſt dieſe Aenderung. Der kalte arktiſche Strom zog einſt ſüdwärts an der Oſtſeite von Skandinavien, anſtatt im Oſten von Grönland. Er iſt in Folge der Heb— ung des Landes zurückgewichen. Das ſkan— dinaviſche Eis, welches jetzt an wenigen hoch— gelegenen Orten angetroffen wird, war 1 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. ebenſo mächtig, tief und ausgedehnt, wie jetzt das grönländiſche Eis. . . . Zu jener Zeit war Skandinavien der Huuptconden- ſator des Nordens, mit Gletſchern, die ſich bis zum 60 hinabzogen und bis zum 37% Treibeis ſendeten. Grönland mag damals, ähnlich wie Skandinavien jetzt, ein Land mit wenig Gletſchern und ebenſo warm ge— weſen ſein. dem Nordkap, während grönländiſches Eis Nunmehr wächſt Korn nahe bis zur Breite von 37 treibt. Amerikas Ebenen ſind mit großen Gletſcherblöcken und gerollten Kieſen bis zum 37. Breitengrade Ebenen Meeresgrund hohen Hügel jenſeits deſſelben, weit im beſät. Da dieſe geweſen, was viele Theile derſelben durch ihre Meeresfoſſilien beweiſen, ſo hat der kalte Strom, der ſich jetzt in der Nähe von Florida fühlbar macht, ſich weſtwärts über die Ebenen wenden, dorthin das Treib— eis führen und die Klimate des Landes in der Nähe abkühlen müſſen, bis zum Felſen— gebirge, wie es jetzt in Florida geſchieht. Als der kalte Strom über Rußland zog, be— grenzte er wahrſcheinlich das Condenſations— Bergen und Feldern fallen gelaſſen. Die Ufer des europäiſchen Meeres ſind an den Hügelketten von Britannien und Skandina— vien, am Kaukaſus und, wie ich glaube, an den Alpen durch Terraſſen markirt. Recente und tertiäre Meeresmuſcheln ſind hoch oben und tief landeinwärts in Skan— dinavien, Nordrußland, Britannien, Italien 295 Aenderungen an, ähnlich denen, welche durch Meerfoſſilien aller Zeiten erwieſen werden. Jenſeits des 33. Breitengrades, etwa zwiſchen dem 76. und 77. Längengrade, iſt nördlich am Kangra im Himalaya ein größeres Condenſationsgebiet, hoch genug, daß ſich ausgedehnte Gletſcher in großer Zahl bilden. Sie wachſen hier, weil dieſes hohe Gebiet jetzt auf dem Wege eines ohne Condenſation über Sind ziehenden feuchten Windes liegt. Wenn der letztere über den Condenſator hinweggezogen, iſt wenig Feuch— tigkeit in ihm zurückgeblieben. Weiter nörd- lich liegt ein regenloſes Gebiet, und die Norden von Aſien, erzeugen in den Breiten von Grönland keine Gletſcher. Dieſes jetzige locale, eiſige, aſiatiſche Klima rührt von der Erhebung und einer Aenderung des atmoſphäriſchen Kreislaufes her. Aber viele von den Felſen dieſer Gegend wurden auf dem Boden eines warmen Meeres gebildet, denn ſie enthalten Ammoniten; andere ſind ſiluriſch. .. gebiet. Irrblöcke, ähnlich denen, welche jetzt in den nämlichen Breiten des atlantiſchen Oceans treiben, wurden damals in Polen und Norddeutſchland von den Treibeis- | Ich nehme an, daß ähnliche Aenderungen während der geſammten ſedi— mentären Schichtenbildung ähnliche Wirkun— gen hervorgebracht haben. Geritzte Steine finden ſich ſchon in den permiſchen Felſen; hier mögen laurentiſche Gletſcher ohne irgend eine abnorme Kälteperiode exiſtirt haben. So lange meine Kenntniß der Eiszeiten ſich nur auf die Ufer des atlantiſchen Beckens erſtreckte, ſchien mir zur Erklärung der That— ſachen etwas Abnormes nothwendig; als ich aber fand, daß dieſe großen Documente local beſchränkt ſind, war nichts Abnormes mehr und anderswo gefunden worden. Wenn ich dieſe geologiſchen Merkmale, die auf den ent⸗ gegengeſetzten Küſten und Bergen eingezeichnet ſind, betrachte, ſo deuten ſie mir große locale Aenderungen in der Vertheilung von Meer und Land und daraus ſich ergebende Klima— erforderlich. Die Verhältniſſe, wie ſie ſind, erklären die Verhältniſſe, wie ſie waren. Nirgends exiſtiren Zeichen großer Gletſcher nahe dem 37. Breitengrade auf beiden Seiten des ſtillen Meeres, weder in Cali— fornien, noch in Oregon, noch in Japan, u) 296 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. China, bei Shanghai, Hongkong oder Kan— ton. Ich konnte weder in Singapore, noch in Java oder auf Ceylon und in Indien bis zu 32 0 n. Br. Eisſpuren finden, aber vom 27 — 28° liegen nordwärts auf den Hügeln ſedimentäre Schichten, welche ſich auf dem Meeresboden gebildet haben, und die Gipfel des Himalaya ſind jetzt hoch genug, um den Waſſerdampf zu Gletſchern zu verdichten, in denſelben Breiten, in denen die Wüſten Arabiens und die wärmſten Länder der Erde liegen. Vom Auguſt 1873 bis zum Mai 1877 wanderte ich um Europa, um die Erde und durch Indien, und ſuchte vergeblich nach Spuren der großen Eis— kappe. Anſtatt Irrblöcke näher als Treib— eis am Aequator zu finden, wie es die Theorie einer Eiszeit verlangt, war ich nur im Stande Irrblöcke, ebenſo weit ſüdlich anzutreffen, wie Treibeis; darüber hinaus nur an einer Stelle bei Saint-Louis. Ver⸗ geblich habe ich nach Beweiſen geſucht, um darzuthun, daß das Klima der Erde einſt kälter geweſen ſei, wie ich es gelernt hatte und glaubte. Weil aber alle meine That— ſachen insgeſammt gegen Gletſcher-Perioden ſprechen, habe ich aufgehört an dieſelben zu glauben. Sofern dieſe Thatſachen das Vor— handenſein einer allgemeinen nördlichen Eis— kappe verleugnen, ſträube ich mich, eine unwahrſcheinliche Theorie als wahrſcheinlich oder wahr anzunehmen. Mit dieſer Theorie ſtehen und fallen die weiteren, welche er— funden wurden, um ſie zu erklären. Keine koloſſalen Schichten polaren Eiſes kletterten über die Alpen, den Kaukaſus, das Himalayagebirge und das Felſengebirge unter Zurücklaſſung ſcharfer Rücken daſelbſt zwiſchen 11000, 18 000 und 28 000 Fuß Höhe. Es exiſtirt kein Merkmal des Vor— überganges einer ſolchen Eisſchicht in den Lücken zwiſchen dieſen Gebirgen, um Con— ſtantinopel, den Caspiſee, im Punjab, an den Küſten des ſtillen Meeres. Die po— lare Vergletſcherung und die Spuren der— ſelben gehören nur dem atlantiſchen Becken an. Ich bin der Meinung, daß die jetzige Temperatur = Periode, ſeitdem die Erdkugel ſich vor ſehr langer Zeit ſo weit abkühlte, exiſtirt hat, und daß ſie zunehmen wird bis zur Kälte des äußern Raumes, ſo lange die Welt beſteht. Flechten, Pilze und Algen. Die Flechten ſind keine ſelbſt— ſtändigen Pflanzen, ſondern jede Flechte entſteht immer nur durch das Zuſammentreffen einer gewiſſen Pilz- mit einer gewiſſen Algen-Art. Dieſe Thatſache, an der jetzt kaum mehr gezweifelt werden kann, iſt wohl eine der intereſſanteſten Entdeckungen der neueren Botanik und wenn nun fortan dieſe ganze Klaſſe von Pflanzen aus dem Syſtem der Botanik Abſchied nimmt, ſo iſt es wohl der Mühe werth, ihr eine kleine Leichenrede zu halten und einige all— gemeine Bemerkungen daran zu knüpfen. Allbekannt ſind einige Flechten formen z. B. die berühmteſte aller, das freilich irrthümlich ſogenannte Is ländiſche Moos (Cetraria Islandica); wir ſagen irrthümlich, weil es weder ein Moos iſt, noch in Island allein wächſt, ſondern überall auf allen höheren europäiſchen Gebirgen, auch auf unſeren deutſchen, ja ſogar noch am Kap Horn. Wir finden dieſe Flechte an ſonnigen Stellen, auf Haiden, an Wald— rändern, in Waldlichtungen und immer wächſt ſie unmittelbar auf der Erde, und faſt überall, wo ſie wächſt, wird ſie geſammelt und, wie die Schnecken, bei den verſchiedenſten Kleinere Mittheilungen und Journalſchau.“ Völkern, ſelbſt von Negern (in Weſtindien) gekocht und als Kraft- und Pinderungs- Mittel gegen anhaltenden Huſten genoſſen. Das Isländiſche Moos iſt nun aber ſchon eine der höchſten Flechten. Sie ge— hört zu jenen, welche ſich ſtrauchartig, wie ſonſtigen Natur nach, nur den Pilz als den eine höhere Pflanze, von der Unterlage, auf der ſie wachſen, zu erheben vermögen. Auch jene ſonderbare, hängende Bart flechte (Usnea barbata), die den alten Tannen, auch alten Schlehen und anderen Hecken das altersgraue, melancholiſche An— ſehen verleiht, indem ſie in langen, wallenden Büſcheln an ihnen herunterhängt, gehört dahin und ſie iſt, ob ihrer Verbreitung, eine der merkwürdigſten Pflanzen der Erde. Eine ächte Welt⸗ oder vielmehr Erd-Bürgerin, wie der Menſch, iſt ſie überall zu Hauſe, in Europa wie in Auſtralien, im höchſten Norden wie unter dem Aequator. Eine zweite Flechtenform bilden jene, die ſich wie breite Blätter auf ihrer Unter- lage ausbreiten und Haftfaſern Hinunter- ſchicken, mit denen ſie ſich feſthalten. Eine dritte Form überzieht den Boden, die Bäume, die Felſen wie eine Kruſte, läßt ſich aber nicht als zuſammenhängende Haut abſchälen. Eine vierte Form endlich bildet nur einen farbigen Staub, der locker, unzuſammen⸗ hängend auf ſeiner Unterlage liegt. Dies die vier Hauptformen, unter denen die Flechten auftreten. Gegen vierzehnhundert Arten derſelben ſind beſchrieben und in eine große Zahl von Gattungen und Familien ein- getheilt. Sie alle nun ſind nach den meiſten Forſchungen gleichſam nur zufällige Pflanzen- gebilde, nämlich außergewöhnlich geformte Wucherungen von ächten Pilzen, welche durch das Hinzutreten von Blatt— grün⸗haltigen Algenzellen (Gonidien), zu Flechten auswuchern. 297 Es iſt alſo durchaus nicht etwa ſo zu verſtehen, daß die Flechten nothwendige Mittelglieder in der Entwickelungsreihe der ächten Pilze oder der Algen wären. Viel— mehr iſt es eine, freilich ganz neue Art von Paraſitismus, wobei man, ſchon ſeiner Paraſiten an der Alge betrachten kann. Die Alge aber übt auf den Pilz den merkwür— digen Einfluß aus, daß er zur Flechte aus— wuchert, ähnlich wie jene bekannten Blatt- wucherungen bei höheren Pflanzen, die ſogenannten Galläpfel am Eichenblatt, an Fichtentrieben, an Roſen u. ſ. f. durch Inſektenſtiche und Inſektenbrut veranlaßt werden. R Das Wunderbarſte aber iſt bei der obigen Vereinigung von Pilz und Alge zu der Flechte, daß die Blattgrün-haltige Algen- zelle den zur Flechte gewordenen Pilz, der an ſich bekanntlich nie Blattgrün enthält, befähigt, gleich den ächten Algen, un— mittelbar aus Kohlenſäure und Waſſer ſich zu nähren, was die ächten Pilze nicht können. Daher kann die Flechte überall auf der Oberfläche von Felſen, Baumrinden u. dgl. leben, wo fie nur Waſſer, die Kohlenſäure der Luft und unorganiſche, mineraliſche Nah- rungsmittel findet, während alle ächten Pilze nur von bereits organiſirten Subſtanzen leben können, — als Paraſiten auf Pflanzen oder Thieren oder auf verweſenden Beſtand⸗ theilen derſelben. Schon längſt hatte man dieſe zwei ver— ſchiedenen Seiten der Flechtennatur, den Pilzcharakter und den Algencharakter, gekannt und ſchon Nees von Eſenbeck iſt durch die Aehnlichkeit ihrer Apothecien, d. h. ihrer Fortpflanzungsorgane, mit denen der Pilze veranlaßt worden, eine Anzahl derſelben einfach als Pilze anzuſprechen, während Schleiden wieder aus demſelben Grunde 298 gewiſſe Pilze zu den Flechten ſtellte. Allein die Blattgrünzellen der Flechten und ihre Ernährung ſtanden doch dieſer Auffaſſung immer entgegen. Das Experiment brachte endlich Licht in die Sache. Wenn man nämlich die Go— nidien der Flechten, d. h. eben jene Algen— zellen, aus dem Pilzgewebe der Flechte herausſchält, ſo wachſen dieſelben, auf feuchte Unterlage gebracht, ſelbſtſtändig als Algen weiter, ja ſie erzeugen ſogar, ganz wie die Letzteren, Schwärmſporen, und man hat in ſolcher Weiſe ſchon von einer ganzen Anzahl von Flechten, z. B. von Cladonia, Ever- nia und Anderen, die Gonidien zu längſt bekannten Algen, Noſtoc-Arten, ſich entwickeln ſehen. Daraus wollten aber die erſten Ent— decker, Sachs, Famintzin, Bora— netzky und Andere den Schluß ziehen, daß eben jene betreffenden Algen ſelbſt nur rudimentäre Flechten ſeien. In den letzten Jahren aber hat beſonders der Ber— liner Botaniker Schwendener und der Straßburger de Bary in vollgültiger Weiſe Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. die andere Auffaſſung, wie wir ſie eben gegeben, als die richtige nachgewieſen. Ja neuerdings haben zwei andere Botaniker, Rees und Stahl, direkt die Flechten Er; e i Allen gefunden haben will, daß die Gonidien in gezogen, indem ſie beſtimmte, ſelbſtſtändig wachſende Algen mit den geeigneten Pilzen zuſammenbrachten linficirten.) Freilich iſt bis jetzt erſt von verhältniß— mäßig wenigen Flechtenarten der betreffende Pilz und die betreffende Alge, die zu der Bildung einer jeden Flechtenart zuſammen— wirken müſſen, experimentell nachgewieſen, was aber der allgemeinen Gültigkeit des obigen Schluſſes keinen Abbruch thut. “) ) Anm. d. Red. Die Syſtematiker unter den Lichenologen (namentlich Nylander, Fries, Krempelhuber, Crom bie, Kör— ber, Briſſon, J. Müller) haben dieſer Noch bemerkte de Bary, der darüber kürzlich auch vor den Naturforſchern in Caſſel geſprochen, daß nicht jedes im Freien vorfindliche Flechten-Exemplar direkt aus der Vereinigung von bisher frei lebender Alge und Pilz hervorgegangen ſein muß. Bei vielen Flechten löſen ſich vielmehr kleine Stücke, die ſchn Algen- und Pilz— Natur vereinigt enthalten, gleichſam als kleine Knöſpchen ab und bilden auf ge— eigneter Unterlage neue Flechten-Maſſen. Ja, dieſe Knoſpenbildung iſt es wohl in der Regel, wodurch die Flechten ſich vermehren. Zum Schluß noch einige allgemeine Bemerkungen über dieſe offenbar ganz eigen— artigen Erſcheinungen in der organiſchen Welt. Läßt ſich das oben beſchriebene Verhältniß mit dem Commenſalismus und Paraſitis— mus unter einem Geſammtbegriff: Sym- bioſe unterbringen, wie es de Bary in Auffaſſung einen ſehr energiſchen Widerſtand entgegengeſetzt, und bringen beſtändig weitere Einwürfe hervor, die indeſſen nicht ſo ver— nichtend zu ſein pflegen, als ſie nach der Meinung ihrer Urheber ſein ſollen. Die neueſte dieſer „Entdeckungen“ rührt von Dr. Minks in Stettin her, der im vergangenen Jahre einer unreifen Miniaturform als ſogenannte Mikrogonidien in allen den Flechtenkörper bildenden Hyphen, von den Wurzelzellen an bis zu den Mark- und Rindenzellen, ja ſogar innerhalb der Baſidien, Paraphyſen, Sporen und Spermatien (ö) aufträten, und allmählich zu Gonidien auswüchſen. Nach einer am 5. Dezember 1878 der Genfer naturhiſtoriſchen Geſellſchaft eingereichten Arbeit hat Prof. Dr. J. Müller dieſe Mikrogonidien bei einer außerordentlich ſtarken Vergrößerung ebenfalls geſehen, und hält ihren Urſprung aus den Hyphen für zweifellos. Obwohl dieſe Körn— chen in der Regel blaß ſind, ſah Prof. Müller dieſelben bei einigen von Schweinfurth aus dem Niam-Niam- Lande mitgebrachten ® N geiſtreicher Weiſe verſucht hat?“) glauben kaum. Wenn eine See-Anemone mit einem Krebs, andere Polypen mit Schwämmen, eine Krabbe mit der Aufter, der junge Bitterling mit der Anodonta, oder die Noſtoc-Alge mit der Azolla als Commenſalen noch ſo eng zuſammen leben, ſo bleiben doch immer beide, was ſie ſind, jedes für ſich. Auch bei allem Paraſitis— mus, ob nun der Paraſit außen oder innen an ſeinem Wirthe zehret, bleiben doch immer die Beiden, Paraſit und Wirth, vollkommen getrennte Organismen. Hier aber, durch Zuſammen- und In— einander-Wirken und -Wachſen des Pilzes mit der Alge, enſteht ein Drittes, die wuchernde Flechte, ein Verhältniß, das man doch wohl nur ſchwer unter dem Begriffe eines bloßen Zuſammenlebens, Sym bioſe, ſubſummiren könnte. Giebt es analoge Erſcheinungen im Thierreich? Hätte ſich die Auffaſſung von Johannes Müller bezüglich der wun— derbaren Schneckenſchläuche, der Entoconcha mirabilis in der Holothurie (Synapta digitata) beſtätigt, wonach jene Schnecken gebärenden Schläuche von der Holo— thurie gebildet wurden, ſo hätten wir Flechten (Parmelia prolixa vel erythrocardia und P. adpressa vel endochrysea) beinahe ebenſo grün, wie ächte Gonidien und ſchließt, da er auch Uebergänge zwiſchen beiden gefunden haben will, ſeine Unterſuchung mit den Worten: „Es ergiebt ſich aus dieſen verſchiedenen Beo— bachtungen, daß die Gonidien einen hyphoidalen Urſprung haben, daß ſie keine Algen ſind, daß die Hyphen der Flechten abſolut verſchieden ſind von denen der Pilze, daß es keine Pilz— Organe in den Flechten giebt, und daß in Folge deſſen keine Rede mehr ſein kann von einem aus Algen und Pilzen zuſammen— geſetzten Weſen. Die überall ſo zahlreichen und verſchiedenartigen Flechten nehmen alſo ihren Rang unter den übrigen Klaſſen der Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Wir 299 in der That in dieſen Schläuchen ein der Flechte analoges Wuchergebilde an dem Bauchgefäß der Holothurie, entſtanden durch Einwirkung eines Schnecken-Embryos. Dieſer Schlauch wäre gleichſam aus den zwei Thier- elementen, Mollusk und Echinoderm, hervor- gegangen, ähnlich wie die Flechte aus Pilz und Alge und das wäre in der That eine Analogie. Allein die neueren Forſchungen, beſonders von Albert Baur, ſcheinen ſicher darzuthun, daß jeder ſolcher Schnecken— ſchlauch ſel bſt als eine Schnecke anzuſehen, die nur mit dem Bauchgefäß der Synapta verwachſen iſt. In dieſem Falle iſt es natürlich nur eine einfache Symbioſe und zwar ein ächter Paraſitismus, freilich, ſo— fern organiſche Verwachſung Statt hat, ein ſo intimer, wie kein zweiter im Thierreich bekannt iſt. ““) Auch die Echinococcus- und Coenurus— Gebilde und andere Cyſten bei den Einge— weidewürmern laſſen ſich nicht mit dem Verhältniß von Alge und Pilz und ihrem gemeinſamen Produkte, der Flechte, analo— giſiren. Auch dort iſt es reiner Paraſitis— mus, denn das ganze Gewebe des Wurm— ſacks gehört allein dem Helminthen an. Sollten aber nicht am Ende gewiſſe kryptogamen Thalluspflanzen wieder ein.“ Es iſt indeſſen zu fürchten, daß es ſich hier nicht um „Gonidien-Embryonen“, ſondern um ge— wöhnliche Zellgranulationen handelt, wofür die große Kleinheit (%% 00 Millimeter) derſelben ſpricht. ) De Bary, Erſcheinung der Symbioſe, Straßburg 1879. Vergl. Kosmos Bd. IV. S. 215. ) Selbſt bei den Rhizocephalen (Wurzelkrebſen), an die man zunächſt denken könnte, find die Mun dwurzeln, welche den Darm ihrer Wirthe rings umſpinnen und ſich ſogar in deren Leber einſenken, doch immer noch nicht organiſch mit dem Gewebe ihres Wirthes verbunden. | . ĩͤ —— ͤ — ͤ ——: — | 300 K leinere Mittheilungen und Journalſchau. pathologiſche Proceſſe im Thierkörper als Analoga mit der Flechtenbildung auf— gefaßt werden können: Jene Neubildun— gen, wie z. B. die Schleimhautwucherun— gen, die ſogenannten falſchen Membranen bei Diphteritis? Giebt nicht auch hier ein Pilz auf der thieriſchen Schleimhaut Veranlaſſung zu einer wuchernden, organiſchen Neubildung, ſo daß alſo die falſche Membran ein Analogon der Flechte wäre, wenn auch mit dem Unter— ſchied, daß jene Wucherung nicht als ein Pilzgewebe, ſondern weſentlich (ob aber ganz?) als ein Gewebe des inficirten thie— riſchen Körpers auftritt, alſo wie die Galle am Eichenblatt. Ob nicht vielleicht ferner auch gewiſſe Krebsbildungen (Carci- nome) u. dergl. in dieſen Kreis gehören? Sehr merkwürdig wäre es, wenn die Volks— pathologie mit ihren Krankheits-Namen Krebs, Wurm, Flechte u. ſ. f. ein wahres Verhältniß errathen hätte. Denn mit dieſen Namen wollte das Volk offenbar ein dem Organismus eigentlich fremdes, gleichſam ſelbſtſtändiges Weſen, das im und am Körper wuchert, bezeichnen. Dr. Weinland. Die Befruchtung von Erica carnea. Alle unſre Vaccinieen und Ericaceen mit röhrenförmiger Corolle ſind, ſoweit be— kannt, der Kreuzbefruchtung durch Bienen angepaßt, und das gewöhnliche Haidekraut, welches ſich, wie Walther von der Vogel— weide ſagt, vor dem Walde ſchämt und erröthet, gilt ja den Bienenvätern der Heide— länder als die Hauptſammelblume. Um jo mehr wurde (nach einer brieflichen Mit- theilung vom 3. Juni aus Bergun im Albula-Thale) Herr Dr. H. Müller über- raſcht, Erica earnea, die jetzt dort in voller . Be Pracht fteht, von Diftelfaltern umſchwärmt zu ſehen. Seine Vermuthung, die er vor zwei Jahren im Kosmos ausſprach (Bd. I. S. 541), daß die lebhafteren Farben der Alpenblumen vielfach einer Schmetterlings— züchtung zuzuſchreiben ſein dürften, ſcheint dadurch eine weitere Beſtätigung zu erfahren. Denn dieſe Blume kleidet ſich keineswegs in das beſcheidene Roſa ihrer Schweſtern von der Heide, ſondern ihre Farbe ſteigert ſich zu der Carmingluth der ebenfalls von Schmetterlingen bevorzugten Alpennelken (Saponaria ocymoides, Silene acaulis, Dianthus spec.) und bei genauerer Betracht— ung zeigte ſich nun auch der Bau der Blume ganz dem entſprechend, was von einer Schmetterlingsblume erwartet werden muß. Die aus der Corolle hervortretenden Staub— gefäße haben die Mündung nämlich ſo ver— engert, daß nur ein Schmetterlingsrüſſel bequem hineinzugelangen vermag. Im Uebri— gen wird ſie auch noch von den Bienen ausgebeutet, aber ſo mühſam, daß es einen faft komiſchen Eindruck macht. „Eine dicke Bombus hortorum (unfere langrüſſlichſte Hummel)“ ſchreibt der Beobachter, „ſaugte Erica carnea, aber in ſo beſchwerlicher Weiſe, daß ſie gerade dadurch ebenfalls den Beweis lieferte, daß dieſe Blume nicht von Hummeln gezüchtet ſein kann. Sie ſuchte ſich nämlich immer nur dicht am Boden befindliche Blüthen aus, in die ſie, auf dem Rücken liegend, ihren langen Rüſſel einfä— delte! Wenn ſie eine kleine Gruppe auf dieſe Weiſe auszubeutender Blumen fertig hatte, flog ſie weiter, an den ſchönſten Stöcken mit hochgehaltenen Blumen vorbei, bis ſie wieder dicht am Boden liegende fand.“ Vene Reptile vom Kaplande. Unter den kürzlich im britiſchen Muſeum vom Kap der guten Hoffnung angelangten Foſſilien, fand ſich ein Kinnbackentheil, der einem Reptil angehört hat, deſſen Gebiß ſelbſt das des gewaltigſten vorweltlichen Raub— thieres, des Machairodus, in Schatten ſtellt. Prof. Owen berichtete darüber in der Sitzung der Londoner Geologiſchen Geſell— ſchaft vom 8. Januar 1879, Das Kinn- backentheil iſt ſehr unvollſtändig und man fand nur noch Zahnreſte in demſelben, unter andern aber einen Augenzahn, deſſen erhal— tener Röhrentheil 4½ Zoll lang war. Nach der Zahl und Einſetzungsart der Zähne ſchließt Owen, daß das Thier den Therio— donten⸗ Gattungen Galesaurus*) und Gale- nops glich. Auch in andern Knochen zeigen ſich vielfache Aehnlichkeiten mit Raubſäugern, die indeſſen nur auf analoge Entwickelung zurückzuführen ſind. Der Augenzahn des neuen Titanosuchus ferox genannten Raub— reptils muß ſechsmal länger geweſen ſein, als der des verwandten Lycosaurus, jo daß wir uns einen gewaltigen Vertilger der gleichzeitig lebenden Pareioſaurier, Oude— nodonten und Tapinokephalen derſelben Gegend vorſtellen müſſen. In der Sitzung derſelben. Geſellſchaft vom 28. Mai beſchrieb Owen eine neue Art der ſeltſamen Reptilgattung Endothiodon, welche ſich dadurch auszeichnet, daß die Alveolar-Ränder beider Kiefer zahnlos ſind, vielleicht im Leben mit einer Hornſchicht bedeckt waren, wie bei den Schild— kröten, während innerhalb dieſer Ränder oben und unten Zähne vorhanden waren. Bei einer ſchon früher bekannten Art Endo- thiodon bathystoma befanden ſich dort drei Reihen von Zähnen nebeneinander, bei der neuen Art iſt nur eine Reihe vorhanden, ) Vergl. Kosmos IV. S. 61. Kosmos, III. Jahrg. Heft 4. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 301 wonach fie den Namen Endothiodon uni- series erhielt. Was die Verwandtſchaft dieſer Gattung betrifft, ſo rechnet ſie Owen zu der Ordnung der Anomodonten, und bemerkte, daß ſie gleich Oudenodon in der Entwickelung von hundzahnförmigen Fort⸗ ſätzen im Oberkiefer Spuren einer Abſtamm⸗ ung von Dieynodon zeige. Das Inter⸗ eſſanteſte iſt die Entwickelung von Zähnen am Gaumen und innerhalb der Kinnladen, ein Charakter, den man bei Fiſchen und Batrachiern öfter antrifft, der aber unter den Reptilien nur noch ausnahmsweiſe vor— kommt, und zwar nur bis zur Erſcheinung des Krokodiltypus und nicht darüber hinaus. Die Erhaltung der Gaumenzähne, während die eigentlichen Zahnreihen verſchwunden ſind, iſt ein ſo eigenthümlicher Charakter, daß man dadurch wieder an die Unendlich— keit der Reptilformen der Triaszeit erinnert wird, die zu einer Zeit, wo Vögel und Säuger nur in ihren Anfängen vorhanden waren, eine geſtaltenreiche Welt für ſich bildeten. Ueber das enropäiſche Wildpferd und deſſen Beziehungen zum domeſticirten Pferde. hat Profeſſor A. Ecker im Globus (Bd. XXXIV. 1878) eine ausführliche Arbeit veröffentlicht, aus der wir das Folgende entnehmen. Das Pferd, ſagt er, iſt nicht allein das merkwürdigſte, ſondern auch das älteſte unſerer Hausthiere; wenigſtens findet man ſeine Ueberreſte am früheſten mit denen des Menſchen vereint. Während der Ren- thierzeit war derſelbe von einer ganz andern Thierwelt umgeben, als diejenige, welche wir heute erblicken. Ein einziges unſerer Hausthiere findet ſich in dieſer längſt ver— 40 302 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. . floſſenen Epoche wieder: nämlich das Pferd. Wildpferdes in Europa. Zu jenem Zeitpunkte war der Menſch weder Schäfer noch Ackerbauer, ſondern Jäger und ein Wilder. Das Pferd war ebenfalls wild, und wir finden ſeine Reſte mit denen der anderen Jagdthiere des Urmenſchen. Das Studium unſerer Urzuſtände iſt kaum in den Umriſſen entworfen, und die Pferde— knochen nebſt den Spuren der Menſchen— hand an denſelben ſind beinahe, wenn man ſie zu deuten weiß, die ſicherſten Documente. In den quaternären Ablagerungen ſind neben denen des Rens die Pferdeknochen am ſtärkſten vertreten. An gewiſſen Orten, wie zu Solutre, finden ſie ſich in beträcht— lichen Anhäufungen, und man hat an dieſer Localität die Reſte von mehr als 10000 Thieren zählen können. Dieſe Zahl an ſich, ſowie der Zuſtand, in welchem ſich die Knochen finden, beweiſt, daß man Küchen— überreſte vor ſich hat. In der That zeigen ſich nicht alle Knochen in entſprechenden Men— gen. Diejenigen der Füße, des Schwanzes und Kopfes ſetzten faſt ausſchließlich die Anhäufungen zuſammen, die andern ſind ſehr ſelten. Es iſt demnach wahrſcheinlich, daß das Thier da, wo es fiel, ſeines Fleiſches beraubt wurde; der Jäger trug Kopf, Füße und Schwanz, letzteren ohne Zweifel des Haares wegen, davon, und ließ das Gerippe liegen, welches bald von der Witterung zerſtört wurde. Die andern Knochen, welche der Einwirkung von Luft und Feuchtigkeit entzogen wurden, ſind bei— nahe ſämmtlich zerſchlagen, der Schädel, um das Gehirn herauszunehmen, und die langen Knochen wegen des Markes, welches ohne Zweifel damals, wie noch heute bei den Eskimos, eine Leckerei war. Nicht allein die Schrifſteller des Alter— thums, ſondern noch die einer viel jüngern Epoche beſtätigen das Vorhandenſein des Es iſt übrigens wichtig, ſich hierbei zu erinnern, daß der— ſelbe Ausdruck manchmal angewendet wurde, um ein muthiges und ſtörriſches Pferd zu bezeichnen, und daß im alten Deutſch Wilde und Stute gleichbedeutend war, wodurch, namentlich bei fremden Autoren, leicht Mißverſtändniſſe entſtehen konnten. Aber trotz dieſer Einſchränkung müſſen wir die Exiſtenz des Wildpferdes in Europa noch in den klaſſiſchen Zeiten für bewieſen erachten. Plinius berichtet uns, daß es in Nordeuropa in Heerden lebend vorhan— den war und unterſcheidet es ſehr beſtimmt vom gezähmten Pferde. Strabo erwähnt ſein Vorhandenſein in den Alpen, Varro für Spanien, und Julius Capitoli— nus nennt es unter den für die Circus— ſpiele gebrauchten wilden Thieren. Ein Marmorſockel, der aus der Zeit des Veſpa— ſian oder Hadrian ſtammt und welchen man 1868 in der ſpaniſchen Provinz Leon ge— funden hat, zählt es unter den Thieren auf, die man damals jagte. Man weiß ferner, daß der Fang der wilden Pferde ein Lieblingsthema der Heldenlieder nor— diſcher Völker war. Im Mittelalter war der Genuß dieſes Wildprets wenigſtens in Deutſchland allgemein verbreitet, wohl als Ueberreſt alter Gewohnheit. Er wurde damals aus religiöſen Motiven unterſagt, und Ecker citirt hinſichtlich dieſes Punktes einen merkwürdigen Brief des Papſtes Gregor III. an den heiligen Bonifacius (732), wie auch die ums Jahr 1000 ge— ſchriebene und noch vorhandene Benedictio- nes ad mensas Ekkehard's, des ſpäte— ren Abtes von St. Gallen. Ungeachtet dieſer Achterklärung des Pferdefleiſcheſſens findet man noch lange nachher Spuren des— ſelben. Ein Litthauer, Erasmus Stella, welcher 1518 ein Buch: „De Borussiae Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. antiquitatibus“ ſchrieb, ſagt, daß in Preußen Truppe wilder Pferde vorhanden ſeien, welche nicht gefüttert würden und deren Fleiſch die Bewohner genöſſen. Endlich gedenkt Heliſäus Roßlin in einem 1593 zu Straßburg gedruckten Buche der Gegenwart ſolcher Thiere auch in den Vogeſen. N Man begreift hiernach, daß ſelbſt vor der Entdeckung der Knochen des quater— nären Pferdes in Europa, die Berichte der alten Autoren die Idee erwecken mußten, daß es ſich hierbei um urſprüngliche Wild— pferde handele und nicht um blos neu ver— wilderte Thiere, wie die, welche heute die Pampas Südamerikas bevölkern. Man darf jetzt mit Sicherheit ſchließen, daß das Pferd im wilden Zuſtande in Europa exiſtirt hat. Eine ganz andere Frage iſt es, zu wiſſen, ob unſer Hausthier von dieſem wilden Pferde oder einer andern Stamm— form abſtammt. Mehrere unſerer Haus— thiere haben urſprünglich in Europa wild gelebt und ſind nach und nach durch den Menſchen gezähmt worden. Das Wild— pferd der Quaternärzeit konnte alſo zum Hauspferde werden, wie der Eber zum Hausſchwein geworden iſt, während der Menſch ſelbſt ſich allmählich aus dem Jäger in einen Hirten, dann in den Ackerbauer und ſchließlich in den Induſtriellen verwan— delte. Jedenfalls aber kämpfen wichtige Gründe zu Gunſten des aſiatiſchen Urſprungs unſeres Pferdes. Man weiß, daß lingui— ſtiſche Unterſuchungen, welche keinenfalls bis— her durch Waffen- oder Knochenfunde be— wieſen ſind, dazu geführt haben, die meiſten europäiſchen Völker von einer gemeinſamen Stammform, den Ariern, abzuleiten. Dieſe Bevölkerung ſoll, die aſiatiſche Wiege ihres Stammes verlaſſend, in einer prähiſtoriſchen 303 Epoche gekommen ſein, in Europa neue Wohnplätze zu ſuchen. Die Sprachforſcher, ſagt Ecker, wiſſen, daß dieſelbe Wurzel in allen ariſchen Dialekten angewendet wird, um das Pferd zu bezeichnen, und man hat aus dieſer Uebereinſtimmung geſchloſſen, daß das Pferd den Ariern vor der Trennung ihrer Völkerſchaften bekannt geweſen ſein müſſe, und daß ſeine Heimath diejenige der Stämme ſelbſt war. Muß man nun dieſe aſiatiſche Einführung zugeben, ſo bleibt uns zwiſchen zwei Alternativen zu wählen. Ent— weder iſt das Urpferd, abgeſehen von einigen unbedeutenden Ueberbleibſeln, verſchwunden, und unſer heutiges Thier iſt das von den Arias aus Aſien mitgebrachte, oder es iſt ein Kreuzungsprodukt zwiſchen beiden. Wir haben uns alſo nunmehr drei Fragen zu ſtellen: 1) Wiſſen wir genau, welches die Charaktere und das Ausſehen des euro— päiſchen prähiſtoriſchen Pferdes waren? 2) Exiſtiren heute in irgend einem Theile Europas Wildpferde, welche die nämlichen Kennzeichen darbieten, wie dieſes Urpferd? 3) Können wir ſchließlich, von dieſem ausgehend, durch eine ununterbrochene Stammreihe zum gezähmten Pferde gelan— gen, mit anderen Worten, das heutige Pferd mit dem quaternären verbinden? Auf dieſe Fragen antwortet Profeſſor Ecker das Folgende: 1) Die Eigenthümlichkeiten des quater- nären Pferdes ſind uns durch die Unter— ſuchung ſeiner Knochen mit Sicherheit be— kannt. Hier muß ich in erſter Linie das Pferd von Solutré nennen, welches ſich jetzt im Lyoner Muſeum befindet. Rohe, auf Renthiergeweihe eingeritzte Zeichnungen, welche man in den franzöſiſchen Höhlen, ſpeciell der Dordogne, gefunden hat, ver— einigen ſich damit zu dem Beweiſe, daß BEE 304 das Pferd dieſer Epoche ein kleines, ge— drungenes Thier mit rauhem Haar und geſträubter Mähne war. 2) Es ſind gegenwärtig in Europa Pferde in mehr oder weniger wildem Zu— ſtande vorhanden. Solche ſind die von Camarque, einer Inſel in der Rhonemündung, die von Davert, einem großen Walde bei Münſter in Weſtphalen; die, von denen Roßlin in dem oben citirten Werke ſprach und über welche Oskar Schmidt 1876 im Elſäſſer Journal eine Notiz veröffent— licht hat; diejenigen der bayeriſchen Hoch— lande, die man dort Mooskatzen nennt, end— lich vor allen die Tarpans, welche in den Steppen des ſüdlichen Rußlands am untern Lauf des Dniepr leben. Alle dieſe Thiere beſitzen die Kennzeichen, welche wir an dem quaternären Pferde erkannt haben; von Wuchs klein und gedrungen, beſitzen ſie einen großen Kopf, gerundete Stirn, kurzen Hals. Das neuerdings im Lyoner Muſeum an die Seite des Pferdes von Solutre geſtellte Skelet des Camarque-Pferdes bietet mit dieſem eine frappante Aehnlichkeit dar. Es wäre zu wünſchen, daß man dieſelbe Vergleichung mit einem Tarpan-Skelet an— ſtellen könnte. 3) Die Knochenreſte aller Epochen ſind uns nicht gleichmäßig erhalten; aber ebenſo * * m uYy * | wie die Höhlen der Quaternär-Epoche, haben die Pfahlbauten-Ablagerungen uns zahlreiche Reſte überliefert. In der Epoche der Pfahl— bauten war der Menſch von einer von der vorigen ſehr verſchiedenen Thierwelt um— geben. Das Ren, das Mamuth, der Hohlenbär waren verſchwunden oder nach anderen Ländern ausgewandert. Mit dem Hirſch, Wildſchwein und Wolf erſchienen dort auch die Hausthiere. zeit hatte eine lange Dauer, und während derſelben wurde ein großer Schritt vorwärts Bra. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Die Pfahlbau⸗ gethan, man ſieht das Metall erſcheinen. In den älteſten Bauten, z. B. denen des Bodenſees, findet man noch keine Spuren; Waffen und Werkzeuge ſind von Stein. In denen der Weſtſchweiz hat die Bronce den Kieſel erſetzt. Es iſt zu bemerken, daß die erſteren nur ſelten Pferdeknochen einſchließen, während dieſelben in den letz— teren ſehr zahlreich ſind. Man hat dort ſogar den Gebißtheil eines Pferdezügels aus Bronce gefunden, zum überzeugenden Beweiſe der Zähmung. Man ſieht alſo, daß im Anfange dieſer Periode die cher mals ſo zahlreichen Wildpferde großentheils verſchwunden waren; ſpäter erſcheint das domeſticirte Pferd. Es iſt eine Erſchein— ung, analog derjenigen, die ſich in Amerika vollzogen hat, wo die ehemals ſo zahlreichen Pferde einem vollſtändigen Untergange ent— gegen gegangen waren. Nur dieſe That— ſachen betrachtend, würde man ſchwerlich wagen, das gezähmte Pferd von dem wilden abzuleiten, allein man findet andererſeits noch Spuren des letzteren in einer viel jüngern Zeit. Die ſchöne ſeytiſche Amphora aus ehe— mals vergoldetem Silber, welche man in dem Grabhügel von Tſchertomlyk bei Nico- pol am Dniepr entdeckt hat, und von welcher Ecker jener Abhandlung Abbildungen bei— gefügt hat, ſtellt in bewunderungswürdig erhaltenem Basrelief die ganze Geſchichte des Fanges und der Zähmung des Pferdes dar. Die Thiere zeigen dieſelben Kennzeichen, wie die Tarpans, welche in zahlreichen Heerden noch jetzt in demſelben Lande leben, woſelbſt man die Amphora gefunden hat. Alles das läßt vermuthen, daß das europäiſche Urpferd durch den Menſchen gezähmt worden iſt. Stellen aus Plinius und Cäſar beweiſen, daß die Germanen und Gallier eine Race kleiner und unanſehnlicher Pferde Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. beſaßen, und daß dieſe Völker ſich mit großen Koſten fremde Pferde anſchafften. Außerdem bietet das Broncegebiß, von welchem wir geſprochen haben, bloß eine Oeffnung von 9,9 Ctm. Breite, und bietet dadurch einen auffallenden Contraſt, zu ſolchen die man zu Bologna ausgegraben hat und die eine Breite von 12 — 15 Cut. beſitzen. Eine Race kleiner Pferde, alſo das Wild— pferd, iſt mithin gezähmt geweſen. Woher iſt nun die Race der großen Pferde gekommen, deren frühes Vorhanden— ſein die Ausgrabungen von Bologna bewieſen haben? Ecker leitet den Urſprung aus Aſien her und glaubt, daß die erſte Er- ſcheinung berittener Völker die Sage von den Centauren erzeugt habe. Indeſſen hält er dafür, daß die wirkliche Einführung auf dem Seewege geſchehen ſei, und citirt hierfür die Sage von der Erſchaffung des Pferdes durch Neptun, indem er mit dem Dreizack den Boden ſtampfte. Die Gleichheit der Namen des Pferdes in den indogermaniſchen Sprachen glaubt er durch Handel- und Kriegsverkehr der Völker erklärbar. Es wäre alſo nach Ecker in Europa das Wild— pferd erſt gejagt und dann gezähmt worden, ſpäter aber durch ein über das Mittelmeer gekommenes größeres Thier erſetzt worden. Neue Ausgrabungen Schliemann's. Während des kürzlichen Beſuches Vir— chow's bei Schliemann auf ſeinem Ruhmes⸗Terrain find mancherlei neue Funde daſelbſt gemacht worden. Leider wurde die Abſicht, einige der Hügelgräber aufzu— ſchließen, die ſich dort befinden und die Namen verſchiedener griechiſcher und troja— niſcher Helden tragen, durch die unverſchäm— ten Forderungen der Terrainbeſitzer ver— 305 eitelt. „Inzwiſchen ſind wir einigermaßen entſchädigt worden“, fo bemerkt Virchow in einem von dort geſchriebenen Briefe, „indem Herr Frank Calvert ein prächti— ges Kegelgrab auf ſeinem Gute Chriſtik im Thymbrusthal?“) mit größtem Erfolge bearbeitete. Wir waren geſtern (9. April) hinuntergeritten. „Herr Frank Calvert hat in der Tiefe des von ihm unter⸗ ſuchten Kegelgrabes eine ganze Zahl von Skeletten gefunden mit Beigaben, welche ganz der „älteſten Stadt“ in Hiſſar⸗ lik gleichen; nur Spuren von Metall (Bronce), dagegen viele Steinſachen, zahl— reiche Nahrungsreſte, Maſſen von ZTopf- geſchirr. Der einzige Schädel iſt dolicho— cephal und hat den Index 70; unter den Skeletknochen ſind namentlich die Tibiae bemerkenswerth, von denen einige die höch— ſten Grade der Platyknemie darbieten. Wie es ſcheint, iſt hier ein Reſt der älteſten Bevölkerung aufgefunden. Darüber folgen ungeheure Brandſchichten und in der Höhe wieder Skelette mit griechiſchen Bei— gaben. Inzwiſchen iſt hier in Troja in größtem Styl fortgearbeitet worden. Es ſind bis jetzt täglich 100 — 120 Arbeiter in Thätigkeit geweſen. Schliemann läßt einen großen Theil der Oberfläche ganz ab— räumen, um die „trojaniſche“ Stadt voll— ſtändig bloszulegen. Ungeheure Brandmaſſen kommen dabei zu Tage. Große Blöcke von ungebranntem Lehm, in plattviereckiger Geſtalt, welche zum Aufbauen der Mauer benutzt waren, ſind bis zum Schmelzen angebrannt; fie tragen vollſtändige Glaſur⸗ Ueberzüge. Heute wurde auch in ) Das Thymbrusthal (Vallee de Thym- bra nach Lechevalier) liegt am Fuße von Neu⸗Ilion, nördlich von dieſem und zwiſchen ihm und dem Ausläufer des Ida am Helle ſpont in der Nähe der Ajax-Hügel. 306 meiner Gegenwart ein neuer „Schatz“ von Gold, ganz ähnlich dem im 6. Heft der SA gr Air Ethnologie“ abgebildeten, mit langen Kettengehängen gefunden, mit ihm eine Reihe goldener häufig waren. Ich kann alſo ſchon jetzt aus eigener Wahrnehmung bezeugen, daß die Schil— derungen Schliemann's wahrheits— getreu ſind. Er iſt von unermüdlicher Thätigkeit und wahrhaft bewunderungs— werth in ſeiner Ausdauer. Da auch Herr E. Bournouf von Paris hier iſt, fo wird jedenfalls die Authenticität dieſer letzten Ausgrabungen geſichert ſein. Dieſer kenntnißreiche Mann macht zugleich zahl— reiche Höhenbeſtimmungen und wird die Karte der Troade ſicher ſtellen.“ Ueber die Ergebniſſe ſeiner diesmaligen Ausgrabungen macht Dr. Schliemann dem „Nürnb. Corr.“ aus Troja, unterm Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. wovon jede 150 Glieder hat, und jedes der letztern iſt mit einem Blatte beſetzt, ſonach 1550 Glieder und ebenſoviele Blätter; am Ende jeder Kette hängt ein Idol. „Der ganze untere Theil des Kopfſchmucks“, ſchreibt Schliemann, „mit den 10 Goldketten war Scheiben, wie fie in Mykene fo durch die Sorgloſigkeit des Arbeiters mit Schutt auf den Schiebkarren geladen, um vom Bergabhang geworfen zu werden, aber Virchow's ſcharfer Blick entdeckte es auf dem Schiebkarren und rettete es für die Wiſſenſchaft.“ Der zweite Schatz fand ſich in einer Tiefe von 33“, auf der großen Mauer nordweſtlich vom Thore. Unter den hier gefundenen Gegenſtänden iſt einer von hohem Intereſſe, nämlich eine ſilberne Kella, die bei Trankopfern gebraucht worden ſein muß, denn ſie hat ein Ornament in Repouſſeé-Arbeit in Form eines Nabelſchildes, 21. Mai Mittheilungen, denen wir zur Er⸗ gänzung des Vorſtehenden Folgendes ent— nehmen: Wie bereits gemeldet, wurden in Gegenwart der Herren Profeſſor Virchow und Direktor Bournouf zwei Schätze von goldenen Schmuckſachen gefunden. Der erſte Schatz fand ſich an der Oſtſeite der Aus— grabungen auf den Trümmern einer einge— ſtürzten Trojaner Hausmauer und befteht aus folgenden goldenen Gegenſtänden: drei Disken in Form von Blumen, 8 ½ Ctm. im Durchmeſſer, in Repouſſé-Arbeit, gleich No. 251 in „Mykenä“; einem höchſt merkwürdigen goldenen Kopfſchmuck, 45 Ctm. lang, deſſen oberer Theil in Korbform und mit einer großen Menge kleiner Ringe beſetzt iſt, die mit einer weißen, früher wohl blau geweſenen Glasmaſſe angefüllt ſind; daran hängen 10 goldene Ketten, IR auch einen langen, mit einem eingravirten Baum verzirten Stiel, der in einen großen Ring endigt; ferner wurden bei dieſem Schatze eine Menge großer und kleiner goldener Ohrringe gefunden, wovon zwei mit langen Gehängen; eine Maſſe zuſammen— geſchmolzener ſilberner Ohrringe und Hun— derte von ſilbernen, zuſammengeſchmolzenen Ringen, an welchen ſehr viele kleine Goldſachen im Feuer angeſchmolzen find; endlich LO Gold— ornamente mit 4 Spiralen, wie No. 297 in „Mykenä“, und eine Maſſe Goldperlen u. ſ. w. An einer anderen Stelle wurde nebſt mehreren ſchönen Sachen ein ſilberner Dolch gefunden, deſſen Stiel in eine Kuh mit langen Hörnern endigt. Nachdem Schlie— mann trotz der diesmaligen umfaſſenden und genaueſten Nachforſchungen, die er mit der größten Energie ſeit 1. März veranſtal— tete, keine weiteren Schmuckſachen fand, glaubt er, daß Troja nun erſchöpft ſei. Bei den Ausgrabungen kam große, aber nur 1 Mtr. 42 Ctm. breite, auch eine mit großen platten Steinen gepflafterte Straße ans Licht. Schliemann durchforſchte auch die Tumuli Beſchika Tepeh und Idjek Tepeh. Dieſe Hügel liegen am hohen Uferrande des ägäiſchen Meeres ſüdlich vom Griechendorf Neochorion, von Hiſſarlik etwa 1½ Stunden Wegs entfernt. Udjek Tepeh iſt weitaus der größte der Grabhügel in der Troade. Von ſeiner Spitze genießt man eine wundervolle Ausſicht auf das Meer, die Inſel Tenedos und das Idagebirge. Er iſt 25 Mtr. hoch und hat bei 30 Mtr. Durchmeſſer. Die Griechen hier halten ihn für das Grab des Propheten Elias und wallfahrten am 20. Juli in großen Schaaren ſelbſt aus weiter Ferne herbei. Beſchika Tepeh iſt viel kleiner. In Beſchika Tepeh grub er einen großen Schacht und fand in 14 Mtr. Tiefe den Fels. Er grub dann vier Galerien in verſchiedenen Richtungen in denſelben, fand aber nur Töpferwaare, aus der Hand gemacht, die jener höchſt ähnlich iſt, welche er auf Hiſſarlik in den Schichten der vortrojaniſchen Stadt gefunden. Bei den Ausgrabungen in Udjek Tepeh fand Schliemann den Urboden in 13 Mtr. 20 Ctm. Tiefe; vom Grunde des Schachtes aus wurden auch hier vier Galerien gegraben. Bereits 80 Ctm. unter dem Gipfel ſtieß man auf eine rieſige Mauer, die ſenkrecht bis in eine Tiefe von 12 Mtr. 40 Ctm. geht. Unter derſelben wurde ein Tunnel gegraben und auch ein gro— ßer von der Weſtſeite aus in den Tumulus. Die Töpferſachen, die Schliemann hier Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 307 fand, ſind viel jünger als jene, die in der oberſten vorhiſtoriſchen Stadt auf Hiſſarlik gefunden wurden, und jedenfalls um viele Jahrhundert jünger als die auf Beſchika Tepeh. Schliemann war bei Abgang des Briefes noch mit den Ausgrabungen von Beſchika und Udjef Tepeh beſchäftigt; er will dieſe beiden Tumuli von Grund aus durchſuchen, und gedenkt bis 5. Juni ſeine Arbeiten zu beenden und alsdann nach Athen zurückzukehren. Schliemann erwähnt endlich noch eine höchſt wichtige Entdeckung, welche die Herren Virchow und Bournouf machten. In den in der Ebene gegrabenen Löchern zeigte ſich, daß nur oben bis zu 2½ Mtr. Tiefe grober oder feiner Flußſand liegt, und darunter jener feine Lehm, der von uralter Fluß— waſſerdepoſition herrührt und jedenfalls viel älter iſt, als die Flüſſe der Ebene. Dieſe Beobachtung machten Beide ſogar am Ufer des Helleſponts. „Folglich iſt“, bemerkt Schliemann, „die Troja-Bunarhaſchi⸗ Theorie, die ja nur auf den Glauben geſtützt war, daß zur Zeit des trojaniſchen Krieges ein großer Meerbuſen in der Ebene, und Hiſſarlik zu nahe am Meere geweſen, deshalb kein Raum für die Thaten der Ilias verbleibe, jetzt in Dunſt aufgegangen und kann nie wieder aufleben. Auch die Ruinen auf den Höhen von Bunarhaſchi hält Virchow mit mir durchaus nicht für uralt, denn, wie er bemerkt, ſind ja alle Steine der Mauer mit eiſernen Hammern abgeſplintert.“ mm mm nn nm ͤ „— Fiteratur und Kritik. Grant Allen, der Farbenſinn, ſein Urſprung und ſeine Entwickelung.“) | organiſchen Natur und nach der Ent- wickelung des Farbenſinnes bei den Thieren vom Standpunkte der Selections— theorie aus, in ſo umfaſſender Weiſe in Angriff genommen, ſo lichtvoll und gründlich * n dieſem Werke wird die Frage nach der Entſtehung der Farben in der % erörtert und in Bezug auf die uns zunädit. intereſſirenden Punkte ſo befriedigend beant— wortet, daß wohl jeder Anhänger der Ent— wickelungslehre es als einen der gelungenſten Verſuche, dieſelbe auszubauen, mit hohem Genuſſe leſen und eine Fülle von Anreg— ung und Belehrung aus ihm ſchöpfen wird. Ueberdies finden in demſelben nebenbei zwei neuerdings aufgeſtellte, auch in dieſer Zeit— ſchrift eingehend beſprochene Anſichten, nämlich die Wallace'ſche, nach welcher das Ver— gnügen an Farben ein ausſchließliches Gnadengeſchenk des Menſchen wäre, und die Gladſtone-Geiger-Magnus'ſche, ) The Colour-Sense: its origin and de- velopment. An essay in comparative Psy- chology. By Grant Allen, B. A., Author of „Physiological Aesthetics“, London: Trüb- ner & Co., Ludgate Hill, 1879. 228 ©. in 8. Offenbar konnte, wenn die Selektionstheorie nach welcher ſich der menſchliche Farbenſinn erſt im Verlaufe der letzten Jahrtauſende entwickelt hätte, eine ſo gründliche Wider— legung, daß ſie wohl als auf immer zu Grabe getragen betrachtet werden dürfen. Nach einem einleitenden Kapitel, in welchem die Hauptgruppen der zu erklärenden Erſcheinungen vorläufig angedeutet, und die wichtigſten, zu löſenden Aufgaben vorläufig hingeſtellt werden, wird im zweiten Kapitel eine vortreffliche Darlegung der Natur des Lichtes und der Eigenthümlichkeiten derjeni⸗ gen Aetherwellen gegeben, welche in uns die Empfindungen von Licht und Farbe erzeugen. Das folgende Kapitel behandelt das Geſichtsorgan, ſein erſtes Auftreten und ſeine zunehmende Complicirtheit im Thierreiche, den Bau des Auges bei den höheren Thieren, ſowie die Beziehung ſeiner Theile zur Wahrnehmung des Lichtes und der Verſchiedenheiten der Farben, wobei die wichtige Thatſache nachdrücklich hervor— gehoben wird, daß verſchiedene Abtheilungen des Thierreiches unabhängig von einander ein complicirtes Geſichtsorgan erworben haben. Im vierten Kapitel „Inſekten und Blumen“ ſtellt ſich der Verfaſſer zuerſt die Aufgabe, zu ermitteln, durch welcherlei Gegen— ſtände die Entwickelung eines Farbenſinnes im Inſektenauge veranlaßt worden iſt. — richtig iſt, nur irgend ein unmittelbarer Vortheil, ſei es in der Aufſuchung der Nahrung oder in der Erlangung eines Gatten oder in der Vermeidung von Feinden, die Ausbreitung dieſer neuen Unterſcheid— ungsfähigkeit herbeiführen. Der Verfaſſer ſchildert nun in allgemeinen Zügen, aber in lebendiger Darſtellung die Entwickelung des Pflanzen- und Inſektenlebens von der Steinkohlenperiode an bis zum Auftreten der erſten Inſektenblüthler. Einige ſtarke Irrthümer, die dabei mit unterlaufen (daß z. B. die Kryptogamen keine Kreuzung getrennter Individuen erfahren, ſondern ſich geſchlechtslos oder hermaphroditiſch fort— pflanzen, daß die Weiden windblüthig ſeien und durch das Ausſtreuen ihres Pollens den ſogenannten Schwefelregen verurſachen), ſind für das eigentliche Thema glücklicher Weiſe ohne Bedeutung. In der Hauptſache Literatur und Kritik. gelangt Allen zu ganz derſelben Anſicht, welche auch ich in meinen Blumen-Arbeiten vertreten habe, daß nämlich erfolgreichere Aufſuchung von Blumennahrung der Vortheil geweſen ſein muß, welcher zuerſt das Erhalten— bleiben und weitere Ausgeprägtwerden der erſten ſchwachen Spuren eines Farben-Unter⸗ ſcheidungsvermögens bedingt hat. Man begreift leicht, daß, ſobald irgend welche Unterſcheidungsfähigkeit für Farben bei den Blumen beſuchenden Inſekten vor— handen war, von den auf ihre Kreuzungs— vermittelung angewieſenen Blüthen dieje— nigen Abänderungen im Vortheil ſein mußten, welche durch gefärbte Blüthenhüllen die Auf— merkſamkeit der Inſekten vorzugsweiſe auf ſich lenkten, und ebenſo, daß, ſobald bei Blumen gefärbte Blüthenhüllen vorhanden waren, es für die auf Blumennahrung angewieſenen Inſekten von entſchiedenem Vortheil ſein mußte, dieſe Farben wahrnehmen und dadurch ihre Nahrungsbezugsgquellen 309 erfolgreicher aufſuchen zu können. Das gegenſeitige Sichſteigern der Entwickelung gefärbter Blumentheile einerſeits und des Farbenſinnes der Blumenbeſucher anderer- ſeits folgt aus dem Erhaltenbleiben des Paſſendſten mit innerer Nothwendigkeit. Nur der Ausgangspunkt dieſer, wenn ſie einmal begonnen hat, ſich nothwendig von ſelbſt fortſetzenden Wechſelwirkung bietet unſerer Erkenntniß erhebliche Schwierigkeit. Es fragt ſich da, ob in den Blumen von vornherein, vor der züchtenden Einwirk— ung ſie beſuchender und ausbeutender In— ſekten, eine Neigung zur Hervorbringung gefärbter Anhänge vorhanden geweſen iſt, oder ob die Inſekten von vornherein, ehe ſie Blumen aufſuchten und ehe ihnen alſo die Unterſcheidung von Blumen einen ent— ſcheidenden Vortheil gewährte, irgend welche Fähigkeit oder Neigung beſeſſen haben, Farben, wenn auch in unbeſtimmter und verſchwommener Weiſe, zu unterſcheiden. Läßt ſich eines von Beiden oder Beides als in der Natur begründet nachweiſen, ſo iſt damit die Schwierigkeit des Ausgangspunktes jenes fortdauernden Wechſelproceſſes über— wunden. Um über die erſtere der beiden Möglichkeiten ins Klare zu kommen, wird es nöthig ſein, die Bedingungen, unter denen regelmäßig an lebenden Pflanzen andere als grüne Farben erſcheinen, ſich möglichſt vollſtändig zu vergegenwärtigen. Der Ver— faſſer thut dies in ſo klarer und eingehender Weiſe, daß es mir der Mühe zu verlohnen ſcheint, wenigſtens den Anfang der betreff— enden Erörterung in wörtlicher Uebertrag— ung wiederzugeben: „Die auf die grünen Theile von Pflanzen fallenden Sonnenſtrahlen ſind die einzige, letzte Quelle aller im thieriſchen und pflanz— lichen Organismus exiſtirenden Energie. Unter ihrem Einfluß ſcheidet die Pflanze . Kosmos, III. Jahrg. Heft 4. 41 m nn 310 Kohlenſtoff und Waſſerſtoff vom Sauerſtoff, mit dem ſie urſprünglich verbunden waren, I | häuft dieſelben in irgend einem Theile ihrer eigenen Gewebe auf und giebt den freien Sauerſtoff an die umgebende Atmoſphäre ab. Bei dieſem Vorgange hat die kinetiſche oder aktive Energie der Sonnenwellen die potentielle oder ruhende Form angenommen. Die ſo aufgeſpeicherte potentielle Energie iſt Literatur und Kritik. vorbringen. Dieſe als Stoffwechſel bekannte Umwandlung von Energie findet thatſächlich in jedem thätigen Theile einer Pflanze ſtatt, der nicht ſelbſt Nahrungsſtoff aus der um— gebenden Luft aſſimilirt. Und alle ſolche Theile können als weſentlich thieriſche Funk— tionen betreibend betrachtet werden, d. h. Funktionen, durch welche potentielle Energie kinetiſch wird, Sauerſtoff ſich mit Kohlenſtoff einerſeits mit dem Kohlenftoff und Waſſer— | ſtoff der Pflanze, andererſeits mit dem freien Sauerſtoff der Atmoſphäre verknüpft. Wann je ſie ſich wieder vereinigen, ſo nimmt die ruhende Energie noch einmal die aktive Form an und wird als mechaniſche Beweg- ung, Wärme oder Licht ausgeliefert. Dieſe Zurückverwandlung gebundener Energie in ihren beweglichen Zuſtand kann auf mancher— lei Weiſe zu Stande gebracht werden. Bald wird die Pflanze abgehauen und verbrannt, wie wir alle an Holzfeuern ſehen, und dann wird die Energie reißend ſchnell als Hitze und Licht ausgegeben, während ein Theil derſelben auch als Bewegung der umgebenden Luft entweicht ... (Verkohlung begrabener Pflanzentheile — Dampfmaſchine) ... In anderen Fällen wird die Pflanze von einem Thiere gefreſſen, und dann verbinden ſich ihre Elemente innerhalb ſeines Körpers wieder mit dem von ſeinen Lungen oder Kiemen gelieferten freien Sauerſtoffe und geben Wärme und Bewegung ab, weniger bemerkbar vielleicht, aber ganz ebenſo voll- gültig als in der Dampfmaſchine. Es bleibt jedoch ein anderer Fall übrig, völlig eben ſo gewöhnlich wie dieſe, aber weit weniger allgemein beachtet, — der Fall, nämlich, in welchem die Elemente in den Geweben der lebenden Pflanze ſich wieder verbinden und ihre ruhenden Energien aus— liefern, indem fie Wachsthum, Entwidel- zu Kohlenſäure-Anhydrit vereinigt, Wärme entwickelt und Bewegung ausgegeben wird. „Die bemerkenswertheſten Fälle ſolcher gewiſſermaßen thieriſchen Vorgänge können bei der Keimung von Samen, dem Wachs— thum von Zwiebeln und Knollen, dem Entfalten der Blumen und dem Reifen von Früchten geſehen werden. In der That muß jeder wachſende und thätige Theil einer Pflanze, ſofern er nicht ſelbſt kinetiſche Energie aus Sonnenwellen aſſimilirt, nothwendiger ung und Wiederherſtellung der Theile her- Weiſe Energie verbrauchen, die anderswo aſſimilirt worden iſt. Sonſt würde er neue Energie für ſich aus Nichts herſtellen, was bekanntlich unmöglich und als ein direkter Verſtoß gegen alle Natur- und Vernunftgeſetze undenkbar iſt. „Nun iſt der aktive Vollſtrecker der Desoxydation in gewöhnlichen Pflanzen jene eigenthümlich zuſammengeſetzte Subſtanz, die wir als Blattgrün (Chlorophyll) kennen. Daher ſind alle aktiven Pflanzenorgane ge— wöhnlich grün von Farbe, weil das Chloro- phyll durch die durchſcheinenden Zellwände der Oberhaut hindurch geſehen wird. Es giebt aber Gründe zu glauben, daß überall, wo der entgegengeſetzte Vorgang von Stoff— wechſel ſtattfindet, häufig andere Körper gebildet werden, die das Licht in etwas verſchiedener Weiſe zurückwerfen und ſo Färb— ungen von Roth, Orange, Gelb, Purpur oder Blau entſtehen laſſen“. Als Fälle, in denen Energie verbraucht Literatur und Kritik. wird und direkt oder indirekt durch Sauer- ſtoff-Abſorption bedingte Farben hervor— treten, werden nun die Pilze, die herbſtlichen Blätter, die lebhaft gefärbten jungen Schoſſe, die Sporenkapſeln der Mooſe — Splachnum rubrum — und Farne, die goldgelbe Farbe der Pollenkörner, die augenfälligen Blüthen gewiſſer Windblüthler beſprochen, und zur Verſtärkung des unabweisbaren Schluſſes verwerthet, daß vom Grün abſtechende Farben, unabhängig vom Inſektenbeſuche und wahrſcheinlich zu ſehr verſchiedenen Zeiten und in ſehr verſchiedenen Abtheil— ungen des Pflanzenreiches ſelbſtändig in Blüthentheilen entſtanden und dann durch die Auswahl der Inſekten nur in beſtimmten Richtungen weiter gezüchtet worden ſind. Was ſonſt in dieſem und den folgenden Kapiteln über die Beziehung der Blumen— farben zu den Inſekten geſagt wird, iſt nicht minder klar und anziehend dargeſtellt, bietet aber kaum irgend etwas Neues, und bleibt ſogar hinter dem bereits Bekannten weit zurück, aus dem einfachen Grunde, weil der Verfaſſer (ebenſo wie Wallace und Taylor) mit der außerengliſchen Literatur nicht vertraut iſt.“) Während alſo die Frage, ob Blüthen von vornherein, unabhängig vom Beſuche der Inſekten, eine Neigung gehabt haben, von Grün abſtechende Farben hervorzu— bringen, durchaus bejaht werden muß, wird dagegen die viel kürzer behandelte Frage, ) Die Unbekanntſchaft des Verfaſſers mit der einſchlägigen deutſchen Literatur ſpricht ſich am ſchärfſten wohl darin aus, daß er als Entdecker der im vorigen Jahrhundert von Chriſt. Conr. Sprengel endeckten Saftmale und ihrer biologiſchen Bedeutung — Sir John Lubbock betrachtet (S. 73), ein neuer Beweis daß deſſen Compilation „British wild flowers“ mit dem Scheine der Orginalität auftritt. 311 ob auch Inſekten vor dem Uebergange zur Blumennahrung Farben unterſcheiden konn— ten, von dem Verfaſſer dahin beantwortet, daß ſie verſchiedene Farben zunächſt jeden— falls blos als verſchiedene Lichtintenſitäten empfunden haben, und daß die Fähigkeit, ſie als qualitativ verſchiedene Empfindungen wahrzunehmen, ſich gewiß erſt ſehr allmählich als Anpaſſung an die Blumennahrung, durch Naturausleſe, ausgeprägt hat. In dem folgenden Kapitel (V), über den Farbenſinn der Inſekten, werden nun die direkten und indirekten Beweiſe für denſelben zuſammengeſtellt, in erſter Linie Sir John Lubbock's Verſuche in Bezug auf den Farbenſinn der Bienen, Wespen und Ameiſen, ſodann die Abhängigkeit des Inſektenbeſuches der Blumen von ihren Farben, die Gewohnheit vieler Inſekten, ſich andauernd an dieſelbe Blumenart zu halten und bei Farben wechſelnden Blumen aus— ſchließlich an diejenige, in der Regel weniger lebhafte Farbe, welche den noch Honigergie- . bigen Zuſtand der Blüthe anzeigt. Auch die verſchiedenen Arten von Mimicry werden mit Recht als Beweiſe des Farbenſinnes derjenigen Inſekten, welche ſich durch Aehn— lichkeit der Farbe täuſchen laſſen, ins Treffen geführt. Zum Schluſſe werden die Veränderungen, welche die Blumen— züchtung der Inſekten an der Erdoberfläche hervorgebracht hat, durch Vergleich mit den verändernden Wirkungen der züchtenden Thätigkeit des Menſchen in ein beſonders helles Licht geſetzt: „Der Farbenſinn der Bienen und Schmetterlinge hat die Welt umgeſtaltet und wir müſſen auf jeder Ebene und jedem Gebirge jedes Landes der Erde nach ſeinen Merkmalen ſuchen. Eine menſchliche Analogie wird die Größe des Wechſels im Ausſehen der Natur klar machen, die wir dem rück— m nn N . 312 wirkenden Einfluſſe des Farbenſinnes der einen beſtändigen Krieg mit zudringlichen Inſekten verdanken. Der Menſch hat in dem Ausſehen der Thier- und Pflanzenwelt aller Länder, die er unter ſeine Herrſchaft gebracht hat, manche Aenderungen bewirkt. Er hat die Wälder niedergehauen, das Dickicht geklärt, Wüſte bewäſſert, die ſteinige Oede urbar gemacht. Alle möglichen die | L iteratur und Kritik. Thiere, die ihm zur Nahrung, Kleidung oder | anderen nützlichen Werken dienten, hat er ausgewählt, vermehrt und auf ſeinen Wan- derungen von Küſte zu Küſte mit ſich geführt. Alle möglichen anderen, er nutzlos oder poſitiv ſchädlich fand, hat er aus ihren natürlichen Wohnplätzen aus— gerottet. Seine Felder erglänzen goldenem Korn oder dunkelgrünem Mais; von Hirſe, Gerſte, Hafer, oder Reis; von Wein, Hopfen oder Zuckerrohr; von Hams— wurzel, Kartoffeln, Platanen oder Bana— nen; von Flachs, Hanf, Baumwolle, Oel— ſind mit Aepfeln, Pflaumen, Pfirſichen, Birnen, Orangen, Oliven, Mango- und Melonenbaumfrüchten beladen. Seine Wieſen ſind mit Klee, Luzerne, Wicken und Gras beſetzt, welches ſeine Heerden freſſen. Selbſt das Waldland darf ihm blos Brenn- oder Nutzholz liefern. In gleicher Weiſe haben die | | Von | ſamen oder Faſerpflanzen. Seine Obſtgärten Unkräutern, die zwiſchen ſeinen heranwach— ſenden Feldfrüchten ſich einzuniſten ſuchen. Das ſind die Spuren, die der Menſch den Ländern aufgeprägt hat, wo er ſeine feſte Wohnung aufſchlug. Aber alle dieſe Veränderungen ſind reine oberflächliche Furchen, verglichen mit der Pflanzen und ungeheuren Revolution, welche durch das beſcheidene Inſekt in den Charakterzügen der Natur bewirkt worden iſt. Die halbe Pflanzenwelt der Erde hat den Stempel ſeiner Liebhabereien und Bedürfniſſe auf— gedrückt erhalten. Während der Menſch nur einige flache Ebenen, einige große Flußthäler, einige halbinſelförmige Bergabhänge gepflügt und weit ausgedehnte Maſſen der Erde von ſeiner Hand unberührt gelaſſen hat, hat ſich das Inſekt in tauſend Formen über jedes Land verbreitet und die ganze Blumenwelt ſeinen täglichen Bedürfniſſen dienſtbar gemacht. Seine Butterblumen, ſein Löwenzahn und ſeine Ulmen-Spiere wachſen dicht auf jedem Felde, ſeine Minze bekleidet den Hügelabhang, ſeine Haide überpurpurt das bleichgraue Moorland. Hoch oben zwiſchen den Alpenhöhen breitet die wilden Thiere des Waldes ſeinen Rin- dern, Pferden und Schafen Platz gemacht. Alpakas und Merinos, die Ziegen Kaſch— mirs und die Grunzochſen Tibets liefern ſeine gewobenen Fabrikate. Selbſt Inſekten ſind nicht mäſten ſich an ſeinen Maulbeerbäumen und eigens dazu angelegte Nopal-Pflanz- | ungen geben ſeinen Cochenille-Schildläuſen Unterhalt. Die Wölfe, | | | | ſich, gleich blauen Seen, feine Gentiana aus; zwiſchen den Schneefeldern des Himalaya funkeln ſeine Rhododendron mit karminrothem Licht. Selbſt der ent— legene Sumpf liefert ihm den Waſſerhahnen— fuß und das Pfeilkraut, während die breiten Flächen braſilianiſcher Ströme von ſeinen prachtvollen Seeroſen verſchönert wer— ausgenommen; Seidenraupen Bären, Füchſe, Tiger und giftigen Schlangen ziehen ſich vor ſeinem Antlitz zurück, und er führt den. So hat das Inſekt die ganze Erd— oberfläche in einen endloſen Blumengarten umgewandelt, der es von Jahr zu Jahr mit Pollen oder Honig verſorgt und der dagegen ſelbſt Forterhaltung gewinnt durch Lockſpeiſen, die er zu ſeiner Anlockung darbietet. Wenn irgend Jemand ernſtlich bezweifeln Literatur und Kritik. könnte, daß wir dieſe Umwandlungen wirklich und der Evolutioniſt ſind gleich bereit, dieſe einem Farbenſinne der kleinen Weſen zu ver danken haben, die auf den ſchönen Blumen leben, wenn er ſich einbilden könnte, daß die Pflanze ihre prachtvollen Blumenblätter zu keinem anderen Zwecke als zu dem ſelbſtmör— deriſcher Verſchwendung hervorgebracht habe, daß die Mantis aus bloßer launenhafter grundloſer Nachäfferei zu einer vollkommnen Blattähnlichkeit gelangt ſei; daß das düſtere, Roth fliegen-befruchteter Blumen durch eine einfache Grille ſchöpferiſcher Kraft ſeine Aehnlichkeit mit zerriſſenem Fleiſch trüge — dann wäre die ganze Wiſſenſchaft und Phy— loſophie der letzten hundert Jahre an ihn groteske und monſtröſe Vorausſetzung mit aller ihrer Macht zu verleugnen“. In dem nun folgenden Kapitel (VI) werden von den verſchiedenſten Geſichtspunk— ten aus die Ausſäungs-, Ernährungs- und Schutz⸗Ausrüſtungen der Samen beſprochen. Es wird namentlich auch gezeigt, was für das Hauptthema des ganzen Buches das Wichtigſte iſt, daß die Wechſelbeziehungen zwiſchen lebhaft gefärbten Früchten und höheren Wirbelthieren (Vögeln und Säuge— thieren) den Wechſelbeziehungen zwiſchen weggeworfen geweſen, und er könnte ruhig zu dem blinden und hoffnungsloſen Zufalle der Atheiſten des achtzehnten Jahrhunderts zurückkehren. Selbſt wenn wir die wunder— lich willkürliche Annahme eines ausgezeich- neten Naturforſchers?) zugeben könnten, daß die Farben organiſcher Weſen urſprünglich durch natürliche Urſachen entwickelt wurden, mit einer Art göttlichen Hintergedankens, der ſich auf das Vergnügen bezog, das der Menſch aus ihrer Betrachtung ſchöpfen möchte, ſo können wir doch unſere Augen nicht gegen die abſolute Nothwendigkeit ver— ſchließen, daß ſie vom erſten Anfang an einen beſonderen, nützlichen Dienſt leiſteten. Selbſt die Uhrmacher-Gottheit Palay's würde nicht, wie man vermuthen kann, in der Secundärperiode Blumen erfunden haben zum bloßen Ergötzen des Menſchen in der poſttertiären. Um es kurz zu faſſen: Wenn die Inſekten keinen Farbenſinn haben, dann muß das ganzen Weltall nichts weiter als ein ſonderbar glückliches Zuſammen— treffen zufälliger Atome ſein. Der Theiſt ) Mr. A. R. Wallace. „Die Färbung der Pflanzen und Thiere“. Macmillans Maga- zine Sept. 1877. (Kosmos Bd. IV. S. 115. 192.) | auf Ausſäung vermittelnde Thiere. Blumen und Inſekten in vielerlei Beziehung ganz parallel ſind. Wie bei den Blüthen, ſo ſcheint auch bei den Früchten, und zwar ganz aus dem— ſelben Grunde, Neigung zur Gefärbtheit ſchon von vornherein, ganz unabhängig von Naturausleſe, vorhanden geweſen zu ſein. Wie bei Windblüthen, ſo kommen auch bei Früchten, die keinerlei Anpaſſung an Ausbreitung durch Thiere zeigen (Moos- kapſeln, Rumex), vom Grün abweichende Farben häufig vor. Blüthen die Färbung erſt eine biologiſche Bedeutung erhielt und weiter ausgeprägt wurde, als ſie Kreuzungsvermittlern die Auffindung ihrer Nahrungsbezugsquelle er— leichterte, fo bei den Früchten in Bezug Wie ſodann bei den Blumen die Anlockung der Krenzungsvermittler um jo wirkſamer wurde, je mehr zu der geſteigerten Augenfälligkeit ſich einerſeits Wohlgeruch und Honigab— ſonderung, andererſeits Schutzmittel gegen unberufene Gäſte geſellten, ſo ſteigerte ſich bei den Früchten der biologiſche Vortheil der Färbung durch weitere Ausprägung ihrer Augenfälligkeit und durch Ausbildung einerſeits verlockenden Duftes und genieß— baren, ebenfalls zuckerhaltigen Fruchtfleiſches, CF Wie aber bei den 214 andererſeits die ſonnenſchützender Ausrüſt— ungen. Und wie die urſprünglich ſchon vorhandene Färbung der Blumen in Bezug auf den Farbenſinn der ihre Kreuzung ver— mittelnden Inſekten weckend und weiter aus— bildend gewirkt hat und dann von dieſen ſelbſt weiter gezüchtet worden iſt in gegen— ſeitiger Steigerung, ſo, wenn auch mit größerer Beſchränkung, die Früchte in Bezug auf den Farbenſinn der Vögel und Säuge— thiere. f Die poſitiven Beweiſe, daß wirklich Vögel und Säugethiere, ja auch Reptilien, Lurche und Fiſche mit Farbenſinn begabt ſind, werden, am wenigſten überzeugend für die Mehrzahl der Säugethiere, in einem be— ſonderen Kapitel (VII) zuſammengeſtellt. Von beſonderer Wichtigkeit ſcheint mir das Kapitel VIII „die Gemeinſamkeit des Geſchmackes zwiſchen von Blumen lebenden und Früchte freſſenden Arten“, nicht ſo wohl wegen der Begründung der in der Ueber— ſchrift liegenden Behauptung, die, wenn auch im Ganzen richtig, doch wohl einiger Einſchränkung bedarf, als wegen des un— antaſtbar klaren Nachweiſes der abſoluten Literatur und Kritik. ſtellung zu retten und uns gewiſſermaßen als die Hausthiere Gottes hinzuſtellen, ganz ausſchließlich dem Menſchen zu und wäre uns auf übernatürliche Weiſe beſcheert worden. Allen zeigt nun, wie unmöglich in ſich die Wallace'ſche Annahme iſt. Jedes Unhaltbarkeit jener Vorausſetzung, welche Wallace's geſammten Einwendungen gegen Charles Darwin's Theorie der ge— ſchlechtlichen Zuchtwahl zu Grunde liegt, der Vorausſetzung nämlich, nach welcher Vögel, Inſekten u. |. w. zwar ein ſehr aus— geprägtes Unterſcheidungsvermögen für Far— ben beſitzen, welches ſie in den Stand ſetzt, die Individuen ihrer Art ſelbſt an kleinen Unterſchieden der Zeichnung und Farben— vertheilung zu erkennen, aber nicht die Fähig— keit haben, durch Farbenempfindungen an— genehm erregt zu werden. Dieſe Fähigkeit käme vielmehr, nach Wallace, der nun einmal das Bedürfniß fühlt, uns Menſchen eine von der Naturzüchtung eximirte Sonder- — Organ, welches überhaupt empfinden kann, iſt auch irgend welcher Luſtempfindung fähig und wird durch einen angemeſſenen Reiz zu Luſtempfindung erregt, durch einen Reiz nämlich, der die allgemeine Wirkungsfähig— keit des Organs durch Uebung ſteigert, ohne die Grenze der leichten Wiederherſtellbarkeit der durch die Thätigkeit bewirkten Mole— kularveränderung zu überſteigen. Der Ein— fluß ſtammelterlicher Gewohnheit hat nun im Verein mit Naturausleſe in jedem Falle das Nervenſyſtem ſo abgeändert, daß es ſich durch diejenigen äußeren Einwirkungen normal gereizt findet, welche zur allgemeinen Wohlfahrt des Organismus führen, dagegen übermäßig oder verletzend gereizt durch die— jenigen, welche zu ſeiner allgemeinen Schädig— ung führen. Die Annehmlichkeit einer Thätigkeit ſteht daher mit ihrer Zuträglich— keit für den Organismus in engſtem Zu— ſammenhange. Nur Thätigkeiten, die von den Ahnen viel geübt find, können unmittel— bar Luſtempfindung verſchaffen, um ſo mehr, je inniger ſie mit dem Leben der Art ver— bunden ſind. Wo daher Unterſcheidung verſchiedener Farben irgend einer Art nützlich wurde, da mußte nicht nur Naturausleſe Abänder- ungen des Baues, die dieſe Unterſcheidung ermöglichten, erhalten und weiter ausprägen, ſondern auch mit der Uebung der Farben— unterſcheidung das Vergnügen an derſelben ſich ſteigern. Im Beſondren: Sobald die Augen von Inſekten oder Vögeln hinreichend differenzirt worden, nur röthliche Blüthen— hüllen und Samenbehälter von dem Grün ) Literatur und Kritik. der umgebenden Blätter zu unterſcheiden, und ihren in Bildung begriffenen Sinn zur Aufſuchung der Nahrung anzuwenden, mußten auch die bei dieſem Vorgange geübten und gekräftigten ſpeziellen Nerven eine gewiſſe ſchwache Luſtempfindung von ihrer ange— meſſenen Reizung empfangen. Und je ent— wickelter die Nerven wurden, um fo inten- ſiver mußte das reſultirende Vergnügen ſein; dasſelbe mußte ſich mit der Entwickelung der Blumen und gefärbten Früchte fort- während in demſelben Grade ſteigern, als die farbenunterſcheidenden Organe an Um— fang und Kräftigkeit von Tag zu Tag zunahmen. Das folgende Kapitel (IX) handelt von der unmittelbaren Rückwirkung des Farbenſinnes auf die Bekleidungen der Thiere. Es wird nachgewieſen, daß die ſchönſten Thiere in erſter Linie die am ausſchließlich— ſten auf Blumennahrung ſich beſchränkenden ſind, wie Kolibris und Schmetterlinge, in zweiter Linie Fruchtfreſſer, wie z. B. die Papageien. Obgleich nun auch andere Ur— ſachen einer Neigung zu lebhaften Farben nicht ausgeſchloſſen ſind und bei vielen Thieren die Urſache ihrer Färbung noch durchaus räthſelhaft iſt, ſo läßt ſich doch zwiſchen Blumen- oder Fruchtnahrung und ſchöner Färbung der Thiere nicht verkennen und kaum bezweifeln, daß viele von Blumen und Früchten lebende Thiere geſchlechtlicher Ausleſe ihr prächtiges Putzkleid verdanken. Natürlich müſſen wir Wallace in ſo weit vollkommen Recht geben, daß wir blumen— beſuchenden Inſekten keinen menſchlichen Schön- heitsſinn zumuthen dürfen. Aber Sinn für Augenfälligkeit beſitzen ſie unzweifelhaft, und es iſt nicht der mindeſte Grund vor— handen, die Anlockung durch Farben bei der geſchlechtlichen Wahl zu leugnen, wenn 315 man fie, wie Wallace, bei Blumen zu- giebt. Haben Inſekten bei der Wahrnehm— ung von Blumenfarben eine gewiſſe Luſt— empfindung, ſo erfahren ſie unzweifelhaft einen ähnlichen Reiz durch ähnliche Farben ihrer Gatten. Und wie die Motte, durch den Lichtreiz zu halb-automatiſchen Beweg— ungen getrieben, in die Flammen fliegt, der Nachtſchmetterling zu den hellen Nachtblumen, der Tagfalter zu den farbenprächtigſten Blumen des Tages, ſo wird auch das liebes— bedürftige Inſekt durch den Farbenreiz des Putzkleides ſeines Gatten ſich angezogen fühlen, ſo werden wir überhaupt bei allen mit ausgeprägtem Farbenſinne begabten In⸗ ſekten eine derartige Verbindung des Auges mit dem Bewegungsſyſtem annehmen dürfen, daß die Aufnahme eines Lichtreizes unmittel— bar auf die Flügel wirkt. Auf dieſe Weiſe hängt die Schönheit der Blumenwelt eines beſonderen Bezirks und die allgemeine Schönheit ſeiner Inſekten zuſammen, und es läßt ſich aus hundert gelegentlichen Bemerkungen von Darwin, Wallace, Hooker, Hochſtetter, Camp— bell und anderen Reiſenden erſehen, daß, wo lebhaft gefärbte Inſekten fehlen, es auch wenig oder gar keine ſchöne Blumen giebt, im Großen und Ganzen der Zuſammenhang daß dagegen an der Heimatsſtätte ſchöner Blumen auch lebhaft gefärbte Inſekten zu Hauſe ſind — wenn auch nachträgliche Ver— änderungen der Verbreitungsbezirke erhebliche Ausnahmen dieſer Regel herbeigeführt haben mögen. Der Verfaſſer geht nun ſämmtliche Thier- klaſſen in Bezug auf das Auftreten leb— hafter Farben durch und unterſucht, in wie weit dieſelbe als durch eine von Farben— ſinn geleitete geſchlechtliche Auswahl hervor— gebracht anzunehmen iſt, und wie weit ſich das Vorhandenſein eines Farbenſinnes in den einzelnen Fällen als urſprünglich durch ri ER I ee: [ 316 | Aufſuchung gefärbter Nahrung bedingt an- nehmen läßt. Wie ungetheilt wir auch, vom Standpunkte der Entwickelungslehre aus, dem allgemeinen Satze zuſtimmen müſſen, daß der Farbenſinn der Thiere urſprünglich durch beſtändiges Suchen nach gefärbter Nahr— ung ſich entwickelt und dann durch geſchlecht— liche Ausleſe auf das Farbenkleid der Thiere den Thieren, in mindeſtens gleichem, wahr— ſcheinlich ſelböſt in weit höherem Grade als bei den Pflanzen, lebhafte und ſelbſt prächtige Farben ganz unabhängig von irgend welchem Farbenſinne und von irgend welcher Natur— ausleſe haben entſtehen können, und daß es Verhältniſſe in vielen Fällen ſchwierig oder ſelbſt unmöglich iſt, über die Betheiligung des Farbenſinnes an der Ausprägung eines ſchönen Farbenkleides ein befriedigendes Ur— theil zu gewinnen. Ich unterlaſſe es des— halb, dem Verfaſſer in ſeinen Betrachtungen Thierklaſſen hindurch zu folgen, um ſo mehr als Wallace gegen dieſe Betrachtungen mehrere thatſächliche Einwendungen gemacht hat, über die ich kein eigenes Urtheil beſitze. Wallace“) hat gewiß vollkommen Recht, daß dieſer Theil des Allen'ſchen Werkes ernſteſten und begeiſtertſten Forſcher iſt, durch die Arbeit weniger Monate eine rich— tige Schätzung der Bedeutung der über— ) Vgl. H. Müller, Wechſelbeziehungen zwiſchen Blumen und Inſekten (im erſten Hefte von Trewendt's Encyclopädie der Natur— wiſſenſchaft) Capitel XIX. **) Nature No. 492. ſelbſt zurückgewirkt hat,) und wie unzweifel- | haft uns auch für die blumenbeſuchenden Inſekten dieſer Urſprung ihres ſchönen Farben— | fleides fein muß, jo müſſen wir es doch als unbeſtreitbar richtig anerkennen, daß bei. ohne eingehende Kenntniſſe der biologiſchen über die lebhaften Farben durch die einzelnen uns zeigt, wie unmöglich es ſelbſt für den Literatur und Kritik. wältigenden Maſſe von Thatſachen zu ge— winnen, welche die zahlloſen Arten der Thier- und Pflanzenwelt uns darbieten. Aber die zwiſchen Darwin und Wallace allein entſcheidende Frage, ob wir berechtigt ſind, auch bei Thieren ein Vergnügen an Farben vorauszuſetzen, bleibt davon völlig unberührt, und es iſt, wie ich meine, durch Grant Allen's Erörterungen endgültig zu Ungunſten Wallace's entſchieden. Das nächſte Kapitel (X), „die mittelbare Rückwirkung des Farbenſinnes auf die Be— kleidungen der Thiere“, erörtert ſehr kurz die Ausprägung der Schutz- und Trutz farben durch Vernichtung unvortheilhafter Färbungen durch Naturausleſe und bietet nichts Neues. Um ſo wichtiger iſt Kapitel XI, indem es die Gladſtone-Geiger-Magnus'ſche Theorie unwiderbringlich zu Grabe trägt, die Theorie, nach welcher der Menſch noch vor drei Jahrtauſenden abſolut farbenblind geweſen und Roth, Grün, Blau, in dieſer Reihenfolge nach einander, erſt in geſchicht— licher Zeit habe unterſcheiden lernen. „Hätte Dr. Magnus geſagt: drei Millionen oder ſelbſt dreißig Millionen Jahre, ſo hätte ein Anhänger der Entwickelungslehre Bedenken tragen können wegen des unzureichenden Zeitraumes; wenn aber unſer Autor für die Entwickelung einer von Grund aus geſonderten Claſſe empfindender Organe dreitauſend Jahre annimmt, ſo wird unſere Ungläubigkeit eine abſolute und unwider— rufliche. Aber auch ganz abgeſehen von der Entwickelungslehre muß ſich die abſolute Unhaltbarkeit der auf einſeitige Berückſichtig— ung mißverſtandener ſprachlicher Erſchein— ungen gegründeten Philologen-Theorie her— ausſtellen, wenn ſich zeigen läßt, daß einer— | | ſeits alle heutigen Menſchenraſſen, einſchließ— lich der niederſten Wilden, ganz denſelben Farbenſinn befigen wie wir ſelbſt, und daß andererſeits die uns erhalten gebliebenen Literatur und Kritik. | Kunſtwerke und fonftigen Denkmäler früher geſchichtlicher und vorhiſtoriſcher Raſſen auf einen längſt vor der Epoche der Jliade und der Vedas völlig entwickelten Farben— ſinn ſchließen laſſen. Beide von den ge— nannten Philologen ganz außer Acht ge— laſſenen Beweismethoden hat Grant Allen in Anwendung gebracht: „Um zu entdecken, welches der gegen— wärtige Zuſtand der Farbenwahrnehmung unter lebenden wilden Raſſen wäre, ſtanden mir zwei Wege offen. In erſter Linie zog ich zahlreiche Werke von Reiſenden und Anderen über moderne Wilde zu Rathe und ſchrieb alle Stellen aus, welche für die Ausgangsfrage von Bedeutung waren. In zweiter Linie ergänzte ich die ſo erlangte Belehrung über den Gegenſtand durch direkte Nachfragen, die ich an Miſſionäre, Regierungsbeamte und andere unter den unciviliſirteſten Raſſen thätige Perſonen rich— tete. Ich ließ ein Rundſchreiben drucken und nach den verſchiedenen Erdtheilen be— fördern, in welchem ich um numerirte Antwort auf folgende Fragen bat: 1) Auf welche Raſſe beziehen ſich Ihre Antworten? 2) Wie viel Farben können die Leute unter- ſcheiden? 3) Können ſie Blau und Grün unterſcheiden? 4) Können ſie Blau und Violet unterſcheiden? 5) Können ſie irgend welche gemiſchte oder dazwiſchen liegende Schattirungen unterſcheiden, wie Dunkel- purpurviolet (mauve), Lila, Orange und Purpur? 6) Für wie viele Farben haben ſie Namen in ihrer Sprache? 7) Haben ſie beſondere Namen für Grün und Blau? 8) Haben ſie beſondere Namen für Blau und Violet? 9) Wie viel Farben unter- ſcheiden ſie im Regenbogen? 10) Welche Farbſtoffe verwenden fie zu perſönlicher Ber- Kosmos, III. Jahrg. Heft 4. 317 zierung und zu Schmuck? 11) Haben ſie beſondere Namen für jeden Farbſtoff? 12) Haben ſie beſondere Namen für irgend welche Farbe, für welche ſie keinen Farb— ſtoff haben? — Auf dieſe Fragen erhielt ich eine große Zahl höflicher Antworten, aus Europa, Aſien, Afrika, Amerika und von den Inſeln des ſtillen Oceans, und ich kann wohl ſogleich ſagen, daß ſie in jedem einzelnen Falle der Vorausſetzung entſprechen, daß Farbenſinn im Ganzen durch alle Zweige des Menſchengeſchlechts abſolut identiſch iſt“. Für die ſpeciellen Belege, ſowohl hier— für, als für das Ergebniß der anderen Forſchungsmethode, daß auch die Kunſtwerke und ſonſtigen Denkmäler der älteſten ge— ſchichtlichen und ſelbſt vorgeſchichtlichen Stäm— me einen ausgeprägten Farbenſinn beweiſen, muß man das Allen'ſche Werkſelbſtnachſehen. Ebenſo für den reichen Inhalt des folgenden (VII)) Kapitels, welches wunderbar ſchön die ſtufenweiſe Steigerung des Wohlgefallens an Farben ſchildert und den tiefen Zuſam⸗ menhang unſerer feinſten, äſthetiſchen Gefühle mit unſerem urſprünglichen Leben im Freien und auf Bäumen nachweiſt, und von dem ich ebenfalls hier nur eine flüchtige Andeut— ung geben kann. Aeſthetiſches, das heißt uneigennütziges, von der Geſammtwohlfahrt des Organismus unabhängiges Vergnügen entſpringt zuerſt aus Reizen, die das ganze Nervenſyſtem am ſtärkſten erregen. Der mächtige Reiz des Glanzes wird daher früher ein Gegen— ſtand äſthetiſchen Genuſſes als der mildere der Farben. Fliegende Inſekten werden zur Flamme, höhere Thiere zur Feuers— glut hingezogen, bei deren glänzendem Funkeln ſie mit Intereſſe verweilen — ebenſo wie Kinder und uncultivirte Er- wachſene noch heute bei Fackeltänzen, Freu— FT 42 318 denfeiern und Feuerwerken. Dem folgen glitzernde und funkelnde Schmuckgegenſtände wilder und vorhiſtoriſcher Raſſen, Geſchmack an Gold und anderen glänzenden Metallen und Steinen. Noch heute erfreuen uns als Geld die nämlichen glänzenden Stückchen weißen und gelben Metalls, welche einſt um die nackten Hälſe afrikaniſcher, amerika— niſcher und vorhiſtoriſcher Häuptlinge hingen. Von Farben ſtehen Roth, Orange und Gelb als die lichtſtärkſten und am wenigſten allgemein verbreiteten an äſthetiſchem Reiz obenan. Rothe Farbſtoffe kamen deshalb, und weil ſie am leichteſten zu erlangen waren, Gebrauch. Schwächer wirken, als licht— ſchwächere und in der Natur verbreitetere Farben, Blau und Grün. Die tiefſte Kunſtſtufe beſteht daher im Beſchmieren des Körpers mit rother Erde, ſodann mit anderen einfachen Farbſtoffen, dann folgt ein Auftragen grell contraſtirender Streifen, vor Allem von Schwarz, Roth und Weiß, ſpäter auch von Blau, Grün und Zwiſchen— ſtufen, zuletzt werden Farben von verſchie— dener Intenſität und reicher Manigfaltig— keit gemiſcht. Was das Material anbetrifft, ſo beginnt die Entwickelung des Kunſtſinnes mit dem Gebrauche von Ocker, Kalk und Holzkohle zur Färbung des Haares und Körpers; daran ſchließt ſich der Gebrauch ausgepreßter Pflanzenſäfte Ward, Indigo, Kampecheholz u. ſ. w.), die Färbung von Zeug, die Entdeckung gemiſchter Farbenſtoffe, die mit Stempel oder Pinſel aufgetragen werden, die Erfindung künſtlicher glänzender Steine (Glas, Porcellan u. ſ. w.), die Blumenzucht in Gärten u. Fenſtern, das Halten ſchön gefärbter Vögel, die mannig- fachſte Ausſchmückung der eigenen Wohn— ungen und vor Allem der Fürſtenpaläſte “ am erſten und allgemeinften in Literatur und Kritik. ſich ſtufenweiſe die Uneigennützigkeit der äſthetiſchen Farbengenüſſe, bis ſie ſchließlich in dem Ergötzen an der herbſtlichen Färb— ung der Blätter, am Regenbogen, an den Wolken des Abendhimmels, an den tauſen— derlei Farben von Meer, Himmel, Feld und Wald ihren Gipfel erreicht. Das vorletzte Kapitel (XIII), über⸗ ſchrieben „das Wachsthum des Farben— Vocabulariums“ erklärt in einfachſter und überzeugendſter Weiſe jene ſprachlichen Er- ſcheinungen, welche Gladſtone, Magnus und Geiger zur Aufſtellung ihrer bereits widerlegten Theorien verleitet haben. Es weiſt allgemein nach, daß die Farbennamen urſprünglich immer nur die Namen concreter, gefärbter Gegenſtände ſind, wie man an Farbennamen neueren Urſprungs, wie Roſa, Lila, Violet, Orange u. ſ. w. ſofort erkennen kann, ſowie daß der Reichthum an Ausdrücken zur Bezeichnung von Farben ſtets durchaus von dem praktischen Bedürf- niſſe abhängt, und zeigt dann ſehr eingehend im Beſonderen, wie der Wortvorrath für Farben bei Homer und den alten Hebräern ſich aus der Culturſtufe der Zeit und des Volkes mit innerer Nothwendigkeit ergiebt. „Und nun“, ſo ſchließt der Verfaſſer dieſen Nachweis, „da unſer Ueberblick beendet iſt, mag es vielleicht manchen Leſern ſcheinen, daß ich, indem ich dieſe Theorie geſchicht⸗ licher Entwickelung bekämpft, wie Don Quixote mit einem völlig harmloſen Feinde gekämpft habe. Worauf ich reſpektvoll erwidern möchte, daß ich vielmehr die weniger romantiſche Rolle des Sancho Panſa zu ſpielen glaube. Da mehrere gelehrte Schriftſteller einen eingebildeten Rieſen ent— deckt haben, ſo wird es für mich, einen Beurtheiler von gewöhnlichem Menſchen— verſtande, zur beſcheidenen Pflicht, zu zeigen. und Göttertempel. Damit zugleich fteigert | daß das monſtröſe Weſen in der That | nichts mehr und nichts weniger als eine Windmühle iſt. Eine ſolche Aufgabe mag undankbar und ruhmlos genug ſein, aber Literatur und Kritik. ſie bleibt nichts deſto weniger nothwendig, um weiteren Irrthümern über denſelben Gegenſtand vorzubeugen. .... hoffe ich, daß neben dem negativen Zer— ſtörungsgeſchäft wir im Laufe unſerer Fol— gerung im Stande geweſen ſind, ein neues und poſitives Bauwerk aufzurichten, welches neues Licht, Schließlich Nachſchrift über Ideen-Adoptiv-Väter. In der Wiſſenſchaft gilt glücklicher Weiſe der berühmte Paſſus des Code Napoleon: „Toute recherche de paternité est in- terdite“ nicht, allein wie ſchwer es dem Geſchichtsſchreiber der Wiſſenſchaft zuweilen der Aeſthetik, als auf das Wachsthum ſpe⸗ cieller Vocabularien werfen wird.“ Im Schlußkapitel (XIV) ſtellt endlich der Verfaſſer die Hauptergebniſſe, zu denen | ihn feine Unterſuchungen über den Urſprung und die Entwickelung des Farbenſinnes geführt haben, noch einmal in dogmatiſcher Form kurz zuſammen und verdichtet ſie ſchließlich in folgende Formel: „Inſekten bringen Blumen hervor. Blu- men bringen den Farbenſinn bei Inſekten hervor. Der Farbenſinn bringt einen Ge— ſchmack für Farbe hervor. für Farbe bringt Schmetterlinge und präch— tige Käfer hervor. Vögel und Säugethiere bringen Früchte hervor. Früchte bringen Ge— ſchmack für Farbe bei Vögeln und Säugethieren hervor. Der Geſchmack für Farbe bringt die äußerlichen Farben der Kolibris, Papageien und Affen hervor. Die fruchtfreſſenden Ahnen des Menſchen bringen in ihm einen ähn— lichen Geſchmack hervor; und dieſer Geſchmack bringt die mannigfachen ſchließlichen Ergeb— niſſe menſchlicher Farbenkünſte hervor.“ Ich kann meinen Bericht über dieſes reichhaltige Buch nicht ſchließen, ohne dem Wunſche Ausdruck zu geben, daß der Genuß Conſorten ſeeſchlangenartig ihr Haupt aus ſeiner Lektüre durch eine gute deutſche Ueber— ſetzung recht bald den weiteſten Kreiſen meiner Landsleute zugänglich gemacht werden ſauren Gurken. möchte. Hermann Müller. Der Geſchmack durch die Eitelkeit einzelner „Gedanken— Adoptiv-Väter“ gemacht werden kann, den ſowohl auf die Entwickelung rechten Vater eines neuen Gedankens zu er— mitteln, das will ich im Folgenden, um nicht umgekehrt als ein unnatürlicher Vater ausgeſcholten zu werden, an einem aus— giebigen Beiſpiele nachweiſen. Vor reichlich zwanzig Jahren machte der ehemalige eng— liſche Premierminiſter und Homerforſcher Gladſtone auf die ungemeine Armuth der homeriſchen Sprache an Farbwörtern und auf die merkwürdige Unbeſtimmtheit im Gebrauche derſelben, namentlich wenn es ſich um Blau und Grün handelt, auf- merkſam. Der deutſche Sprachforſcher La— zarus Geiger adoptirte dieſen Gedanken, und weil er die nämliche Spracheigen— thümlichkeit bei den alten Indern, Juden und anderen alten Völkern nachwies, baute er (1867) die Theorie darauf, daß der Farbenſinn bei den Urvölkern erſt in ſeinen Anfängen entwickelt geweſen ſei und ſich zur Unterſcheidung des Blauen und Grünen erſt ſpäter emporgeſchwungen habe. Indem Geiger dieſe einem Sprachforſcher am wenigſten übel zu nehmende Theorie vor die Frankfurter Naturforſcherverſammlung brachte, gab er ſeinen Ideen einen weiten Nachhall, und ſeitdem ſtreckt die Mythe von der „Farbenblindheit“ des Homer und jeder Journallakune hervor, namentlich zur ſommerlichen Blüthezeit der nachmaligen Ohne Zweifel gab es 320 ſchon 1867 viele Perſonen, welche die boden— loſe Leichtfertigkeit dieſer Theorie wohl er— kannten, aber ſie vermochten die unleugbare Spracheigenthümlichkeit der alten Schriften in Betreff der Farben nicht zu erklären, und deshalb verhallte ihr Widerſpruch, wenn ſie einen ſolchen überhaupt gewagt haben, ſpurlos. Was mich betrifft, ſo hatte mich nicht das Märchen an ſich, was ich keinen Augen— blick geglaubt habe, ſondern eben das räthſel— hafte Verhalten der alten Sprachen in dieſem Punkte angezogen, und nach längerem Nach— denken darüber ging mir ſchließlich der wahre Sachverhalt klar und deutlich auf. Im Jahre 1876 erſchien die Seeſchlange auch in der „Gartenlaube“ (Nr. 4), und Geiger wurde hier noch übertrumpft mit der Behauptung, daß die bei uns ſo häufig auftretende Farbenblindheit auf Atavismus beruhe, wie denn die ganze Erſcheinung mit dem Darwinismus ſchon von Geiger in eine nahe Verbindung gebracht worden war. Ich ſchrieb dem Aufwärmer dieſer See— ſchlange, Herrn Dr. S. Th. Stein in Frankfurt a. M., damals durch Vermittel— ung der Redaktion einen langen Brief, in welchem ich ſeine Behauptungen Punkt für die Blauempfindung im Alterthum lieferte und namentlich darauf hinwies, daß, wenn ſeine Deduktion richtig wäre, Blaublind⸗ heit am häufigſten vorkommen müſſe, wäh- rend gerade dieſe nach Feſtſtellung der Fach- Statt ſeinen Irrthum nunmehr anzuerkennen, wie er es gelehrten am ſeltenſten iſt. ſpäter in recht charakteriſtiſcher Weiſe gethan meines verewigten Freundes Ernft Keil konnte mich damals abhalten, dem Genannten Literatur und Kritik. der einen andern Mitarbeiter der „Garten— laube“, Herrn Privatdozent Dr. Magnus in Breslau, im folgenden Jahre veranlaßte, eine Reihe von Broſchüren und Artikeln zu ſchreiben, in welchen die Seeſchlange mit einem Aufwande vieler Gelehrſamkeit von Neuem herausgeputzt und alsbald durch Ueberſetzungen der ganzen Kulturwelt zugäng— lich gemacht wurde. Ich ſchrieb dem Ver— faſſer, der mir feine erſte Schrift überſendet hatte, alsbald zurück, daß ich ſeine Auf— ſtellungen für durchaus unhaltbar anſähe, und veröffentlichte dann in dem am 1. Juni 1877 erſchienenen Hefte des „Kosmos“ eine Kritik, in welcher ich meine bereits ſeit langen Jahren genährte Auffaſſung der Sache kurz, aber abſchließend darlegte. Ich zeigte 1) daß die Hypotheſe, welche als eine Stütze der Darwin'ſchen Theorie angeſehen wurde, mit ihr im völligen Wider— ſpruche ſtehe, daß die Farbenempfindung ſchon in niederen Thieren ausgeprägt ſein müſſe, wenn wir uns die Entſtehung der farbenprunkenden Pflanzen- und Thierwelt nach Darwin'ſchen Geſetzen denken wollten. Ich wies auf die Verſuche und Beobacht— ungen Hermann Müller's und Yub- Punkt ſchlagend abwies, ihm Beweiſe für | Wahrſcheinlich war es dieſer Artikel, bock's über den ausgeprägten Farbenſinn der Inſekten hin, und ging von dieſen all— gemeinen 2) zu ſpeciellen Beweiſen über, indem ich daran erinnerte, daß der Lapis Lazuli und andere, abgeſehen von ihrer Farbe, unſcheinbare blaue und grüne Edel— fteine, gerade bei den Alten in höchſtem Anſehen geſtanden haben. Nachdem ich noch auf die Unrichtigkeit einzelner Prämiſſen hinge— hat, antwortete Herr Stein mit Grobheiten, und nur die Rückſichtnahme auf den Wunſch wieſen, zeigte ich eingehend, 3) daß offenbar nichts Anderes als eine übrigens natur- gemäße Eigenthümlichkeit der Sprachent— | wickelung an dem Gladſtone-Geiger— öffentlich das zu ſagen, was ſich gehörte. Magnus'ſchen Mißverſtändniſſe Schuld ſei, daß die Naturvölker wahrſcheinlich nur für diejenigen Farben eigene Namen hätten, die ſie zu färben verſtänden, und erſuchte Perſonen, die Verkehr mit Naturvölkern haben, dieſe Behauptung feſtzuſtellen. Ich führte ferner aus, daß blaue Pigmente eben am ſeltenſten in der Natur fertig gebildet vorkommen, erklärte den frühen Gebrauch des Rothfärbens aus allgemeinen und phy— ſiologiſchen Gründen, wies (gegen Glad— ſtone) darauf hin, daß auch die älteſten Bezeichnungen der rothen Farbe von rothen Objekten abſtrahirt worden ſeien, wie alle Farbennamen ähnlich entſtanden Orange, Violet, Lila und Penſee erinnerte. Hinſichtlich des von Dr. Magnus adoptir⸗ ten Atavismus⸗Naiſonnement wiederholte ich noch obendrein mein oben erwähntes Argu— ment.) Ich muß der verſchiedenen Raubver— ſuche wegen noch weiter recapituliren, daß ich dieſem Artikel, da eine Erwiderung von Mag— nus erfolgt war, noch einige weitere folgen laſſen mußte, ohne der lang überlegten erſten Widerlegung weſentlich Neues hinzufügen zu können, was auch von keiner andern Seite bis— her geſchehen iſt; im Gegentheil, alle ſpäteren Nachweiſe ſind unvollſtändiger geblieben. Die Wirkung des obigen Artikels war für mich eine höchſt erfreuliche. Herr Dar— win ſchrieb mir ſofort, ohne daß ich ihn dazu direkt veranlaßt hätte, daß er meinen Gedankengang ſchlagend fände, Prof. Jäger in Stuttgart und Prof. Preyer in Jena ſtimmten von allgemein biologiſcher und phy- ſiologiſcher Seite zu, Prof. Dümichen in Straßburg vom archäologiſchen Standpunkte. ) Es iſt mitunter nicht unintereſſant, die un- Literatur und Kritik. natürliche Zeugungsfähigkeit grotesker Gedan- Geiger'ſchen Phantasma bekommen, beeilte | fi, das Magnus'ſche Büchlein zu über- was dann von Dr. Magnus acceptirt wurde, ken weiter zu verfolgen. Dr. Stein hat meines Wiſſens zuerſt mißverſtändlich die Atavismus- Theorie auf Heutige Farbenblinde angewandt, worauf Dr. Dreher über den Farben-Ata— vismus der Griechen phantaſirte! 321 Von allen Seiten tauchten nunmehr Be kämpfer der alten Seeſchlange auf, nachdem ich mit dem Nachweis des wahren Sach— verhaltes das Eis gebrochen hatte, ſo z. B. Prof. Franz Delitzſch in Leipzig mit einer Reihe ausgezeichneter Artikel im „Da- heim“ (1878), ein Ungenannter in der „Augsburger Allgemeinen“ (März 1878) und viele Andere, die zum Theil noch ſpäter zu nennen ſein werden. Dr. Stilling brachte die Sache vor die Kaſſeler Natur- forſcherverſammlung (1878), indem er bei- nahe wörtlich meine Hauptargumente wieder— wären und noch entſtünden, wobei ich an holte, ohne irgend etwas Neues hinzuzu— fügen. Obwohl das in ſeinem Vortrage, der über Farbenblindheit handelte, nur ganz beiläufig und ohne Anſpruch auf irgend eine Originalität der Idee geſchah, beeilte ſich derſelbe Pr. Stein, der meine gleich— lautenden Argumente ſeit drei Jahren kannte und inzwiſchen in wiederholten Rückfällen ſeinen Irrthum vertheidigt hatte, in Nr. 3 der „Gartenlaube“ 1879 Dr. Stilling als denjenigen zu bezeichnen, der das alte Vorurtheil endlich widerlegt habe! Dieſe be— wußte Unwahrheit war der Dank dafür, daß ich ihn drei Jahre vorher privatim () auf ſeinen Irrthum aufmerkſam gemacht hatte, und es iſt charakteriſtiſch für die Perſönlichkeit, daß er bei dieſer Aufklärung des Publikums keineswegs feiner drei vorausgegangenen irre— führenden Artikel erwähnte! Doch Geduld, lieber Leſer, es kommt noch immer beſſer. In Deutſchland war Geiger's Traum nach zehnjähriger unangefochtener Exiſtenz nunmehr mit einem Schlage abgethan. In Frankreich lebte er nunmehr erſt auf; man hatte erſt jetzt dort nähere Kunde von dem ſetzen, und war entzückt von den netten Ideen deſſelben. Da ſchrieb mein geehrter Freund, — 322 Prof. J. Delboeuf in Brüſſel, in die Revue | scientifique vom 23. März 1878 einen Artikel über Daltonismus, in welchem er ſagte: „Je lis dans le »Kosmos« (Juin 1877 p. 265 et suiv.) un excellent article du Dr. E. Krause sur cette méme question. Il deduit les raisons psychologiques, | linguistiques et speculatives, qui doi- vent rejeter la theorie de Geiger et Magnus ete.“ zoſen ebenfalls mißtrauiſch, und in der Sitz— ung der Pariſer anthropologiſchen Geſellſchaft vom 1. Mai 1879 hielt M. Geoffroy einen langen Vortrag, in welchem er be— weiſt: „Au temps d’Homere n’etait pas le sens des couleurs, qui faisait defaut, mais une suffisante puissance d’observation et d’expression.“ Ich weiß nicht, ob Herr Geoffroy dieſe Entdeck— ung als die ſeinige ausgegeben hat und ob er der Sache ſo viel Wichtigkeit beilegt, wie der Berichterſtatter der Revue inter- nationale des Sciences, welcher feinen Bericht über dieſen Vortrag im Maihefte 1879 mit den Worten ſchließt: „Nous devons dire, que le mémoire de M. Geoffroy est d’autant plus interessant et utile, qu'on a fait r&cemment autour des theories de M. Magnus un bruit tout à fait hors de propos.“ Viel ſchlimmer als in Frankreich bin ich in England gefahren. Da hatte Mr. Gladſtone mit einer neuen Broſchüre die Verwirrung vermehrt, und die eng— liſchen Zeitſchriften waren noch im vorigen Jahre faſt allgemein auf Seiten von Magnus und Gladſtone. Darauf erſchien plötzlich in der ausgezeichneten eng— liſchen Zeitſchrift Nature, welche eben eine Reihe von Artikeln im Sinne Gladſtone's gebracht hatte, in der Nr. vom 14. Novem- ber 1878 eine kurze Notiz von Mr. Grant \ £ Literatur und Kritik. Nun wurden die Franz Allen, deren Eingang wie folgt lautet: „With reference to Dr. Pole's valuable papers on Homer's colour-blindness, it may interest your readers to learn, that I have now nearly completed a work on the Origin and Development of the Colour Sense, which will be shortly published by Messrs Trübner and Co. In it I have endeavoured to show (inter alia) that te use of colour-termes in the Homerie poems is strietly ana- logous to that of other races, existing or extinet, at the corresponding stage of eulture; and that both depend, not upon diehromie vision, but upon a de- fect of language, elosely connected with the small numbers of dyes or artificial pigments known to the various tribes. To establish this result I have sent a number of circular letters to missiona- ries, Government officials, and other persons having relations with native uneivilised races in all parts of the world; and their answers to my queries, framed so as to distinguish carefully between perception and language, in every case bear out the theory, which I had formed...“ In einer folgenden Nummer derſelben Zeitſchrift (vom 12. December 1878) machte ich Herrn Grant Allen und die Leſer jener Zeitſchrift im Allgemeinen darauf aufmerkſam, daß ich dieſelbe Theorie, bis in die Einzelheiten hinein, anderthalb Jahre früher aufgeſtellt und ausführlich begründet habe, ſo daß Herr Grant Allen nichts zu thun brauchte, als meinen ausdrücklich ofrmulirten Vorſchlag auszuführen, was ihm um ſo näher lag und um ſo weniger Mühe koſtete, als ſein in Amerika lebender Vater die Feſtſtellung und Vertheilung der Fragebogen für Amerika übernahm. Außer— Literatur und Kritik. dem iſt Herr Grant Allen noch direkt von Herrn Gladſtone auf meine Artikel aufmerkſam gemacht worden und zwar zu einer Zeit, als der Druck ſeines Buches erſt begann. Gewiß kann es Jemanden nur freuen, wenn er erfährt, daß ein Anderer, ſei es auch ſchon ein paar Jahre früher, auf dieſelben Reſultate gekommen iſt; er pflegt deſſen bei der Veröffentlichung ſeiner Arbeit freundlich zu gedenken und letzterer hat dann alle Urſache, ſich mit zu freuen, daß ein Anderer ſeine auf rein theoretiſchem Wege gewonnenen Schlüſſe durchweg beſtä— tigen konnte. Das kommt alle Tage vor und beide Theile ſind damit zufriedengeſtellt. Aber mit Herrn Grant Allen und mir ſollte ſich die Sache ganz anders ent— wickeln. nach meiner Reclamation erſchienenen Werke bedankt er ſich zwar an mehreren Stellen dafür, daß der ehemalige engliſche Premier— miniſter ihn auf meine Arbeiten im „Kos— mos“ aufmerkſam gemacht habe; er citirt dieſelben ſogar (S. 82), ſagt aber nicht ein Sterbenswörtchen davon, daß dieſer deutſche Autor dieſelben Schlüſſe wie er ſelbſt, zwei Jahre vorher gezogen habe, und daß ſein eigenes 282 Seiten langes Buch thatſäch— lich nur eine weitere Ausführung meiner damaligen Aufſtellungen ſei. Kein einziger weſentlicher Gedanke iſt neu dazu ge— kommen, keiner widerlegt worden. Trotzdem iſt der einzige Satz des Buches, der auf den Inhalt meiner Arbeit anſpielt, der folgende: „Indeed, although the allegations of Dr. Magnus and his friends have not gone entirely unanswered, yet it would seem as though the scientific world generally, in Germany at least, was prepared to accept them as represen- ting the approximate truth.“ Alſo in Deutſchland wäre man, abgeſehen von einigen In ſeinem drei bis vier Monate 323 unbedeutenden Einwendungen, bereit geweſen, die Magnus'ſche Theorie allgemein anzu— nehmen! Kann man ſich eine größere Ent— ſtellung der Sachlage denken, als ſie in dieſen Worten verſucht worden iſt? Es mag hier daran erinnert werden, daß ein ähnliches Verfahren in Deutſchland ebenſo unmöglich als undenkbar geweſen ſein würde. Wir ſind in wiſſenſchaftlichen Arbeiten nicht blos gewöhnt, unſere Vor— gänger, ſo weit ſie uns irgend bekannt werden, zu nennen, ſondern ſogar bloße hingeworfene Ideen und Vermuthungen der— ſelben Richtung ans Licht zu ziehen. Auch wäre in Deutſchland ein dem Allen'ſchen entſprechendes Verfahren ausſichts los, da wir die ausländiſchen Journale verfol— gen; in England kann ein ſolcher Verſuch eher gemacht werden, da man ſich dort um die wiſſenſchaftlichen Leiſtungen des Continents wenig kümmert. Erſt dieſer Umſtand ſetzt das Al len'ſche Verfahren in das rechte Licht; er durfte nämlich in Folge deſſen hoffen, meine Prioritäts-Anſprüche mit Erfolg todtzuſchweigen. Da nun, wie geſagt, von mehreren Seiten Sorge getragen worden iſt, Herrn Allen von dem Inhalt meiner Artikel lange vor der Fertigſtellung ſeines Buches zu unterrichten, und zwar in einer Weiſe, daß er ſich auch nicht mit Unkenntniß der deutſchen Sprache entſchuldigen kann, — denn ich ſelbſt habe ihm den weſentlichen Inhalt in engliſcher Sprache mitgetheilt — ſo leitet dieſes nunmehr als Plan und Abſicht erſcheinende Verſchweigen mit Noth— wendigkeit zu dem Schluſſe, daß Herr Allen Urſachen zu einer ſolchen Hand— lungsweiſe hatte, daß er nämlich wahr— ſcheinlich von Anfang an die geiſtige Arbeit eines Deutſchen adoptirt hat, um ſie für die ſeinige auszugeben. Denn es liegt in der 324 That keine andere Erklärungsmöglichkeit für ſeine unqualificirbare Handlungsweiſe vor. Hätte er mich als einen „ohne Beruf“ vor— her zu denſelben Ideen gelangten Theilhaber ſeiner „ruhmreichen Entdeckung“ den Leſern vorgeſtellt, ſo mußte ich zufrieden ſein, aber Herr Allen will offenbar von ſeinen Lands— leuten als der Erſte und Einzige angeſehen land allgemein verehrten, nun auch Frank— reich und England bedrohenden Götzen ver— nichtet hat. Er wird auch ohne Zweifel dieſen Zweck erreichen, denn nach zehn Jahren wird man, wenn dann überhaupt noch Jemand dieſer Theorie gedenken ſollte, es ſeine ſämmtlichen Aufſtellungen nur auf dem Adoptivwege erlangt zu haben ſcheint. Man könnte ſagen, Herr Allen habe ſich, wie ſo mancher Adoptivvater, höhere Verdienſte um dieſe Ideen erworben, als der rechte Vater, allein mein durch jahre— langes Studium gewonnener Gedankengang war ſo vollkommen ſchlagend und abge— ſchloſſen, daß er von vornherein allgemein überzeugend wirkte und Herr Allen hat ihn in der That nirgends zu ergänzen ver— mocht, außer daß er erläuternde Beiſpiele und Ausführungen hinzufügte. Ich bin der Erſte geweſen, dieſes Verdienſt anzuerkennen (Kosmos Bd. IV. S. 494), aber daſſelbe ver- mindert meinen Urheber-Titel und mein Prioritäts-Recht an dieſen Nachweis nicht. Zu dieſer Reclamation veranlaßt mich noch ein allgemeineres Intereſſe. Die Schwierigkeiten, welche der Geſchichtsſchreiber irgend einer Disciplin zu überwinden hat, wenn er den rechten Vater irgend welcher Ideen auszumitteln ſucht, werden dadurch lebhaft illuſtrirt. Haben doch ſogar zwei meiner gelehrten Freunde, die das Allen'ſche Buch ſoeben ausführlich beſprochen haben, Literatur und Kritik. werden, der dieſen berühmten, in Deutſch⸗ nur das Allen'ſche Buch citiren, obwohl 8 . Herr Prof. Delboeuf (Revue seienti- fique Nr. 47, 1879, p. 1102) und Herr Dr. H. Müller, nicht mehr für nöthig gehalten, den ihnen wohlbekannten rechten Vater der Al len'ſchen Adoptiv- kinder gegen ſolchen frechen Raub in Schutz zu nehmen! Ich ſelber, nachdem ich hiermit meiner Vaterpflicht genügt, darf wohl ſagen, daß ich meine Widerlegung Geigers nie für eine große Geiſtesthat angeſehen und erſt in Folge der verſchiedenen Enteignungs— verſuche derſelben etwas mehr Intereſſe zu— gewandt habe. Ich beſchloß meine Polemik im Kosmos (Bd. I. S. 431) mit den einfachen Worten: „Es könnte vielleicht ſcheinen, als ob die Geiger 'ſche Theorie in einem ſo grellen Gegenſatze zu den Er— gebniſſen der Archäologie ſtehe, daß eine ſo ausführliche Widerlegung, wie ich ſie im Vorſtehenden und früher verſucht habe, eigentlich überflüſſig ſei. Allein fo bes rufenen Forſchern gegenüber, wie Glad— ſtone, Geiger und Magnus, erſchien mir eine ſorgfältig eingehende Kritik Pflicht und Alles in Allem genommen haben wir dabei nichts verloren, ſondern ſind vielmehr zu einer ſehr anziehenden Seite der Sprach— entwickelung geführt worden, die wohl einer genaueren Prüfung durch einen Fachmann würdig erſcheint.“ Nichteinmal dieſes Schluß— wort hat mir Herr Grant Allen laſſen wollen, ſondern es in einer zwar freien, aber getreuen Ueberſetzung als Schlußwort ſeines „berühmten Originalwerkes“ benutzt! Um Herrn Allen für die von ihm mit Meiſterſchaft geübte Expropriations⸗ Methode auch gleich Material zur Antwort auf dieſen Artikel in die Hand zu ſpielen, werde ich meine leider viel zu lang gewor— dene Nachſchrift mit den Worten ſchließen: Tant de bruit pour une omelette! Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig. 1 Entftehungsgeſchichte der Naturverachtung. | Von Prof. Dr. Fritz Schultze. der Naturverachtung. | II. Die Gründung des Chriſtenthums und der Höhepunkt | | kepticismus, Epikureismus und Stoicismus find die Pioniere, welche der Platonismus vor- Verhältniſſe am Ende des klaſſiſchen Alter— thums. Nach allen Richtungen hin hat das ausſendet, damit ſie ihm den römiſche Weltreich ſeine ungeheuren Arme Boden bereiten, auf welchem ausgebreitet; faſt die ſämmtlichen ihm be— er feine religiös-myſtiſchen Lehren zur Blüthe kannten Völker der Erde hat es feinem bringen kann, aus denen zum größten | Scepter unterworfen. Der gegenſeitige Ver— Theil die Dogmatik des Chriſtenthums kehr der Völker in dieſem großen Reiche herauswächſt. Schon haben jene Pioniere iſt der lebhafteſte. Nicht blos erſtrecken ſich das Bedürfniß nach natürlicher Cauſal- die militäriſchen Bewegungen von Rom aus erkenntniß und das Vermögen dazu wacker nach allen Richtungen, vor allem knüpft erſtickt. Der körperlich und geiſtig entnervte auch der Handel die fernſten Theile der Menſch erträgt nicht mehr die geſunde Koſt [Monarchie an einander. Mehr und mehr klarer natürlicher Einſicht — allein das werden die Völker verſchmolzen; ſie tauſchen unglaublich Paradoxe, das unausſprechlich nicht blos ihre Waaren, ſie tauſchen auch Geheimnißvolle übt auf ihn noch einen ſti- ihre Gedanken gegenſeitig aus. Es iſt die mulirenden Anreiz aus. Credo quia ab- Zeit, wo Märchen erfunden werden, nach | surdum, jagt Tertullian ganz zutref> | denen ein Pythagoras feine Weisheit fend. Und dieſer pathologiſche Zuſtand der auf großen, von Spanien bis nach Indien Zeit wird nun durch zwei Faktoren noch ſich erſtreckenden Reiſen bei fremden Völkern beſonders verſchlimmert, einmal durch die geſammelt haben ſoll; wo ein Numenius Berührung des Occidents mit dem Orient, von Apamea die griechiſche Philoſophie auf andererſeits durch den Verfall aller ſocialen die Weisheit der Orientalen ers Kosmos, III. Jahrg. Heft 5. 43 N 326 und Platon den „attiſch redenden Moſes“ nennt; wo der Philoſoph Plo— tin an dem Feldzug des Kaiſers Gordian gegen die Perſer theilnimmt, nur um die perſiſche Philoſophie kennen zu lernen. So wandern griechiſche Gedanken in den Orient, und orientaliſche Ideen, die religiöſen Lehren der Perſer und Chaldäer, der Juden und Aegypter in Griechenland und Rom ein, wo ſie freudig aufgenommen und bald mit den ſchon die geſammte geiſtige Welt be— wegenden griechiſchen Anſchauungen verſchmol— zen werden. In den morgenländiſchen Re— ligionen herrſcht längſt die transcendent— dualiſtiſche Vorſtellung der Gottheit. Dieſe orientaliſchen Ideen ſtoßen alſo zumal auf die platoniſchen Lehren wie auf Verwandte, und verſtärken und vergrößern noch das Gelüſt für das geheimnißvoll Uebernatür— liche. Was Skepticismus, Epikureismus und Stoicismus an geſunden Anſchauungen noch übrig gelaſſen haben, der Orientalis— mus zerſetzt es. Alledem kommt der Verfall der ſocialen Verhältniſſe mit offenen Armen entgegen. Von der ſtaatlichen und geſellſchaftlichen Kraft des alten Griechen- und Römer— thums iſt keine Rede mehr. Reichthum und Luxus haben die Einfachheit der an— tiken Sitten untergraben. Cicero iſt wohl der letzte, der, ohne verhöhnt zu werden, noch öffentlich und ernſtgemeint von Tugend reden kann. Die frühere Unterordnung des Individuums unter den objektiven Zweck und Nutzen der Geſammtheit hat längſt dem Einzelintereſſe und den perſönlichen Leidenſchaften weichen müſſen. Eine durch und durch hohle und zerfreſſene Welt liegt um die Zeit von Chriſti Geburt vor uns. Die Barbaren allein ſind noch „beſſere Menſchen“, die der große römiſche Geſchichtsſchreiber ſeinen Landsleuten als Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. Muſter vorhält. Die wenigen edlen Geiſter, die noch exiſtiren, wenden ſich mit Zorn und Entrüſtung von dieſen Zuſtänden ab; die ſchlechten dagegen wälzen ſich in Ueppig— keit und Schlemmerei ſo lange, bis ſie, körperlich wie geiſtig zu Grunde gerichtet, ebenfalls das ekle Mahl der Weltluſt fliehen, an dem fie ſich übergeſſen haben. So ent- ſteht ringsum Unbefriedigung und Ueber— druß. Weltekel und Weltſchmerz wird die herrſchende Stimmung der Zeit. Die Welt hat kein poſitives Intereſſe mehr für die Menſchheit. Erlöſt zu werden von der Welt zu einem beſſeren Da⸗ ſein — das Bedürfniß iſt in allen Seelen lebendig geworden. Stets gehen Weltflucht und Erlöſungsbedürfniß Hand in Hand mit einander. Kann es uns noch Wun— der nehmen, daß jetzt eine Philoſophie von aller Welt als Retterin begrüßt wird, die in allen Theilen den Bedürfniſſen der Zeit ſo genau Rechnung trägt, als habe ihr Stifter fie in prophetiſcher Vorſchau der Zukunft für dieſe erſonnen? Dieſe Philoſophie iſt die platoniſche. Gilt ihr nicht das Leben als ein Jammerthal, die Welt als ein Nichtiges, als ein zu Ueberwindendes, zu Verlaſſendes? Sieht ſie nicht die wahre Heimath des Menſchen im Jenſeits, deſſen himmliſche Ideen das echte Strebeziel des Menſchen ſind? Predigt ſie nicht dem Menſchen, daß er ſich über das Materielle erheben, daß er ſeine un— ſterbliche Seele vom Körperlichen losreißen müſſe, da dieſes das Grab der Seele ſei? Wir begreifen es: gerade auf den Trümmern der antiken Welt mußte der Platonismus den Sieg über dieſe längſt von ſich ſelbſt beſiegte Welt mit Leichtigkeit davon tragen. Werfen wir hier einen prüfenden Blick rückwärts auf die geiſtige Entwickelung, welche wir von Thales an bis hierher verfolgt haben, — welche völlige Umwälz— ung hat das Denken nach Inhalt und Form, in ſeinen Problemen und in ſeiner Methode erlitten! Zuerſt treffen wir in der grie— Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. chiſchen Philoſophie eine ganz objektiviſtiſche Frage: Was iſt die Natur? Aber indem die Sophiſten und Sokrates die menſch— liche Erkenntniß zum Gegenſtand ihrer Un— terſuchungen machten, lenkten ſie bereits vom Objektiven ab auf das Subjektive hin und in die Bahn ein, die zu den Gipfelpunkten des Platonismus und Ariſtotelismus führte. Indeß die ſchwierigen, erkenntnißtheoretiſchen Unterſuchungen ragen mit ihren weit über die Schranken des Einzelmenſchen hinaus— reichenden Perſpektiven immer noch viel zu ſehr in das Objektive hinein, als daß ſie Den intereſſiren könnten, der in hypochon— driſcher Aengſtlichkeit nur noch an ſein kleines Ich denkt. Was geht ihn die Natur und die Erkenntniß an! Wie kann Ich glück— lich leben? Das wird nun die große Frage der kleinen Zeit. Aber Natur, Er- kenntniß, mein Ich vermögen nicht, mich glücklich zu machen; im Gegentheil, ſie erweiſen ſich als Hemmniſſe meines Glücks. Mithin — wie komme ich los von allem Weltlichen, hin zum Gött— lichen? Die Erlöſungsfrage wird das letzte Facit, mit dem die alte Rechnung ab— geſchloſſen und eine neue begonnen wird. In dem Entwidelungsgang dieſer vier nach einander auftretenden Probleme geht alſo das Denken von dem Objektivismus der Naturerkenntniß zum Subjektivismus der Erkenntniß des menſchlichen Geiſtes über. Innerhalb dieſes Subjektivis— mus wird darauf das theoretiſche In— tereſſe des Erkennens verdrängt durch das praktiſche Intereſſe des menſchlichen Be— gehrens; der Subjektivismus, der die Er kenntniß befriedigen will, verengt ſich zum die Welt ein Nichts wird, in der er nichts 327 Egoismus, der nur noch die Begierde ſtillen will und deshalb alles von ſeiner Intereſſenſphäre ausſchließt, was nicht un— mittelbar den Werth des Genußmittels für das begehrende Selbſt hat. Dieſer excluſive Egoismus kommt bald ſo weit, daß er nicht blos nichts mehr erkennen, ſondern auch nichts mehr begehren will, daß ihm vermag und nichts mag, d. h. er wird bald zum theoretiſchen wie praktiſchen Nihilis— mus. Aus der Verzweiflung der nihiliſti— ſchen Troſtloſigkeit der ungeſtillten Begierde wächſt aber nothwendig das Bedürfniß des geängſtigten Gemüthes nach Erlöſung her— vor, welches nach dem Myſticismus und der Religion greift und in ihm feine Nahr- ung und ſeinen Troſt zu finden hofft. Das pſychologiſch nothwendige Geſetz über die Entwickelung des menſchlichen dogmati— ſchen Denkens (im Gegenſatz zu dem dar— über ſtehenden kritiſchen) durch die auf und aus einander folgenden Stufen des Dogmatismus, Skepticismus, Nihilismus und Myſticismus hindurch bewahrheitet ſich alſo auch hier in der Geſchichte im Großen wie bei dem einzelnen Individuum im Kleinen. Wir müſſen jetzt kurz die drei Haupt— formen kennen lernen, in denen geſchichtlich die ſich nun ausbreitende helleniſch-orien— taliſche, theoſophiſch-myſtiſche, reli— giöſe Philoſophie auftritt. Als erſte iſt die jüdiſch-griechiſche, oder, da ſie beſonders in Alexandrien, der zweiten Hauptſtadt der damaligen Welt nach Rom, ihren Sitz hat, die alexandriniſch— jüdiſche Religionsphiloſophie zu nen— nen. Ihre Tendenz geht dahin, die Lehren des alten Teſtaments mit den griechiſchen und beſonders platoniſchen Philoſophemen in Verbindung zu ſetzen. Nicht nur, daß die jüdiſchen Gelehrten dieſer Richtung 328 Moſes als den eigentlichen Gründer der Ideenlehre bezeichnen, ſie fälſchen auch die Werke griechiſcher Dichter, wie Homer's, Heſiod's u. ſ. w. durch Einſchiebung von Stellen, die im jüdiſchen Geiſte gehalten ſind, um zu beweiſen, daß, wie die Philo— ſophen, ſo auch die griechiſchen Dichter ihre Weisheit aus einer uralten Ueberſetzung der fünf Bücher Moſis geſchöpft hätten. Als zweite Form finden wir den Neupythagoreismus vor, in welchem der Platonismus in pythagoreiſirender Weiſe umgebildet und dem Pythagoras, der ſeine Weisheit aus dem Orient überkommen haben ſoll, der Vorzug ſelbſt vor Platon eingeräumt wird. Dieſe Verbindung konnte deshalb um ſo leichter vollzogen werden, als die platoniſche „Idee“ nichts anderes als die in eleatiſcher Weiſe umgebildete „Form“ des Pythagoras war, wie wir früher gezeigt haben. Auch dieſe Richtung erzeugt in majorem gloriam ihrer Tendenz zahlreiche gefälſchte, für altpythagoreiſch von ihr ausgegebene Schriften. Als dritte Hauptform ſtellt ſich uns der ſpeciell Neuplatonis mus genannte Standpunkt dar, der unter dieſen drei theo— ſophiſchen Richtungen die meiſte Verbreit⸗ ung und in drei großen Schulen ſeine Ausbildung findet. Die erſte dieſer Schulen iſt die römiſch-alexandriniſche, ihre Hauptſitze Rom und Alexandria, ihr Grün— der Ammonius, ihr Hauptvertreter Plo— tin. Die zweite iſt die ſyriſche Schule, deren Stifter Jamblichos aus Chalcis in Coeleſyrien ftammt, ſich drittens die atheniſche Schule, deren Sitz Athen iſt und deren Höhepunkt durch | Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. | ſophie überhaupt dar. Er bildet die letzte heidniſch-helleniſche Oppoſition gegen das jugendliche Chriſtenthum, das zwar den Gegner im Kampfe beſiegt, aber, wie ſo oft der Sieger vom Beſiegten, viele ſeiner Eigenthümlichkeiten in ſich aufnimmt. In ſeiner Ausdehnung über Syrien, Alexan— drien, Rom und Athen zeigt uns gerade der Neuplatonismus recht deutlich, wie weit der Amalgamationsproceß der verſchieden— An dieſe ſchließt Proklos, den „Scholaſtiker unter den griechiſchen Philoſophen“, bezeichnet wird. Der Neuplatonismus ſtellt die letzte Phaſe der untergehenden griechiſchen Philo— — — ſten Gedankenkreiſe in dieſer Zeit geht. Wie das römiſche Weltreich aus der Syntheſe der verſchiedenſten Völker, ſo wird aus der Syntheſe dieſer verſchiedenſten Gedanken— kreiſe die chriſtliche Dogmenlehre hervorgehen. Wenn nun die drei Hauptformen des orientaliſirenden Platonismus auch im Ein— zelnen von einander abweichen, ſo iſt ihrem Geſichte doch gleichmäßig die Familienähn— lichkeit der gemeinſamen Abſtammung auf— geprägt. Vor allen Dingen herrſcht in ſämmtlichen Syſtemen dieſer Gattung der ſchroffſte Dualismus zwiſchen Gott und Welt. In abſolut unendlicher Weltferne die immaterielle Gottheit, ihr ganz entgegen— geſetzt die materielle Welt, zwiſchen beiden als vermittelndes Glied die Ideenwelt. Die Gottheit iſt durchaus unbegreifbar und un— ausſprechlich, namen- und eigenſchaftslos, unperſönlich, ohne Willen und Verſtand, denn ſie iſt als abſolut transcendent jen— ſeits alles Weltlichen, alſo auch alles Menſchlichen, darf alſo nicht nach irgend einer weltlichen oder menſchlichen Analogie gedacht werden. Perſönlichkeit, Verſtand und Wille ſind menſchliche Eigen— ſchaften; es hieße alſo die unbegreifliche Gottheit erniedrigen, wollte man dieſelben auf ſie übertragen. Die Ideenwelt wird von den Neuplatonikern in einer beſonderen, von der platoniſchen verſchiedenen Weiſe aufgefaßt. Wenn bei Platon die ganze Ideenwelt gleichſam unbeweglich ſtarr, von Ewigkeit her nur war, aber nie gewor— den war, ſo faſſen dagegen die Neuplato— niker die Ideenwelt auf als ein, wenn auch von Ewigkeit her, aus der Gottheit Heraus— gebornes oder als ein aus ihr wie aus einem gewaltigen Quell Herausgeſtrömtes und fortgeſetzt gleich dem übrigen Univer— ſum aus ihr Herausſtrömendes. Alles iſt aus der Gottheit herausgefloſſen wie aus einem unvergleichlich erhabenen Gefäße, aus dem fortwährend nach allen Seiten der Inhalt überſprudelt, ohne daß es jemals ſich erſchöpfte. Das Göttliche, welches aus dem Gefäße quillt, iſt um ſo göttlicher, je Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. 329 griffliche Abſtraktionen, ſondern als lebendige Einzelgötter aufgefaßt werden, wie es be— reits Platon im Timäus gethan hatte. Aus dem unbegreiflich höchſten Göttlichen ſind die oberſten Ideengötter, aus dieſen näher es dem Gefäße iſt; je mehr es aber | ſich in die unendliche Weltferne hinausver— liert, um fo mehr verliert es von feiner göttlichen Beſchaffenheit, bis endlich gleich— ſam an den Grenzen dieſes Inundations— bezirkes das Göttliche nur noch in geringem Materielle verwandelt hat. Dieſe Syſteme ſind alſo Emanationsſyſteme, mit welchem Namen demnach die Form der Weltauffaſſung bezeichnet wird, in welcher die Entwickelung nicht von dem Niederen aufſteigt zum Höheren, ſondern umgekehrt von dem Höchſten herabſteigt zum Gering ſten. Dieſe Emanationsſyſteme ſind alſo trotz ihrer Behauptung der dualiſtiſchen Transcendenz Gottes doch ſchon Annäher— ungen an pantheiſtiſche Vorſtellungsweiſen, denn im letzten Grunde ſtammt doch hier die Welt aus der Gottheit und iſt alſo ſelbſt göttlicher Subſtanz. Wie freilich das Materielle aus dem Immateriellen heraus- ſtrömen könne, bleibt wiederum tiefſinnig ewiges Geheimniß. Eine weitere wichtige Beſtimmung in den meiſten dieſer Syſteme iſt die, daß die einzelnen „Ideen“ nicht als bloße be— niedrigere herausgeboren, und ſo fort bis zu den unterſten Dämonengeiſtern, die im nächſten und unmittelbarſten Zuſammenhang mit dem Menſchen und mit der Materie ſtehen und gewiſſermaßen die Rolle der perſiſch-jüdiſchen „Engel“ ſpielen. Indem ſo dieſe Theoſophie die abſtrakten Ideen unter die Form der Perſonification bringt, iſt ſie im Stande, ſich das Anſehen einer alle einzelnen Volksreligionen in ſich ver— einigenden univerſaliſtiſchen Welt— religion zu geben. Ihre Ideenwelt wird zu einem Pantheon, in welchem z. B. bei Jamblichos alle Götter aller Völker, jeder einzelne als Perſonification einer Idee aufgefaßt, Sitz und Stimme finden. Maße vorhanden iſt, d. h. ſich in das So nimmt dieſer emanatiſtiſche Pantheismus den geſammten Polytheismus und ſeinen Kultus in ſich auf und ſucht dieſen gewiſſer— maßen zu begründen und wiſſenſchaftlich zu rechtfertigen. Das iſt hochwichtig für das Folgende. Denn dieſe ſämmtlichen aus der oberſten Gottheit herausgeborenen Götter ſind, nach der Analogie menſchlicher Verwandtſchaft gedacht, die Söhne Gottes und als ſolche die Vermittler zwiſchen der trans— cendenten Gottheit und der diesſeitigen Welt. Den Inbegriff aller dieſer Ideengötter oder Gottesſöhne aber bildet ja die geſammte einheitliche Ideenwelt. Als Inbegriff aller Ideen, als Einheit aller denkenden und handelnden ſchöpferiſchen Thätigkeit, ſomit als die allgemeine, weltbildende, göttliche Vernunft und Alles bewegende, göttliche Kraft wird die Ideenwelt der Logos (460g) genannt. Die Stoiker waren es geweſen, USER 330 welche, nach dem Vorgange bereits des Heraklit, den Namen in dieſer Bedeut— ung in ihrem 467% e , oder Aoyos gte ανν˖n qs, — der durch die ganze Welt verbreiteten göttlichen, ſchaffenden, vernünf— tigen Kraft, dem Urſprung aller Natur: kräfte und Geiſtesthätigkeiten, — ſchon vorher gebraucht und dieſen ihren Logos auch ſchon mit der platoniſchen Ideenlehre in Verbind— ung geſetzt hatten. Aus der ſtoiſchen Lehre heraus geht der Name des Logos über in dieſe theoſophiſchen Syſteme, von denen aus er, ein Haupt- und Grundbegriff, dann neue Verſchmelzungen mit ähnlichen orien— taliſchen, beſonders jüdiſchen, Vor— ſtellungen eingeht. Wie die einzelnen Ideen, ſo wird nun auch ihr Inbegriff, der Logos, perſonificirt gedacht, und ſo iſt denn der Logos in dieſer ſeiner Perſonification die aus dem höchſten Göttlichen unmittelbar herausgeborene und ihm alſo am nächſten ſtehende, ſelbſt göttliche Perſönlichkeit, welche als unmittelbarſter „Sohn Gottes“ die Rolle des Mittlers zwiſchen ſeinem transcendenten Vater und der diesſeitigen Welt des Menſchen ſpielt, und zwar in doppelter Weiſe: als der, durch welchen Gott die Welt ſchafft und erhält, und als der, welcher ſich der Menſchheit er— barmt. So können denn auch dieſe Sy— ſteme von einer göttlichen Trinität reden, die eine gewiſſe, allerdings mehr formelle, als genau inhaltliche Verwandtſchaft mit der chriſtlichen Dreieinigkeitslehre zeigt, wenn z. B. Numenius unter dem „Vater“ (Pappas) den höchſten Gott, unter dem „Sohne“ (Ekgonos) den vermittelnden De— miurg, und unter dem „Enkel“ (Apogonos) die Welt verſteht. Der Menſch iſt an das Materielle gebunden, die ganz transcendente Gottheit kann alſo, ganz erhaben über das Materielle, nicht zu ihm kommen. Wenn Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. alſo die menſchliche Seele doch die Sehn— ſucht hat, zur Gottheit zu gelangen, ſo muß der Logos als der vermittelnde Gottesſohn ſich ihrer erbarmen; er muß ſich herablaſſen zum Irdiſchen — und er kann es wegen ſeiner mittleren Stellung —, die Menſchen— ſeele ergreifen und ſie zum ſeligen Schauen der Gottheit hinaufführen. Wir ſehen ſchon hier deutlich, wie aus der platoniſchen Ideenlehre einer der wichtigſten Grund— begriffe der chriſtlichen Dogmatik, der Be— griff Jeſu Chriſti als weltſchaffender und welterlöſender Logos, herauswächſt. Schon im Leben des Leibes kann die Seele zur Schau des Göttlichen kommen, wenn ſie ſich ſittlich- religiös läutert und vorbereitet. Freilich dürfen vor Allem da— bei jene Vorbereitungen phyſiologiſcher Art nicht fehlen, die der Geſammtname der Askeſe in ſich begreift. Die Kaſteiungen des Leibes, das Faſten und Geißeln, be— wirken die nothwendige nervöſe Abſpann— ung, die unentbehrliche Vorbedingung des hallucinatoriſchen und viſionären Zuſtandes der Ekſtaſe, in welchem die frei gewor— dene Seele im Genuß des Verſinkens in das Ueberſinnliche ſchwelgt. Die abſichtliche, künſtliche Erzeugung von hallucinatoriſchen und viſionären Zuſtänden gehört jetzt ge— wiſſermaßen zur Inbrunſt des Gottesdienſtes und iſt deshalb in dieſer Zeit an der Tages— ordnung. Das Wunder iſt jetzt das All— täglich-Natürliche, worüber ſelbſtverſtändlich das Natürlichſte zum Wunder wird. In der neuplatoniſch-orientaliſchen Logos— Idee treffen wir indeſſen bei genauerer Unterſuchung auf einen Widerſpruch, den dieſe Theoſophie nicht zu löſen vermag, deſſen Löſung aber das Chriſtenthum iſt. Die Ideenwelt oder der Logos iſt als unmittel— barſter Ausfluß Gottes ganz göttlich, und alſo ganz immateriell. Der Menſch it materiell. Wie iſt es möglich, daß der abſolut immaterielle Logos mit dem materiellen Menſchen in Verbind— trete und ſich ſeiner erbarme? Der Wider— ſpruch iſt klar. deutlich, daß der Logos, wenn er den Menſchen wirklich erlöſen ſolle, zwar einer— ſeits ganz göttlich ſein müſſe, um mit Gott in Verbindung treten zu können, und an— dererſeits doch ganz menſchlich ſein müſſe, um den Menſchen zu Gott führen zu können; daß er zugleich göttlich und menſch— lich, der Sohn Gottes und des Menſchen Sohn ſein müſſe, kurz, um es mit einem Worte zu ſagen: daß der erlöſende Logos der Gottmenſch, der Isavdowrros, fein müſſe. Den Widerſpruch des Gottmenſchen zu bejahen fordert mit Gewalt das alle Verſtandesgeſetze überſpringende Gemüths— bedürfniß nach Erlöſung. Aber dieſer platoniſche Logosbegriff iſt ja nur göttlicher Natur, er hat nichts Materielles und Menſchliches in ſich — wie kann er alſo an das Menſchliche an— knüpfen? Da kommt aus dem Orienta— lismus heraus dem helleniſchen Logosbegriff ein anderer Gedankenlauf hülfreich entgegen. Auch das Judenthum erwartet ſchon ſeit langer Zeit den Erlöſer im Meſſias. Was der griechiſchen Logosidee mangelt, hat die jüdiſche Meſſiasidee. Der griechi— ſchen Logosidee fehlt das Menſchliche, der jüdiſchen Meſſiasidee fehlt das Göttliche, denn die Juden faſſen ihren Meſſias vor— zugsweiſe als den politiſchen Erretter von der irdiſchen Knechtſchaft auf, die das rö— miſche Joch ihnen auferlegt hat. Die un— mittelbare Vorarbeit zur Verſchmelz— ung der beiden Ideen übernimmt nun die deshalb ſo außerordentlich wichtig gewor— Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. 33 1 1 dene alexandriniſch-jüdiſche Reli— gionsphiloſophie. Wenn es auch zweifelhaft bleibt, ob ſchon in der Septuaginta, der griechi⸗ Der Geiſt der Zeit ringt mit ihm, und es wird dem Denkenden unter dem Hochdruck des Erlöſungsbedürfniſſes ſchen Ueberſetzung des alten Teſtaments, deren Beginn bis in das dritte Jahrh. vor Chriſtus zurückreicht, Spuren der Ein— wirkung des griechiſchen Geiſtes auf den jüdiſchen ſich zeigen, was ja allerdings als ſehr naheliegend angeſehen werden muß, ſo weiſt doch die jüdiſche Sekte der Therapeuten die deutlichſte Verwandtſchaft mit den Neu— pythagoreern auf; fo begegnet uns doch in dem um 160 v. Chr. lebenden Alexandriner Ariſtobulos, und ebenſo in dem pſeudo— ſalomoniſchen Buche der Weisheit, mit größter Klarheit die Verknüpfung jüdiſcher und griechiſcher Anſchauungen; bis endlich in dem bedeutungsvollſten Philoſophen dieſer Richtung, dem im 3. Decennium v. Chr. geborenen Juden Philo von Alexan— dria, uns das allſeitig durchgebildete theo— ſophiſche Syſtem entgegentritt, in welchem die Umarbeitung der jüdiſchen Meſſias— idee im Sinne der griechiſchen Logosidee vollkommen und mit klarſtem Bewußtſein vollzogen iſt. Zwiſchen dem abſolut transcendenten Gott und der Welt ſteht nach Philo als Mittelweſen der Logos, nicht zwar unge— worden wie Gott ſelbſt, aber auch nicht geworden wie die übrigen Dinge. Er iſt die bei Gott wohnende „Weisheit Gottes“ oder das „Wort Gottes“. Er iſt der „erſtgeborene und ein— geborene Sohn Gottes“, Ausdrücke, wie ſie ſchon Platon gebraucht hatte, in „Gott für uns“. Durch ihn, den In- begriff aller geſtaltenden Ideen, ſchafft Gott die Welt und offenbart ſich ihr. Darum iſt der Logos der Mittler zwi— ſchen Gott und Welt, der Meſſias, „der 332 Hoheprieſter, Fürbitter und Pas raklet“ des Menſchen bei Gott. Er iſt der „erſte der Engel“, der „zweite oder Untergott“. Die Einzelideen in der als Logos perſonificirten Geſammtideen— welt werden ſelbſt ebenfalls perſonificirt: | I fie ſind trotz ihrer Repräſentation der ab ſtrakten Begriffe doch unſterbliche, engel- artige Weſen, die Diener und Werkzeuge | des Logos. Diefe Lehren find nach Philo zwar auch den Griechen eigen, aber ur— ſprünglich von dieſen doch der jüdiſchen göttlichen Offenbarung entnommen. In Wahrheit gehen ſie aus einer Vermiſchung der platoniſchen Ideenlehre und der ſtoiſchen Doktrin von den in der Welt wirkenden göttlichen Vernunftkräften philoſophi— ſcherſeits, und der perſiſch-jüdiſchen Vor— ſtellung von den Engeln als Gottesboten und dem griechiſchen Glauben an Dämonen, als zwiſchen Göttern und Welt vermittelnde Weſen, religiöſerſeits hervor. Die Logosidee iſt alſo, wie Philo's Syſtem zeigt, in die jüdiſchen Vorſtellungen einge— drungen und hat die gröbere Meſſiasidee verfeinert und veredelt. Aber Philo kann ſich noch nicht entſchließen, den rein im— materiellen Logos-Meſſias auch in materiel— ler Weiſe verkörpert zu denken: Die Fleiſch— werdung des Logos, ſein Erſcheinen in menſchlicher Meſſiasgeſtalt auf Erden, wo— nach das Gemüthsbedürfniß der Erlöſung ſehnlichſt verlangt, iſt einem anderen vor— behalten. b Philo wird geboren zwiſchen 30 und 20 v. Chr., und Chriſtus beginnt zu lehren dreißig Jahre alt. Alſo mehrere Decennien hindurch vor dem Auftreten Chriſti als Lehrer ſind bereits dieſe Ideen in der jüdiſch— beginnt von dieſer Grundlage aus Jeſus von Nazareth ſeine Lehrthätigkeit, ganz er— griechiſchen Gedankenwelt verbreitet, und nun Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. ſchüttert vom Elend der Welt, ganz durch— drungen von der Wahrheit dieſer göttlichen Ideen, ganz überzeugt von ihrer erlöſenden Kraft. Immer tiefer verſenkt er ſich in dieſe Vorſtellungen, bis ſein Glaube an ſie dieſelben in ſich vollzogen und verkörpert fühlt, bis er ſelbſt in ſich den von Gott geſandten Logos-Meſſias ſieht, und er nun in dieſem Sinne ſich ſelbſt lehrt und lebt mit jener genialen Einfalt, deren intuitive Ueberzeugungskraft ſich durch die tragiſche Selbſtaufopferung im Dienſte der Idee groß— artig documentirt. Wenn die mit dem Elend der Welt ringende Menſchheit an ihn glaubt, wenn in ihr die Ueberzeugung unerſchütterlich feſt ſteht, er ſei der Gott und Menſch, der lange erwartete, der vor— her geweiſſagte, fo kann die pſycholo gi— ſche Wirkung eines abſoluten Ueberzeugt— ſeins nicht ausbleiben; das Gefühl der vollen Befriedigung darüber, daß nun die Rettung wirklich geſchehen ſei, die ſelige Beruhigung, daß nun das Heil erſchienen ſei und die Verzweiflung endige, wird über den Gläubigen kommen, und ſomit eine ſubjektive, ideelle Erlöſung ihm in der That zu Theil werden, die mit ihrer ganzen, enthuſiaſtiſch erhebenden und aus— dauernden Kraftfriſche tröſtend und ſtärkend ihm ſiegreich über alle Stürme des Lebens hinweg hilft. Der ſubjektive pſychologiſche Proceß iſt alſo klar und einfach, aber es dauert noch ſehr lange, ehe dieſer Proceß ſich in der geſammten heilsbedürftigen Menſch— heit vollzieht; ehe Jeſus wirklich allgemein als der erlöſende Logos gefaßt und aner— kannt wird. Schon unter den Apoſteln erheben ſich große Differenzen über das eigentliche Weſen des Erlöſers. Es ſind Petrus und Jaco— bus, die Chriſtus nur als Heiland der Juden begreifen und Jeden, der nicht durch r Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. die Beſchneidung hindurch gegangen, für erlöſungsunfähig erklären. Es bedarf erſt des vom helleniſtiſchen Geiſte nicht minder als vom jüdiſchen durchdrungenen Paulus, Jeſu engherzig begrenzenden Schranken nie— derzuwerfen und den Meſſias in ſeiner Be— deutung als Erlöſer nicht blos der Juden, ſondern überhaupt der Menſchheit zu er— weiſen. letzte Schritt noch gethan werden: nicht blos Erlöſer der Menſchheit, ſondern erlöſen— des Weltprincip überhaupt, Vermittler zwiſchen der Gottheit und der Welt, Me— dium der weltſchöpferiſchen Thätigkeit Gottes, Inbegriff aller Cauſalitäten im Sinne der platoniſchen Ideen, geſammte Ideenwelt, mit einem Worte: Logos — dieſe pla— toniſch-philoniſche Beſtimmung erſt giebt dem Erlöſer ſeinen nicht blos kosmopoliti— ſchen, ſondern univerſellen gottheitlich— kosmiſchen Charakter. Und dieſe Ver— ſchmelzung nun der Logosidee mit der Per— ſon Jeſu als des fleiſchgewordenen Logos bildet Ausgangspunkt, Kern und Inhalt des Evangeliums, das nach Johannes ge— nannt iſt. Der Anfang dieſes Evangeli— ums, den Luther, noch unkundig dieſes hiſtoriſchen Entwickelungsganges, überſetzt: „Im Anfang war das Wort u. ſ. w.,“ den wir jetzt aber im genaueren Verſtänd— niß überſetzen können, lautet: „Im Anfang war der Logos, und der Logos war bei Gott und Gott war der Logos. Dieſer war im Anfang bei Gott. Alles war durch ihn geworden, und ohne ihn war nichts, was geworden iſt. In ihm iſt Leben, und das Leben iſt das Licht des Menſchen. Und das Licht ſcheinet in die Finſterniß und die Finſterniß begriff es nicht. . . . Er war das wahrhaftige Licht, welches jeden Menſchen erleuchtet, der in Aber es muß endlich auch der 333 die Welt kommt. Er war in der Welt, und die Welt war durch ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht; ins Eigene | kam er, und die Eigenen nahmen ihn nicht um dieſe den kosmopolitiſchen Charakter auf. Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Vollmacht, Kinder Gottes zu werden, wenn ſie an ſeinen Namen glaubten, welche nicht aus Geblüt, noch aus Begierde des Fleiſches, noch aus Begierde eines Mannes, ſondern aus Gott geboren ſind.“ Das ſind die Gedanken Philo's, mit denen der Evangeliſt ſeinen Bericht einleitet; nun aber fügt er die neue, über Philo hinausgehende Verkündigung des nicht blos gewiſſermaßen nur theoretiſchen, ſondern praktiſch und real gewordenen Logos hinzu: „Und der Logos ward Fleiſch und wohnete unter uns, und wir ſchauten ſeine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des Eingeborenen vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.“ So iſt mithin dieſes Evangelium nach Johannes ſo ſehr durchdrungen von der platoniſch— philoniſchen Auffaſſung, daß ſogar die direkte Benutzung der Worte Philo's offen zu Tage zu liegen ſcheint. Der philoniſch— johanneiſche Logosbegriff wird nun maß— gebender Hauptbegriff für die geſammte Dogmenbildung in den erſten chriſtlichen Jahrhunderten — er wird Grundſtein für den Ausbau des geſammten katholiſchen Lehrgebäudes, ſo daß man mit Recht die altkirchliche Zeit bis in das 8. Jahrhundert hinein die Periode des Philonismus genannt hat. Die Kenntniß dieſes Ent— wickelungsganges, wie ihn die moderne Forſchung wieder blosgelegt hat, geht im Laufe der Zeit natürlich bald verloren. Urchriſtenthum wie Mittelalter haben ja auch gar kein Intereſſe daran, den natür— lichen Entſtehungsproceß der chriſtlichen Grundanſchauungen kennen zu lernen, die Kosmos, III. Jahrg. Heft 5. 334 in ihren Augen als übernatürliche Offenbarungen eine natürliche Ent— ſtehung ja einfach von vorn herein aus— ſchließen. Das unverſtandene „Wort“ im Johannes-Evangelium wird eine Quelle für myſtiſche Speculationen, die um ſo reichlicher fließt, je weniger ſie geſchichtlich richtig ge— faßt iſt. Aus der Vereinigung zweier Quellflüſſe, deren einer in Judäa, deren anderer in Hellas entſprungen iſt, hat ſich der Strom des Chriſtenthums zuſammengeſetzt. Der modernen Zeit war es vorbehalten, wie das Geheimniß der Quellen des Nils, ſo das Geheimniß der Quellen des Chriſten— thums zu entſchleiern. Wenn dadurch der Entſtehungsproceß des Chriſtenthums als ein geſchichtlich-matürlicher aufgehellt iſt, wenn dadurch das Dogma die zerſetzende Wirkung hiſtoriſcher Kritik hat erfahren müſſen, ſo iſt natürlich dem ethiſchen Werth der Lehren Jeſu, mit deſſen Unver— gleichbarkeit der Werth irgend eines Dog— mas gar nicht in Parallele zu ſetzen iſt, dadurch nicht im mindeſten Abbruch gethan, vielmehr bleibt es eine unerſchütterte Wahr heit, daß kein Syſtem der Ethik auch nur im geringſten je hinausgekommen iſt über die von höchſter, innigſter, edelſter Menſchen— liebe durchdrungenen Grundſätze, wie ſie etwa in der Bergpredigt niedergelegt ſind, ganz abgeſehen davon, daß der Urheber dieſer Grundſätze ſie nicht blos lehrte, ſon— dern ſie lebte. Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. iſt, weil in ihm und durch ihn die Natur- verachtung im Princip geradezu zum kirch— lichen Dogma erhoben wird. Es wäre bekanntlich eine falſche Mein— ung zu glauben, daß das, was nach der obengenannten Zeit als ſpecifiſch chriſtliche Lehre von der Kirche ausgegeben wird, be— reits in allen Stücken die Lehre Jeſu oder das Urchriſtenthum geweſen ſei. Vielmehr was die echt chriſtliche Lehre eigentlich ſei, darüber ſind die erſten Chriſten, die doch im guten Glauben zu ſein meinen, ſelbſt vielfach uneinig, darüber herrſcht gerade hin— ſichtlich der wichtigſten Züge vielfach die größte Diſſonanz. Zumal die erſten vier Jahrhunderte zeigen uns einen hoch auf— wallenden Gährungsproceß der verſchieden— ſten Anſichten, in welchem es nichts weniger als allgemein feſt ſteht, wie die Gottheit, die Perſon Chriſti, ſeine Erlöſereigenſchaft u. ſ. w. im Genaueren zu faſſen ſei, in welchem ſelbſt viele der Kirchenväter noch lange nicht die orthodoxe Lehre bekennen, welche erſt ſpäterhin durch theologiſche Spe— culation, durch praktiſches Bedürfniß und durch Concilienbeſchluß, als chriſtkatholiſche, allgemein gültige Lehre proclamirt wird. Sollen aber die „Chriſtian er“ eine ein— heitliche Kirche bilden, ſo muß dieſe Unklar— heit und Uneinigkeit ſelbſtverſtändlich auf— hören. Die einheitliche Kirche ſetzt einen einheitlichen Lehrbegriff voraus; mit Ge— walt muß ſie im Intereſſe ihrer Organi— ſation endlich darauf dringen, daß ein und Immer unter dem Geſichtspunkt der Entſtehung der Naturverachtung müſſen wir jetzt die hiſtoriſche Entwickelung des Chriſten— thums weiter verfolgen und zumal den Proceß der Dogmenbildung ins Auge faſſen, der ſich hauptſächlich im 4. und 5. Jahr- hundert vollzieht, und deſſen Kenntniß für unſeren Zweck deshalb durchaus nothwendig daſſelbe von ihr aufgeſtellte Dogma auch von Allen bekannt wird. Und wir begreifen nach dem Vorhergehenden leicht, was die Baſis dieſes einheitlichen Lehrſyſtems ſein wird. Damit die Erlöſung als wirklich geſchehen gedacht werden kann, muß Chriſtus als ganz göttlich und ebenſo als ganz menſchlich gedacht werden. Der Widerſpruch en Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. im Begriff „Gottmenſch“ muß alſo jetzt ohne Vorbehalt einfach bejaht, er muß von der Kirche als einzig richtige Glaubenslehre verkündigt werden. Der praktiſche Glaube, die „Piſtis“ (miorıg), diktirt dieſe theo— logiſche Theorie, dieſe „Gnoſis“ (55e). Nur in dieſem einheitlichen Doppelbegriff des Gottmenſchen ſtimmen Piſtis und Gnoſis völlig überein. Jede Theorie, welche nich genau in dieſer Form Chriſtus begreift, muß als ketzeriſch erſcheinen. Mag ſie ſonſt auch noch ſo ſehr die innigſte praktiſchſte Glaubenswärme in ſich bergen, fie hat doch eine falſche Gnoſis. Gerade die Faſſung der Doppelnatur Chriſti iſt es alſo, über welche in den erſten Jahrhunderten die Schlacht der Meinungen unaufhaltſam und ſtürmiſch tobt, ſo lange, bis die allmählich erſtarkte Kirche im Kampfe um ihre ein- heitliche Exiſtenz ihre Theorie feſtſtellt. Sie ſtempelt damit nicht blos die früheren Meinungen beliebiger Anonymen für hetero— doxe Häreſie, in Wahrheit erklärt ſie damit alle erſten Chriſten, eine große Zahl von Kirchenvätern nicht ausgenommen, für Ketzer. Wir wollen einzelne Momente aus dieſem intereſſanten Gährungsproceß wie Stich— proben hervorheben. Verehrung zollt. Da finden wir hundert Jahre ſpäter den Perſer Mani, der die chriſtlichen Anſchauungen verbindet mit per- ſiſchen und buddhiſtiſchen Religionslehren und die Sekte der Manichäer gründet, welche ſich viele Jahrhunderte lang erhält, und der einige Zeit hindurch ſogar Augu— ſtin angehört. Da finden wir eine Reihe anderer ſogenannter falſcher Gnoſtiker, die alle darin übereinſtimmen, daß durch Chriſtus die Erlöſung thatſächlich vollzogen ſei, nur daß ſie über das Weſen Chriſti im Einzelnen abweichende Meinungen ver— treten, ſei es, daß ſie über die ſtarke Be— tonung ſeines göttlichen Weſens ſein menſch— liches, oder über die ſtarke Accentuirung ſeines menſchlichen Weſens ſein göttliches aus den Augen verlieren. So faſſen Ba— ſilides (um 130 n. Chr. in Alexandria) und ſeine Anhänger, die Baſilidianer, eine Sekte, welche bis in das 6. Jahrh. Beſtand hat und dann erſt von der Kirche unterdrückt wird, in eigenthümlicher Weiſe Chriſtus nicht als Gott, ſondern als Men— ſchen auf. Baſilides lehrt, aus der Gottheit, welche als abſolut transcendent Sehr bald nach dem Auftreten der Lehre Jeſu nehmen die übrigen bereits vor— handenen religiöſen wie philoſophiſchen Sy ſteme Stellung zu ihr, ſei es, daß ſie in poſitiver Verbindung ſich mit ihr ausgleichen, ſei es, daß ſie in feindſeliger Negation ſich von ihr abwenden. Da finden wir um 130 den Karpokrates, einen platoniſch— chriſtlichen Sektengründer, der ſowohl PV thagoras wie Platon auf vollſtändig gleiche Stufe mit Jeſus ſtellt, ſie alle als göttliche Männer behandelt und ihren Bild— niſſen, aber auch denen des Paulus, „Homer und Ariſtoteles die höchſte zur Materie und dem materiellen Menſchen ſich nicht herablaſſen kann, ſei eine Fülle hypoſtaſirter (perſonificirter) Kräfte oder „Sohnſchaften“ in abſteigender Stufenord— nung emanirt. Eine dieſer Emanationen, der Archon, ſchafft den Menſchen Jeſu, mit dem ſich bei der Taufe die erſte Emana— tion aus Gott verbindet, ohne daß Jeſus aufhörte, ein Menſch zu ſein. Dieſe erſte Emanation vollführt in ihrer Verbind— ung mit dem Menſchen Jeſus das Erlöſungs— werk. Als Chriſtus gekreuzigt wird, über— läßt ſie ihn ſeinem Schickſal, kehrt ſelbſt aber völlig intakt zur Gottheit zurück. Offenbar kann die Kirche dieſe Lehre nicht ſanktioniren. Eine andere, gerade entgegen— 336 geſetzte Form dieſes Gnoſticismus vertritt Marcion um 160, der ſich bona fide ebenfalls als Chriſt fühlt. Die Gottheit iſt nach ihm viel zu erhaben, als daß ſie je hätte Menſch werden können. Wenn ſie auf Erden in Menſchengeſtalt als Jeſus wandelte, ſo war das nur der bloße Schein einer Menſchengeſtalt, den die Gottheit her— vorgerufen hatte. Jeſus war alſo nur ein ſcheinbarer Menſch, in Wahrheit aber ganz göttlich. Offenbar iſt in dieſer Doktrin des „Doketismus“ dem Begriff Gott— menſch auch nur halb genügt; auch ſie muß demnach als falſche Gnoſis verworfen wer— den. Aber ſelbſt eine Reihe der noch heute als chriſtliche Autoritäten anerkannten Kirchen— väter ſind noch weit entfernt von der or— thodox⸗kirchlichen Faſſung der Hauptdogmen, beſonders dem von der Dreieinigkeit und von den beiden Naturen in Chriſto. Ju— ſtinus Martyr, der im Jahre 167 für ſeinen Glauben den Märtyrertod duldet, kennt die Dreieinigkeitslehre noch nicht. Für ihn iſt Chriſtus noch nicht gleichewig und gleichweſig mit Gott, ſondern von Gott zwar ſchon vor Schöpfung der Welt, doch erſt in der Zeit erſchaffen, und der heilige Geiſt iſt ihm ein Engel aus der Schaar der übrigen. Auch für den Kirchenvater Theo— philus ( 186) iſt der heilige Geiſt noch nicht die volle Perſon in der Gottheit; bald erklärt er ihn für die Weisheit Gottes, bald unterſcheidet er ihn von ihr. gines (7 254), dem berühmten Lehrer erſchaffen und der heilige Geiſt ein über alle anderen Geſchöpfe erhabenes Weſen, aber die ſtrenge Dreieinigkeitslehre der ſpäs teren Zeit ſucht man vergeblich bei ihm. Die wahrſcheinlich um 180 n. Chr. ent— ſtandenen und dem der Sage nach unmittel- 4 Bei Ori⸗ Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. baren Nachfolger des Petrus auf dem hei— ligen Stuhl, dem Biſchof Clemens von Rom, zugeſchriebenen Homilien ſehen zwar in Chriſtus Gottes Sohn, aber nicht den einigen Gott ſelber, und in der um die— ſelbe Zeit entſtandenen, dem Hermas zugeſchriebenen Schrift „Der Hirt“ gilt Chriſtus noch als der erſtgeſchaffene Engel, und in einem Vergleiche wird Gott als der Hausherr, der heilige Geiſt als deſſen Sohn und Chriſtus als der treueſte ſeiner Knechte bezeichnet. So gehen demnach im Urchriſten— thum die Meinungen über die wichtigſten Glaubenslehren noch vollſtändig aus einan— der. Die ſubjektive innere Wärme der Gläubigen iſt noch von ſo urſprünglicher Kraft, daß die objektive Faſſung der Einzel— heiten des Geglaubten dem individuellen Belieben bis zu einem gewiſſen Grade noch gefahrlos anheim geſtellt werden kann. Wo aber im Laufe der Jahrhunderte die ſeheriſche Glut des unmittelbaren Enthuſiasmus ab— zunehmen beginnt, wo der Glaube nicht mehr ſowohl durch plötzliche, wunderbare Ein— gebung, als durch ſyſtematiſche Belehrung erzeugt und fortgepflanzt wird, da muß die Gemeinde darauf dringen, daß ſie eine ein— heitliche Formel erhalte, auf Grund deren Jeder wiſſe, was wahr, was falſch ſei. Mit Nothwendigkeit entſteht alſo das Bedürfniß, feſte Dogmen aufzurichten, ein Bedürfniß, dem vom 4. Jahrhundert an durch Concile möglichſt genügt werden ſoll. Wenigſtens auf die drei Hauptdogmen müſſen wir hier der chriſtlichen Katechetenſchule zu Alexan- drien, iſt zwar der Sohn von Ewigkeit her unſer Augenmerk lenken. Sie alle folgen ihrem beſonderen In— halt nach aus dem Satze, daß thatſächlich der Menſch durch Chriſtus zu Gott erlöſt ſei. Die drei Faktoren in dieſem Satze ſind: Gott, Chriſtus, Menſch. Alſo lautet die Frage: Wie muß Gott gedacht wer— den, daß die Erlöſung zu ihm, wie Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. Chriſtus, daß die Erlöſung durch ihn, wie der Menſch, daß die Erlöſung an ihm thatſächlich vollzogen werden konnte? Auf dieſe Fragen antworten das theolo— giſche, das chriſtologiſche, das an— thropologiſche Dogma. Wenden wir uns zunächſt dem theolo— giſchen Dogma zu, ſo zeigen ſich im vier— ten Jahrhundert beſonders drei Meinungen über die Gottheit verbreitet, die nicht ſämmtlich gleichmäßig richtig ſein können. Sabellius lehrt, Gott ſei abſolut einer, ein einziger. Mithin, wenn überhaupt die Erlöſung geſchehen iſt, ſo kann ſie nach Sabellius nur durch Gott ſelbſt, nicht aber durch eine zweite Perſon, nicht durch einen menſchlichen Chriſtus vollzogen ſein; Gott ſelbſt war es, der Eine, der erſchien und die Welt erlöſte. ſabellianiſche Monarchianismus, der mit Ausſchluß jedes Dualismus innerhalb der Gottheit ihren moniſtiſchen Charakter betont, zwar das Göttliche, aber es fehlt ihm das Menſchliche: unter ſeiner Annahme bleibt die Erlöſung eine Unmöglichkeit. Eine große Anhängerſchaft findet zweitens die Lehre des frommen Presbyters Arius: Die Gottheit iſt viel zu transcendent er- haben, als daß ſie ſelbſt ſich hätte zur Materie herablaſſen und die Erlöſung voll- ziehen können. Somit bedurfte ſie eines Mittelweſens. Dieſes war Chriſtus: Er iſt nicht ein Gott gleiches Weſen, ſondern ein weltſchöpferiſches, demiurgiſches Mittelweſen, welches nur darin Gott gleich kommt, daß es gleichen Willens iſt wie die Gott— heit, nicht aber gleichen Weſens. Offen- bar iſt in dieſem Arianismus Chriſtus weder voller Gott, noch voller Menſch: die Kirche muß dieſe Lehre verwerfen. Atha— naſius, der glaubenseifrige Biſchof von Alexandria, nimmt den Kampf gegen dieſe ä—— — UT—————— AÄ—ͤ— So kennt dieſer 337 Irrlehren auf und ſetzt endlich nach mühe— vollem Ringen die Lehre durch: daß Chriſtus als völlig gleichen Weſens mit der Gott— heit zu denken ſei. Auf dem Concil zu Nicäa im Jahre 325 wird dieſe Homo— ouſie oder Weſensgleichheit Chriſti mit Gott als Dogma feſtgeſtellt. Trotzdem ge— lingt es keineswegs der Kirche gleich, dieſer Lehre überall Eingang zu verſchaffen. Die durch arianiſche Miſſionäre bekehrten ger— maniſchen Völkerſchaften, wie die Gothen, Longobarden, Vandalen, bleiben noch Jahr— hunderte lang bei der arianiſchen Anſchau— ung. Ja ſelbſt in der griechiſchen Chriſten— heit vermag Athanaſius trotz des Concils von Nicäa ſeinem Dogma nicht ſo bald allgemeine Anerkennung zu verſchaffen; es wird um ſo mehr Anſtoß daran genommen, als der von Athanaſius herrührende Ausdruck ö hοοναs ſich in der Bibel nicht vorfindet. Es bedarf zur endgültigen Beſtätigung erſt noch der Synode von Kon— | jtantinopel im Jahre 381, und hier erſt wird nun das Dreieinigkeitsdogma völlig fertig, indem auch dem heiligen Geiſte Weſensgleichheit mit Gott und Chriſtus zuerkannt wird. Auch das zweite Hauptdogma von den beiden Naturen in Chriſto wird nur all— mählich und mühſam zu Stande gebracht. Chriſtus muß, wie wir ſehen, voller Gott und voller Menſch ſein, wenn die Erlöſung überhaupt möglich ſein ſoll. Aber von dieſer Lehre in ihrer ſtrikten Faſſung ſind die Chriſten vor dem 5. Jahrhundert noch weit entfernt. Neſtorius, der Biſchof von Konſtantinopel, und ſeine Anhänger ſtellen ſich das Verhältniß der beiden Na— turen in Chriſto ſo vor, daß zwar beide, | die göttliche wie die menſchliche, in Chriſto ſeien, aber doch in ganz äußerlicher Weiſe, etwa wie zwei an einander gelegte Marmor- Er 338 platten, verbunden, da das abſolut Immate— rielle mit dem menſchlich Materiellen eine wirklich organiſche Verbindung doch nicht einzugehen vermag. Das Verhältniß be— ſteht zwar in der Vereinigung, in welcher aber der Gegenſatz es zu einer wirklichen Einheit nicht kommen läßt. So fehlt die völlige Einheit von Gott und Menſch; der Neſtorianismus muß alſo als ketzeriſch ver— urtheilt werden, ebenſo wie die gerade ent— gegengeſetzte Meinung, welche der Biſchof Eutyches vertritt. Nach Eutyches ſind die göttliche und die menſchliche Natur in Chriſto ſo eng verbunden und verſchmolzen, daß aus beiden Naturen durch dieſe Miſch— ung eine dritte hervorgegangen iſt, die über beiden ſteht. Offenbar aber kommt dabei weder das Menſchliche noch das Göttliche zu ſeinem Rechte, vielmehr ſind beide in ihrer Eigenthümlichkeit aufgehoben und ver— nichtet. Dieſe Doktrin der Einnatürlichkeit oder des Monophyſitismus läßt der Be— griff der wahren Gottmenſchheit nicht zu. Der fanatiſch-gewaltthätige Biſchof Kyril— los von Alexandria ſetzt alles daran, zur Entſcheidung dieſer Frage das Concil von Epheſus im Jahre 431 zu Stande zu bringen. Hier wird Neſtorius verdammt und Eutyches abgeſetzt. Zwar ſucht die Synode von Epheſus im Jahre 449 den Eutyches zu rechtfertigen, aber das nach Chalcedon im Jahre 451 einberufene Concil erklärt die Beſchlüſſe der epheſiniſchen Sy— node, die als „Räuberſynode“ bezeichnet wird, für ungültig, verurtheilt Eutyches von neuem und formulirt das Dogma da- hin, daß volle Göttlichkeit, aber auch volle Menſchlichkeit, beide in innigſter Verbind— ung und beide doch in gegenſätzlicher Trenn— ung, das Weſen Chriſti ausmachen. Es dauert indeſſen auch bei dieſem Dogma, deſſen Geſchichte auf einem der häßlichiten Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. Blätter der Kirchenhiſtorie ſteht, noch ſehr lange, ehe es zur allgemeinen Anerkennung gelangt. Schwache griechiſche Kaiſer, die zwiſchen den verſchiedenen geiſtlichen Par— teien hin- und herſchwanken, Pöbelaufruhr, Geldbeſtechungen, Eunuchenränke, Weiber— klatſch, eine troſtloſe Geiſtlichkeit, der be— fohlen wird, das Dogma in der feſtgeſetzten Geſtalt zu lehren — das ſind die Elemente, welche die Geſchichte dieſes Dogmas zu einem beklagenswerthen Schauſpiel menſch— licher Kleinheit geſtalten. Ein großer Theil der Chriſtenheit bequemt ſich auch dem neuen Dogma nicht, ſondern trennt ſich wegen deſſelben von der katholiſchen Kirche los. Die armeniſche Kirche, die egyptiſche National— kirche der Kopten und die in Syrien und Meſopotamien wohnenden Jacobiten beken— nen ſich auch fernerhin zum Monophyſitis— mus des Eutyches, während die ſogen. chaldäiſchen und die Thomaschriſten in Aſien Anhänger des im Elend verſtorbenen Ne— ſtorius bleiben und bis nach Indien hin chriſtlichen Sinn und chriſtliche Bildung verbreiten. Wir übergehen hier, was ſonſt noch an divergirenden und von der Kirche verurtheilten Meinungen hinſichtlich der beiden Naturen in Chriſto z. B. als Mo— notheletismus, Adoptiomismus u. ſ. w. auf- tritt, Lehrſatzungen, um die, wahrlich nicht im Sinne des Stifters der Religion der Liebe, Ströme von Blut vergoſſen ſind. So viel iſt aber klar, daß, wenn die Menſchheit all ihren Eifer und all ihr Nachdenken mit einem für uns unbegreif— lichen Fanatismus an die Erzeugung und Formulirung derartiger fruchtloſer Spitz— findigkeiten ſetzt, weder Zeit, noch Kraft, noch Sinn für eine Betrachtung der Natur der Dinge übrig bleiben kann. Wir haben auch gerade deshalb dieſe Zuſtände aus— führlicher ſchildern müſſen, weil ſonſt zumal hingebenden Begeifterung für die Natur es unerklärlich ſein würde, wie die Menſchheit je zu dem Gipfel der Naturverachtung kommen konnte, zu welchem uns nun das folgende Hauptdogma ausdrücklich hinauf— führen wird. Das dritte Hauptdogma, das Weſen des Menſchen und der Welt betreffend, wird von dem großen abendländiſchen, lateiniſch ſchreibenden Kirchenvater Aurelius Au— guſtinus (geb. 354 zu Thagaſte in Nu⸗ midien, 7 430 zu Hippo) philoſophiſch ent- wickelt und zum Abſchluß gebracht. Augu— ſtin iſt nicht blos wegen des überwiegenden Einfluſſes hochbedeutſam, den gerade er durch ſeine Werke auf die Geſtaltung des abendländiſchen Chriſtenthums gewonnen hat, ſondern auch ſeine Perſönlichkeit iſt cultur— hiſtoriſch inſofern hoch charakteriſtiſch, als ſich in ihrer Entwickelung alle Strömungen des geiſtigen wie des materiellen Lebens, die ganze Zerriſſenheit und ringende Gähr— ung ſeines Zeitalters abſpiegelt. Seine Mutter iſt Chriſtin, ſein Vater noch Heide, ſeine Erziehung fromm im chriſtlichen Sinn, ſein Eintritt ins Leben aber ein Verſinken in die ausſchweifendſte Sinnenluſt; ernſtes Studium, namentlich Cicero's, befreit ihn davon. Dann eine Zeit lang eifriger Anhänger des Manichäismus, kommt er bald zum ſchärfſten Skepticismus, dem auch das Studium Platon's und des Neuplatonis⸗ mus ihn nicht zu entreißen vermag. Da in Mailand, wo er als Lehrer der Rheto— rik wirkt, erfaßt ihn die Predigt des Bi— ſchofs Ambroſius ſo ſehr im Innerſten, daß er die Taufe begehrt, um von nun an der eifrigſte Verfechter der Lehre Chriſti zu werden. So iſt in der That ſeine Ent— wickelung ein Spiegelbild des ganzen Zeit— alters, und es hat mir immer ſcheinen für den heutigen Naturforſcher mit feiner | Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtuug. wollen, als ob Kingsley in ſeinem, das Bild dieſer Zeit vortrefflich zeichnenden Roman „Hypatia“ ſeinen männlichen Haupt- charakter Rafael, der aus dem Judenthum heraus alle Stufen des Epikureismus, Stoi— cismus, Neuplatonismus und Skepticismus durchläuft, um endlich durch die Briefe des Apoſtels Paulus zum Chriſtenthum bekehrt zu werden, zum großen Theil nach der Selbſtbiographie Au guſtin's geſchildert habe. Wie muß die menſchliche Natur unter dem Geſichtspunkte der Erlöſung gedacht werden? Dieſe Frage will Auguſtin in ſeiner Formulirung des anthropologiſchen Dogmas beantworten. Wenn die heutige Anthropologie das Problem vom Weſen des Menſchen beantworten will, ſo vergleicht fie in empiriſch- induktiver Weiſe die ver— ſchiedenſten Völker und Menſchen zu den verſchiedenſten Zeiten in den verſchiedenſten Räumen, um daraus einen kritiſchen Be— griff vom Menſchenweſen zu gewinnen. Ganz anders das Verfahren Au guſtin's. Ihm iſt die chriſtliche Heilsthatſache das einzig Ausſchlaggebende für die Beſtimmung der menſchlichen Natur. Da die Menſch— heit erlöſt iſt, mußte ſie einerſeits erlöſungs— bedürftig ſein. Da aber der Menſch ſich nicht ſelbſt erlöſt hat, ſondern durch Chriſtus erlöſt iſt, ſo war er andererſeits von ſich aus in aktivem Sinne erlöſungs— unfähig. Warum konnte der Menſch ſich nicht ſelbſt erlöſen? Die Sünde macht ihn unfrei und unfähig. Hier aber ſtößt Auguſtin auf einen Widerſpruch, den er beſeitigen muß. Was Jemand nicht im Zuſtande der Freiheit begeht, ſondern durch eine äußere Nothwendigkeit gezwungen, das kann ihm nicht als Schuld angerechnet, dafür kann er nicht mit Verdammniß be— ſtraft werden. Und doch ward dieſe Strafe 340 der Menschheit zuerkannt, denn ſonſt hätte ja Chriſtus die Strafe nicht auf ſich nehmen müſſen, er wäre nicht für die Menſchheit ge— ſtorben, die Erlöſung wäre als unnöthig un— terblieben. Aber obgleich jetzt der Menſch in der Sünde unfrei iſt, ſo muß doch, da die Sünde ihm als Schuld angerechnet wurde, es eine Zeit gegeben haben, wo er frei war und im Mißbrauch dieſer Freiheit ſündigte. Adam war frei, er hätte nicht zu ſündigen brauchen; er fiel und in ihm die ganze Menſchheit; die Sünde Adams ging über auf alle nachkommenden Menſchen: Der Begriff der Erbſünde iſt das erſte Er— gebniß Auguſtin's. Wenn nun alle Menſchen durch Adams Fall ſo ſehr in ſündige Unfreiheit gerathen ſind, daß ſie ſich ſelbſt nicht daraus erlöſen können, fo muß Gott ſie erlöſen. Es hängt mithin einzig und allein von der willkürlichen und grundloſen Gnade Gottes ab, ob er ſie und wen er erlöſen will. Die Menſchen können nichts dazu thun; wen Gott aus— wählt, der kommt zur Seligkeit; wen er verwirft, der wird verdammt: Das Dog— ma von der Gnadenwahl iſt das zweite Ergebniß Au guſtin's. Allein Gott, oder, was daſſelbe ſagt, Chriſtus kann den Men— ſchen erlöſen. Die alleinige Stellvertreterin Chriſti auf Erden iſt aber die Kirche. Allein durch die Kirche alſo, nicht durch die eigene Kraft kann der Menſch zur Seligkeit ge— langen: Das Dogma von der allein ſelig machenden Kirche war das dritte Ergebniß Au guſtin's. anthropologiſchen Löſung dieſer Frage ſteht ganz und gar im Platonismus wurzelt. den übrigen Menſchen angerechnet werden. Dieſe auguſtiniſche Löſung der religids- | unter einer Vorausſetzung, die wiederum Wäre Adam nur ein einzelner Menſch, jo kann offenbar, was er geſündigt hat, nicht Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. Aber Adam iſt im Sinne Auguſtin's und der Kirche die platoniſche Idee der Menſchheit. Adam iſt alſo der Inbegriff aller Menſchen. Fällt die Idee der Menſchheit in Sünde, ſo fällt mithin auch die geſammte Menſchheit. Iſt Adam einerſeits die fallende platoniſche Idee der Menſchheit, ſo iſt andererſeits der „neue Adam“, welcher die Menſchheit erlöſt, Chriſtus, die neue Idee der Menſchheit. In Chriſtus, weil er Idee der Menſchheit iſt, nicht etwa ein einzelner Menſch — iſt deshalb die geſammte Menſch— heit erlöſt worden. Auch hier tritt es wie— der klar zu Tage, daß die geſammte Dog— matik der Kirche auf der platoniſchen Ideen— lehre ruht und mit dieſer ſteht und fällt, wie denn auch die Kirche davon ein leb— haftes Bewußtſein hat. Man irrt alſo, wenn man den theologiſchen Begriff der Erbſünde irgendwie mit einer organiſchen, phyſiſchen, etwa darwiniſtiſchen Vererbungs— theorie in Zuſammenhang bringt. Beide haben mit einander nur das Wort gemein— ſam. Die organiſche Vererbungstheorie ſtützt ſich auf die Realität der Indivi- duen, das Dogma der Erbſünde dagegen auf die Realität der Gattungs— begriffe im platoniſchen Sinne. Wie kann man wähnen, hier einen natürli— chen Vererbungsproceß durch organiſche Zeugung zu finden, wo jede naturaliſtiſche Faſſung irgend eines Problems von vorn— herein verpönt iſt, und ſelbſt da, wo ſich eine ſolche ohne Schaden für die theoretiſche Anſchauung bietet, trotzdem immer eine ſupranaturaliſtiſche an die Stelle geſetzt wird, wie wir weiter unten noch genauer zeigen werden. Mit der Frage nach dem Weſen des Menſchen hängt, da derſelbe ein Stück Welt iſt, die Frage nach dem Weſen der Well, mit dem anthropologiſchen Problem das kosmologiſche eng zuſammen. Gerade die Löſung des letzteren durch Au guſtin intereſſirt uns hier um ſo mehr, als ſeine Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. Formulirung deſſelben nun endgültig und deshalb um jo diktatoriſcher die Natur- anſchauung des geſammten Mittelalters be— ſtimmt, als ſeine kosmologiſche Grundvor— ſtellung ſelbſt der ſchärfſte Ausdruck der Naturnegation iſt, und indem ſie dieſe zum Dogma erhebt, ein neuer Quell für die naturverachtende Stimmung der Folge— zeit wird. Wäre die Welt etwas Selbſtſtändiges neben Gott, ſo würde ja die Gottheit eben durch dieſe Selbſtſtändigkeit des Ma⸗ teriellen eingeſchränkt und begrenzt; ſo wäre ſie nicht das Unbegrenzte, Unendliche, nicht das Eine und Alles. Ein dualiſtiſcher Gegenſatz zwiſchen Gott und Welt, worin die letztere ein ſelbſtſtändiges Glied wäre, darf alſo nicht angenommen werden. Wäre aber andererſeits etwa ſo, wie die Neu— platoniker wollen, die Welt aus Gott her— ausgeſtrömt, ſo ſtammte ſie ihrem letzten Grunde und ihrer Subſtanz nach aus dem Göttlichen; dann könnte ſie nicht das ſchlecht— hin Böſe und Nichtige fein. Dieſe pan— theiſtiſche Faſſung des kosmologiſchen Problems muß Au guſtin vom kirchlichen Standpunkt aus natürlich ebenfalls vermei- den. Weder ſelbſtſtändig neben der Gott— heit, noch aus dem Weſen der Gottheit her— vorgegangen iſt die Welt. Woher alſo? Es ſcheint kein dritter Fall übrig zu ſein, und doch entdeckt Auguſtin das tertium. Die Welt iſt nicht aus Gott, ſie iſt auch nicht aus ſich ſelbdſt — fie iſt durch Gott aus Nichts geſchaffen. So kommt Augu— ſtin auf Grund dieſer theologiſch-philoſo— phiſchen Speculation, nicht etwa auf Grund einer unmittelbaren bibliſchen Lehre zu ſeinem 341 berühmten Dogma von der Schöpfung der Welt aus Nichts. Iſt die Welt aus Nichts, ſo iſt ſie auch ihrem Weſen nach gleich Nichts und beſteht nur durch Gottes allmächtigen Willen. Zieht Gott einen Augenblick ſeinen Willen von ihr ab, ſo ſinkt ſie in ihr früheres Nichts zurück. Gott muß mithin fortgeſetzt wollen, daß die Welt ſei. Die Schöpfung iſt nicht etwa nur einmal geſchehen, ſondern fortgeſetzt in jedem Moment durch den Willen Gottes, fie iſt eine ereatio continua. Alles in der Welt iſt demnach an ſich ein Nichtiges, und Alles iſt mithin auch durch den Willen Gottes abſolut determinirt, vorher be— ſtimmt — das Dogma von der „Prä— deſtination“ alles deſſen, was in der Welt geſchieht, iſt die nothwendige Folge des Dogmas von der Schöpfung aus Nichts. Es iſt klar: alle dieſe Dogmen ſind im Sinne der vorausgeſetzten Erlöſungsthatſache völlig conſequent entwickelt, doch — wie gewaltig maßgebend hat auch hier wieder Platon vorgearbeitet und den Gedanken— lauf geleitet! Wenn bei Platon die Welt bereits ein relatives Nichts, ein um 6 war, ſo bedurfte es nur noch eines einzigen Schrittes, um aus dem relativen ein ab- ſolutes Nichts, aus dem um ô wein . 00x 09 zu machen, um zu erklären, fie jet deshalb auch aus Nichts. Auguſtin's iſt nur Die Lehre die folgerichtige Durchführung der platoniſchen Ideenlehre. Wir haben früher nachgewieſen, wie die platoniſche Ideenlehre nur einem logiſchen Widerſpruche ihr Daſein verdankt, wie ſie fi) allein auf Grund des ontologiſchen Beweiſes bildete. Wenn nur die erſte Sünde gegen die Logik ungerügt begangen iſt, wird es nicht mehr ſchwer fallen, die Verſtandes⸗ geſetze überhaupt ihres Dienſtes zu entheben. Unter dem Geſichtspunkte der, aus einer in ä — — — — —ů —— ———— ů — —— — ů—ů —̃ä 1—»—» Kosmos, III. Jahrg. Heft 5. 45 342 ſich unlogiſchen Ideenlehre herausgewachſenen, in ſich ebenſo widerſpruchsvollen Yogoslehre | iſt bereits drei für eins erklärt, eine Zweiheit als Einheit hingeſtellt. Die mathematiſche Denkrichtigkeit gilt nicht mehr. Durch Auguſtin wird jetzt die logiſche nicht minder als die reale Cauſalität überhaupt vollſtändig auf- gehoben. Der Fundamentalſatz, daß Alles | eine Urſache haben müſſe, daß aus Nichts Nichts werden könne, dieſer Fundamental— ſatz alles menſchlichen Denkens und aller Wiſſenſchaft wird im Intereſſe übernatür- licher Dogmata jetzt einfach ſeiner Gültig— keit beraubt. werden, die Welt aus Nichts, Alles gleich Nichts — dieſe Gleichungen ſind jetzt nicht Wahrheiten. Hier haben wir alſo die letzte Conſequenz der Ideenlehre vollſtändig gezogen, hier haben wir die Probe der Rechnung vor uns: Schon in ihrem Fun— dament ſchob die Ideenlehre die logiſchen Grundgeſetze bei Seite — kein Wunder, daß das letzte Facit lautet: Die natür⸗ liche Cauſalität hat überhaupt thuſiaſtiſch aufgenommen, weil ja gerade gar keine Geltung mehr! Mit Auguſtin, dem letzten der gro- ßen Kirchenväter, hört die Produktion der Hauptdogmen in der Kirche auf. Der letzte Grundſatz, den dieſe Dogmatik ausgefpro- | chen hat, ift die Aufhebung der na— türlichen Cauſalität. Dieſer Grund- ſatz behält in der Kirche ſeine Geltung; er zeigt ſich überall in Kraft, handele es ſich nun um eine Transſubſtantiation der Hoſtie, oder um eine unbefleckte Empfäng⸗ niß, oder um die Unfehlbarkeit. Die Denk— entwickelung, welche in den Sophiſten und Sokrates beginnt, haben wir gejagt, laufe in letzter Inſtanz auf die völlige Mißachtung der natürlichen Cauſalität hin— Aus Nichts kann Etwas Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung— weſen ſei. blos richtig, ſie ſind ſogar die höchſten aus. Wir haben den Beweis geführt. Iſt aber die natürliche Cauſalität für Nichts zu erachten, wo bleibt die Natur, wo bleibt die Wiſſenſchaft derſelben? Sie ſind verſchwunden, wie der Kosmos ſelbſt dem Akosmismus hat weichen müſſen. Die Naturverachtung iſt zur dogmatiſch be— gründeten heiligſten Pflicht des Menſchen gemacht worden! Au guſtin's Lehre von der Schöpf— ung aus Nichts, zu der ſich Andeutungen ſchon vor ihm bei Hermas und in der Juſtin's Werken zugezählten „Mahnrede an die Hellenen“ finden, ſchließt bei näherer Betrachtung den Gedanken ein, daß dieſe Schöpfung ein ganz zeitloſer Akt ge— Da Nichts und Alles abſolute Gegenſätze ſind, ſo kann natürlich das „Alles“ ſich nicht erſt allmählich aus dem Nichts entwickelt haben. Das „Etwas“ war vielmehr mit einem Male abſolutplötzlich wie durch einen Zauber— ſchlag da. Dieſen Gedanken einer abſolut zeitloſen Schöpfung hatte zuerſt Philo ausgeſprochen; er wurde von Clemens von Alexandria und Origines en— in einer derartigen Entſtehung der Welt die Allmacht Gottes ſich am herrlichſten zu documentiren ſchien, und gerade die eifrig— ſten Vorkämpfer der Orthodoxie, Atha— naſius, Baſilius, Hilarius und vor allem Au guſtin treten für dieſen Gedanken ein. Offenbar ſtellt man ſich damit in Widerſpruch gegen den moſaiſchen Schöpfungsbericht, der doch mit beſtimmten Worten ſechs auf einander folgende Schöpf— ungstage lehrte, weshalb auch eine Reihe der ſpäteren Väter keineswegs mit dieſer „achroniſtiſchen Verflüchtigung der Realität der Schöpfungstage“ *) einverſtanden war. *) Vergl. zu dieſem und dem Folgenden Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. Die Annahme dieſer zeitloſen Schöpfung im Gegenſatz zu dem ausdrücklich berichteten Sechstagewerk macht es nun aber durch- aus nothwendig, daß man die moſaiſche Urkunde nicht mehr im buchſtäblichen Sinne Bild unſauberer Menſchen, faßte, ſondern ſie in allegoriſirender Behandlung umdeutete, und wir können mit Recht jagen, daß alle natur- wiſſenſchaftliche Beſchäftigung, wenn wir denn dieſen Namen hier einmal mißbrauchen dürfen, in dieſem Zeitalter faſt einzig und allein in der tropologiſchen Deutung des moſaiſchen Hexaemeron beſteht. Schon Philo hatte dieſen Weg umdeutender Willküraus— legung betreten. Theophilus von An- tiochien war ihm gefolgt. Seit Ori- gines gelangte dieſe Methode trotz des Proteſtes einiger Väter, wie des Lactanz und des Hieronymus im Morgen- wie im Abendlande zur allgemeinen Herrſchaft, zumal Au guſtin von dieſer ſpiritualiſti⸗ ſchen Auflöſung des Wortſiunes den aus— giebigſten Gebrauch macht. Die Natur- dinge ſind nicht ſie ſelbſt, ſie bedeuten etwas Religiös-Geiſtliches, fie find Symbole für Theologumene; nur dazu ſind ſie über— haupt erſchaffen; nur die Möglichkeit, die Naturdinge religiös-allegoriſch würdigen zu können, giebt ihnen einen Werth, der ihnen an ſich, da ſie ja aus Nichts und Nichts find, nicht zukommt. Schon bei Pſeudo— Barnabas, der in dieſer myſtiſchen Ver— bindung der Natur mit der Heilsgeſchichte ein gelehriger Schüler Philo's iſt, deutet jeder rothe Faden auf das Blut Chriſti, jedes hölzerne Gefäß oder jeder Baum auf das Kreuz, jeder Quell oder Fluß auf die Taufe hin. Aus dieſer Tendenz entſprin— gen wunderbare Thierfabeln, wie die „vom Tintenfiſche, der, ein Bild zum Höllenab— Zöckler, Geſchichte der Beziehungen zwiſchen Theologie und Naturwiſſenſchaften, Bd. I. 343 grunde verdammter Gottloſer, niemals aus der Tiefe des Meeres emportaucht; von der Hyäne, die jährlich ihre ehebreche— riſche Natur wechſelt und bald männlich, bald weiblich wird; vom Wieſel, das, ein durch den Mund trächtig wird“ (a. a. O. S. 95). In der alexandriniſchen Schule, z. B. bei Origines, bedeuten „Flüſſe himmliſche Tugenden, Farben die Elemente, Gold die Weisheit, Bäume mit Früchten die Tugen- den und guten Werke, Thiere die Leiden— ſchaften, z. B. Ochſen die irdiſchen Affekte, Pferde die wilden Begierden, Tauben die leichtfertigen unſtäten Gedanken“ (a. a. O. S. 99). Bei Anaſtaſius dem Sinaiten, einem Mönch im Sinaikloſter, in der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts, bedeuten die Walfiſche der Schöpfungsgeſchichte die großen Apoſtel, wie Paulus und Petrus u. ſ. w. (a. a. O. S. 118). Man glaubt es mit Traumdeutungen anſtatt mit Naturerkennt⸗ niß zu thun zu haben, wenn man erfährt: „Sonne und Mond gehen auf Chriſtum und feine Kirche, die Sterne auf die hei— ligen Patriarchen, Propheten und Apoſtel. Der ganze Himmel mit ſeiner Zeiteintheilung ſpiegelt ſich aber auch in der einzelnen Seele des Menſchen ab, wo Gebete und göttliche Worte das Leben regieren müſſen. Die Waſſerthiere, Kriechthiere und Vögel be— deuten die theils guten, theils böſen Ge— danken im Herzen; insbeſondere ſind die großen Walfiſche Bilder arger Greuelgedan— ken oder verbrecheriſcher Gelüſte und An— ſchläge“ (a. a. O. S. 163). Arme Apoſtel! Dieſe Methode bringt mit der Zeit, indem Einer den Andern darin zu überbieten ſucht, natürlich unglaubliche Ungeheuerlichkeiten her— vor, fo z. B. wenn der Sinait Anaſta⸗ ſius folgende Wundergeſchichten in Ber- bindung mit einem „Wuſt ſalbungsvoller Allegorien und Moralitäten“ zu Tage fördert, wie „daß Aal und Schildkröte ſich mit einander begatten, ein abſchreckendes Bild der Verbindung von Ketzern mit dem Teufel“ (a. a. O. S. 218). Da erklärt es ſich wohl zur Genüge, was und wie viel es ſagen will, wenn Auguſtin das Studium der Natur zum Verſtändniß der Geheimniſſe der heiligen Schrift empfiehlt, und es wird ſchwerlich gelingen, wie Zöckler es verſucht, die Ausſprüche, welche bei Auguſtin ſowohl als bei Euſebius und beſonders La c- tanz auf den Unwerth naturwiſſenſchaft— licher Forſchungen gehen, im Intereſſe des Nachweiſes eines, wenn auch nicht gerade naturwiſſenſchaftlichen, ſo doch Naturſtudien nicht abgeneigten Sinnes zu rechtfertigen und fie als harmlos und von nur parti— culärer Bedeutung hinzuſtellen. Die an ſich zuweilen reizvollen, poetiſchen Naturſchil— derungen, die ſich bei Vätern, wie dem rhetoriſch-ſchwülſtigen Ambroſius oder dem viel fabulirenden Baſilius, finden, und auf die [don Humboldt im Kosmos hingewieſen hat, ſollte man aber nicht als Beweis für die objektive Naturbegeiſterung ihrer Urheber anführen; denn abgeſehen dar von, daß ihre Zahl nur gering iſt; und abgeſehen davon, daß trotz derſelben Ba— ſilius z. B. ſeiner Abneigung gegen die mathematiſch-phyſikaliſchen Studien der heid— niſchen Philoſophen den ſtärkſten Ausdruck verleiht — laufen ſie allemal auf eine rein moraliſch-teleologiſche oder auf eine tropolo- giſche oder typologiſche Deutung der Natur hinaus, die für den Kanzelredner und Bibel— ausleger nützlich, aber mit wahrer objek— tiver Naturbetrachtung im Sinne wiſſen— ſchaftlicher Forſchung gar nichts zu thun Ein Beiſpiel für alle möge uns hat. Ambroſius hier liefern: „Von Wolken Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. verhüllt, pflegt der Himmel ſtets Empfind- ungen der Betrübniß, ja des Grauens zu wecken, gleichwie die von Regengüſſen be— netzte Erde läſtig wird, die von Sturm— winden erregten Gewäſſer des Meeres aber mit Schrecken erfüllen. Wundervoll iſt der Anblick der Natur; doch was wäre ſie ohne Licht, ohne lindernde Wärme? Nimm der Erde die Sonne, nimm dem Himmel die Geſtirne, und Alles ſiehſt Du von Finſter— niß ſtarren. Solcher Art war jene Finfter- niß, bevor der Herr ſein Licht in dieſe Welt herein leuchten ließ“ (a. a. O. S. 228). Die Natur wird nie um ihrer ſelbſt willen, ſondern nur ſo weit in Betracht gezogen, als die Güte, Macht und Weis— heit ihres Schöpfers aus ihr hervor leuchtet. Das „Buch der Creaturen“, wie der be— liebte Ausdruck lautet, gilt nur, inſoweit es als Commentar zum „Buche der Offen⸗ barung“ dienen kann. Nur inſofern Him⸗ mel, Erde und Meer „eine große und herr— liche Schrift Gottes ſind, wodurch dieſer wie durch eine ſtumme Zeichenſprache ver— kündigt werde“, verweiſt Gregor von Nazianz auf ſie; auch für Baſilius, dem die Geſchöpfe Gottes „Buchſtaben ſind, in denen wir die treueſte und weiſeſte Für— ſorge des Schöpfers für die Seinen leſen“, dem die ganze Natur eine „Schule der Gotteserkenntniß und Lehranſtalt ver— nünftiger Seelen“ iſt, bildet allein das Ver— hältniß zum Schöpfer das Werthvolle in der Naturbetrachtung. Die ganze Welt iſt nur um des Menſchen willen zum Zweck ſeiner Erlöſung aus dem Nichts gerufen. Anthropocentriſche und teleologiſche Betrachtungsweiſe bilden den Inhalt der myſtiſchen Naturſpeculation. Aus dem Daſein der Welt wird auf den all— mächtigen, aus ihrer zweckmäßigen Einricht— ung auf den weiſen und gütigen Schöpfer Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. geſchloſſen. Wenn ſolche teleologiſche Be— trachtung bei einem Cyrill von Jeru— ſalem (7 386) noch relativ maßvoll auf— tritt, obwohl man an das Schiller— Goethe'ſche Epigramm vom Korkbaum und Stöpſel auch bei ihm erinnert wird, wenn er das Waſſer preiſt, weil es in den Oelbäumen als Oel der Menſchen Antlitz glänzen macht, ſo erreicht dieſe Manier oft genug den höchſtmöglichen Gipfel der Ab— ſurdität, wie wenn z. B. Ambroſius über das Ohrenſchmalz ſagt: „Selbſt der Schmutz der Ohren iſt nicht ohne Nutzen, denn derſelbe bindet die gehörte Stimme gleichſam feſt, ſo daß das Gedächtniß und die Annehmlichkeit des Gehörten beſſer haften“ (a. a. O. S. 109). Da kann es nun allerdings nicht Wun⸗ der nehmen, wenn nichtchriſtliche Skeptiker und Epikureer dieſer Teleologie mit beißen— dem Spotte Einwürfe machen wie die, warum denn die winzige Mücke zu ihren Flügeln hinzu auch noch ſechs Füße habe, während der Elephant deren nur vier be— ſitze, oder wenn der grimmige Feind des Chriſtenthums, Celſus, Juden und Chri— ſten einer Froſchverſammlung vergleicht, die an einer Pfütze ſitzt und im lauten Chore verkündet: „Alles offenbart uns zuerſt Gott und kündigt es vorher an; die ganze Welt und den himmlichen Lauf verlaſſend, wohnt er allein in unſerer Mitte, ſendet uns allein Herolde, und wird nicht müde, nach uns zu ſchicken“ .... ihnen wie bei den Würmern, welche ſpre— chen: es iſt ein Gott! Dann, nach ihm, kommen wir, die wir von ihm geworden ſind, durchaus Gott ähnlich; und uns iſt alles unterworfen, Erde, Waſſer, Luft und | zug giebt — dafür laſſen ſich eine Fülle Geſtirne; unſertwegen iſt Alles und uns zu dienen geordnet“. . .. „Für die Men⸗ ſchen, ſagt man, habe Gott alles gemacht; „Es iſt bei drien (F 265) bekämpft energiſch die ato- miſtiſche Kosmogonie der Epikureer. 1 345 aber aus der Naturkunde und dem Scharf— ſinn, welchen die Thiere an den Tag legen, kann man zeigen, daß nicht in höherem Grade der Menſchen als der unvernünftigen Thiere wegen Alles geworden iſt. Donner und Blitz und Regen ſind nicht Werke Gottes; wenn aber einer auch zugäbe, daß ſie dies ſind, ſo geſchehen ſie nicht in höherem Grade uns Menſchen zum Nutzen und zur Nahr- ung, als den Pflanzen, Bäumen, Gräſern und Diſteln. Und ſagſt Du etwa: dieſe letzteren wüchſen dem Menſchen: wie magſt Du ſagen, ſie wüchſen mehr dem Menſchen als den wildeſten unvernünftigen Thieren? . . . Führſt Du aber das Wort des Eu- ripides an: Es muß die Sonn' und Nacht den Menſchen dienen, ſo frage ich, warum mehr uns als den Ameiſen und Fliegen?“ Und der folgende Ausſpruch: Sollte man nicht meinen, daß er von heute und nicht ſchon von einem durch Lactanz beſtrittenen Gegner ſei? „Nichts Provi— dentielles iſt in der Erzeugung des thieri— ſchen Lebens wahrzunehmen; weder ſind die Augen zum Zweck des Sehens erſchaffen, noch die Ohren zum Hören, die Zunge zum Sprechen oder die Füße zum Gehen; alle dieſe Theile ſind viel eher geworden, als das Reden, Hören, Sehen oder Gehen ſtattfand“ (a. a. O. S. 110 flgde.). Selbſtverſtändlich iſt dieſe teleologiſche Anſchauungsweiſe die erbittertſte Feindin jeder mechaniſch erklärenden Theorie, und nicht blos Dionyſius von Alexan— Daß man, wo die Wahl zwiſchen einer über— natürlichen und natürlichen Wahl freiſteht, der am meiſten magiſch-myſtiſchen den Vor— von Beiſpielen beſonders aus den Geneſis— Erklärungen der ſyriſchen Schule vorführen. 346 Jeden Zweifel an die Möglichkeit einer noch ſo gewagten Vorſtellung beſeitigt die ein— fache Berufung auf die Allmacht Gottes. Der die Waſſer des Jordan und die Wogen des rothen Meeres aufgeſtaut ſtehen bleiben hieß, vermag auch „die Waſſer über der Veſte“ im Schweben zu erhalten, bei wel— cher Erklärung Beda nicht minder als Am broſius ſich völlig beruhigt fühlen. Wehe dem, der wie Theodor von Mopſueſtia durch ſein Bedenken hin— ſichtlich der Möglichkeit einer Ueberfluthung der geſammten Erdoberfläche die Noachiſche Fluth für ein nur locales Ereigniß zu er— klären wagte! Vor allem der Menſch wird aus dem Zuſammenhang mit der Natur jo viel wie möglich losgelöſt, und felbft- | verſtändlich verwirft dieſe rein ſpiritualiſtiſche Anthropologie hinſichtlich des Urſprunges der Seele die naturaliſtiſche Theorie des Generationismus oder Traducia- nismus zu Gunſten ihrer creatiani- ſtiſchen Lehre. Aber auch alle übrigen Naturweſen werden aus der Kette des na— türlichen Cauſalnexus herausgeriſſen, ſo weit es nur geht. Theologiſche Geſichtspunkte treten an die Stelle der phyſikaliſchen, und ſelbſt da, wo ein relativ großer, natur— wiſſenſchaftlich-nüchterner Sinn herrſcht, wie bei Johannes Philoponus, drängen dogmatiſche Grundſätze die naturaliſtiſche Auffaſſung oft genug zurück. Typisch drückt ſich dieſes ſehr gut darin aus, daß Jo— hannes Philoponus den Ariſtote— les, „den Erſten der Phyſiker“, tief unter Moſes ſtellt, von dem der Stagirit wie Platon einen Theil ſeiner Weisheit ge— nommen habe. Die Sterne betrachtet O ri— gines als erlöſungsbedürftige und dazu fähige, engelartige Weſen, und wenn er auch auf der einen Seite den aſtrologiſchen Aberglauben bekämpft, begründet und be— Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. fördert er ihn wieder auf der anderen. In den Vulkanen kommt nach Tertullian das im Innern der Erde kochende Höllen— feuer unmittelbar zum Ausbruch, und mit Entrüſtung verwirft Kosmas des Ari— ſtoteles naturaliſtiſche Zurückführung der Erdbeben auf Winde und will in ihnen direkte Wirkungen der Hand Gottes ſehen. Ariſtarch's Heliocentrismus wird ver— worfen; die ſeit Eudoxus und Ari— ſtoteles angenommene Kugelgeſtalt der Erde trifft auf viele Zweifler. Wenn auch Clemens und Origines und ebenſo ſpäter Origines ſich zu ihr bekennen und Auguſtin die Denkbarkeit derſelben ein— räumt, behauptet Lactanz einfach die phyſiſche Unmöglichkeit derſelben: auch die ſyriſchen Kirchenväter des 4. und 5. Jahr— hunderts halten die Scheibengeſtalt feſt, wo— gegen Kosmas die Erde als viereckig und zwar oblong vorſtellt. Die Annahme von Antipoden wird, wie aber häufig auch ſchon im klaſſiſchen Alterthum, in das Bereich der „Altweibermärchen“ verwieſen. Mit jedem folgenden Jahrhundert wird die Fabelei wirrer und üppiger; rieſengroß wächſt endlich der Unſinn an. Worin ſchließlich die naturwiſſenſchaftlichen Kennt niſſe beſtehen, die dann unbeſehen und un— beanſtandet in die Sammelwerke der Thier— und Pflanzenbücher des Mittelalters (die ſogen. Physiologi mit ihren beiden Unter— arten: dem Bestiarius und dem Hortus sanitatis, dem Thier- und Kräuterbuch) übergehen, davon möge nur dies noch eine Anſchauung gewähren: Der dem antioche— niſchen Biſchof Euſtathius beigelegte Hexaemeron-Commentar erzählt von der furchtbaren Aspidochelone oder Rieſenſchild— kröte, auf deren felsklippenartig rauhem, über die Meeresfläche emporragendem Rücken die Schiffe ſcheitern, deren Gebrüll die Meer: bewohner mit Entſetzen füllt, in deren weitem Rachen zahlloſe Fiſche ihren Tod finden, wenn ſie ſich, bethört von dem dar— aus hervorſtrömenden Wohlgeruch, in ihn hineinſtürzen, und in demſelben Stil ſind die „Jagdgeſchichten“ vom Pelikan, vom Phönix, von Drachen und Greifen, vom Wunderbaum Peridexion u. ſ. w. gehalten. Der für ſeine Zeit tonangebende Polyhiſtor und Encyklopädiker Iſidorus Hispa— lenſis (7 636) behauptet, es gebe genau 144 (12 >< 12) Namen von Waſſerthieren; Bienen entſtünden aus faulendem Kalbfleiſch, Scarabäen aus Pferdefleiſch, Heuſchrecken aus Maulthieren, Scorpione aus Krebſen; Menſchen könnten ſich in Schweine, Währ- wölfe, Eulen und andere Vögel verwandeln. Lichtblicke im mächtigen Chaos dieſes Unſinns ſind ſo ſelten und auch von ſo geringer Intenſität, daß ſie ohne Wirkung ſchnell verſchwinden. Severianus wendet ſich gegen die, welche ſagen: „Nicht Phy— ſiologie wollen wir lernen, ſondern Theo— logie.“ Gregor von Nyſſa bemüht ſich, die Geſtirnſchöpfung am vierten Tage in einer an Anaximenes anklingenden Weiſe annähernd naturgeſetzlich vermittelt darzu— ſtellen. Beſonders aber iſt es der von Zöckler als der „irländiſche Auguſtin“ Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. 347 bezeichnete Theologe aus der 2. Hälfte des 7. Jahrhunderts, der ſchon den induk— tiv⸗empiriſchen Sinn der Bewohner der britiſchen Inſeln zeigt und vielleicht der Rogerus Baco ſeines Jahrhunderts ge— nannt zu werden verdient. Er erklärt ſich z. B. die Uebereinſtimmung der Thierwelt Britanniens mit der des Feſtlandes aus der Annahme, die britiſchen Inſeln hätten früher mit dem Continent zuſammengehan— gen und ſeien erſt allmählich durch die Fluthen des Meeres losgetrennt u. dgl. m.“) Die Frage, ob ſich bei den Kirchen— vätern irgend welche wahrhafte Anklänge an moderne, darwiniſtiſche Theorien vor— finden, iſt entſchieden mit Nein zu beant— worten. Mögen fie nun den moſaiſchen Bericht im buchſtäblichen Sinne nehmen, oder ihn im Intereſſe der zeitloſen Schöpf— ung Philo's umdeuten — in beiden Fällen iſt jede wirkliche Entwickelung grundſätzlich ausgeſchloſſen, und es hieße gewaltſam ver- fahren, wollte man entwickelungsgeſchichtliche Gedanken von heute in ihren paradiſi— ſchen Monogenismus oder in ihre ſogen. Urzeugung (vergl. oben Euſtathius' Ent- ſtehung der Bienen aus Kalbfleiſch u. ſ. w.) hineinpreſſen. ) Kosmos IV. S. 78—79. Ueber die Atammverwandtſchaft zwilchen Adirmqnallen und Rammquallen, begründet durch eine neue Uebergangs form zwiſchen beiden. Von Ernſt Haeckel. N heutigen Zoologie der dichte TOR Schleier gelüftet wird, welcher ungsgeſchichte der meiſten niederen Thiere bedeckte, deſto tiefere Einblicke gewinnen wir in die nahe Stammverwandtſchaft von Thiergruppen, welche bisher für ſehr ver— ſchiedene und ſcharf getrennte galten. Be— ſonders wichtig aber wird für dieſe phylo— genetiſchen Erkenntniſſe die Entdeckung neuer Zwiſchenformen oder Uebergangs— ſtufen, welche die bisher beſtehende Kluft zwiſchen ſolchen getrennten Thiergruppen überbrücken. Eine neue und ſehr merk— würdige derartige Uebergangsform iſt die nachſtehend beſchriebene Ctenaria, ein Mittelding zwiſchen den Schirmquallen und Kammquallen. Die formenreichen Thierklaſſen, die jetzt gewöhnlich in der Hauptklaſſe der Neſſel— thiere, Acalephen oder Cnidarien — auch Zoophyten, Coelenteraten oder e mehr durch die bewunder⸗ ungswürdigen Fortſchritte der bis vor Kurzem die Entwidel- Coelenterien im engeren Sinne — zu— ſammengefaßt werden, ſtimmen unter ſich in ſo vielen wichtigen morphologiſchen Eigen— ſchaften überein, daß ſie im Sinne der heutigen Entwickelungslehre als ein einheit— licher Stamm (Phylum) angeſehen und von einer gemeinſamen urſprünglichen Stammform (Atavus) abgeleitet werden können. Sehr leicht und ſicher erſcheint dieſe Ableitung für diejenigen Nefjelthiere, welche jetzt gewöhnlich als „Hydromeduſen“ vereinigt werden. Der innige Zuſammen— hang zwiſchen den Hydropolypen und den Schirmquallen oder Meduſen, welcher durch deren Generationswechſel bedingt iſt, ſowie die nahe Beziehung zwiſchen dieſen beiden Klaſſen und den Staatsquallen oder Si— phonophoren läßt wohl keinen Zweifel übrig, daß alle dieſe „Hydromeduſen“ gemeinſamen Urſprungs und auf einen einfachſten, unſerem Süßwaſſer-Polypen, der Hydra, ähnlichen Polypen als gemeinſchaftliche Stammform zurückzuführen ſind. Ebenſo können auch die einfachſten Formen der Corallen (z. B. Cornularia) unmittelbar von derſelben Stammform abgeleitet werden. Dagegen war dies bisher nicht möglich bei der eigenthümlichen Klaſſe der Kammquallen oder Ctenophoren, welche unſtreitig bis auf den heutigen Tag unter allen Neſſelthieren die weitaus iſolirteſte Stellung einnahmen. Alle neueren Zoologen haben bei Beſprech— ung dieſer merkwürdigen Thierklaſſe auf eine Ableitung derſelben von anderen Neſſel— Fig. 1. Eine einfache Schirmqualle oder Meduſe (Thaumantias). A von der unteren Fläche, B im ſenkrechten Durchſchnitt. Der Körper beſteht aus vier congruenten Quadranten. In der Mitte des concav-convexen Schirmes hängt an deſſen Unterfläche ein kleines Magenrohr mit vier— zipfeligem Munde. Vom Magen gehen vier Strahlgefäße oder Radial-Kanäle (an denen die faltigen, bandförmigen Geſchlechtsorgane hängen) zum Schirmrande, wo ſie ſich in einem Ringkanal vereinigen. Zahlreiche kurze Ten— takeln hängen vom Schirmrande herab. Im Gegenſatze zu dieſer weitverbreiteten „Generellen Morphologie“ (Band II, S. LXI) die phylogenetiſche Hypotheſe auf— geſtellt, daß die Ctenophoren vielmehr den Meduſen nächſt verwandt ſind und „einen einſeitigen und in einer einzigen Richtung ſehr hoch entwickelten Ausläufer Kosmos, III. Jahrg. Heft 5. Haeckel, Ueber die Stammverwandtſchaft zwiſchen Schirmquallen und Kammquallen. 349 und durch gewichtige Autoritäten geftügten | Anſchauung habe ich ſchon 1866 in der der Hydromeduſen bilden, der fi zu | thieren entweder überhaupt verzichtet, oder dieſen Anſchluß nur in der Richtung der Corallen geſucht. Ihren präciſeſten Aus— druck hat dieſe Anſicht darin gefunden, daß jetzt ſehr häufig die beiden Klaſſen der Ctenophoren und Corallen als Aktino— zoen zuſammengefaßt und den geſammten übrigen, als Hydrozoen vereinigten, Neſſelthieren gegenübergeſtellt werden. Fig. 2. Eine einfache Kammqualle oder Ctenophore (Cydippe). A von der Seite, B von der unteren Fläche. In der Außenfläche des Schirmes (der Exum— brella) ſieht man acht radiale Flimmer-Kämme, in der Mitte das langgeſtreckte Magenrohr („Schirmhöhle“), darüber die kurze „Trichter— höhle“ („Scheitelhöhle“), von welcher vier Paar adradiale Kanäle ausgehen. Auf beiden Seiten (rechts und links) treten aus den beiden „Senkfäden-Taſchen“ die beiden Tentakeln oder „Senkfäden“ vor (abgeſchnitten). dieſen ähnlich verhält, wie die Vögel zu den Reptilien.“ Neuere vergleichende Unter— ſuchungen über Meduſen und Ctenophoren haben mich in dieſer Anſicht lediglich be— ſtärkt; aber erſt kürzlich iſt mir dieſelbe zur Gewißheit geworden durch die genaue Unterſuchung mehrerer neuer Anthome— duſen aus der Familie der Cladone— miden; und unter dieſen iſt es namentlich eine neue, höchſt intereſſante, pacifiſche Form, 350 Haeckel, Ueber die Stammverwandtſchaft zwiſchen Schirmquallen und Kammquallen. | Ctenaria etenophora, welche ich als eine [verſpare ich mir auf eine ſpätere Arbeit. unmittelbare Uebergangsform von Hier will ich mich auf eine kurze Charak— Gemmaria-ähnlichen Anthomeduſen zu Cy- | teriftif der merkwürdigen Zwiſchenform und dippe-ähnlichen Ctenophoren auffaßen muß. auf eine überſichtliche Zuſammenſtellung der Die ausführliche Beſchreibung und Abbild— | Hauptgründe beſchränken, welche mich be- ung derſelben iſt in meinem demnächſt ftimmen, die Ctenophoren phylo— erſcheinenden „Syſtem der Meduſen“ (mit genetiſch von der Ordnung der 40 Tafeln) enthalten. Auch die eingehende | Anthomeduſen und ſpeciell von Erörterung und Begründung der eben der Familie der Cladonemiden angedeuteten Verwandtſchafts- Beziehungen abzuleiten. Fig. 3. Ctenaria ctenophora Haeckel. (Diſſonemale Anthomeduſe aus der Cladonemiden -Familie.) A Anſicht von der Seite, mit ausgeſtreckten Tentakeln. B Anſicht von oben, vom Alboral- pol, ohne Tentakeln; in der linken Hälfte der Figur iſt das Mikroſkop auf die Exumbrella äußere Schirmfläche), in der rechten Hälfte hingegen auf die Subumbrella (innere Schirm— fläche) eingeſtellt. — a Die acht adradialen, flimmernden Neſſelrippen der Erumbrella. b Gallerte des Schirmes. e Ringsmuskeln der Subumbrella. d Längsmuskeln der Sub⸗ umbrella. e Magenhöhle. k Die ſechszehn Mundgriffel (geknöpfte Mundtentakeln). g Die vier perradialen Geſchlechtsdrüſen (oder Gonaden) in der Magenwand. h Die vier per- radialen Hauptkanäle. i Die acht adradialen Gabeläſte derſelben. k Ringkanal am Schirm⸗ rande. 1 Velum. m Die beiden lateralen Tentakeltaſchen (blinde Neſſelſchläuche in der Schirm -Gallerte). n Die beiden lateralen, halbgefiederten Tentakeln. o Die Scheitelhöhle (Trichter) oberhalb des Magens. | Haeckel, Ueber die Stammverwandtſchaft zwiſchen Schirmquallen und Kammquallen. 351 I. Kurze Veſchreibung der Ctenaria etenophora (Craspedote aus der Ordnung der Anthomeduſen, Familie der Cladonemiden). Der Gallertſchirm oder die Umbrella iſt eiförmig, etwas höher als breit, in der unteren (oder oralen) Hälfte breiter, aber gegen die Mündung etwas verengt. Auf der Exumbrella (oder Außenfläche des Gallert— ſchirms) ſind acht adradiale Meridian— Rippen ſichtbar (a), welche vom Apical-Pol (oder vom Centrum der Aboral-Wölbung) gegen den Schimrand nach abwärts ziehen und vorzugsweiſe aus Reihen von Neſſelzellen (vielleicht auch von Flimmerzellen?) beſtehen; ſie ſind homolog den acht adradialen „Flimmerrippen“ der Ctenophoren. Die Subumbrella oder die unter Schirmfläche (e) zeigt eine ſchwach entwickelte Muskulatur und geht unten in eine ſchmale Randhaut (velum) über ()). Der Magen (c) iſt klein, faſt kugelig, und im Grunde der Schirmhöhle durch eine Einſchnürung von einer faſt ebenſo großen, birnförmigen, centralen Scheitelhöhle (o) getrennt welche das obere Drittel des Gallertſchirms einnimmt. Dieſe Scheitelhöhle oder Apical— höhle iſt einerſeits homolog oder gleich— werthig dem „Trichter“ der Ctenophoren, anderſeits der „Bruthöhle“, welche bei Eleutheria und Pteronema oberhalb der Magenhöhle in der Schirmgallerte liegt. Der Mund der Ctenaria iſt von 16 kurzen, einfachen Mundgriffeln (oder „ge knöpften“ Mund-Tentakeln) umgeben (8). Vier einfache, halbkugelige Geſchlechtsdrüſen liegen in der Magenwand (8). Aus der Einſchnürung Scheitelhöhle entſpringen vier kurze perra— diale Kanäle ch), welche ſich alsbald gabelig zwiſchen Magenhöhle und theilen und nunmehr als acht ad radiale Kanäle () gegen den Schirmrand verlaufen (wie bei Cladonema und wie bei den Ctenophoren). Dieſe acht Kanäle ſind an den Rändern mit drüſigen Ausbuchtungen beſetzt und vereinigen ſich am Schirmrande in einem Ringkanale (k). Von dieſem gehen nur zwei gegenſtändige, perra— diale Tentakeln aus, lange, hohle Röhren, welche halbgefiedert oder mit einer Reihe von Seitenfäden beſetzt ſind, gleich den beiden „Senkfäden“ der Ctenophoren (n). Dieſelben find vielleicht (2) zurückziehbar in zwei gegenſtändige, perradiale, ſchlauch— förmige Höhlungen, welche von ihrer Baſis entſpringen, in der Schirmgallerte aufwärts ſteigen, blind enden und von Neſſelzellen ausgekleidet werden (m). Dieſe beiden „Tentakel⸗Taſchen“ find homolog den ganz gleichen exumbralen „Neſſelſchläuchen“ der Gemmaria und den beiden „Senkfäden— Taſchen“ der Ctenophoren. Die Cladonemide einigt demnach in ſich eine Anzahl von eigenthümlichen Merkmalen, von denen keines neu iſt, die aber bisher nur als auf verſchiedene Anthomeduſen-Gattungen vertheilt, bekannt waren. Insbeſondere beſitzt fie gleichzeitig die acht adradialen Neſſelrippen vom Eetopleura, die Scheitel— höhle von Eleutheria, die Magenbildung von Cytaeis, die Kanalbildung von Clado- nema und die beiden gegenſtändigen ge— fiederten Tentakeln und Tentakel-Taſchen von Gemmaria. Ctenaria per II. Homologien oder gemeinſame morphologiſche Eigenſchaften der Ctenophoren und Meduſen. Generelle Homologie der Die Ctenophoren-Perſon (oder 1 Perſon. \ Er 352 Haeckel, Ueber die Stammverwandtſchaft zwiſchen Schirmquallen und Kammquallen. das entwickelte „Individuum dritter Ord- nung“) iſt im Allgemeinen homolog der Meduſen-Perſon, und ſpeziell der Perſon derjenigen diſſonemalen Craspedoten, welche nur zwei gegenſtändige perradiale Tentakeln beſitzen (z. B. Dinema unter den Codoniden, Stomotoca unter den Tiariden, Gemmaria unter den Cladonemiden, Sa— phenia unter den Eucopiden u. ſ. w.). 2) Die geometriſche Grundform des Körpers iſt demnach bei allen Cteno— phoren, wie bei den letzgenannten diſſone— malen Meduſen, die Rhomben-Pyra— mide oder die „vierſeitige amphi- thecte Pyramide,“ d. h. eine gerade Pyramide, deren Grundfläche ein Rhombus iſt (Generelle Morphologie, Bd. J, S. 488, Taf. 1, Fig. 10.) Der Körper iſt demnach weder zweiſtrahlig, noch achtſtrahlig, ſondern vielmehr vierſtrahlig und beſteht aus vier Parameren und acht Antimeren. Von den vier Parameren (oder Quadranten) ſind je zwei benachbarte ſymmetriſch gleich, dagegen je zwei gegenſtändige congruent. Die drei Hauptaxen des Körpers, welche auf einander ſenkrecht ſtehen und nach denen die relative Lage aller Theile zu beſtimmen iſt, ſind demnach unter ſich ungleich; zwei davon ſind gleichpolig, eine ungleichpolig. a) Die verticale Hauptaxe oder Längs— are (meiſtens die größte der drei Richtaxen) iſt ungleichpolig; in ihrem Aboraltheil liegt der „Trichter“ der Ctenophoren und die homologe Apicalhöhle von Ctenaria und Eleutheria; im Oraltheile liegt die Mund- öffnung. b) Die Sagittal-Axe oder Dorſo— ventral-Axe iſt von allen drei Richtaxen am wenigſten entwickelt; in ihr liegen bei 17 den Ctenophoren die beiden „Trichtergefäße“ oder Gabeläſte der Trichterhöhle, bei den diſſonemalen Meduſen hingegen die beiden 8 perradialen Kanäle, welche an ihren Enden keine Tentakeln tragen. c) Die Lateral-Axe oder Trans- verſal-Axe wird bei den Ctenophoren durch die beiden gegenſtändigen, halbgefiederten „Senkfäden und Senkfäden-Taſchen“ be— ſtimmt, ganz ebenſo bei den diſſonemalen Cladonemiden Ctenaria und Gemmaria, deren „Senkfäden“ gewöhnlich als Tentakeln bezeichnet werden. Wie bei den Meduſen, ſo ſind auch bei den Ctenophoren alle Or— gane, welche in den beiden auf einander ſenkrechten Kreuzaxen (Sagittal- und Lateral— Axe) liegen, als perradiale zu bezeichnen (Strahlen erſter Ordnung); hingegen alle Organe, welche in der Mitte zwiſchen Sagittal— und Lateral-Axe liegen, als interradiale (Strahlen zweiter Ordnung); und endlich ſolche Organe, welche in der Mitte zwiſchen perradialen und interradialen liegen, als adradiale (Strahlen dritter Ordnung). 3) Das Gaſtrokanal-Syſtem der Ctenophoren tft homolog oder morphologiſch gleichwerthig dem— jenigen der Dendronemiden, d. h. derjenigen Cladonemiden, welche vier gabel— ſpaltige Radial-Kanäle und mithin acht adradiale Schirm-Kanäle beſitzen (Ctenaria, Cladonema, Dendronema.) 4) Die ſogenannte, Magenhöhle“ der Ctenophoren iſt homolog der Schir mhöhle der Meduſen, und ſpeziell derjenigen Craspedoten, deren Magen rückgebildet iſt (z. B. Staurophora, Stau- rostoma). Mithin entſpricht die „innere Magenfläche“ der erſteren ganz der „Sub— umbrella“ der letzteren. Ferner entſpricht die ſogenannte Mundöffnung der Cteno— phoren vollkommen der Schirmöffnung der Meduſen, und der „Mundrand“ der erſteren dem „Schirmrand“ der letzteren. (Vielleicht können ſogar die „Mundlappen“ | vieler Ctenophoren einem Craspedoten-Ve— lum verglichen werden, das in zwei gegen— ſtändige Lappen geſpalten iſt.) 5) Die ſogenannte Trichterhöhle der Ctenophoren iſt homolog der Scheitelhöhle einiger Meduſen (Ctenaria, Eleutheria, Pteronema). Dieſe Höhle iſt der erweiterte und umgebildete Reſt des „Stielkanals“, durch welchen urſprünglich der Magen der craspedoten Meduſe mit dem Magen ihrer hydroiden Polypen-Amme zuſammenhing; auch bei vielen Codoniden und einigen andern An— thomeduſen bleibt ein ſolcher Stielkanal — oberhalb der Magenhöhle — als rudi— mentäres Organ zeitlebens beſtehen. Bei Eleutheria und Pteronema erweitert er ſich zu einer geräumigen Scheitelhöhle, welche als Bruthöhle dient und die in der Magen— wand gebildeten Eier bis zur Gaſtrula— Bildung beherbergt. Urſprünglich kann man Scheitelhöhle und Magenhöhle der jungen Craſpedote zuſammengenommen als einen einfachen „Urdarm“ auffaſſen lentſprechend dem Urdarm der Gaſtrula). Erſt nach— träglich differenzirt ſich dieſer Urdarm in zwei Hauptabſchnitte, die obere Scheitel— höhle und das untere Magenrohr, erſtere eingeſchloſſen in die Schirm-Gallerte, letzteres frei in die Schirmhöhle vorſpringend. Das freie Magenrohr wird rückgebildet bei ſämmtlichen Ctenophoren, einzelnen Cras— pedoten (Staurophora; Staurostoma) und vielen Acraspeden. Die Scheitelhöhle wird bei allen Ctenophoren zum „Trichter“, bei Eleutheria und Pteronema zur Bruthöhle, bleibt bei vielen Craſpedoteu als rudimen— tärer „Stielkanal“ und bei vielen Acras— peden als „Centralhöhle“ oder „eigentliche Magenhöhle“ beſtehen. 6) Der Trichtermund der Cteno— phoren, oder die Oeffnung, durch welche Haeckel, Ueber die Stammverwandtſchaft zwiſchen Schirmquallen und Kammquallen. 353 die Trichterhöhle mit der ſogenannten Magen— höhle, der urſprünglichen Schirmhöhle, com— munizirt, iſt homolog der Mundöffnung der einfachmündigen Meduſen und bildet die Grenze zwiſchen Ektoderm und Ento— derm. Hingegen ſind die beiden gegen— ſtändigen (ſagittalen) „Trichter-Kanäle“ der Ctenophoren, welche aus der Gabelung des oberen Trichter-Endes hervorgehen, zu beurtheilen als ſecundär entſtandene Gabeläſte des oberſten Stücks vom einfachen Stiel- Kanal vieler Craſpedoten. 7) Die acht adradialen Kanäle, welche paarweiſe aus vier perradialen kurzen Stämmen entſpringen, find bei den Cten o— phoren und einigen Anthomeduſen (Ctenaria, Cladonema) vollkommen ho— molog. Der einzige anſcheinend weſentliche Unterſchied beſteht darin, daß dieſelben bei erſteren oberflächlich, bei letzteren tiefer lie— gend, im Gallert-Schirm verlaufen; dieſe Differenz läßt ſich jedoch leicht durch das beträchtliche Dickenwachsthum des Gallert— ſchirms bei den Ctenophoren erklären. In beiden Fällen liegen die Gefäße eigentlich innerhalb der Schirmgallerte, im erſten Falle der äußeren, im letzteren der inneren Fläche des Schirms, bis zur Berührung genähert. Die paarweiſe Vereinigung der urſprüng— lichen vier perradialen Stämme, die bei den Ctenophoren als zwei gegenſtändige Haupt— ſtämme aus der Trichterhöhle entſpringen, muß als ein abgeleitetes Verhältniß ange— ſehen werden, das mit der ſtärkeren zwei— ſeitigen Differenzirung des Körpers zuſammen— hängt. 8) Die Fiederäſte der Kanäle, in welchen ſich die Geſchlechtsproducte der Ctenophoren entwickeln, finden ſich mit der gleichen morphologiſchen und phyſio— logiſchen Bedeutung bei einigen Meduſen wieder (Gonionemus, Ptychogena). Eben 354 ſolche Ausbuchtungen kommen auch bei einigen anderen Schirmquallen vor, jedoch nur als drüſige Taſchen, ohne Geſchlechts-Funktion (am meiſten entwickelt bei Catablema, ans gedeutet bei Ctenaria). | 9) Die beiden Senkfäden-Taſchen der Ctenophoren ſind homolog den (OCtenaria, Eetopleura). beiden Tentakel-Taſchen einiger Cladonemiden (Ötenaria, Gemmaria). In beiden Fällen liegen dieſe beiden gegen— ſtändigen Taſchen in der Lateral-Ebene und gehen von der Tentakel-Baſis eine Strecke weit aufwärts in die Schirm-Gallerte hinein. Gemmaria hat außerdem noch zwei ſolche blinde Taſchen (oder „Neſſelhöhlen“ der Exumbrella) in der Sagittal-Ebene, denen die Tentakeln fehlen. 10) Die beiden lateralen Senk— fäden vieler Ctenophoren ſind homolog den beiden lateralen Ten- takeln mehrerer diſſonemalen An thomeduſen (Dinema, Stomotoca, Cubo- gaster, Saphenia etc.); in beiden Fällen liegen ſie gegenſtändig in einer perradialen Ebene. Halbgefiedert (oder mit einer Reihe Nebenfäden beſetzt) wie bei vielen Ctenophoren (Cydippe, Eschscholtzia etc.) ſind dieſelben auch bei einigen Cladonemiden (Gemmaria, Ctenaria). oder Fiederäſte der letzteren find ebenſo gebaut, wie die homologen Organe der erſteren. 11) Die ſogenannten „Greif— zellen“ an den Senkfäden der Haeckel, Ueber die Stammverwandtſchaft zwiſchen Schirmquallen und Kammquallen. von Craspedoten, an den Magententakeln von Acraspeden ꝛc. 12) Die acht adradialen Flim— merrippen in der Exumbrella der Ctenophoren ſind homolog den acht adradialen Neſſelrippen in der Exumbrella einiger Anthomeduſen In beiden Fällen verlaufen die acht Rippen als adradiale Meridiane vom Scheitel gegen den Schirmrand. Auch Flimmer-Epithel ſcheint mit dem Neſſel-Epithel einiger dieſer Cras— pedoten gemiſcht zu ſein. III. Ontogenie und Phylogenie der Ctenophoren. Die Ontogenie oder Keimes— geſchichte der Ctenophoren verläuft in allen bisher unterſuchten Gattungen in weſent— lich derſelben Form, und dieſe Form der Keim— ung muß als eine ſtark abgeänderte oder cenogenetiſche beurtheilt werden. In Folge vielfacher Abkürzung, Vereinfachung und Zuſammenziehung der Keimesgeſchichte, ſowie in Folge embryonaler Anpaſſungen, unter denen die Ausbildung eines Nahrz ungs dotters die wichtigſte ift, Die Nebenfüden | erſcheint die Ontogenie der Ctenophoren ſo ſehr abge— ändert, daß nur mit großer Vorſicht Schlüſſe Ctenophoren ſind homolog den Neſſelzellen an den Meduſen. Erſtere ſind nichts Anderes als Modificationen der letztern. Ganz gleiche Modificationen von Neſſelzellen, bisweilen von den „Greifzellen“ der Ctenophoren nicht zu unterſcheiden, finden ſich auch bei vielen Meduſen vor, z. B. an den Saugtentakeln Tentakeln der daraus auf die Phylogenie oder die | Stam mesgeſchichte zu ziehen ſind. Die Ctenophoren verhalten ſich in dieſer Beziehung ähnlich den Trachymeduſen und Narcomeduſen; während hingegen die Onto— genie der Leptomeduſen und Anthomeduſen größtentheils palingenetiſch oder ur— ſprünglich iſt und daher eine unmittel- bare Anwendung des biogenetiſchen Grund— geſetzes geſtattet. Bei dieſen letzteren ſchließen wir direkt und mit Sicherheit aus den ontogenetiſchen Thatſachen des heute noch fortbeſtehenden Generationswechſels, daß auch phylogenetiſch die Meduſen urſprünglich aus Hydropolypen ſich entwickelt haben. Bei den Trachymeduſen und Narcomeduſen hin— gegen kann dieſer Schluß nur indirekt und vergleichend mit Wahrſcheinlichkeit, keines- wegs aber mit überzeugender Sicherheit ge— wonnen werden; und daſſelbe gilt von den Ctenophoren. Die nahe Verwandtſchaft aber, welche ſich aus den oben angeſtellten Homologien zwiſchen den Ctenophoren und Anthomeduſen und ſpeciell den Cladone— miden ergiebt, macht es höchſt wahr— ſcheinlich, daß die Ctenophoren von dieſer letzteren Meduſen-Gruppe wirklich abſtammen, und daß mithin ihre früheren Vorfahren ebenfalls Hydropolypen aus der Tu- bularien-Gruppe waren. Die Ctenophoren-Klaſſe zeigt alfo ganz ähnliche phylogenetiſche Verhältniſſe, wie die Siphonophoren-Klaſſe. Auch für dieſe letzteren habe ich früher (in meiner „Entwickelungsgeſchichte der Siphonophoren,“ 1869) gezeigt, daß gewichtige Gründe indirekt für die Abſtammung derſelben von Hydro— polypen aus der Tubularien-Gruppe ſprechen. Wenn bei Sarsia siphonophora, Sarsia gemmifera und ähnlichen Sarſiaden oder Codoniden, deren langes, weit aus der Schirmhöhle vorragendes Magenrohr dicht mit vielen Meduſen-Knospen beſetzt iſt, Arbeitstheilung dieſer letzteren ein— treten würde, ſo könnte unmittelbar aus dem vorübergehenden Meduſen-Stock ein permanenter Siphonophoren-Stock entſtehen. Da aber jene Sarſiaden oder Codoniden nachweislich von Tubularia-Polypen abſtammen, ſo werden auch die Siphono— phoren, die von erſteren phylogenetiſch ab— zuleiten ſind, urſprünglich ebenfalls von derſelben Polypen-Gruppe der Tubularien (im weiteren Sinne) abſtammen. Haeckel, Ueber die Stammverwandtſchaft zwiſchen Schirmquallen und Kammquallen. 355 Die merkwürdigſte und wichtigſte onto— genetiſche Thatſache, welche uns die Keimesgeſchichte der Ctenophoren darbietet, iſt die, daß zuerſt von allen Organen der Trichter auftritt, und daß nachher aus dieſem vier perradiale Kanäle hervor— wachſen, die ſich erſt nachträglich gabeln und in die acht adradialen Kanäle auflöſen. Erſt ſpäter entſteht der ſogenannte Magen, d. h. die Schirmhöhle, die von Ektoderm ausgekleidet iſt. Dieſe bedeutungsvollen Thatſachen ſcheinen mir die werthvollſte Be— ſtätigung für die nachſtehend zuſammenge— ſtellten Homologien zu liefern. Unter den neuen Anpaſſungen, durch welche aus der Meduſen-Form die jüngere Ctenophoren-Form entſtand, iſt ohne Zweifel die wichtigſte die Veränderung der Art der Ortsbewegung. Die Schirmquallen oder Meduſen ſchwimmen ſtoßweiſe, indem ſie den Schirm regelmäßig zuſammenziehen und dadurch Waſſer aus der Schirmhöhle ausſtoßen, die ſanft glei— tende Schwimmbewegung der Ctenophoren wird hingegen durch die Schwingungen der kleinen Ruderplättchen bewerkſtelligt, welche die acht adradialen Flimmerkämme der äußeren Schirmfläche bedecken. Indem dieſe letztere Form der Schwimmbewegung an die Stelle der erſteren trat, wurde zugleich eine Anzahl anderer Veränderungen (nach den Geſetzen von der Wechſelbeziehung der Theile, oder der Correlation der Organe) eingeführt. Trotzdem aber blieben die wich— tigſten morphologiſchen Verhältniſſe durch die conſervative Macht der Vererbung erhalten. So liefert uns dieſe intereſſante Uebergangsform zwiſchen den beiden Klaſſen der Schirmquallen und Kammquallen einen neuen ſchlagenden Beweis für die Wahrheit der Entwickelungslehre. 2 1 356 Haeckel, Ueber die Stammverwandtſchaft zwiſchen Schirmquallen und Kammquallen. IV. Ueberſicht über die wichtigſten Homologien zwiſchen den Ctenophoren und Meduſen (ſpeciell zwiſchen Cydippe und Ctenaria). Ctenophoren | Meduſen, namentlich Cladouemiden Magenhöhle | Schirmhöhle Mundrand Schirmrand Innere Magenfläche Untere Schirmfläche Trichterhöhle Scheitelhöhle von Ctenaria, Eleutheria ac. Trichtermund Urſprünglicher einfacher Meduſenmund 4 urſprüngliche perradiale | 4 urſprüngliche perradiale Kanäle, bei der großen Mehr— | Kanäle (ſecundär paar— zahl der Meduſen permanent (in den Strahlen erſter weiſe vereinigt) Ordnung) S adradiale Kanäle, durch [8 adradiale Kanäle einiger Cladonemiden (Otenaria, Cla- Gabelung der 4 per— donema), durch Gabelung der 4 perradialen entſtanden radialen entſtanden (in den Strahlen dritter Ordnung) Fiederäſte der Radialkanäle, ]Fiederäſte der Radial-Kanäle bei einigen Craspedoten; bald zu Geſchlechtsdrüſen um— zu Geſchlechtsdrüſen umgebildet (Gonionemus, Ptycho— gebildet gena), bald einfache Drüſen ohne Geſchlechts-Funktion (Catablema, Ctenaria) 2 gegenſtändige laterale gegenſtändige laterale Tentakel-Taſchen (oder Neſſel— Senkfäden-Taſchen ſchläuche, von der Tentakel-Baſis ausgehend) bei einigen Cladonemiden (Otenaria, Gemmaria) do 2 gegenſtändige laterale 2 gegenſtändige laterale Tentakeln bei mehreren diſſonema— Senkfäden len Graspedoten(Dinema, Stomotoca, Saphenia ec.) 8 adradiale Flimmerrippen | 3 adradiale (und bisweilen flimmernde) Neſſelrippen einiger der Exumbrella Anthomeduſen (Eetopleura, Ctenaria). — — . — — Dr. C. / Fenn wir im neuen Reichslande den ſtolzen Münſter des neuen Argentoratums aus dem Ge— & ? fihtsfreife verlieren und nach Norden der Grenze der Pfalz zu ſtreben, gelangen wir über den wichtigen Kreuzungs— punkt der Pariſer Bahn, Wendenheim, und bald vom Gebiet der rheinzueilenden Zorn in das obere Flußgebiet der Moder. Den Mittelpunkt des Landes an der Moder bildet das gewerb- und waldreiche Städtchen Hagenau. Hagenau, mittelalterlich die „Au im Haag“, entſtand Anfang des 12. Jahrhunderts, als hier im Reichsforſte, an der Grenze von Rheinfranken und Ale— mannien, Friedrich, Herzog von Schwaben und Elſaß, der Vater des Barbaroſſa, ſich ein Jagdſchloß mitten im Forſte unterhalb der Vereinigung der beiden Moderbäche erbaute. Allein weder dies, noch der Palaſt des Kyffhäuſerbewohners, noch die von ihm und Kaiſer Konrad erbaute Kirche, noch Wall und Thürme der alten Reichsſtadt . liegen Hunderte von Grabhügeln oder Tumuli kiesharten Straße ſich hinziehend, welche in verbunden hat und noch unter dem decken— Schricker's „In die Vogeſen“ 1. A. S. 147. Das Grabhügelfeld bei Hagenau und feine Bedeutung für die Kulturgeldicte. Von Mlellis. 1 intereſſiren uns heute; uns zieht das Ange— denken an die vorgeſchichtliche Bewohnerſchaft an, die einſt vor ein paar Jahrtauſenden an der Moder langſamem Gewäſſer gejagt und gewohnt hat. Rings um die alte Stadt, in den weiten grünen Hallen des Forſtes, der ſich zwiſchen Moder und Sauer faſt bis an den Rhein erſtreckt und den das Mittelalter „heiliger Forſt“ benennt,“) eine Bezeichnung, welche auch das Wort „Haag“, „Gehege“ zum Ausdruck bringt, unter dunklen Tannen und dumpf rauſchen⸗ den Eichen. Zerſtreut und in Gruppen liegen ſie im Walde, vielfach längs einer alten römiſcher Periode und vorher die beiden Orte Brocomagus (Brumat) und Saletio (Seltz) den Mooſe dem Spaten fühlbar wird.““) +) Bergl. Ichtratzheimer Chronik und **) Vergl. de Morlet: Notice sur les Kosmos, III. Jahrg. Heft 5. 47 358 Mehlis, Das Grabhügelfeld bei Hagenau. Theils vom Alter und den Atmoſphärilien | zu einem Durchmeſſer von 20 Metern. In zum Einſinken gebracht, theils ſtolz den bis | faſt regelloſer Richtung, doch vorherrſchend 6 Meter hohen Kegel hebend, wurde bis auf die Neuzeit das öffnende „Seſam“ nicht gefunden, das in dem Intereſſe für Alter- thümer und Ethnologie enthalten iſt. Erſt der Neuzeit war es vorbehalten, in ihnen eine Fundgrube der Wiſſenſchaft zu ent— decken, und Bürgermeiſter Neſſel von Hagenau hat es verſtanden, nicht nur an | 100 Grabhügel kunſtgerecht zu öffnen, ſon— dern mit Sachkenntniß und Geſchick die ans Tageslicht geförderten Altſachen zuſammen— zuſetzen und zu erhalten. Seine Wohnung hat er zum Theil eingerichtet zur Aufbe— wahrung der geretteten Schätze. Wollen wir ihnen näher treten! Die Ausbeute iſt zwar der Anzahl der Objekte nach nicht bedeutend, denn ſie füllen nur zwei mäßige Zimmer, aber der Fleiß der Erhaltung macht ſie in ihrer Totalität um ſo werthvoller für die Fixirung des Kulturgrades des Stammes, dem ſie einſt angehörten. Nach der Beſchreibung des Herrn Neſſel, deſſen Führung wir uns jetzt anvertrauen, ſind die Grabhügel über dem natürlichen Boden des Waldes aus Sand und Raſen aufgebaut. Sepulerum caespes erigit, jagt Tacitus (Germa- nia cap. 27) von den Grabhügeln der Germanen, und während wir anderswo am Rhein und an der Donau, am Oſtſee— ſtrande und in Thüringen, in ſolchen Hügel— gräbern eine Maſſe rohgebrochener Steine oder von Findlingen bemerken, oder wenig— ſtens der Rand des Tumulus von einem Steinkranze umgeben iſt, ſind die Hagenauer Hügel conſtruirt aus reinem Sande bis voies romaines du Département du Bas-Rhin S. 20 — 21; daſelbſt auch eine brauchbare Karte mit Straßenangaben und Aufzeichnung der römiſchen Alterthümer. von Nord nach Süd, liegen nun in dieſen Sandhaufen ein oder mehrere Skelette mit ihren Beigaben; oder vielmehr ſo lagen einſt die knöchernen Reſte der alten Moder— anwohner. Denn verſchwunden ſind ſie, Schädel und Becken, Femur und Tibia, nur hier und da ein Zahn, der ſich erhalten hat, ſucht dem Zahn der Zeit, der faſt Alles zerſtört hat, zu beweiſen, daß er nicht unfehlbar ſei. Und da, wo ein Bronce— ring oder eine Bronceplatte ihr grünes Oxyd hergab, hat ſich ein Fuß- oder Handknöchel mit grün angelaufener Fläche, — ein rara avis! — erhalten. Schließen können wir auf die Lage der Todten nur nach den Beigaben, den Arm- und Beinringen, den Hals- und Ohrbracelets, den Waffen und Schmuck— gegenſtänden. Nach Neſſel's Beobachtung und nach den vorliegenden Reſten lagen die Skelette nicht ohne weitere Umſtände im Sande vergraben, ſondern waren, wie Holzſtücke über den Beigaben deutlich be— weiſen, in hölzernen Särgen begraben. So viel uns bekannt die erſte Beobachtung dieſer Art, im Elfaß*) nicht nur, ſondern in ganz Mitteleuropa! Aber der feine, mit Raſen gedeckte Sand hat noch viel mehr conſervirt. An den Holzſtücken be— merken wir feine Linien und Rillen, band- artige Zeichnungen und ſchilfrohrförmige Eindrücke. Sie rühren ohne Zweifel von einer Decke von Gräſern und Blumen her, mit denen ähnlich, wie jetzt noch, der Sarg vor der wirklichen Inhumation, dem Be— ) Vergl. über Grabhügel im Elſaß noch das Werk von M. de Ring: Tombes cel- tiques d'Alsace, Strassbourg 1870. Pl. I unter A und D bejchreibt Broncen von Tu— mulis bei Muſſeg und ein Hügelgrab mit Aſchenurnen von Alt-Breiſach. decken mit Erde, geſchmückt worden war. In Sarg und Blumenſchmuck erkennen wir eine liebevolle Pietät gegen die todten Brüder und Schweſtern. Sagt Cäſar doch de bello gall. VI, 19 von den Begräbniſſen der Gallier: funera sunt pro eultu Gallorum magnifica et sumptu- osa: arbitrantur, in ignem inferunt, etiam animalia u. ſ. w. Allein hier ſpricht der beobachtende Römer von der Verbrennung, nicht von der Inhumation! Wie einzelne Tumuli beweiſen, kannten dieſe Altelſäſſer aber auch den Leichenbrand, und manch hübſch verziertes, gut gebranntes Krüg— lein mit Henkel und Buckel birgt Aſche und calcinirte Knochen der verbrannten Sterblichen. Doch unter dem Raſen hat ſich nicht nur Sarg und Blumenſchmuck im Reſt erhalten, auch von der Bekleidung der Todten melden die Ausgrabungen. Unter dem Holzdeckel des Sarges und an ihn gepreßt erkennt man bei einigen Stücken Reſte von Fellen (etwa gar das bekannte Bärenfell, auf dem nach Tacitus die Gallo— Germanen lagen?) und gegerbtem Leder und unter dieſen noch Stücke von geſponnenem Leinenzeug und gewobenem Wollenſtoff. Was bis jetzt nur die Moore im Norden und die Seen im Süden herausgegeben haben omniaque quae vivis cordi fuisse und die Sammlungen zu Kiel und Kopen hagen, zu Schwerin und Berlin und an— dererſeits zu Zürich und Bern, zu Genf und Neuchatel geziert hat, das ſehen wir zum erſten Male auch aus Grabhügeln wieder an das Tageslicht treten: deutlich erkennbare Leinen- und Wollengeſpinnſte. Lederreſte allerdings lieferten noch andere Grabhügel, ſo die an der Oberdonau, welche Lindenſchmit beſchrieben,“) die bei ) Lindenſchmit: Die vaterl. Alterth. der hohenzoll. Samml. zu Sigmaringen, S. 131. Mehlis, Das Grabhügelfeld bei Hagenau. 359 Ramſen im Eisthale, welche der Verfaſſer ausgegraben hat,“) und ſolche in derſelben Flucht bei Kaiſerslautern, welche der hi— ſtoriſche Verein der Pfalz hat unterſuchen laſſen.“ ) Es find dieſe Bekleidungsreſte nicht nur an ſich von Wichtigkeit, ſon— dern ſie laſſen auch in Verbindung mit dem zahlreich erhaltenen Töpfergeſchirr am leich— teſten Schlüſſe zu auf die eigenthümliche Kultur der Bewohner, auf ihre eigenen Fabrikate, auf die Hausinduſtrie, die frei war von der Einmiſchung der fremden Handelsleute. Eine reiche Collektion von Metallarte— fakten aus Bronce und Eiſen zeugt von dem verhältnißmäßigen Reichthum der alten Moder-Anwohner. Da ſehen wir geſchmack— voll ornamentirte Broncebleche, welche auf dem Ledergürtel zum Schmucke der Frauen befeſtigt waren. Sie ſind gepreßt und mit Linienornamenten, ſowie mehrfachen Figuren, | als tanzenden, die Arme hebenden Mädchen, pferde- oder hundeähnlichen Thieren und deutlichen Hirſchfiguren verſehen. Nach der Schärfe der Ränder, der Linien und Figuren zu ſchließen, wurden dieſelben mit einem | ſtählernen Modell eingeſtanzt, das ſich auf einem Erzblech oftmals wiederholt findet. Dafür, daß dieſe kunſtreichen Gürtel nicht einheimiſcher Induſtrie entſtammen, ſpricht außer den gleichen etruriſchen Gürteln ***) der Umſtand, daß in Grabhügeln bei Habsthal ein Bronceblech mit der Anwendung deſſel— ben Stempels gefunden wurde, wie in ) Vergl. Mehlis: „Studien“, III. Abth. S. 27 und „Correſpondenzblatt der deutſchen Geſellſchaft für Anthropologie“, 1878, Nr. 8, S. 72 — 74. *) Vergl. Mittheilungen des hiſtoriſchen Vereins der Pfalz, VII, S. 47—48 u. Taf. III. e) Vergl. Lindenſchmit: Alterthümer unj. heid. Vorzeit, I. Bd., III. Heft, I. Tafel, [Nr. 4 u. 5. a —Tö 5 — 360 bei Lindenſchmit, Tafel XX, Fig. 1 und 2, abgebildet und ſtellt in verſchiedenen Reihen tanzende Mädchen, Hunde und Hirſche vor. Sie können in ihrer Verbindung recht gut das Ergebniß einer Jagd darſtellen: die Jäger freuen ſich über die von den Hunden eingefangenen Hirſche; und es mochte dieſes Gürtelmuſter von beſonderem Werthe für einen rheiniſchen Nimrod ſein, in deſſen Forſten Edel- und Dammhirſche äſten und lagerten. Aehnliche Erzbleche grub man ſchon in der Schweiz und in Süddeutſch— land aus, beſonders aber in Steiermark im Saggauthale *) und im berühmten Grab— felde von Hallſtadt. Auch in Hallſtadt, dieſer bekannten Station der Etrusker, ſind durch Sacken eine Reihe intereſſanter Broncebleche mit Darſtellungen von menſchlichen Figuren, Vierfüßlern, Vögeln, Kreiſen, Punkten, Bändern, Spiralen u. ſ. w. bekannt. Die Vergleichung derjelben **) unter einander und mit den genannten Fundorten, ſowie die Auffindung des Broncegießerſchatzes von Bologna“ *) mit feinen für ganz Mittel- europa giltigen Prototypen legt die Be— trachtung nahe genug, daß alle dieſe Bronce— bleche mit theilweiſe denſelben Modeln, mit ähnlichen Ornaments-Motiven und gleicher Herſtellungsart von denſelben Mit— telpunkten nach den verſchiedenen Radien des Handels gelangten. Und dieſer Mittel— punkt iſt kein anderer, als die Fabriken für Metallgegenſtände der Etrusker in Ober- und Mittelitalien. Von hier aus ) E. Pratobevera: Keltiſche Alter— thümer aus dem Saggauthale. ) v. Sacken: Das Grabfeld von Hall— ſtadt, Tafel IX — XII. e) Ausland, 1878, Nr. 0 e einem Hügelgrab von Hagenau. Daſſelbe iſt in den Sigmaringiſchen Alterthümern, | Mehlis, Das Grabhügelfeld bei Hagenau. gelangten die wahrſcheinlich fertigen Gürtel nach Noricum und Rhätien an die Donau, in das Land der Helvetier und in das der mittelrheiniſchen Stämme am Rhein. Die Donau- und die Rheinzuflüſſe waren für die Etrusker die großen Arterien, durch die ſie ihre überflüſſigen Fabrikate an Mann und an Frau zu bringen wußten. Aber dafür giebt es noch mehr Beweiſe zu Ha— genau! Es ſind ferner ſichere, eidleiſtende Zeugen für dieſen prähiſtoriſchen und doch hiſtoriſchen Handel der erzkundigen Tusken mit den Anwohnern der Rheinlande er— halten in den mannigfachen, vielgeſtaltigen Fibeln, den Leitmuſcheln für die Bronce— kultur, wie man ſie nennen könnte. Wir ſehen darin eine ſchöne Collektion vor uns vereinigt, zum größten Theil aus Bronce, einige von Eiſen. Letztere reprä— ſentiren den la Tene-Typus, welchen wir in den Pfahlbauobjekten der Weſtſchweiz am ſchönſten vertreten finden. Von der einfachen Verſicherungsnadel mit flachem Bügel, einfacher Spirale, — welche, aller— dings unbeabſichtigte, Entwickelungsreihe zu den complicirteren und complicirteſten Haften! Man bemerkt den breiten Bügel, der mit Buckeln, Spiralen, Henkeln, Ein— lagen, Gravuren geſchmückt iſt — die ſpe— | cifiſche etruriſche Fibel!?“) Dann ſind die Spiralen in die Mitte des Bügels verlegt, und das hintere Bügelende, wo die Feder anſetzt, iſt nach oben ausgeſchweift und mit einem Knopf verſehen. Auch dieſer Knopf trägt verſchiedene Verzierungen, als Köpfe, Einlagen von Korallen, Paſten u. ſ. w. *) Darunter ſind ganz niedliche Fibelchen, die nur ein Damengewand ſchmücken konnten, *) Lindenſchmit: a. a. I. Bd. VII. Heft, III. Tafel, IX. Heft, II. Tafel. %) Ebendaſ. II. Bd. VII. Heft, III. Tafel; v. Sacken: a. a. O. XIV. Tafel, Nr. 1—12. O Mehlis, Das Grabhügelfeld bei Hagenau. ſollte man meinen. Allein ſie wurden auch bei männlichen Skeletten gefunden, was einen Schluß auf die Putzliebe der Be— völkerung geſtattet. An dieſe kleineren Ge— wandfibeln ſchließen ſich größere, aus plat— ten, handbreiten Spiralen beſtehende Haften an.“) Manche beſtehen aus drei, andere aus vier ſolcher in die Augen fallenden Spiraldisken, wie ſie v. Sacken bezeich— net. Es ſind ſolche Prachtſtücke einzeln auch aus dem Rheinlande, dem Hannover'ſchen und aus Pommern, dem Salzburgiſchen und von Hallſtadt bekannt. Aber ſo zahl— reich und doch ſo mannigfaltig finden ſich dieſe Fibeln aller Art ſelten auf ſo kleinem Terrain vereinigt. Aber trotz aller Aehnlichkeit in der Technik weiſen die Fibeln von Hagenau und Hallſtadt noch bedeutende Differenzen in der Form auf. Zu Hallſtadt bevor— zugte man die Plattenfibeln mit herab— hängenden Kettchen, Plättchen, Kugeln, mit Ankern und Stäben, ferner ſolche Haften, deren Bügel die Geſtalt eines Vierfüßlers hat, im Ganzen alſo eine ſtark auffallende, in die Augen ſpringende, klirrende und glitzernde Art von Gewandnadeln.“ ) In ſichtlch mehr Werth auf hübſche, niedliche Form, auf die Harmonie des Ganzen. Und warum ſollte man ſolche Schlüſſe nicht *) v. Sacken: a. a. O. XIV. Tafel, n Tafel, Nr. , 105 XV. Tafel, Nr. 17; Lindenſchmidt: a. a. def, VI. Tafel; II. Bd., IX. Heft, I. Tafel. p. Sacken: a. a. O. XIV. Tafel, Nr. 15—17; XV. Tafel, Nr. 1— 9. Fibeln in Thiergeſtalt find noch aus ſpätrömiſcher 8 IX. Heft, 1. Tafel, XII. Heft, 6. Tafel; Sigm. Zeit bekannt, doch beſitzen dieſelben einen ganz anderen Typus; vergl. Lindenſchmit: a. O II. Bd., WMI. Heft, IV. Tafel, und v. Sacken: XIV. Tafel, Nr. 4— 7. 361 ziehen dürfen, da es den Althallſtädtern ſo gut frei ſtand wie den Althagenauern, ſich nach Geſchmacksrichtung die ſchmückenden Fibeln zu wählen, und die etruriſchen Me- tallfabrikanten ſicher ſo ſchlau wie Englän— der und Ruſſen waren, um ſich nach dem Ge— ſchmack ihrer Käufer bei ihren Waaren zu richten? Wir könnten jo einen ſpecifiſch oberrheiniſchen und einen Hallſtädter Bronce— ſtyl conſtatiren, der zwar die ihm eigen— thümlichen Artikel nicht ſelbſtſtändig ſchuf, der aber ihre Herſtellung und ihr Angebot beeinflußte. Und ſo wird es auch im Norden mit den nordiſchen Broncen ge— gangen ſein, natürlich hier im Kleinen, dort im Großen. Wie ferner die faſt bei jedem Skelet befindlichen Halsringe oder Torques mit ihren ringförmigen Anſätzen beweiſen, und andererſeits die große Zahl von ſtark gebrannten Thonperlen, durch⸗ bohrten Bernſteinkorallen, Bernſteinſtücken, kleinen Bronceanhängen ꝛc. bezeugen, liebten auch die Althagenauer den in die Augen fallenden, glänzenden und gleißenden Schmuck, jedoch in anderer Weiſe. Wie die Klein— heit des Durchmeſſers an manchem Torques bezeugt, die aber bei ausgewachſenen Per- Hagenau dagegen legten die Altbewohner ſonen ausgegraben wurden, mußte der Hals— ring ſchon dem Knaben oder dem Mädchen angezogen worden ſein, ſonſt hätte man ihn, ohne Schließe, wie er iſt, nicht über den Kopf gebracht. Unter den mannig— fachen Schmuckſachen, die noch zu erwähnen wären, den mit Knöpfen verſehenen Arm— und Beinringen, “) den gleichfalls aus Bronce beſtehenden Armſpiralen, wie ſie bis nach Mainz hin vorkommen,“) den faſt einzig ) Lindenſchmit: a. a. O. II. Bd., Alterth., XIX. Tafel, Nr. 3 u. 4. a) Bekannt aus den Muſeen von Mainz, Speyer, Straßburg. daſtehenden Bronceſchienen für den Unterarm, von denen Bonſtetten in der Weſtſchweiz nur eine einzige fand und im Stutt— garter Muſeum noch ein Exemplar vor— handen iſt, den goldenen und broncenen Fingerringen *) u. ſ. w., zieht noch ein Mehlis, Das Grabhügelfeld bei Hagenau. Stück unſere Aufmerkſamkeit auf ſich. Es iſt ein Broncecollier, das aus einem durch— ſtelle, in dieſem Falle Nordetrurien, zuzu— brochenen Torques beſteht; in jede der durchbrochenen Stellen, etwa fünfzehn, iſt eine an einem Kettchen befindliche, diskus— förmige, mit erhabenen Punkten ornamen— tirte Platte eingelaſſen. Dieſer Halsſchmuck, einem weißen Nacken aufgelegt und in Verbindung mit glänzendem Linnen mag der Dame der Vorzeit ganz vorzüglich ge— ſtanden haben. Aermere Frauen, die keine Bronce bezahlen konnten, begnügten ſich mit ärmlicherem Schmucke; ſie trugen Armbänder und Armſchienen aus Holz oder aus einer bernſteinartigen Maſſe. Aber Schmuck muß— ten auch ſie haben! Dazu finden ſich von Nadeln Exemplare aus Bronce mit durchbrochener, ſcheiben— förmiger Kopfplatte, andere mit kugeligem und eingelegtem Kopfe, andere mit durch— bohrtem Bernſteinkopfe; doch fehlen die langen, 70 Ctm. bis 1 Meter haltenden Rieſennadeln, welche wir in der Schweiz und dem Norden bewundern. Bronce-Ohrringen erregen ſolche von 5 — 6 Ctm. Durchmeſſer beſondere Aufmerkſam— keit (Fig. 1). Sie ſind hohl gegoſſen, das eine Unter den tragen. Ende ſpitzt ſich kegelförmig zu und wird, wenn in das Ohr eingezogen, in das offene, nach der Mündung zu ſich erweiternde andere Ende eingeſchoben. Ganz dieſelben Ohr⸗ ringe ſind dem Verfaſſer am Rhein bekannt Oberſt von Gemming zu Nürnberg und ) Vergl. ähnliche Lindenſchmit: a. a. O. I. Bd., V. Heft, 4. Tafel, Nr. 5; Bd. V. Heft, 3. Tafel, Nr. 4 u. 5; die Arm- 1 von den Grabhügeln bei Ramſen ), und vom innern Deutſchland aus Grabhügeln bei Beilngries an der mittlern Altmühl.“ ) Die Ausgrabung dieſer Ohrringformen an drei verſchiedenen Orten legt es gleichfalls nahe, den Urſprung dieſer zierlich gegoſſenen Schmuckgegenſtände nicht einheimiſcher In— duſtrie, ſondern der gleichen Fabrikations⸗ ſchreiben. Nur ſo erklärt ſich ihr radien— förmiges Vorkommen. Fig. 1. Ohrring. Von Eiſenſachen ſehen wir drein Schwerter vertreten von ſtarken Formen und mit durchaus gleich ſtarker, breiter Klinge. Die Länge der ſtark zerſtörten Klingen mit deutlicher, gleichfalls eiſerner Griffzunge“ *) mag an 80 Ctm. be Außerdem wurden von Eiſen in den Grabhügeln entdeckt ein zierlicher Dolch, ein Meſſer von gebogener Form, ferner ein halbmondförmiges, an die bayeriſchen hauts -collets erinnerndes Anhängſel mit ) Aufbewahrt im Muſeum zu Speyer; vergl. Mehlis: „Studien“, III. Abth., S. 27. *) Aufbewahrt in den Sammlungen des verzeichnet vom Verfaſſer. **) Vergl. v. Saden: a. a. O. VI. Tafel, Nr. 1; Lindenſchmidt: a. a. O. II. Bd., ſchienen: II. Bd., I. Heft, 2. Tafel, Nr. 4 u. Text. | 3 VII. Heft, 6. Tafel. 0 Mehlis, Befeſtigungsvorrichtungen, endlich mehrere ſtarke Ringe, ſowie der Reſt eines Gürtels. Auffallend iſt der Mangel an Waffen; das eine Eiſenſchwert lag bei einem Skelet, das einen der oben erwähnten, aus drei Drähten beſtehenden, goldenen Fingerreife trug. Es geht daraus hervor, daß eiſerne Waffen nur Einzelne und zwar mit beſonderer Auszeichnung trugen. Sollte nun an die— ſem auffallenden Fehlen von Kriegsrüſtung in den ausgegrabenen Hügeln der Zufall Schuld ſein, oder ſollten die kriegstüchtigen Männer wie die Gaeſaten als Söldner in der Ferne geblieben ſein, oder endlich dieſe Bevölkerung, wie die zu Monsheim von Lindenſchmit aufgedeckte, einen vorzugs- weiſe friedlichen Charakter getragen haben, ſo conſtatiren dieſe Funde von Schwert und Dolch, Meſſer und Ring immerhin die Bekanntſchaft mit Eiſen und die Ver— wendung deſſelben nicht zum Schmuck, ſon— dern zu Werkzeug und Waffe. Dieſer dahin geſunkene Volksſtamm war offenbar über die Steinperiode hinüber, nirgend fand ſich auch nur als Kultusbei— lage ein Steinbeil oder ein Steinhammer, mit Ausnahme einiger durchbohrter Kieſel und mehrerer, vielleicht zufällig anweſender Silerfplitter. Die Metallperiode aber hatte dieſes Volk nicht durch eigene Fabrikation be— treten. Dafür zeugen auch nicht an 60 ſtarke, ſchlecht gegoſſene und bis an / Kilogr. ſchwere, an den Beinen und Armen befind— liche Bronceringe, die man des ſchlechten Guſſes halber und der nicht abgeſtoßenen Gußnähte wegen vielleicht als inländiſche Bronceartefakte erklären könnte. Allein, wie zwei gegenüber liegende, Das Grabhügelfeld bei Hagenau. wird dabei an die Stelle des Lucanus | | denn 363 ſen, waren ſolche Bein- und Armringe in Zeug eingenäht und hielten weite Gewän— der, Hoſen und Kittel, zuſammen und nach unten, reſpektive nach vorn gezogen. Man in der Pharsalia, I. erinnert, wo er der rheiniſchen Vangionen weite Hoſen beſchreibt: „Et qui de laxis imitantur, Sarmata, braceis, Vangiones .. .“ Fig. 2. Fußring. Die in Leinwand oder Wollenzeug ein— genähten Haltringe brauchten weder polirt noch verziert zu ſein und hatten noch alle Spuren des Rohguſſes an ſich, denn man ſah ſie ja doch nicht in dem Zeuge, in dem ſie eingewickelt waren. Auch dieſe rohen Ringe ſind deshalb kein Zeugniß für ſelbſt— ſtändige, wenn auch primitive Metallinduſtrie, und ſo gut wie die feinen Gußwaaren und die Eiſengegenſtände erhielten die Moder— anwohner dieſe roh gegoſſenen Ringe wohl aus | | abgeſcheuerte Stellen an jedem Ringe — vergl. Fig. 2 a — aj und b— bi! — andeuten, und wie ferner anklebendes Ge— ſpinnſt 0 zwei gefundene Riemen bewei— 0 ſüdlichen metallurgiſchen Werkſtätten. Etwas anders ſteht es mit den roh gegoſſenen Torques von Ramſen bei Eiſenberg; dieſe mögen in Verbindung mit den Reſten ein— heimiſcher Metallkunſt, den Schlackenhaufen, an Ort und Stelle gegoſſen worden fein.*) Die Metallartefakte dagegen zu Hagenau waren wohl alle Produkte des ſüdlichen Importes! ) Correſpondenzblatt der deutſchen Ge— ſellſchaft für Anthropologie, 1878, S. 72 — 73. 364 Und was beweiſen die angeführten That- ſachen für die Kulturgeſchichte weiter? Vor Allem gehören dieſe Tumuli mit ihren Ein- 9 ſchlüſſen einer Periode an, die, wie aus den fehlenden Münzen und Gefäßen, Waffen und Werkzeugen der Römerzeit hervorgeht, vor der Periode des Einfluſſes der Römer auf das Rheinthal liegen muß. Dieſe Pe— riode beginnt ſichtbar mit der Prägung des Viktoriatus gleich dem maſſiliſchen Triobolon von Seiten der Römer 117 v. Chr. Allein weder von den altmaſſiliſchen Münzen, die ſeit der Mitte des vierten Jahrh. n. Chr. ſich im Rhonelande und in den oberen Rheingegenden, beſonders der Schweiz, makedoniſchen Vorbildern geprägten erſten Verſuchen der galliſchen Münzkunſt, die gleich— falls in die Mitte des vierten Jahrh. n. Chr. fallen, ein Angedenken in den Gräbern und in deren Umgebung erhalten.“) Während wir alſo vom Boden der nahen Rheinpfalz aus dem vierten bis zweiten Jahrhundert eine ganze Reihe von galliſchen Nachahmungen makedoniſcher Münzen, ſo— wie auch ſolche nach ſelbſtſtändigen Stempeln vorfinden,“) wußte die Sorgfalt Neſ— ſel's auf dem Terrain von Hagenau keine einzige aufzutreiben! Dieſe Thatſache, ſo— wie eine Reihe anderer archäologiſcher Mo— mente, wie z. B. die auffallende Aehnlichkeit vieler Bronceartefakte mit den Hallſtädter Ergebniſſen, nöthigt uns, das Grabfeld von Hagenau mindeſtens vor die Hälfte des ) Ueber die Verbreitung und den Beginn maſſiliſcher und galliſcher Münzen vergl. Genthe: Ueber den etruriſchen Tauſchhandel, S. 84—85, S. 94—95. ) Mehlis: „Studien“, III. Abthlg., II. Tafel, vorrömiſche Münzen aus der Rhein— pfalz, Nr. 1— 20. Mehlis, Das Grabhügelfeld bei Hagenau. vierten Jahrhunderts v. Chr. zurückzuver— ſetzen. Möglich iſt es, daß eine Reihe von Hügeln, welche meiſt ein Familiengrab bildeten, herabreichen bis auf den Beginn des zweiten Jahrh. v. Chr., alſo bis 200, aber weiter herab läßt ſich höchſt wahr⸗ ſcheinlich der Schluß des Grabfeldes nicht ſetzen. Nach den Nachrichten der klaſſiſchen Autoren bewohnten das Oberrheinthal vor dem Einbruche der Cimbern und der ſuebiſchen Völkerſtämme der Nemeter und Vangionen, der Triboccher und Markoman— nen,“) zuerſt die Helvetier bis in die Ge— gend des Rheinknies bei Baſel, hierauf folgten längs des Doubs, durch die bur— ſtark verbreitet haben, zeigt ſich hier zu Hagen- | au eine Spur, noch hat ſich von den nach gundiſche Pforte mit dem Rheinthal in Ver— bindung, die Sequaner, an ſie ſtießen nach Norden bis nach Breiſach hinunter die Rauri— cer (ſchlechter die Form Rauracer). Ihnen ſchloß ſich früher, vor dem Einbruche der Triboccher, den wir höchſtens an das Ende des zweiten Jahrh. v. Chr. ſetzen dürfen, der aber höchſt wahrſcheinlich Mitte des erſten Jahrh. v. Chr. fällt, das Gebiet der Me— diomatriker an, welches ſich nach dem Ein— dringen der ſuebiſchen Stämme um das Thal der mittleren Moſel, ſowie das Saargebiet concentrirt hat.“!) Dem Stamme der galliſchen Mediomatiker, der Anwohner der Matara (Moder), wie dieſen Namen ein Etymologe erklärt, gehört alſo aller hiſto— riſchen Wahrſcheinlichkeit nach die Bevölker— ung an, die in den Grabhügeln um Hagenau geruht „hat“. Noch wichtiger iſt der Schluß aus der Aufdeckung dieſer ſüdlichen Metallfunde, ſo— wie der zahlreichen Bernſteinartefakte, daß ) Mehlis: „Studien“, I. Abth., S. 33—51. **) Caesar: De bell. gall., IV. 10, und Kiepert: Lehrbuch der alten Geographie, § 451 und 452. Ware ee wir mit dieſem Punkte wieder eine Station der großen vorgeſchichtlichen Handelsſtraße entdeckt haben, welche die Waaren der Etrurier zum Austauſch brachte gegen den Bernſtein der Nordſee und die Landespro— dukte der Rheinländer. Genthes ) ſchließt nach den größeren etruriſchen Funden, daß dieſe mindeſtens ſeit dem ſechsten Jahrh. bis an die Grenze des dritten Jahrh. v. Chr. gangbare Bernſteinſtraße die Rhone herauf über Genf, an den weſtlichen Seen der Schweiz vorüber an das Rheinknie herum— geführt, weiter unten aber, um die Aus— biegung des Rheines nach Oſten zu ver- meiden, die Saar entlang an die Nordſee geführt habe.““) Die Funde von Hagenau aber beweiſen ſtrikte, daß dieſe alte Handels— ſtraße bis hierher das Rheinthal nicht ver— ließ. Hier an der Moder mag ſich der Straßenzug getheilt haben; der eine Arm behielt das linke Rheinufer bei und lief, wie die reichen Funde etruriſcher Arbeit bei Landau, Speyer, Schifferſtadt, Böhl, Haß— loch, Dürkheim, Eppſtein, Worms!) be— weiſen, längs des linken Rheinufers dem ) Genthe's ſchon angeführte Schrift und ſeinen Aufſatz in der Monatsſchrift für die Geſchichte Weſtdeutſchlands, II. Jahrg. S. 1— 20. ) Mehlis: „Studien“, III. und IV. Abth. a. Mehlis, Das Grabhügelfeld bei Hagenau. m. St. und Monatsſchrift für 365 alten Borbetomagus zu, um ſich hier mit einer anderen Straße zu kreuzen, die ſich längs der Eis nach Kaiſerslautern in das Gebiet der Saar zog. Der andere Straßen— arm nahm ſeine Richtung entweder über Tabernae längs der ſpäteren römiſchen Via militaris an die Saar, oder zog durch den Paß bei Reichshofen an dem Felſenneſte Bitſch vorbei in das Saarthal bei Saar— gemünd. Hoffentlich gelingt der Zeit noch die Aufdeckung von weiteren Zwiſchenſtationen von dem galliſchen Brocomagus (Dachsfeld), das ſüdlich von Hagenau lag, und dem gleichfalls galliſchen Saletio (Salzſtadt) bis an die Queich, die in ihrem älteſten Namen Quiſac gleichfalls galliſche Traditionen be- wahren dürfte. Vom Aargau am Kulm an bis nach Vaudrevanges*) an der Saar kannte man bis jetzt keine Niederlaſſungen mit etruriſchen Metallartefakten und den Spuren eines vorgeſchichtlichen bedeutenden Handelsverkehrs zwiſchen dem Po-Lande und dem Geſtade der Nordſee. Der Bernſtein und die Bronce aus den Grabhügeln bei Hagenau haben dafür wieder einen eclatan— ten Beweis beigebracht! die Geſchichte Weſtdeutſchlands, IV. Jahrg. S. 295 — 209 mit Tafel. ) Genthe's Schrift: Anhang Nr. 52 und 70, ſowie die Karte in eitirter Schrift. Kosmos, III. Jahrg. Heft 5. . Alexander Braun's Stellung zur Descendenz- Theorie. Ein Beitrag zur Geſchichte der Entwickelungslehre von Henry Potonié. die mit aller Entſchiedenheit, bereits vor dem Erſcheinen der Darwin’- ſchen Werke, die Nothwendigkeit der Des— cendenz-Theorie betont haben, und daß er, was ganz beſonders hervorgehoben werden muß, auf die wichtigſten Erſcheinungen, welche zur Begründung der Theorie von höchſter Wichtigkeit ſind, bereits hingewieſen und ſogar eine Unterſtützung ſeiner Anſicht durch Beiſpiele unternommen hat. Zwar iſt Braun's Stellung zum Darwinismus von Caſpary, dem ausführlichſten Bio— graphen Braun's, beſprochen worden, jedoch hat derſelbe nicht darauf aufmerkſam gemacht, daß Braun die Descendenz-Theorie ſchon vor 1859 ſelbſtändig aufſtellte; auch die übrigen Biographen Braun's ſchweigen hierüber. Nur Haeckel ſagt in ſeiner Schrift: „Freie Wiſſenſchaft und freie Lehre,“) ) Stuttgart 1878. S. 89. daß Braun ſchon vor Darwin von der Wahrheit des Transformismus überzeugt geweſen ſei. “) Die Beurtheilung von Braun's Stell— ung zur Descendenz-Theorie in Sachs! Geſchichte der Botanik findet ſich in folgen— dem Ausſpruch: „Die Beziehungen von Braun's Standpunkt zu der Frage nach der Conſtanz der Arten können einigermaßen zweifelhaft erſcheinen; manche Aeußerungen laſſen ſich ſo deuten, als ob ſie eine im Laufe der Zeiten ſich vollziehende Umgeſtalt— ung der Species zulaſſen wollten, während andere Aeußerungen dem widerſtreiten.“ ““) Zur Unterſtützung dieſer Behauptung führt Sachs folgenden Satz aus Braun's Polyembryonie an: „Kann man, wenn ) Herr Prof. Haeckel hatte die Freund— lichkeit, mir auf eine Anfrage zu erwidern, daß er dies aus dem Munde ſeines hochver— ehrten Lehrers Alex. Braun ſelbſt wiſſe. „ „Geſchichte der Botanik vom 16. Jahr— hundert bis 1860“ München 1875. S. 189. — man überhaupt einen organiſchen Zuſammen- hang in der Entwickelungsgeſchichte der Pflanzen anzunehmen berechtigt ſein ſollte, ſich vorſtellen, daß der Typus der Mooſe ſowohl, als der der Farne aus der Algen— form hervorgegangen ſei, oder ſollte um— gekehrt die Algenform den Mooſen und Farnen den Urſprung verdanken?“ ) Gegen— über der überwältigenden Fülle transfor— miſtiſcher Ausſprüche in Braun's Schrif— ten ſowohl vor, als auch nach 1859 ver— liert dieſer eine Satz, in welchem, was wohl zu beachten iſt, weder gegen, noch für die Annahme der gemeinſamen Descendenz der organiſchen Weſen etwas geſagt iſt, jede Be— deutung; Braun ſtellt darin, wie aus dem Zuſammenhang, in welchem die Stelle vor— kommt, ganz klar hervorgeht, nur ein Problem auf, nämlich: ob man die Descendenz der Algen von den Mooſen und Farnen oder umgekehrt anzunehmen habe; bei welcher Gelegenheit der vorſichtige Braun aller— dings auf die möglicherweiſe nicht berechtigte Theorie, welche überhaupt erſt die Auf— ſtellung jenes Problems ermöglicht, auf— merkſam macht. Geht alſo nicht vielmehr ſchon hieraus hervor, daß er die Descendenz annahm? deſſen Grundlage eben die Vorausſetzung der Abſtammung der Organismen von einander bildet, überhaupt aufſtellen? Bei Gelegenheit der Beſprechung Unger's als Vorgängers Darwin's in Betreff der Descendenz-Theorie heißt es jedoch in der Geſchichte der Botanik weiter: „Es wurde ſchon im vorigen Kapitel gezeigt, wie auch um dieſelbe Zeit der Hauptvertreter der idealiſtiſchen Richtung, A. Braun, bereits, von Caelebogyne ꝛc. Aus den Abhandlungen der Königl. Akademie der Wiſſenſchaften zu Berlin 1859. S. 257. Potonié, Alexander Braun's Stellung zur Descendenz Theorie. Konnte er ſonſt das Problem, 367 wenn auch in unbeſtimmterer Form, zur Annahme einer Entwickelung des Pflanzen— reichs hingedrängt wurde,“ *) Endlich haben wir noch zu beachten, daß Seydlitz in ſeiner Schrift: „Die Darwin'ſche Theorie“ Braun als Vor— gänger Darwin's aufführt,* *) und zwar weil in der neun Monate vor dem Er— ſcheinen der Entſtehung der Arten erſchiene— nen Abhandlung über Polyembryonie ſich Anklänge an den Gedanken der Descendenz finden. Um nun unſere Behauptung zu begrün— den, werden wir ſelbſtredend die nach 1859 erſchienenen Werke Braun's nicht berück— ſichtigen. Die Hauptquellen für die hier geführte Unterſuchung ſind die Einleitung und die Schlußbetrachtung der intereſſanten, in Frei— burg im Breisgau 1849 — 50 als Pro— rektoratsprogramm erſchienenen: „Betracht— ungen über die Erſcheinung der Verjüng— ung in der Natur, insbeſondere in der Lebens- und Bildungsgeſchichte der Pflanze“. Nachdem Braun in der Schlußbetrachtung noch einmal in großen Umriſſen die Be— trachtungen über die individuelle Bedeutung der Zelle, des Blattes und des Sproſſes als Glieder eines ſich fortentwickelnden Gan— zen kurz zuſammengefaßt hat, fährt er fort: „Daß wir in dieſer Richtung noch weiter aufſteigen können in der Erfaſſung des na— türlichen Zuſammenhanges der Weſen, haben wir ſchon in der Einleitung angedeutet. Denn wie das Individuum als Glied der Species, ſo erſcheint die Species als Glied der Gatt— ung (genus), die Gattung als Glied der Familie, der Ordnung, der Klaſſe, des F | 4 Reiches; die Naturreiche ſelbſt aber als die ) Ueber Polyembryonie und Keimung — ) Geſchichte d. Bl. S. 198199 ) 2. Aufl. Leipzig 1875. S. 54 — 55, 58, 248. 368 großen Hauptglieder des Naturorganismus: eine Betrachtungsweiſe, mit welcher wir auch dem natürlichen Syſtem ſeine wahre und objektive Bedeutung geben, die es bei blos ſubjektiv-abſtrakter Auffaſſung der Natureintheilungen gänzlich verliert. Zwar können wir den gemeinſamen Urſprung und den geſchichtlichen Zuſammenhang unter den Gliedern der umfaſſenden Abtheilungen des Pflanzenreichs nicht mehr ſo handgreiflich nachweiſen, wie es für die Geſchichte des Individuums in Zell-, Blatt- und Sproß— bildung, und wie es für die Geſchichte der Species für die durch die Fortpflanzung vermittelte Bildung der Individuen und für den Kreis der Varietäten, welcher dabei zur Entwickelung kommt, der Fall iſt; allein bedeutſame Fingerzeige wenigſtens, welche auf den zeitlichen und räumlichen Zuſam— menhang in der Entwickelungsgeſchichte des Pflanzenreiches im Ganzen und in ſeinen Theilen hinweiſen, bietet uns die Flora der Vorwelt, ſowie die geographiſche Verbreit— ung der Pflanzen in der jetzigen Epoche.“ *) Man muß ſich wundern, daß trotz des eifrigen Forſchens nach Vorgängern Dar— win's dieſer Ausſpruch bisher überſehen worden iſt; um ſo mehr als in demſelben bereits auf die von Darwin zur Begründ— ung der Theorie benutzten Erſcheinungen der Variation, auf die paläontologiſchen That— ſachen und auf die geographiſche Verbreit— ung der Pflanzen ebenfalls als ſeine An— ſicht beſtärkend hingewieſen wird. Ganz vorzüglich bemerkenswerth erſcheint die Be— tonung der Unmöglichkeit eines exakten Nach— weiſes der Theorie. Wie Braun ſelbſt ſagt, hat er bereits in der Einleitung den „natürlichen Zuſammenhang der Weſen angedeutet“, und in der That iſt der größere Theil derſelben transformatoriſchen i *) S. 343 — 346. Potonié, Alexander Braun's Stellung zur Descendenz Theorie. | Inhalts. Aus ihr geht hervor, daß Braun die einzelnen Glieder des Thierreiches und den Menſchen als genetiſch zuſammenhängend betrachtet.“) „Die Erforſchung der Entwickelungs— geſchichte im Kleinſten wie im Größten iſt daher das lohnendſte und verheißungsreichſte Beginnen auf dem Felde der Naturge— ſchichte“ *), verkündet Braun gleich am Anfang, und weiterhin leſen wir: „Die Einzelglieder der Natur ſind Glieder in der Entwickelung der Naturreiche, denen ſie angehören, und in der weiteſten Faſſung Glieder in der Entwickelung des ganzen Naturlebens.“ *) Ferner ſpricht Braun von „umfaſſenden Entwickelungsreihen in der Natur“, wie die „Gattung, Familie, Klaſſe u. ſ. w.“, und von dem Ganzen der Natur, „als die alle untergeordneten Reihen involvirende Entwickelungsreihe.“ ) In der ebenfalls ſehr wichtigen Anmerkung zu der oben citirten Hauptſtelle finden wir unter anderen die Bemerkung: „Wie nun das Individuum ſich realiſirt durch eine zeitliche Succeſſion von Bildungen und räumliche Theilung in untergeordnete Glie— der, ebenſo realiſirt ſich die Species in einer durch die Individuen dargeſtellten Glieder— ung höherer Ordnung, vermöge welcher ſie, ebenſo wie das Individuum, in zeitlicher Folge und räumlicher Ausbreitung ihren Formenkreis durchläuft; ſo realiſirt ſich, als weiteres übergeordnetes Ganze, die Gattung durch den Kreis der Arten, die Familie durch die Gattungen u. ſ. w.; ſo realiſirt ſich endlich die ganze Natur durch den Ent— wickelungsproceß. . . .f) In der 1852 erſchienenen Abhandlung: „Das Individuum der Pflanze u. ſ. w.“ findet ſich folgende ) S. 12, 16—17 *) S. 4. „) S. 8. +) S. 14. ff) S. 345 — 346. N \ Stelle:?) „Der vorhin erwähnte Um— ſtand, daß der Entwickelungskreis der Species nicht in dem Maße einen ſtufenweiſen Fort- ſchritt zeigt, wie der des Individuums, mag uns als Fingerzeig dienen, daß die Ana— logie von Species und Individuum richtiger ſo zu faſſen iſt, daß die Species nicht dem ganzen Cyelus der individuellen Entwickel— ungsgeſchichte, ſondern der einzelnen Stufe der Metamorphoſe (die ja wieder ihre unter— geordneten Gliederungen hat) verglichen wird, daß die Species ſomit ſelbſt wieder als ein untergeordnetes Moment eines noch um— faſſenderen Entwickelungskreiſes betrachtet wird, deſſen nähere Beſtimmung hier zu weit abführen würde.“ Hierzu iſt eine An— merkung gegeben, die auf ergänzende Aus— ſagen in der Verjüngung weiſt. Zur Unter— ſtützung ſeiner Anſchauung hebt Braun ganz beſonders die Wichtigkeit der unter— gegangenen Thier- und Pflanzenformen her— vor, deren Spuren in Erdſchichten enthal— ten ſind: „Der Schein, als ob immer nur das Gleiche ſich wiederhole, hebt ſich bei einem Rückblick aus unſerer ſtationären. Zeit in die Reihenfolge vorweltlicher Epochen.“““) Und nun zählt er die nach einander in den verſchiedenen geologiſchen Perioden auftreten— den Formen der Thiere und Pflanzen in großen Umriſſen auf und zeigt, wie „dieſer ganze Fortſchritt der organiſchen Natur vom erſten Anfang bis auf unſere Zeit ein we— ſentlich zuſammenhängender“ war, „daß ſich in ihm eine einzige Entwickelungs— geſchichte darſtellt und nicht eine Reihe ge— trennter unabhängiger Schöpfungen.“ “) Potonié, Alexander Braun's Stellung zur Descendenz-Theorie. kurz, Braun's Ueberzeugung iſt durch die Lehre Darwin's nicht beeinflußt worden. ) Aus den Abhandlungen der Königl. Akademie der Wiſſenſchaften zu Berlin 1852. Berlin 1853. S. 24. *) Verjüngung S. 9. *) S. 11. 369 Wenn wir aufmerkſam die bezüglichen Stellen in der Verjüngung!) leſen und hiermit feine Rede „Ueber die Bedeutung der Entwickelung in der Naturgeſchichte“ von 1872 vergleichen, jo iſt erſichtlich, daß er ſchon damals die rein mechaniſche Auffaſſung zurückweiſt, nach welcher „das Leben als bloßes Reſultat äußerer Urſachen“ betrachtet wird; viel— mehr nimmt er noch eine „innere Be— gabung“ an, welche im Verein mit dem Aeußeren die erzielten Lebensformen zu er reichen trachtet. Die Annahme der gemein— ſamen Descendenz der organiſchen Weſen verträgt ſich vollkommen mit Braun's durch den Idealismus bedingter, teleologiſcher Auffaſſung. „Wer wollte wohl,“ heißt es in der Verjüngung, **) „die Beziehung der Erzeugung neuer Generationen zur fort— ſchreitenden Entwickelung da, wo ſie uns am nächſten liegt, nämlich beim Menſchen— geſchlecht, leugnen? Das Verhalten des Menſchen in dieſer Beziehung gehört aber mit in den Kreis unſerer Betrachtung, denn das Ziel, das in unendlichen Verjüngungen durch die ganze Natur hindurch erſtrebt wird, durch deſſen Erreichung ſich unſere Schöpf— ungszeit von allen vorweltlichen Epochen unterſcheidet, iſt ja eben das Daſein des Menſchen, auf den die Natur durch ihren ganzen Stufenbau, von Stufe zu Stufe immer deutlicher hinweiſt; und der Menſch hinwiederum kann nicht betrachtet werden, ohne Das, was ihn eben zum Menſchen macht, die Entwickelung des Geiſtes.“ Der Unterſchied der von Braun vertretenen teleologiſchen und der von Darwin ver— tretenen mechanischen Auffaſſung beruht con- ſequenterweiſe im vorliegenden Falle darin, daß der erſte in der genetiſch zuſammen— hängenden Entwickelungsreihe Lebensformen erblickt, welche durch einen inneren Trieb ) Namentlich S. 16 — 17. *) S. 12. erreicht werden und nur die Stufen bilden, welche hinleiten ſollen zum Ziele: der Darſtellung des Geiſtes; während für Darwin die Lebensformen nothwendig durch die äußere Natur bedingte Erſchein— ungen ſind. Beide Auffaſſungen ſetzen die Descendenz-Theorie voraus. Dies wird auch vollkommen durch die oben bereits citirte Rede: Ueber die Bedeutung der Entwickel— ung 2c. beſtätigt. So ſehen wir, wie Braun bereits neun Jahre vor Darwin richtig die zur Be— gründung der Descendenztheorie nöthigen Mittel erkannt und in dieſer Weiſe verwerthet hat, weshalb ihm in der Reihe der Träger der Entwickelungslehre, worunter die be— deutendſten Männer?) ihrer Zeit ſich be— fanden, eine ehrenvolle Stelle gebührt. Viele hier einſchlagende Stellen könnten noch theils aus oben erwähnten, theils auch ) Wir erinnern nur an Buffon, Kant, Goethe, Erasmus Darwin, Lamarck, Link, Leopold v. Buch, Etienne Geof— froy, C. E. v. Baer, Schleiden, Scho— penhauer ꝛc. Siehe Seydlitz S. 57. Potonié, Alexander Braun's Stellung zur Descendenz Theorie. aus anderen Schriften“) Braun's auf- geführt werden; allein es ſollte nur, als Beitrag zu einer Geſchichte der Entwickel— ungslehre, auf Braun aufmerkſam gemacht werden; und wenn auch nicht zu überſehen iſt, was wohl hier und da geſchieht, daß eine Theorie erſt durch eine feſte Begründ— ung durch Erfahrungsthatſachen wiſſenſchaft— lichen Werth erlangt (weshalb Darwin's großes Verdienſt, mögen auch noch ſo viele Vorgänger aufgefunden werden, immer gleich groß bleiben wird), ſo darf doch auch nicht vergeſſen werden, daß es für die Erkenntniß wichtig iſt, die Entwickelungsgeſchichte einer für die Wiſſenſchaft hochwichtigen Theorie zu. kennen von der urſprünglichen und deshalb zuweilen mehr unbeſtimmten Form an bis zu der ſchärferen Umgrenzung ihres Inhaltes und der klaren Erfaſſung der Bedeutung derſelben für die Wiſſenſchaft. ) „Ueber den Zuſammenhang der natur- wiſſenſchaftlichen Disciplinen unter ſich und mit der Wiſſenſchaft im Allgemeinen“ Leipzig 1855. S. 15, 19, 20, 22, 23. Ae de e S Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Die Vorgeſchichte der Entdeckung der Mars-Trabanten. nom, deſſen Energie nicht nur die Entdeckung, ſondern in relativ ſehr ride der Mars-Satelliten zu danken iſt, hat ſeinem größeren Werke über dieſen ung beigegeben, in welcher er näher auf die hypothetiſchen Ausſprüche einiger älterer Gelehrten eingeht, in denen von ſolchen Nebenplaneten die Rede iſt. Unabhängig hat auch die Zeitſchrift „Ausland“ einige Nachweiſungen in dieſem Sinne gebracht, welche jedoch nur theilweiſe mit denen von ſuchung über die Vorgeſchichte dieſer Ent— deckung anzuſtellen, und dieſer vom Verf. ſchon längere Zeit hindurch gehegte Plan es ſich herausſtellte, daß durchaus noch nicht ſämmtliche Hülfsmittel ausgenützt ſeien. Eine umfaſſende quellenmäßige Darſtellung wird ſomit auch durch die bisherigen Vor— arbeiten noch nicht ganz überflüſſig fein. ) A. Hall, Observations and orbits of [ers Hall, der trefflihe Afro⸗ u) i | © kurzer Zeit auch eine erſte Ephemes | Hall ſich decken. Schon aus dieſem Grunde erſchien es angezeigt, eine einheitliche Unter- gewann um ſo mehr eine feſte Geſtalt, als war es, der hierzu den erſten Schritt zu | thun verſuchte. Gegenſtand ) auch eine geſchichtliche Betracht genüber von dieſer übrigens ſehr reichhaltigen Quelle Galilei hatte bei ſeinem erſten Ver— ſuch, das Fernrohr gegen den Sternhimmel zu richten, an dem Planeten Mars nur wenig Bemerkenswerthes wahrgenommen. Es bot ſich darum der Conjektural-Aſtro— nomie eine günſtige Gelegenheit, die an— ſcheinende Lücke der Beobachtungskunſt aus— zufüllen, und kein anderer als Kepler In feiner „ Dissertatio cum Nuncio Sidereo, nuper ad morta- les misso a Galilaeo Galilaei Mathema- tico Patavino“ ſpricht er ſich ſeinem be— rühmten Freunde und Correſpondenten ge— folgendermaßen aus“): „Haec igitur cum consentientibus testimoniis etiam alii de Lunae corpore asseverent, consentanea jis, quae tu de eodem longe dilueidissima affero experimenta: tantum abest ut fidem tibi in reliquo libro et de 4 eircum-Jovialibus planetis dero- sem, ut potius optem, mihi in parato jam esse perspieillum, quo te in depre- hendendis eireum - Martialibus (ut mihi proportio videtur requirere) duobus, et eircum-Saturniis 6 vel 8 praevertam, uno forsitan et altero eircum - Venerio et eircum-Mereuriali accessuris.“ So wenig ſtichhaltig auch die Gründe find, welche Kepler bei dieſer Divination leite— ) Joannis Kepleri opera cuncta, ed. Frisch, tom. II, p. 491. 5 | he satellites of Mars. Washington 1878. p. 1 ff. 312 ten, ſo hat ihn doch jenes geiſtreiche Apereu, welches in dem Entwickelungsgange des ge— nialen Mannes faſt ebenſo eine gewichtige Rolle ſpielt, als ſein mathematiſches Talent, das Richtige treffen laſſen, denn auch be— treffs eines etwaigen Venus-Mondes ſind, wie man weiß, die Akten noch keineswegs geſchloſſen. Die Argumente Kepler's find weſentlich die gleichen, welche ſpäterhin zur Aufſuchung eines Planeten zwiſchen Mars und Jupiter geführt haben, nämlich Be— trachtungen über die geringe Wahrſchein— lichkeit, daß ſo weite Himmelsräume ganz unbevölkert ſein ſollten. „Quibus ergo spatiolis,“ jagt er“), „spero me Lunas circum-Martiales et eircum-Venerias, si quas Galilaee olim deprehensurus es, facillime collocaturum.“ Was Kepler hier von Galilei hofft, ſchien zwar nicht durch dieſen, wohl aber durch einen Anderen bald realiſirt werden zu ſollen. Ein Jahr nach Gali— lei's Tode veröffentlichte der Kapuziner Schyrlaeus de Reita, ein bekannter Optiker, ein Schriftchen“ ), in welchem er von zahlreichen neuen Entdeckungen zu be— richten hatte. Obwohl daſſelbe Anklang fand und ſogar ſelbſtſtändige Commentare hervorrief.), ſo iſt es jetzt doch bereits ſo ſelten geworden, daß wir es uns nicht *) Ibid. p, 505 ff. h Reita, Novem stellae circa Jovem visae, circa Saturnum sex, circa Martem non- nullae, a P. Ant. Rheita detectae, Lovani 1643. prioribus Medicaeis vel Brandenburgieis h Von beſonderem Intereſſe iſt derjenige, welchen der Cardinal Caramuel von Lob— kowitz verfaßte (Caramuel Lobkowitz, De novem sideribus circa Jovem visis, Lovani 1643), und der für die uns hier beſchäftigende Frage allerdings keine neuen Materialien bei— bringt, dafür aber in der Vorgeſchichte des Foucault'ſchen Pendelverſuches ein — vom Verf. bereits früher gewürdigtes — Haupt— document repräſentirt. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. zu verſchaffen in der Lage waren. Dieſer Mangel hat jedoch wenig zu ſagen, da genaue Nachrichten über den Inhalt dieſes Buches in ein wenig ſpäter erſchienenes Buch übergegangen ſind, welches auch ſonſt für die Geſchichte der Aſtronomie von großer Bedeutung iſt, gleichwohl aber noch gar nicht ſo ausgenützt worden zu ſein ſcheint, wie es dies verdiente. Es iſt dies eine | Streitſchrift Lipſtorp's, welche die Rechte des kopernikaniſchen Syſtems zahlreichen Einwürfen gegenüber zu vertreten be— ſtimmt iſt. Gleich in der Einleitung!) heißt es, man kenne zur Zeit eine weit größere Zahl beweglicher Sterne, denn früher; die Menge derſelben ſei beſonders in den letzten Jahren erheblich geſtiegen: „Hodie tamen multo major conspieitur propter 5 novos satellites, quos laxiori- bus eireulis Jovem eircummeare primum observavit P. Antonius Reita. Satur- num trieorporeum observavit Schikar- dus, ejusdem pedissequas ostendit Reita, et ad theorias reduxit. Idem eireulares Martis detexit, in parvo libello Lovanii an. h. sec. XLIII. edito.“ In die de⸗ taillirte Schilderung des Planetenſyſtems ceintretend, führt er dieſe erſte Angabe näher aus*): „Interim non debeo praeter- mittere observationes Reitanas, quae Jovis aulam adhue 5 aliis comitibus, et magnitudine, et orbium suorum am- plitudine, et numero denique quatuor multo superioribus, auxerunt, adeo ut spatium illud totum, quod inter Satur- num et Martem utrimque immensum interjacet, impleant. Nam et eorum ) D. Listorp, Copernicus redivivus, seu de vero mundi systemate liber singu- laris, Lugduni Batavorum 1653. p. 4. bie, PS20: 0001171114141 nn Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. gyri, motus, et magnitudines admirabili proportione se invicem respiciunt, ita ut tres supremi omnino terram nostram magnitudine excedere ab ipso eredun— tur, et ad Martis amplitudinem quam proxime accedere. ... At non in Marte tantum novas maculas, sedet eirca eum novos satellites deprehendit Reita, illos tamen non enumerans ob motus eorum celeritatem, qui facit, quo minus & fixis discernantur, nisi in statione tantum. Esse tamen indubitatum hune comitatum pag. 72. lib. de IX stellis affirmat, ita ut sedula observatione et diligentia tem- pore et modo brevi subjugandum spe— ret.“ «) Es mag immerhin beachtet wer- den, daß Reita über die vermeintlichen Mars-Trabanten ſich in ſo unbeſtimmter Weiſe ausläßt, und ſtünde nicht nach Allem, was man über die optiſche Kraft der für jene Zeit allerdings ausgezeichneten Tele— ſkope Reita's weiß, die direkte Unmög— lichkeit feſt, mit ſolchen Hülfsmitteln die denkbar ſchwächſten Objekte wahrnehmen zu können, ſo wäre man faſt veranlaßt, feine. Entdeckung für mehr als eine Augentäuſch— ung zu halten. Jedenfalls erſcheint es ſicher, daß es Reita's Schrift in Ver— bindung mit der von Kepler aufgeſtellten Hypotheſe war, welche den ſpäter in Ernſt und Scherz angeſtellten Speculationen über die Exiſtenz von Marsmonden als Unter- grund diente. Wenn, wie ſich demnächſt zeigen wird, über dieſe damals noch ima— ginären Himmelskörper in der ungezwun— ſten Weiſe philoſophirt wird, ſo iſt durch unſeren Nachweis feſtgeſtellt, daß man hierzu eine gewiſſe thatſächliche Berechtigung be— ſaß, und aus dieſem Grunde glaubten wir auf die Erbringung dieſes Nachweiſes ein gewiſſes Gewicht legen zu ſollen. *) Ibid. p. 31. 373 Zu den häufigſten Literaturprodukten des ausgehenden ſiebzehnten und des be— ginnenden achtzehnten Jahrhunderts gehören Abhandlungen über die Vielheit der Welten, über die Bewohnbarkeit der Himmelskörper u. |. w., Arbeiten, als deren Prototype die bekannten größeren Werke von Huygens und Fontenelle gelten können. Ein Fränkfurter Rektor, Namens Schudt, be— handelte in einem Schulaktus ähnliche Fragen und kam dabei auch auf die angeblichen Monde des Mars zu ſprechen; ſeine Rede hat ſowohl im „Ausland“ (ſ. oben), als auch in dem vortrefflichen neuen Geſchichts— werke Zoeckler's?“) Erwähnung gefunden. Schudt's Worte find dieſe“ ): „Mars terra nosträ minor, eäque à Sole re- motior, vel lunas habet, mathematieis hucusque nondum observatas, vel à Jove, ejusque satellitibus vel alio, nobis nondum cognito modo, solis frui lu— mine potest.“ Ein intereſſanter Zug, bezeichnend für den teleologiſchen Zeitgeſchmack jener Periode! Dem in tiefer Finſterniß die Sonne umkreiſenden Mars mußte in irgend welcher Weiſe Licht verſchafft, reſp. oktroyirt werden, und zu dieſem Zweck mußte er Trabanten erhalten. Hätte Schudt das Büchlein Reäta's gekannt, jo hätte er ſich vermuthlich minder reſervirt aus— gedrückt. Vielleicht aber befanden ſich zwei auf anderen Gebieten hochberühmte Schrift— ſteller, Swift und Voltaire, in dieſem Falle. Daß beſonders der Erſtere in ſeiner Phantaſie über die Mars-Trabanten der Wahrheit ganz merkwürdig nahe kam, ) Zoeckler, Geſchichte der Beziehungen zwiſchen Theologie und Naturwiſſenſchaft, 2. Theil. Gütersloh 1879. S. 204. **) Schudt, Libri duo de probabili mundorum pluralitate cum appendice orationis de nihilo, Francofurti a. O. 1721. p. 4. Kosmos, III. Jahrg. Heft 5. 49 worden, ſo daß wir mehr blos der ange ſtrebten Vollſtändigkeit halber die Swift'- ſchen Zukunftsblicke ausführlich wiedergeben. Die Bewohner der Luftinſel Laputa ſind ſchon durch die Verhältniſſe ihres Wohn⸗ ortes genöthigt, ſich intenſiv mit aſtrono⸗ miſchen Dingen zu beſchäftigen, und fo haben ſie denn auch unſer Planetenſyſtem weit gründlicher durchforſcht, als die irdiſchen Menſchen. Wir ſchließen uns im Folgen⸗ den, ſtatt an das allgemein bekannte Ori⸗ ginal, an die unſeres Wiſſens erſte deutſche Ueberſetzung an, welche von jenem veran⸗ ſtaltet worden iſt, und welche, gerade weil ihre Auffaſſung dieſer vielen neuen Dinge eine ſehr naive iſt, eines ſelbſtſtändigen kulturhiſtoriſchen Intereſſes nicht entbehrt. Dort heißt es von den Laputaniſchen Weiſen ): „Sie haben auch zwey Tra⸗ banten des Martis entdeckt, darvon der eine von dem Mittel-Punkt dieſes Planeten dreymahl jo weit, als der Diameter aus⸗ | Erde; auf den verſchiedenen Planeten wird machet, der andere aber fünffmahl ſo weit. Dieſer kehret ſich in ſeinem Mittelpunkt in 20 und einer halben Stunde einmahl herum, und jener in zehen Stunden; daß alſo der gevierdte Schein“) ihres Kreyß⸗ Lauffs beinahe in einer Gleichheit mit denen ) Des Capitän Lemuel Gulliver's Reiſe in neu entlegene Länder, 3. Theil. Leipzig 1728 S. 39. 8 ) Wie unfähig man damals in Deutſch⸗ land, im Vergleich zu den Engländern, war, mathematiſch⸗phyſikaliſche Dinge richtig auf- Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. iſt bereits mehrfach erklärt und bewundert Cubis in ihrer Entfernung von dem Mittel- punkte des Martis ſtehet. Daraus denn ſo viel erhellet, daß ſie eben durch das Geſetze der Gravitation, denen andere himm⸗ liſche Cörper unterworffen ſind, regieret werden.“ Swift, der gute Studien ge⸗ macht hatte und u. a. ja auch den ſeine eigene Perſönlichkeit wiederſpiegelnden Gul⸗ liver gerade bei den Laputanern durch ma⸗ thematiſches Wiſſen ſich hervorthun läßt, mochte aus irgend einem der gangbaren Compendien etwas von den hypothetiſchen Monden Reita's gehört haben, und benutzte dieſen Anlaß, um auch ſeinerſeits in geſchickter und neuer Weiſe ſeine Ver⸗ ehrung für den großen Landsmann New⸗ ton an den Tag zu legen. Nachdem Swift die Mars-Trabanten mit Glück in die ſatyriſche Literatur einge⸗ führt hatte, verblieben ſie derſelben, und auch Voltaire hat ſich ihrer in ſeinem „Mikromegas“ bedient. Derſelbe ſchildert die Reiſe eines Sirius-Bewohners nach unſerer Station gemacht und mancherlei Merkwürdiges erblickt. En sortant de Jupiter ils tra- versèrent un espace d'environ cent mil- lions de lieues, et ils cotoyerent la Planète de Mars, qui comme on seait, est eingq fois plus petite, que notre petit Globe; ils virent deux Lunes qui servent à cette Planète, et qui ont échappé aux regards de nos Astronomes. Je scais bien que le Pere Castel“) éerira, zufaſſen, geht u. a. daraus hervor, daß der Ueberſetzer den Geviertſchein mit dem Quadrat der betreffenden Zahl verwechſelt. Thatſächlich ſoll von obigen Zahlen geſagt werden, daß ſie annähernd dem dritten Keple r'ſchen Geſetze genügen, d. h. daß die Beziehung 35: 5 — 102: (201),)2 gilt. Links ſteht aber ein etwas kleinerer Bruch, als rechts. ) Dieſer Pater Caſtel war für Vol⸗ taire vermuthlich um deß willen ein Gegen⸗ ſtand witziger Anfeindung, weil letzterer als begeiſterter Newtonianer daran Anſtoß nahm, daß Caſtel in einem umfänglichen Werke für Carteſius gegen Newton in die Schranken getreten war. (Castel, Le vrai systeme de physique generale de Mr. Isaac Newton, A Paris 1743. Dieſes Buch verdiente übrigens | Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. et m&me assez plaisamment, contre l’exi- stence de ces deux lunes; mais je m’en rapporte à ceux, qui raisonnent par bons philosophes-lä | Analogie. Ces scavent, combien il seroit difficile, que Mars, qui est si loin du soleil, se passät, au moins de deux lunes“). Es unter- liegt für uns keinem Zweifel, daß Voltaire zu dieſem Excurs durch Swift angeregt worden iſt, indeß zeigt auch er ſich von der. teleologiſchen Sucht, dem Weltbaumeiſter ins Handwerk zu greifen, angeſteckt, und ſeine Schlußworte beſagen genau daſſelbe, was der fromme Deutſche Schudt (f. o.) von ſeinem theologiſchen Standpunkt aus | Die Eiszeit-Spuren in den Rüders. für nothwendig zu erklären ſich bemüßigt ſah. In ganz demſelben Sinne ſpricht ſich ein wackerer Schriftſteller aus, der ſeine nicht unbedeutenden mathematiſchen Kennt- niſſe ſpeciell für das Studium der Bibel | Findlingsblöcke der norddeutſchen Tiefebene nutzbar zu machen ſuchte, der Züllichauer durch ſchwimmende Eismaſſen aus dem Pfarrherr Jakob Schmidt. Indem er | Norden hergeführt wurden, iſt in neueſter das Weltſyſtem unter dem generellen Ge— ſichtspunkt der göttlichen Zweckmäßigkeits— lehre betrachtet, ſagt er beiläufig über den Mars Folgendes“ *): „Weil nun die Erde am | erften mit ihrem Mond als einem Trabanten verſehen worden, Mars aber noch weiter von der Sonne ſtehet, ſollte er billig mehr und zum wenigſten zwei haben; unerachtet aber alles von den Obſervatoribus angewen— deten Fleißes hat man noch keines finden können, weil ſie etwas zu klein ſein, und bekannter zu ſein, als es iſt; ſein Verfaſſer bemüht ſich wenigſtens, unpartheiiſch zu ur— theilen, und unter den zahlreichen Streitſchriften jener Uebergangsperiode dürfte dieſe durch eine recht objektive Haltung immerhin noch eine hervorragende Stellung einnehmen. *) Voltaire, Le Micromégas, A Berlin 1753. pag. 15. **) J. Schmidt, Bibliſcher Mathema— tikus, Züllichau 1736. S. 468. 375 ein ſchwaches Licht von ſich geben, und zu weit entfernt ſind: vielleicht möchten ſie mit der Zeit noch gefunden werden.“ Neuere Kundgebungen divinatoriſcher Natur ſind dem Verf. bisjetzt nicht bekannt | geworden, indeß iſt es mehr denn wahr— ſcheinlich, daß fleißiges Durchſuchen der aſtronomiſch-philologiſchen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts noch manchen weiteren Beleg wird liefern können. Wir möchten dieſen Punkt der Aufmerkſamkeit der Hiſtoriker anempfohlen haben. Prof. Dr. S. Günther. dorfer Kalkbergen. Die Drifttheorie, nach welcher die Zeit trotz ihrer großen Wahrſcheinlichkeit auf Grund mehrerer Funde angegriffen worden, durch welche man zu beweiſen hofft, daß Nordeuropa wirklich, wie man früher annahm, einſt völlig vergletſchert geweſen ſei, und daß gewaltige Gletſcher von Skandinavien bis weit über Berlin hinaus ſich erſtreckt und jene Blöcke auf ihren Rücken heraustransportirt hätten. Dieſe angeblich beweiſenden Funde ſollen aus wohlcharakteriſirten Gletſcherſpuren in den bekannten Rüdersdorfer Kalkbergwerken öſtlich von Berlin ſtehen, einer Localität, woſelbſt keine hohen Bergzüge örtlichen Anlaß zur Bildung von Gletſchern gegeben haben können. Wir entnehmen die nachfolgenden Ein— zelheiten wechſelſeitig einem Vortrage, den Profeſſor Orth bei einer Excurſion der Berliner Anthropologiſchen Geſellſchaft an 2ST ⁵˙ààA2AA TTT—Tö5TTTTT—T—T—T—T—T—T—....—————.....—————. 376 jenem Orte gehalten, und einem Berichte, den Herr Fritz Nötling in der Sitzung der deutſchen geologiſchen Geſellſchaft vom 18. Juni 1879 über ſeine Unterſuchungen erſtattet hat. Das der Formation des Muſchelkalkes angehörende Rüdersdorfer Kalkſteinlager erſtreckt ſich in einer bauwürdigen Mächtig— keit von 73 Meter auf einer Länge von faſt ½ Meile in der Richtung von Süd— weft nach Nordoſt. Die Geſammtmächtig— keit des Muſchelkalkes beträgt nahezu 300 Meter. Schichten der bunten Sandſteinformation, welche hier in einer Geſammtmächtigkeit von 317 Meter entwickelt iſt. Die Schichten beider Ablagerungen fallen mit 12— 20 Grad nach Nordweſt, bezw. Norden ein. Die im Bau genommenen Kalkſtein-Schichten gehören der oberen Abtheilung des unteren Muſchelkalks an. Dieſer gelbe oder weiße Kalkſtein bricht in Lagen von 30—150 Ctm. und liefert ein zur Darſtellung von gebranntem Kalk wie zur Verwendung als Bauſtein, namentlich aber auch als Werk- ſtein ſich vorzüglich eignendes Material. Ganz Berlin faſt, kann man ſagen, ſteht auf Rüdersdorfer Kalkſtein. Schon vor mehr als 40 Jahren wurde von dem Verwalter der Rüdersdorfer Kalk— brüche, Prof. Guſtav Roſe, mitgetheilt, daß der Kalkfelſen der Brüche „unter der Erd— decke abgenutzt und geſchliffen gefunden worden ſei mit deutlichen Riefen darauf“. Dieſe Erſcheinung wurde nicht weiter ſtudirt, bis am 3. November Excurſion, welche der Profeſſor Orth mit dem Direktor der geologiſchen Landesanſtalt zu Stockholm, Torell, und Prof. Berendt Glacialſchrammen an der Oſtſeite des AL | Die Unterlage deſſelben bilden die kannt und ſpäterhin beſprochen wurden. Torell deutete dieſelben ſo, daß Norddeutſch— land früher ein großes, vom baltiſchen Norden ausgehendes Gletſchergebiet geweſen ſei, deſſen Eismaſſen dieſe Streifungen her— vorriefen. Dieſe Anſicht ſteht bekanntlich der viele Anhänger beſitzenden Drift Theorie gegenüber, nach welcher zur Diluvialzeit ein Meer von mindeſtens 150 - 300 Meter Tiefe über der Norddeutſchen Tiefebene geſtanden habe, und die erratiſchen Blöcke über dieſes Gebiet durch das Schmelzen treibender Eisberge vertheilt worden wären. Prof. Orth ſtellte ſich ſchon bei der Herausgabe ſeiner vortrefflichen geognoſtiſch— agronomiſchen Karte der Umgegend von Rüdersdorf, 1877, auf den Standpunkt, daß dieſe in weſtöſtlicher Richtung verlauf— enden parallelen Ritzen und Schrammen der Kalkſchichten ihrer Natur nach mit den glatten Flächen und parallelen Streifen, wie ſie an den ausgefurchten und ausge— ſchrammten Gletſcherthälern der Schweiz bis zu bedeutender Höhe vorkommen, über— einſtimmen. Auf der Naturforſcherverſamm— lung zu München und auf dem anthropo— logiſchen Congreß in Conſtanz 1877 erwarb er für dieſe ſeine Anſicht unter Vorlage von charakteriſtiſchen Rüdersdorfer Platten 1875 auf einer Anhänger unter den Gelehrten. Freilich war durch dieſe Streifen, falls ſie wirklich von Gletſchern herrühren, die Drifttheorie bedroht, dennoch aber konnte man vielleicht an Eisberge denken, welche in den Fluthen des Diluvialmeeres bis nach Rüdersdorf getrieben, hier den Grund geſchrammt hätten. Aber dieſer Einwand iſt wieder durch eine allerneueſte Endeckung bedroht, welche zu beſtätigen ſcheint, daß die Glacialſchliffe und dorthin unternahm, dieſe charakteriſtiſchen Schrammen nur durch wirkliches Gletſchereis in situ hervorgerufen ſein können, eine vensleben-Bruches geſehen, als ſolche er- Endeckung, auf welche von mehreren Seiten TTT Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. | | — ee —— Cf Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 377 Anſpruch erhoben wird, welche aber, wie es ſcheint, zuerſt durch Dr. Penk, Mit- arbeiter an der geologiſchen Landesanſtalt im Königreich Sachſen, gemacht worden iſt. Derſelbe theilte im vorigen Jahre, nach einem Beſuche jener Stelle, Prof. Orth mit, daß er neben den Schrammen und Schliffen in Folge günſtiger Abdeckung des Kalkes ſogenannte „Rieſentöpfe“ wahrge— nommen habe, legte ihm auch gleichzeitig eine kleine Skizze darüber vor. Unter Rieſentöpfen verſteht man bekannt— lich keſſel⸗ bis trichterförmige Vertiefungen, die durch herabſtürzendes Waſſer ausgehöhlt worden ſind, indem das Waſſer Steine in Bewegung ſetzte, welche die Schleifarbeit beſorgten. Am häufigſten bemerkt man ſolche Aushöhlungen an Stellen, woſelbſt ſich ſo⸗ genannte Gletſchermühlen befunden haben, Stellen, an denen Schmelz-Waſſer größerer Gletſcher theilweiſe tief in Spalten hinab— ſtürzte. So hat man in dem ſoge— genannten Gletſchergarten bei Luzern eine Anzahl derartiger, aber meiſt ziemlich weiter Keſſel gefunden, in deren jedem noch die Roll⸗Steine lagen, von deren Drehbewegung man die Aushöhlung ableiten mußte. Aehn— liche, jedoch viel engere und tiefere Trichter, als ſie meiſtens gefunden wurden, waren nun zu Rüdersdorf in der Nähe des ſo— genannten Alvenslebenbruches durch die Abraumarbeiten der Bergverwaltung vertical durchſchnitten worden, ſo daß ſie bis auf den unteren Grund unterſucht werden konnten. Das zum Abraum gelangende Geſtein iſt der ſogen. Schaumkalk; derſelbe hat am Alvenslebenbruche weſentlich ein weſtöſtliches Streichen der Schichten und ein Einfallen derſelben nach Norden unter einem Winkel von 12 bis 20 Grad, an einer Stelle ſogar 25 Grad. Auf einer Excurſion, welche Prof. Dames und Studioſus Nötling Pfingſten 1879 nach dem in Rede ſtehenden Terrain an— ſtellten, hatte der Letztere eine Anzahl dieſer Töpfe kennen gelernt, ſich der nähern Unter— ſuchung derſelben unterzogen, und der deutſchen geologiſchen Geſellſchaft einen ausführlichen Bericht erſtattet, dem wir das Folgende entnehmen: Zur näheren Unterſuchung dieſer Ver— tiefungen, deren Zahl auf einem Terrain von ca. 300 Meter Länge und 100 Meter Breite ungefähr 80 beträgt, begann er im Mai d. J. mit der Entleerung einiger der— ſelben. Der Inhalt beſtand zu oberſt aus Diluvialſand, untermiſcht mit abgerundetem kleinen Gerölle von Haſelnußgröße; darunter zeigte ſich dann zäher Lehm, der dem Fort— ſchritte der Arbeit großen Widerſtand leiſtete; derſelbe war gemengt mit mehr oder minder großen, theils abgerundeten Geſchieben. Sämmtliche von ihm entleerte bohrlochartige Vertiefungen haben übereinſtimmend das Charakteriſtiſche, daß ſie bei ſehr bedeutender Tiefe eine ſehr geringe lichte Weite beſitzen und ſich nach ihrem Tiefſten zu ſo ſtark verjüngen, daß das gänzliche Entleeren nur nach Entfernung der oberſten Muſchelkalk— ſchichten geſchehen kann. Dieſe Verjüngung beſteht jedoch nicht in einer allmählichen An— näherung der Wände, ſondern in einem teraſſenartigen Abſetzen der Wandflächen. Beiſpielsweiſe ſei erwähnt, daß eine dieſer Vertiefungen bei einer lichten Weite von 50 Ctm. eine Tiefe von 1,50 Meter beſaß, während bei einer andern von 70 Ctm. l. W. bei 2½ Meter Tiefe noch nicht erreicht war; eine dritte beſaß bei kaum dem Durch— meſſer eines Mannesarmes eine Tiefe von ca. 1 Meter. Einzelne dieſer Vertiefungen waren ſo eng, daß man ſie nur mit Mühe entleeren konnte, die Wandungen glatt geſchliffen, wie 378 das in der Regel bei den Rieſentöpfen der Fall ift. Ueber die allgemeine Lage derſelben bemerkte Prof. Orth in ſeinem Vortrage das Nachſtehende: „Wie die Höhenſchichtenkarte ergiebt, hat das Terrain an der Südſeite des Alvens— lebenbruches eine Höhenlage von etwa 250 Fuß und die Diluvialdecke iſt daſelbſt eine ſehr dünne. An der Nordſeite des Bruches ſteigt die Diluvialdecke bis über zwei Meter und durch den Abraum tritt deshalb die Differenz der Höhenlage gegen die Schichten ſüdlich von gegen 100 Fuß noch etwas mehr hervor. Auf die mehr weſtöſtliche als nord— ſüdliche Richtung der Glacialſtreifen iſt dies offenbar von Einfluß geweſen, indem die Eismaſſen nach Süden hin vor höhere Stellen des Terrains gelangten. Nach verſchiedenen, von mir gemachten Meſſungen ſchwankt die Richtung derſelben zwiſchen 3 und 6 hora, nur an der Nordſeite tritt die nord— ſüdliche Richtung mehr hervor. Dieſe iſt von mir hora 1—2 gemeſſen. Bei weitem die meiſten Trichter find auf der Nordſeite, alſo auf der Seite, nach welcher auch die Waſſermaſſen wegen des Einfallens der Schichten nach Norden vorausſichtlich auf dem Eis fließen mußten. Das Entſtehen der Rieſentöpfe durch ſogenannte Gletſcher— mühlen unterhalb von Eisſpalten reſp. durch bewegten rollenden Kies, Sand und Geröll iſt hier ähnlich zu erklären, wie man es in gegenwärtigen Gletſcherdiſtrikten noch beo— bachten kann, und es iſt für die Er— klärung ihrer Entſtehung das Vor— handenſein einer allgemeinen Waſſerbedeckung an dieſer Stelle, wie es die Drifttheorie voraus— ſetzt, auszuſchließen. Der in den Trichtern ſich findende Lehm und Thon iſt größtentheils auf Muſchelkalkverwitterung zurückzuführen!“ Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Dieſe Funde würden in der That von der äußerſten Wichtigkeit ſein, wenn ſich be— weiſen ließe, daß dieſe Keſſel wirkliche Er— zeugniſſe von Gletſchermühlen ſeien, denn dann würde Rüdersdorf ein klaſſiſches Feld zum Beweiſe gegen die Drifttheorie und für die ſonſt ſo unwahrſcheinliche Gletſchertheorie werden. Allein man wird hier ſehr vor— ſichtig verfahren müſſen, denn erſtens muß man ſich klar machen, daß ſolche Erſchein— ungen auch von gewöhnlichen Waſſerfällen hervorgebracht werden können, und zwar die tieferen um ſo eher, als die Gletſcher— mühlen wegen der Plaſticität des Eiſes nicht lange an demſelben Punkte verweilen und daher keine ſehr tiefen Töpfe hervor— bringen können. Viel größere Aehnlichkeit, als mit den gewöhnlichen Rieſentöpfen, haben aber dieſe Rüdersdorfer Vorkommniſſe mit den ſogenannten Orgeln, die man häufig im Korallenkalk und in der Kreide findet, und in Tyrol „Rinner“, in England chim- ney pipes nennt. Es ſind das ein bis mehrere Fuß ſtarke Röhren, die bisweilen 20-30 Fuß tief ſenkrecht hinabgehen, und bisher mit allen möglichen andern Urſachen, nur nicht mit Gletſchermühlen in Verbindung gebracht worden ſind. Soviel ſich auch Lyell, Nöggerath und andere Geologen um die Erklärung dieſer Erſcheinungen be— müht haben, hat man doch eine wirklich befriedigende Erklärung für dieſelben bis jetzt nicht gefunden, und man iſt um fo weniger berechtigt, die Rüdersdorfer Röhren— töpfe auf Gletſchermühlen zurückzuführen, als jeder beliebige Waſſerfall im Kalkgebiete ähnliche Erſcheinungen hervorbringen kann. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Die Gattung Nepenthes und die geographiſche Verbreitung der Pflanzen im papuaniſch-malayiſchen Archipel. Auch im jüngſt erſchienenen dritten Hefte feiner Malesia giebt uns Odoardo Beccari einige intereſſante Notizen über die Verbreit— ung der Pflanzen, vorzüglich in Hinſicht auf die malayiſch-papuaniſche Flora, welche er ſeit langen Jahren mit beſonderer Vorliebe ſtudirte. Diesmal ſind es die in Neu-Guinea entdeckten wenigen Nepenthes-Arten, welche ihn zu einer Reihe von Betrachtungen über die Erklärung jener eigenthümlichen Thatſache der botaniſchen Geographie — nämlich das Vorkommen gleicher oder ganz nahe verwandter Formen auf weit von einander gelegenen Bergſpitzen veranlaſſen. Von den drei bekannten Arten dieſer Gattung iſt es in erſter Linie die ſeltnere, außer auf den Bergen Amboinas und Neu— Guineas nur auf einigen Bergen von Su— matra und Borneo vorkommende N. Bo- schiona, welche uns hier intereſſirt. Sie iſt jedoch nicht die einzige Pflanze im papuaniſch— malayiſchen Archipel, deren Wohnſtätten auf ſo iſolirte Punkte beſchränkt ſind. Ein Gleiches iſt der Fall bei manchen Arten von Drimys, Leucopogon, Leptosperma, Vac- einium, Diplycosia, Gaultheria, Podocar- pus, Burmannia ꝛc. — ohne jene andern Gattungen zu nennen, deren Fundorte nicht ſo iſolirt oder deren Arten nicht immer in den verſchiedenen Wohnorten ſo ſpezifiſch identiſch unter einander ſind, wie obige, obwohl ein unleugbarer Verwandtſchaftsgrad zwiſchen ihnen beſteht. Wie iſt es nun zu erklären, daß iden- tiſche und ähnliche Arten ſo vereinzelt in entlegenen Regionen vorkommen? 379 Von den verſchiedentlich aufgeſtellten Hypotheſen iſt keine allein im Stande, dies Problem der geographiſchen Botanik zu löſen. Betrachten wir bezüglich ihres Aus- ſäungsvermögens die hier beregten Pflanzen, ſo können wir ihre Samen oberflächlich in drei Gruppen unterſcheiden. 1) Samen, reſpektive die dieſelben ent— haltenden fleiſchigen Früchte, welche den Vögeln zur Speiſe dienen (Vaccinium, Gaultheria, Drimys, Ficus u. ſ. w.). 2) Winzig kleine, ſägemehlartige Samen, mit leichten Membranen, Flügel-Anſätzen oder Schwänzen verſehen (Nepenthes, Aeschynanthus, Dichrotrichium, Bur- mannia, Rhododendrona). 3) Samen, welche keine ſpeciellen Ver⸗ breitungsmittel beſitzen (Araucaria, Dam- mara, Dacrydium, Casuarina 2c.). Die unter Nr. 1 angeführten Samen, wenn einmal in die Eingeweide der Vögel gelangt, können mit Leichtigkeit nach entfern- ten Orten übergeführt werden; doch ſind die Entfernungen zwiſchen den Wohnorten einiger ähnlichen Arten oft ſo groß, daß man unwillkürlich die Exiſtenz von Zwiſchen— ländern in früheren Zeiträumen annehmen muß, um die Möglichkeit des Samen-Trans⸗ portes durch Vögel zugeben zu können; es mögen aber auch andere Umſtände mitge— wirkt haben, auf welche wir ſpäter zurüd- kommen. Bekanntlich durchfliegen verſchiedene Vögel einen Raum von 30 Seemeilen pro Stunde. Falken ſollen ſogar im Stande ſein, in derſelben Zeit einen doppelt ſo weiten Weg zurückzulegen; auf dieſe Weiſe könnten alſo Vaceinium-Samen aus dem Innern Serams in wenigen Stunden bis auf irgend einen Berg Neu-Guineas gebracht werden. Ein anderer wichtiger Faktor in der Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Samenverbreitung iſt für den malayiſchen Rhod. vertieillatum 0,000028 Gramm, Archipel der dort während eines Theils des Jahres mit großer Intenſität und Be— ſtändigkeit in den höheren Bergregionen wehende Monſum, beſonders der Nord-Oſt, welcher zugleich mit dem feinen Bergſtaube auch die leichten, ſägemehlartigen Samen der dort oben wachſenden Pflanzen forttragen muß, bis dieſelben in andern Regionen, und höchſt— wahrſcheinlich von Gebirgen, aufgehalten werden und dort einen Lagerungsplatz finden. Welche Transportfähigkeit der Wind beſitzt, beweiſen uns die nicht ſeltenen Nieder— ſchläge von afrikaniſchem Wüſtenſand in Sici— lien und dem Feſtlande Italien's, und andererſeits die conſtatirten Aſchenregen in Konſtantinopel zur Zeit der jüngſten Veſuv— Ausbrüche. Bei dem Vorherrſchen des ſtarken und beſtändigen Nordoſtmonſums im malayiſchen | Archipel darf es uns alſo nicht Wunder nehmen, wenn wir auf den Bergen der Molukken und Neu-Guineas Rhododendron, Nepenthen und andere Pflanzen der weſt— licheren Regionen, auf den Javaniſchen Ge— birgen Arten der Indiſchen Zone antreffen. Man wollte auch das Vorkommen einiger auſtraliſcher Formen durch die entgegengeſetzte Luftſtrömung zu erklären ſuchen; doch ſcheint dieſe Annahme nicht ſo plauſibel, da erſtens die Samen dieſer wenigen Arten ſchwerer ſind und zweitens die Gegenwinde mit viel weniger Heftigkeit und Beſtändigkeit als der Nord-Oſt-Monſum wehen. Wie ungeheuer leicht die Samen der obengenannten zweiten Gruppe ſind, zeigt uns Beccari in einigen Ziffern, welche Dr. Grattarola in Florenz durch Abwiegen verſchiedener Samenpartien conſtatirte. Es ergab ſich für ein einzelnes Samenkorn der Nep. phyllamphora Willd. ein Durch- ſchnittsgewicht von 0,000035 Gramm, einer Keschynanthus-Art 0,0000 2 Gramm, Dendrobium antennatum 0,00000565 Gramm. Der geringſte Luftzug, der bloße Athem der Experimentators genügte, die Samen zu zerſtieben. Zuweilen wirken auch beſondere Um— ſtände mit dazu bei, die weite Verbreitung der Samen der erſten Gruppe durch Vögel zu begünſtigen. So können beſonders heftige Windſtöße die Vögel in ihrem Fluge überraſchen und ſie ein viel ſchnelleres Flugtempo anſchlagen laſſen, in Folge deſſen die Thiere eine größere Diſtanz zurücklegen, und ſie die Samen auf eine beträchtlichere Entfernung in verhältnißmäßig kurzer Zeit zu über- tragen vermögen. Oft auch ſind die verſpeiſten Früchte adſtringirender Natur, wodurch ein längeres Verweilen der Samen in den Eingeweiden bewirkt und ſomit eine längere Reiſe derſelben ermöglicht wird. Ueberhaupt ſind die Bedingungen, an welche die Exiſtenz der Samen geknüpft iſt, ſo mannigfacher Art, daß ſich der Forſcher nicht genugſam vor Einſeitigkeit in der Beurtheilung ihres Verbreitungsvermögens wahren kann. Es müßten da in Betracht gezogen werden: alle Eigenthümlichkeiten der Früchte, deren Farbe, Geruch, Geſchmack; die größere oder mindere Verdaulichkeit der Samen, die Dauer ihrer Keimfähigkeit unter allen möglichen, gegebenen Umſtänden; die Art der fie beſchützenden Hüllen, ihre adjtrin- girenden, purgirenden, oder auch giftigen Eigenſchaften; die Leichtigkeit der Membranen und Häkchen; ihre Ausſchwitzungen, Härchen, Dornen, Schalen; deren Undurchdringlichkeit, » Härte u. ſ. w. u. ſ. w. Andererſeits die abſtoßenden Eigen— ſchaften der Früchte, die nicht wenig zu deren Erhaltung beitragen, die Fruchtſtellungen an Stengeln und Zweigen, die Art des Aufſchwingens, die Anzahl der produzirten Samen, — alles Dinge von anſcheinend geringer Bedeutung, die aber für die Ver— breitung der Pflanzen auf der Erdoberfläche von großer Wichtigkeit ſind. Es genügt jedoch nicht, daß die vom Winde oder den Vögeln entführten Samen an irgend einer anderen Oertlichkeit ausgeſäet werden, um dort zu gedeihen. Die Samen dürfen vor allem während der langen Luftreiſe ihre Keimfähigkeit nicht verloren haben; — ihre Keimung, ſelbſt bei paſſendem Boden, hängt von der Anweſenheit von Inſekten, wie z. B. der Ameiſen, ab, von denen ſie häufig zerſtört werden; ſchließlich muß der Zeit— punkt ihrer Ankunft in die günſtige Keim— ſaiſon fallen. Entwickelt ſich nun auch ein junges Pflänzchen, ſo hat dieſes wieder die Luft- und Raum -Concurrenz mit anderen ſchon vorhandenen Pflanzen auszuhalten. Endlich wird die Befruchtung der Blumen und die Reifung des neuen Samens durch mancherlei Umſtände bedingt, wie z. B. Vor⸗ handenſein von die Befruchtung beſorgenden Inſekten bei dichogamiſchen Blumen, die nöthigen günſtigen Temperaturverhältniſſe zur Samenreifung u. ſ. w. Die Anzahl der vom Winde oder den Vögeln weggeführten und anderwärts aus— geſäeten Samen muß in manchen Fällen eine ganz bedeutende ſein; doch kommen ver— hältnißmäßig nur wenige davon zur Keimung. Es wird dieſer Umſtand vielfach der mangel— haften Beſchaffenheit des Bodens, auf den die Samen fallen, zugeſchrieben; doch ſcheint dies nicht ſo ſehr die richtige und wichtigere Urſache zu ſein, als die phyſikaliſchen Ver— hältniſſe der Gegend. Auch die Temperatur Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 1 381 und der hygrometriſche Zuſtand der Atmo— ſphäre ſprechen ein gewichtiges Wort mit, wie auch eine ſchon vorhandene, üppige Vegetation Neulinge weniger zuläßt. Auf einer kärglich bepflanzten Bergſpitze, deren Bodenverhältniſſe der Keimentwickelung nicht geradezu feindlich ſind, werden dagegen die neu angelangten Samen beſſere Ausſicht auf Gedeihen haben. Wie Winde und Vögel die ſchnelle Entſtehung einer neuen Vegetation vermitteln, beweiſen uns die vielfachen Vulkane der malayiſchen Region, die ſich in wenigen Jahren nach einem Alles zerſtörenden Aus— bruch wieder mit dem ſchönſten und üppig⸗ ſten Pflanzenmantel bedecken; es zeigen dies u. A. auch die vielen vulkaniſchen Berge Javas auf deren Spitzen eine Vegetation gedeiht, welche der indiſchen Gebirgsflora des Himalaya ihren Urſprung verdankt, mit Ausnahme pon wenigen Pflanzen, über deren Herkunft noch kein genügender Auffſchluß verſchafft worden ift.*) Natürlich behält die ſo von Bergſpitze zu Bergſpitze verpflanzte Vegetation ihren alpinen Charakter bei, der ſie ſtreng von der echt tropiſchen Flora unterſcheidet. Wenn ſich nun auch das Vorkommen vieler Pflanzen im malayiſchen Archipel durch die geographiſche Lage der Länder, die Richt— ung der vorherrſchenden Winde zur Zeit der Samenreife, die Arten der vorhandenen Vögel und Inſekten und deren Gewohnheiten, die hygrometriſchen Verhältniſſe der Atmo— ſphäre, die Meeresſtrömungen und ſchließlich durch die Natur der Früchte und Samen erklären läßt, ſo ſind dieſe Faktoren doch nicht hinreichend, uns Aufſchluß über die Vertheilung von Pflanzen zu geben, die auf den Bergen Sumatras, Borneos, der Molukken, und Neu-Guineas ꝛc. wachſen =, Vergl. Kosmos IV. S. 214. Kosmos, III. Jahrg. Heft 5. 50 . 0 5 382 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. und deren nächſte Verwandte in den fernſten Ländern, wie Tasmanien, Neu⸗ Seeland, Neu⸗-Caledonien, in Auſtralien und ſelbſt im Feuerland ſich wiederfinden. Zu dieſer Gruppe gehören auch unſere Nepenthes- Arten, welche nicht nur im Malayiſchen Archipel und auf Neu⸗Guinea, ſondern auch in Ceylon, auf den Senſchellen und Ma⸗ dagascar einerſeits, und in Auſtralien, Neu-Irland, Neu⸗Caledonien andererſeits vorkommen. Die Samen dieſer Pflanzen⸗ gattung dienen keiner Vogelart als Speiſe; beſondere Vorrichtungen, um von anderen Thieren transportirt zu werden, beſitzen ſie nicht; zwar können ſie bei ihrer großen Leichtigkeit vom Winde getragen werden, doch iſt eine ſolche Verbreitungsart mit der gegenwärtigen Configuration der von ihnen bewohnten Inſeln und Feſtländern und deren Entfernungen von einander keineswegs wahr⸗ ſcheinlich. Der Wind hat ſchwerlich die Samen der N. ampullaria von Ceylon nach den 1500 (See)-Meilen weit entfernten Seyſchellen oder gar nach Madagascar ge- tragen, wo die Nepenthes-Arten am meiſten vom gemeinſamen Typus in Blüthe, Frucht und Samen abweiden. In der Blüthe nähern fie ſich zwar mehr der Ceyloniſchen, als jeder anderen Art, und zeigen ſo einen größeren Grad von Verwandtſchaft mit den Formen des nächſtliegenden Wohnortes der Nepenthen, als mit den entfernteren des malayiſchen Archipels, und dennoch weicht andererſeits die Madagascariſche Art weniger vom Mala⸗ viſchen Typus ab, als die näherliegende Sey⸗ ſchellen⸗Art; Dazu kommt noch die merk⸗ würdige Thatſache, daß die zur Verbreitung nützlichen, wenn nicht nothwendigen Anſätze an den Samen bei der Madagascar-Art bedeutend reduzirt ſind, während ſie bei der Seyſchellen-Art gänzlich fehlen; es mangelt letzterer alſo gerade das Organ, welches ihre Verpflanzung auf jene iſolirte Region auf dem Luftwege ermöglicht hätte. Iſt es denkbar, daß ein ſolches Organ, das für die Verbreitung der Pflanze von jo großer Wichtigkeit ſein mußte, gänzlich ver⸗ ſchwunden ſei, ohne auch nur Spuren eines ataviſtiſchen Merkmals zu hinterlaſſen? Es kann alſo auch der Wind, bei der heutigen Vertheilung von Land und Meer, die Verbreitung der Nepenthes-Arten nicht bewirkt haben; noch weniger kann dies der Fall ſein bei den Daerydium-Arten, bei Dra- petes erieoides, Phylloeladus hypophyl- lus, Araucaria Cunninghamii und ſchließ⸗ lich den Drimys-Arten, welche letztere unter ſich jo nahe verwandt find, daß kein Botaniker ſie je von einander trennte, und die ſich dennoch von den Bergen Borneos über die Molukken nach Neu-Guinea, Neu⸗Cale⸗ donien, Auſtralien, Tasmanien, Neu⸗Seeland bis zur Maghellanſtraße und ſogar auf ver- ſchiedene Punkte Südamerikas ausdehnen. Hier iſt keine andere Erklärung zuläſſig, als daß wir es mit Abkömmlingen von Pflanzenfamilien zu thun haben, welche ſich in früheren geologiſchen Perioden weit über damals exiſtirende Länder ausbreiteten, die allmählich unter der Waſſeroberfläche ver⸗ ſchwanden, als einzige Zeugen ihrer Exiſtenz Inſel und Bergſpitzen zurücklaſſend, welche lange Zeiträume hindurch die Ueberreſte der darauf gedeihenden älteren Vegetation un⸗ geſtört und unverändert bewahrten. Ohne hier auf die erdgeſchichtlich inter⸗ eſſanten Ausführungen Beccari's einzu⸗ gehen, wollen wir nur flüchtig die Schlüſſe andeuten, welche er in dieſer Beziehung für die Verbreitung der Lebeweſen zieht. Dort, wo ſich die phyſikaliſchen Beding⸗ ungen der Erdoberfläche wenig verändert haben, ſind auch die Lebeweſen ſelbſt ſeit den ²—e:ùi—ͤ md ̃—˙ W ‚‚‚‚‚‚ͥ‚‚ . -w Ei Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. älteſten Zeiten faſt unverändert geblieben. Entſteht ein neues Land in der Nähe eines alten und iſolirten, ſo wird jenes ſich mit ſolchen Pflanzen von letzteren bevölkern, welche von den Winden, Strömungen und über gebracht werden. Hat das neue Land erſt kurze Zeit unter dem Einfluſſe des alten geſtanden, ſo wird jenes nur wenige ſpecifiſche Formen einer Zbwiſchenformen aufweiſen. Ein neues ſich mit Pflanzen bevölkerndes Land wird eine um fo variirendere Einwande⸗ jene wunderbaren Fangblätter und Schläuche rungsflora erlangen, je variirter die Floren der umherliegenden, die Elemente dazu lie— | die Conſtruktion und Nützlichkeit dieſer kunſt— Ein Land bietet um jo mehr Spezial- fernden Länder ſind. typen, eine um ſo größere Anzahl generiſcher und mit den Foſſilien verwandte ſpecifiſche Formen, je länger daſſelbe ſich in denſelben Verhältniſſen erhalten hat. Kommen in zwei von einander entfernten und getrennten Ländern verwandte ſpecifiſche Formen vor, die keine mächtigen Verbreit— ungsmittel beſitzen, ſo muß man annehmen, daß in einer mehr oder weniger entlegenen Epoche eine Verbindung oder wenigſtens Zwiſchenländer exiſtirt haben, welche die Vertheilung auf dem Landwege aus oben angeführten Gründen möglich machten. Und ſo dürfte uns denn auch die Verbreitung der Nepenthes - Arten im malayiſchen Archipel und außerhalb deſſelben, durch die Annahme einer von der heutigen gänz— lich verſchiedenen Ländermaſſen-Geſtaltung, als kein ſo unerklärliches Räthſel mehr erſcheinen. Weitere Betrachtungen führen Beccari zu dem Schluſſe, daß die Gattung Nepen— thes von Waſſerpflanzen abſtammen muß, was ebenfalls zur Erklärung ihrer großen | Verbreitung beiträgt. Als Beleg zu dieſer Annahme dienen ihm die Thatſachen, daß die heutigen Nepenthes-Arten nicht nur in buſchigen Sümpfen und auf Höhen wachſen, | wo die Feuchtigkeit ſtets eine große iſt, ſon— Thieren in keimfähigem Samenzuſtande hin- retiſcher Reconſtruktion der hermaphroditiſchen dern bei näherer Erforſchung unter theo— Pflanze auch unzweifelhafte Analogien mit Waſſerpflanzen und ſolchen Arten, die erſt theilweiſe zum Landleben übergegangen ſind, jeden Gattung, und Genera-Typen ohne | aufweiſen. Der Umſtand, daß die Nepenthes wie andere verwandte Gattungen, als zur Klaſſe der inſektenfreſſenden Pflanzen gehörend, beſitzen, veranlaßt Herrn Beccari über vollen Apparate einige Bemerkungen beizu— fügen, welche wir hier wörtlich folgen laſſen: „Bekanntlich enthalten die jungen Kannen, welche noch im Beſitze des ihre Mündung ſchließenden Deckels ſind, ein ſchleimiges Waſſer. Dieſes Waſſer iſt meiner Anſicht nach nur das Ergebniß der einfachen, in der Wirkung des Blattes auf die Wurzeln beſtehenden Aufſaugung. Die Anſammlung deſſelben iſt aber erforderlich zur Erweiterung der Schläuche wozu übrigens wahrſcheinlich auch die vom Waſſerdampfe im Innern der jungen, geſchloſſenen Schläuche erzeugte Spannung beiträgt. Die offenen Schläuche enthalten immer eine gewiſſe Quantität Flüſſigkeit (theilweiſe, beſonders bei alten Schläuchen, vom Regen herrührend) in welcher ſich, oft in großer Anzahl, ertrunkene Inſekten verſchiedener Art vorfinden. Ich fand ſogar einmal, daß ein Froſch ſeine Eier hineingelegt hatte. Nach Hooker, Delpino u. A. liefekn die Zerſetzungsprodukte der Inſekten im Innern der Schläuche aſſimilirbare Elemente für die Pflanze, und zu dieſer Annahme 584 gelange auch ich, wenn ich das ſpezielle Syſtem von höchſt eleganten Drüſen beo— bachte, welcher den unteren, inneren Theil der Schläuche bekleiden; dieſelben ſcheinen mir nicht allein zur Secretion der Flüſſigkeit | zu dienen, ſondern auch in ihrer Organiſation die Abſorption der ſie benetzenden Flüſſigkeit zu beſorgen. Die die Oeffnung der Schläuche um— gebenden Vorrichtungen ſind wahre Fallen, durch welche ein auf ihrem Rande ſitzendes Inſekt faſt unvermeidlich hineinfallen muß; und wenn einmal gefangen, gelingt es dem Thiere nicht mehr zu entſchlüpfen. Auch die oft lebhafte Färbung der Schläuche ſcheint auf die Nützlichkeit, von ferne geſehen zu | werden und die Aufmerkſamkeit und Neu— gierde der Inſekten zu erregen, hinzudeuten. Dieſe Umſtände und verwickelten Vor- richtungen können gewiß nicht durch Zufall hervorgerufen worden ſein, ſondern nur durch Kräfte und Urſachen, wie ſie bei der Entwicklung der Organismen ins Spiel kommen. Dazu gehören: Die Veränderlich— | keit der organiſchen Formen und die begleitende natürliche Auswahl und Elimination, die ſexuelle Auswahl, und wahrſcheinlich noch manche andere Urſachen, welche uns bis heute | noch unbekannt find, die aber mit der Zeit und mit dem Fortſchritte der Wiſſenſchaft | gewiß offenbart werden. Griſebach giebt in feinem Werke über die Vegetation der Erde eine eigene und beſondere Theorie zur Erklärung des Gen | brauchs der Schläuche. Er ſcheint anzunehmen, daß die große Anſammlung von Waſſer in jenen Organen, und zwar aus dem Gewebe derſelben ſecretirt, die Circulation des Nahrungsſtoffs be- ſchleunige, und zwar mehr als es mittelſt der bloßen Abdünſtung der Blattoberfläche, | möglich wäre. Er meint, da die Nepenthes- SR Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Arten in Ländern wüchſen, wo die Atmo— ſphäre mit Dämpfen überladen ſei, ſtoße die Verdampfung durch die Blätter allein auf Schwierigkeiten, welchen aber durch die Secretion des Waſſers in beſtimmte Recipienten abgeholfen würde. Ferner ſagt er, man ſähe niemals die Flüſſigkeit in den Schläuchen überfließen, auch erlaube die Convexität der letzteren zwar die Verdunſtung des in ihnen ent— haltenen Waſſers, verwehre aber dem Regen den Eintritt von außen und damit die Zunahme der Flüſſigkeitsmenge. Dabei dachte er aber wohl nicht an die ſtrömenden Regen der Heimathländer der Nepenthen, deren einige, wie z. B. die N. phyllamphora, eine fo große Anzahl Schläuche am Boden erzeugt, daß nicht einmal ſtarke Regengüſſe dazu ge— hören, um ſie ganz und bis zum Ueberfließen zu füllen, um ſo mehr als das ihnen eigen— thümliche Deckelchen ſehr ſchmal iſt und nicht einmal ein Drittel ihrer Oeffnung ſchließt. Nach Griſebach ſollten ferner die Schläuche als eine Art Schleuſen dienen, aus denen das Waſſer durch Verdunſtung nur während der trockenſten Jahreszeiten verſchwindet, während die Blätter fortwährend in die Atmoſphäre ausdünſten. In Borneo und Neu-Guinea, beſonders auf den Bergen, wo die Nepenthes-Arten am meiſten vorkommen, iſt der hygrometriſche Zuſtand der Luft faſt immer auf Sättigung und die verſchiedenen Jahreszeiten zeigen faſt gar keine Differenz in der Menge des Niederſchlags. Wenn ſchließlich die Schläuche zur Aus— ſonderung eines Theils des abſorbirten Waſſers dienen ſollen, weshalb müſſen dann die Nepenthen gerade die feuchten Orte vor— ziehen, und welche Beziehung würde dann zwiſchen ihnen und den andern inſekten— freſſenden Pflanzen beſtehen, deren analoge Vorrichtungen nicht jo vollkommen oder durch andre kunſtvolle Apparate erſetzt ſind? Wozu dann alle die beſonderen Einrichtungen, in denen die Inſekten ſo vortrefflich gefangen gehalten werden? Und ſollten ſich in dieſen Organen ſo viele Farbenvarietäten und Form ⸗Eigenthümlichkeiten, welche dieſe Pflanzengattung zu einer der wunderbarſten und eleganteſten Erzeugniſſe des Pflanzen— reiches machen, nur deshalb gebildet haben, um der Natur als Schmuck zu dienen? Der Teleologe mag darin vielleicht eine genügende Erklärung finden; ich ziehe immer— hin eine, wenn auch weniger deutliche, aber im Bereich unſrer Intelligenz bleibende und natür— liche Auseinanderlegung dieſer Thatſachen ſeiner Harmonie der Schöpfung vor.“ Florenz. Zilliken. J. Barrande's Cephalopoden⸗Studien und ſeine Einwände gegen die Eutwickelungslehre. Profeſſor J. Goſſelet in Lille ver— öffentlicht in einer neueren Nummer der devue scientifique (Avril 1879, p. 948) eine gegen die Entwickelungslehre gerichtete Analyſe des ſoeben mit dem vierten Bande beendigten Werkes von J. Barrande über die Cephalopoden der ſilu— riſchen Schichten Böhmens, die wir im Auszuge wiedergeben wollen. Das Werk bildet elf dicke Quartbände und enthält die Beſchreibungen von 1127 Arten und die Abbildungen derſelben auf 544 Tafeln. Und dennoch ſind nicht einmal alle Formen der eigenen Sammlung auf— genommen worden; der Reichthum dieſer heute bis auf eine einzige Gattung und wenige Arten ausgeſtorbenen Familie er— Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 385 müdete zuletzt, wie es ſcheint, den bisher unermüdlichen Forſcher. Barrande hatte ſich bei dieſem em— ſigen Studium der ſiluriſchen Thiere Böh— mens zum oberſten Zweck geſetzt, die Ge— ſetze der Paläontologie und die Bedingungen, welche die Erſcheinungen der verſchiedenen Arten geregelt haben, feſtzuſtellen. Gleich im Beginn ſeiner Studien erkannte er dort acht Etagen, die er mit den Buchſtaben A, B, C, D, E, F, G, H bezeichnete. Die beiden erſten enthielten keine Foſſilien, die ſechs folgenden enthielten eine Reihe von Arten, die er in drei ſehr verſchiedene Faunen eintheilte; eine ſiluriſche Primordial— Fauna (C), eine Fauna II (D) und eine Fauna III (E — H). Dieſe dritte Fauna erwies ſich als analog derjenigen der Schichten von Dudley in England, welche Mur— chiſon als obere Silurſchichten bezeichnet hat, die zweite entſpricht derjenigen der Llandeilo flags und des Caradoc Sand- stone, dem unteren Silur Murchiſon's. Die Primordial-Fauna erwies ſich als in ihrer Art einzig. Man begreift die Befriedigung, ja den Enthuſiasmus Barrande's, eine Fauna entdeckt zu haben, die älter war, als alle bisher bekannten organiſchen Weſen. Er konnte feine Etage C nicht in die cambriſche Formation einreihen, welche damals noch für völlig foſſilienfrei galt. Eine beſondere Formation aber wollte er nicht daraus machen, weil die dafür charakteriſtiſche Tri— lobiten-Gattung Paradoxides auch in dem ſogenannten ſchwediſchen Silur gefunden worden war. Später fand man Bar- rande's „Primordial-Fauna“ auch in einigen für cambriſch gehaltenen Schichten des engliſchen Silurs. Profeſſor Hebert hat vorgeſchlagen, die Schichten nach ihren Lebeweſen in ein unteres, mittleres und i 386 oberes Silur zu theilen, allein da die Fauna! viel weiter von der Fauna II entfernt ift, als dieſe von der Fauna III, glaubt Goſ— ſelet, man könne die erſte dennoch, wie Lapworth gethan, zur cambriſchen For— mation rechnen. Unter den Charakteren, welche den Be— ginn der Fauna II kennzeichnen, ſteht die Erſcheinung der Cephalopoden obenan. Von der erſten Phaſe dieſer Epoche zeigen ſich plötzlich zwölf Typen, d. h. nahezu die Hälfte aller (26) Typen der Primärzeit (Nautiliten, Orthoceratiten und Goniatiten). Und zwar erſcheinen dieſe zwölf Typen nach Barrande ſogleich mit allen ihren Gatt— ungsmerkmalen und ſtellen unter einander ebenſo viele höchlichſt contraſtirende Formen dar. Um dieſe zwölf Typen von einem gemeinſamen Ahnen abſtammen zu laſſen, müßte man eine unendliche Zahl von Ge— nerationen und Uebergangsformen annehmen, von denen keine Spur übrig iſt. Es iſt das eine nach Barrande für die Ent— wickelungstheorie unerklärliche Thatſache, in welcher er den wichtigſten Einwurf ſieht, den die Paläontologie der Entwickelungs— lehre machen kann. Während der Dauer der zweiten Fauna erſcheinen noch vier neue Gattungstypen von Cephalopoden, dann acht fernere in der dritten Fauna, und dieſe Erſcheinungen werden durch keine Uebergangsform ver— kündet. „Der Evolutioniſt würde indeſſen ſogleich ihr Verwandtſchaftsband an jenen Mittelformen erkennen, die ihm ſo theuer ſind, und deren er ſich ſo gut zu Gunſten ſeiner Theorie zu bedienen weiß. (Aha!) Wenn der ſeiner Form nach mittlere Typus dies auch für die Zeit ſeines Auftretens iſt, ſo bildet das die Probe der Entwickel— ung des einen aus dem andern; wenn er älter iſt als beide, ſo macht man einen ge— Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. meinſamen Ahnen daraus. (Gut gebrüllt!) Aber ein dritter Fall kann vorkommen; es iſt der des Gyroceras, einer Mittelform zwiſchen Nautilus und Lituites, und welche lange nach Beiden erſchienen iſt.“ (Kann man das beſchwören?) Unter den mit der dritten Fauna neu— geborenen Typen muß man die Goniatiten anführen. Man betrachtet ſie allgemein als den Richtpfahl, auf welchen man los— gehen mußte, um von den Nautiliten zu den Ammoniten zu gelangen. Inzwiſchen ſucht Barrande durch zahlreiche Figuren und lange Auseinanderſetzungen zu beweiſen, daß die Goniatiten von den Nautiliten nicht allein durch die Form der Scheide— wand-Nähte, ſondern auch durch die Ge— ſtalt der erſten Kammer abweichen. „In der Familie der Nautiliten hat die erſte Kammer dieſelbe Form wie die folgenden, und das vordere, am äußerſten Ende der Luftkammer geſtellte Plättchen trägt die Spuren einer kleinen, zugewachſenen Oeffnung, die man die Narbe nennt und deren Bedeutung nicht bekannt iſt. Bei der Familie der Gonia- titen beſteht das primitive Element in einer eiförmigen Kammer, die durch ihre Ge— ſtalt von den ſpäteren Kammern verſchieden iſt und der Narbe entbehrt. Es iſt eine dermaßen von dem Bau der Nautiliten ab- weichende Form, daß Munier Chal— mas, welcher ſie bei den Ammoniten be— obachtet hat, dieſe Thiere neben Spirula unter die Zweikiemer einreiht. Somit können die Goniatiten nicht den Uebergang von den Nautiliten zu den Ammoniten bil— den, und dieſer Uebergang iſt ſomit völlig unbekannt.“ (Audiatur et altera pars) Aber auch die Gattungen, ja ſogar die Arten zeigen nach Barrande kein gene— riſches Band unter einander, die Gattung Nautilus ſcheint ihm „mit Abſicht er— Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. ſchaffen und während ſämmtlicher geologi— ſcher Zeitalter lebend erhalten worden zu ſein, damit ſie als unabweisbarer Zeuge auftrete, mit der Beſtimmung, alles das zurückzuweiſen, was uns die Theorien über die Entwickelung der Formen des organiſchen Lebens lehren wollen.“ Barrande fühlt ſich glücklich, das Grand d' Eury in Frankreich und Carruthers in England durch das Studium der foſſilen Pflanzen zu derſelben Ueberzeugung gelangt ſind, und daß ſogar ein Verehrer der Darwin'ſchen Theorie, Davidſon, aus dem Studium der Brachiopoden dieſelben Schlüſſe ge— zogen habe. Aber zugegeben ſelbſt, daß der fromme Erzieher Heinrich des Fünften niemals ein Faktum bemerkt hat, was zu Gunſten der Evolutionstheorie ſprechen könnte, — und offenbar hat er ſich die größte Mühe gegeben, keines zu ſehen —: könnte dieſes negative Ergebniß etwas gegen die unzähligen po— ſitiven Funde, z. B. des von der Evo— lutionstheorie jahrzehntelang verkündeten Archaeopteryx und der Vorgänger des Pferdes beweiſen? Was das „plötzliche“ Erſcheinen ſeiner Formen betrifft, ſo hat er ja ſelbſt durch die Entdeckung wohl charakteriſirter Colonien die Rolle ſtudirt, welche die Einwanderung in dem böhmiſchen Silur-Beden geſpielt hat, wie ſie plötzlich neue Formen auf das Theater brachte, wenn irgendwo eine neue Meeresverbindung ſich eröffnet hatte, als ſeien ſie neu erſchaffen und vom Himmel herabgeworfen worden. Wenn es richtig iſt, was Quenſtedt und Würtem berger behaupten, daß es bei den Ammoniten der Secundärzeit ſo über— aus viele Zwiſchenformen giebt, ſo iſt ſicher die Familie der Kopffüßler nicht überhaupt Schuld daran, daß Barrande keine Ver— änderungen in der Silurzeit aufſinden konnte, * — oder ſollte ſie erſt kurz vor ihrem Ende jene alte Starrköpfigkeit aufgegeben haben, die ſie in den Silurzeiten ſo glorreich be— wahrt haben ſoll? Dann hätten wir viel— leicht darin den Grund ihres ſchnellen Endes zu ſuchen: zur Strafe für ihre Hinneig— ung zum Darwinismus wurden ſie plötz— lich vom Meeresboden vertilgt und nur der fromme und beſtändige Nautilus blieb erhalten! Die Entwickelungsgeſchichte des Spaniſchfliegen-Käfers. Bekanntlich hat das erſt in neuerer Zeit durch Fabre, Newport, Balery- Mayet und Riley geförderte Studium der Larvenformen vom Bienenkäfer (Sita- ris), Maiwurm (Melos) und anderen zur Abtheilung der Pflaſterkäfer (Vesicantia) gehörigen Thiere ſehr merkwürdige ent— wickelungsgeſchichtliche Ergebniſſe, namentlich für die Theorie der Fälſchungsgeſchichte (Cenogenesis) ergeben, und man durfte darauf geſpannt ſein, wie ſich in dieſer Be— ziehung der bekannteſte von allen, der Can— thariden-Käfer, verhalten möchte. Wie aus einem der Pariſer Akademie der Wiſſen— ſchaften am 26. Mai 1879 vorgelegten vorläufigen Berichte hervorgeht, iſt die ge— naue Verfolgung der bisher unbekannten Entwickelungsgeſchichte deſſelben nunmehr dem Entomologen J. Lichtenſtein ge— lungen. Er brachte die gegen das Ende des Mai oder den Anfang des Juni ſich paarenden Käfer unter eine Glocke, die über ein Gefäß mit Erde geſtülpt war, in welche das Weibchen ſeine Eier legte. Fünf— zehn Tage darauf geht aus den Eiern eine Larve hervor, die ſeit lange unter dem Namen des Triangels (Triangulin) be— 388 kannt iſt. Sie iſt geſchuppt und braun gerunzelt, der Meſo- und Metathorax und das erſte Abdominal-Segment weiß. Sie hat ſehr ſcharfe Kiefer, ſchwarze, hervor— tretende Augen und zwei lange Schwanz— borſten. Der Beobachter hat die Larve zu— erſt mit Mägen von Honigbienen, dann mit Eiern und jungen Larven von Mauer- bienen und Ceratina chaleites gefüttert. Vom fünften zum ſechſten Tage häutet ſie fi, verliert ihre Schwanzborſten und braune Farbe und ſtellt alsdann eine kleine, weiße, ſechsfüßige Made vor. Ihre vorher ſchar— fen Kiefer ſind nun ſtumpf geworden, ihre Augen weniger glänzend, ſie läßt jetzt die Eier und jungen Larven, von denen ſie ſich bisher nährte, liegen, und lebt vom Honig. Fünf Tage ſpäter häutet ſie ſich nochmals, ihre Kiefer werden noch breiter und ihre Augen bilden ſich zurück. Nach fünf wei— teren Tagen findet eine neue Mauſerung ſtatt. Nunmehr ſind die Augen gänzlich verſchwunden, die Füße und Kiefer ſind braun und am äußerſten Theil hornig ge— worden; das Inſekt hat das Ausſehen einer kleinen Skarabiden-Larve und man erräth, daß ſie nunmehr ſich anſchickt, die Erdober— fläche zu verlaſſen: „Bis hierher hat meine Erziehung in kleinen Glasröhren von der Form eines Fingerhutes ſtattgefunden, die umgekehrt auf ihren Korkſtöpſel geſtellt wurden, und es iſt die Oberfläche dieſer Stöpſel, auf wel— chen ich Schritt für Schritt meine Beob— achtungen fortgeſetzt habe, indem ich die abgeſtreiften Häute von jeder Mauſerung ein— ſammelte. Ich richte dann, um meinen Pfleg— lingen die nöthige feuchte Erde zu liefern, eine Glasröhre von einem Decimeter Länge und 25 Millimeter Durchmeſſer vor, auf deſſen Grund ich ein Stückchen Schwamm lege und dann mit Erde fülle, auf welche ich Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. meine Skarabiden-Larve (larve scarabeoide, wie ſie Riley bei Epicanta genannt hat), niederlege. „Sie bohrt ſich unmittelbar darauf in die Erde ein und formt ſich ein Wenig über dem Schwamm an der Glaswand eine kleine Kammer oder Höhlung, was mir erlaubt, ſogar ihren unterirdiſchen Lebens— Thätigkeiten zu folgen. Am Ende von fünf Tagen erfolgt nochmals eine Mauſerung, aber diesmal iſt es keine Larve, die dar— aus hervorgeht, ſondern eine Puppe, die einer Musciden-Puppe ähnlich genug iſt. Man bemerkt dann vier kleine Wärzchen am Kopfe und drei Paar kleine Wärzchen an der Stelle der Füße. Ihre Farbe iſt ein hornartiges Weiß; ſie iſt unbeweglich und bietet durchaus das Anſehen einer Puppe dar. Dieſer Zuſtand dauert während des ganzen Winters und man könnte ſagen, daß ſich das Leben gänzlich auf dieſen trägen Puppenzuſtand zurückgezogen habe, wenn nicht von Zeit zu Zeit unter dem Einfluß von Umſtänden, die ich nicht kenne, aus den Poren Tropfen einer klaren Flüſſigkeit aus— ſchwitzten, die mehrere Tage an der Körper— Oberfläche haften bleiben. „Am 15. April zerſprengt die Puppe, ihre Hülle und es erſcheint von Neuem eine weiße Larve, ſehr ähnlich derjeni— gen, welche ich Skarabiden-Larve genannt habe, aber ohne die ſtarken Krallen und Kiefern jener; ſie beſitzt ganz im Gegen— ſatz nur rudimentäre Füße aus drei kurzen und dicken Gliedern. Dieſe Larve bewegt ſich träge in ihrer Kammer, geht nicht heraus, frißt nicht, ſo daß ich keine Ahnung habe, welche Rolle ihr zuzutheilen wäre. Sie zögert aber nicht lange mit einer neuen Metamorphoſe, denn am 30. April giebt es eine neue Mauſerung, welche uns end— lich eine Nymphenform von der bekannten Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Geſtalt aller Käferlarven liefert, mit allen erkennbaren, obwohl noch in ihrer Umhüll— ung verborgenen Gliedmaßen. „Anfangs weiß, färbt ſich dieſe Nymphe ziemlich ſchnell, denn am 17. Mai beſitzt ſie ſchon eine ſehr geſättigte Färbung, und am 19. ſehe ich in der Kammer die Kan— tharide mit ihrem ſchimmernden Panzer vollkommen bereit, an das Tageslicht her— vorzuſteigen. „Die vollkommene Entwickelung des Inſektes erfordert alſo ungefähr die Zeit eines ganzen Jahres. „Ich weiß ſehr wohl, daß für jetzt noch zu entdecken bleibt, wo das Inſekt in Freiheit lebt, denn gewiß iſt der Honig der Ceratina, welchen ich in trockenen Hol— lunderzweigen geſammelt habe, nicht die ge— wöhnliche Nahrung der jungen Kantharide. Ich vermuthe ſtark, daß die in der Erde niſtenden Bienen, wie die Halictus- und Andrena- Arten, die gewöhnlichen Opfer dieſes Inſektes ausmachen, aber ich habe noch keine beſtimmte Beobachtung über dieſe Thatſache gemacht. Meine Auffütterung iſt, wie ich anerkenne, eine durchaus künſtliche geweſen, aber ſie hat dennoch zu einem ſeit lange geſuchten Ergebniß geführt.“ (Revue internationale des Sciences, Juin 1879, p. 554.) Ueber die Entſtehung der Wirbelformen der Vögel hat Prof. O. C. Marſh im letzten April— heft des American Journal of Science (Vol. XVII) eine vorläufige Arbeit ver- öffentlicht, die wir wegen ihrer Wichtigkeit für die Entwidelungstheorie im Folgenden vollſtändig wiedergeben: Eine der charakteriſtiſchen Eigenthüm— tilien finden.“) Bei den Wirbeln des Ich- biconcaven Wirbeln, wie ſie ſich bei den 389 lichkeiten im Knochenbau der heute lebenden Vögel iſt die Geſtalt ihrer Wirbel. Die— ſelbe iſt ſo eigenartig und beſtändig, daß ſie von vielen Anatomen als das beſte Klaſſen-Merkmal betrachtet wird. Bei keiner anderen Wirbelthier-Abtheilung findet ſich, ſo weit bekannt, eine Annäherung an die ſattelförmige Geſtalt der Gelenkflächen, wie man ſie an den Mittelſtücken der Vogel— wirbel ſieht. Und zwar zeigen nicht nur die Wirbel vor dem Kreuzbein ſämmtlicher lebender Vögel dieſe Bildung des Ge— lenkes, ſondern auch die zahlreichen, ſeither bekannt gewordenen ausgeſtorbenen Vögel der geſammten Tertiärzeit. Wenn uns außer den lebenden Vögelarten nur dieſe foſſilen Formen bekannt wären, fo würde die Entſtehungsweiſe dieſer eigen— thümlichen Wirbelgelenkverbindung vielleicht für immer ein Geheimniß geblieben ſein. Zum Glück ſind jedoch Vögel der Kreide— zeit entdeckt worden, welche auf dieſen Punkt Licht werfen und in der Hauptſache die Schwierigkeiten beſeitigen. In den bezahnten Vögeln, Ichthyornis und Hesperornis, haben wir zwei ſehr weit aus einander gehende Formen vor uns. Der Letztere war ein rieſiger Schwimm— | vogel ohne Flügel und mit Wirbeln, welche | ganz denen der modernen Vögel entſprechen. Ichthyornis dagegen war ein kleiner Vogel von bedeutendem Flugvermögen und mit Fiſchen, Amphibien und einigen Rep⸗ thyornis iſt die Gelenkfläche des Meittel- ſtückes tellerförmig, während bei den ent- ſprechenden Wirbeln von Hesperornis die Enden des Mittelſtückes ſattelförmig wie bei den ſpäteren Vögeln ſind. Für den Anhänger der Entwickelungs— 9 Kosmos, Bd. II, S. 337. Kosmos, III. Jahrg. Heft 5. 390 theorie, der überzeugt ift, daß alle Vögel genetiſch eng verbunden ſind, verurſacht dieſe Bildungs-Ungleichheit für den erſten Blick eine ſehr erhebliche Schwierigkeit, ſofern wir bisher keinerlei Andeutung von einer Um— bildung der einen Form in die andere und keine Erklärung der Entſtehung der jetzigen Form der Vogelwirbel beſaßen. Allein bei dem dritten Halswirbel von Ichthyornis ertappen wir die Natur ſozu— ſagen auf der That, wie ſie die Bildung eines neuen Typus anbahnt, indem ſie eine Wirbelform in die andere umwandelt. Wenn man dieſem Fingerzeige folgt, ſo wird der Zuſammenhang zwiſchen dieſen beiden weit aus einander gehenden Bildungstypen bald klar, und die Entwickelung der jetzigen Form der Vogelwirbel aus der fiſchartigen bicon— caven Form findet eine einfache Erklärung. An der vordern Gelenkverbindung dieſes Wirbels von Ichthyornis ſieht die Fläche nach unten und nach oben, und iſt zur Achſe des Mittelſtückes unter einem Winkel von 60° geneigt. Im Vertical-Durchſchnitte iſt ſie mäßig convex, während ſie in trans— verſaler Richtung deutlich concav iſt und ſomit eine erhebliche Annäherung an die ſattelähnliche Gelenkfläche der neueren Vögel bietet. Daſſelbe Merkmal zeigt aber keiner von den übrigen bekannten Wirbeln des Ichthyornis. Dieſe hoch ſpecialiſirte Eigenthümlichkeit tritt an der erſten Biegungsſtelle des Nackens auf und erleichtert die Bewegung in der verticalen Ebene ſehr. Wenn wir einen Moment überlegen, daß die vorherrſchende Bewegung im Nacken eines modernen Vogels in der Verticalebene erfolgt, ſo erkennen wir ſofort, daß Alles, was dieſe Bewegung zu erleichtern neigt, vortheilhaft ſein wird, und daß die Bewegung ſelbſt direkt dahin zielen muß, dieſe Umänderung hervorzubringen. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Bei biconcaven Wirbeln iſt die Biegung nach irgend einer Richtung von der Elaſti— cität der Gewebsmaſſe, welche die Wirbel verbindet, abhängig, da die Ränder der Teller nicht über einander gleiten. Jede Verſtärkung der Nackenbiegung des Ichthy- ornis in der verticalen Ebene würde dahin wirken, den oberen und unteren Rand des kreisförmigen Tellers abzulenken und eine verticale Einſchnürung zu erzeugen, während zu gleicher Zeit die ſeitlichen Ränder her— vortretend bleiben, und dies iſt gerade das, was wir im dritten Wirbel vor Augen haben. Naturgemäß mußte dieſe Umbild— ung der Wirbel zuerſt an der Stelle auf— treten, wo der Nacken die ſtärkſte Beweg— ung hat, nämlich in den vorderen Hals— wirbeln, und mußte ſich allmählich vom Nacken abwärts verbreiten, ſelbſt bis zum Kreuzbein, wenn die Biegung bis dahin erfordert wird. Hinter der Achſe, überall wo die verticale Bewegung vorherrſcht, fin— den wir bei den neueren Vögeln in der ganzen Reihe der Halswirbel keine Aus— nahme von der ſattelförmigen Gelenkver— bindung. Bei den Rückenwirbeln konnte dieſe Urſache nur geringere Wirkung hervorbrin- gen, da die Rippen und die Dornfortſätze der Wirbel die ſenkrechte Bewegung be— ſchränken, und alſo dahin wirken, dieſe Umwandlung zu verhindern. Dieſe Region bietet ſomit, wie vorausgeſehen werden konnte, durchaus eine Beſtätigung der Rich— tigkeit obiger Erklärung, denn hier kommen bei den modernen Vögeln in den vorſakra— len Wirbeln die einzigen thatſächlichen Aus- nahmen von der charakteriſtiſchen ſattel— förmigen Gelenkverbindung vor. Bei Stri— gops, den Pinguinen, Meerſchwalben und einigen anderen Land- und Waſſervögeln finden ſich ein oder mehrere Wirbel der Rückengegend ohne ſattelförmige Gelenk— fläche, und ſie find entweder opifthocoel oder unvollſtändig biconcav. In ſolchen Fällen können wir meiſtens, wenn nicht ſtets, Be— lege für eine Beſchränkung der ſenkrechten Biegung auffinden. Dieſelbe kann die hin— teren Rückenwirbel durch ihre neutralen Dornfortſätze zuſammenſchließen und die Möglichkeit der Seitenbewegung offen laſſen, wie bei Strigops; oder mehrere Wirbel können mit einander verwachſen wie bei Aceipiter und einigen anderen Raubvögeln, denen ein feſter Rücken einen entſchiedenen Vortheil giebt. In der Reihe der zuſammengewachſenen Kreuzwirbel mancher Vögel beſitzen ein oder mehrere der vorderſten ebenfalls die ſattel— förmige Gelenkfläche. Allein dies bildet keinen erheblichen Einwand gegen obige Er— klärung, da dieſe Wirbel in der That Rücken— wirbel ſind, die offenbar nur allmählich mit dem eigentlichen Kreuzbeinwirbel ver— ſchmolzen ſind. Bei den Schwanzwirbeln der heutigen Vögel finden wir in einem gewiſſen Grade die urſprünglich biconcave Bildung erhalten, weil hier in jeder Richtung die Bewegung ſehr beſchränkt war. Selbſt in den ab— weichendſten Formen ſind die Schwanz— wirbel von derſelben Grundform. Beim Pfau und Erdkuckuck zeigen die Schwanz— wirbel eine Neigung zu einer procblen Verbindung, und bei anderen Vögeln kom— men ähnliche unbedeutende Modificationen der normalen Bildung vor, jedoch nichts, was gegen die oben erörterte Erklärung von der Entſtehung des charakteriſtiſchen Vogelwir— bels einen wirklichen Einſpruch abgiebt. Vergleicht man die vorſtehenden That— ſachen mit anderen durch ſie angeregten, ſo ſcheint daraus folgende Claſſification der verſchiedenen Wirbelformen hervorzugehen: Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 391 1) Biconcave Wirbel (Fiſche und Amphibien); der primitive Typus, ſchwache Gelenkverbindung, welche freie aber beſchränkte Bewegung erlaubt. Aus dieſer Form ſind die anderen Varietäten direkt entſtanden, nämlich: 2) Ebene Wirbel (Säugethiere); eine ſtärkere Verbindung mit ebenfalls be— ſchränkter Bewegung geſtattend. 3) Kugel- und Pfannenwirbel (Reptilien); eine ſowohl ſtarke als bieg— ſame Verbindung, für allgemeine Beweg— lichkeit ſehr geeignet und offenbar durch dieſelbe hervorgebracht. Die Wirbel ſind procoel, wenn die Seitenbewegung vor— herrſcht (Schlangen), opiſthocoel für man— nigfachere Bewegung (Dinoſaurier). 4) Sattelwirbel (Vögel); der ausgebildetſte Typus; eine ſehr ſtarke und freie Gelenkverbindung, beſonders der Be— wegung in einer ſenkrechten Ebene ange— paßt und vorzugsweiſe durch ihr e ſchen hervorgebracht. Profeſſor Virchow's Bericht über die Ausgrabungen zu Croja. In den Sitzungen der Berliner Anthro— pologiſchen Geſellſchaft vom 26. Juni und 12. Juli dieſes Jahres erſtattete Prof. Virchow einen ausführlichen Bericht über ſeine in der Trojaniſchen Frage gewonnenen Eindrücke, dem wir (nach den Berichten der Voſſiſchen Zeitung) folgende Einzeln— heiten entnehmen. Die erſten territorialen Unterſuchungen in Bezug auf die Ilias datiren bis ins 17. Jahrhundert zurück, ſie beſchäftigen ſich aber damit, die Ruinen von Alexandria⸗ Troas, gegenüber der Inſel Tenedos, als das eigentliche Feld der troiſchen Kämpfe 392 anzuſehen. Dieſer Irrthum erhielt ſich noch ſelbſt bis in dieſes Jahrhundert. Alexandria Troas wurde gegründet, nachdem Alexander von Macedonien ſeinen berühmten Beſuch in Troas gemacht hatte. Es iſt eine ſehr reich ausgeſtattete Metropole geweſen, die noch zur Zeit des Apoſtels Paulus in Blüthe war und die noch jetzt eine ſo große Trümmer— ſtätte darbietet, daß ihr Nichts an der ganzen Küſte gleichgeſtellt werden kann. Man kann noch gegenwärtig daſelbſt tage— lang zwiſchen den Trümmern einhergehen und man findet immer neue Sachen, Ge— bäudereſte c. Die noch zur Zeit der Zerſtörung fortdauernde Bauthätigkeit der Stadt war ſo großartig, daß ſelbſt heute noch, in beträchtlicher Entfernung von der Stadt, im Innern des Landes, ſich Stein— brüche befinden, in denen fertige, große Säulen von 12 Meter Länge und 1½— 2 Meter Stärke umherliegen, welche noch kein Menſch bewegt hat. Gegenwärtig dürfte es kaum Jemand geben, der dieſe Ruinen— ſtätte noch mit dem Troas der Iliade in Beziehung bringt. Das Verdienſt, die Aufmerkſamkeit auf einen nördlicher gelegenen Punkt gelenkt zu haben, gebührt dem Ende des vorigen Jahrhunderts, und zwar begann die wirklich ernſte Forſchung mit dem franzöſiſchen Archäo— logen Lechevalier, der den damaligen fran— zöſiſchen Geſandten Choiſeul-Gouffier in Konftantinopel zu veranlaſſen wußte, ſich nit ihm perſönlich daran zu betheiligen. Unter den mancherlei Unterſuchungen, welche dabei in Angriff genommen wurden, befand ſich auch ein mit dem Namen „Grab des Achilles“ bezeichneter Hügel. Lechevalier glaubte nun Troja gefunden zu haben an einem landſchaftlich überraſchend ſchönen Punkte, wo der vom Ida herabfließende Ska— mander-Fluß (der heutzutage Mendere heißt) Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. in zahlreichen Windungen durch eine aus vulkaniſchen Kegeln beſtehende Bergkette bricht. Am letzten Abhange dieſer Kette, unmittelbar da, wo der Trachyt aufhört, liegt ein höchſt elendes türkiſches Neſt, Bunarbaſchi genannt, welches durch die Prätenſion, die ſich daran knüpft, daß dieſer Platz als die eigentliche Stätte von Troja aufzufaſſen ſei, berühmt geworden iſt. Heutzutage fällt Bunarbaſchi dem Reiſenden dadurch auf, daß in ihm faſt ebenſo viele Störche als Menſchen hauſen, beiſpielsweiſe zählte der Vortragende auf dem Dache eines einzigen kleinen Gebäudes zwölf Storch— neſter, deren eines neben dem andern ſtand. Das Wort Bunarbaſchi heißt überſetzt Quell— haupt und der Umſtand, daß ſich hier aus einer Anzahl von Quellen, genannt die vierzig Augen, ein kräftiger gleichnamiger Bach zuſammenſetzt, hat Lechevalier zu der Vermuthung geführt, daß ſich hier die berühmte Stelle befinde, auf welche die Iliade beim Kampf des Achill mit dem Hektor anſpiele. „Und ſie erreichten die zwei ſchönſprudelnden Quellen, woher ſich Beide Bäch' ergießen des wirbelvollen Skamandros. Eine rinnt beſtändig mit warmer Fluth, und umher ihr Wallt aufſteigender Dampf, wie der Rauch des brennenden Feuers; Aber die andere fließt; im Sommer auch kalt, wie der Hagel, Oder des Winters Schnee, und gefrorene Schollen des Eiſes.“ Leider hat ſich ſpäter herausgeſtellt, daß dieſe ganze Geſchichte nur durch die Lebhaf— tigkeit der Phantaſie Lechevaliers zu Stand gebracht iſt, denn die Temperatur der Quellen bei Bunarbaſchi unterſcheidet ſich nur um einige Zehntel Grade. Die Anſicht, daß über dieſem Orte die late a > Ss Akropolis gelegen habe, iſt nachher all- gemein herrſchend geworden. Scheinbar einen Schritt weiter in der Unterſuchung machte nämlich im Jahre 1812 ein anderer franzöſiſcher Forſcher, Mauduit, welcher an der ſüdlich von Bunarbaſchi gelegenen Felshöhe die Reſte einer Mauer auffand und dadurch wenigſtens die erſte wiſſenſchaftliche Grundlage für eine ſolche Anſicht aufſtellte. Späterhin wurde dann durch den verſtorbenen früheren öſter— reichiſchen General-Conſul in Dalmatien und Syra, Herrn v. Hahn, die Unterſuchung dieſer Reſte aufgenommen. Er gelangte in der That dahin, ein fortificatoriſch unſeren Anſchauungen entſprechendes Werk bloszu— legen, bei dem er jede Baſtion mit einem modernen Namen bezeichnete. Prof. Virchow Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. | ift natürlich mit Herrn Schliemann auch an dieſer Stelle geweſen, beide haben die zu Tage liegenden, durch Herrn v. Hahn blosgelegten Werke ſtudirt. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß man hier die Reſte einer alten Akropolis vor ſich hat. Dieſelbe iſt aber ſo klein, daß ſie nicht wohl der Sitz einer langen Belagerung geweſen ſein kann. Herr von Hahn iſt auch ſo offen geweſen anzuerkennen, daß er trotz des eifrigſten Suchens keine Spur oder Andeut— ung einer zu dieſer Akropolis gehörenden Stadt gefunden hat. Auch Schliemann und Virchow haben ſich überzeugt, daß die ganze Fläche aus einem faſt nackt zu Tage tretenden Felſen beſteht und ohne Spur einer Bewohnung iſt. Prof. Virchow glaubt, daß die Möglichkeit, daß eine Stadt von nur mäßiger Bevölkerung an dieſer Stelle geſtanden habe, nicht aufrecht erhalten werden kann. Die ganze Art der Funda— tion entſpricht nicht dem, was man von einer ſo alten Stadt erwarten müßte, und es iſt wohl unzweifelhaft, daß die wohl— 393 behauenen Quadern, auf denen noch die Hiebe der Steinhauer zu ſehen ſind, mit guten Eiſeninſtrumenten bearbeitet wurden. Wenn man dieſe Stelle vergleicht mit dem, was in Hiſſarlik hervortritt, ſo zweifelt man nicht, daß ſie einer viel ſpäteren Periode angehört und höchſtens ſich der Zeit Alexan— ders nähert. Schliemann hat über dieſen Platz ſchon früher eine Vermuthung auf— geſtellt; er hält ihn für die Ruinen eines antiken Ortes, Gergis. Beiläufig bemerkt Virchow, daß auf der anderen Seite des Skamander eine Stelle liegt, wo ſich auch Spuren einer älteren Anſiedelung finden, und ſonderbarer Weiſe führt dieſer Platz denſelben Namen, wie der von Schliemann ins Auge gefaßte: Hiſſarlik, d. h. Platz, wo ein Schloß geweſen iſt. Die Reaktion gegen dieſe Bunarhaſchi— Theorie iſt noch von verſchiedenen Seiten geführt worden; wahrſcheinlich haben engliſche Forſcher das Verdienſt, die Sache zuerſt und am Gründlichſten aufgefaßt zu haben. Unter dieſen ſteht obenan Mac Laren, der im Jahre 1822 eine kleine Diſſertation über die Lage von Troja geſchrieben hat und der damals denſelben Punkt in Ausſicht nahm, den Schliemann nachher zum Gegenſtande ſeiner Unterſuchung gemacht hat, ein Punkt, der viel weiter vorwärts in der Ebene gelegen iſt. An ihn ſchließt ſich ein anderer Forſcher, Baker Webb, der mehr vom Standpunkt des Naturforſchers die Sache in Angriff nahm und die geologiſche Seite ins Auge faßte. Er theilte die Oppoſition gegen Bunarbaſchi und meinte, daß die Stadt in der Nähe von Hiſſarlik gelegen haben müßte. Auch Eckenbrecher kam bei wiederholten Durchreiſungen der Troas-Ebene unabhängig zu ganz ana— logen Auffaſſungen und nahm ſchon vor Schliemann eine Stellung ein, die ſich 394 nachher als eine im Ganzen haltbare er- wieſen hat. Den Generaleindruck ſeiner Beobacht— ungen zuſammenfaſſend, ſieht Virch o w keinen Grund, die Meinung zu beſtreiten, als ſei der Punkt, welchen Schliemann in Angriff genommen hat, derjenige, der in der alten Sage fortgelebt hat. Ob dieſer Punkt Ilion oder Troja hieß, thut nichts zur Sache. Schliemann felbſt wird unter dem Eindrucke der Angriffe, die man in dieſer Beziehung gegen ihn gerichtet hat, in ſeinem neuen großen Werk, das er vor— bereitet, ganz objektiv vorgehen und keine Specialnamen publiciren. Prof. Virch o w würde nicht einmal ſo weit gehen. Es bleibt uns doch zuletzt nichts anderes übrig, als die Dinge chronologiſch zu ordnen und ſo viel wie möglich mit dem, was wir hiſtoriſch wiſſen, in Zuſammenhang zu bringen; dann aber kommen wir immer nothwendig auf Homer, der für eine gewiſſe Zeit das weſentlichſte Quellenmaterial bringt. Schliemann nennt beiſpielsweiſe das Haus des Priamos heute nur noch das „Haus des Stadthauptes“. „Ich muß ſagen“ — fährt Virchow fort — „durch die Ausgrab— ungen dieſes Jahres iſt diejenige Boden- ſchicht, in welcher die Hauptfunde gemacht worden ſind, vollkommen freigelegt worden. Auf dem ganzen Umfange dieſes Territoriums findet ſich kein zweiter Platz, der durch die Vollſtändigkeit der Baulichkeiten oder durch den Reichthum der Funde auch nur entfernt dieſer Stelle gleichkommt. haben während der Zeit, daß ich dort war, zwei Goldfunde gemacht, einen in der nächſten Nähe dieſes Platzes, der unzweifelhaft durch das Heruntergleiten der einzelnen Goldtheile zwiſchen Steinen einer zuſammengeſtürzten Mauer ſich weiter ausgebreitet hatte, der aber zu der Localität der früheren Funde Wir Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. gehörig betrachtet werden muß. Nur ein Fund wurde an einer weſentlich verſchiedenen Stelle gemacht, er war aber verhältnißmäßig von geringerem Werthe. Daß alſo an dem erſten Orte ein principales Gebäude ſtand, in dem ungewöhnliche Schätze geſammelt und ungewöhnliche Geräthe aufbewahrt waren, die in dem großen Brande zuſammengeſtürzt ſind, iſt unzweifelhaft; daß hier alſo der Sitz der vornehmſten Perſon war, iſt wohl ſicher, ob dieſe nun „Priamos“ oder „Stadt— haupt“ genannt wird, iſt an ſich gleichgiltig. Schliemann hat mir allerlei größere Sachen geſchenkt, die ich meinerſeits dem königlichen Muſeum in Berlin überlaſſen habe, die aber erſt in längerer Zeit an— kommen, darunter aus dem „Keller des Priamos“ einen großen Vorrathskrug, wel— cher 25 Centner ſchwer iſt und eins der größten Thongeräthe darſtellt, die je gemacht worden ſind. In der gegenwärtigen Campagne ſind die Ausgrabungen an verſchiedenen Stellen bis auf den Fels geführt worden. Mitten in dieſem Terrain hat Schliemann einen großen Block ſtehen laſſen, der das urſprüng— liche Niveau der Fläche noch darſtellt und in Form einer vierſeitigen Säule nach unten umgraben worden iſt. Dieſer Block über— ragt die Fläche, auf welcher der Boden des Hauſes vom Priamos ſich befindet, um 8—9 Meter, und unter ihm kann man noch 6, 8 — 10 Meter tiefer gehen, jo daß nahezu die Höhe von 20 Metern erreicht wird. Dieſe mächtige Schicht beſteht ganz aus Rudimenten alter Wohnungen. Man kann an dieſen aufgethürmten Schuttmaſſen mit Leichtigkeit die Stratification der auf— einanderfolgenden verſchiedenartigen Bauten ſehen, die zuſammen dieſe unglaubliche Höhe erreichen. Der Umſtand, daß man bis— her auf keinem Punkte der Welt ſolche Re Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Trümmermaſſen gefunden hat, beweiſt, daß eine immenſe Zeit ſeit der erſten Gründung verfloſſen ſein muß. Will man dieſe Er— ſcheinung mit irgend Etwas vergleichen, ſo würden höchſtens die aſſyriſchen Monumente Parallelen darbieten. Von den letzteren unterſcheiden ſich die Anhäufungen in Hiſſarlik durch eine Reihe in ſich verſchiedenartiger Stratificationen, bei denen wir durch das eingeſchloſſene Material einen Anhalt ge- winnen, um chronologiſch rückwärts zu rechnen. Dieſer Block wird auch noch lange Zeit Zeugniß ablegen von der unglaublichen Energie des Mannes, der mit Privatmitteln ſolche Erdmaſſen bewältigt hat und der dies Alles im Laufe weniger Jahre, und in wenigen Monaten in dieſer fieberreichen Gegend vollendete.“ Profeſſor Virchow nimmt an dieſer Stelle Schliemann in Schutz gegen einen Vorwurf, der an ſich berechtigt iſt, der aber hier in Nichts zerfällt, nämlich den, daß dieſer Forſcher nicht einzeln Schicht für Schicht von oben abgetragen hat, um für jede einzelne Periode die Totalität des Planes zu gewinnen. Es iſt wahr, daß die Art, wie er gearbeitet hat, indem er ſofort einen Durchſchnitt durch den ganzen Hügel machte, zerſtörend auf die oberfläch— lichen Lagen gewirkt hat. In dieſen fanden ſich beiſpielsweiſe griechiſche Tempelreſte; aber Schliemann hatte kein Intereſſe an einem Tempel, der einer für ihn zu jungen Zeit angehört; es iſt auch fraglich, ob der Wieder- aufbau dieſer Reſte von Werth für die kunſtgeſchichtlichen Unterſuchungen ſein würde. In der That iſt der Tempel mitten zer— ſchnitten, aber unzweifelhaft wäre Schlie— mann heute noch nicht bis zu denjenigen Schich— ten vorgedrungen, welche das für die vorlie— gende Frage eigentlich Intereſſante enthalten, wenn er die einzelnen Schichten total abge— 395 tragen hätte. Er hat aus dem großen Hügel eigentlich nur den Kern herausgeſchält. Der urſprüngliche Felshügel iſt im Laufe der Zeit im Durchmeſſer dadurch gewachſen, daß jede nachfolgende Generation, um ſich eine größere Fläche herzuſtellen, die Schutt— maſſen der früheren bei Seite geworfen hat. Man kann jetzt in der Reihenfolge dieſes Abraumes, der an den Seiten eine Reihe aufeinanderfolgender ſchiefer Strati— ficationen bildet, mit größter Beſtimmtheit chronologiſche Schlüſſe machen. Die alte Stadt bildet in der Mitte des Hügels einen verhältnißmäßig kleinen Theil, die danach folgenden „Städte“ werden immer größer und ſtehen auf zum Theil neu ge— bildetem Terrain. Virchow und Schlie— mann wurden auf dieſe Verhältniſſe erſt durch ihre eigene Abraum-Arbeit aufmerk— ſam. Der äußere Mantel iſt mit Aus- nahme einzelner Durchſchnitte noch ſtehen geblieben. Prof. Virchow beſchloß ſeinen erſten Vortag mit einem Bericht über die Grabhügel— Unterſuchungen, die wir bereits im vorigen Hefte mitgetheilt haben. In dem zweiten Vortrage wendete er ſich ſpeciell zu dem Ausgrabungsfelde und den Funden von Hiſſarlik. Er kam zunächſt nochmals auf die allgemeine Lage zurück. Der Punkt, um den es ſich handelt, iſt der alleräußerſte Vorſprung eines niedrigen Tertiärrückens, der ſich nach Weſten hin vorſchiebt und gegen die eigentliche Ebene ziemlich ſteil abfällt. Es befindet ſich hier zunächſt ein ziemlich umfängliches Gebiet, ein Feld, daß noch jetzt von einer ſo deutlichen Umgren— zung umgeben iſt, daß man im Stande iſt, die alten Mauergrenzen zu fixiren. Dieſe Stelle iſt nicht das alte Troja, ſondern fie ift eine bis in die römiſche Zeit hinein— reichende Anſiedlung, an deren Stelle ſpäter— 396 ſtreckt ſich bis ziemlich weitiu die Ebene hinab und wir finden durch zahlreiche, hier Für unſere Unterſuchung kommt dieſe Stelle nicht in Betracht. Es ſcheint ſogar, als ob die hier ſich immer mehr ausbreitende | Anhalt zur Altersbeſtimmung dieſes Ortes. Bewohnung den äußerſten vorgeſcho— für die Unterſuchung handelt, ge— alten „Gräberberg“ oder „Sacrosanctum“ conſervirt habe, denn wir finden keine Vermiſchung der Funde der ganzen übrigen Stadt mit denen an dieſer Stelle. dieſer alte Burgberg, iſt es nun geweſen, den Schliemann gewiſſermaßen heraus— geſchält hat bei ſeinen Nachgrabungen. Er ließ in den nach Weſten ſich erſtreckenden Hügel von verſchiedenen Seiten vier große Einſchnitte machen und ſo dieſes Syſtem concentriſcher Ablagerungen bloslegen. Je tiefer man kam, deſto mehr verengte ſich der bewohnte Bezirk. Nun hat Schliemann das Glück gehabt, ſchon bei ſeiner zweiten Campagne, indem er den weſtlichen Einſchnitt machte, auf die Stelle zu ſtoßen, wo jene Maſſen von Geräthen und Goldſachen zuſammen vorhanden waren. Etwas weiter hinein, kam Schliemann an eine Stelle, welche er das „Skäiſche Thor“ nannte. In der That dürfte dies die einzige Stelle ſein, an welcher man das Thor zu ſuchen haben würde, denn es wurde daſelbſt ein mit großen Steinplatten verſehener, anſteigender Zugang blosgelegt, welcher oben eine mächtige Mauer durchſchneidet. Der Zugang ſelbſt führt nach gemachte Münzfunde einen chronologiſchen benen Punkt, um den es ſich eigentlich nicht beſtätigt. ſchont habe, als ob ſie ihn als eine Art Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. hin das bekannte Ilion novum geftanden hat. einem kleinen Platze. Was die Mauer ſelbſt In dieſem Gebiete liegt das Material ganz betrifft, jo beginnt fie nicht vom Felſen aus, oberflächlich. Das Terrain der Stadt er- ſondern ſie deckt zunächſt eine ſchräg an— ſteigende Schicht des Terrains und beginnt erſt da ſenkrecht aufzuſteigen, wo ſie die mehr ebenen Theile der Oberfläche erreicht. Die Mauer beſteht aus mächtigen Steinen und tft von Schliemann in ihrer weiteren Ausdehnung verfolgt worden. Die frühere Anſicht, daß auf dieſem Terrain die gleich— altrigen Kulturſchichten horizontal fortlaufen, hat ſich durch die diesjährigen Ausgrabungen Sie wurde durch einen in viel höherem Niveau gefundenen neuen Gold— fund erſchüttert, obgleich der Letztere voll— ſtändig im Stil der früher gefundenen Gold— ſachen gehalten war. Alſo die bloße Hori— zontirung reicht für die Bezeichnung der Dieſe Stelle, oder wenn wir wollen, chronologiſchen Zugehörigkeit nicht aus. Die Dispoſition dieſer „Stadt“ iſt architektoniſch betrachtet, vollſtändig das Vor— bild derjenigen Bauart, welche noch jetzt die Dorfſchaften der Troas charakteriſirt. Virchow iſt in der Lage geweſen, einige ſchwierige Punkte erſt zu verſtehen, nachdem ſeine ärztliche Praxis ihn in das Innere der heutigen Häuſer hineingeführt hatte. Die Bauart beſteht im Weſentlichen darin, das der untere Theil der Häuſer meiſt ohne Zugang und von einer Steinmauer umgeben iſt. Das obere, aus viereckigen Lehmſteinen erbaute Geſchoß dient zur Wohnung für die Menſchen. Auch ſonſt erinnert heutzutage Vieles in der Troas an Homers Beſchreib— ung. Der Hauptbeſchäftigung nach ſind die Leute Hirten, welche ihre ſehr zahlreichen Pferde, auch Schaafe und Ziegen weiden. Der untere Theil des Hauſes dient für die Vorräthe oder das Vieh. Ruinen ſolcher modernen Häuſer ſehen genau ſo aus wie das, was Schliemann ausgegraben hat. Die Steine der Mauern des unteren Ge— Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 4 ſchoſſes zeigen keine regelmäßige Bearbeitung; ſie beſtehen aus den leicht zu erlangenden natürlichen Schichten der tertiären Süßwaſſer— kalke der nahen Bergrücken. Die Räume dieſer alten, von Schliemann blosgelegten Mauern enthalten nun jene rieſig großen Thongefäße, die „Vorrathsgefäße des Pria— mus“. Dieſe ſtehen oft in ganzen Reihen und repräſentiren in ihrer mächtigen Geſtalt, die ſo groß iſt, daß in jedem ein Mann aufrecht ſtehen kann, ein anſehnliches Vermögen. Das Material des oberen Geſchoſſes, die Lehmſteine, iſt in doppelter Weiſe ver- ändert worden. Ein Theil deſſelben iſt einem ungeheuren Brande aus ge— ſetzt geweſen und darin an ſeiner Oberfläche zu einer Art Glasfluß zuſammengeſchmolzen. Dieſe Brandmaſſen haben eine ganz enorme Ausdehnung; an manchen bloßgelegten Orten der „Stadt“ liegen förm— liche Berge von dieſem bräunlichen, glaſirten Schutt aufgehäuft. Die zweite Veränderung beſteht darin, daß das geſammte Material der Lehmwände aufgeweicht und herunter- gefloſſen iſt und ſo einen weſentlichen Theil der Erdmaſſen gebildet hat, die ſich zwiſchen die einzelnen Theile gelegt haben. Dieſe mit Leichtigkeit zu erkennende Auflöfung der alten Lehmmauer hat Berge erzeugt, welche viel weniger den Eindruck von Schutt— bergen machen, als vielmehr den einer geo— logiſchen Formation. Mitten in dieſem Theile ſind durch das Zuſammenſtürzen der Maſſen die Mehrzahl der Gegenſtände theils verbrannt, theils zerſchlagen worden. So haben denn die Ausgrabungen an dieſer Stelle nur wenig ganze Gegenſtände zu Tage gefördert. Prof. Virchow legte das größte im Laufe dieſes Jahres gefun— dene unzerbrochene Gefäß, eine ſehr gut gebrannte Waſſerflaſche von charakteriſtiſcher Form, glatter Oberfläche und rother Färbung vor. Von anderen Gegenſtänden ſind die Geſichtsurnen bemerkenswerth, bei denen theils der Deckel das Geſicht trägt, theils die Urne ſelbſt. Unter den Gegenſtänden dieſer Schicht finden ſich viele mit Einritz— ungen verſehene Sachen, darunter auch zahl— loſe Wirtel u. a. m. Was die eigenthümlichen Zeichen auf den Thonſachen betrifft, ſo lag die Ver— muthung nahe, daß man es hier mit einer Art von Schriftſprache zu thun habe, und es iſt vor Kurzem in der Berliner Anthro— pologiſchen Geſellſchaft die Mittheilung ge— macht worden, daß der hieſige chineſiſche Geſandte den Verſuch einer Ueberſetzung der Zeichen eines Schliemann'ſchen Fund— ſtückes gemacht habe. Virchow hat ſich officiell an den Dolmetſcher der Geſandtſchaft gewendet und zur Antwort erhalten, daß der Geſandte jede Erklärung von ſich abweiſe. Möglicher Weiſe ſei dieſe als Schrift auf— zufaſſende Art der Einritzung auf ein ge— meinſames Urvolk, von welchem ſowohl die alten Chineſen wie die alten Trojaner ab— ſtammen, zurückzuführen. Es iſt mit dieſen Zeichen eine eigenthümliche Sache; ſo iſt beim Beſik Tepe ein Ding gefunden worden, deſſen Zeichen eine verzweifelte Aehnlichkeit mit Keilſchrift haben. Uebrigens wieder— holen ſich die ſymboliſchen Zeichen in den durchforſchten Erdſchichten jener Gegend mit beſonderer Conſtanz durch lange Perioden; dagegen iſt irgend eine Art ausgebildeter Malerei in dieſer ganzen Region nicht zu finden. Was die aus jener Schicht ſtammenden Ueberreſte betrifft, ſo haben ſich davon am beſten die Conchylien-Schalen erhalten. In Troja war man ſchon recht lecker und ſind ſowohl die Auſtern und Mießmuſcheln als auch von anderen Schätzen des Waſſers die Fiſche in zahlreichen Reſten vertreten. Andrer— Kosmos, III. Jahrg. Heft 5. . . 398 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. ſeits ſind aber auch noch große Quantitäten von Säugethierreſten, vor Allen von Schafen und Ziegen, ſowie von Vögeln gefunden worden. Auch große Maſſen von ver— brannten Cerealien, die theils in horizontaler Lage, theils ſchräg herabgeſchüttet waren, wurden ausgegraben. Dieſe Sachen geſtatten Schlüſſe auf das Nährverhältniß der da— maligen Bewohner und wir finden, daß wir es mit einer Bevölkerung zu thun haben, welche Ackerbau, Viehzucht und Fiſchfang betrieb. Eine ſehr wichtige Frage iſt die der Zeit, in welcher dieſe Leute gelebt haben. Es war ſehr überraſchend, ſchon durch die erſten Ausgrabungen von Schliemann zu erfahren, daß er an allen dieſen Orten Steingeräthe gefunden hatte. Nach dieſem Befunde hätte man eigentlich das alte „Ilion“ als der „Steinzeit“ angehörig proclamiren müſſen. Die Schichten dieſer Stadt ſind nun nicht einmal die älteſten und können von den letzteren, die darunter liegen, wohl auseinander gehalten werden. Virchow legte eine kleine Sammlung von Steinſachen ein gebohrter, ſchöner Hammer aus Eruptiv- erinnert, ferner ein von ihm perſönlich auf— gefundener, wunderbar ſchöner, gebohrter Steinhammer u. A. m. Hiernach würden wiſſenſchaftlichen Jargons auf das „Zeitalter des polirten Steines“, ſogenannte „neoli— thiſche Zeit“ ſchließen können. Unter den Funden einer noch älteren Periode befinden ſich einige Gegenſtände, die er geradezu für Schätze hält; namentlich eine prachtvolle, kleine, mit ſehr regelmäßigen Zähnen verſehene Feuerſteinſäge. Auch eine gefundenes Stück eines großen Obſidian— aus der „Troja-Schicht“ vor. Darunter fällt geſtein auf, der an viele parallele Funde | wir alfo in der Sprache unſeres heutigen ſplitters zählen dazu. Dieſe Funde geben nun die Dispoſition, dieſe Schichten in das ſogenannte „paläolithiſche Zeitalter“ zu ſetzen. So kommt es, daß wenn wir aus den Stein— funden Troja's allein Schlüſſe ziehen wollen, wir dann ziemlich tief in die Prähi— ſtorie zurückgehen müſſen. Aber eigenthüm— licher Weiſe gehören derſelben Schicht auch die großen, prächtigen und kunſtvollen Goldfunde an, welche eine hohe Entwickelung der Technik und des Geſchmackes bekunden. Abgeſehen vom Golde finden wir auch andere Metalle in dieſen Schichten: Broncen haben ſich ge— funden, auch Silberbeigaben und endlich, wenn auch ſehr vereinzelt, Eiſen. So ſtellt ſich alſo bei einer Geſammtbetrachtung der trojaniſchen Schichten heraus, daß wir den geſchlagenen Stein der alten Steinzeit, ferner eine ſehr ausgemachte Steinpolitur und eine entſchiedene Metallzeit daſelbſt nebeneinander finden. Die Herren Virchow und Schlie— mann haben die Unterſuchung an verſchie— denen Stellen tief unter den Boden der „gebrannten Stadt“ bis auf den Felſen— grund hinabgeführt; hierbei ſtellte ſich heraus, daß der Typus des Steingeräthes im Weſent— lichen bis unmittelbar zum Felſen hinab derſelbe blieb, ein Gemiſch von behauenen und polirten Steinen. Aus dieſer unterſten Schicht legt Vortragender einen ſehr charak— teriſtiſchen Steinkeil vor. Die Form deſ— ſelben iſt dadurch noch merkwürdig, daß ſie ſich in größerer Ausdehnung weithin durch Kleinaſien verbreitet findet. Sachen, die bei Sardes u. a. O. gefunden worden ſind, entſprechen bis zum Verwechſeln den in der „älteſten“ troiſchen Stadt ausgegrabenen. Es iſt übrigens nach Schliemann's Unterſuchungen kaum zweifelhaft, daß man in dieſer älteſten Zeit auch ſchon Metall etwas rohere Säge, ſowie ein von ihm ſelbſt kannte. Aber die Schicht dieſer „älteſten“ Be— — ſiedelung geht in diejenige der durch den Brand untergegangenen troiſchen Stadt nicht in einfacher Fortſetzung über, ſondern ſie unterſcheidet ſich von ihr weſentlich durch den Charakter der Thongefäße. Das Ge— ſchirr aus der älteſten Schicht ſieht beſſer aus, iſt glatt, glänzend, gut gefärbt, von guter Herrichtung; es läßt die Drehſcheibe erkennen und iſt theilweiſe auf der Innenſeite mit einem eingeritzten und mit weißer Kreide ausgeſchmierten, auffälligen Ornament ver— ſehen. Die Tiefe der Inciſuren erinnert merkwürdigerweiſe in vielen Stücken an unſere älteſten Thonfunde, die wir in den Gräbern der Steinzeit machen. Dasjenige, was in der „gebrannten Stadt“ vorkommt, ſtimmt mit dieſen Dingen nicht überein. So kommen wir denn zu der Folgerung, daß ſich an dieſer Stelle zuerſt eine Be— völkerung angeſiedelt habe, die ſchon mit hohen Elementen der Kultur ankam. Dieſer aus den Funden gezogene Schluß ſtimmt auch mit der alten Tradition überein. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 399 Gebrauch einzelner Rieſentöpfe zum Kochen. In der Sitzung der Pariſer Anthro— pologiſchen Geſellſchaft vom 5. Juni 1879 brachte M. de Jouvencel einige weitere Beweiſe für ſeine ſchon früher aufgeſtellte Behauptung bei, daß die Rieſentöpfe nicht (immer) ein Werk der Natur ſeien (ſiehe oben S. 377), ſondern mitunter, künſtliche zu culinariſchen Zwecken in den Felſen gebohrte Löcher. So z. B. ſollen ſich in Algier reiſende Eingeborne im Stein ge— bohrter Löcher bedienen, um darin ihren Kaffee zu kochen. (Indem ſie darin das Waſſer mit heißen Steinen erwärmen? Ref.) In einem Fragmente einer altfin— niſchen Legende heißt es: „Das hohle Loch am Berge iſt der älteſte Kochkeſſel des Landes“. Die großen ausgehöhlten Steine im Norden dienten nach ſeiner Meinung zur Bierbereitung, und die in Schweden, Dänemark und Deutſchland, von der Weichſel bis nach Böhmen und am Rhein, vorkommen— den Schüſſelſteine, wären nichts anderes als ein der Steinzeit angemeſſenes Geräth. — — —ÿ— — * Titeratur und Kritik. Die Grundprobleme der Erlkenutuiß⸗ thätigkeit beleuchtet vom pſychologi⸗ ſchen und kritiſchen Geſichtspunkte. Als Einleitung in das Studium der Naturwiſſenſchaften. Berlin, Verlag von Theobald Grieben. Erſter Band. Die philoſophiſche Evidenz mit Rückſicht auf die kri— tiſche Unterſuchung der Natur des Intellekts. Von Otto Caſpari, Docent an der Univerſität zu Heidelberg. 1877. a Zweiter Band. Die Natur des In— tellekts im Hinblick auf die Grund— antinomie des wiſſenſchaftlichen Denkens. Von Otto Caſpari, Pro— feſſor der Philoſophie an der Univerſität zu Heidelberg. 1879. +8 iſt wohl angezeigt, das auch dieſe JZeitſchrift von dem umfaſſend ange⸗ ö OR legten Werke ihres Mitherausgebers, in welchem derſelbe die Grundlagen alles wiſſenſchaftlichen und insbeſondere des exakten Forſchens philoſophiſch zu beſtimmen unternimmt, Notiz nehme. Freilich wird dieſe Beſprechung in einer für ein größeres Publikum berechneten Zeitſchrift keine ſo aus— giebige ſein können, wie es der reiche Inhalt an und für ſich beanſpruchen könnte, und nz insbeſondere über den einleitenden erſten, bereits vor geraumer Zeit erſchienenen Band werden wir ſchnell hinwegzueilen genöthigt ſein. Immerhin hoffen wir ſoviel zu er reichen, daß jene Leſer, die in unſerer leicht— lebigen Zeit überhaupt für ernſte philoſo— phiſchen Studien noch Sinn und Intereſſe ſich bewahrt haben — und eine leichte Lektüre iſt das Caſpari'ſche Werk allerdings nicht — über Zweck und Gehalt derſelben einigermaßen ins Klare kommen und die Tragweite der darin niedergelegten Unter— ſuchungen für die das geiſtige Leben der Gegenwart bewegenden Fragen erkennen. Der Verf. iſt, wie man weiß, einer Philoſophie, welche ſeit ihrer erſten Begründ⸗ ung durch Kant als die gefährlichſte Feindin der auf die abſolute Identität aller materiellen und geiſtigen Vorgänge feſt vertrauenden Spekulation ſich erwies und für die Natur- forſchung wirklich jene Baſis zu liefern vermag, als welche ſich die künſtlichen Syſteme der Naturphiloſophen ſo ſchlecht bewährt hatten. Caſpari fragt ſich alſo zunächſt, welcher Art das menſchliche Erkenntnißvermögen und ob es in der That ſo beſchaffen ſei, um uns eine unzweifelhafte Kenntniß der Dinge zu verſchaffen. Die Beantwortung dieſer Frage lautet im Weſentlichen dahin, daß all' unſer Erkennen ein relatives ſei, daß Literatur und Kritik. aber dieſe Relativität nicht etwa blos in der Unvollkommenheit unſeres Intellektes ihren Grund habe, daß vielmehr alle bis— Abſolute oder, wie es ſeit Kant vielfach genannt wird, das „Ding an ſich“ das Unnöthige, ja Zweckwidrige einer ſolchen Annahme haben erkennen laßen. Der Zurück— weiſung dieſer Hypotheſe, welche von den verſchiedenen Schriftſtellern auf die verſchie— denſte Weiſe aufzufaßen und zu begründen verſucht worden iſt, ſowie der damit in engſter Verbindung ſtehenden Fixirung des vieldeutigen Wortes „Grenzbegriff“ ſind die bedeutendſten Abſchnitte dieſer erſten Abtheilung gewidmet. Uns hat beſonders die Polemik gegen die wahrhaft geiſtvollen und doch innerlich geſpaltenen Aufſtellungen Herbert Spencer's angeſprochen. Beſon— ders hervorzuheben dürften noch zwei An— wendungen ſein, welche der Verf. auf zwei andere Wiſſensgebiete von ſeinen Sätzen macht. Er entnimmt aus denſelben eine Verification des mathematiſchen Grenzbe— griffes, mit welcher wir uns großentheils“), und eine Rechtfertigung der Riemann'ſchen Metageometrie, mit welcher wir uns aller— dings nur zum Theil einverſtanden erklären können. Fernerhin legt er die nahe Ver— wandtſchaft zwiſchen der wahrhaft phäno— menalen Weltauffaſſung und der experimen- tellen Aeſthetik dar und zeigt, daß das von Fechner und Zeiſing einläßlich diskutirte Geſetz des goldenen Schnittes einen mehr als blos zufälligen Werth beſitze. Wir gelangen nunmehr zur zweiten Abtheilung. Das Princip derſelben können ) Referent verweiſt auf die ſeine Anſichten hierüber darlegende Abhandlung „Ueber den mathematiſchen und philoſophiſchen Begriff des Unendlichen“ im 4. Hefte des 1. Jahrg. der „Zeitſchrift ſür wiſſenſchaftliche Philoſophie.“ 401 wir in Kürze dahin präciſiren, daß zwiſchen den zwei grundſätzlich ſich entgegenſtehenden Weltbildern, welche ſeit den Anfängen philo— jetzt angeſtellten Betrachtungen über das ſophiſchen Strebens die Denker der einzelnen Nationen zu zeichnen verſucht haben, und deren Grundgedanken hier als Eleatismus und Lehre Demokrit's, dort als Spiri— tualismus und Materialismus und noch in gar vielen anderen Erſcheinungsformen ſich offenbaren, auf dem Boden der kriti— ciſtiſchen Betrachtungsweiſe vermittelt werden ſoll. Insbeſondere ſoll eruirt werden, was man unter „Cauſalität“ zu verſtehen habe. Der Gang der Unterſuchung ſelbſt iſt ſehr erſchwert durch die dem Menſchen angeborene und auch in der Kant'ſchen Schule nur allmählich abzuſtreifende Sucht, in einer der beiden contradiktoriſchen Forſchungs— Richtungen zu verfallen, mit welchen eben der geſunde Entwickelungsgang der philo— ſophiſchen Wiſſenſchaft ſeit Jahrtauſenden zu kämpfen hat, nämlich entweder in den ſcho— laſtiſchen Dogmatismus oder aber in den ſchrankenloſen Skepticismus. Die Idee, den von Kant mit kräftigen Zügen gezeichneten Mittelweg zu beſchreiten und ſich lediglich von dem Geiſte des Kriticismus leiten zu laſſen, iſt ja allerdings keine neue, allein ſie iſt wohl von keinem andern Philoſophen bis jetzt ſo beſtimmt ergriffen und ſo energiſch durchzuführen verſucht worden, wie von Herrn Caspari. Wir verweiſen behufs genauerer Orientirung zumal auf das zweite Kapitel. An dieſes ſchließt ſich ein Schalt— kapitel, in welchem das ethiſche Moment auf ſein Verhältniß zu den hier geſchilderten Principien geprüft wird, wogegen der weſent— liche Inhalt der folgenden Abſchnitte ein erkenntnißtheoretiſcher iſt und bleibt — dieſes Wort allerdings in etwas weiterem als dem gewöhnlichen Sinne genommen. Der Verf. weiſt in einer für uns überzeugenden Weiſe | 40. Literatur und Kritik. nach, daß der Cauſalitätsbegriff der con- und daß alsdann eine jedenfalls originelle ſtruktiven Philoſophen ein durch und durch widerſpruchsvoller iſt, erörtert den nach— haltigen Einfluß der Darwin'ſchen Theorie auf die Verflüſſigung althergebrachter und erſtarrter Verſtandesbegriffe, unterzieht die Kant'ſchen Verſuche zur Auflöſung der vorhandenen Antinomien einer ſcharfen Kritik und gelangt zu dem Reſultate, daß der Meiſter allerdings bemerkenswerthe Anſätze zu einer wirklichen Erledigung dieſes Prob— lemes gemacht habe, ſtets aber durch einen Rückfall in ontologiſche Anachronismen an der Erreichung feines Zieles gehindert worden jet. Der Kriticiſt bethätigt ſich überhaupt vornehmlich als Kritiker, und was er gegen Schopenhauer, Hartmann, Zoell- verdient allſeitige Beachtung. Nicht durch— weg freilich ſcheint uns der Verfaſſer das Richtige zu treffen; ſeine Verwerfung der „dogmatiſchen“ Anſichten Riehl's möchten wir nicht unbedingt unterſchreiben, die Auf— faſſung der Laplace'ſchen „Weltformel“, die hier als die der Allgemeinheit vorge— tragen wird, war niemals die unſrige und vor Allem glauben wir, daß eine phäno- öffentlichten Werke „(das entdeckte Geheimniß Grundſatzes vom kleinſten Kraftmaß eine menale Deutung des Avenarius'ſchen weit näherliegende Sache iſt, als Herr Caspari anzunehmen ſcheint. Ein Ex— curs über die erkenntnißtheoretiſche Bedeut— ung der Steinthal'ſchen Formelſprache und über die Regel des goldenen Schnittes ſowie über „die logiſch-äſthetiſche Evidenz“ werden im Zuſammenhalt mit den dem Verf. eigenthümlichen graphiſchen Darſtell— ungen und Schematen auch dem Anhang eine ſelbſtſtändige Bedeutung ſichern. Leiſtung als geſchloſſenes Ganze neues Fer— ment in die philoſophiſche Bewegung unſerer Tage bringe. Widerſpruch und ſcharfe Dis— cuſſion wird dieſelbe zweifellos in hinreichender Menge provociren, denn kritiſch und polemiſch will und ſoll das Buch ſein, allein aus Kämpfen dieſer Art erwächſt ja eben der Sache ſtets eine weitere — und gewiß wünſchenswerthe — Klärung. So ſei denn ſchon jetzt das auch äußerlich angenehm in's Auge fallende Werk beſtens empfohlen. Eine hier und da weniger gedrängte Rede— weiſe und geringerer Gebrauch ungewöhn— licher Termini techniei (fo z. B. „Adap⸗ tion“) wäre im Intereſſe der Popularität ſehr erwünſcht. ner, Mill und andere hervorragende Ver⸗ treter ſelbſtſtändiger Lehrgebäude beibringt, Ansbach. Prof. S. Günther. Koelrenter und Sprengel, W. O. Focke ift in feinem Aufſatze „Zur Geſchichte der Kenntniß der pflanzlichen . Befruchtungsvorgänge“ (Kosmos, Jahrg. II. Band IV. S. 55, 56) offenbar der Anſicht, daß der ſtolze Anſpruch, den Chriſtian Konrad Sprengel in feinem 1793 ver- der Natur im Bau und in der Befruchtung der Blumen“) erhoben hat, und den man ihm nach 70 jähriger Vergeſſenheit heute ziemlich allgemein als vollberechtigt zugeſteht, nämlich das Geheimniß der Natur im Bau und der Befruchtung der Blumen entdeckt zu haben, eigentlich nicht ihm, ſondern viel— mehr Koelreuter zukomme. Da ich nun ſelbſt in meinem Buche über die Be— fruchtung der Blumen durch Inſekten (1873) als den erſten Begründer der heutigen Wir hoffen, daß der Schlußband des Blumentheorie Sprengel hingeſtellt habe, Caspari'ſchen Werkes in Bälde erſcheine ſo ſehe ich mich durch Focke's Aufſatz rn... . Literatur und Kritik. 403 veranlaßt, zu erklären, wie ich damals dazu gekommen bin und wie ich heute darüber urtheile. 2 Als ich das genannte Buch ſchrieb, hatte ich, wie überhaupt bis ganz kürzlich, noch keine Gelegenheit gehabt, mir Koelreuter's Schriften zu verſchaffen. Sind dieſelben doch ſo vollſtändig aus dem Buchhandel verſchwunden, daß ſelbſt Sachs („Geſchichte der Botanik“ S. 445 Anm.) erklären muß, die zweite Fortſetzung von Koelreuter's „Vorläufige Nachricht“ ſei ihm leider un— zugänglich geweſen. Ich mußte es mir daher genügen laſſen, daß Sprengel ſelbſt, deſſen Werk den Stempel abſolutex Wahrhaftigkeit in ſich trägt, jenen Anſpruch erhebt, um denſelben als berechtigt anzunehmen. Auch fand ich ſpäter (18 75) durch das, was Sachs in ſeiner Geſchichte der Botanik über Koel— reuter und Sprengel ſagt, meine Auf— faſſung nur beſtätigt. Erſt Focke's Aufſatz zieht die Richtigkeit derſelben zum erſten Male in Zweifel. Sollte wirklich, ſo fragte ich mich beim Leſen deſſelben, Sprengel, der doch Koel— reuter's Arbeiten gekannt haben muß, da er ſie wiederholt anerkennend citirt, mit ſeiner reinen und innigen Vertiefung in die Ge— heimniſſe der lebenden Natur im Stande geweſen ſein, ſich mit fremden Federn zu ſchmücken? Ich konnte es nicht glauben. Um ſo brennender aber wurde mein Ver— langen, Koelreut er ſelbſt kennen zu lernen, um jeden Zweifel in dieſer Beziehung be— ſeitigen zu können. Focke ſelbſt war nun ſo gütig, mir Alles, was er von Koelreuter's Schriften beſitzt (die „vorläufige Nachricht“ nebſt erſter und zweiter Fortſetzung) zu überſenden, und ich kann, nachdem ich dieſelben durchgeleſen und mit Sprengel's Urtheilen verglichen habe, nur erklären, daß meine bisherige zuſammengeſetzte Materie, worauf ſie ge— Auffaſſung Sprengel's, mit welcher Sachs in ſeiner Geſchichte der Botanik übereinſtimmt, durch dieſe Prüfung durchaus beſtätigt worden iſt. Allerdings hat Koelreuter, wie Focke richtig hervorhebt, ſchon etwa 30 Jahre vor Sprengel erkannt, daß viele Pflanzen nur durch die Vermittelung von Inſekten befruchtet werden, welche den Honig ihrer Blumen aufſuchen; allerdings hat ſchon Koelreuter die Entwickelungsreihenfolge der Blüthentheile einiger Pflanzen und die Thätigkeit Pollen übertragender Inſekten genau beobachtet und beſchrieben, aber er hat ſich niemals die Aufgabe geſtellt, die Bedeutung der Farbe, des Wohlgeruchs, der Honigabſonderung und der Eigenthümlich— keiten des Baues einer Blume aus ihren Beziehungen zu den Pollen übertragenden Inſekten zu erklären, und konnte ſchon des— halb, trotz ſeines ſorgfältigen Beobachtens und klaren Denkens, auch niemals dieſe Aufgabe löſen und der Entdecker dieſer Ge— heimniſſe der Blumenwelt werden. Wie wenig er in der That bei ſeinen auf ein ganz anderes Ziel gerichteten, Epoche machen— den Unterſuchungen die Bedingtheit der ein— zelnen Blumeneigenthümlichkeiten durch die ſie beſuchenden Inſekten in's Auge gefaßt und erkannt hat, ſcheint mir unter Anderm aus folgender Stelle der erſten Fortſetzung der „Vorläufigen Nachricht“ (S. 6, 7) hin— reichend deutlich hervorzugehen: „Alle Bewegungen und Veränderungen, die von dem Keimen an bis zur Blütezeit in einem jeden ſolchen Meiſterſtücke der Natur vorgehen, ſcheinen bloß auf das große Zeugungswerk gerichtet zu ſein, und daran, fo zu ſagen, mit vereinten Kräften zu ar— beiten. Sie zielen alle dahin ab, diejenige gründet ſind, nach und nach aufzulöſen und 2) = 404 Literatur und Kritik. ſie wieder in die zwei urſprüngliche Grund— materien zu theilen, oder, eigentlicher zu reden, dieſe letzteren in einem vollen und, beſonders von der einen Seite, in einem ungleich größern Maaße, als zu der vorher— gegangenen Zeugung erfordert worden, ſelbſt hervorzubringen. Daß es ſo weit mit dieſem großen Werke gekommen ſei, ſich die Blumen unſerem Auge in ihrer vollen Pracht zeigen. Und eben dieſer den Pflanzen heilige Tag iſt es auch, da die Natur die letzte Hand an dieſes Werk legt, indem ſie jene beyde Grundmaterien in einem gegen den ganzen Vorrath oft ſehr kleinen, aber beſtimmten Maaße an dem angehörigen Orte auf das allerinnigſte mit einander ver— miſcht, und dadurch den Grund zu einer | neuen Zeugung und einer ähnlichen Pflanze legt.“ Die Farbenpracht der Blumen wird hier als der Feſtſchmuck der Pflanze an ihrem feierlichen Hochzeitstage, alle ihre Ent— wickelungen werden als Vorbereitungen zu demſelben dargeſtellt, ohne daß hier oder an einer andern Stelle ihre Bedeutung in Bezug auf die Pollen übertragenden Inſekten erörtert wird. Sprengel ſagt daher gewiß mit Recht (S. 17): „Daß die Inſekten zur Befruchtung der Blumen das Ihrige beytragen, iſt an und für ſich ſchon von Andern bemerkt worden. Meines Wiſſens iſt Koelreuter hierin am weiteſten gekommen, welcher dieſes z. B. an der Iris und einigen anderen Gattungen entdeckt, und ſehr wohl erwieſen hat. Es hat aber noch Niemand gezeigt, daß die ganze Struktur der Saftblumen auf dieſen Endzweck abzielet, und ſich aus demſelben vollſtändig erklären läßt. . . Auf eine fo vollſtändige, befriedigende und keinen Zweifel übrig laſſende Art, als ich z. B. die Struk— tur des wilden Schwarzkümmels (und, fügen verkündiget uns gleichſam der feyerliche Tag, an dem | wir hinzu, ſehr zahlreicher anderer Blumen) erklärt habe, hat noch Niemand die Struktur weder dieſer, noch einer andern Blume er— klärt.“ Wie hier im Allgemeinen, ſo werden im ſpeciellen Theile desſelben Werkes, z. B. bei Iris und Epilobium, im Einzelnen Koelreuter's Beobachtungen von Spren— gel erwähnt und gebührend gewürdigt, zu— gleich aber wird von Sprengel gezeigt, wie weit Koelreuter davon entfernt war, zu erkennen, „daß die Natur die ganze Struktur dieſer Blumen in Rückſicht auf dieſe Befruchtungsart (durch Inſekten) ein— gerichtet hat.“ Sprengel muß alſo von jedem Schatten eines Verdachtes, als ob er ſich mit fremden Federn hätte ſchmücken wollen oder vielleicht unbewußt geſchmückt hätte, durchaus freigeſprochen werden, und es bleibt ihm, trotz der werthvollen Beobacht— ungen Koelreuter's, ungeſchmälert der Ruhm, der erſte Begründer derjenigen Blumentheorie geweſen zu ſein, die wir, nach ihrer Vervollſtändigung und tieferen Begründung durch Darwin, noch heute anerkennen. Lippſtadt. Hermann Müller. Die Descendenzlehre und der neue Glaube, von Joſeph Kuhl, Mün— chen, Theodor Ackermann, 1879. 244 S. Die Tendenz des vorliegenden Buches, zwiſchen Geiſt und Gemüth zu vermitteln, iſt dem Referenten außerordentlich ſympathiſch, gleichwohl muß er vorab bekennen, daß ihn die Ausführung gründlich enttäuſcht hat. Der Verfaſſer, Sprachforſcher von Beruf, Theologe aus Neigung, führt uns ſtatt eines ehrlichen Vermittlungsverſuches, wie ihn z. B. der Proteſtanten-Verein anſtrebt, einen Hypotheſen-Baſtard eigener unermüdlich und ſtreng tadelt. Die Des- cendenzlehre an ſich nimmt er als unan— fechtbare Wahrheit hin, ja er dehnt ſie ſogar zu der von ihren Urhebern niemals mit Beſtimmtheit geforderten Form aus, daß alle heutigen Lebeweſen von einer einzigen Urform abſtammen ſollen, der Menſch nicht ausgenommen. Dagegen will er von der Selektionstheorie nichts wiſſen, weil ſie nämlich das Werden der Zweckmäßig— keit erklärt, die er nur als gegeben brauchen kann, und macht ſich eine eigene, wunderliche Theorie zurecht, nach welcher die höheren Formen aus den niedern nicht auf dem Wege allmählicher Entwickelung, ſondern ſprungweiſe hervorgegangen ſeien, und zwar alle auf demſelben Punkte der Erde, wo auch der Menſch einem gänzlich unähnlichen Vorfahren entſprang und zugleich die Schöpfer— kraft der Natur erſchöpfte. Denn von nun ab wird nicht mehr geſprungen, ſondern es geht wieder abwärts; ob ebenfalls in Sprüngen, iſt nicht geſagt, aber wahrſcheinlich, denn bergab ſpringt es ſich leichter als bergauf. Dabei wird der für einen Sprachforſcher doppelt mörderliche Salto mortale gemacht, daß der Menſch, mit Sprache und Vernunft reich begabt, plötzlich der ſprachloſen Thier— welt entſpringe, eine Bravourleiſtung, die offenbar nur den Zweck hat, Haeckel's Alalen zu beſeitigen. Zweifellos wird die Kuhl'ſche Culminationstheorie, wie er ſie nennt, die Welt ſehr kühl laſſen, aber ein armer Referent, der ſich Bücher nicht ohne irgend einen Zweck geſchrieben denken kann, muß ſich vergeblich quälen, zu ergründen, was der Verfaſſer mit dieſer ſeiner neuen Theorie eigentlich will. Wenn ihm die allmähliche Evolution unwahrſcheinlich er— ſcheint, ſo iſt doch die ſprungweiſe noch zehnmal Literatur und Kritik. 405 Züchtung vor, und vermehrt damit lediglich unglaublicher, und das einfache biblische die Zahl „wilder Phantaſieen“, die er fo | Dogma hundertmal plauſibler, als das ſeinige, welches dennoch nach brandigem Ketzer— fleiſch duftet. Die Dar win'ſche Theorie hat ihre Stärke darin, daß fie dem geſun— den Menſchenverſtand begreiflich iſt und durch Tauſende von Einzelnheiten geſtützt wird; die Kuhl'ſche Theorie kann einzig die zweifelhafte Autorität Tertullian's für ſich anführen, und zwar aus dem Momente jener humoriſtiſchen Anwandlung, in welchem der Kirchenvater ausrief: Credo quia ab- Es wird daher keinen Zweck haben, uns mit jenen Fieberphantaſien näher zu beſchäftigen. Nur Eins wollen wir noch bemerken. Der Verfaſſer ſchilt auf der erſten und letzten Seite ſeines Buches über die große Zahl Derer, die alle Tage über Darwin ſchreiben und des Lichtes Himmelsfackel unter die ewig Blinden werfen, wo ſie zur Brandfackel werde. Darin den kleinen Kindern gleichend, die immer fort aufs Neue verſichern, nichts ſagen zu wollen, und inzwiſchen Alles ausplaudern, eifert er über die Vielſchreiberei Unberufener und ſchreibt im Handumdrehen ein dickes Buch, welches offenbar nicht für die Hierophanten des neuen Glaubens, ſondern für alle Welt beſtimmt iſt. Doch dafür ſei er entſchuldigt, denn er hat den Humor ſeiner Lage ſelbſt gefühlt, indem er ſchrieb: „Wenn Derjenige, der über Darwin und die Abſtammungs— lehre zu ſchreiben ſich anſchickt, einen Nach— weis ſeiner naturwiſſenſchaftlichen Quali— fication zu liefern angehalten würde, dann würde die Zahl der Bücher und Büchlein, die in den letzten Jahren entſtanden ſind und noch immer, wie vorliegendes zeigt, entſtehen, um ein Bedeutendes verringert.“ Was uns betrifft, ſo würden wir auf das vorherige Reifezeugniß überall gern verzichten, wo das Buch ſelbſt ſeine Berechtig— surdum! Kosmos, III. Jahrg. Heft 5. 53 406 ung darthut, allein das iſt im vorliegenden Falle, trotz fo mancher treffenden Aus- führungen in demſelben, nicht geſchehen; die darin vorgeführte Culminations- Theorie iſt vom theologiſchen Standpunkte ſo ſchlimm wie alle Entwickelungstheorieen; vom natur— hiſtoriſchen ſchlimmer als gar keine: Eine Galvaniſirung der Kataſtrophen-Theorie mit Benutzung eines Gedankens von Kölliker manden glücklich machen kann. K. Natürliche Schöpfungsgeſchichte von Profeſſor Dr. Ernſt Haeckel. Sie— bente umgearbeitete und vermehrte Auf— lage. Mit 17 Tafeln, 20 Holzſchnitten, 21 Stammbäumen, 27 ſyſtematiſchen Tabellen und dem Portrait des Ver— faſſers. Berlin 1879, H. Reimer. XXX acht Ueberſetzungen verbreiteten Werkes in und 718 Seiten in 8. Die neue Auflage dieſes bahnbrechen— den Werkes hat eine eingreifende Umarbeit— ung erfahren, um die zahlreichen Fortſchritte der Neuzeit, namentlich auf dem Gebiete der Phylogenie, zu regiſtrirn. Die ſo viel angefochtenen Stammbäume, welche Haeckel den. Literatur und Kritik. genetiſchen und phylogenetiſchen Forſchungen bis auf die jüngſte Zeit berückſichtigt wor- So ſtellt das Buch einen getreuen Spiegel der heutigen arbeitenden Natur- wiſſenſchaft dar, natürlich nur der Haupt⸗ richtungen, denn den einzeluen Verzweigun— gen derſelben zu folgen, wäre auf ſo be— ſchränktem Raume nicht leicht denkbar. Zu den inſtruktiven Tafeln der früheren Aus— und mit Abſchluß im Menſchen, die Nie- gaben ſind einige prachtvoll ausgeführte neue gekommen; die eine beſonders zierliche Formen der Tiefſee-Radiolarien darſtellend, welche bei der Challenger-Expedition ans Licht gebracht und dem Verfaſſer zur Be— arbeitung übergeben wurden, und außerdem ein Bild des Farnwaldes der Steinkohlen— zeit. Wir haben unſeren Leſern gegenüber wohl nicht nöthig, über die Rangſtellung des außer den ſieben deutſchen Auflagen in zuerſt in feiner leider nicht mehr neu er- ſchienenen „Generellen Morphologie“ (1866) einführte, haben den Specialforſchern als ebenſo viele Arbeitsprogramme ſo weſent— liche Dienſte geleiſtet, daß ſie täglich an Beſtimmtheit gewinnen und mit immer neuen Zweigen und vollerem Wipfel dem Sturme einer übelwollenden Kritik trotzen, die nicht begreifen kann, was ſie vorſtellen wollen. — Im Beſonderen iſt das Protiſten— reich neu begrenzt und erweitert worden; die Metazoen haben eine durchgreifende Zweitheilung in Coelenterien und Bi- laterien erfahren, und in jeder der ſechs Hauptklaſſen der Metazoen find die onto— der darwiniſtiſchen Literatur ein Weiteres hinzuzuſetzen. Die typographiſche Ausſtatt— ung iſt muſterhaft. Die Philoſophie und die Anthro— pogenie des Prof. Dr. Ernſt Haeckel von Dr. M. L. Stern. Berlin, Theo— bald Grieben, 1879. 152 S. in 8. Ein Engländer, der des Franzöſiſchen nicht vollkommen mächtig war, hörte einſt einen Franzoſen über einen Landſtrich ſprechen, der wegen ſeiner Sümpfe und giftigen Bodenausdünſtungen unbewohnbar ſei. Da nun das in der Rede des Franzoſen fort— während wiederkehrende Wort inhabitable unbewohnbar, im Engliſchen umgekehrt bewohnbar bedeutet, ſo hielt der En— gländer den Franzoſen für verrückt, ſofern er nach ſeiner Meinung gerade die Bewohn— barkeit des Landes von den giftigen Aus— dünſtungen herleitete, und der Franzoſe hielt ſeinerſeits den Engländer für nicht geſcheut, weil dieſer einwarf, das betreffende Land könne wegen ſeiner Miasmen nicht inhabi— table ſein. Dieſe noch ungedruckte Anekdote fiel mir bei der Durchſicht des vorliegenden Buches, welches in den meiſten Tagesblättern Literatur und Kritik. mit hohem Lobe überſchüttet worden iſt, ein. Ein Autor der ſelbſt geſteht, nicht das ABC der Naturwiſſenſchaft zu verſtehen — und daß er dabei nicht übertrieben hat, ſieht der Leſer nur zu bald, — und der trotz deſſen Haeckels Anthropogenie für ſein Lieblingsbuch, Darwinismus und Haeckelis— mus für ſeine Lieblingsideen erklärt, beide aber dann von einem angeblich philoſophi— ſchen Standpunkte kritiſirt, das iſt der Eng— länder, der den Franzoſen hofmeiſtert, ohneſeine Sprache zu verſtehen. Als Pröbchen von der Klarheit dieſes gerühmten Autors magfolgende „angeſtrengte“ Leiſtung dienen, mit welcher der Verfaſſer nachweiſen will, daß alles naturhiſtoriſche Werden philoſophiſch an— geſehen ein bloßes Sein ſei. „Man halte nur feſt“, ſagt er S. 98, „daß es keinen Wechſel der Erſcheinungen und nur einen Wechſel der Betrachtungen der Welt giebt. Ich will mich etwas anſtrengen und das klar Erkannte (?? Ref.) theilweiſe der Auf- faſſung näher bringen. Wenn Waſſerſtoff und Sauerſtoff in Combination ſind, ſo iſt der Waſſerſtoff doch da, obwohl er unſerer Wahrnehmung entſchwunden iſt. Ebenſo iſt das Waſſer, das früher da war, und nun!) durch die Elektrolyſe zerſetzt wurde, Bedingung der Elektrolyſe und ein Combi— nationsglied dieſes Vorganges. Ich kann ferner dieſe Elektrolhſe ohne das Waſſer nicht denken und weil dieſe Elektrolyſe, da ſie ſtattfand, für alle Zeiten mit zu dieſer Welt gehört, ſo gehört das Waſſer als Vorher iſt von keinem Waſſer und keiner Elektrolyſe die Rede! Ref. 407 Waſſer für alle Zeiten mit zu dieſer Welt (sic!). Und gehört dieſe Elektrolyſe, welche in einem chemiſchen Laboratorium ſtattfand, mit zu dieſer Welt? Unbedingt! Der genau denkende Naturforſcher weiß, daß die ganze Welt, wenn auch nur um ein ganz unmerkliches Atom, mit dieſer Elektrolyſe anders gedacht werden muß, als ohne dieſe. Dies iſt die Conſequenz der Naturnothwendigkeit, wo Alles mit ein— ander zuſammenhängt. Wenn ich nach Jahr— tauſenden die Welt mit der feinſten Ge— nauigkeit in allen Beziehungen erforſchen könnte, müßte ich finden, daß dieſe heutige Elektrolyſe — man denke ſich nur, wie. unmaßgeblich — immerhin aber für jenen Zuſtand mitwirkende Bedingung war. Da— rum ſage ich: alles Werden iſt eben als Werden, als ſolcher Vorgang ein Sein, und nur die Summe alles Werdens giebt erſchöpfend das Sein!“ Es iſt ja ſehr möglich, daß dem Worte Werden in den Sprachen der Philoſophie und der Naturwiſſenſchaft grade ſo diame— tral ſich widerſprechende Bedeutungen bei— gelegt werden können, wie jenem Worte inhabitable diesſeits und jenſeits des Ka— nals. Die Philoſophen ſind eben mitunter ſonderbare Leute. „Ce que qe nomme ici des esprits,“ ſchrieb einſt der große Descartes (les passions de Tame. Art. X), „ne sont que des corps.“ Wenn ihnen nöthigen- falls Geiſt und Körper daſſelbe iſt, warum nicht auch Werden und Sein? Aber das Forſchen, dünkt uns, hört in demſelben Augenblicke auf, wo der Naturforſcher ſo ſehr Philoſoph wird, daß ihm Alles toute la méme chose wird. Wir halten es in dieſem Punkte mit Lafontaine und machen uns über die esprits-corps luſtig: „Jentends les esprits-corps et pétris de matière.“ Obige keineswegs aus irgend einem Zu— ſammenhange herausgeriſſenen Sätze, die eine geſchloſſene Beweisführung darſtellen ſollen, mögen genügen als Pröbchen von der Stern-Philoſophie, die ſich heraus— nimmt, Darwin und Haeckel nach einem öfter als nöthig wiederholten Weihrauch— ſtreuen ſchließlich zu ermahnen, bei ihrem Leiſten zu bleiben, nämlich die Natur zu erklären ſoviel ſie wollen, die Weltauffaſſung aber ihr zu überlaſſen. Bedauernswerth jeder Leſer, der ſolcher potenzirten und eitel aufgeblaſenen Narrheit zum Opfer fällt! Ueber die Natur der Flechten von Prof. Dr. M. Reeß. Mit zehn in den Text gedruckten Holzſchnitten. Berlin Carl Habel, 1879. 47 S. in 8. Wer ſich über den anziehenden Gegenſtand des im vorigen Hefte mitgetheilten Artikels von Dr. Weinland näher unterrichten will, findet dazu die beſte Gelegenheit in dem vorliegenden Hefte, deſſen Verfaſſer ſich an der Enträthſelung der Flechten-Natur mit reichem Erfolge ſelbſt betheiligt hat. Seine Darſtellung von dem langſamen Reifen der Erkenntniß des wahren Sach— verhaltes auf dieſem Gebiete iſt ebenſo an— ziehend als anſchaulich und liefert für Jeder— Literatur und Kritik. mann ein klares Bild der hier obwalten— den eigenthümlichen Verhältniſſe. Das Blut, eine phyſiologiſche Skizze von Johannes Ranke, Profeſſor an der Univerſität München. Mit 58 Holz— ſchnitten. München R. Oldenbourg 1878. 323 Seiten in 8. Das vorliegende Buch, welches den 28. Band der rüſtig fortſchreitenden Volksbiblio— thek: „die Naturkräfte“ bildet, bringt eine Monographie jenes ganz beſonderen Saftes, von deſſen Friſch, - Froh- und Frei-Erhalt⸗ ung (nämlich von allen ſchädlichen Beimeng— ungen) unſer Wohlbefinden abhängt, und iſt in ſeiner elementaren, überaus wohl überlegten Form und Gliederung ein kleines, oder ſagen wir lieber, ein großes Meiſter— ſtück der populären Darſtellung. Von dem einfachen zum zuſammengeſetzten fortſchrei— tend, überall der geſchichtlichen Entwickel— ung unſerer Kenntniſſe folgend, führt der Verfaſſer den Leſer zu einer gründlichen Kenntniß des Gegenſtandes, wobei es die Natur der Sache mit ſich bringt, daß ein Blick auf die Ernährungsvorgänge und die geſammte Phyſiologie des thieriſchen Körpers geworfen wird. Die Abbildungen ſind äußerſt lehrreich, und wie die allgemeine Ausſtattung vorzüglich. — .' 4 — — J ͤͤ 2 1 BEP Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig. Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. Von Prof. Dr. Fritz Schulte. III. Das Ende. 80 it dem fünften Jahrhundert, DA 8 155 in welchem Au guſtin ſtirbt, 7,1 Thließt die Kirche ihre dogmen— , bildende, ſpeculative Thätig— keit ab, und es entſteht jetzt, nachdem der Glaubensinhalt feſt formulirt iſt, für ſie die neue, praktiſche Aufgabe, dieſen Glaubens: inhalt über die Welt zu verbreiten — die Aufgabe der Weltmiſſion. Hand in Hand mit dieſem Werke der Heidenbekehrung, welches die folgenden Jahrhunderte in An— ſpruch nimmt, geht aber die andere Auf— gabe, das großartige Gebäude der univer— ſalen Kirche mehr und mehr zu befeſtigen und auszubauen. Auch dieſe Aufgabe iſt eine eminent praktiſche, eine Aufgabe der Unterwerfung, der Verwaltung, der Regier— ung der Welt. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß dieſer politiſchen Thätigkeit gegenüber die theoretiſchen Speculationen ganz und gar in den Schatten treten müſſen. Der Kirche genügen die feſten Reſultate früherer patrologiſcher Speculation; wie man zu dieſen Reſultaten gekommen, iſt ihr gleich— | gültig. So gehen die Studien unter, die Kenntniß des klaſſiſchen Alterthums und ſeiner Geſchichte verloren. Man weiß nicht mehr, daß das Chriſtenthum mit einer Anzahl von Fäden an das Hellenenthum geknüpft war. Kirchenväter, wie Juſti— nus, Athenagoras u. A. hatten noch dies Bewußtſein und das Bedürfniß, es aufrecht zu erhalten. Aber Auguſtin ſucht ſchon dieſen Zuſammenhang zu ver— dunkeln und möglichſt zu löſen. Seine Unterſcheidung der eivitas terrena von der eivitas dei ſetzte das Chriſtenthum als etwas abſolut Neues dem Heidenthum ent⸗ gegen, in dem ſelbſt die Tugenden nur „glänzende Laſter“ waren. Die Kenntniß und das Verſtändniß des klaſſiſchen Alter— thums verſinken immer mehr in Dunkelheit und Nebel, und die Kirche hat gar nicht einmal das Intereſſe, dieſe Nebelwand zu zerſtreuen; hebt ſich der Regenbogenglanz der chriſtlichen Glorie doch nur um ſo groß— artiger von ihr ab, erſcheint doch damit das Chriſtenthum nur um ſo mehr wie aus Kosmos, Jahrg. III. Heft 6. 54 | 410 ſich ſelbſt geboren, wie unmittelbar vom Himmel herabgeſtiegen, wie ohne Geſchichte in die Welt getreten. Die theoretiſche Speculation darf ſich nicht einmal auf das der kirchlichen Tradi— tion gefährliche Studium der Schrift er— ſtrecken, wie die durch das ganze Mittel— alter hindurchlaufenden Bibelverbote zeigen, geſchweige denn, daß das Forſchen im Buche der Natur hätte auf Zuſtimmung rechnen können. Es iſt intereſſant, dieſe beiden Parallelen zu ſehen, auf denen die Hemm— ungen des Naturſtudiums und die Hemm— ungen der Bibelforſchung durch das Mittel— alter hindurch neben einander herſchreiten. Die Entſtehung des craſſeſten Aberglaubens auf dem Gebiete der Religion wie auf dem der Natur iſt die Folge davon, daß man der produktiven Phantaſie des Menſchen— geiſtes aus den Grundquellen zu ſchöpfen verbietet. Die Polytheologie lebt in ſchön— ſter Form wieder auf: alles Natürliche be— wirken die teufliſchen, alles Uebernatürliche die himmliſchen Heerſchaaren — Natur- cauſalität herrſcht hier jo wenig wie dort. Wir brauchen nicht erſt im Einzelnen alle die bekannten Verfolgungen aufzuzählen, die ſich nicht blos gegen die Vertheidiger der An— tipodenlehre, ſondern auch gegen die aſtro— nomiſche, phyſikaliſche, chemiſche und medi— ciniſche Forſchung und ihre Vertreter richten. An Concilienbeſchlüſſen gegen das Leſen phyſikaliſcher und mediciniſcher Bücher, wie gegen die Ausführung anatomiſcher Sektio— an Männern, die heldenhafter Weiſe die Märtyrer ihres Wiſſensdranges werden. Wie ſchon bei den Kirchenvätern, haben auch jetzt die Naturdinge nur ſo viel Geltung, als ſie im geiſtlichen Sinne Bedeutung Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. universo“ dieſer abſoluten Geringſchätzung der Naturdinge den unverhohlenſten Aus- druck verleiht. So geben denn die ſogen. Claves zur heiligen Schrift nichts Anderes, als die myſtiſche Auslegung der in der Bibel vorkommenden Naturobjekte in der ſchon bei den Vätern von uns geſchilderten Manier. Ebenſo benutzen die ſogen. Mo— ralitätenbücher die Thierwelt zur An— knüpfung erbaulicher Betrachtung, in der Art der Verwendung der Thiere in Fabeln mit moraliſcher Tendenz, und wo endlich dieſe hermeneutiſche oder moraliſche Abſicht mehr zurück- und das naturgeſchichtliche Intereſſe mehr hervortritt, wie in den ſogen. Besti— arii (Physiologi), Herbarii und den voll— ſtändigen Kosmographien, den ſogen. Natur- ſpiegeln, da zeigt ſich ein ſo kläglich her— untergekommener Stand des Wiſſens, daß Zöckler (J. S. 337) mit Recht dieſe Bücher „den ohne kunſtgerechte Anleitung, oder ohne irgend welches feſte Princip an— gelegten Naturalien-Sammlungen unſerer Knabenzeit“ vergleicht, ein Urtheil, das in verſchärfter Weiſe durch Whewell's geiſt— reichen Ausſpruch beſtätigt wird: „Bücher dieſer Art leiten ihre Entſtehung und ziehen ihre Ernährung nur aus dem Leichnam der wahren Wiſſenſchaft. Sie gleichen den Inſektenſchwärmen, die aus dem verweſen— den Körper irgend eines edleren Thieres hervorgehen.“ Wir halten uns hier jetzt nicht damit auf, eine Reihe illuſtrirender Einzelheiten nen fehlt es bekanntlich ebenſo wenig, wie haben; an ſich ſind ſie nichtig, wie denn Rha— | banus Maurus in feinem Werke „de vorzuführen. Es liegt uns überhaupt in dieſem Abriß einer Entſtehungs— geſchichte der Naturverachtung weniger an der Schilderung der Erſcheinung ſelbſt, als vielmehr an der Darlegung der Urſachen der Erſcheinung. Dieſe Ur— ſachen finden ihren Vereinigungspunkt ſämmt⸗ lich in dem Uebergewicht, welches das . Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. ſcendente einſeitig im Vorſtellungsleben der Menſchheit des geſchilderten Zeitalters ge— winnt. Wir haben gezeigt, auf welchen Wegen das Transſcendente zu dieſer unbe— ſchränkten Herrſchaft gelangte; wir müſſen jetzt noch darthun, wie dieſe ſeine Herr— ſchaft überwunden, und die Natur dafür wieder in ihre Rechte eingeſetzt wird. Die allmähliche Verweltlichung der Kirche und die nach und nach eintretende Materia- liſirung des Jenſeitigen iſt das Erſte, worauf wir hier unſere Aufmerkſamkeit zu richten haben. Das Urchriſtenthum ſtieß die Welt von ſich und ward von ihr zu— rückgeſtoßen; es verachtete ſie und ward von ihr verachtet; es haßte die drei großen Antichriſten des Griechenthums, Juden— thums und Römerthums und ward von ihnen gehaßt. Der griechiſchen mate— riell⸗ſinnlichen Vielgötterei fette es die eine, nur im Geiſte anſchaubare Gottheit ent— gegen, der helleniſch-naturaliſtiſchen Anſchau-⸗ ung von der Ewigkeit und Selbſtſtändig— keit der Welt die antinaturaliſtiſche Lehre von der Schöpfung aus Nichts, dem freu— digen Sinnenleben des klaſſiſchen Geiſtes die asketiſche Weltflucht. Dem Griechen erſchien deshalb das Chriſtenthum als eine Thorheit. Den ſtrengen Juden ergrimmte es, daß an Stelle des einen Gottes ein dreieiniger treten, daß der Meſſias in dieſem gekreuzigten Jeſus Fleiſch geworden ſein ſollte, daß die feſte, ariſtokratiſche Ordnung des jüdiſchen Prieſterſtaates durch die de— mokratiſche Lehre eines allgemeinen Prieſter— thums gebrochen und die geheiligten Satz— ungen des moſaiſchen Ceremoniells dem gläubigen Gemüth gegenüber für gleich— gültig erklärt und bei Seite geſchoben wurden. Der politiſch und juriſtiſch dreſſirte Rö mergeiſt aber ſah in den Nazarenern ein— fach Rebellen gegen die Staatsgeſetze, und 411 darum eine sceleratissima gens nach dem Ausdruck Seneca's. Die chriſtlichen Rechtsanſchauungen gingen aus der, einer ſehr dehnbaren Auslegung fähigen, Ueber— zeugung hervor, Gott mehr gehorchen zu müſſen als den Menſchen; die römiſchen Rechtsbegriffe floſſen aus dem Grundſatz, den Staat ſicher zu ſtellen. Die nur im Reiche Gottes gute Bürger ſein wollten, konnten es nicht im römiſchen Reiche ſein; ſie verachteten die Autorität des römiſchen Geſetzes, geſtützt auf die Autorität des göttlichen; zu der advocatoriſch-realiſtiſchen Nüchternheit und Spitzfindigkeit des erſteren ſtellte ſich in ſchroffen Gegenſatz die ſchwär— meriſch-idealiſtiſche Einfalt des letzteren. In dem Kampf der, Gegenſätze aber blieb das Chriſtenthum Sieger. Die Kirche unter— warf ſich die Welt und nahm ſie in ſich auf als ihre Provinz, d. h. aber doch: ſie verweltlichte ſich in dem Grade, als ſie die Welt ſich einverleibte. Die civitas terrena forderte wieder ihre Rechte; kein Wunder, daß ſie auch auf die eivitas dei ihren umgeſtaltenden Einfluß ausübte. Die Kirche wollte über die Welt herrſchen, ſo mußte ſie auch wieder in ihr, von ihr ſein; es mußte der Sinn für die Welt und das Weltliche zurückkehren. So tritt das Gött— liche wieder in das Weltliche ein; es wird um ſo mehr hereingezogen, als die rohe Sinnlichkeit der neubekehrten Völker das Ueberſinnliche nur in der Form des Greif— baren, Anſchaulichen, Materiellen zu ver— ſtehen vermochte. In demſelben Grade aber tritt das Weltliche in das Göttliche ein und macht ſich in ihm breit: Der Menſch wird im Heiligen, die Materie in der Hoſtie, den Reliquien u. ſ. w. vergüttlicht, oder, was daſſelbe beſagt, das Göttliche wird ma— terialiſirt und naturaliſirt. Ein neuer Olymp erhebt ſich, dem es an Göttern und Heroen 412 nicht fehlt, und nicht minder als in den Myſterien der großen Götter mutter Cy⸗ bele, Iſis oder Venus Urania tritt der Kultus der Natürlichkeit wieder auf in den Auswüchſen des Kultus der chriſtlichen Gottesmutter. Von Weltverachtung kann hier wenigſtens in praxi ſchon keine Rede mehr ſein, ebenſo wenig wie ſich dieſer Um— ſchwung noch mit einer abſoluten Natur— verachtung verträgt — man entfernt ſich ſchon von ihr, ohne es zu wiſſen, um ſo mehr, als gerade die neubekehrten Völker Weſteuropas, jetzt die kräftigſten Träger des Glaubens, im Grunde noch Natur— völker ſind, deren Zuſammenhang mit der Natur ſich noch nicht ſo gelockert hatte, als es bei den hinſterbenden, ſchlaffen Ueber— | kulturmenſchen Griechenlands und Roms der Fall geweſen war. einen feſtgegliederten Stand von Herrſchern, genau vorgeſchriebene Formeln und Geſetze. Die jüdiſche Prieſterhierarchie und das jüdiſche Ceremoniell kehren zurück mutatis mutandis — und wie der römische Staat gezwungen war, eine Fülle von Geſetzen zu ſchaffen und ſie mit juriſtiſcher, nüchtern— ſcharfer Methode zu interpretiren, ſo reicht auch für die Kirche die lautere Einfalt des ungeſchriebenen Geſetzes nicht mehr aus; auch ſie muß Geſetze machen und interpre— tiren. Der prieſterliche Anwalt für den Himmel muß zugleich gewandter Advocat für die Erde ſein. Je nüchterner der Geiſt aber im Sinne ſtrenger Logik hier geſchult wird, um ſo mehr entwöhnt er ſich enthu— ſiaſtiſcher Schwärmerei, um ſo mehr gewöhnt er ſich, die Folgerichtigkeit der begrifflichen Autorität und damit auch der natürlichen Cauſalität wieder anzuerkennen. Dieſe juri— ſtiſche Schulung, wie ſie erſt recht ſeit dem 12. Jahrhundert durch die Reception des N Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. römiſchen Rechts nothwendig wird, zwingt zu realiſtiſcher Betrachtung der Dinge und zum Aufſuchen der natürlichen Zuſammen— hänge, und wenn dies zunächſt ſich auch nur auf die ſocialen Verhältniſſe der Men— ſchenwelt bezieht — die Uebertragung auch auf die Verhältniſſe der Natur kann mit der Zeit nicht ausbleiben. Auch in der ſorgfältigen Pflege, welche das Mittelalter der formalen Logik ange— deihen läßt, liegt, wie oben ſchon angedeutet, ein ſolches naturaliſtiſches Element, das an der Aufhebung der Naturverachtung mit— zuarbeiten berufen iſt. Handelt es ſich in ihr auch nur um abſtrakte Begriffe, ſo han— delte es ſich doch ſtets darum, dieſelben in den logiſch richtigen Cauſalzuſammenhang zu bringen. Daß der folgerichtige Cauſal— nexus betont wird, darin liegt hier das Die Beherrſchung der Welt erfordert Wichtige — um ſo beſſer und eher müſſen bald die logiſchen Widerſprüche in der kirch— lichen Dogmatik entdeckt werden, um ſo eher wird bald der Geiſt ſich unbefriedigt davon abwenden, um ſo eher wird er bald den ſtrengen, von ſeiner logiſchen Schule gefor— derten cauſalen Zuſammenhang, den er im Gebiete des Glaubens nicht finden kann, im Gebiete der Natur aufſuchen. Es iſt gewiß charakteriſtiſch, daß der große logiſche Tauſendkünſtler Raymund Lull im 13. Jahrhundert nicht blos eine ars in— veniendi geben will, ſondern ſogar förm— liche Maſchinen dazu conſtruirte. Handelt es ſich dabei auch nur um „Erfindung“ neuer Begriffscombinationen auf mechani— ſchem Wege, ſo wendet er ſeine Aufmerk— ſamkeit doch auch ſchon auf Naturſtudien; ſo lebt doch in demſelben Jahrhundert auch bereits der Mann, Roger Baco, der mit ſeiner seientia experimentalis ſich der Erforſchung der Natur in eminenter Weiſe Weiſe zuwendet und auf Grund derſelben ſich mit der Erfindung wirklich phyſikaliſcher Mechanismen beſchäftigt. So lange die Welt im harten Kampfe noch zu beſiegen war, hatten die Streiter Gottes alle Entbehrungen und Mühen des Lebens im Felde zu erdulden. Jetzt iſt ſie unterworfen; die Krieger reſidiren in ihren ſicheren Klöſtern als Herrſcher in be— haglicher Ruhe. Auf die Zeit der ſieben mageren Kühe folgt die der ſieben fetten; ein mäßiger Epikur tritt wieder in ſeine uralten Rechte. Ohne Natur kein Genuß. Wie könnte auf die Dauer die Natur ver— achten, wer nicht mehr in der thebaiſchen Wüſte als Einſiedler den Leib kaſteit, ſon— dern in Feld, Weinberg und Garten eines reichen Kloſters ihre Gaben liebt und pflegt! Dogmatiſch und theoretiſch bleibt ſie im Bann, aber die Praxis des Lebens denkt anders über ſie. Auch hier zeigt ſich in der Anſchauung des Mittelalters die bei ihm ſo beliebte „doppelte Wahrheit“. Die Natur kann denn doch in Wahrheit kein ſo Nichtiges ſein, wenn ſie für die Kirche ein ſo Wichtiges iſt. Schon Scotus Erigena ſucht ſich mit der Schöpfung aus Nichts durch künſtliche Um— deutungen im Sinne natürlicher Logik ab— zufinden und ſchwankt zwiſchen rein theiſti— ſchen und pantheiſtiſch-emanatiſtiſchen Vor- ſtellungen hinſichtlich der Weltentſtehung hin und her. In Thomas' von Aquino auf ariſtoteliſchen Principien baſirtem Ent— wickelungsſyſtem iſt das Reich der Na— tur ſchon die nothwendige Entwickelungs— Vorſtufe zum Reich der Gnade, alſo die Natur doch von anerkannter Geltung im Weltſyſtem, und es iſt ebenfalls be— zeichnend, daß die philoniſche Annahme einer zeitloſen, alſo ganz ſupranaturaliſtiſchen Schöpfung immer mehr hinter der An— nahme eines naturgemäßen Cauſalgeſchehens Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. im Sinne des moſaiſchen Schöpfungsberichtes zurücktritt. Die Begierde nach Weltherrſchaft läßt die Kirche die Kreuzzüge in Scene fegen. Von Neuem kommen Orient und Decident in nahe Berührung; in hohem Grade ver— mehren ſich jetzt im Abendlande die Kennt— niſſe von fremden Ländern, Völkern und Naturdingen. Auch dadurch entſtehen neue Intereſſen rein naturaliſtiſcher Art, ganz abgeſehen davon, daß man durch dieſen Contakt auch mit den Arabern und ihren naturwiſſenſchaftlichen Forſchungen und auf dieſem Umwege auch wieder mit „dem Erſten der Phyſiker“, Ariſtoteles, bekannt und bedeutſam angeregt wird, worauf wir noch zurückkommen werden. Nicht minder iſt in dieſer Beziehung die Thätigkeit der Miſſio— nare von Wichtigkeit, welche die Kirche vom 13. Jahrhundert ab nach dem öſtlichen Aſien zu den Tartaren ſendet und unter denen beſonders Rubruquis (Wilhelm Ruys— broek) mit ſeinem Reiſebericht, als mit „dem größten geographiſchen Meiſterſtück des Mittelalters“, nach Peſchel, hervorragt. So drängt von den verſchiedenſten Punkten die Natur förmlich ſelbſt dahin, daß der auf ihr laſtende Bann von ihr genommen werde. Der Glaubensverfall in der Kirche, die Verweltlichung derſelben und eine relative Anerkennung der Welt und Natur gehen Hand in Hand mit einander. Dem allge— meinen Glaubensverfall gegenüber ſind es ſchon vom 12. Jahrhundert an gewiſſe engere Kreiſe in der Kirche, welche, Vor— boten der ſpäteren Reformation, das Be— dürfniß nach erneuter Glaubens ver— tiefung fühlen. Es iſt pſychologiſch in— tereſſant zu ſehen, wie gerade dieſe Ver— tiefung des Glaubens eine liebevolle Ver— ſenkung in die Natur, eine manchmal ſchwär— N 414 Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. meriſch-inbrünſtige Verehrung derſelben her- preiſt; der feine Genoſſen mit ſchwärmeri— vorbringt. Das iſt beſonders bei den ſchem Naturenthuſiasmus ſo ſehr zu erfüllen Vertretern jener mittelalterlichen, der Kirche weiß, daß der Bruder Egidius in or— allerdings als ketzeriſch verdächtigen Myſtik giaſtiſcher Liebesinbrunſt zum Schöpfer Fel— der Fall, deren haeretiſches Weſen darin ſen und Bäume umarmt, ſie mit Küſſen beſteht, daß ſie die Fülle des Glaubens— bedeckt und mit Thränen benetzt; daß der inhaltes und die Wärme der Glaubens— Bruder Antonius ſich mit ſeiner Predigt inbrunſt nicht aus dem großen Meere der | an die Fiſche des Po wendet, als die Men— kirchlich-objektiven Autoritäten ſchöpfen will, ſchen ihn nicht mehr hören wollten. Und ſondern aus dem kleineren, rein ſubjektiven, eine ähnliche Grundſtimmung, wenn auch aber eben deshalb das individuelle Bedürf- nicht in dieſer Ueberſchwenglichkeit, findet niß im höheren Grade befriedigenden Quell, ſich bei Männern wie Bernhard von der in der Bruſt eines jeden Menſchen felbft | Clairvaux, charakteriſirt die von dem ſtrömt. Die Dinge der Natur ſind an Deutſchen Hugo von St. Viktor aus— ſich als bloße Creaturen zwar hinfällig und gehenden romaniſchen Myſtiker, die ſogen. nichtig, aber immerhin ſind ſie doch Ge- Viktoriner, und den großen Theologen des ſchöpfe Gottes; ſie ſind aus ſeiner Hand 13. Jahrhunderts, Johannes Fidan— hervorgegangen, fie tragen alſo auch feinen | za Bonaventura, und bewegt ſich als Stempel und fein Gepräge, fie haben alſo wirklich zu wiſſenſchaftlichen Verſuchen der ſelbſt etwas Göttliches an ſich. Nicht nur, Natur -Erforſchung antreibende Kraft in daß man Gottes Weisheit, Güte und All- dem ſchon oben genannten Raymund macht aus ihnen erkennen kann, fie haben Lull, den fie zur Encheiresis naturae, etwas vom Göttlichen in ihrem eigenen zur Erfaſſung des innerſten Kerns der Na— Weſen und ſind alſo verehrungswerth. tur drängt, und deſſen berühmt-wunderlich— Wenn ſchon die Weltflüchtigen in der Wahl logiſche Künſte, deſſen myſtiſche Specula— oftmals entzückender Oertlichkeiten für ihre tion, deſſen eifriges alchemiſtiſches Forſchen Einſiedeleien und Kloſteranlagen im hohen nach dem Stein der Weiſen auch von die— Grade äſthetiſchen Sinn für Naturſchönheit ſem Grundmotiv aus inſpirirt werden. bekunden, und ſomit Weltflucht bei ihnen Es bedarf nur eines Schrittes, um von nicht gleichbedeutend mit Naturflucht iſt, fo | dieſer myſtiſchen Verehrung der Natur bezeugen auch ihre Naturſchilderungen in um Gottes willen zur Verehrung Proſa wie Poeſie ausdrücklich eine vielfach Gottes in der Natur, d. h. zum überquellende myſtiſche Naturandacht, die Pantheismus zu gelangen. Die romani— ſo weit geht, in allen Geſchöpfen Brüder, ſchen Myſtiker wagen dieſen Schritt nicht, Schweſtern und Verwandte des Menſchen den auch Erigena immer nur halb thut. zu ſehen, die demgemäß mit innigſter Nächſten- Die germaniſchen Myſtiker dagegen, wie liebe zu umfaſſen find. Da iſt ſchon der z. B. Meiſter Eckhart, freier vom heilige Franz von Aſſiſſi, der in ſeinem Joche romaniſch-objektiven Autoritätsglau— berühmten Sonnenhymnus den Bruder Sol, bens, gewaltiger durchdrungen von der Kühn— die Schweſter Luna, den Bruder Wind, die heit germaniſch-ſubjektiven Freiheitsdranges, Schweſter Waſſer, die Mutter Erde, den vollziehen ihn im hohen Grade. Bei den Bruder Tod und durch ſie ihren Schöpfer Vertretern dieſer Myſtik iſt es aber bei genauerer Betrachtung ſogar eine Grund— lehre der Kirche, nämlich das Dogma von den zwei Naturen in Chriſto, deſſen con- ſequente Entwickelung und deſſen myſtiſch— concret-ſinnliche Auffaſſung fie zum Pan— theismus treibt. Machen wir einmal Ernſt mit dieſem Dogma und ſehen wir, wohin wir geführt werden. Chriſtus iſt ganz Gott, nicht etwa nur ein Theil von Gott, ſondern Gott ſelbſt. Er iſt ganz Menſch, nicht blos etwas Menſchliches, ſondern alles Menſchliche. Er iſt Gott, alſo alles Immaterielle; er iſt Menſch, alſo alles Materielle, denn der Menſch gehört zu aller Materie. In ihm alſo wird das Göttliche materiell und die Materie gött— lich. Gott und Welt ſchmelzen zuſammen, der Pantheismus liegt vor uns. Es kann nun nicht mehr heißen deus sine natura, ſondern ſchon tauchen die erſten Anklänge auf an die berühmte Formel Spinoza's: deus sive natura. Gott ſpricht das Wort aus, den Logos, ſeinen Sohn, dem er alles mittheilt, auch die Schöpferkraft. So ſpricht Gott in ſeinem Sohne Alles aus, auch das Reale, das in den Dingen iſt, die deshalb alle Gottes voll ſind. Gott iſt alle Dinge und Alles iſt Gott, ſo weit geht Meiſter Eckhart ſchon auf der pan- theiſtiſchen Straße vorwärts. Und Gott minnet alle Creaturen, in denen er ſelbſt iſt, er minnet ſich in ihnen. Wir minnen alſo Gott in der Liebe zu ſeinen Creatu— ren, die Naturliebe iſt Gottesdienſt, die ganze Natur nicht blos Tempel, ſondern Liebe Gottes. Auf dieſem Standpunkt kann es eine Natur verachtung nicht mehr geben. Es tauchen alſo in dieſer tiefſinni— gen Myſtik ſchon die Gedanken auf, welche mehrere Jahrhunderte ſpäter, im 17. Jahr- hundert, der Myſtiker Johannes Scheff— ler aus Schleſien, der ſich nach dem ſpa— Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. 1 niſchen Myſtiker Johannes ab Ange— lis den Angelus Sileſius nannte, in ſeinem „cherubiniſchen Wandersmann“ in merkwürdigen Epigrammen, wie z. B. dem folgenden, entwickelt hat: „Die Roſe, welche hier dein Auge ſieht, Die hat von Ewigkeit alſo in Gott geblüht. Gott iſt mein Geiſt, mein Blut, mein Fleiſch und mein Gebein. Wie ſollt ich denn von ihm nicht ganz durch— gottet ſein? Ich bin ſo reich als Gott, es iſt kein Stäub— chen klein, Das ich — Menſch glaube mir — mit ihm nicht hab' gemein! Ich bin ſo groß als Gott, er iſt als ich ſo klein, Er kann nicht über mir, ich unter ihm nicht ſein. Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nun kann leben, Werd' ich zu nicht, er muß von Noth den a Geiſt aufgeben. Trotz all' dieſer vereinzelt aufblitzenden Erſcheinungen einer Verehrung der Natur, trotz all' dieſer erſten Anfänge vom Ende der Naturverachtung, ſteht dieſe doch noch als die herrſchende Stimmung in breiter Mächtigkeit im Mittelalter da. Das zeigt ſich am beſten daran, daß das hauptſächlichſte wiſſenſchaftliche Streben des ganzen Zeit— raums ja gar nicht auf die Erforſchung der Natur, ſondern auf die theologiſche Begründ— ung der Glaubenslehren gerichtet iſt, auf Grund derer die Naturverachtung ent— ſtanden war. Aber gerade dieſe ſich eifrig an dem ſcholaſtiſchen Ausbau der Dogmatik hingebende Thätigkeit bewirkte das Gegen— theil von dem, was ſie beabſichtigte — fie wird in letzter Inſtanz ein Impuls zur Erweckung der Naturverehrung und Natur- erforſchung, indirekt inſofern nämlich, als die Scholaſtik, indem ſie mit Eifer ihre Pro— bleme bearbeitet, in ihren durch und durch 416 Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. widerſpruchsvollen Schlußergebniſſen endlich nolens volens den Beweis führt, daß dieſe Probleme unfruchtbar und widerſinnig ſind, und eben dadurch den menſchlichen Geiſt der ſcholaſtiſchen Spitzfindigkeit überdrüſſig macht und ihn antreibt, abzulaſſen von trockener und unfruchtbarer Begriffsklauberei und ſich den lebendigen Dingen der Natur und ihrer Erforſchung zuzuwenden. Unter dieſem Ge— ſichtspunkte müſſen wir jetzt die Scholaſtik als einen der Faktoren kennen lernen, die zur Aufhebung der Naturverachtung führen. Nachdem die praktiſche Aufgabe der Chriſtianiſirung Europas etwa mit dem 10. Jahrhundert gelöſt iſt, und nun der Geiſt in der beſchaulichen Stille der Klöſter neue Zeit zum Nachdenken findet, da ſtellt ſich von ſelbſt wieder das Bedürfniß nach theoretiſchen Unterſuchungen ein. Die ein— zigen theoretiſchen Wahrheiten, zu deren Unterſuchung man ſich angetrieben fühlt, ſind aber die chriſtlichen Grundwahrheiten, die dogmatiſchen Glaubenslehren. Wenn dieſe nun aber auch für abſolute Wahrheiten gelten, ſo erſcheinen ſie doch, unter dem Geſichtspunkte der Logik betrachtet, auch dem können ein Erlöſer und doch zwei ganz entgegengeſetzte Naturen in ihm logiſch zweifelhaft wahr ſind, ſo müſſen ſie trotz ihrer Seltſamkeit ſich dennoch durch Ver— nunft beweiſen laſſen, ſo muß ſich trotzdem eine genaue Uebereinſtimmung zwiſchen den Forderungen des logiſchen Verſtandes und dem Inhalt dieſer Dogmen darthun laſſen. Gerade dieſe Uebereinſtimmung herzuſtellen, iſt die Aufgabe der ſogenannten Scholaſtik der Orient, deſſen phantaſievollem Geiſte es = richtig gedacht werden? Da fie aber un- Mittelalter als höchſt ſeltſam und eigen- | thümlich. Wie können ein Gott und doch | drei verſchiedene Perſonen in ihm, wie entſprach, die Dogmen zu erzeugen, ſondern die nüchterne Verſtandesſchärfe des Occident unternimmt es, das intuitiv Erſchaute gegen— über den logiſchen Geſetzen zu rechtfertigen. Ihre Vertreter ſind deshalb nicht mehr die patres, ſondern nur die magistri oder doctores ecelesiae. Wenn ſchon im 10. Jahrhundert die Scholaſtik beginnt, ſo iſt doch die eigentliche Blüthezeit erſt das 12. und 13. die Glanz⸗ periode das 13. Jahrhundert. Vom 14. Jahrhundert an beginnt mit dem Herauf— dämmern der neuen Zeit ſchon der Verfall der Scholaſtik. Die Scholaſtik will die Gründe auf— zeigen, warum die Dogmen gerade ſo und nicht anders lauten. Auch wir haben das Warum der Hauptdogmen nachgewieſen, indem wir ihre natürliche Entſtehungsge— ſchichte verfolgten. Aus dem logiſchen Ver— ſtandesfaktor der Ideenlehre, die in letzter Inſtanz auf dem ontologiſchen Fehlſchluß beruhte, ging einerſeits die ganz dualiſtiſch— transſcendente Auffaſſung des Verhältniſſes zwiſchen Gott und Welt hervor; aus dem pſychologiſchen Gemüthsfaktor der Weltflucht andrerſeits entſprang das Bedürfniß nach Erlöſung, und ſo entſtanden im natürlichen Proceß der geſchichtlichen Entwickelung unter dem Einfluß der Wechſelwirkung der ver— ſchiedentlichſten äußeren und inneren Mo— mente jene chriſtlichen Dogmen. Von dieſem hiſtoriſchen Proceß weiß das Mittelalter nichts. Es muß alſo durch ſeine eigene Phantaſie ſich die Gründe bilden, warum z. B. in Chriſtus Gott und Menſch, warum in Gott die drei Perſonen vereint gedacht werden müſſen. Es muß mithin eine neue des Mittelalters. Ihr Schauplatz iſt nicht himmliſche Praehiſtorie erſinnen, welche die auf Erden ſpielenden chriſtlichen Glaubens— hiſtorien verſtändlich macht. Seine Er— klärungen müſſen alſo im vollſten Gegen— ſatze zu der geſchichtlichen Entwickelung ganz willkürlich und wie eine neue himmliſche Mythologie ausfallen. All' dieſe willkürlichen Deduktionen der Scholaſtik ſtehen aber unter einer meta— phyſiſchen Vorausſetzung, die wir ſchon früher hervorgehoben haben. In Adam alſo die platoniſche Idee der Menſchheit. Hirngeſpinſt wäre? wenn ſie nicht wirklich ein real Exiſtirendes wäre? Mit vollem Dogmatik ein hinfälliges. Scholaſtik darauf, daß der „allgemeine Be— griff“ für ein wirkliches Weſen gehalten werde, und ſie drückt dieſes ihr Axiom in der Formel aus: Universalia sunt realia. Dieſer Satz ſpricht den Inhalt des mittel— nämlich die Lehre, welche die allgemeinen Begriffe gerade für bloße ſubjektiv-menſch— mittelalterliche Realismus iſt vielmehr Idealismus im Sinne der platoniſchen reſpektive ariſtoteliſchen Ideenlehre. Aber ſchon im 12. Jahrhundert machen ſich Gegenſätze gegen dieſelbe bemerkbar. ihr wahres Weſen als bloßer Abſtrakta, Universalia sunt nomina. Dieſe Richtung, neuen Zeit bemerklich macht, iſt deshalb Nominalismus genannt, und entſpricht Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. ſind alle Menſchen gefallen, in Chriſtus find alle erlöſt — Adam wie Chriſtus ift | Wenn nun die platoniſche Idee nur ein Dann wäre auch offenbar das ganze Fundament dieſer Bewußtſein beſteht deshalb; die kirchliche alterlichen ſogenannten Realismus aus.“ Darunter iſt alſo durchaus nicht zu ver- ſtehen, was wir heute Realismus nennen, liche Abſtraktionen, dagegen das concrete, ſinnliche Ding für real erklärt — dieſer Es treten bereits ketzeriſcher Weiſe ſolche | auf, welche die allgemeinen Begriffe auf als bloßer Wörter und Namen zurückführen und die entgegengeſetzte Formel aufftellen: in der ſich bereits das Herannahen einer 417 der Hauptſache nach Dem, was wir heute Realismus nennen. Innerhalb des mittelalterlichen Realis— mus iſt nun aber noch eine doppelte Faſſung möglich: die des platoniſchen und die des ariſtoteliſchen Realismus. Platon hatte erklärt, die Ideen ſind im Jenſeits diejenigen Kräfte, welche alle diesſeitigen Dinge hervorbringen. Das Primäre in jeder Beziehung ſind die Ideen; die Dinge ſind ſecundäre Erſcheinungen. Nach platoniſcher Auffaſſung ſind die Ideen der Zeit wie dem Range nach vor den einzelnen Dingen, z. B. die Idee des Baumes vor dem einzelnen Baume. Und ſo erklärt denn die Scholaſtik, welche ſich zum platoniſchen Realismus bekennt: Universalia sunt- realia ante rem. Wenn aber fo Idee und Materie in dualiſtiſcher Treunung einander entgegengeſtellt wurden, jo war nach Ariſto— teles nicht einzuſehen, wie dieſe transſcen— denten Ideen auf die diesſeitigen materiellen Dinge einwirken können. Ariſtoteles hatte deshalb die Ideen als dem Stoffe im— manent aufgefaßt. Auch dieſe ariſtoteliſche Faſſung, dieſen „ariſtoteliſchen Realismus“ vertritt ein Theil der Scholaſtiker in der Formel: Universalia sunt realia in re. Dagegen erklärt endlich der Nominalis— mus: das Erſte iſt das einzelne, ſinnliche Ding. Den allgemeinen Begriff bildet erſt der Menſch durch Abſtraktion. Die allge meinen Begriffe find alfo erſt nach dem Dinge: Universalia sunt nomina post rem. Der platoniſche Realismus nun herrſcht im 12. Jahrhundert; er wird durch den ariſtoteliſchen Realismus ver— drängt, der im 13. Jahrhundert die Herr— ſchaft erlangt, während der Nominalis— mus vom 14. Jahrhundert an ſich Bahn zu brechen beginnt. Die Aufgabe der Scholaſtik war, die Kosmos, III. Jahrg. Heft 6. S br! 418 | Dogmen als mit den Geſetzen des logiſchen Verſtandes übereinſtimmend nachzuweiſen. In Wahrheit iſt dies unmöglich, da die dogmatiſchen Grundlehren nur unter der Vorausſetzung der Aufhebung des logiſch— natürlichen Cauſalgeſetzes gedacht werden können. Auch die platoniſche Ideen— lehre litt an dem, in ihr nicht ausge— glichenen Widerſpruch zwiſchen Idee und Materie. Bei Ariſtoteles dagegen hatte es wenigſtens den Anſchein, als ob dieſer Widerſpruch aufs Trefflichſte gelöſt ſei. Daher gelingt es denn auch dem 12. Jahr— hundert unter dem Geſichtspunkte des platoniſchen Realismus nur im geringen Grade, die ſcheinbare Uebereinſtimmung zwiſchen Dogmenglauben und Verſtandes— geſetz herzuſtellen. Das 13. Jahrhundert dagegen findet in dem die Gegenſätze in feiner Weiſe verhüllenden ariſtoteliſchen Rea— lismus das Mittel, die ſcholaſtiſche Aufgabe ſcheinbar richtig zu löſen. Das 13. Jahr— hundert iſt daher die eigentliche klaſſiſche Zeit der Scholaſtik. Es kann aber nicht aus— bleiben, daß die dem Anſchein nach ausge— löſchten Widerſprüche endlich doch von neuem ans Licht treten, wie die Blutflecken am Schlüſſel im Märchen, daß damit Glauben und Wiſſen doch wieder auseinander treten und jedes ſeinen Weg für ſich wandelt. Dieſer Zerſetzungsproceß beginnt mit dem 14. Jahrhundert im Nominalismus, der die Brücke vom Mittelalter in die neue Zeit hineinſchlägt. In ihm wird auch das philo— ſophiſche Denken wieder frei vom Joch der Theologie. Bisher war die Philoſophie nur noch die Dienerin der Theologie geweſen. Sie war es dadurch geworden, daß ſie eine Inconſequenz beging und einen Widerſpruch ſanktionirte, den der Verſtand nie ſanktioniren kann: der Widerſpruch, der in der platoniſchen Idee als ſolcher liegt, in welchem das blos Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. gedachte Abſtraktum für das wirkliche Weſen, dieſes dagegen für ein bloßes Nichtſeiendes erklärt wird. Sowie das Denken dieſen Widerſpruch der Ontologie von ſich weiſt, ſobald es das natürliche Verhältniß zwiſchen Seiendem und Gedachtem wiederherſtellt, bricht es damit ſeine Ketten und gelangt wieder zur freien Selbſtſtändigkeit. Dieſer Proceß beginnt mit dem Nominalismus des 14. Jahrhundert, der die realen Dinge wieder in ihre natürlichen Rechte einſetzt und deshalb die endliche Aufhebung der Naturverachtung ſiegreich bewirkt. Man kann überzeugt fein, daß allemal da, wo der menſchliche Geiſt die blos gedachten Begriffe für Wirkliches erklärt und den ontologiſchen Schluß als richtig anerkennt, das natürliche Denken ſich in myſtiſche Schwärmerei auflöſt, der ſichere Boden der Erfahrung verlaſſen wird und der Verfall der Wiſſenſchaft ein— tritt. Es wäre nicht ſchwer, dies auch an dem modernſten Beiſpiel der Anwendung des ontologiſchen Schluſſes auf den Begriff vom vierdimenſionalen Raum und die damit verknüpfte Neubegründung alles Erkennens durch Spiritiſtenſpuk zu illuſtriren. So wichtig iſt dieſer ſcheinbar ſo unanſehnliche „allgemeine Begriff“, ſo gefährlich dieſer anſcheinend fo harmloſe „ontologiſche Schluß“ in ſeinen Conſequenzen. Wir wollen hier jetzt nicht die Wege im Einzelnen verfolgen, auf welchen das 12. Jahrhundert die Uebereinſtimmung zwiſchen Glauben und Wiſſen zu erreichen ſucht, ob— gleich auch für heutige ähnliche Verſuche dieſer Proceß von hohem kritiſchen Intereſſe iſt. Wir weiſen nur darauf hin, daß am Ende des Zeitraums das aus den verſchiedenen Elementen des Glaubens und des Wiſſens ſcheinbar ſo wohl zuſammengefügte Gebäude wieder auseinander bricht, und auf der einen Seite ein mäßiger und mehr gegen das Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. Vermögen des menſchlichen Geiſtes als gegen die Wahrheit der kirchlichen Lehren gerichteter Skepticis mus ſich erhebt, während auf der andern Seite aus Verzweiflung über das Unvermögen des logiſchen Verſtandes die Zufluchtſtätte des auf den Beweis ver— zichtenden gläubigen Myſticis mus auf— geſucht wird. Wenn nun aber auch der erſte Verſuch, das Dogma mit den Denkgeſetzen zu ver— einigen, geſcheitert iſt, ſo giebt trotzdem die robuſte Glaubenskraft der Zeit den Gedanken an die Möglichkeit der Verbindung beider Elemente durchaus nicht auf. Daß die Dogmen abſolute Wahrheit ſind, bleibt ihr unerſchüttert feſt ſtehen; auf irgend eine Weiſe müſſen ſie ſich alſo auch nach den Grundſätzen der Logik bearbeiten und be— weiſen laſſen, und es bedarf nur eines neuen großen Impulſes, um mit friſchen Kräften das Werk vou Neuem zu beginnen. Dieſer Impuls geht im 13. Jahrhundert von Ariſtoteles aus, der jetzt wieder entdeckt wird und nun in demſelben Maße zur Herrſchaft über die Geiſter gelangte, als Platon von ihm in den Hintergrund ge— drängt wird. Die Kreuzzüge ſind es, welche das Abendland mit den Arabern und ihrer Wiſſenſchaft bekannt machen. Während das Abendland den Ariſtoteles kaum mehr als dem Namen nach kannte, hatten die Araber unterdeſſen die kulturhiſtoriſche Pflicht auf ſich genommen, die geiſtigen Schätze des Stagiriten zu hüten und zu bearbeiten. Seine Werke werden ins Arabiſche übertragen. Während im Abendlande die ſprüchwörtlich geworden mittelalterliche „Finſterniß“ herrſcht, beſitzen die Araber blühende Schulen und Univerſitäten und bringen eine Fülle von Wiſſenſchaft auf allen Gebieten des Geiſtes und der Natur hervor. Es ſind beſonders die beiden arabiſchen Philoſophen Averroes 419 und Avicenna, mit deren Werken das Abendland ſich bekannt macht. Dieſe Denker ſtützen ſich ganz und gar auf Ariſtoteles; aus ihm haben ſie den Antrieb für ihre eigenen geiſtigen Schöpfungen entnommen. Ganz allmählich wird nun auf den inter— eſſanteſten Umwegen die Kenntniß des A ri— ſtoteles dem Abendland erſchloſſen. Am Ende des 12. Jahrhundert hat man nur erſt, und auch nur ſchrittweiſe, die logiſchen Schriften des Philoſophen kennen gelernt. Von der ganzen reichen Fülle der übrigen ariſtoteliſchen Schriften, die das Gebiet des Geiſtes — wie der Naturwiſſenſchaften um— ſpannen, kennt man noch nichts; und als die Bekanntſchaft endlich gemacht wird, erſtreckt ſich dieſelbe nicht etwa gleich auf die griechiſchen Originale — es ſtehen vielmehr zuerſt nur lateiniſche Ueberſetzungen, die nach ar a— biſchen Ueberſetzungen angefertigt ſind, zu Gebote, ja vielfach nur lateiniſche Ueberſetzungen von hebräiſchen Ueber— ſetzungen, die nach den arabiſchen Ueber— tragungen des Urtextes bearbeitet ſind. Sowohl dieſe arabiſchen wie die hebräiſchen Ueberſetzungen ſchließen ſich aber durchaus nicht genau dem Sinne des griechiſchen Originals an; ſie faſſen den Ariſtoteles vielmehr im neuplatoniſchen Sinne auf. So ſpiegeln ſie alſo ein durchaus unwahres Bild des griechiſchen Philoſophen wieder. In dieſer getrübten und gefälſchten Geſtalt allein aber lernt das 13. Jahrhundert die ariſtoteliſchen Lehren kennen, was natürlich auf den ganzen ferneren Entwickelungsgang der Scholaſtik einen entſcheidenden Einfluß ausüben muß. Die Kirche behandelt erſt den großen Heiden mit ſcharfem Mißtrauen und ſucht den Eindringling womöglich bei Seite zu ſchieben. Als aber Ariſtoteles die Geiſter immer mehr für ſich gewinnt, da muß die Kirche, will ſie ihre Autorität 420 Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtung. | gegenüber der des Philoſophen nicht einbüßen, das abweiſende Verfahren einſtellen, und klug entſchloſſen nimmt ſie den Heiden in ihren eigenen Schoß auf und erklärt ihn für eine ihrer ſtärkſten Stützen. Noch im Jahre 1209 wurden die phyſikaliſchen Schriften des Ariſtoteles von ihr verdammt, ein Jahr— hundert ſpäter dagegen iſt ihr Ariſtoteles „praeeursor Christi in rebus naturalibus sicut Joannes Baptista in rebus gratuitis.“ Sowie A riſtoteles aber von ihr anerkannt iſt, erwächſt daraus der Scholaſtik eine ganz neue Aufgabe. Ihre allgemeine Aufgabe war ja, Glauben und Wiſſen, Kirchenlehre und Verſtandesforderung in Congruenz zu ſetzen. Jetzt erſcheint als Repräſentant alles weltlichen Wiſſens, gleich— ſam als Incarnation der Vernunft — Ariſtoteles. Folgerichtig geht alſo jetzt ihre Aufgabe dahin, die richtige Gleichung zwiſchen der Kirchenlehre und der ariſtote— liſchen Philoſophie herzuſtellen. Die erſten Verſuche dazu werden bereits im Anfange des 13. Jahrhunderts gemacht, aber die eigentliche Löſung gelingt erſt dem „Triumph der kirchlichen Philoſophie“, dem „doctor angelieus* Thomas von Aquino, nachdem ſein Lehrer, der deutſche Albert der Große ihm die Wege gebahnt und geebnet hat. Aber natürlich kann nur unter der Bedingung von einer Congruenz der Kirchenlehre und der ariſtoteliſchen Philo— ſophie bei Thomas die Rede ſein, daß man den Ariſtotelismus genau in dem Sinne auslegt, wie Thomas es gethan hatte. Wie aber, wenn dieſe Auslegung eine falſche wäre? So verhält es ſich aber in der That. Je mehr man Ariſtoteles in der Urſchrift kennen lernt, um ſo mehr ſieht man ein, daß der thomiſtiſche Ari— ſtoteles nur ein ariſtoteliſirender Tho mas iſt. Es iſt zuerſt Roger Baco, dann, in gründlicherer Weiſe, Duns Scotus, der dieſen Mißſtand aufdeckt und damit zeigt, daß zum zweiten Male die Scholaſtik ihre Aufgabe unerledigt gelaſſen hat, und dem nun die richtige Einſicht aufgeht, daß eine Uebereinſtimmung zwiſchen den Glaubens- lehren und dem Vernunftwiſſen überhaupt nicht gefordert werden dürfe. Die Dogmen ſind nach ihm übernatürliche, über— vernünftige Wahrheiten, die als ſolche unangetaſtet ſtehen bleiben; der menſchliche Verſtand vermag nur natürliche Wahrheiten zu begreifen; ſo ſoll denn das menſchliche Vernunftdenken ſich überhaupt nicht auf ſupranaturaliſtiſche Probleme der Theologie richten; die Philoſophie ſoll vielmehr ihre eigenen Bahnen wandeln und ſich ſelbſt— ſtändig ihre Aufgaben ſtellen. Sobald ſich damit aber das philoſophiſche Denken von dem Hörigkeitsverhältniß befreit, in dem es bisher zur Theologie ſtand, richtet es ſeine Kritik ſogleich auch auf die meta— phyſiſchen Grundprinzipien der Glaubenslehren, gegen die Faſſung der Univerſalien, und es iſt Wilhelm Occam, der durch ſeine ſcharfſinnigen Be— weiſe die Unhaltbarkeit des platoniſch⸗ari— ſtoteliſchen Realismus darthut und als Gründer und Verfechter des Nominalis— mus das natürliche Denken und die natürlichen Dinge in ihre Rechte wieder einſetzt. Die Kirche iſt ſich bewußt, daß hier die Morgenluft eines neuen Tages ihr entgegenzuwehen anfängt und ſucht deshalb mit allen ihr zu Gebote ſtehenden Mitteln den Nominalismus zu unterdrücken. Im Jahre 1339 werden überall die Lehrbücher Occam's verboten; von der Pariſer Uni— verſität werden die Nominaliſten vertrieben. Manche der Flüchtlinge wenden ſich nach Deutſchland und regen, wie in Wien und Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Naturverachtuug. Heidelberg, die Gründung von Univerſitäten an. Noch im Jahre 1473 erſcheint ein Edikt Ludwig's XI., welches alle Profeſſoren der Pariſer Univerſität eidlich den Realis— mus bekennen zu laſſen befiehlt. Aber ſchon iſt die neue Zeit übermächtig geworden; das Schießpulver, die Buchdruckerkunſt iſt er— funden; der Humanismus beginnt mächtig. die Flügel zu regen; wenige Jahre nur ſind es noch bis zur Entdeckung Amerikas der Nominalismus frei gegeben. Was iſt es denn, was ſo neu und mächtig uns im Nominalismus entgegentritt? Der Nominalismus hat eine negative und eine poſitive Seite. Seine Negation richtet ſich gegen die platoniſch-ariſtoteliſche Ideenlehre, damit gegen das Joch, das nicht blos Ariſtoteles, ſondern der Dogmatis- mus der Kirche überhaupt auf die Freiheit noch die ſinnliche Natur iſt, um ſo mehr muß er ſie zuerſt als ſeine gefährlichſte des naturgemäßen Denkens gelegt hat. Seine poſitive Thätigkeit beſteht aber darin, daß er dieſen freigewordenen Geiſt auf ſein eigentliches Feld und Arbeitsgebiet, auf ſeine wahren Objekte hinweiſt. Nicht die allge— meinen Begriffe, ſondern die Dinge ſind wirklich. Willſt Du demnach Wirklichkeit und Wahrheit, ſo wühle nicht länger in abſtrakten Begriffen, ſondern wende dich auf die Erforſchung der empiriſchen Dinge. Der Jubegriff dieſer Dinge iſt die Natur. haben, ſo wende Dich auf die Erforſch— ung der Natur. tive Reſultat, welches in den Conſequenzen Willſt Du alſo Wahrheit Das iſt das poſi⸗ des Nominalismus zu Tage tritt, womit ſchaftliche Verluſt wird durch den ethiſchen die Epoche der Naturverachtung endet, und das Zeitalter der Ent— deckungen und Erfindungen d. h. die moderne Zeit beginnt. Werfen wir ſchließlich noch einen prüfenden Rückblick auf die von uns geſchilderte Epoche. 421 So ſehr beſonders der Naturforſcher geneigt ſein wird, dieſen ganzen Zeitraum als einen ungeheuren Stillſtand oder gar Rückgang in der Entwickelung der Menſchheit anzu— ſehen — der Philoſoph und Kulturhiſtoriker wird günſtiger darüber urtheilen, und auch den Punkt zu bezeichnen wiſſen, von wo die Rechtfertigung ihren Ausgang zu nehmen hätte. So wenig in wiſſenſchaftlicher, fo unendlich viel wird in völkerpädago— — im Jahre 1481 wird ſelbſt in Paris giſcher Beziehung hier geleiſtet. Ehe der Menſch zu einem friedlichen Kulturzuſtande, der Vorbedingung einer erfolgreichen Pflege jeder Wiſſenſchaft, gelangen kann, muß er vor Allem erſt ſich ſelbſt zu beherrſchen, ſeine eigene rohe Natur zu zügeln, ſeine wilden ſinnlichen Begierden zu zähmen gelernt haben; er muß den im Naturzuſtande übermächtigen Trieb zum „Krieg Aller gegen Alle“ erſt ertödtet haben. Je mächtiger gerade in ihm Feindin betrachten; um ſo beſſer iſt es zuerſt für ihn, wenn er ſich in draſtiſchem Abſcheu von ihr ab- und einem über die Natur hinausweichenden Ideal zuwendet. Er muß in das eine Extrem, in die Scylla fallen, um nicht von dem andern, von der Charybdis, verſchlungen zu werden. Die vollendete Naturverachtung und die abſolute Verehrung des Uebernatürlichen ſind alſo hier das durch— aus nothwendige pädagogiſche Zuchtmittel, durch welches der Geiſt der Geſchichte die noch barbariſchen Völker des nördlichen Europa für ihre künftige große Kultur— aufgabe erzieht und ſchult. Der wiſſen— Gewinn erſetzt. Mit dem Moment, wo die innere Natur der Völkerzöglinge gezähmt iſt, gehört ihnen auch wieder die äußere Natur, die nun in ihren Händen ein ſegen— bringendes Werkzeug wird. au) Bombus mastrucatus, ein Dyskeleolog unter den alpinen Blumenbefuhern. Von Hermann Müller. utzloſe und den Organismen 8 geradezu ſchädliche Einricht— . 8 ungen find, wie Häckel?) mit N Recht betont hat, für die Teleologie das unüberſteig— lichſte Hinderniß und damit zugleich für die Begründung der Entwickelungslehre von hervorragender Bedeutung. Denn ſo ein— fach ſie ſich aus Gewohnheitsänderungen der lebenden Weſen ableiten und aus den me— chaniſch wirkenden Urſachen, die wir der Selektionstheorie zu Grunde legen, ver— ſtehen laſſen, ſo unmöglich iſt es, ſie als unmittelbare Schöpfungen eines weiſen Ur— hebers der Natur aufzufaſſen, ſo ſehr ſpotten ſie jeder Erklärung aus zweckthätigen End— urſachen. Das Gebiet der nutzloſen oder den Organismen geradezu ſchädlichen Ein— richtungen iſt indeſſen noch weit umfaſſender, als es nach den ihm gewidmeten Bemerkungen Häckel's erſcheinen könnte. Denn Häckel & 8 2 ) Generelle Morphologie der Organis- men. Berlin, Verlag von G. Reimer, 1866. Bd. I, S. 100. beſchränkt es, und zwar von dem morpho- logiſchen Geſichtspunkte ſeines Werkes aus, mit Recht auf die rudimentären Organe und beſpricht unter dem Titel: „Dysteleologie oder Unzweckmäßigkeitslehre“ ausſchließlich dieſe ſeine „rudimentären Individuen erſter bis ſechſter Ordnung.“) Die rudimentären Organe ſind aber ſtets erſt die morphologiſchen Wirkungen biologiſcher Urſachen; ſie laſſen ſich immer auf Gewohnheitsänderungen lebender Weſen zurückführen, und ihre Nutzloſigkeit beginnt nicht erſt mit ihrer durch eine Ge— wohnheitsänderung bedingten Verkümmerung, ſondern mit der Gewohnheitsänderung ſelbſt. Der Widerſpruch zwiſchen Lebensweiſe und Organiſation tritt ſogar um ſo greller her— vor, je weniger noch die durch die Gewohn— heitsänderung nutzlos gewordenen Eigen— thümlichkeiten des Baues durch Naturausleſe beſeitigt ſind. Der von Darwin (Entftehung der Arten, Kap. 6) erwähnte Specht der faſt baumloſen La Plata-Ebenen, Caloptes campestris, der niemals an Bäumen klet— 9 A. a. O., Bd. II, S. 266286. 35 tert und ſein Neſt in Höhlen an Ufern baut, ſteht z. B., ſo lange er ſeine Kletter— füße, ſeine lange, ſpitze Zunge, ſeine ſteifen Schwanzfedern und ſeinen geraden, kräftigen Schnabel faſt unverändert beibehält, in ſchrofferem Widerſpruche gegen die Zweck— mäßigkeitslehre, als die Höhlenbewohner mit bereits rudimentär gewordenen Augen, oder die Schmarotzerkrebſe mit verkümmerten Bewegungsorganen, oder die kleinblüthigen Stöcke überreichlich beſuchter Blumen, de— ren Staubgefäße zu winzigen, pollenloſen Knöpfchen zuſammengeſchrumpft ſind. Der Geſichtspunkt der Gewohnheitsänderungen lebender Weſen ſcheint mir daher der ge— eignetſte, um das ganze Gebiet der Dys— teleologie oder Unzweckmäßigkeitslehre ein— heitlich zu umfaſſen und zu erklären. Nun iſt aber die Organiſation eines lebenden Weſens bekanntlich niemals etwas für ſich allein oder nur aus ſeinem Zu— ſammenhange mit ſeinen phyſikaliſchen Lebens— bedingungen Verſtändliches, ſondern die ver— ſchiedenartigen Lebeweſen deſſelben Wohn— platzes ſtehen miteinander in ſo mannigfachen und innigen Wechſelbeziehungen, daß von der Gewohnheitsänderung irgend einer ein— zelnen Art nicht nur die Nützlichkeit ihrer eigenen Organe, ſondern auch diejenige der Organe anderer, ihr angepaßter Arten be— troffen wird. Ueber die Nützlichkeit oder Nutzloſigkeit beſtimmter Eigenthümlichkeiten des Baues irgend eines Lebeweſens wird ſich daher immer nur in demſelben Grade ein ſicheres Urtheil gewinnen laſſen, als ſeine Wechſelbeziehungen mit anderen Lebe— weſen ſicher feſtgeſtellt ſind. Die ungemein mannigfaltigen, ſorgfältig feſtgeſtellten Wechſelbeziehungen zwiſchen den Blumen und den ihre Kreuzung vermitteln— den Inſekten ſind deshalb ohne Zweifel für das Studium der Dysteleologie ganz be— Müller, Bombus mastrucatus. — 423 ſonders geeignet, und es iſt der Zweck des vorliegenden Aufſatzes, nicht nur im Allge— meinen auf dieſes Forſchungsgebiet als ein ſehr dankbares hinzuweiſen, ſondern auch einen beſonderen, für die Unzweckmäßigkeits— lehre bedeutungsvollen Fall von Gewohn— heitsänderung eines blumenbeſuchenden In— ſektes im Einzelnen zu erörtern. In früheren Aufſätzen über die In— ſekten als unbewußte Blumenzüchter“) habe ich eingehend darzulegen verſucht, wie ſich Blumen und Inſekten nicht nur in ihren Röhren- und Rüſſellängen gegenſeitig ge— ſteigert, ſondern auch in manchen anderen Beziehungen vielfach auf das innigſte an einander angepaßt haben. Wer die dort nachgewieſenen gegenſeitigen Schaffungen ſich vergegenwärtigt, wird leicht einſehen, daß jede Abänderung des einen Theils beſtimmend und abändernd auf den anderen zurückwirken muß. Ich will deshalb hier dieſen allge— meinen Satz nur durch ein einziges beſtimm— tes, aus dem Leben gegriffenes Beiſpiel ver— anſchaulichen: Der complicirte Saugmecha— nismus unſerer Hummeln, welcher im aus— geſtreckten Zuſtande bei manchen Arten den ganzen Körper an Länge noch übertrifft, zuſammengelegt aber, in der Aushöhlung an der Unterſeite des Kopfes geborgen, der Thätigkeit der Oberkiefer freien Spielraum geſtattet, und der complicirte Beſtäubungs— mechanismus unſeres Wieſenſalbei, deſſen Staubgefäße gleich zwei Schlagbäumen der honigſaugenden Hummel die pollenbehafteten Antherenhälften auf den Rücken ſchlagen und ſie beim Rückzug der Hummel von neuem in der ſchützenden Umſchließung der Ober— lippe bergen, ſind ſo vollkommen an einander angepaßt, wie es ſich ein Teleolog nur wün— ſchen kann. Treten nun aber beim Wieſen— ſalbei, wie es z. B. in den Thälern Grau— 9 Kosmos, Bd. III, S. 314. 403. 476 - Er er ‚ f af Nr ‚ 22 wöhnlichen Form kleinblumige Abänderungen ſchnittlich ſpäter als die großblumigen be— ſucht und mit den Pollen dieſer befruchtet werden, ſo iſt nun in den Blüthen der klein— blumigen Stöcke das ſchöne Hebelwerk der Staubgefäße mit einem Male völlig nutzlos geworden und aus dem Gebiete der Teleo— getreten; es wird zu einem rudimentären Organe, welches in allen Abſtufungen der Verkümmerung auftritt.“) Findet andererſeits eine Hummelart, die es zu unbequem, das Hebelwerk der Salbei— blüthe in Bewegung zu ſetzen, und zieht ſie es vor, die Blumenröhre von außen anzu— waltſam gebrochene Loch zu gewinnen, ſo mechanismus, wenigſtens der Salbeiblüthe gegenüber, gar nicht mehr in der ſeiner voll— kommenen Anpaſſung entſprechenden Weiſe in Anwendung, ſondern auch der Schlag— baum-Mechanismus der Salbeiblüthe wird für alle Beſuche dieſer Hummelart außer Dienſt geſetzt, und alle die hochgradigen Au— paſſungen, welche im Verlaufe zahlloſer Ge— nerationen die Blume des Wieſenſalbei zu ihr für die Beſuche dieſer Hummelart mit einem Male völlig nutzlos. Ja, träte irgend wo der nicht eben unwahrſcheinliche Fall arten ſich des Beſuches der Salbeiblüthen, die ſie ihres Honigs immer ſchon beraubt finden, gänzlich entwöhnten, ſo würde dort der Wieſenſalbei gar nicht mehr befruchtet werden und müßte an der betreffenden Oertlichkeit ) Kosmos, Bd. II, S. 481. logie in dasjenige der Dysteleologie über- zu den häufigſten Salbeibeſuchern gehört, beißen oder anzubohren und den im Grunde derſelben geborgenen Honig durch das ge- bringt fie nun nicht nur ihren eigenen Säug- | Müller, Bombus mastrucatus. bündens vielfach der Fall iſt, neben der ge- ausſterben; die Gewohnheitsänderung der auf, die dann von den Hummeln durch- faſt alle Nicht-Hummeln vom Genuße ſei— räuberiſchen Hummel würde alſo eine Ge— wohnheitsänderung aller übrigen Hummeln deſſelben Wohnplatzes zur Folge haben, und von dem Augenblicke an, in welchem dieſe ſich vollzieht, würden dem Salbei ſeine wundervollen Einrichtungen, durch welche er nes Honigs ausſchließt, nicht nur nutzlos, ſondern geradezu verderblich werden, und zwar ohne daß es zur Bildung rudimen— tärer Organe überhaupt käme. Eine ſolche Hummel, die aus den ihr angepaßten honig— haltigen Blumenröhren den Honig nur noch durch Diebſtahl mittelſt Einbruch gewinnt, ſpricht alſo der ganzen Zweckmäßigkeitslehre thatſächlich Hohn und verdient gewiß in hervorragendem Grade den Namen eines Dysteleologen. Wer in meinem Werke über „die Be— fruchtung der Blumen durch Inſekten und die gegenſeitigen Anpaſſungen beider“ (Leip- zig, W. Engelmann, 1873) die Blumen— thätigkeit der Erdhummel (Bombus ter— dem gemacht haben, was ſie jetzt iſt, werden ein, daß die übrigen Hummel- und Bienen- restris), einer unſerer gemeinſten Hummel— arten, nachlieſt, wird ſich überzeugen, daß ſie als ſchwach ausgeprägter Dysteleolog in dieſem Sinne bezeichnet werden kann. Denn bei Aquilegia, Dielytra, Corydalis, Tri- folium pratense, Symphytum, Pedieu- laris silvatica und einigen anderen lang- röhrigen Blumen, die ſich ſpeciell der Kreuz— ungsvermittlung durch Hummeln angepaßt haben, durchbricht fie die honighaltigen Röh— ren der Blumen von außen und ſtiehlt ihnen den Honig, ohne ihnen dafür den Gegen— dienſt der Kreuzungsvermittlung zu leiſten. In zahlreichen anderen Hummelblumen dagegen, die einen weniger langen Rüſſel erheiſchen, wie z. B. Echium, Erica te- tralix, Vaccinium, Myrtillus, gewinnt ſie den Honig auf dem normalen Wege 2 und erweiſt ſich als wirkſamen Kreuzungs— vermittler. Auch im Alpengebiete bis weit über die Grenzen des Baumwuchſes hinauf wird dieſe Hummelart, wenn auch weit weniger häufig als bei uns, doch keineswegs ſelten angetroffen. Sie ſcheint aber hier verhält— nißmäßig weniger Gewaltthaten an Blumen zu verüben, dagegen mehr Liebesdienſte zu leiſten als in der Ebene und niederen Berg— gegend, und im Zuſammenhange damit dürfte es ſtehen, daß ich ihre Rüſſellänge in den Alpen durchſchnittlich etwas größer fand als in der Ebene, hier nämlich nur 7—9, dort dagegen S—11 mm. An Anthyllus Vul- neraria, Prunella grandiflora, Silene in- flata, nutans und einigen wenigen anderen Hummel- und Falterblumen der Ebene, Die bis in die alpine Region hinaufreichen, verübt ſie auch in dieſer Honigdiebſtahl mit Einbruch, dagegen werden hier Linaria al- pina, Pedicularis asplenifolia und tube- rosa, Phaca alpina, Trifolium pallescens und zahlreiche andere alpine Hummel- und Bienenblumen, deren Honig ihr ohne Ein- bruch zugänglich iſt, auch in geſetzmäßiger Weiſe von ihr ausgebeutet und mit der un— bewußt erwieſenen Wohlthat der Fremd— beſtäubung belohnt, und ein Ueberblick über ihre geſammten Blumenarbeiten ſtellt klar heraus, daß ſie in der alpinen Blumenwelt vielmal mehr ſegenſpendend als verwüftend auftritt. | Ganz anders verhält es ſich mit Bom- bus mastrucatus, dem alpinen Dysteleo— logen, deſſen Schandthaten hier an das Tageslicht der Oeffentlichkeit gezogen werden ſollen. Er begnügt ſich nicht, die ihm zu langröhrigen oder allzu unbequemen Blumen gewaltſam zu erbrechen und ihren Honig den nützlichen Beſuchern wegzuſtehlen; vielmehr iſt ihm die rückſichtsloſeſte Vergewaltigung Müller, Bombus mastrucatus. der Blumen ſo zur anderen Natur geworden, daß er faſt nur dann auf ſie verzichtet, wenn es ihm unbequemer ſein würde, Einbruch und Raub zu verüben, als den geſetzlichen Weg zu wandeln. Ueberdieß ge— hört er zu den häufigſten von ſämmtlichen alpinen Hummelarten. Wo auch immer man einen mit Blumen reichbeſetzten Thalgrund oder Bergabhang des Hochgebirges durch— ſpäht, überall begegnet man dieſem ſchwar— zen Geſellen, der, auf den erſten Blick un— ſerer Steinhummel (Bombus lapidarius) zum Verwechſeln ähnlich, bei näherer Be— kanntſchaft ſich von dieſer durch kürzeren, gedrungneren Körperbau, längeres, rauhes, mehr rußig ſchwarzes Haarkleid und weiter nach vorn reichende, brennendrothe Behaar— ung der letzten Hinterleibsabſchnitte leicht und ſicher unterſcheiden läßt. Ueberall begegnet man den Spuren ſeiner verheerenden Thätigkeit, und bei Abwägung aller ſeiner guten und böſen Blumenthaten ſenkt ſich die Wagſchale tief auf die Seite der letzteren. Ich will verſuchen, dieſes aus ſechsjährigen Beobacht— ungen gewonnene Urtheil durch beſtimmte Thatſachen zu begründen: Die guten Blumenthaten des Bombus mastrucatus betreffen hauptſächlich ſolche Blumen, die nicht ſpeciell den Hummeln oder Bienen angepaßt ſind, ſondern von einer gemiſchten Geſellſchaft von Inſekten verſchiedener Ord— nungen beſucht und befruchtet werden. Es gehören dahin die Compoſiten, von denen ich namentlich Taraxacum-, Leontodon-, Carlina-, Carduus-, Cirsium- und Centau— rea-Arten von honigſaugenden und pollen- ſammelnden Exemplaren unſerer Hummel hie und da beſucht fand, ferner die nicht minder zugänglichen Blüthen von Epilo- Kosmos, III. Jahrg. Heft 6. | 426 bium angustifolium und Fleischeri, von Phyteuma orbieulare und Michelii, von Geranium silvatieum, Rubus idaeus und Scabiosa Columbaria, deren Honig und Blüthenſtaub Bombus mastrucatus ebenfalls ohne Vergewaltigung ausbeutet. Alle dieſe Blumen ſind einfach, offen, regelmäßig oder faſt regelmäßig geſtaltet, mehr oder weniger nach oben gekehrt und enthalten nur wenige Millimeter tief geborgenen Honig, ſo daß außer Bienen, Schmetterlingen und lang— rüſſeligen Fliegen auch Grabwespen, Blatt— wespen, zahlreiche kurzrüſſeligere Fliegen und ſelbſt Käfer denſelben erlangen und den Pflanzen als Kreuzungsvermittler dienen. Indem alſo unſer Räuber dieſe Blumen, bei denen eine Vergewaltigung ihm nur nutzloſen Zeitverluſt verurſachen würde, in normaler, den Pflanzen ſelbſt nützlicher Weiſe ausbeutet, verrichtet er keine eigent— liche Hummelarbeit, ſondern leiſtet der Blumenwelt keine höheren Dienſte als jene bunte Geſellſchaft höchſt mannigfaltiger In— ſekten, die zwar blumenſtet ſind, aber nur wenige Millimeter Rüſſellänge erlangt haben, wenn er ſelbſt auch, als ein emſigeres und nahrungsbedürftigeres Thier, dieſelbe Arbeit bedeutend wirkſamer auszuführen vermag. Daſſelbe gilt von ihrer Pollenernte auf den honigloſen Blüthen von Verbascum thapsi- forme, Anemone alpina, Helianthemum vulgare und alpestre. Von Blumen, die ſich dem engeren Beſucherkreiſe höhlengrabender Hymenopteren angepaßt haben, werden nur ſehr wenige von B. mastrucatus ſtets in normaler Weiſe ausgebeutet. Es ſind dies einerſeits auf einer ſo niedern Stufe dieſer Anpaſſungs— vorrichtung ſtehen Gebliebene, daß ſie auch kurzrüſſeligen Bienen (Andrena, Halietus), Grabwespen und ſelbſt Fliegen zugänglich ſind und bei ihrer Leichtzugänglichkeit müh— . Müller, Bombus mastrucatus. ſamer durch Einbruch, als auf normalem Wege auszubeuten wären?), andrerſeits Bienenblumen mit nach unten gekehrten Blumenglocken, aus denen ſich ebenfalls viel leichter durch Hineinkriechen als durch An— beißen oder Anbohren von außen der Honig gewinnen läßt.“) An andern ausgeprägten Bienen- und Hummelblumen wird unſere Räuberhummel nur ſelten auch nur eine halbe Minute lang ſaugend gefunden; in der Regel geht ſie hier ſchon nach den erſten geſetzlichen Verſuchen zu der ihr beſſer zuſagenden Arbeit des gewalt— ſamen Einbruchs über.“ “) Nehmen wir nun noch hinzu, daß mehrere Blumen, deren Honig B. mastru— catus vorwiegend oder ausſchließlich durch Einbruch gewinnt f) oder vielleicht ganz un— benutzt läßt), von derſelben Hummel, wenn ſie Pollen ſammelt, normal beſucht und befruchtet werden, ſo iſt damit die Aufzählung ihrer nützlichen und mit der ) So Thymus Serpyllum, Origanum vulgare, Euphrasia officinalis, Trifolium re- pens, an denen ich Bombus mastrucatus nor- mal ſaugend fand. *) So Campanula barbata, rapunculoides pusilla und Soldanella alpina, in deren Blumenglocken ich Bombus mastrucatus wieder— holt kriechen ſah, ohne daß ſich Blüthenſtaub in ſeinen Körbchen ſammelte, woraus ich ſchloß, daß er dem Honig nachgegangen ſein müſſe. ke) An den Blüthen von Lotus cornicula- tus, die ſchon Halictus- und Andrena- Arten zugänglich ſind, fand ich B. mastrucatus immer nur normal ſaugend, an Prunella vulgaris und Calamintha alpina bisweilen normal ſaugend, häufiger jedoch anbohrend, an Aco— nitum Napellus bisweilen normal ſaugend, häufiger jedoch anbeißend. ) Aconitum Napellus, Trifolium pra- tense, Anthyllis Vulneraria, Rhinanthus al- pinus und Alectorolophus, Gentiana acaulis. jr) Hippocrepis comosa, Oxytropis cam- pestris. Zweckmäßigkeitslehre in Einklang ſtehenden Blumenarbeiten, die ich zu ſehen Gelegen— heit hatte, erſchöpft. Die böſen Blumenthaten des Bombus mastrucatus will ich in derjenigen Aufeinanderfolge auf- zuzählen verſuchen, wie ſie ſich nach einander und auseinander entwickelt zu haben ſcheinen. Am begreiflichſten und verzeihlichſten iſt es, wenn eine Hummel den Honig einer Hummelblume auf normalen Wege zu ſaugen Müller, Bombus mastrucatus. 427 ſieht auch an manchen Blumen noch jetzt bisweilen einmal einen B. mastrucatus mit dem Verſuche normaler Honiggewinnung be— ginnen und erſt dann zur Gewaltthat über— gehen). Es iſt daher nicht wahrſcheinlich, | daß die Kenntniß der auf normalem Wege unzugänglichen Honigquellen bei den Hum— meln von Generation zu Generation vererbt wird. Vielmehr find wir zu der Vermuth— ung berechtigt, daß noch jetzt jede einzelne Staubhummel erſt ſelbſt die Erfahrung macht, daß der Honig gewiſſer Blumen- formen ihr auf normalem Wege unzugänglich verſucht, dies ihres zu kurzen Rüſſels wegen trotz aller Anſtrengung unmöglich ſindet und dann, was ihr im Guten nicht gewährt wird, mit Gewalt ſich nimmt. In der That ſieht man in ſolchen Fällen ſelbſt ſo gut geartete Hummeln wie B. lapidarius, pratorum und Rajellusk) zu gewalt— ſamen Einbruche ſchreiten. Und es unter— liegt wohl kaum einem Zweifel, daß auch unſere alpine Blumenräuberin (B. mastru- catus) urſprünglich nur auf dieſe Weiſe zu | ihrer Gewaltthätigkeit geführt worden iſt. Denn nicht nur enthalten zahlreiche alpine Hummelblumen, die man faſt überall von ihr angebiſſen oder angebohrt findet, in der That ihren Honig jo tief, daß ihn B. ma- strucatus durchaus nicht anders als durch Einbruch erlangen kann! *), ſondern man ) Siehe H. Müller, Befruchtung der Blumen, S. 460. *) So z. B. Pedicularis foliosa (12 — 14), die fie durch den Kelch hindurch anbeißt, Poly- gala Chamaebuxus (12—13), bei der fie den blättern einführt und durch die oberen Blumen— blätter bohrt, Gentiana asclepiadea (15), acaulis (15), campestris (15), amarella (2-13), deren Blumenkronenröhren ſie meiſt | dicht über dem Kelche anbeißt, und Aconitum Lycoctonum (20), deren von den beiden oberen oder nicht beſonders bequem zugänglich iſt, ehe ſie zu gewaltſamer Gewinnung deſſelben ſchreitet. Sie wird dies aber um ſo raſcher thun, je mehr ihre Vorfahren bereits Dieb— ſtähle mit Einbruch verübt haben. Einmal an gewaltſamen Raub ihr geſetzlich ver— ſagten Honigs gewöhnt und zu raſchem Uebergange zu ſolchem Raube geneigt, läßt ſie ſich dann auch von der Unzulänglichkeit ausgeprägter Falterblumen, die von andern Hummeln in der Regel ſchon nach den erſten Verſuchen normaler Honiggewinnung auf immer verlaſſen werden, nicht zurück— ſchrecken, ſondern durchbricht auch dieſe ge— Rüſſel unter den als Fahne fungirenden Kelch- waltſam “*), was man ihr bei denjenigen Falterblumen, die urſprünglich Hummel— Kelchblättern gebildeten Helm ſie in der Gegend des Nektariums durchbeißt. (Die hinter den Namen der Blumen eingeklammerten Zahlen bedeuten die zur normalen Honiggewinnung erforderliche Rüſſellänge in Millimetern.) . ) Wie ich z. B. an Aconitum Lycocto- num und Napellus, Gentiana acaulis und Lonicera coerulea beobachtet habe. **) An Silene nutans ſah ich z. B. B. mastr. nach einem einzigen Verſuche normaler Honiggewinnung den Kelch durchbeißen und durch Einbruch ſaugen, in andern Fällen den Kelch durchbohren. Selbſt die Blüthen von Silene inflata beißt B. mastr. durch den bauchigen Kelch hindurch an. 3 | 1 428 NER Müller, Bombus mastrucatus. blumen waren und erſt nachträglich von den [beſchäftigt geſehen habe, ohne jedoch die Art in der alpinen Region vorherrſchenden Schmetterlingen zu Falterblumen umgezüchtet wurden!), gewiß am wenigſtens verdenken kann. Selbſt Hummelblumen, deren Honig ihr auf normalem Wege ſehr wohl zugänglich wäre, wenn ſie nur ein klein wenig Ge— duld üben und die jeder Hummel angeborene Kunſtfertigkeit in Anwendung bringen wollte, zieht ſie nun, nach flüchtigem Verſuche nor— maler Honiggewinnung, in der Regel vor, durch gewaltſamen Einbruch auszubeuten.“ ) Ausdehnung des von Bombus mastrucatus in der Blumenwelt angerichteten Schadens. Die wichtigſten meiner Beobachtungen über die Bethätigung unſerer Hummel an den Alpenblumen ſind hiermit angedeutet. Nur diejenigen Blumen habe ich unerwähnt gelaſſen, an denen ich ſie zwar ebenfalls *) Rhinanthus alpinus (14) und Gentiana verna (über 20) befinden fich in dieſem Falle. In die Blüthen des erſteren bricht ſie bald durch die dicht verſchloſſene Hummelthüre (Siehe Kosmos, Bd. III. S. 418. 419) ein, bald durchbeißt ſie die Blumenröhre; bei Gentiana verna durchbeißt ſie die Blumenröhre. ) So Anthyllis Vulneraria (9 — 10), Trifolium pratense und var. nivale (9 - 10), Vicia Cracca (5—6), Salvia pratensis (kaum 8) und glutinosa, Prunella grandiflora (7-9), Lamiam album (etwa 10), Pedicularis tuberosa (9), Rhododendron ferrugineum und hirsutum (810), Lonicera coerulea (9—10) Impatiens Noli me tangere (über 10), Primula latifolia Koch (10), deren Honig theils allen, theils wenigſtens den langrüſſeligen Exemplaren des B. mastrucatus auf normalem Wege zugäng— lich iſt. In Bezug auf das ſpezielle Verfahren, welches B. mastr. bei jeder dieſer Blumen in Anwendung bringt, muß ich auf mein jetzt in Bearbeitung befindliches Werk über Alpen— blumen verweiſen. ihrer Thätigkeit genauer feſtzuſtellen. Wollte man nun bloß die Zahlen der von B. mastrucatus vergewaltigten und der von ihm normal ausgebeuteten Blumenarten mit einander vergleichen und bloß darnach den Werth ſeiner Thätigkeit für die Blumenwelt beurtheilen, ſo würde man wohl zu der Anſicht gelangen, daß ſeine guten und böſen Handlungen ſich ziemlich die Wage halten. Er würde deshalb zwar immer noch ein ausgeprägter Dysteleolog bleiben, da er ſowohl von ſeiner eigenen Organiſation nur ſelten einen ihrer Vollkommenheit entſprechen— den Gebrauch macht, als auch die vollen— deſten Blumenbildungen ſchonungslos durch— bricht und außer Dienſt ſetzt. Er würde aber doch nicht in dem Grade von uns als den Blumen verderblich betrachtet werden dürfen, wie er es thatſächlich verdient. Um ſeine Schädlichkeit richtig zu würdigen, muß man wiſſen, wie ſehr er die honigreicheren Quellen, die er ſich durch Gewalthat erſchließt, den honigärmeren, die er normal aus— beutet, vorzieht; man muß geſehen haben, wie gründlich er bei der Ausplünderung einer von ihm einmal in Angriff genommenen Blumenart zu Werke geht. Richtet man darauf ſein Augenmerk, ſo erſtaunt man, wie wenige Blüthen einer beſtimmten Blumenart (3. B. Salvia pratensis, Loni- coerulea, asclepiadea cera Gentiana u. ſ. w.) an manchen Orten von B. mastru- catus unangebiſſen bleiben. Von Vieia Cracca z. B., die zur nor— malen Honiggewinnung nur 5— 6 Milli- meter Rüſſellänge erfordert, fand ich an mehreren Orten über 6/10 aller Blüthen durch Bombus mastrucatus angebiſſen, wie ich auch dem Herausgeber dieſer Zeitſchrift, meinem verehrten Freunde Herrn Dr. E. Krauſe auf einem gemeinſamen Ausfluge Müller, Bombus mastrucatus. im Landwaſſer- und Diſchmathale in Grau— | bünden zu zeigen Gelegenheit hatte. Bei Gentiana acaulis, an deren jeder einzelnen Blüthe Bombus mastrucatus erſt | hineinzukriechen und normal Pollen zu ſam— meln, dann die Blumenkrone von außen dicht über dem Kelche anzubeißen und durch Einbruch Honig zu ſtehlen pflegt, habe ich wiederholt durch Zählung feſtzuſtellen ge ſucht, wie viel Procent ihrer Blüthen über— | haupt von B. mastrucatus angebiſſen werden und folgende Ergebniſſe erhalten: Von 50 Blüthen mit entwickelten Narben, die ich am 10. Juni d. J. bei Preda im Albula⸗ thale aufs Geradewohl pflückte, nachdem ich unmittelbar vorher die ſoeben angedeutete Blu— menthätigkeit des B. mastrucatus eingehend beobachtet hatte, waren 45 angebiſſen, die meiſten zwei- bis vier-, einige ſogar fünfmal, alſo über jedem Saftzugange. Tags darauf wiederholte ich dieſelbe Zählung einige hun— dert Meter höher, unterhalb Weißenſtein, wo Gentiana erſt kürzlich aufgeblüht war. Hier waren von 50 Blumen erſt 24 an- gebiſſen, die meiſten nur ein- oder zwei, eine ziemliche Zahl drei-, nur zwei vier-, noch keine einzige fünfmal. Am 16. Juni pflückte ich wieder bei Pontreſina aufs Ge— radewohl 100 Blüthen von Gentiana acaulis | mit bereits entwickelten Narben ab, unter- | ſuchte fie und notirte für jede einzelne die Zahl der von B. mastrucatus gemachten Einbrüche. Hier waren unangebiſſen 19, einmal angebiſſen 9, zweimal 23, dreimal 18, viermal 10, fünfmal 21 Blüthen. Im Ganzen waren alſo die 100 Blüthen bereits 254 mal angebiſſen worden, und gewiß wären ihnen bis zu ihrem Verblühen noch weitere Einbrüche zu Theil geworden. Auch von Gentiana verna, deren Co- rollen dem B. mastrucatus zum Hineinkriechen 429 her von ihm blos von außen angebiſſen und ihres Honigs beraubt werden, unter— a 208 ſuchte ich am 1 uni bei Preda 50 aufs Geradewohl abgepflückte Exemplare; von ihnen waren 38, meiſt nur einmal, durch den oberen Theil des Kelches hindurch an— gebiſſen. Es muß aber bemerkt werden, daß ich von dieſer Blume, bei der die Narben ſchon zur Zeit des Aufblühens mit den Staubgefäßen gleichzeitig entwickelt ſind, ohne Unterſchied ältere und jüngere Blüthen gepflückt hatte, ſo daß die Zahl der Einbrüche verhältnißmäßig wahrſcheinlich ebenſo groß war, als an demſelben Stand— orte bei Gentiana acaulis. Schutzmiltel gewiſſer Blumen gegen die Einbrüche von Bombus mastrucatus. Dieſe maſſenhaften Honigdiebſtähle mit Einbruch, mit denen unſere Räuberhummel ſo manche Alpenblumen mit tief geborgenem Honig heimſucht, müſſen dieſen um ſo ver— derblicher werden, als durch die einmal ein— gebrochenen Löcher nun auch andere In— ſekten, die ſelbſt keinen ſolchen Einbruch verüben, den weiter abgeſonderten Honig weg— ſtehlen und dadurch den Beſuch der Kreuz— ungsvermittler noch mehr beſchränken. So ſah ich z. B. bei Madulein im Oberen⸗ gadin an Lonicerea coerulea zahlreiche Falten⸗Wespen, Arten der Gattungen Ody- nerus und Eumenis, durch die von B. mastrucatus in die Corollen gebrochenen Löcher Honig ſtehlen. Es iſt daher durchaus nicht unwahrſcheinlich, daß im Laufe der Zeiten durch die Gewaltthätigkeit des B. mastrucatus manche Alpenblumen der Ver— nichtung anheim gefallen ſind, und wir dürfen kaum zweifeln, daß Abänderungen alpiner Hummel- und Falterblumen, welche und Pollenſammeln zu eng ſind, und da— feine Vergewaltigungen beſchränken oder ganz verhindern, durch Naturausleſe erhalten und ausgeprägt werden und ſeit der gewiß ſehr fernen Zeit, in welcher ſolche Vergewaltig— ungen zuerſt begonnen, auch erhalten und aus— geprägt worden ſind. Durch beſtimmte, an Rhinanthus Alectorolophus und Pedieu- laris verticillata gemachte Beobachtungen bin ich dazu geführt worden, gewiſſe Eigen— thümlichkeiten dieſer Blumen als durch Naturausleſe gezüchtete Schutzmittel gegen Räuberhummeln zu betrachten. Am 17. Juni d. J. hatte ich an einem Bergabhange bei Pontreſina Gelegenheit, mehrere Mutterhummeln des B. mastrucatus in Bezug auf ihr Verhalten gegen die Blu— men des Rh. Aleetorolophus viele Minu— ten lang aus nächſter Nähe zu beobachten. Sehr häufig ſuchten ſie zunächſt die helm— förmige Oberlippe (in der ſie vielleicht nach Analogie der von ihnen ſehr viel geplün— derten Aconitum-Arten das Nektarium ver— mutheten) an ihrer linken Seite (links von der Blume aus!) anzubeißen, was ihnen aber nie gelang. . Sie wendeten ſich dann ſtets — und ebenſo wenn ſie das Anbeißen nicht erſt verſucht hatten, — die zuſammge— legten Kieferladen vorſtreckend, an die linke Seite der Blumenkronenröhre und ſchienen dieſelbe hinter dem Kelche her anzubohren. Einige Male ſteckten ſie jedoch auch den Rüſſel mitten in die Hummelthüre hinein und ſaugten normal. Fünf Blüthen dieſes Rhinanthus, die ich unmittelbar nachdem die ſcheinbar anbohrende Hummel ſie ver— laſſen hatte, mit der Lupe unterſuchte, über⸗ zeugten mich, daß ſie in Wirklichkeit hier keineswegs anbohrt, ſondern den Rüſſel an der linken Seite der Blüthe in den mit vom Kelche umſchloſſenen Winkel zwiſchen Unterlippe und Helm ſteckt. Der bauchig aufgeblaſene, drüſenhaarige, ölig riechende Müller, Bombus mastrucatus. Kelch) und der harte glatte Helm der Blumenkrone ſchützen alſo vereint die Blumen vor der Vergewaltigung des B. mastrucatus und machen dieſen, trotz ſeiner räuberiſchen Abſichten, zum Kreuzungsvermittler. Denn wenn derſelbe mit ſeinem Rüſſel auch in der Regel nicht geraden Wegs zur Hummel— thüre hineingeht, ſondern ihn ſchief in den äußerſten Winkel hineindrängt, ſo kann er doch kaum vermeiden, die linke Seite ſeines Kopfes mit der linken Seite der Narbe in Berührung zu bringen und fie dann mit’ Pollen zu beſtreuen. Dieſe Schutzmittel ſind aber, wie die meiſten Schutzmittel im Thier- und Pflanzenreiche, doch nur von beſchränkter Wirkſamkeit, da ſich eben auch die Anſtrengungen und Leiſtungeu der An— greifer mit den Vertheidigungsverſuchen der Angegriffenen zu ſteigern pflegen. So fand ich im Juli 1875, im Suldenthale am Fuße des Ortler, die Arbeiter derſelben Hummelart an derſelben Blume bald an— beißend, bald den Rüſſel unter dem Kelche hineinſchiebend und die Blumenröhre etwa in der Mitte ihrer Länge anbohrend, bald endlich durch eine Seite des Kelches und der Corolla hindurchbohrend und in jedem dieſer Fälle den Honig durch Einbruch ge— winnend.“ ) Aehnlich verhält es ſich mit der Ge— ſchütztheit von Pedicularis verticillata, an deren Blüthen ich am 14. bis 16. Juni d. J. bei Madulein ſehr wiederholt Mutter— ) Die Erweiterung des Kelches von Rhinanthus hat jchon Delpino als Schutz— mittel gegen Räuberhummeln gedeutet (Ulte— riori osservazioni Parte II. fasc. II. p. 114.) 5) Das verſchiedene Verhalten der Mutter— hummeln und Arbeiter, welches ich auch in anderen Fällen beobachtete, mag durch ihre verſchiedene Rüſſellänge bedingt ſein, die bei den erſteren 10—12 ½, bei den letzteren da— gegen nur 9—10 Millimeter beträgt. bienen unſerer Blumenräuberin zu beobachten Gelegenheit hatte. An drei oder vier Stöcken dieſer Pflanze machte ſie vergebliche Anſtreng— ungen, die Blumen anzubohren, indem ſie mit ausgeſtrecktem Rüſſel ſeitlich um den Blüthenſtand herumging und die Spitze deſſelben hier und da einmal gegen die Seitenwand einer Blumenkronenröhre drückte, wo ich dann aber ſtets den Rüſſel wirk— ungslos heruntergleiten ſah. Dann ſteht ſie wohl einmal ſtill, putzt, als wenn ihr Saugapparat an der Erfolgloſigkeit ihrer Verſuche Schuld wäre, dieſen mit den Vorder— füßen, indem ſie ihn im ausgeſtreckten Zu— ſtande ein paarmal zwiſchen den Borſten derſelben hindurchzieht, verſucht von Neuem zu bohren, wiederholt das Putzen von Neuem; nachdem ſie aber ſo drei oder vier Blüthenſtände vergeblich durchprobirt hat, fliegt ſie weg und kümmert ſich fortan gar nicht weiter um dieſe ſo verlockend ſchöne, aber von ihr nun aufgegebene Blume. Hier ſind es: die kugelige Form des Kelches, die plötzliche, rechtwinkelige Um— biegung der Blumenröhre noch innerhalb, und ihre glatte, ſeitlich zuſammengedrückte Beſchaffenheit außerhalb deſſelben, welche Schutz gegen die Anfälle der Räuberhummel gewähren. Aber wiederum nur in be— ſchränkter Weiſe! denn in derſelben Gegend (bei Ponte) ſah ich im Auguſt 1877 die Arbeiter derſelben Hummel an derſelben Blume die Röhre der Corolla an ihrer Unterſeite, dicht am Rande des Kelches an— beißen und den Honig durch Einbruch ge— winnen. Müller, Bombus mastrucatus. | Weshalb es weder bei Bombus mastrucatus noch bei den von ihr vergewaltigten Blumen zur Bild— ung rudimentärer Organe gekom— men iſt, läßt ſich leicht erkennen. Den ausgeprägten Hummel- und Falterblumen nämlich, welche von B. mastrucatus ver— gewaltigt werden, wird entweder daneben doch noch hinreichender Beſuch ihrer Kreuz— ungsvermittler zu Theil, und dann bleiben ihnen alle Anpaſſungen an dieſelben nützlich und können nicht verkümmern; oder die Räuberhummel verdrängt die Kreuzungs— vermittler in dem Grade, daß die Blumen— art ausſterben muß; dann iſt natürlich wiederum die Bildung rudimentärer Organe ausgeſchloſſen. Auf Seiten der Räuberhummel aber kann der Saugapparat nicht rudimentär werden, ſo lange ſie denſelben immer noch, ſelbſt in den gewaltſam erbrochenen honig— haltigen Röhren, zur Beſchaffung der Nahr— ung für ſich ſelbſt und ihre Brut in An- wendung bringt. Nur wenn eine Räuber— hummel dazu überginge, alle Honigbehälter unmittelbar aufzubeißen oder den von an— deren Arten ſchon geſammelten Honig zu rauben, wie es eine ſtachelloſe braſilianiſche Honigbiene (Trigona limao Smith) thut, würde ihr Hummelrüſſel verkümmern können. Bei der Räuberbiene Trigona limao ſind in der That die den Saugapparat bildenden Mundtheile auf winzige Dimenſionen redu— cirt, während ihre beim Raube bethätigten Oberkiefer um ſo kräftiger entwickelt ſind. Mehrzehige Pferde in der Vorzeit und Jetztwelt. Von O. C. Hlarfh, Profeſſor am Yale - College zu Newhaven. “) niern herübergebrachten Pferde ſahen, den ihnen neuen Vierfüßler das „Thier mit einem Finger-Nagel“ nannten. Gewiß, der Einzel-Huf an jedem Fuße iſt das am meiſten kennzeichnende Charakteri— ſticum des modernen Pferdes, und zwar ein ſolches, von dem ſeine am meiſten ſchätzens— werthen Eigenſchaften abhängen. Die nächſten lebenden Verwandten des Pferdes ſind der Eſel und das Zebra und ſie beſitzen die— ſelbe Eigenthümlichkeit der Fußbildung. Als Zugabe zu jedem Hauptfinger un— ſeres Pferdes findet indeſſen der Anatom, unter der Haut verborgen, zwei dünne Mittelfuß-Knochen-Splitter, die offenbar die Ueberreſte zweier weiteren Zehen ſind, welche die Ahnen des Roſſes urſprünglich beſeſſen haben. Es iſt eine intereſſante Thatſache, daß dieſe Knochenſplitter mit— ) Nach American Journal of Science and Arts. June, 1879. unter ganz vollſtändig ausgebildet werden und ſogar Nebenzehen als Stützknochen dienen, welche viel kleiner und kürzer als die Hauptzehe ſind. Da dieſe kleinen Neben— hufchen gewöhnlich als ernſthafter Nachtheil für das Thier betrachtet werden, ſo nimmt man ſie allgemein dem Füllen bald nach der Geburt, aber in ſolchen Fällen deuten häufig die verbreiterten Mittelfußknochen ihr früheres Vorhandenſein noch bei dem erwachſenen Thiere an. Es find zahlreiche Fälle von ſolchen überzähligen Zehen beim Pferde beſchrieben worden und in nahezu allen derſelben war ein einzelner ſeitlicher Huf an einem der Vorderfüße vorhanden. In den meiſten dieſer Beiſpiele war das Vorkommen haupt— ſächlich nur in Anbetracht ſeiner Seltenheit aufgezeichnet, aber keine weitere Angabe über die genaue Stellung der Extrahufe in Bezug zum Haupthuf, noch etwas über die Bedeutung dieſer nutzloſen Anhängſel hinzugefügt worden. Im Zeitraum weniger Jahre, ſeitdem die Aufmerkſamkeit des Ver— Marſh, Mehrzehige Pferde in der Vorzeit und Jetztwelt. faſſers auf dieſen Gegenſtand gerichtet wor— den iſt, hat er ſich vergewiſſert, daß ſolche überzähligen Zehen weit häufiger bei'm Pferde vorkommen, als gewöhnlich ange— nommen wird, und in manchen Fällen ſchei— nen ſie einen Rückfall in einen früheren Ahnentypus zu bedeuten. ö In den weiter unten wiedergegebenen Figuren erblickt man den Fuß des jetzigen Pferdes ſowohl in ſeinem normalen Zu— ſtande, mit den rudimentären Knochenſplit— 433 tern, als den anormal entwickelten Fuß, mit der einen kleinen Huf tragenden Neben— zehe, ſowie die Füße verſchiedener ausge— ſtorbenen Ahnen des Pferdes. Es ſind lauter linke Füße und die beigeſchriebenen Zahlen beziehen ſich, von den Innenſeiten an gerechnet, auf die verſchiedenen Zehen. Die erſte und die fünfte, welche dem Dau— men und dem kleinen Finger der menſch— lichen Hand entſprechen, fehlen bei den meiſten dieſer Figuren. Fig. 1. Linker Vorderfuß der foſſilen und der jetzt lebenden Pferde. a Orohippus. b Mesohippus. Die älteſten aufgezeichneten Beiſpiele, die dem Verfaſſer von überzähligen Zehen des Pferdes bekannt geworden ſind, finden ſich beide von Georg Simon Winter in ſei— nem berühmten Buche über die Pferde er— wähnt, welches im Beginne des vorigen Jahrhunderts erſchien.“) Eins der in dieſem Werke beſchriebenen und abgebildeten Pferde war achtzehig, indem es eine ſchmale Extra— ) Anmerk. der Redaktion. Eine Reihe älterer Fälle wurden in einem früheren kleinen Artikel dieſer Zeitſchrift: „Das Leibpferd Cä— ſars und die Ontogenie der Pferde“ (Bd. III, S. 439) erwähnt, ebenſo einige merkwürdige neuere Beobachtungen, die von dem Verfaſſer nicht aufgeführt ſind. Kosmos, III. Jahrg. Heft 6. e Miohippus. d Protohippus. e Equus. zehe auf der Innenſeite eines jeden Fußes beſaß.?) Winter erzählt, daß dieſes Pferd 1663 in Deutſchland öffentlich ge— zeigt, und daß ein Bild deſſelben in Köln aufbewahrt wurde. Sein Bericht war von einer Perſon entlehnt, die das Thier un— terſucht hatte. Das zweite von Winter beſchriebene und abgebildete Pferd *) beſaß einen kleinen Nebenhuf an der Innenſeite jedes der beiden Vorderfüße, und dieſes Roß hatte Winter, wie er erzählt, nicht blos geſehen, ſondern auch geritten. Geoffroy Saint-Hilaire hat die ) De Re Equaria. P. 134, Tab. 21 F. ) A. a. O., p. 136, Tab. 24. Nuremberg 1703, 434 Thatſache aufgezeichnet, daß er einen Pferde— fötus beobachtet hat, der an den Vorder— füßen mehrzehig war, wobei der linke Fuß drei nahezu gleiche Zehen zeigte, der rechte hingegen nur zwei. *) rechten Vorderfuß eines Pferdes mit einem Doppelhuf beſchrieben, wobei die überzählige Zehe ebenfalls auf der innern Seite ſich Owen hat den Marſh, Mehrzehige Pferde in der Vorzeit und Jetztwelt. befand und der zweiten Zehe entſprach.“ “*) Arloing hat ähnliche Beiſpiele beſchrieben und abgebildet.“ “**) Leidy hat das rechte Vorderbein eines Pferdes mit einer über— zähligen Zehe auf der innern Seite be— ſchrieben und Allen ſpäter denſelben Fall beſprochen. f) Außerdem ſind eine Zahl weiterer Beiſpiele veröffentlicht worden. Fig. 2. A Das achtzehige Cuba-Pferd. B Der Knochenbau des Fußes ſolcher Abnormitäten. Der weitaus intereſſanteſte Fall dieſer Art konnte von dem Verfaſſer ſelbſt bei dem in Fig. 2 dargeſtellten Pferde ſtudirt werden. Dieſes Thier wurde im Frühjahr 1878 in New-Orleans ausgeſtellt und der dort anſäſſige Dr. Stanford E. Chaillé machte den Verfaſſer zuerſt auf daſſelbe auf— merkſam und ſandte eine Photographie, nach welcher der Holzſchnitt hergeſtellt wurde. ) Annales des Sciences Naturelles XI, P. 224, Paris 1827. Osteological Catalogue, Museum Royal College of Surgeons. Vol. II, p. 537. Lon- don 1853. Dieſes nämliche Pferd wurde ſpäter nach dem Norden gebracht und mehrere Tage in New-Haven (Connektikut) ausgeſtellt, wo— ſelbſt der Verfaſſer es eingehend unterſuchen konnte. Das Thier iſt von kleiner Statur, ungefähr zehn Jahre alt und ſoll auf Cuba zur Welt gekommen ſein. Unter den Schau— | buden-Beſitzern iſt es unter dem Namen des „achtfüßigen Cubaroſſes“ bekannt. Mit Ausnahme der überzähligen Zehen iſt es el Annales des Sciences Naturelles VIII, P. 55, 1867. ) Proceedings Academy Natural Sciences. | Philadelphia 1871, p. 112 and 1876, p. 86, Marſh, Mehrzehige Pferde in der Vorzeit und Jetztwelt. wohlgebildet und zweifellos beträchtlicher Schnelligkeit fähig, obgleich einige der ihm zugeſchriebenen Heldenthaten einen ehrlichen Zweifel herausfordern mögen. Die vier Haupthufe ſind von der ge— wöhnlichen Geſtalt und Größe. Die über— zähligen Zehen befinden ſich ſämmtlich auf der Innenſeite und entſprechen den Zeige— fingern der menſchlichen Hand. Sie haben nicht ganz die halbe Größe der Hauptzehen und keine von ihnen erreicht den Erdboden. Eine äußere Unterſuchung zeigt, daß der Mittelfußknochen jeder Extrazehe vollſtändig vorhanden und, wenigſtens nicht an ſei— nem untern Ende, mit dem Hauptknochen verſchmolzen iſt. Dem Anſcheine nach ſind zwei Pha— langen über dem Hufbein in jeder dieſer Zehen vorhanden, die ſomit biegſam ſind, beſonders nach vorn und hinten. Man konnte keine Spur von gegenſeitiger Behinderung (interfering) an den innern Zehen ſelbſt be— merken, obwohl ſchwer zu begreifen iſt, wie dieſe bei reißend ſchneller Bewegung völlig vermieden werden könnte. Das Knochen— rudiment auf der äußern Seite jedes Beines iſt anſcheinend von der gewöhnlichen Geſtalt und Größe. Unter den Beiſpielen neuerer mehrzehiger Pferde, die dem Verfaſſer von Augenzeugen geſchildert wurden, befinden ſich zwei von ſpeciellem Intereſſe. ein Füllen mit drei Zehen an dem einen Vorderfuß und zweien an dem andern. Das Thier ſtarb kürzlich in Ohio. Ein anderes betrifft eine noch lebende, in Indiana auf— gezogene Stute, welche an jedem Vorderfuß drei Zehen beſitzt und eine kleine Extrazehe an jedem Hinterfuße. In Bezug auf dieſes letztere Thier hofft der Verfaſſer bald ber Thatſache entſpricht genau Demjenigen, was ſtimmtere Nachricht zu erhalten. Außer den oben erwähnten Beiſpielen Eins derſelben war 435 von ordnungsmäßig geſtellten Extrazehen beim Pferde wurden viele Fälle wirklicher Monſtroſitäten beſchrieben, ſo z. B. über— zählige Füße oder Beine an verſchiedenen Körperſtellen. Mit ſolchen Mißbildungen wollen wir uns in der vorliegenden Ab— handlung nicht befaſſen. Wenn man überblickt, was nunmehr über Extrazehen an den Füßen der Pferde bekannt iſt, ſo ſcheinen die ſicher beglau— bigten Beiſpiele ſich naturgemäß in zwei Gruppen zu ſondern. Die erſte derſelben ſchließt die Zehen ein, welche einfach Fälle von Verdoppelung vorftellen, ganz ähnlich den gelegentlich beim Menſchen vorkommenden überzähligen Fingern. Solche Mißbild— ungen ſind anſcheinend Wachsthumswieder— holungen, deren Erklärung bisher noch nicht hinreichend feſtgeſtellt iſt. Die zweite Claſſe ſchließt die Fälle ein, bei denen ein richtiges Glied gebildet wird, deſſen zuſammenſetzende Knochen ſich in ihrer normalen Stellung und in enger Beziehung zu dem Reſt des Gliedes befinden. Solche Fälle ſcheinen offenbar einem Rückfall in einen Ahnen— typus zugeſchrieben werden zu müſſen. Einige Zehen, welche beim erſten Anblick der erſten Categorie anzugehören ſcheinen, mögen in Wirklichkeit die zweite erläutern, aber der umgekehrte Fall iſt viel weniger wahrſchein— lich, um für wahr genommen zu werden. Die Fälle eines anſcheinenden Rückfalls (Atavismus) ſind von ſpeciellem Intereſſe, und es iſt wichtig, hinſichtlich derſelben einige Vergleiche mit ausgeſtorbenen Verwandten des Pferdes ins Gedächtniß zu rufen. Die Fälle von Extrazehen beim Pferde zeigen, ſo weit bis jetzt bekannt, daß dieſe Anhängſel häufiger an den Vorderfüßen als an den Hinterfüßen auftreten. Dieſe das Studium der foſſilen Formen der pferde— 8 436 artigen Säuger uns veranlaſſen mußte, vorauszuſagen. “) Eine fernere bemerkenswerthe Eigen— thümlichkeit dieſer Extrazehen iſt ihr häu— figeres Vorkommen an der Innenſeite der Hauptzehe, während der äußere Knochen— ſplint rudimentär bleibt. Dieſer Umſtand iſt, wie nicht geläugnet werden kann, dem allgemeinen Geſetz der Zehenverminderung bei den Hufthieren entgegengeſetzt. Denn dieſes iſt, kurz gefaßt, daß von den fünf urſprünglichen Zehen die erſte, alſo eine innere, zuerſt verſchwindet, nächſtdem die fünfte, alſo eine äußere; ſodann die zweite und zuletzt von allen die vierte. Die dritte verbleibt ſowohl beim Pferde, als überhaupt immer. Es würde deshalb naturgemäß erwar- ef . 72 | tet werden müſſen, daß wenn blos ein über- zähliger Finger auftritt, er derjenige an der Außenſeite des Vorderfußes ſein müßte. Die Tendenz ſich gegenſeitig zu behindern, würde als ein weiterer Grund gegen das Verbleiben der innern Zehe erſcheinen. Mög— licherweiſe mag der Schutz (additional pro— tection), welchen ein innenſeitiges Hufchen empfangen würde, dieſen Einfluß mehr als aufwiegen. wähnten Geſetze nicht bekannt, ob es auf den Fuß der Unpaarhufer (Perissodactyla) über die erſte und fünfte Zehe hinaus An— wendung findet, und wenn die zweite Zehe urſprünglich von ſtärkerem Gebrauch war, als die vierte, und deshalb länger beibe— halten wurde, ſo muß noch ein Vorfahr des ) Anmerk. d. Red. Die Zehenver: minderung trat am häufigſten zuerſt an den Hinterfüßen ein, und zahlreiche noch heute lebende Säugethiere haben an den Vorder— füßen eine oder zwei Zehen mehr als hinten. Ueber die Geſetze dieſer Reduktion findet der Leſer Ausführlicheres im zweiten Bande dieſer Zeitſchrift, S. 515—517. Ueberdieß iſt von dem obener- | Marſh, Mehrzehige Pferde in der Vorzeit und Jetztwelt. Pferdes aufgefunden werden, bei dem die zweite und dritte Zehe allein entwickelt waren. In Hinblick auf dieſe doppelten Hufe des Pferdes und außerdem auf den wohl— bekannten Spalt im Hufbein der lebenden und ausgeſtorbenen Arten deſſelben, iſt es wichtig zu betonen, daß ſie in keinem Falle eine Annäherung an den echten Typus der Paarhufer (Artiodactyla) darſtellen, wie dies einzelne Autoren vermuthet haben. Der Unterſchied zwiſchen dem Bau der Unpaar- hufer oder Ungleichzeher und der Paarhufer oder Gleichzeher iſt ein ſo tiefgehender, daß er ſich beinahe jedem einzelnen Theile des Knochengerüſtes aufgeprägt hat, und zwei durchaus verſchiedene Gruppen der Hufthiere trennt. Die Zahl der Zehen hat in Wirklich— keit nichts mit der eigentlichen Unterſcheid— ung zu thun, und deshalb ſind die im Ge— brauch befindlichen Ausdrücke geradezu irre— führende. Der wahre Unterſchied, ſofern er die Füße angeht, iſt, daß bei dem periſſo— daktylen Typus die Achſe des Gliedes durch die dritte oder Mittelzehe geht (Mesaxonia), während ſie bei den Artiodaktylen außerhalb dieſer Zehe fällt, zwiſchen ihr und der vierten (Paraxonia). Wenn wir uns nun, zum Zwecke einer Erklärung des häufigen Auftretens der über— zähligen Zehen beim Pferde, rückwärts zu den älteren Ahnen deſſelben wenden, ſo wer— den wir, zumal in Amerika, nicht ver— gebens Ausſchau halten. Amerika iſt die urſprüngliche Heimath des Pferdes; während der geſammten Tertiärzeit war dieſer Con— tinent von zahlreichen und mannigfach ge— ſtalteten pferdeartigen Säugern belebt. Ob— gleich ſie alle vor der Entdeckung dieſes Landes ausgeſtorben waren, ſtellen uns ihre maſſenhaft vorkommenden Ueberreſte die Ge— nealogie des Pferdes in einer faſt ununter⸗ brochenen Reihenfolge von Geſtalten dar. Marſh, Mehrzehige Pferde in der Vorzeit und Jetztwelt. 437 Vorder⸗ Hinter- Ober- Unter- Unter- Oberer Unterer fuß fuß arm arm ſchenkel Backzahn Backzahn 2 BER = Jetztzeit 2 Equus 5 Oberes Pliocän Pliohippus Unteres Pliocän Protohippus (Hipparion) 9 6 Oberes 00 EG @ | Miocän Miohippus NE (Anchitherium) Unteres Miocän Mesohippus Eocän Orchippus Fig. 3. Die Genealogie des Pferdes. 438 Wenn wir die Ueberreſte der älteſten Vertreter des Pferdegeſchlechtes in dieſem Marſh, Mehrzehige Pferde in der Vorzeit und Jetztwelt. Baſis des Eocäns. Es iſt nicht auf der Tafel vertreten, da es erſt gefunden wurde, Lande unterſuchen, ſo finden wir, daß dieſe | nachdem dieſelbe entworfen war. In der Thiere ſämmtlich vielzehig und von kleinerem Wuchſe waren. Während die Linie ſich gegen die jetzige Epoche fortſetzte, fand eine ſchritt— weiſe Zunahme der Größe und eine Ver— minderung der Zehenzahl ſtatt, bis der gegenwärtige Typus des Pferdes entſtanden war. gehenden Seiten erwähnten Thatſachen wird es vortheilhaft ſein, die Hauptlinie der Stammformen dieſer Gruppe von ihrem früheſten Auftreten bis zur gegenwärtigen Periode zu ſkizziren und im Beſondern den Wechſel in der Zahl der Zehen aufzuzeichnen. Für dieſen Zweck dürfte die vorſtehende Tafel lehrreich ſein, da ſie die hauptſäch— lichſten Stationen in der Reihenfolge ſowohl der Glieder als der Zähne vorführt. Dieſe Tafel wurde von dem Verfaſſer für Pro— feſſor Huxley entworfen, welcher ſich der— ſelben zuerſt in ſeinen Newyorker Vorleſungen bediente. Die abgebildeten Theile ſind ſämmt— lich im Muſeum des Yale-Collegs vorhanden. Der bis jetzt noch unentdeckte Urſtamm— vater der Pferde hatte zweifellos an jedem Fuße fünf Zehen. Das älteſte bis jetzt be— kannte Glied der Gruppe iſt der Eohippus, welcher vier wohl entwickelte Zehen und das Rudiment der fünften an jedem Vorderfuße beſaß und drei Zehen an jedem Hinterfuß. Dieſes Thier war ungefähr ſo groß wie ein Fuchs und ſeine Ueberbleibſel finden ſich in den Coryphodonſchichten, dicht an der | In Anbetracht der auf den vorher- nächſt höheren Abtheilung des Eocäns tritt ein anderes Pferdegeſchlecht, Orohippus, in Erſcheinung. Es glich ſeinem Vorgänger im Wuchſe, beſaß aber bloß vier Zehen vorn und drei hinten, wie in der unterſten Reihe der Tafel zu ſehen. In den Kopfſchichten des Eocäns iſt ein drittes Pferdegeſchlecht (Epihippus), gefunden worden, welches in ſeiner Zehenbildung ſich dem Orohippus eng anſchloß, aber in ſeinen Zähnen abwich. In der Nähe der Baſis der nächſten Formation des Miocäns tritt ein anderes pferdeartiges Säugethier, Mesohippus, auf. Dieſes Thier war ungefähr ſo groß wie ein Schaf und beſaß drei brauchbare Zehen und den Knochenſplint einer vierten an jedem Vorderfuß, aber nur drei Zehen hinten, wie auf der Tafel zu ſehen. In einem etwas höheren Horizont iſt ein nahe verwandtes Genus, Miohippus, gefunden worden, bei welchem der Splintknochen der äußern oder fünften Zehe auf einen kurzen Ueberreſt reduzirt war. Darüber in den Pliocänſchichten ſind die Knochen eines drei— zehigen Pferdes, Protohippus, ungefähr von der Größe eines Eſels; häufig und noch höher hinauf tritt ein naher Verwandter des jetzigen Pferdes mit nur einer einzigen Zehe (Pliohippus) in Erſcheinung. Ein wahres Pferd, ſo groß wie das heute lebende, tritt genau über dieſem Horizont auf, und damit iſt die Reihe vollſtändig. — — DI —U — Tord Monboddo und lein Bud) über den Arſprung der Sprache. Von Ernſt Krauſe. m die geiſtige Atmoſphäre, in Daſein ſtreitig machen. Lord Monboddo hat welcher Erasmus Darwin das im reichſten Maße gethan und erfahren, BD lebte, beffer zu verſtehen, habe ieh und feine Zeitgenoſſen haben ihn mit fo m mich veranlaßt geſehen, man- freigebigem Spotte überſchüttet, daß noch cherlei Schriften derſelben Zeit | jetzt, nach hundert Jahren, fein Name nicht und Richtung zu ſtudiren, und bin dabei ohne eine gewiſſe ſpöttiſche Kräuſelung der für manche Stunde erfolgloſen Suchens durch Mundwinkel ausgeſprochen wird. Sehen eine Klärung meines Urtheils über einige wir daher zu, wie weit ihm damit Recht von der Literaturgeſchichte ſehr einſeitig be- oder Unrecht geſchieht. urtheilten Denker entſchädigt worden. Viel— James Burnett Monboddo wurde leicht am meiſten war dies der Fall hin- im Jahre 1714 in der ſchottiſchen Ortſchaft fihtlih des Lord Monboddo, den Mit- Monboddo, zwiſchen Montroſe und Aberdeen und Nachwelt, mit wenigen rühmlichen (Grafſchaft Kinkardine) geboren. Der kleine Ausnahmen, ſich ſtets befliſſen gezeigt haben, Ort gehörte ſeiner Familie, welche ſich von als einen der wunderlichſten Phantaſten zu den Burnett von Leys ableitete, ſeit alten betrachten. Das Schickſal, von feinen Zeit: Zeiten. Die Urgroßmutter war aus dem genoſſen und namentlich von ſeinen Lands- hochberühmten ſchottiſchen Adelsgeſchlechte der leuten unterſchätzt zu werden, iſt bekanntlich Douglas. Er wurde im Colleg von ſo wenig außergewöhnlich, daß es ſprich- Aberdeen erzogen und ſtudirte ſpäter auf der wörtlich geworden iſt, und es trifft vor Univerſität Gröningen die Rechte. Nachdem Allem Gelehrte und Forſcher, die ſtatt das er 1738 in ſeine Heimath zurückgekehrt war, ebene Geleiſe der allgemeinen Heerſtraße zu erwarb er ſich durch die glückliche Führung wandeln, mit neuen, originalen Ideen auf- von mancherlei ſchwierigen Rechtsſtreitigkeiten, treten und geliebten alten Vorurtheilen das namentlich in einem großen Proceß der Fa— 440 Kraufe, Lord Monboddo. milie Douglas, den Ruf eines vorzüglichen lang mit Hingebung und ſtrengſter Ge— Juriſten, zog ſich aber, als 1745 die ſchot— | tiſche Revolution ausbrach, auf längere Zeit nach London zurück, wo er durch den Ver— kehr mit den dortigen Gelehrten und Schön— geiſtern, namentlich mit Harris, der ſeine Vorliebe für die Griechen theilte, für die humaniſtiſchen und geſchichtsphiloſophiſchen Studien gewonnen wurde. Es war die griechiſche Literatur, die ihn vor allem andern anzog und in die er ſich derart verſenkte, daß er bald zu einem der beſten Kenner derſelben wurde. Die Le⸗ bensweiſe, Politik, Philoſophie und Poeſie der Griechen bildeten ſein Ideal, und Homer wurde von ihm über alle Dichter der alten und neuen Zeit erhoben. Dieſe Werthſchätz- bensweiſe, mit Studien, Amtsthätigkeit, ung, oder ſagen wir immerhin — Ueber— ſchätzung, war bei ihm jedenfalls von aller Schwärmerei und Ueberſchwenglichkeit ent- rechtigkeitsliebe ausübte. In den Zwiſchen— zeiten der Sitzungsperioden kehrte er auf ſeine ländlichen Beſitzungen zurück, die ihm | fernt; er lebte das Griechenthum felbft in ſpartaniſcher Einfachheit und Strenge und verklärte letztere durch attiſchen Geſchmack und Urbanität. Seine Ausdrucksweiſe in Wort und Schrift war klaſſiſch und ſeine Abend— geſellſchaften hat man wegen der geiſtvollen Tiſchgeſpräche den Sympoſien der alten Philo— ſophen verglichen. In ſeinen Lebensgewohn— heiten ſuchte er die Spartaner zu kopiren. So z. B. nahm er das ganze Jahr hin— durch täglich, auch im Winter, kalte Bäder, und ſetzte dieſelben nicht einmal aus, wenn er ſich nicht völlig wohl befand. Die Wagen verachtete er als eine weibiſche Erfindung, und machte ſelbſt die weite Reiſe von ſeiner Heimath bis nach London ſtets zu Pferde. Nach dem Tode des Lord Milton Monboddo (1767), ging der Yordstitel auf ihn über, und er wurde zum Richter am Obergerichte von Edinburg ernannt, welches Amt er, jede weitere Erhebung und Beförderung zurückweiſend, ſein Lebe— ö Alles in Allem dreihundert Pfund Sterling im Jahre einbrachten und lebte dort pro— eul negotiis einfach wie ein Landmann und griechiſcher Philoſoph. Sein Einkommen war ſo gering, weil er ſich nicht entſchließen konnte, dem Rathe und Beiſpiele ſeiner Gutsnachbarn zu folgen und den aus bil- ligeren Zeiten ſtammenden, überaus niedrigen Pachtzins „ſtandesgemäß“ zu erhöhen. Aber er liebte ſeine Pächter wie ein Vater nnd lebte mit ihnen wie ein Patriarch in ſeiner weitausgebreiteten Familie. Mit dieſer einfachen und tüchtigen Le— literariſcher Beſchäftigung, Land- und Stadt- leben, Einſamkeit und heiterer Geſelligkeit abwechſelnd, brachte er es zu hohem Alter. Er glaubte niemals ermüden zu können, und als ihm beim Herannahen ſeines acht— zigſten Jahres doch das Bedürfniß kam, ſeinen Londoner Freunden für dieſes Leben Lebewohl zu ſagen, unternahm er nochmals den langen Weg zu Pferde und wäre un— terwegs beinahe der ſeinem Alter nicht mehr angemeſſenen Anſtrengung erlegen. Aber er erholte ſich nochmals, überlebte ſeine Frau, einen Sohn und eine heißgeliebte Tochter — letztere jedoch nicht lange; gebeugt von Schmerz über dieſen letzten Verluſt ſtarb er am 26. Mai 1799 zu Edinburg an den Folgen eines Schlaganfalls. Einem ſolchen Manne von der höchſten Einfachheit und Strenge gegen ſich ſelbſt kann es wohl nachgeſehen werden, wenn er der gewöhnlichen Neigung des Alters fol— gend, mit einiger Geringſchätzung auf das „herabgekommene, entartete, ſchwächliche Ge— ſchlecht“ ſeiner Zeit blickte, und im Grie— Krauſe, Lord Monboddo. chenthum die Menſchheit in ihrer höchſten Vollendung ſah. Der allgemeine Zug der Zeit, das Auftreten Rouſſeau's, der den Adel der Naturvölker pries und die Rückkehr zur Natur predigte, wirkten offen— bar zu dieſer Geringſchätzung ſeiner Mit— menſchen mit. Nächſt den Helden Homers wurden die dieſen in der That ziemlich nahe verwandten „Wilden“ Gegenſtand ſeiner Vorliebe; er machte ſie, wo er nur konnte, zum Gegenſtande ſeines Studiums, und hielt ſich auch zu ſeiner perſönlichen Bedienung einen Mohren. So weit wäre ſein Geſchmack verſtänd— lich und ſeine Vorliebe entſchuldbar, aber, wie das zu geſchehen pflegt, ſie machten ihn ſchließlich ungerecht gegen die Mitwelt. Nicht blos die Körperkraft und die Sitten ſollten nach ſeiner Anſicht von der moder— nen Civiliſation verſchlechtert worden ſein, ſondern auch der Scharfſinn und die Urtheils— fähigkeit ſollte ſich vermindert haben. Seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts machte ſich in der Alterthumsforſchung das Beſtre— ben geltend, von einer verloren gegangenen Urweisheit der Aegypter, alten Inder u. ſ. w. zu phantaſiren, und Bailly's Geſchichte der Aſtronomie der Alten, welche zuerſt 1755 erſchien, iſt ganz im Sinne dieſer Träu— mereien gehalten. Schon vorher (1751) hatte Monboddo's Freund, James Harris, der Neffe des Lord Shaftesbury, ſei— nen „Hermes, or a philosophical inquiry concerning language and universal gram- mar“ veröffentlicht und damit die altgrie— chiſche Idee von der Urweisheit der Aegypter, und von ihrem Verdienſte um die Erfindung einer Urſprache, die den europäiſchen Sprachen eine Art Mutterſprache geweſen ſein ſollte, neubelebt. Dieſes letztere Werk dürfte die Veran— laſſung geworden ſein, daß ſich Monboddo Kosmos, III. Jahrg. Heft 6. . 441 den Studien über den Urſprung und die Fortbildung der Sprachen hingab, die er in dem höchſt geiſtreichen Werke niederlegte, welches wir weiterhin ausführlicher beſpre— chen werden und welches in den Jahren 17731792 veröffentlicht wurde.) Sein Scharfſinn führte ihn dabei zu einem halb— thieriſchen Zuſtande der Naturmenſchen herab, er begann ſich für Chimpanſen, Orang— Utangs und andere ſchwanzloſe Thiere und „geſchwänzte Menſchen“ zu intereſſiren, und man hätte denken ſollen, daß ihn dieſe mit dem höchſten Scharfſinn geführte Unterſuch— ung von dem Wahne, daß die alte gute Zeit beſſer als die Gegenwart geweſen ſei, hätte heilen müſſen. Aber er hatte ſich in— zwiſchen wiederum der griechiſchen Philo— ſophie zugewandt, und in dem für jene Zeit wahrſcheinlich beſten Werke über diefelbe **) zu beweiſen geſucht, daß ſie weit über die engliſche, franzöſiſche und deutſche Philo- ſophie ſeiner Zeit emporgeragt habe. Die Frage: Was iſt ihm Hekuba?! mußte bei ihm umgekehrt werden: Was war ihm New— ton gegen Ariſtoteles und was Hume oder Locke gegen Sokrates und Platon? Indem er dieſe ſelbe Unterſchätzung nun auch auf andere Gebiete des Lebens und der Li— teratur ausdehnte, namentlich auf die Ge— ſchichtsſchreibung und Poeſie, griff er in ein Wespenneſt, und reizte die geſammte lite— rariſche Kritik der Zeit gegen ſich auf, da er eben in Schrift und Wort kein Hehl aus feiner geringen Meinung über die lite— rariſche Produktion ſeiner Zeit machte. Ein ſolches Vorgehen iſt für den Nach— ruhm immer gefährlich und wer dann gar ) Of the Origin and Progress of Lan- guage. Edinburgh, J. Balfour, and London, T. Cadell. 1773. (Erſchien anonym.) **) Ancient Metaphysics or the Science of Universals. Edinb. 1779—1799. 6 Vol. in 4. 58 442 das Unglück hat, in die Hände eines Sa— muel Johnſon oder Leſſing zu fallen, der kann noch ſo viel geleiſtet haben, er wird immer mit dem Fluche der Lächerlichkeit be— haftet bleiben. Es iſt dies die Schatten— ſeite des Glaubens an eine abſolute Kritik, da eben die meiſte Kritik einſeitig bleibt, zumal wenn ſie, wie in unſerem Falle, gar nicht an den Gegenſtand mit einem eben— bürtigen Verſtändniß herangetreten ift. John— ſon hat Monboddo niemals widerlegt, nie— mals ernſtlich angegriffen, aber er machte unaufhörlich Witze über denſelben, die in allen Kreiſen Londons umliefen und in Edin— burg ihren Wiederhall fanden. Wahrſchein— lich hatte der unglückliche Lord irgend ein— mal privatim Johnſon für einen Stern zweiten Ranges erklärt und dieſe Majeſtäts— beleidigung war dem Unfehlbaren hinterbracht worden; vielleicht argwöhnte auch John— ſon blos, daß er von Monboddo nicht dem Sokrates gleichgeſtellt werde; kurz, er ſtreute ſeine Bosheiten gegen denſelben nach allen Seiten aus und machte ihn förmlich zu ſeinem Prügelknaben. 5 Monboddo hatte — und zwar, wie wir ſehen werden, in einer dem ernſten Forſcher angemeſſenen Weiſe — über „geſchwänzte Menſchen“ geſchrieben; weiter brauchte John— ſon von ſeinem Gegner nichts zu wiſſen, um ihn bei jeder Gelegenheit lächerlich zu machen und immer die Lacher auf ſeiner Seite zu haben. Er verſchärfte ſeinen Witz, indem er vorgab, dem Lord von Herzen zu— gethan zu ſein, weshalb er ihn auch im Geſpräche ſtets liebkoſend Monny nannte. Der Advokat und Schriftſteller James Bos— well, welcher die beſte Lebensbeſchreibung Johnſons herausgegeben und denſelben mit ähnlicher protokollariſcher Genauigkeit geſchil— dert hat, wie Eckermann Göthe, hat uns 48 eine Anzahl Witzworte Johnſons über Krauſe, Lord Monboddo. Monboddo aufbewahrt. So hatte Mon— boddo in feiner Schrift über den Urſprung der Sprache, hinſichtlich des Vorkommens ſprach— loſer, halbthieriſcher Urmenſchen, das Wort des Ariſtoteles citirt, daß Alles, was der katur möglich ſei, auch wirklich in der— ſelben vorkomme, und darauf anſpielend, ſagte eines Tages Johnſon: „der nicht ſprechende Orang iſt ebenſo möglich, wie der ſprechende. Indeſſen, ich will den Punkt nicht beſtreiten. Ich würde nie für möglich gehalten haben, einen Monboddo zu fin— den, und doch exiſtirt er!““) Wenn die Rede auf ſeine geſchwänzten Menſchen kam, ſo nannte er ihn einen Judge a posteriori“) und verlangte, er ſolle einen beim Schwanze feſthalten und ihm vorführen. Ein andres Mal ſagte er, Rouſſeau habe, als er über das Glück der Wilden ſchrieb, gewußt, daß er Unſinn ſchreibe, und es nur geſchrieben, weil es ihm Vergnügen gemacht habe, die Leute vor Erſtaunen ſtarr zu machen; Mon— boddo aber habe in aller Unſchuld daſſelbe behauptet. ***) Der Antagonismus beider Gelehrten war ſchließlich ſo landkundig, daß der durch ſeine Bonmots bekannte Comö— diant Foote den ſchlanken Lord eine Elzevir— Ausgabe des breitſchultrigen Doktors zu nennen pflegte. Während ſich beide Gegner bisher nur flüchtig geſehen hatten, nahm Boswell eines Tages die Gelegenheit wahr, ſie in nähere Berührung miteinander zu bringen. Man könnte glauben, es ſei aus Bosheit ge— ſchehen, aber dies war keineswegs der Fall, Boswell verehrte vielmehr Beide unendlich und hoffte vielleicht eine freundſchaftliche An— ) James Boswell, the Life of Samuel Johnson, edited new by Perey Fitzgerald. London 1874. Vol. III, p. 225. er) A. g. O., Vol. IH, p. 222 I. a. ., eh näherung zu Stande zu bringen. Es war auf der 1773 gemeinſchaftlich von Johnſon und Boswell unternommenen Reiſe nach Schottland und den Hebriden, als Bos— well, während man ſich nahe bei dem Orte Monboddo befand, einen kleinen Abſtecher dahin vorſchlug. Faſt wider Erwarten wil— ligte Johnſon ſofort ein, wahrſcheinlich eine kleine Reiſebeluſtigung erhoffend, man meldete ſich durch einen Boten an, und erhielt die Antwort, daß man ſehr willkommen ſei. Wahrſcheinlich wußte Monboddo damals noch nicht, wie viel der berühmte Mann ihm durch ſeine beißenden Bemerkungen im privaten Verkehr geſchadet, oder er hat es überhaupt nie erfahren. Gleich die erſten Worte führten zu einer Darlegung des prin— cipiellen Gegenſatzes und mögen Boswell keinen geringen Schrecken bereitet haben. Monboddo empfing die Gäſte nämlich am Thore ſeines zweithürmigen Stammſchloſſes, über deſſen Hauptpforte das Wappen der Douglas prangte, und ſagte nach den erſten Begrüßungen, indem man darauf zuſchritt: „In ſolchen Häuſern lebten unſere Ahnen, welche beſſere Menſchen als wir waren.“ „„Nicht doch, mein Lord,““ erwiderte John— ſon, „„wir ſind eben ſo tüchtig und ein gut Theil klüger als ſie.“ Boswell's Schrecken bei dieſer Eröffnung der Debatten war glücklicherweiſe umſonſt, denn Monboddo übte nicht blos alte Lebensweisheit, ſondern pflegte auch die alte Höflichkeit und Gaft- freundſchaft, und lenkte das Geſpräch ſofort in andere Wege. Im Tiſchgeſpräch fand ſich ſogar, als die Rede auf Homer kam, ein Berührungs— punkt und ein Gebiet, über welches Beide gleicher Meinung waren. Monboddo hatte nämlich die Bemerkung hingeworfen: „Die Geſchichte der Sitten iſt die ſchätzenswertheſte; ich legte niemals einen hohen Werth auf Krauſe, Lord Monboddo. irgend welche andere Geſchichte.“ „„Ich ebenſowenig,““ erwiderte Johnſon, „„und deshalb ſchätze ich die Biographie, welche uns darbietet, was uns ſelbſt nahe angeht, und was wir für unſern Vortheil anwenden können.““ Hier hielt Boswell die Gelegen— heit für günſtig, das Geſpräch auf dieſem neu— tralen Boden feſtzuhalten, und ſagte: „Aber im Verfolge der allgemeinen Geſchichte fin— den wir auch Sittengeſchichte. In den Kriegen lernen wir die Gemüthsart der Völker, den Grad ihrer Civiliſation und andere Be— ſonderheiten kennen.“ „„Ja,““ ſagte John— ſon, „„aber dann müſſen Sie alle die That— ſachen in den Kauf nehmen, um dies zu finden, und es iſt immer nur wenig, was Sie erlangen.“ „Und dieſes Wenige iſt es, was die Geſchichte überhaupt ſchätzbar macht,“ ſetzte Mon bod do hinzu. Johnſon ſah mit Erſtaunen, daß der Mohr, welcher ſichin Monboddo's Dienſten befand, trotz ſeiner niedrigen Stellung und ſeiner geiſtigen Beſchränktheit ſo harmlos glücklich erſchien, und dies brachte ihn wieder auf einen Differenzpunkt ihrer beiderſeitigen Anſichten. Sie begannen mit einander zu ſtreiten, ob ein Wilder oder ein Londoner Krämer glücklicher ſei. Aber Monboddo war ſo nachgiebig und ſo verbindlich, daß Johnſon außerſt befriedigt war und Beide ſich als die beſten Freunde trennten.) Alle dieſe Liebenswürdigkeit hat aber die loſe Zunge und Feder Johnſon's nicht entwaffnet, und das iſt ſchlimm, denn ihm muß man den Haupttheil der Schuld beimeſſen, wenn Monboddo in England noch heute verkannt wird. Das Urtheil ) Die ausführliche Schilderung dieſes Beſuches findet man in Boswell's „Journal of a Tour to the Hebrides“, die der obigen Ausgabe ſeiner Lebensſchilderung Johnſon's beigedruckt iſt (Vol. III, p. 243 ff.) HH eines ſcharfſinnigen Schriftſtellers und Dich— ters wiegt eben bei der großen Menge außerordentlich ſchwer, auch wenn es über Gegenſtände gefällt wurde, über die der Kritiker gar kein Urtheil beſaß. Anderer— ſeits iſt Johnſon zu entſchuldigen, denn die Aufſtellung, daß der Menſch ſich aus thieriſchen Zuſtänden zu ſeiner außerordent— lichen Leiſtungsfähigkeit emporgerungen habe, erſchien damals ſo neu und kühn, daß ein heftiger Widerſpruch entſchuldbar erſcheint, insbeſondere bei einem Manne, der, wie Johnſon, die ähnlichen Speculationen griechiſcher und römiſcher Philoſophen, wie z. B. des Porphyrius, über dieſen Gegenſtand nicht gekannt haben mag. Aber gerade dieſe geben uns den Schlüſſel für die Einheit in dem Gedankengange Mon— boddo's, der wieder an die griechiſche Philoſophie anknüpfte, und darum an ein wiederholtes Aufſteigen und Sinken der Menſchheit glauben konnte. Eine andere freilich ſehr bedenkliche Eut— ſchuldigung Johnſon's iſt ſeine Unwiſſen— heit auf naturwiſſenſchaftlichem Gebiete. Hätte er gewußt, daß die größten Natur— forſcher jener Zeit, ein Linné voran, die Meinung Monboddo's, daß die Anthro- poiden wilde Menſchen ſeien, theilten, und ebenfalls nicht den geringſten Zweifel in das Vorkommen geſchwänzter Menſchen ſetz— ten, ſo würde er doch vielleicht mit ſeinen Witzen etwas zurückhaltender geweſen ſein. Vielleicht der Erſte, der dem Genie Monboddo's als Sprachforſcher und Schriftſteller gerecht geworden iſt, war Her— der. Er ſchrieb zu einer deutſchen, in dem für uns intereſſanteſten erſten Theile freilich ſehr abgekürzten, Ueberſetzung von Schmidt“) eine Vorrede voll warmen Lobes für den Verfaſſer. Er hebt darin ) Riga 2 Bde. 1784—86. Krauſe, Lord Monboddo. ſein tiefes und gediegenes Urtheil mit Recht hervor und lobt ſeine männliche und mar— kige Sprache, die, von dem Geiſte der alten Schriftſteller genährt, weit entfernt von dem Wortgepränge der neueren ſei. Und Herder, obwohl er den echt philoſophiſchen Geiſt von Monboddo's Unterſuchungen über den Urſprung der Sprache vollſtändig an— erkannte, war noch keineswegs im Stande, ihm in dem Maße gerecht zu werden, wie wir es zu thun fähig und ſchuldig ſind. Denn da, wo Monboddo kühn von ſprach— loſen Urmenſchen und von dem nothwendigen thieriſchen Urſprunge derſelben ſprach, da konnte ihm der zwar freiſinnige, aber doch immerhin durch Amtstracht und Standes— Rückſichten behinderte Weimar'ſche General— ſuperintendent und Oberconſiſtorialrath nicht mehr folgen, und ſtimmte deshalb in die Verurtheilung dieſes — aber auch nur dieſes — Theiles ſeiner Unterſuchungen mit ein. In unſerer Zeit konnte man wohl partei— loſere Urtheile erwarten, aber im Gegen— theile bemüht ſich z. B. Zöckler ?), Her— der gegen jede Geiſtesgemeinſchaft mit „den abenteuerlichen Speculationen ſeines eng— liſchen Zeitgenoſſen“ in Schutz zu nehmen, von dem wir nichts weiter erfahren, als daß nach Monboddo die Orang-Utangs in ihren geſelligen Zuſammenkünften die menſchliche Sprache erfunden hätten! Mit dieſer abſichtlichen oder unbewußten Ueber— treibung werden dann die Herren Bleek, Schleicher, Geiger, Jäger und Caſpari auf Monboddo als ihren eigentlichen Vorgänger hingewieſen, nachdem College Herder nothdürftig entſchuldigt und reingewaſchen iſt von jeder Gemeinſchaft mit ſolchen vermaledeiten Darwiniſten. Wir *) Zöckler, Geſchichte der Beziehungen zwiſchen Theologie und Naturwiſſenſchaft. Gütersloh 187779. Bd. II. S. 244. . Krauſe, Lord Monboddo. hoffen aber, ſchon durch einen kurzen Blick auf Monboddo's Werk zeigen zu können, daß ſich die Genannten dieſes Vorgängers wahrlich nicht zu ſchämen brauchen. Indem ich nunmehr zu dem Haupt- werke Monboddo's übergehe, bemerke ich im Voraus, daß ſich die im Folgenden angegebenen Seitenzahlen und Citate auf die zweite Ausgabe deſſelben beziehen, welche unter dem oben angegebenen Titel, ebenfalls anonym, mit zahlreichen Zuſätzen und Verbeſſerungen bereits 1774 in drei Bänden erſchien. In ſeiner Vorrede ſagt der Verfaſſer, daß er auf dem Gebiete ſeines Studiums keinen Vorgänger aufge— funden habe, mit Ausnahme von Rouſſeau, der in ſeiner Abhandlung über die Un— gleichheit des Menſchengeſchlechts kurz die Frage erörtert habe „ob die Sprache mehr nothwendig für die Bildung der menſch— lichen Geſellſchaft geweſen ſei, oder die Ge— ſellſchaft für die Erfindung der Sprache.“ Nur aus Rouſſeau's Citaten kannte er Condillac's Essai sur Porigine des connaissances humaines (Amft. 1746) und wußte, daß derſelbe gleich ihm einen menſchlichen Zuſtand vorausgeſetzt habe, in welchem die Menſchen nur durch Zeichen und unartikulirte Schreie mit einander ver— kehrt hätten. Dieſe Männer ſtanden alſo vor mehr als hundert Jahren auf einem viel vernünftigeren Standpunkte, als heut— zutage Kuhl, Trumpp, Gerland, und andere Sprachforſcher, welche meinen, der Menſch ſei wie die Minerva in voller Rüſtung mit Sprache und Wiſſenſchaft aus dem Schooße der Thierheit emporgeſtiegen. „Da der Gebrauch der Sprache“, ſo beginnt Monbod do fein Buch, „als das— jenige bezeichnet wird, was uns hauptſächlich von der thieriſchen Schöpfung unterſcheidet, T und es iſt gewißlich jo, wenn wir unter 445 Sprache nicht nur bloße Töne und Worte der Sprache, ſondern die durch jene Töne bezeichneten geiſtigen Vorſtellungen verſtehen — fo ift es ein Gegenſtand würdiger Unter— ſuchung, von woher wir dieſes unterſchei— dende Vorrecht unſrer Natur erlangt haben, wie es erſtmals begann, und durch welche Stufen es den Stand der Vollkommenheit erreichte, zu dem es gebracht worden iſt, wenn nicht unter uns, wenigſtens durch andere Zeitalter und Nationen der Welt. Dieſe Unterſuchung wird um ſo intereſſanter und von größerer Merkwürdigkeit, wenn wir bedenken, daß ſie uns rückwärts zu dem leitet, was der Urſprung des menſchlichen Geſchlechts genannt wer— den darf, da wir ohne den Gebrauch von Vernunft und Sprache keine Anſprüche auf Menſchheit haben würden, noch mit Grund Menſchen genannt werden könnten, vielmehr uns begnügen müßten, mit den anderen Thieren hier unten zu rangiren, über welche wir hauptſächlich vermittelſt der Vortheile, die der Gebrauch der Sprache uns an die Hand giebt, ſo viel Superiorität gewinnen und Herrſchaft ausüben . . . Aber wenn ich trotz meiner langen Studien in dieſem unentdeckten Lande, wo ich durch keine Leuchte oder Spur geführt wurde, meinen Pfad verloren haben ſollte, ſo hoffe ich bei jedem Leſer von Geiſt und Milde auf Nachſicht, und daß er wenigſtens das Verdienſt meinem Werke zugeſtehen wird, daß ich ein neues Gebiet der Speculation eröffnet habe, in welchem ſogar meine Irrthümer von Nutzen ſein werden, indem ſie als Leucht— thürme dienen, um Männer von größerer Gelehrſamkeit und Geſchicklichkeit auf den rechten Weg zu leiten.“ Das Werk zerfällt in drei Bände, von denen der erſte den Urſprung und die Natur der erſten unvollkommenen Sprachen, der E 446 zweite die Sprache in ihrer Vollendung, Styl, Poeſie und Rhetorik, der dritte die Corruption und Verſchlechterung der Sprache behandelt. Uns intereſſirt hier we— ſentlich nur der erſte Theil dieſes umfaſſend angelegten Werkes, welcher wiederum in drei Bücher zerfällt. Von dieſen behandelt das erſte den ſprachloſen Urzuſtand des Men— ſchen, das zweite ſeine geſellſchaftliche Ver— einigung, und das dritte die Naturſprachen als Anfänge der Sprache. Das erſte Buch ſucht zu beweiſen, daß die Sprache dem Menſchen nicht von Natur gegeben, ſondern ſeine ſelbſt erworbene Fähigkeit ſei, und greift hier zu ontogenetiſchen Beweiſen zu— rück, indem Monboddo ſagt, ein Kind was auf die Welt komme, könne im eigent— lichen Sinne des Wortes weder ſehen, noch hören, noch Vorſtellungen bilden und ſprechen; alle dieſe Fähigkeiten, ſogar der Gebrauch der Sinne, vor Allem des Auges, würden erſt langſam geweckt, geübt und zur Voll— kommenheit gebracht. Je mehr Schwierig— keit dem Kinde das Sprechenlernen koſte, um ſo ſicherer müßten wir ſchließen, daß der Menſchheit dieſe Errungenſchaft lange Zeit und unendliche Mühe gekoſtet haben müſſe. „Aber“, ſetzt er hinzu*) „da wir (das Sprechen) nunmehr mit ſo vieler Leich— tigkeit vollbringen, überſehen wir die Schritte und den Weg (progress), welcher nöthig war, die Gewohnheit (habit) zu bilden, und ſchließen raſch, daß dasjenige ein Werk der Natur ſei, welches das Ergebniß langer Erfahrung und Beobachtung und vielleicht die größte Leiſtung der menſchlichen Ver— nunft iſt.“ Der Verfaſſer bemüht ſich hierauf, ein— gehend die Ideenlehre Platon's zu wider— legen; er ſtimmt den Verſen des lateiniſchen Dichters bei: rn e Krauſe, Lord Monboddo. Igneus est ollis vigor et coelestis origo Seminibus . aber dieſes göttliche Feuer ſei bei der Ge— burt ſo von dem Irdiſchen umnachtet, daß es des beſtändigen Aublaſens von außen bedürfe, um ſich zu einer lebhaften Flamme zu entwicken. Einer Welt von Vorurtheilen ſtand Monboddo gegenüber; nicht nur die Kirche, auch Pythagoras, Platon und Plotin hatten gelehrt, der Menſch ſei als ein vollkommenes Weſen erſchaffen und erſt nachher in Sünde und Niedrigkeit gefallen; hier aber ſehen wir ihn keineswegs ſeiner Vorliebe für die griechiſche Philoſophie das geringfte sacrificio dell’ intelletto bringen. „Es mag ausgemacht fein“, ſagt Mon boddo, „daß der Menſch früher vollkommen war; von dieſem vollkommenen Menſchen der Re— ligion und Philoſophie ſpreche ich nicht, ſondern von dem jetzigen Menſchen, den wir auf allen Stufen der Barbarei und Civiliſation ſehen; wenn er gefallen iſt, ſo iſt er jedenfalls ſo tief gefallen, daß er wieder mit dem Thiere rangirte und ſich von da emporarbeiten mußte. Es iſt ſicher— lich“, ſetzt er hinzu“), „keine Häreſie, zu behaupten, daß der Menſch durch ſeinen Fall ſeine intellektuellen Fähigkeiten ſowohl, als viele andere verloren hat, ſchließlich ſo weit, daß er einzig die Fähigkeit behielt, ſie wiederzugewinnen: Und anſtatt eine De— gradation der menſchlichen Natur, ſcheint es mir unſer Hauptruhm zu ſein, daß wir durch unſere eigene Vernunft und Thätig— keit im Stande geweſen ſind, dieſe geringe Stammesgrundlage (stock), welche die Na— tur in unſerem gefallenen Zuſtande uns ver— liehen hat, ſo weit zu verbeſſern und zu— letzt zum Wiedergewinn unſeres früheren vollkommenen Zuſtandes zu ſtreben, wäh— rend die Thiere in dem Stande bleiben, *) J. I. p. 136. in welchen die Natur ſie verſetzt hat, außer wenn ihre natürlichen Inſtinkte durch die Zähmung verbeſſert werden.“ Alle unſere Culturpflanzen und Haus— thiere ſeien urſprünglich wild in der Natur zu finden, und man dürfe nur die Augen aufthun, um zu ſehen, daß es mit dem Menſchen nicht anders ſei. Auch der Menſch war urſprünglich ein in Heerden lebendes wildes Thier, und ſogar in manchen Richt— ungen wilder als einige Heerdenthiere, die es ſchon zu einer Art Regierung gebracht haben, während gewiſſe Völker ohne die Spur einer ſolchen gefunden worden ſeien. Solche wilden Völker haben, wie er ſpäter zu zeigen ſucht, noch keine abſtrakten Ideen, ebenſowenig, wie ſolche bei einem Taub— ſtummen gefunden würden, den man im reiferen Alter ſprechen lehre. „Von ſolchen Anfängen indeſſen ſchritt der Menſch zur Bildung beſtimmter Ideen vor, dann zu Künſten und Wiſſenſchaften, Höflichkeit und Geſchmack. Nun, wenn darin ein Fort— ſchritt liegt, ſo muß auch ein Anfang da ſein; und der Anfang in dieſem Falle kann kein anderer ſein, als das bloße Thier: Denn indem wir den Fortſchritt rückwärts verfolgen, wo anders können wir anhalten? Wenn wir ſo viele Glieder der Kette ent— deckt haben, erlangen wir das Recht, den Reſt zu ergänzen, und zu ſchließen, daß der Anfang zu jener gemeinſamen Natur ge— hören muß, welche uns mit dem Reſt der thieriſchen Schöpfung verbindet.“ “) Auch ſei der thieriſche Intellekt nicht ſo unvoll— kommen als man glaube, ſchon Porphy— rius habe von Krähen, Elſtern, Papa— gayen und anderen Vögeln erzählt, welche nicht allein die menſchliche Sprache nach— ahmten, ſondern ſogar ihrem Pfleger während ihrer Abweſenheit im Hauſe angerichteten 9 T. I. p. 146. Krauſe, Lord Monboddo. 447 Schaden verriethen. Und er ſelbſt (Por— phyrius) habe ein Rebhuhn gezähmt, welches ſich mit ihm in einer von ſeiner gewöhnlichen unterhielt.“) Der Verfaſſer erwähnt wiederum der Taubſtummen, die trotz der Vollkommen— heit ihres Organs nicht ſprechen lernen, und der in der Wildniß aufgewachſenen Men- ſchen, von denen damals gerade einige das allgemeine Intereſſe Europa's erregt hatten, namentlich der wilde Menſch, welchen Georg J. von Hannover verpflegen ließ, und der, ob— wohl noch dreißig Jahre in England le— bend, niemals ſprechen lernte. So würden auch ganze Nationen ſprachloſer Menſchen in der Wildniß angetroffen, nämlich die Orang-Outangs im Königreich Angola (Afrika) und Aſien. In dieſem Punkte theilte Monboddo wie geſagt, das Vor— urtheil ſeiner Zeit, deren ausgezeichnetſte Männer (namentlich Linne tu. A.) die men— ſchenähnlichen Affen für wilde Menſchen an— ſahen. Die Frage der wilden Menſchen intereſſirte Monboddo natürlich im höch— ſten Grade, und er ſammelte in der That eifrig die Geſchichten über „geſchwänzte Menſchen“, welche damals noch viel häu— figer als heute von den Reiſenden erzählt wurden. Aber er hatte eben gute Gründe, dieſen Geſchichten Glauben und Gewicht bei— zumeſſen, und im VI. Bande von Linné's Amoenitates academicae fand er den Be— richt eines gebornen Schweden, Namens Keoping, der im Jahre 1647 als Lien- tenant der holländiſch-oſtindiſchen Compagnie auf einer der Nikobaren-Inſeln Menſchen mit Katzen-Schwänzen geſehen haben wollte, die das niederländiſche Schiff in kleinen Kähnen umringt hätten, um Eiſen für 9) Porphyrius, de Abstinentia lib. III. c. 4. ganz verſchiedenen Sprache 448 Papagayen einzutauſchen, und die ſich nachher als Menſchenfreſſer ausgewieſen hätten. Da man in älterer und neuerer Zeit verſucht hat, Monboddo ſpeciell wegen dieſer und ähnlicher Geſchichten, die er mit— theilt, lächerlich zu machen, ſo will ich auf dieſelben doch etwas näher eingehen, um zu zeigen, daß Mon bod do ſich hierbei nicht weniger als vorſichtiger Forſcher bewährte. Er ſchrieb an Linné, mit der Bitte, ihm zu ſagen, ob jener Autor Zutrauen ver— diene und unter welchem Titel das Ori— ginalwerk erſchienen ſei. Linné antwortete in einem von Monboddo abgedruckten höflichen lateiniſchen Briefe, daß der Ver— faſſer (Keoping) völlig vertrauenswürdig ſei und ſich in ſeinem 1743 zu Stockholm neu aufgelegten Buche in der Beſchreibung von Pflanzen und Thieren als genauer Beobachter zeige. Menſchen ſelbſt betrifft, ſo führte Linne in dieſem Briefe eine Reihe von Augen— zeugen an, die ſolche Perſonen ſelbſt geſehen, und ſchließt ſeinen Bericht mit den Worten: „Das Zeugniß eines Sehenden über das was er ſah, iſt mir mehr werth, als das— jenige von hundert Läugnern, die nichts ge- coceygis os“ fagt er, „si extrorsum ineur- glaubte, durfte wohl auch Monboddo ſehen haben.“ Nun, was ein Linné glauben, und er that mehr als blos glauben, indem er eine Anzahl wohl beglaubigter Nachrichten über das Vorkommen geſchwänzter theci, seu simiae caudatae; a qua bestia Menſchen unter uns, d. h. in Europa, ſam— melte. Wir wollen die bemerkenswerthe Stelle anführen. „Mr. Maillet, der Ver— faſſer der Beſchreibung von Egypten, ein Mann von großer Wißbegierde und Beo— bachtungsgabe, verſichert in einem Werke, welches er Telliamed betitelt hat, daß er ſelbſt mehrere Menſchen dieſer Art ſah, welche er bezeichnet und genau beſchreibt. Und ich ſelbſt Monboddo) kann amtliches Was die geſchwänzten Krauſe, Lord Monboddo. Zeugniß noch lebender Zeugen beibringen, über einen Mann zu Inverneß, einen Lehrer der Mathematik, welcher einen ungefähr einen halben Fuß langen Schwanz beſaß, den er während ſeiner Lebzeiten ſorgſam verheimlicht hatte, der aber nach ſeinem vor ungefähr zwanzig Jahren erfolgten Tode entdeckt wurde. Auch wird Niemand, der den Bau des menſchlichen Körpers und die Natur eines Schwanzes kennt, der nichts anderes als eine Verlängerung des Steißknochens iſt, darüber erſtaunt ſein, daß letztere zuweilen vorkommt. Verheyen, ein gelehrter Anatom, ſagt in ſeiner Be— ſchreibung des Os coceygis, es ſtelle gleich— ſam einen kleinen Schwanz dar, der nach außen nur bei Thieren ſichtbar ſei. Jedoch erzählen ſogar Diemerbroeck und Har— vey, Menſchen geſehen zu haben, welche an dieſer Stelle einen bis zur Länge eines Fußes hervorragenden Schwanz trugen, in— dem das Steißbein aus vielen Knochen zuſammengeſetzt war. Wenn wir Diemer— broeck aufſchlagen, ſo finden wir einen ſehr eingehenden Bericht über einen Fall dieſer Art in ſeiner Anatomie (lib. de ossibus p. 929 edit. Ultrajecti 1672) „Hoc vatum in longitudine exerescat, fit cauda, qualem, anno 1638 in infante recens nato, ad semi-ulnae longitudinem, vidi- mus, omnino similem caudae cereopi- mater, secundo tertiove ingravidationis mense, ut ipsamet nobis narravit, ex- territa fuerat. . . . Nach Aufführung meh— rerer Zeugniſſe aus dem Alterthum fährt Diemerbroeckfort: „Horum testimonia plurimum confirmat Harvaeus, de generatione animalium exerc. VI. hae historia: Chirurgus quidam, vir probus, mihique familiaris, ex India Orientali redux, bona fide mihi narravit, in insula Borneae, loeis a mari remotioribus et montosis, nasci hodie genus quoddam hominum caudatum, e quibüs aegre captam virginem (sunt enim sylvicolae) ipse vidit, cum cauda carnosa, crassa, spithamae longitudine, inter elunes re- Krauſe, Lord Monboddo.“ flexa, qua anum et pudenda operiebat. Usque adeo velari ea loca voluit natura.“ Da lernen wir alfo den großen Har— vey kennen als einen der älteſten Wieder— erzähler der ſtets neu auftauchenden Ge— ſchichte von den geſchwänzten Waldmenſchen im gebirgigen Innern Borneos. Die Art, wie ſich Monboddo mit dieſer Geſchichte abfindet, zeugt wiederum von ſeiner ſorg— fältigen, echt wiſſenſchaftlichen um eine Monſtruoſität, wie ſie auch in Europa häufig vorkomme, oder um eine ganze Raſſe geſchwänzter Menſchen handele. Aber auch im letzteren Falle ſei es möglich, daß es ſich hier nur um die Vervielfältigung einer Abnormität handle, wie z. B. die Kinder der Sechsfingrigen häufig wiederum ſechsfingrig ſeien, und namentlich in ſolchem Falle, wenn etwa beide Eltern mit der gleichen Monſtruoſität behaftet wären. Um nichts zu verſchweigen, was er von der ſus, 449 die Satyrſage der klaſſiſchen Völker auf das Vorkommen dieſer Abnormitäten beziehen, und beruft ſich hier auf den obenerwähnten Spruch des Ariſtoteles: jedes Ding, was exiſtiren kann, exiſtirt. Ein Argument, was heutzutage ſehr an Stärke gewonnen hat, kommt noch zum Schluß dieſer Zwiſchen— betrachtungen. Auch die Zwerge, ſagt er, würden in das Gebiet der Sagen und Märchen gerechnet, und doch bezeuge nicht nur Ariſtoteles, ſondern auch Nonno— der durch den Kaiſer Juſtinian als Geſandter nach Aethiopien geſendet worden war, Methode. Man könne, ſagt er, aus dem Berichte des Wundarztes nicht erkennen, ob es ſich hier Sache wiſſe, führt er dann noch die Berichte anderer Reiſender an, ſo denjenigen des Bontius, über Menſchen von Borneo mit en Schwänzen, Gemelli Carreri auf den Philippinen, Struy's (Formoſa) und Andere, die man größtentheils von Buffon zuſammengeſtellt findet. Viele derſelben beziehen ſich offen— bar auf Affen.“) Mon bod do will auch ) Die älteren Nachrichten über die An- thropoiden findet man zuſammengeſtellt in der ausgezeichneten Abhandlung Huxley's, Ueber Kosmos, III. Jahrg. Heft 6. John Intereſſe, der Natur. daß es dort eine Raſſe ſehr kleiner Menſchen gäbe.“) (Schweinfurth nn fie bekanntlich entdeckt.) Auf dieſe Auseinanderſetzung folgt eine ziemlich eingehende Unterſuchung, ob die Orang-Utangs und Jockos (Chimpanſen) wilde Menſchen ſeien, und hier ſpricht ſich ſelbſtverſtändlich Monboddo mit Linne in dieſem Sinne aus; es iſt nicht ohne die Mythen und übertriebenen Schilderungen über die Geiſtesfähigkeiten dieſer Thiere zu leſen, von denen damals nur erſt ſehr vereinzelte Exemplare nach Europa gekommen waren. Er erkennt den großen Unterſchied an, der zwiſchen dieſen wilden und den civiliſirten Menſchen beſteht, aber er behauptet, aus dem einen könne der andere hervorgehen. Auch der menſchliche Geiſt ſei ein allmählich gewordener. „Die Unterſcheidung zwiſchen Sein und Werden,“ ſagt er, „zieht ſich durch die ganze Natur, in welcher ein beſtän— diger Fortſchritt aus dem einen Zu— ſtande in den andern vorhanden iſt, und nichts gleich im Anfange das— die Nane Richte der menſchenähnlichen Affen (Zeugniſſe für die Stellung des Menſchen in Braunſchweig, 1860.). ) Photii Biblioth. cod. 3 p. m. 7. 450 jenige ift, was es ſpäter wird. Wenn nun Jemand ſagt, daß der menſchliche Ver— ſtand eine Ausnahme von dieſem Natur— geſetze ſei, ſo muß er das beweiſen. Aber dazu wird er nie im Stande ſein; im Gegentheil, er wird bekennen müſſen, daß er in einem Zuſtande unſerer Exiſtenz zu— letzt erſcheint; denn wo iſt in unſerer Kind— heit die vernünftige Seele, außer in der Möglichkeit oder Fähigkeit, erworben zu werden?“)“ Doch wenden wir uns zurück zum Hauptgegenſtande des Monboddo'ſchen Studiums, der Entſtehung der Sprache. Die erſte Vorbedingung, ſagt er mit Rouſſeau, war die Bildung eines Geſellſchaftslebens, welche ſogar in Form einer politiſchen Geſellſchaft Jahrtauſende (ages) beſtanden haben möge, ehe die Sprache erfunden war. Hier ſagt uns Monboddo, daß er ſeit langer Zeit ein Werk über die Geſchichte des Menſchen oder der Anfänge der Geſellſchaft zu ſchreiben vorhabe, aber wohl nicht dazu kommen werde, es auszu— führen. Als die Hauptnöthigung des Menſchen, ſich zu Geſellſchaften zu vereinen, führt er ſeine natürliche Schutzloſigkeit gegen— über den Raubthieren an. Die Heerden— bildung war eine Stärkung ſeiner natürlichen Poſition und darum fand ſie ſtatt; die Erfindung der Sprache brachte eine fernere Stärkung ſeiner Poſition mit ſich. Dieſen miteinanderlebenden Menſchen fehlte es an— fangs keineswegs an Ideen, ebenſowenig wie es den Thieren an Ideen fehle, allein ſie konnten ſich dieſelben nur durch Geſten und modulirtes Geſchrei mittheilen. Mon— boddo betont hier die ſchon von Con— Krauſe, Lord Monboddo. muſikaliſche Modulation belebt und ver— mannigfacht worden ſein mögen, ebenſo durch verſchiedene Länge und Betonung. Er führt die Meinung eines ſeiner Freunde, des Dr. Blacklock aus Edinburg an, der behaup— tete, die Urſprache ſei geradezu Muſik ge— weſen, eine Nachahmung der Vogelſtimmen und ſonſtiger Naturlaute. Die Sprache der Chineſen und Huronen bediene ſich noch heute verſchiedener Accente und Tonhöhen, um die Ergiebigkeit ihres relativ geringen Wortſchatzes zu erhöhen.“) Dieſe Nachahmung der Naturlaute führte aber gleichzeitig zu den Anfängen der Arti— kulation. Ariſtoteles habe geſagt, daß alles Lernen mit Nachahmen beginne, und daß der Menſch recht eigentlich das im Nachahmen geſchickteſte Thier ſei, ſo daß man es kurz das nachahmende Thier nennen könne. Monboddo lernte in Frankreich eine weibliche Perſon kennen, die in einem Walde der Champagne eingefangen worden war, und von der man glaubte, ſie habe ſich ſchwimmend an die franzöſiſche Küſte gerettet, von einem geſcheiterten Schiffe, welches ſie als Merkwürdigkeit von der Hudſonsbay nach Europa hatte bringen wollen. Dieſes Mädchen, von welchem La Condamine eine Beſchreibung heraus- gegeben hatte, kletterte wie ein Eichhörnchen auf den Bäumen umher und zog rohe Koft allem Gekochten vor, lernte aber allmählich franzöſiſch ſprechen und erzählte Mon— dillac ausgeſprochene und neuerdings von Neuem aufgeſtellte Meinung, daß die un— artikulirten Schreie der Urmenſchen durch ) T. I. p. 438. abgelauſcht. | boddo, daß aller Geſang ihrer Heimath Nachahmung des Geſanges der Vögel ſei. Wie der Menſch von der Schwalbe das Mauern und von der Spinne das Weben gelernt habe, ſo habe er den Singvögeln ihren Geſang und die Modulationen der Stimme Indeſſen meinte Monboddo nicht, wie Dr. Blacklock, daß die Urſprache Md 469 ff. Krauſe, Lord Monboddo. ein völliger Geſang geweſen ſei, ſondern nur, daß man den einzelnen Ausrufen durch die verſchiedene Tonhöhe eine verſchiedene Bedeutung gegeben habe. Die Lippen, Zunge und andere Mundwerkzeuge ſeien anfangs wenig betheiligt geweſen, die Töne wurden einfach von dem Kehlkopf gebildet und durch die Gurgel modulirt; noch heute finde man bei den niedern Raſſen ſolche gurgelnde Sprachen, und die Huronen | ſogar ermangelten der Lippen- und Naſenlaute (b, p, f, v, m, m) in ihrer Sprache, und könnten ſie nicht ausſprechen. Er bezieht fich hier auf die Forſchungen von Gabriel Sagard über die Huronen— ſprache. Aber einerſeits der Zwang des Lebens, andererſeits die Nachahmung der Thierſtimmen zwang den Menſchen ſich in der Artikulation zu üben, und hier bereits wird darauf aufmerkſam gemacht, daß die Krähe in allen Sprachen nach ihrem Schrei benannt ſei, und daß nicht nur bei uns der Kukuk, ſondern auch der Cochatoo in Weſt— indien einfach durch Nachahmung ſeines Naturlautes benannt werde. Aber auch andere Töne wurden nachgeahmt, wie es die ſchallnachahmenden Worte der modernen Sprachen beweiſen, z. B. im Engliſchen crack, snap, crash, murmur, gurgle u. ſ. w.) So wuchs der Wortſchatz von Tag zu Tage. Es iſt merkwürdig, in dieſen Ideen eine Menge Beobachtungen niedergelegt zu finden, die wir in den Schriften neuerer Fachmänner einfach wieder— holt finden. Aber in vieler Beziehung geht er ſogar weit über die jetzt allgemein angenommenen Grundſätze hinaus; ſo z. B. indem er die noch heute verbreitete Meinung widerlegt, daß die Sprache urſprünglich aus vor— wiegend einſilbigen Worten, ſogenannten 9 T. I. p. 489—498. 451 Wurzelwörtern beſtanden habe. Weder aus einfilbigen Worten, noch überwiegend aus Conſonanten gebildet ſeien die Naturſprachen, im Gegentheil die einzelnen Worte reich an Silben und Vokalen. In neuerer Zeit hat unter andern unſer gelehrter Freund Prof. Alexander Maurer aus Genf) genau die nämliche Anſicht begründet. Die Spra- chen der Huronen, Algonkin's in Nord— amerika, der Cariben in Mittelamerika und der Galibis in Südamerika, ebenſo die Inka-, die Eskimo- und die Dtaheiti- Sprache ſeien reich an Vokalen, ja einzelne Worte derſelben beſtänden nur aus Vokal— häufungen, wie die Worte eaee, aiai, eoo der Otaheiter. Der andere Punkt, die Länge der Worte, erkläre ſich durch Nach— ahmung der Thierſchreie, die oftmals ſehr ausgedehnt ſeien, wie z. B. das Schreien der Eſel, Pferde, Ochſen u. ſ. w. So ent- ſpreche nach Dobbs bei den Eskimos das lange Wort won-na-we-uck-tuck -luit unſerm viel und ein nur wenig kürzeres Wort mik-ke-u-awk-rook heiße klein. Das Zahlwort drei laute nach Condamine bei den Amazonas-Indianern poctazzaro- rincouroac. Aehnliche Beiſpiele werden in Menge aus der Irokeſen-Sprache beigebracht. Einſilbige conſonantenreiche Sprachen, wie chineſiſche und hebräiſche, ſeien weit entfernt Naturſprachen zu ſein, vielmehr das End— ergebniß künſtlicher und ſyſtematiſcher Ab— kürzung.“ “) Sehr intereſſant und nachdenklich ſind ferner die Kapitel VIII und IX des dritten Buches, in denen er die Entſtehung der formalen Gliederung und der Grammatik der Sprachen ſchildert. Er zeigt, wie die Urſprachen viel wortreicher ſein mußten, um dem kleinen Bedürfnißkreiſe zu genügen, *) Kosmos Band II. S. 225 fk. ) T. I. p. 499 — 514. Krauſe, Lord Monboddo. denn da Flexion und Syntax fehlte, ſo mußten ſie z. B. für jede Nüancirung ein beſonderes Wort haben; beſondere Worte für meine, deine, ſeine Hand, für ich ſage, — du ſagſt, — ich ſage es, — ich ſage es ihm u. ſ. w., beſondere Worte für ganze Sätze: ich, er weiß es, oder ich weiß es nicht u. ſ. w. Ganze Seiten der Huronen— Vokabularien ſeien mit Verbalformen gefüllt, wie „Thiere zerſchneiden“, „Holz ſchneiden“, „Kleider zerſchneiden“, „Köpfe abſchneiden“, für jede Operation hatten ſie ein anderes Wort. Dieſer Luxus war möglich, ſo lange offenbarte, ſo könne es nur eine gegeben haben, die ſich in Dialekte zerſplitterte oder theilweiſe ganz verloren ging. „Aber wenn man auf der anderen Seite annimmt, die Sprache ſei eine Erfindung des Menſchen (und dies iſt diejenige Annahme auf der ich weiterbaue), ſo ſehe ich keinen Grund für den Glauben, daß ſie einzig von einer Nation und in einem Theile der Erde erfunden worden wäre, und daß alle die verſchiedenen in Europa, Aſien, Afrika und Amerika und in der neu entdeckten Südſee— ein kleiner Wortſchatz ausreichte, aber mit ſeinem Wachsthum ſtellte ſich von ſelbſt die Nothwendigkeit einer Vereinfachung dar, und die dürfte nicht wenig Mühe und Zeit ge— koſtet haben. Was die ſchon von Horaz ventilirte Frage betrifft, ob nomina oder verba älter ſeien, ſo entſcheidet er ſich für das höhere Alter erſterer, und glaubt mit Dr. Smith, der bald nach ihm über die Anfänge der Sprache geſchrieben hatte, daß zuerſt die Dinge der näheren Umgebung mit Namen belegt worden ſeien, die Perſonen, Jagd— thiere, Bäume u. ſ. w. Dieſe Namen ſeien erſt Individuen-Namen geweſen, darnach zu Art- und Gattungsnamen geworden. In— deſſen ſind der guten Bemerkungen um die Ausbildung der Sprache zu viele, als daß ich hier auch nur eine leiſe Idee von dem Gedankenreichthum des Werkes geben könnte und ich beſchränke mich darauf, nur noch an— zuführen, wie ſich der Verfaſſer zu dem da— mals und noch in unſerem Jahrhundert viel erörterten Problem der Urſpirache ſtellte. Halte man, ſagte er, die Urſprache für eine ee welt geſprochenen Sprachen, von dieſem ge— meinſamen Ahnen abzuleiten ſeien. Dem— entſprechend habe ich immerfort nicht von einer Urſprache, ſondern im Allgemeinen von ſolchen geſprochen. Gleichzeitig bin ich fern von der Meinung, daß jede Nation die von ihr gebrauchte Sprache ſelbſt er— funden habe. Ich bin im Gegentheil über— zeugt, daß eine ſo ſchwierige Kunſt, wie die Sprache, nicht die Erfindung vieler Natio— nen geweſen, aber einmal erfunden und ihrer Natur nach von langer Dauer und leichter Mittheilbarkeit, konnte ſie nach Ländern ver— breitet werden, die ſehr entfernt waren von dem, wo fie zuerſt erfunden wurde.“ “) Durch dieſen kurzen Auszug glaube ich zweierlei gezeigt zu haben, nämlich erſtens, daß Monbod do keineswegs der Phantaſt war, für den man ihn gewöhnlich ausge— geben findet, und zweitens, daß es eine dankbare Aufgabe für einen Sprachforſcher wäre, ſeine Leiſtungen eingehender zu wür— digen. Ob dies möglicherweiſe bereits ir— gendwo geſchehen iſt, blieb mir unbekannt. ) J. J. p. 579. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Die Oberfläche des Mars. u den ſchon früher von uns mit getheilten Beobachtungen aus der Jahre 1877 iſt in einem unlängſt er— ſchienenen Buche des berühmten italieniſchen Aſtronomen Schiaparelli k“) ſo werthvolles neues Material gekommen, daß wir uns veranlaßt ſehen, einem ſehr ausführlichen Berichte des Dr. J. Holetſchek über dieſes Buch in der trefflichen Arendts'ſchen Rundſchau für Geographie und Statiſtik (Juli 1879) noch einige Einzelnheiten zu entnehmen. Wir übergehen hierbei zunächſt alles kartographiſche Detail, und halten uns an die allgemeinen Bemerkungen, welche bei der großen Aehnlichkeit der Verhältniſſe des Mars mit denen der Erde ein erheb— liches Intereſſe darbieten: „Von den beiden Polarflecken war im Jahre 1877 nur der ſübliche ſichtbar. Was nun vorerſt ſeine Lage betrifft, ſo gelangt Schiaparelli zu einer neuen Beſtätigung des ſchon von Linſſer aus— ) Kosmos Bd. III. S. 168 *) Osservazioni astronomiche e fisiche sull'asse di rotazione e sulla topografia dell’- planeta Marte. Roma 1878. San Studium überaus begünftigenden | Oppoſitionsperiode des Mars im geſprochenen Satzes: „Während der ver— ſchiedenen Solſtitien, welche für die ſüdliche Mars -⸗Hemiſphäre ſtattfinden, nimmt der ſüdliche Polarflecken, wenn er auf ſeinen kleinſten Umfang reducirt iſt, auf dem Pla— neten immer ungefähr dieſelbe Stelle ein.“ ... Hinſichtlich der Veränderungen in der Größe des ſüdlichen Polarfleckens er— ſtrecken ſich die Meſſungen Schiaparelli's vom 23. Auguſt bis 4. November 1877. Die allmähliche Abnahme des Fleckens zeigte ſich außerordentlich deutlich. Ende Oktober und Anfangs November war derſelbe ſo ſehr zuſammengeſchrumpft, daß zu erwarten ſtand, er werde von einem Tag auf den andern ganz verſchwinden. Das geſchah aber nicht; der Flecken blieb immer ſicht— bar. Mitte December ſchien er ſogar wieder zuzunehmen. . .. Vom Januar an wurde es immer ſchwieriger, die Exiſtenz des Schneefleckens zu conſtatiren, weil er für uns allmählich eine ſchiefe Lage einnahm und auch der Schatten mehr und mehr hereinbrach; überdies wurden auf dieſer Seite die Nebel bemerkbar, welche die ganze Polargegend hell machten und durch ihren Schimmer die Grenzen des Fleckens ver— wiſchten. Aus der ganzen Beobachtungs- reihe ergibt ſich aber, daß der weiße Flecken Ende November oder Anfangs December ſein Minimum erreichte und von da wieder 454 u langſam zu wachſen begann. Für die Schneezone des Mars findet ſomit dasſelbe ſtatt, was wir auf den entſprechenden Zonen der Erde beobachten. Es iſt bekannt, daß die der Polarſchifffahrt günſtigſte Zeit ſpäter eintritt als das Sommerſolſtitium. Auf Mars hat die ſüdliche Hemiſphäre am 18. September ihre Sommer - Sonnenwende, worauf am 22. Februar des nächſten Jahres die Nachtgleiche ſtattfindet; die Verſpätung beträgt alſo ungefähr 2½ Monate. Auf der Erde iſt der entſprechende Zeitraum etwas kürzer, weil hier auch die Jahreszeiten eine geringere Länge haben. Die Geſtalt des ſüdlichen Polarfleckens, der anfänglich ſtets als Kreis erſchien, war vom 24. September an fortwährenden Schwankungen unterworfen. Vom 24. September bis 4. Oktober zeigte ſich der Flecken als ein nach Größe und Geſtalt wechſelndes Oval; vom 10. Oktober bis 4. November hatte er die Form eines unregelmäßigen Dreieckes mit zum Theil ſcheinbaren, zum Theil auch reellen Ver— änderungen, welche ſehr leicht als einfache Verſtümmlung oder Zerſplitterung der vor— hergehenden Figuren erklärt werden kön— nen; es iſt ſomit kein Grund zu der An— nahme vorhanden, daß der ganze Polarflecken frei herumſchwimme, während er ſtückweiſe auf- und niedertauche. In Bezug auf die Natur dieſes Fleckens iſt es klar, daß derſelbe kein permanentes Objekt fern kann, wie etwa ein großes Lager von weißem Quarz oder Carrara— Marmor. Seine Ausdehnung iſt mit dem Ort des Mars in ſeiner Bahn innig ver— knüpft; ſie iſt, wie ſchon geſagt, am kleinſten ungefähr 2½ Monate nach dem ſüdlichen Solſtitium des Planeten, alſo zu einer Zeit, in welcher nach den Erfahrungen auf unſerer Erde dort die höchſte Temperatur Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. herrſchen muß. Für den andern Pol finden in den entgegengeſetzten Epochen dieſelben Verhältniſſe ſtatt. Auch die Erde hat an ihren Polen ſolche weiße Flecken, deren Umfang etwa zwei Monate nach jenem Solſtitium am kleinſten iſt, welches ihnen die wärmere Jahreszeit bringt. Dieſe Analogie iſt offenkundig und vollſtändig; wir können uns demnach mit voller Berechtigung auch die Polarflecken des Mars dadurch entſtanden denken, daß Dämpfe, die ſich in der Atmo— ſphäre des Planeten befinden, in den feſten Aggregationszuſtand übergeführt werden; dieſe Dämpfe ſind nach den ſpektroſkopiſchen Unterſuchungen von Vogel höchſt wahr— ſcheinlich Waſſerdämpfe. . .. In welcher Weiſe mag dieſe Schnee- oder Eiskruſte auf der Oberfläche des Planeten aufruhen? Die Schneefelder der Polar- gegenden unſerer Erde ziehen ſich über Inſeln hin und ſind in ihren Bewegungen vielfach behindert; nur wenn ein Theil zerbricht, kann eine merkliche Verſchiebung eintreten, wie es bei den Eisſchollen der Fall war, welche die Verſuche Parry's, den Pol zu erreichen, fruchtlos machten, oder bei jenen, welche den „Tegetthoff“ weiter führten. Der Umſtand, daß die Schnee— flecken des Mars viele Wochen hindurch an derſelben Stelle verblieben, mehr aber noch das Verharren der letzten Ueberreſte auf dem nämlichen Orte während der ſommerlichen Schmelzungen in den Jahren 1830, 1862 und 1877 ſcheint anzuzeigen, daß die Schnee-Calotte dem feſten Grund des Planeten anhaftet. Dieſe Adhärenz wird vielleicht, wie auf der Erde, dadurch bewirkt, daß die gefrornen Maſſen auf Inſeln und Klippen feſtſitzen, oder ſie rührt einfach daher, daß ſich dieſelben in Folge ihrer Schwere auf den Grund des Polar— meeres ſtützen; es wird ſpäter gezeigt werden, . ͤ 302 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. daß die Meere des Mars, wenigſtens an einigen Stellen, nur eine ſehr geringe Tiefe haben. Die außerordentlich kleine Fläche, auf welche ſich der Polarſchnee im Jahre 1877 reducirt hat, iſt gleichfalls eine beachtens— werthe Thatſache. Auf der Erde ſind die Verhältniſſe anders; hier haben es wohl die arktiſchen Eismaſſen geſtattet, in der einen Richtung bis zum 84. Parallel vor— zudringen, während in der andern der Schnee auch im Sommer bis unter den 62. Grad herab liegen bleibt, wie z. B. im ſüdlichen Grönland; im Winter bedecken ſich weite Landſtriche auch noch unter dem 45. Breitengrad mit Schnee. Im Gegenſatz hierzu kann ſich auf Mars die Schneefläche ſo ſehr verkleinern, daß der Südpol ganz unbedeckt bleibt, und das iſt auch ſicher eingetreten Ende Oktober oder Anfangs November 1877. Nachdem nun Schiaparelli ſeine Be— obachtungen und Anſichten über die Lage, Größe, Geſtalt und Natur des ſüdlichen Polarfleckens mitgetheilt hat, wendet er ſich zur Atmoſphäre des Mars. Die An— weſenheit derſelben erkennt man aus drei verſchiedenen Umſtänden: 1) aus der größern Helligkeit, welche der Rand der Planeten— ſcheibe im Vergleich mit den centralen Partien hat; 2) aus der geringern Deut— lichkeit, in der ſich die Flecken manchmal zeigen, wenn ſie ſich dem Rande der Scheibe nähern; 3) aus vorübergehenden Trübungen, welche über manchen Gegenden eintreten und nur als Nebel oder Wolken, ähnlich den irdiſchen, gedeutet werden können. Hierher muß man wohl auch die Veränderlichkeit des Polarfleckens rechnen, da man dieſelbe ohne Annahme von Umwälzungen in einer Atmoſphäre des Planeten nicht leicht erklären könnte. 455 Der dritte von dieſen Punkten führt uns zu den meteorologiſchen Vorgängen auf der Mars-Oberfläche. Ueber den dunklen Flecken zeigen ſich häufig etwas lichtere, aber rauchartige Streifen oder Narben mit un— deutlicher Begrenzung und wechſelnder Geſtaltz dies ſind von der Sonne ſtark beſchienene Wolken, von denen wir den obern Theil ſehen. Manchmal ſind ſie ſo glänzend wie die helleren Partien des Planeten, gewöhnlich aber minder hell, aber doch immer lichter als der Grund, über dem ſie ſich befinden. Bisweilen löſen ſie ſich in parallele Streifen auf, was uns auf die Exiſtenz von Winden ſchließen läßt. Vergleicht man die bisherigen Beobachtungen mit einander, ſo drängen ſich folgende bemerkenswerthe Thatſachen von ſelbſt auf: 1) die Beziehung, in der die Communicationscanäle zwiſchen dem ſüd— lichen Meere und den Meeren der gemäßigten Breiten zu der Vertheilung der ſüdlichen Polarnebel ſtehen; 2) die Anhäufung von Nebeln über den „dunklen Ländern“ (Un— tiefen?); 3) die große Durchſichtigkeit vieler Nebel, aus der man ſchließen muß, daß ihre Dichte oder ihre Mächtigkeit in ver— ticaler Richtung nur gering iſt; 4) die all— mähliche Verdünnung der über den Aequator— Ländern befindlichen Nebelſchleier während der Zeit vom ſüdlichen Solſtitium bis zum darauffolgenden Aequinoktium: 5) die Heiterkeit, welche über den Binnenmeeren in der auf das ſüdliche Solſtitium unmittel— bar folgenden Epoche ſtets geherrſcht hat. Von einer äquatorialen Regen- oder Calmen-Zone war auf dem Planeten nichts zu bemerken; die diesbezügliche Gegend blieb ſogar während der ſtärkſten Inſolation faſt ganz wolkenlos. Es ſcheint ſomit, daß die meteorologiſchen Vorgänge auf Mars mit denen unſerer Erde im allgemeinen nicht viel Analogie haben und ſich bedeutend ha nn ni el 456 einfacher abſpielen. Etwa in Weiſe: Zur Zeit der Sonnenwende findet auf der einen Hemiſphäre faſt ausſchließlich Ver- dampfung, auf der andern Verdichtung ſtatt. In den dazwiſchen liegenden Epochen ſcheint die Zone der Verdampfung im Süden und Norden durch zwei Gebiete begrenzt zu ſein, in der ſich die Dämpfe wieder verdichten. Auf die Breite dieſer Zonen in den verſchiedenen Jahreszeiten hat nicht nur die Declination der Sonne, ſondern ſicher auch die Vertheilung der Länder und Meere einen großen Einfluß; die erſteren ſcheinen vorzugsweiſe die Wolkenbildung zu begünſtigen, während mit den zweiten gewöhnlich eine größere Reinheit der Atmo— ſphäre verbunden iſt, die ohne Zweifel dieſelben Urſachen hat, welche auf der Erde analoge Erſcheinungen hervorufen. denſelben lagern. Gehen wir nun zur eigentlichen Ober— fläche des Mars, zu ſeinen zwei (oder genauer drei) Gattungen von Flecken. Die dunklen Flecken bilden alles Das, was gewöhnlich als Meer (mare) bezeichnet wird. einander durch dunkle, mehr oder minder Es iſt ja bekannt, daß die Schiffer häufig die Inſeln ſchon aus weiter Ferne an den Wolken oder Nebeln erkennen, die über folgender Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. aber, wenigſtens auf der ſüdlichen Halbkugel, eine gewiſſe Beziehung zur areographiſchen Breite zu haben und vom Aequator gegen die Pole hin abzunehmen. . .. Worauf ſtützt ſich die Hypotheſe, daß dieſe dunklen Flecken Meere ſeien? Die Anweſenheit von Polarſchnee, von Wolken und Nebel beweiſt, daß ſich in der Atmo— ſphäre Dämpfe bilden und wieder verdichten. Eine ſolche Circulation kann wohl nicht ausſchließlich in den höheren Luftregionen vor ſich gehen, es muß auch die Oberfläche des Planeten mitwirken. Die in den flüſſigen Zuſtand übergeführten Dämpfe ſammeln ſich an tieferen Stellen und bilden Meere oder mindeſtens Seen. Die Wege, auf denen die flüſſigen Maſſen nach ſolchen Becken gelangen, können nur die Geſtalt von Bächen oder Strömen haben. Werfen wir einmal die Frage auf, welchen Anblick unſere Erde einem auf Mars befindlichen Beobachter darbieten dürfte? Die Continente reflektiren einen großen Theil der Sonnenſtrahlen und werden ſomit hell erſcheinen; die Meere jedoch abſorbiren faſt das ganze Licht, ſo daß ſie in weiter Ferne nur als dunkle Flecken wahrgenommen werden können. Beide Planeten haben alſo, wenigſtens in dieſer Beziehung, dasſelbe Ausſehen, was uns zu Sie ſind nicht iſolirt, ſondern hängen unter | ſichtbare Streifen zufammen und überziehen ſo den Planeten vollſtändig mit einem Netz, während ſie zwiſchen ſich helle Strecken frei laſſen, welche die Geſtalt von Inſeln haben. Die Grenze zwiſchen den dunklen Flecken und den lichten Gegenden iſt faſt wenigen Stellen geſchieht der Uebergang vom vollen Licht zum tiefen Schatten ſtufen— weiſe. Die Intenſität der Dunkelheit auf | der Annahme führt, daß die dunklen Mars— flecken Meere, die hellen dagegen Continente und Inſeln ſind. Die verſchiedene Dunkelheit dieſer Mars— Meere kann in einer Differenz der Tiefe oder Durchſichtigkeit oder auch in der che— miſchen Zuſammenſetzung ihren Grund haben. Auf der Erde iſt dieſe Verſchiedenheit durch durchgehends eine ſcharfe Linie und nur an den Salzgehalt bedingt, der im Allgemeinen mit der geographiſchen Breite abnimmt, wes— halb auch unſere Polarmeere heller ſind als die tropiſchen. Dasſelbe Verhältniß zeigen dieſen Flecken iſt ſehr mannigfaltig, ſcheint nun auch die Meere des Mars, was einen Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. neuen Beleg für die Richtigkeit der Hypotheſe liefert. Ein weiteres Argument dafür iſt das weitläufige Netz von dunkeln Streifen, durch welche dieſe Meere zuſammenhängen; ihre Färbung muß von derſelben Urſache herrühren, welche den Meeren ihre Farbe giebt. Die Streifen können demnach nur Verbindungscanäle oder Meerengen ſein. Sehr bezeichnend iſt der Umſtand, daß die Canäle ſich gegen das Ende hin allmählich erweitern und häufig in größere Meerbuſen Das Netz von Meeren und Canälen macht ganz den Eindruck einer ausmünden. Ueberſchwemmung, die zwar zur völligen Bedeckung der Oberfläche nicht ausreicht, aber doch genügt, um keine allzu großen Flächenräume ungetheilt zu laſſen. Auf dem Monde finden ſolche Verhältniſſe nicht im entfernteſten ſtatt. . . . Gegen die Behauptung einer Anweſen— | heit von Meeren auf der Oberfläche des Mars wurde ſchon der Einwand erhoben, daß man in dieſem Falle eine Spiegelung der Sonne beobachten müßte. daß die Mars-Meere daſſelbe Brechungs— vermögen haben wie das Waſſer, es hätte das reflektirte Sonnenbild zur Zeit der Oppoſition wie ein Fixſtern dritter Größe erſcheinen müſſen. Ein ſo heller Stern kann nun freilich ohne weiteres geſehen werden; es iſt aber nicht wahrſcheinlich, daß die Meere ſo ruhig ſind, wie es zur Erzeugung eines ſcharfen Bildes erfordert wird; auch iſt die Exiſtenz von Winden ziemlich ſicher nachgewieſen. Schon ein ſchwaches Kräuſeln des Seeſpiegels löſt das eine Bild in eine Unzahl von kleinen Bildchen auf. Wenn nun auch die Summe der einzelnen Licht— intenſitäten von der des Hauptbildes nicht ſehr verſchieden iſt, ſo wird dieſelbe doch über einen weiten Raum vertheilt fein, In der That findet Schiaparelliunter der Vorausſetzung, 457 deſſen Ausdehnung von der Geſtalt der Wellen und der Neigung ihrer Seiten ab— hängt; die Entſtehung von hohen und ſteilen Kämmen würde aber jedes Bild gänzlich zerſtören. Es iſt nun ſehr leicht denkbar, daß ein ſolches Bildchen unter dieſen Umſtänden gar nicht wahrgenommen werden kann. Die lichten Flecken des Mars ſind nun auch ſchon gleichzeitig mit den dunklen Flecken abgehandelt und im Gegenſatze zu denſelben als Feſtland bezeichnet worden; nur über ihre Färbung ſei noch Folgendes er— wähnt. Obwohl ſie von den Meeren und auch von den im nächſten Abſatz zu beſpre— chenden untergetauchten Ländern ſich deutlich durch ihre Helligkeit abheben, zeigen ſie doch nicht alle denſelben Glanz und dieſelbe Farbe, wenn man auch, wie es ja natürlich iſt, vom Polarflecken abſieht. Den allgemeinen Anblick des Planeten ſchildert Schiaparelli als ein Helldunkel, wie es mit chineſiſcher Tuſche auf einem lichten Grund von der Farbe eines mehr oder weniger gebrannten Ziegel hervorgebracht wird. Da die Länder ſehr oft mit Wolkenſchleiern überzogen ſind, welche die Leuchtkraft noch vermehren, fo wechſelt ihre Helligkeit. . . . Auch auf der Erde kann die Tageshelle durch die von der Sonne beſchienenen Wolken oft bedeutend verſtärkt werden, was für die photographiſche Praxis von großer Wichtigkeit iſt. Außer den zwei Hauptgattungen von Flecken zeigen ſich auf der Mars-Oberfläche überdies Regionen von mittlerem Lichtton, die zwar heller als die Meere, aber doch, wieder beträchtlich dunkler als die benach— barten Länder ſind. . . . Was mögen nun dieſe Partien ſein? Wollte man annehmen, daß die Marsflecken überhaupt nur von der verſchiedenen Färbung eines feſten Bodens herrühren, ſo würde natürlich dieſer Wechſel ze Kosmos, III. Jahrg. Heft 6. in der Schattirung keiner beſondern Erklärung bedürfen; Mineral- und Pflanzenreich können alle möglichen Farbenabſtufungen hervor- bringen. Weil wir uns aber ſchon der Anſicht zugeneigt haben, daß die Helligkeits— unterſchiede durch das Vorhandenſein flüſſiger Maſſen verurſacht werden, ſo können wir auch für den jetzigen Fall eine ganz natur— gemäße Erklärung finden; wir haben nur die geringere Dunkelheit als Ergebniß einer minderen Abſorption der Sonnenſtrahlen in dieſer Flüſſigkeit zu betrachten und die fraglichen Stellen als ſubmarine Bänke oder Untiefen zu bezeichnen. Im Laufe der Beobachtungen häuften ſich die Nebel gewöhnlich an dieſen halbdunklen Stellen an; hier dürfte alſo eine andere Temperatur herrſchen als über dem angrenzenden Meere, was man in ganz analoger Weiſe auch bei den ausgedehnten Sandbänken auf der Erde beobachtet. ... Wenn wir dieſe beſchatteten Länder als untergetauchte Regionen betrachten, ſo können wir auch eine Vermuthung über die Tiefe des Meeres ausſprechen, von dem ſie bedeckt werden. Nach den Unterſuchungen von Secechi kann man im Mittelmeer einen Gegenſtand von beſchränkten Dimenſionen in einer Tiefe von mehr als 60 Metern nicht mehr ſehen, wenn auch ſeine Ober— fläche hellweiß iſt. Es ſcheint jedoch, daß die allgemeine Färbung des Grundes auch noch in größerer Tiefe wahrnehmbar iſt, wie denn z. B. die Agulhas-Bank an der Südſpitze von Afrika auf die Farbe der Meeresoberfläche nicht unbedeutend einwirken ſoll, obſchon fie 100 — 200 Meter unter dem Seeſpiegel liegt. Jedenfalls muß man aber unter der Vorausſetzung, daß die Mars— Meere ebenſo durchſichtig find wie die unfrigen, zu dem Schluß kommen, daß die Höhe der Gewäſſer über den Untiefen nur gering Ss Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. iſt; dieſe Folgerung wird durch den Ein— fluß beſtätigt, den ſolche Regionen in un— zweifelhafter Weiſe auf die atmoſphäriſchen Erſcheinungen üben. Ebenſo kann die Tiefe vieler Canäle des Mars nicht bedeutend ſein, da ſie ſich trotz ihrer Breite nur matt gefärbt zeigen. . .. Sehr intereſſant ſind die Bemerkungen Schiaparelli's über die allgemeine Struktur des Mars und einige auffällige Configurationen auf ſeiner Oberfläche, welche beſonders für die Geologie Wichtigkeit haben und in folgenden ſieben Sätzen zu— ſammengeſtellt ſind. 1. Der größte Theil der Länder liegt in einer fortlaufenden äquatorialen Zone, welche den ganzen Planeten umgiebt, ohne durch ausgedehnte Meer unterbrochen zu ſein. 2. Auf der ſüdlichen Hemiſphäre ſind die Ländergebiete in zwei Zonen angeordnet, welche mit der vorigen parallel laufen. Der erſte zieht ſich zwiſchen dem 30. und 60. Breitengrad hin, während die zweite blos von den beiden durch die „Meerenge des Ulyſſes“ getrennten Inſeln „Thyle“ gebildet wird. 3. Zwiſchen den äquatorialen und der ſüdlichen gemäßigten Zone liegt eine Reihe von Binnenmeeren, welche durch lange, zum Theil unterſeeiſche Halbinſeln unterbrochen ſind und ſämmtlich eine Richtung von Nord— | weit nach Südoſt haben. Dieſe Richtung müßten auch die von der Rotation des Planeten abhängenden Paſſatwinde und Meeresſtrömungen einſchlagen; es drängt ſich daher die Vermuthung auf, daß dieſe Einſchnitte ein Werk des Meeres und der Atmoſphäre ſind, während die Halbinſeln als Ablagerungen einer langſam fortſchrei— tenden Bildung oder vielleicht als Rückſtände einer Eroſionsthätigkeit betrachtet werden können. 4. Wo ſich dieſe Halbinſeln an die Kleinere Mittheilungen und Journa continentalen Zonen anſchließen, münden an ihren beiden Seiten geräumige Canäle, welche jene Zonen durchziehen. . . . Dieſes Geſetz gilt auch für die Verbindungen dieſer Halbinſeln mit den Ländern der ſüdlichen gemäßigten Zone, natürlich nur dort, wo eben ein ſolcher Zuſammenhang wirklich beſteht. 5. Die Canäle, von denen die äqua— toriale und die ſüdliche gemäßigte Zone durchzogen ſind, liegen größtentheils in der Richtung des Meridians. 6. Die Aequatorzone iſt abermals in Zonen geſchieden durch ſehr lange Canäle, die in der Richtung eines Parallelkreiſes liegen. Dieſe Canäle bilden um die Mars— kugel herum einen vollſtändigen Gürtel, der im allgemeinen dem nördlichen Pol näher iſt als dem ſüdlichen; ſie weichen von ein— ander vielfach in der Breite und, wie ſchon angedeutet wurde, auch in der Tiefe ab. 7. Große zuſammenhängende continentale Gebiete kommen auf dieſem Planeten nicht vor, ſondern ſeine ganze trockene Oberfläche iſt durch viele Canäle in eine außerordent— lich große Zahl von Inſeln geſchieden. Dieſe ſonderbare und unerwartete Vertheilung von Meeren und Continenten, weicht vollſtändig ab von dem, was unſere Erde darbietet. Während der Beobachtung ſchienen ſich die Canäle manchmal zu verbreitern und in Rauch aufzugehen, ſo daß ſie faſt gar nicht mehr wahrgenommen werden konnten, eine Erſcheinung, die ſich am natürlichſten durch die Annahme erklären läßt, daß die größeren Canäle wiederum aus vielen andern, kleineren, beſtehen, welche zu ſchmal und zart ſind, um einzeln geſehen zu werden. Das iſt aber noch nicht Alles. erreignete es ſich zwei- oder dreimal, daß die Atmoſphäre auf einige Augenblicke faſt ganz ruhig war. Da ſchien ſich auf ein- Im Oktober 1877 mal ein dichter Schleier von dem Planeten wegzuheben und ſeine Oberfläche zeigte ſich wie eine vielfach verſchlungene, mehrfarbige Stickerei. Dieſe Einzelheiten waren aber ſo zart und die günſtigen Momente ſo flüchtig, daß es nicht einmal möglich war, ſich eine klare und ſichere Vorſtellung von dem Geſehenen zu bilden und nur der un— beſtimmte Eindruck eines engen Netzes von feinen Linien und ſehr kleinen Flecken im Gedächtniſſe zurückblieb. Auf Mars iſt alſo die Scheidung des feſten und flüſſigen Elementes nicht ſo ſtreng wie auf der Erde. Sind ſeine Inſeln vielleicht Bänke, welche aus einem weit aus— gedehnten Sumpflande hervorragen, oder etwa Klippen, die durch ein Syſtem von Spalten in der Mars-Rinde getheilt find? Das Eine iſt für jetzt ebenſo wahrſcheinlich wie das Andere; vielleicht iſt aber die Zeit nicht mehr ferne, wo man auch auf ſolche Fragen eine zufriedenſtellende Antwort geben kann. Ein genaues Studium der Mars-Ober— fläche iſt nicht nur für die Geſchichte der planetariſchen Bildungen überhaupt, ſondern auch für die terreſtriſche Geologie insbe— ſondere von großem Nutzen. Der Mond iſt ein von der Erde ſo ſehr verſchiedener Körper, daß wir aus ſeiner Beſchaffenheit nur wenig Anhaltspunkte für die Geſchichte unſeres eigenen Planeten gewinnen können. Mars verheißt uns in dieſer Beziehung viel mehr. Aber nicht nur die Ge— ologie, ſondern auch die Meteorologie der Erde kann durch ſorgfältige Beobachtungen dieſes Planeten manche Aufſchlüſſe erhalten. So wiſſen wir z. B. über die Schneefelder des Mars ſchon viele Dinge, die wir in den Eisrinden der Erdpolgegenden bisher vergebens zu erforſchen ſuchten. Und obwohl die meteorologiſchen Erſcheinungen auf Mars lſchau. 459 | 2 460 im Allgemeinen von den unſrigen abweichen, ſo wird doch die Möglichkeit, alles Dasjenige, was auf der Erde ein Zuſammenwirken vieler Menſchen, Verkehrsmittel u. ſ. w. erfordert, dort mit einem Blick zu erfaſſen, manche Fragen in unſerer Meteorologie auf- klären, ähnlich wie ſich zwei Bearbeitungen deſſelben Problems gegenſeitig auch wenn dabei nicht gleiche Daten und genau identiſche Umſtände in Betracht ge— zogen werden.“ Verſuche über die Bildung der Steinkohlen. in der Sitzung der Pariſer Akademie vom 26. Mai mittheilte, Verſuche angeſtellt, um die Bedingungen nachzuahmen, welche in der Natur bei der Bildung der Steinkohlen aus, daß Erhöhung der Temperatur und des Druckes die Hauptfaktoren bei der Bild— ung geweſen ſeien, und gelangte zu folgen- den Schlüſſen: „1) Die Steinkohle iſt keine Subſtanz von organiſcher Textur. 2) Die Pflanzen- abdrücke, welche die Steinkohle darbietet, ſind ähnlich wie die der Schiefer und jeder anderen Felsart entſtanden: kohle war eine bituminöſe und plaſtiſche Maſſe, auf welcher die äußeren Theile der Pflanzen leicht Abdrücke zurückließen. 3) Wenn ein Stück Kohle an ſeiner Oberfläche vegetabiliſche Eindrücke darbietet, ſo brauchte alſo die eigentliche Kohlenmaſſe darum noch nicht aus veränderten vegetabiliſchen Theilen zu beſtehen. 4) Wenn man die hauptſäch⸗ lichſten in den Zellen der Gewächſe enthalte— nen Stoffe dem doppelten Einfluſſe der Wärme und des Druckes ausſetzt, ſo ent— erläutern, Einwirkung der Hitze und des Druckes in Körper, die ſich den bituminöſen Stoffen Die Stein⸗ Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. ſtehen daraus Subſtanzen, welche eine große Analogie mit der Steinkohle darbieten. 5) Es verhält ſich ebenſo mit den Humus— ſtoffen (Ulminfäure u. ſ. w.), welche im Torfe enthalten ſind und daraus gewonnen werden. 6) Die färbenden, harzigen und fettigen Stoffe, welche man aus Blättern gewinnen kann, verwandeln ſich durch die nähern. 7) Indem man ſich auf die in der vorgelegten Arbeit ausführlicher be— ſchriebenen Verſuche ſtützt, kann man ſomit annehmen, daß die vegetabiliſchen Erzeuger der Steinkohle zunächſt die Torfgährung durchgemacht haben, welche alle und jede Der Chemiker Fremy hat, wie er organiſche Textur zerſtört hat, und daß es in Folge einer ſecundären Wirkung, veranlaßt durch Wärme und Druck, geſchehen iſt, daß die Steinkohle auf Koſten des Torfes entſtanden iſt.“ Wie Fremy am vorgewaltet haben müſſen. Er ging davon Schluſſe ſeiner wichtigen Arbeit bemerkt, hat er bei derſelben durch ſeinen Aſſiſtenten Verneuil eine werthvolle Hilfe erfahren. Inſektenfreſſende Pflanzen in Griechenland. Es war vorauszuſehen, daß die zu den als fleiſchfreſſende Pflanzen erkannten Gatt— ungen gehörenden Arten der griechiſchen Flora keine Ausnahme machen würden, nur fehlten bis jetzt direkte, dies beſtäti— gende Beobachtungen. Nun glückte es mir, auf meiner diesjährigen botaniſchen Sommer— reiſe in die Hochgebirge Nordgriechenlands einſchlägige Beobachtungen zu machen, und zwar an einer noch nicht genau beſtimmten Art der Gattung Pinguicula, der einzigen, die überhaupt in der griechiſchen Flora die 00 inſektenfreſſenden Pflanzen vertritt. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. fand die Pflanze im oberen Theile der Tannenregion und in der oberſten, baum— loſen, ſubalpinen Region hier am Korax— Gebirge in einer Höhe von 5500 bis 7000 Fuß über dem Meere, wo ſie an feuchten und ſumpfigen Orten in der Nähe von Quellen ziemlich häufig wächſt und ich ſie wiederholt während meines Aufenthaltes auf dem Gebirge vom 21. bis 26. Juli beobachten konnte. Sie hat weiße Blüthen und fettere Blätter, und deshalb halte ich ſie für ver— ſchieden von Pinguieula hirtiflora Ten. (Boiss. Flor. Orient.), die in den Hoch— gebirgen des Peloponnes vorkommt und bei welcher die Blüthen hellblau ſind. Es iſt vielleicht P. erystallina Sibth., doch muß dies vorläufig noch unentſchieden bleiben, da ich hier keine Hülfsmittel zur genauen Beſtimmung der Art zur Hand habe. Unſere Pflanze zeigt durchaus den gewöhn— lichen bekannten Habitus der Pinguicula— Arten und hat wie dieſe eine aus 6—10 länglichen, ſtumpfen Blättern beſtehende radicale Blattroſette, aus der ſich die äußerſt feinen, meiſt doppelt ſo langen Blüthen— ſtiele in der Zahl von 1 bis 6 erheben. Die Blätter zeichnen ſich durch die ganz auffallend helle, gelbgrüne Farbe aus; ſie haben Fettglanz, ſind ziemlich dick, dabei aber äußerſt zart und weich. Ueberall, insbeſondere aber an ſumpfigen Stellen, wo die Pflanze üppiger wuchert, war die Oberfläche dieſer Blätter mit zahlreichen Cadavern von Inſekten beſetzt. Oefters zählte ich deren bis 10 Stück auf einem einzigen größeren Blatte, und die Roſetten erſchienen ſchon von der Ferne betrachtet | wie mit ſchwarzen Flecken dicht beſäet. Dabei waren die Blattränder mehr oder weniger eingerollt. Auch auf den Blättern ganz kleiner blüthenloſer Pflänzchen fehlten die gefangenen Inſekten nicht. Dieſe ſind, ris), den 27. Juli 1879. 461 wie ich mich bei näherer Unterſuchung über— zeugte, von ſehr verſchiedener Größe und Art; ich ſah ſolche darunter, die bis ſieben Millimeter Körperlänge hatten, gewiß eine anſehnliche Größe; die meiſten waren na— türlich kleiner. Was die Arten anbelangt, kann ich ſie leider nicht näher beſtimmen, doch ſind es meiſt Waſſer-Hemipteren und Neuropteren, wie mir ſcheint öfters im Larvenzuſtande, dann Dipteren und zuweilen auch Coleopteren (nämlich kleine Staphy— linen). Dieſe den Blättern anklebenden Cadaver ſind, wie vorauszuſehen, in ſehr verſchiedenem Zuſtande der Erhaltung, das heißt ſchon mehr oder weniger aufgezehrt und verdorrt. Auch bemerkte ich öfters an den Blättern einzelne Inſektenbeine anhaften. Dieſe bleiben, wie es ſcheint, als unver— daulich zurück und fallen oder es weht ſie der Wind gelegentlich wieder ab. Auch auf meinen getrockneten Exemplaren unſerer Pinguicula iſt das Alles noch deutlich zu ſehen, und ſo können ſie gleichſam als Be— lege für das Geſagte dienen und Entomo— logen von Fach dürften ohne Zweifel im Stande ſein, die meiſten Arten der gefan— genen und den Blättern anhaftenden In— ſekten genau zu beſtimmen. Unſere Pin- guicula vom Korax gehört jedenfalls zu den eminent inſektenfreſſenden Pflanzen, ja ich möchte behaupten, zu den beſonders gefräßigen! Muſinitza, am Korax (Landſchaft Do— Theodor von Heldreich (Athen). Der angebliche Steinkohlenzeit-Schmetterling des Herrn A. R. Wallace, hinſichtlich deſſen wir kürzlich“) entſchieden der Mein— ) Kosmos, Band V. S. 218. Be — Dh — — U Kleinere Mittheilungen 462 ung beipflichteten, daß derſelbe den Ephe— meriden zuzurechnen ſein dürfte, kann nach einer ſoeben in der Nature *) ver— öffentlichen Mittheilung von A. E. Eaton in Rotterdam zu keinen weiteren Zweifeln Anlaß geben. und Journalſchau. beſucht“, ſchreibt der Genannte, „um das | Original zu unterſuchen. Durch die Freund— lichkeit des Herrn de Borre bin ich im Stande geweſen, es einer ſorgfältigen mi— kroſkopiſchen Prüfung zu unterwerfen, und mit Hilfe einer Camera lucida habe ich einen beträchtlichen Theil deſſelben in einem großen Maßſtabe gezeichnet. Die Ader— ung iſt äußerſt ähnlich derjenigen der dem Ephemeriden-Genus Palingenia verwandten Formen, indem ſie welche dem Blute dieſer Weichthiere die ſonderbare Eigenſchaft mittheilt, ſich bei Be— rührung mit dem Sauerſtoff der Luft zu bläuen, und es gelang ihm zu zeigen, daß es ſich um eine eiweißartige Subſtanz „Ich habe ſoeben Brüſſel ähnlicher Art wie das Hämoglobin der Wirbelthiere handelt, für welche er den Namen Hämocyanin vorſchlug. Die auffallendſte Eigenthümlichkeit dieſes neuen Stoffes iſt, daß es Kupfer enthält, wie das Hämoglobin Eiſen. Und auch ferner ähnlich dem letzteren, bildet das Hämocha— nin bei der Begegnung mit dem Sauerftoff- in den Athmungswerkzeugen eine wenig be— ſtändige Sauerſtoffverbindung, welche ſich derſelben nicht nur durch die verhältnißmäßig große Menge von Queräderchen, ſondern auch durch die Art der vorkommenden Abweichungen von normaler Queraderung gleicht. Die Palin- genia-Gruppe iſt hinreichend dehnbar, um Breyeria aufzunehmen, obwohl letztere in einigem Umfange von dem Aderungs-Detail aller heute lebenden Ephemeriden abweicht.“ Der Verfaſſer macht gleichzeitig darauf auf— merkſam, daß, wenn für kritiſche Zwecke Photographieen foſſiler Inſektentheile ange- fertigt würden, es nützlich ſei, ſtarke Ver- größerungen anzuwenden, weil im vorliegenden Falle Adern und mechaniſche Faltungen, die bei einer ſchwächeren Vergrößerung leicht verwechſelt werden könnten, ſich bei ſtärkerer Vergrößerung leicht und deutlich unter— ſcheiden ließen. während des Durchgangs des Blutes durch die Gewebe wieder zerſetzt. In einer neueren Mittheilung an die Brüſſeler Akademie der Wiſſenſchaften ſagt Fredericq: „Da das Blut des Tinten— Das Kupfer im thieriſchen Körper. In einer früheren Arbeit über die Or— ganiſation und Phyſiologie der Tintenfiſche hatte Fredericq die Subſtanz ſtudirt, *) Nr. 509. 31. Juli. fiſches nur eine einzige eiweißartige Subſtanz enthält, ſo folgt daraus, daß die beiden hauptſächlichſten Funktionen des Blutes, die Athmung und die Ernährung der Gewebe, auf einer und derſelben chemiſchen Subſtanz, dem Hämocyanin, beruhen. In dem Blute der Wirbelthiere hat ſich im Gegenſatze hierzu eine wahre phyſiologiſche Arbeits— heilung herausgebildet. Die reſpiratoriſche Thätigkeit knüpft ſich bei den letzteren aus— ſchließlich an das zu Kügelchen geformte Hämoglobin, die ernährende Funktion hin— gegen an die eiweißartigen Beſtandtheile des Plasma.“ Der Genannte hat auch im Blute des Hummer's dieſe blaue färbende Materie (Hämocyanin) gefunden und noch eine andere roſenfarbige, welche in Alkohol löslich iſt. Dieſe beiden Subſtanzen ſind im Blutplasma gelöſt. Das Blut des Hummer's erſcheint im reducirten Zuſtande roſa, dem Sauerſtoff ausgeſetzt nimmt es eine eigenthümliche Farbe an, blau im re— Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. flektirten Lichte (Hämochanin), braun im durchfallenden (von der roſenfarbenen Sub— ftanz). Im Blute gewiſſer Gaſteropoden (Helix, Strion) wurde ebenfalls Hämo— cyanin gefunden, dagegen keins in dem Blute der Blattkiemer (z. B. Unio, Ano- donta). Bull. de Acad. Belg. 1879. No. 4. In der Sitzung der Pariſer Geſellſchaft für Biologie vom 10. Mai 1879 hat M. Galippe einige merkwürdige Mittheilungen über das Verhalten des Säuge— thierkörpers zum Kupfer gemacht. „Um einen Haſenpfeffer zu machen“, ſagt ein franzöſiſches Sprichwort, nehmt einen Lapin, und wenn daſſelbe mit Kupfer ge— füttert worden wäre, würde es auch nicht ſchlecht bekommen.“ M. Galippe hatte ein Lapin, weil es nicht im Stande iſt zu vomiren, ausgewählt, um zu ſehen, wie demſelben eine Kupferdiät bekommen würde. Er gab demſelben ſechs Monate hindurch täglich zwei Gramm Grünſpan leſſigſaures Kupferoxyd). Am Ende dieſer Zeit war es fett und würdig auf der Tafel des ge— gelehrten Chemikers zu paradiren. Seine Leber wog ſiebzig Gramm und enthielt dreizehn Centigramm Kupfer. M. Galippe hat davon gegeſſen und ſich in der That ganz wohl darnach befunden. Die Abſtammung der Säugethiere. In der Sitzung der Londoner könig— lichen Geſellſchaft der Wiſſenſchaften vom 6. März dieſes Jahres las Prof. Huxley eine Arbeit über den Beckenbau der Säuger im Vergleich zu demjenigen der Vögel, Reptile und Amphibien, welche geeignet iſt, Licht auf die wichtige Frage nach der Abſtammung der Säuger zu werfen. Er ging dabei namentlich von vier graden Linien 403 (Achſen) aus, die ſich durch verſchiedene Beckentheile ziehen laſſen, und deren gegen— ſeitige Neigung und ſonſtige Eigenthümlich— keiten durchgehende Klaſſenunterſchiede er— geben. Die Details, auf die er ſeine Schlüſſe gründete, würden aber ohne ge— nauere Kenntniſſe in der vergleichenden Ana— tomie und ohne zahlreiche bildliche Dar— ſtellungen völlig unverſtändlich bleiben; wir müſſen uns daher begnügen, nur die Er⸗ gebniſſe dieſer Unterſuchung mitzutheilen. Da die Abſtammung der Vögel von einer Reptilien-Gruppe, die man deshalb auch Vogelreptilien genannt hat, durch zahl— reiche Funde zu einem hohen Grade von Wahrſcheinlichkeit gebracht worden iſt, ſo hat man vielfach eine ähnliche Abſtammung auch für die Säuger vermuthet, zumal die offenbar niedrigſten aller jetzt lebenden Säu— gerformen, die neuholländiſchen Schnabel— thiere, in der That nach mehreren Richt— ungen des Körperbaues Annäherungen ſowohl an den Vogel-, als an den Repti— lien⸗Typus darbieten. Der charakteriſtiſche Theil des Thierkörpers, welcher zumal die Verwandtſchaft der Vögel mit den Dino— ſauriern demonſtrirt hat, iſt der Becken— gürtel, deſſen Bau ſich aber bei den meiſten jetzt lebenden Säugethieren ſehr weit von demjenigen ſowohl der Reptile als der Vögel entfernt. Die urſprünglichſte d. h. am wenigſten modificirte Form des Säugethier— beckens konnte nun bei den Schnabel— thieren erwartet werden, allein hier findet ſich ein großer Unterſchied zwiſchen dem Bau beim Waſſerſchnabelthier (Ornitho- rhynchus) und beim Landſchnabelthier (Echi— dna). Während nämlich der Beckenbau bei Echidna ſich ziemlich nahe dem der Beutelthiere anſchließt, iſt das Becken von Ornithorhynchus in der That demjenigen der Eidechſen, Schildkröten und 1 464 pſiden äußerlich beinahe ähnlicher, als dem der übrigen Säugethiere. Allein in mancherlei feineren Unterſchieden der gegenſeitigen Lage und Richtung der Theile konnte Huxley Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. | | | | | nachweiſen, daß auch hier ſozuſagen prin- cipielle Unterſchiede vorhanden ſind, die bei aller äußerlichen Aehnlichkeit nicht erlauben, das Becken des Waſſerſchnabelthieres von dem typiſchen Reptilbecken abzuleiten. Dagegen fanden ſich alle Schwierigkeiten beſeitigt, wenn das Becken der geſchwänzten Amphibien oder Lurche (Molche und Sala— mander) als Ausgangspunkt gewählt wurde. In dem nur theilweiſe erſt verknöcherten ten die Elemente aller jo verſchiedenartigen Beckenbildungen bei Reptilien, Vögeln und Säugethieren aufgefunden werden, und die große Verſchiedenartigkeit des Baues der einzelnen Typen läßt ſich unter der An— nahme verſtehen, daß die einzelnen Theile nicht nur umgebildet, ſondern auch in ihrer gegenſeitigen Lage zu einander verändert wurden. Daß dieſes Becken urſprünglich aus Knorpelſubſtanz beſtand, erleichterte wahrſcheinlich die Umbildung der Theile, und wir können viele dieſer Modifikationen ſchrittweiſe verfolgen, wie z. B. die Bildung des Obturator-Loches, welches bei den Am— phibien und einigen naheſtehenden Reptilien noch fehlt. Sogar die Ausgangsbildungen der für die niederſten Säugethiere ſo cha— rakteriſtiſchen Beutelknochen ließen ſich im Salamanderbecken nachweiſen. Die Aehn— lichkeit des Beckens vom Waſſerſchnabelthier mit dem der Vögel und Reptilien würde ſich alſo dadurch erklären, daß ſie alle dem gemeinſamen Ausgangspunkte nahe und da— rum unter ſich ähnlich ſind, obwohl ſie divergirenden Entwickelungsrichtungen ange- hören. Die Schlußbetrachtungen Huxley's geben wir möglichſt wörtlich: „Dieſe Thatſachen“, ſagt er, „ſcheinen mir, zu dem Schluſſe zu führen, daß die Säuger mit den Amphibien durch eine bis— her unbekannte Gruppe von Pro-Mamma— lien verbunden geweſen ſind, aber nicht durch irgend eine der bekannten Sauropſiden— Formen, und es ſind noch andere Beweiſe vor— handen, welche nach derſelben Richtung zielen. So ſind die Amphibien die einzigen luftathmenden Wirbelthiere, welche gleich den Säugern einen zweihöckrigen (dicondy— liſchen) Schädel beſitzen. Nur bei ihnen bleibt der Gelenktheil der Kieferbögen knorp— | lig, während die Verknöcherung des Qua— Becken unſeres gefleckten Salamanders konn- dratum gering iſt, und die Squamoſa brei— ten ſich niederwärts über daſſelbe bis zu den knochigen Elementen der Kiefern, in— dem ſie auf dieſe Weiſe einen leichten Ueber— gang zu der Bildung der entſprechenden Theile bei den Säugern ermöglichen. Der Bruſtgürtel der Kloakenthiere iſt ebenſo ſehr amphibiſch als ſauropſidiſch; die Bildung der Hand- und Fußwurzeln aller Sauropſiden, mit Ausnahme der Schild— kröten, entfernt ſich von derjenigen des Lurch— typus, während die der Säuger direkt da— rauf zurückführbar bleiben, und es iſt viel— leicht nicht überflüſſig zu bemerken, daß der Sporn des Froſches in manchen Hinſichten dem Stachel der Schnabelthiere vergleichbar iſt. Endlich iſt die Thatſache, daß es bei allen Sauropſiden ein rechter Aorta— Bogen iſt, welcher die Hauptleitung des vom Herzen kommenden arteriellen Blutes übernimmt, — während es bei den Säugern ein linker Bogen iſt, der dieſen Dienſt verrichtet, ein großer Stein des Anſtoßes auf dem Wege einer Ableitung der Säuger von irgend einem Sauropſiden. Aber wenn wir annehmen, daß die früheſten Formen ſowohl der Säuger als der Sauropſiden einen amphibiſchen Urſprung hatten, ſo giebt Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. es keinerlei Schwierigkeit in der Annahme, daß es von Anfang an bei der einen Linie ein linker Aorta-Bogen und bei der andern der entſprechende rechte Aorta-Bogen war, welcher der vorwiegende Zuführer des arte- | riellen Syſtems wurde. Die Entdeckung der vermittelnden Glie— der zwiſchen Reptilien und Vögeln unter den ausgeſtorbenen Lebensformen giebt ſtarken Grund zu hoffen, daß in nicht allzu ferner Zeit der Uebergang zwiſchen den niedrigſten für jetzt bekannten Säuger- und den tiefer— ſtehenden Wirbelthieren in ähnlicher Klar— heit verfolgt werden mag. Die vorher— gehenden Bemerkungen haben den Zweck, die Aufmerkſamkeit auf die Anzeichen von Charakteren zu richten, welche die jetzt vorhan— dene Wahrſcheinlichkeit mir zu fordern ſcheint. In der beziehungsweiſe bedeutenden Größe des Gehirns und in dem Fehlen der Zähne bieten die allein überlebenden Vertreter der Kloakenthiere Charaktere dar, | welche vorausſetzen laſſen, daß fie ſtark mo- dificirte Glieder der Gruppe ſind. Wenn man z. B. das Gehirn von Echidna mit demjenigen vieler Beutelthiere und Inſekten— freſſer vergleicht, ſo iſt ſeine relative Größe bemerkenswerth, und in Anbetracht der immer mehr zunehmenden Wahrſcheinlichkeit, “) daß das Gehirn bei den ſpäteren Gliedern der— ſelben Säuger-Reihe an Größe zunimmt, darf man vermuthen, daß Echidna das äußerſte Ende einer Reihe kleinhirniger Kloakenthiere bildet. Was die Zahnlofig- keit anbetrifft, ſo denke ich, daß hinſichtlich der höheren Wirbelthiere ſtarke Gründe vor— handen ſind, anzunehmen, daß zahnloſe Thiere allemal Abänderungen zahnbewehrter Formen ſind.“ (Proceedings of the Royal Society Vol. XXVIII. p. 395.) ) Vergl. Kosmos, Bd. II. S. 421. Kosmos, III. Jahrg. Heft 6. A. Herzen's phyſiſches Geſetz des Bewußtſeins. f Im Anſchluß an ſeine Unterſuchungen über das Bewußtſein?“) hat Prof. A. Her- zen in einer der römiſchen „Akademie der Luchsäugigen“ eingereichten Arbeit eine For— mel aufgeſtellt, welche ſehr viel Licht auf das N Unbewußtwerden urſprünglich bewußter Ein- drücke wirft, wie es Hering und Butler zur Grundlage beſondrer Schriften gemacht haben.““) Wir entnehmen dem an die Aka- demie erſtatteten Berichte von Blaſerna und Morriggia folgende Einzelnheiten über dieſe Arbeit: Von dem Standpunkte des reinen Mo— nismus ausgehend, behauptet Herzen, wie in dem obigen Artikel näher dargelegt wurde, die pſychiſche. Thätigkeit beſtehe, objektiv be- trachtet, in der ganz eigenartigen Mole— kularbewegung, welche ein äußerer Eindruck in den centralen Nervenelementen veranlaßt. Sie fer noch nicht pſychiſch, bevor die Schwingungen bis zu einer Zelle der grauen Subſtanz vorgedrungen ſeien, und ſei es von dem Momente an nicht mehr, in welchem die Schwingungen aufhören oder ſich nach außen in der Form von Muskelbeweg— ungen u. ſ. w. entladen haben. Der Vor⸗ gang verlaufe im Ganzen in zwei Phaſen; während der erſteren erfolge eine Zerlegung der Nervenſubſtanz und Auslöſung ihrer latenten Energie; während der zweiten eine Reorganiſation ihrer Subſtanz und Auf- ſammlung latenter Energien für ſpätere Auslöſungen. Herzen bezeichnet die erſte Phaſe als nervopſychiſche Desintegration und die zweite als nervopſychiſche Rein- tegration. Die Reintegration erfolge ) Kosmos, Bd. V, S. 85 ff. **) Ebendaſ., Bd. V, S. 23. 61 vr | 466 aber ſtets in einer von der Art der vor— aufgegangenen Desintegration beeinflußten Weiſe, ſofern nämlich das nach dem Ent— wicklungstypus des betreffenden Thieres eigenartig gebildete Nervenelement, nachdem es irgend eine funktionelle Desintegration erlitten hat, bei der Reintegration nicht mehr genau zu dem vorherigen Zuſtande zu— rückkehre, vielmehr disponirt bleibe, in der— ſelben Richtung, in der es bereits funktionirt hat, leichter und ſchneller zu funktioniren. Nach dieſer die Rolle der Uebung er— läuternden Auseinanderſetzung formulirt er ſein pſychiſches Geſetz des Bewußtſeins in folgenden Sätzen: Das Bewußtſein begleitet niemals die Integration oder die Reintegration der Ner— benelemenke; es begleitet nur ihre funktionelle Desintegration. Seine Intenſität ſteht in direk— tem Verhältniſſe zu dieſer Des- integration und im umgekehrten Verhältniß zu der Leichtigkeit und Schnelligkeit, mit welcher die in— nere Arbeit irgend eines Nerven— elementes ſich auf ein andres cen— trales oder peripheriſches Ner— venelement entladet. Aus ſeinen ferneren Auseinanderſetzungen folgt, daß, während das fortwährend gleich— mäßige Reagiren auf gleichmäßige Eindrücke das Rückenmark der höheren Thiere ſchließ— lich zu einem vollkommenen automatiſchen Apparat reducirt hat, die Mannigfaltig— keit der Eindrücke, die von den ſenſori— ſchen Centren aufgenommen werden, und ihre ebenſo mannigfaltigen Reaktionen dar— auf, dieſen Organen nicht geſtatten, ſich auf einen ähnlichen Automatismus zu redu— ciren. Bei den Thieren, mit ihrer ge— ringeren Reaktionsfähigkeit auf ſinnliche Ein— drücke, ſei vielleicht auch ein rein pſychiſcher Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Automatismus (Inſtinkt) nicht ausgeſchloſſen, beim Menſchen mit ſeinem unendlichen geiſtigen Entwicklungsvermögen ſei ein ſolcher Ab— ſchluß, mit Degradation zur vollkommenſten Maſchine, glücklicherweiſe nicht abzuſehen. (Atti della Accademia dei Lincei, Ser. 3, Vol. III. 1879, p. 62.) Die X. Verfammlung der deulſchen Anthropologen in Straßburg.“) Das alte Argentoratum mit ſeinen Schätzen der Vorzeit, feinem zum Himmel weiſenden Münſter, ſeinem winkenden Odi— lienberge, ſeinem Reichthum an Spitzen der Behörden und der Wiſſenſchaft, das neue Straßburg hatte ſich dies Jahr die Deutſche Anthropologiſche Geſellſchaft zum Verſammlungsplatz gewählt. Eine treff— liche Wahl, wie die zahlreiche Betheiligung an den Sitzungen der Geſellſchaft vom 11. 13. Auguſt in den Räumen des Stadthauſes zeigte. Es hatten ſich an 210 Theilnehmer eingefunden, darunter Fraas, Virchow, Schaaffhauſen, Ecker, Fiſcher, Hellwald, Nachtigal, O. Schmidt, Kußmaul, Graf Türk— heim-Montmartin, Straub, A. Sepp und Pfannenſchmied. Um ſogleich in medias res zu gehen, ſo zeigten die Tage von Straßburg einen entſchiedenen Fortſchritt in der Begrenzung der Aufgaben der anthropologiſchen Geſell— ſchaft, mit Entfernung von Thematen, welche außer dem Geſichtskreiſe der betref— ) Anm. d. Red. Der vorliegende Be— richt iſt theils aus direkten Mittheilungen des Herrn Dr. C. Mehlis, theils aus er— gänzenden Zeitungsnachrichten geſchöpft. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. fenden Forſchung zu liegen ſcheinen. Aus— geſprochen ward das determinirende Prin— cip der Aufgabe allerdings nicht, ſondern es ergab ſich dies nur als ein vielleicht rein unbewußtes Reſultat der Verſammlung. Unſer Wunſch vom vorigen Jahre nach Einführung von mindeſtens drei Sektionen, analog anderen Generalverhandlungen, er— hielt durch die fünfundreißig diesmaligen, ohne alle Ordnung und faſt ohne Discuſſion gehaltenen Reden auf dem Gebiete der Cra— niologie, Anatomie, Urgeſchichte, Ethnologie noch größere Nahrung. Mindeſtens zwei Sektionen, eine craniologiſch-anatomiſche und eine urgeſchichtlich-archäologiſche, find ein Poſtulat, welches allein eine Sicherung bieten kann für die innere Verknüpfung der The— maten und die erläuternde Discuſſion des Materials. — Von Geſchäftlichem vernehmen wir, daß Berlin der nächſte Ort der Ver— ſammlung wird und Virchow als Prä— ſident dazu gewählt wurde. Die Geſell— ſchaft zählt 2000 Mitglieder in 26 Sektio— nen; verfügbar ſtanden 7740 Mark; zu Ausgrabungen wurde hiervon auf den dik— tatoriſchen Vorſchlag des Vorſitzenden Fraas kein Pfennig beſtimmt. Die drei Commiſſionsarbeiten der Geſellſchaft ſcheinen nach den Berichten der betreffenden Vorſtände gut von Statten zu gehen. Virchow legte am Schluſſe der Verſammlung — er traf erſt am zweiten Tage ein — die fertigen Karten vor, welche die ethnologiſche Statiſtik der Schulkinder im deutſchen Reiche illuſtriren. Nach dem Anſchluſſe der Schweiz, welchen Koll— mann in Baſel zu Stande gebracht, iſt die Farbenſkala der deutſchen Schulkinder etwas abzutönen, um ſie in Harmonie zu bringen mit der ſehr dunkel ausgefallenen Karte der Schweizer Statiſtik. Das braune und ſchwarze Element iſt demnach in der 467 Schweiz mindeſtens ſo ſtark vertreten wie im Elſaß. Schaaffhauſen erſtattete Bericht über die Fertigſtellung der Kataloge, welche die Aufnahme des craniologiſchen, ſowie des ethnologiſchen Materials in den deutſchen Sammlungen enthalten. Darnach wären beinahe vollendet die Kataloge für die meiſten deutſchen Univerſitäten; an die Reihe kommen dann noch die Sammlungen einzelner natur— wiſſenſchaftlicher Vereine, ſowie die von Privaten — wenn vollſtändig, ein ſchönes Werk. a Im Auftrage von Fraas, der ſelbſt Mittheilungen über die prähiſtoriſchen Fund— ſtellen im Elſaß machte, denen wir ent— nehmen, daß der Oberelſaß und der Sund— gau ſich durch die ſtarke Vertretung der geſchliffenen Steine auszeichnen, während im Unterelſaß ein größerer Reichthum an Bronce ſich findet, legte von Tröltſch die Skizze einer prähiſtoriſchen Karte von Südweſtdeutſchland und der Schweiz vor. Eine außerordentlich fleißige Arbeit! Mit ſechs Farben ſind die Funde von Stein, Bronce und Eiſen, ſowie die Uebergänge be— zeichnet, und deutlich kann man beobachten, wie die größten und ſtärkſten Reihen von Fund— ſtellen längſt der Thalungen von Rhein, Do— nau, Neckar und den Nebenflüſſen ſich hinzie— hen. Zu der im Maßſtabe von 1200000 ausgeführten Karte gab von Tröltſch die nöthigen Erklärungen über die Steinzeit— funde, die Hügelgräbergruppen, die Reihen— gräberzüge. Fehlt auch noch Einzelnes, ſo bietet dieſe Skizze doch ein vortreffliches Bild von den verſchiedenen culturellen Ein— fläſſen, denen, was geſchliffene Steine be— betrifft, das Rheinthal von Weſten aus aus— geſetzt war, während ſie in der Metallperiode offenbar von Süden aus einwirkten. Für die Ausarbeitung der Reſultate hält von 468 Tröltſch eine Fundſtoffkarte, eine Stein-, Metall-, Grabhügel- und Reihengräberkarte für nothwendig. Die Kartographen der Geſellſchaft werden da noch manchen Strich zu ziehen haben! Die ziemlich vollendete prähiſtoriſche Karte von Bayern zeigte Ohlenſchläger vor; auf dieſer Skizze ſind die Funde einzeln und mit Bezeichnung der Fund— localitäten, als Grabhügel, Plattengräber :r. eingezeichnet. Die zwei Principien des allgemeinen Bildes und der Detailzeichnung müſſen offenbar bei der Graphirung der Funde der Prähiſtorie ergänzend wirken. Der Generalſekretär Ranke gab ein eingehendes Bild der Leiſtungen der Geſell— ſchaftsmitglieder auf dem Gebiete der all— gemeinen Kulturwiſſenſchaft (Zimmer, Hommel), der Sprachvergleichung (Czer— mak, Bergmann), der Paläontologie (Nehring, Tittel), der Archäologie (Cesnola, Schliemann, A. Kohn und Mehlis, Wurmbrandt, Handelmann Mestorf), der Keramik (Voß, L. Schnei— der, Veggenſtedt). Als Fortſchritt er— wähnte er die Einführung von Meſſungen an Lebenden, die Corbin und Lucae mit Erfolg verſucht hatten. der Bedeutung ſind die Unterſuchungen letztes Jahr auf ethnographiſchem Gebiete geweſen; eine Muſterunterſuchung war die der Nubiercolonie von Seiten der Berliner ethnologiſchen Geſellſchaft. In Ausſicht ſteht ferner die Errichtung zoologiſch-anthropo— logiſcher Stationen an wichtigeren Punkten des Erdkreiſes. Von neuem phyſiologiſchen Material führte er Virchow's Unterſuch— ungen über das Verhältniß der Farben- empfindungen zu den Spracheindrücken bei den Naturvölkern an; aus dem Gebiete der Von hervorragen- ung berichtet Schaaffhauſen über die | | Pſychologie die Beobachtungen Biſchoff's über die Lebensgewohnheiten des Chimpanſe— 3 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Paares Adam und Eva zu Berlin. Als Ergebniſſe im Großen und Ganzen bezeich— net Ranke die concentriſche Methode auf dem ganzen Forſchungsgebiete, ſowie den Ausbau der verſchiedenen Grenzgebiete. Erſt dann kann man ja die eigentlichen Auf— gaben der Anthropologie zur Präciſion bringen. Erwähnt ſei hier noch, daß, nachdem die drei Commiſſionen der Geſellſchaft ihre Aufgabe faſt vollendet haben, mit Recht der Vorſchlag Ecker's angenommen wurde, gan die Aufnahme der Körperſtatiſtik im deutſchen Reiche heranzugehen. Die ver— ſchiedenen Maße hierfür ſind ſchon durch eine frühere Verſammlung fixirt. Schaaff— hauſen hatte zur Meſſung einen Procent— ſatz der Bevölkerung vorgeſchlagen, der von der Landbevölkerung im Maximum aus— geht und in den größeren Städten all— mählich ſinkt. Ein recht hübſcher, aber ſchwer executirbarer Vorſchlag. Gehen wir zu den Einzelvorträgen über, jo leidet man an einem wahren embarras de richesse; wir müſſen uns darauf be— ſchränken, die Hauptſachen anzudeuten und Bekanntes zu übergehen. Auf dem Gebiete der craniologiſch-anatomiſchen Richt— franzöſiſche Horizontale für Schädelmeſſungen und ihr Verhältniß zur deutſchen Methode. Die Orbitalaxe Broca's entſpreche nach ihm keineswegs der geraden Stellung des Schädels. Ebenſowenig kann Schaaffhauſen ſich auch mit der Beſtimmung der Schädelcapa— cität nach Broca mittelſt Schrot und Hirſe— körner für einverſtanden erklären. Man braucht dabei nur fünfzehn Inſtrumente! Ueber mehrere anatomiſche Erſcheinungen am Homo der Neuzeit ſprach Waldeyer. Er verbreitete ſich über die Crista tori ‚ oceipitalis, einen innern Knochenkamm am „ Hinterhaupte, ſowie über den Trochanter tertius, einen Knochenanſatz, der ſich ſonſt nur bei den Rhinoceriden vorfindet. Nach Waldeyer haben wir in dieſen beiden Erſcheinungen anatomiſche Ueberreſte der Anthropoiden-Eigenthümlichkeiten. Wider- ſpruch fand der gelehrte Anatom keinen. Unter den Schädeln aus der ſpätrömiſchen Nekropole am Weißenthurmthor in Straß— burg findet Waldeyer die Mikrocephalie vorherrſchend, nur einen künſtlich deformirten Thurmſchädel beobachtete er darunter. In der zweiten Sitzung berichtete Dr. Much, Secretär der anthropologiſchen Ge— ſellſchaft in Wien, über die Reſultate ſeiner Unterſuchungen über prähiſtori— ſchen Kupferbergbau im Salz— burgiſchen, wobei er gleichzeitig eine vollſtändige Collektion von Fundſtücken vor— legte. Bis jetzt haben die Forſchungen an drei Stellen, nämlich am Mitterberg bei Biſchofshofen nächſt Salzburg in einer Höhe von 5000 Fuß, auf der Kelchalpe ſüdlich von Kitzbüchel in Tyrol in einer Höhe von 5700 Fuß, und auf einem Berge in unmittelbarer Nähe von Kitzbüchel vorgeſchichtliche, in uralter Zeit betriebene Kupferbergwerke aufgedeckt. Die Spuren des alten Bergbaues kennzeichnen ſich zu— nächſt durch ausgedehnte Gruben, welche theils durch Tagebau, theils durch das Einſinken der unterirdiſchen Gänge entſtan— den ſind und die ſich heute noch in dem— jenigen Zuſtand befinden, in welchem ſie vor vielen Jahrhunderten plötzlich verlaſſen Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. wurden. Nirgends findet man Spuren der Arbeit von metalliſchen Gegenſtänden; die Wände ſind ſehr hoch, weit, das Geſtein iſt durch Feuerſetzung losgebrochen; große Stücke verkohlten Holzes liegen da, auch Spuren einer Waſſerleitung ſind vorhan— den. Unter den Fundſtücken fallen uns zu— 469 nächſt die zahlreichen Leuchtſpäne aus Holz auf, einige befinden ſich noch in einem Stücke eines Salzgeſteins, das aus der Gegend von Hallſtatt ſtammt. Das durch die Feuerſetzung zerklüftete Geſtein wurde ohne Zweifel durch kupferne und bronzene Picken losgebrochen, zwei Stück dieſer Picken be— finden ſich unter den Funden. Dann wur— den Eimer, Schöpfgefäße, kleine Setztröge, mittelſt deren das Erz aus der Grube ge— ſchafft wurde, aufgefunden. Die Holz— gegenſtände haben ſich durch die conſervi— rende Kraft des Waſſers, das die Grube bis zum Mundloch überſchwemmte, erhalten. Zu Tage findet man Steinſchlägel, um das Geſtein zu zertrümmern, dann kamen die Erze auf die Scheidplatten, wo ſie mit Klopfſteinen weiter zertrümmert wurden. Der Vortragende legte dieſe Werkzeuge, ſowie die Steinplatten, welche als Unter— lagen gedient hatten, vor. Die Verkleiner— ung des Erzes wurde dann noch weiter getrieben, indem man es zwiſchen zwei Steinen zerrieb. Dann wurde das Erz gewaſchen. Man fand in der Grube einen Waſchtrog von ähnlicher Art, wie ihn heut zu Tage die Zigeuner in Siebenbürgen gebrauchen. So vorbereitet kam das Erz auf die Röſtplätze. Einen ſolchen von 5 Meter Länge und 1 Meter Breite hat Vortragender in dieſem Frühjahre aufge— deckt. Aufgehäuft und angezündet wurde das ſehr ſtark ſchwefelhaltige Erz dann ſeiner Verbrennung überlaſſen und kam dar— auf in einen der ſehr zahlreichen Schmelz— öfen. Es ſind dies 50 Centimeter breite und ebenſo tiefe, aus rohen Steinen be— ſtehende Bauten, deren Umgebung ſich durch zahlreiche Schlacken auszeichnet. Der Vor— tragende legte eine große Schlacke vor, die etwa die Größe der auf einmal aus ſolchem Ofen herausgefloſſenen Schlacke beſaß. Sie Bi 470 hatte ein Loch, das möglichenfalls durch Hineinſtecken einer Stange beim Heraus— ziehen aus dem Ofen entſtanden war. Etwa hundert ſolcher Schmelzöfen mögen am Mitterberg exiſtirt haben. In der Nähe der Schmelzplätze find auch zahlreiche Thon— reſte gefunden, die von Gefäßen herrühren, welche ohne Scheibe gefertigt ſind und meiſt zerkleinerte Schlacken enthalten. Dr. Much zieht hieraus den Schluß, daß ſich der Be— trieb des Bergwerkes in den Händen der eingeborenen Bevölkerung befand. Die zer— ſtreuten Schmelzplätze deutet er dahin, daß ſich der Betrieb des Bergwerkes wahrſchein- lich in den Händen vieler Einzelner, nicht aber in einer großen Genoſſenſchaft befun— den hat. Was das Alter dieſer Sachen betrifft, ſo ſcheint es ihm weit über die Periode der Hallſtädter Funde hinauszu— gehen. Uebrigens iſt es hiſtoriſch bekannt, daß der Betrieb von Goldbergwerken ſchon um 150 v. Chr. Geb. von der heimiſchen noch dadurch aus, daß ſie keine Thier— Bevölkerung jener Gegend geſchehen ſei. In Bezug hierauf iſt der Entdeckung eines durchaus barbariſchen Bauwerkes, einer tu— mulusartigen, von zwei Ringwällen um— ſchloſſenen Erhebung in der Nähe des Berg— werkes zu gedenken. Forſchungen erklärt Dr. Much, daß auf dem Boden des ſpäteren Noricum ſchon lange vor Ankunft der Römer der Berg— bau durch die dort vorhandene einheimiſche fleißige und emſige Bevölkerung betrieben worden ſei. Mit dieſer Thatſache werden wir in Zukunft bei Beurtheilung unſerer eigenen Bevölkerung rechnen müſſen. Profeſſor Klopffleiſch aus Jena gab hierauf einen durch zahlreiche Zeichnungen unterſtützten Bericht über die von ihm ge— machten Ausgrabungen von vier Grabhügeln im Gebiet des Waldes Dorſtewitz im Altenburgiſchen. Das In— Als Reſultat ſeiner | Perioden Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. tereſſante an dieſen Hügeln iſt, daß ſie aus mehreren über einander gelagerten Schichten beſtehen. Dies gab dem Vor— tragenden Gelegenheit, den dringenden Wunſch auszuſprechen, daß man in Deutſchland die Reſultate aus derartigen Hügeln zuſammen— ſtellen möge, weil ſie den beſten Anhalt zu Schlüſſen über die Zeitverhältniſſe der prähiſtoriſchen Keramik gewähren. Die be— treffenden vier Hügel ſind Beiſpiele dieſer Thatſache. Wir können hier die beiden älteſten bekannten Formen der Gefäße ver— folgen, d. h. diejenigen mit Schnurverzier— ungen und die darauf folgenden mit vorherrſchenden Taſſen- und Napfformen, welche Cannelirungen und concentriſche Halbkreiſe aufweiſen. Der Vortragende beſprach die einzelnen Fundſtücke. Inter— eſſant iſt im erſten Hügel das Auffin— den eines Bronzemeſſers neben einem zur älteſten Art gehörenden ſchnurverzierten Gefäß. Dieſe vier Hügel zeichnen ſich knochen enthalten, welche in den ſpäteren in Folge der Leichenſchmäuſe häufig vorkommen. Prof. Fraas-Stuttgart hielt hierauf den bedeutungsvollſten Vortrag des Tages, indem er über einige unter Bewilligung des württembergiſchen Kultusminiſters im Ver— lauf der letzten Monate von ihm ausge— führte Ausgrabungen Bericht erſtattete. In Württemberg giebt es über 2200 Tu— muli oder Grabhügel von theils kleinen, theils großen Formen. Der Vortragende beſchränkt ſich auf die großen Hügel, welche er „Fürſten— gräber“ oder „Heroengräber“ nennen möchte. Er bedauert, daß der große Gräber Schlie— mann, den wir Alle ſehnlichſt erwartet hatten, nicht auf dem Congreß anweſend ſei, um zu erklären, daß die deutſchen Hügel mit den von ihm in Kleinaſien unterſuchten — 7 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 471 übereinſtimmen. Redner wenigſtens hat auf Häufchen Aſche auf der Weſtſeite, waren ſeiner Orientreiſe dieſen Eindruck erhalten. Seine Ausgrabungen, über die er berichtet, erſtrecken ſich auf zwei in unmittelbarer Nähe der alten Landesveſte, des hohen Asperg, gelegene künſtliche Grabhügel, deren einer die „belle Remise“ und der zweite „das kleine Asperle“ genannt worden war. Niemand hatte eine Ahnung, was ſich in dieſen Hügeln befand. Der erſtgenannte Hügel wurde ſchon im vorigen Jahre ge— öffnet. Man fand darin ein Heroengrab. Der verſtorbene Held oder Fürſt lag in der Mitte des Hügels, eine goldene Krone oder ein Goldblech zierte ſeinen Schädel, goldene Armſpangen und anderer Schmuck lag daneben, ein prächtig ornamentirter Dolch, von welchem Redner eine galvaniſche Reproduktion vorlegt, war an ſeiner Seite, und was das Merkwürdigſte war, neben ihm befand ſich ſein Streitwagen. Den anderen Hügel öffnete Prof. Fraas durch Stollenbetrieb bei Grubenlicht, und ergreift hier beiläufig die Gelegenheit, ganz beſon— ders auf dieſe billige und praktiſche Art der Unterſuchung aufmerkſam zu machen. Nach 18 Metern ſtieß man auf ein „Seitengrab“ im Hügel, das ſorgfältig durch hölzerne Rahmen abgegrenzt war. Mit rührender Sorgfalt waren die Todtenreſte bewahrt. Noch trug der weiche Lehm die Abdrücke eines weichen, bauchig ſich einſchlagenden Zeltteppichs, der ſich über der Leiche be— funden hatte. Auf dem Oſtrande ſtanden neben einander vier prachtvolle Bronze— gefäße, darunter eine prachtvolle Bronze— wanne von 1 Meter Durchmeſſer, ganz gefüllt mit Weihrauch, ein aus Kupfer⸗ ringen aufgebauter Eimer, ein zweihenkliges Bronzegefäß mit rein etruriſchen Ornamen— ten und ein rein etruriſches einhenkliges Ge— fäß. Die eigentlichen Reſte der Leiche, ein ſorgfältig zugedeckt geweſen, wahrſcheinlich durch einen Schleier oder ein Tuch, von deſſen Beſatz nur noch einige goldene Blech— ſtreifchen und Ringchen übrig geblieben wa— ren, welche der Redner vorlegte. In der Mitte des Grabes befanden ſich die eigent— lichen Koſtbarkeiten. Zunächſt eine mit figürlicher, rein attiſcher Darſtellung ver— ſehene kleine, klaſſiſch geformte Terracotta— ſchale, ſchwarz mit ausgeſparter rother Or— namentik und höchſt auffällig auf der Unter- ſeite mit aufgenietetem Goldblech geſchmückt. Der Vortragende zeigte das Stück vor. Zwei ſolcher Schalen ſtanden da; ihnen zunächſt lag ein Armring aus Ebenholz mit einem Goldknöpfchen verziert, ſeiner Stärke nach für einen Frauenarm paſſend. Auch die Abweſenheit aller Waffen in dieſem Grabe ließ ſchließen, daß man es hier mit der Leiche einer innigſt verehrten Frau, einer Fürſtin zu thun habe. Das Werth— vollſte aller gefundenen Goldſachen iſt ein ſchön geſchwungenes, prachtvoll ornamentir— tes, goldenes Horn in Geſtalt eines Ochſen— hornes mit dem Kopf eines Widders an der Spitze. Der Vortragende zeigte unter großer Senſation der Verſammlung dieſes Stück vor, das er geneigt iſt, für eine Libationsſchale zu halten. Er ſchildert die Aufregung, die durch die Unterſuchung dieſes Grabes hervorgerufen ſei, bei welcher er mit Mitgliedern der anthropologiſchen Ge— ſellſchaft von Stunde zu Stunde immer neue Koſtbarkeiten entdeckt habe. Mit großer Spannung ſchritt man mit der Unterſuch— ung gegen die Mitte des Hügels vor, wo ſich das eigentliche Fürſtengrab befinden mußte. Man fand auch die Stelle, aber leider war das Grab in alter Zeit ſchon beſtohlen und ausgeräumt worden. Der Redner ſchloß unter großem Beifall der 472 Verſammlung mit der Bemerkung, daß die Thatſache, daß wir hier eine Verbindung unſeres Schwabenlandes mit Griechenland haben, feſtſtehe, und daß man bei dieſen Hügeln faſt auf eine ähnliche Zeit wie die der Hügel Griechenlands ſchließen möchte. Hofrath Fiſcher- Freiburg hebt mit Rückſicht auf die bisherigen Anſchauungen der Archäologen bezüglich der ge— ſchlagenen Werkzeuge aus Feuer— ſtein, Jaspis, Hornſtein ꝛc. und Obſidian einerſeits, und bezüglich der geſchliffenen Werkzeuge aus gemengten Silicatgeſteinen, Diorit, Hornblendeſchiefer ꝛc. hervor, daß bei den einen und bei den anderen das Reſultat der Bearbeitung mit Stein gegen Stein ein ganz anderes ſei. Die erſteren, Feuerſtein ꝛc. find einfache Mineralien mit muſcheligem Bruch, die anderen Fels- arten nicht. gearbeiteten Pfeil- und Lanzenſpitze Die Herſtellung einer gut iſt eine Kunſtarbeit und repräſentirt durchaus nicht, wie man bisher für die blos geſchla- genen Steinwerkzeuge zu behaupten pflegte, eine tiefere Kulturſtufe im Vergleich mit geſchliffenen Steinbeilen, welche oft aus ſchon beilartig geformten Geröllen gearbeitet werden. Angeſichts der geologiſchen Ver— hältniſſe der Gegenden, welche die Urbe— völkerung Europas durchwandert, war letz— tere darauf angewieſen, ihre Werkzeuge, je nachdem ihnen das Material zu Gebote ſtand, aus Feuerſtein oder Silicatfelsarten herzuſtellen. Prof. Joh. Ranke- München ſprach über die geſchliffenen Steinwaffen, welche bisher in Bayern gefunden wurden. Sie ſind ſehr ſelten, ſo daß auf je zehn Quadratmeilen nur ein Stück kommt. Die Steine beſtehen vorwiegend aus hornblende— artigen, ſchiefrigen Geſteinen, wenigen (3) Nephriten und ſehr wenigen, ſchlecht ge— beigabe ſchwarze Steinäxte find, wie es ſcheint, und ein trepanirter Schädel. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. ſchlagenen Hornſtein-Inſtrumenten, nur eins ſcheint ein nordiſcher Feuerſtein zu ſein. Nach Oberbergrath Prof. Gümbel, dem beſten Kenner der bayeriſchen geognoſtiſchen Berhältniſſe, ſeien mit Ausnahme von fünf Stücken alle aus Geſteinen gefertigt, wie ſich ſolche in den Geröllen der Flüſſe der Fundgegenden vorfinden. Redner macht darauf aufmerkſam, daß im Gegenſatz gegen das rohe Grünſteinmaterial der Feuerſtein ein Kulturmineral ſei. Einige aus brüchigem Material hergeſtellte Exemplare ſind offenbar nur zum Zweck der Grab— angefertigt. Einige durchbohrte ſchmiedeeiſernen Beilen in Form und eigen— thümlicher Behandlung des Schliffes nach— geahmt. In der dritten Sitzung berichtete Dr. Groß aus Neuveville unter gleichzeitiger Vorführung einer ſehr koſtbaren, ſtaunen— erregenden Collektion über Fundſtücke, welche er im vorigen Jahre an zwei Sta— tionen, nämlich in Locras am Bielerſee und in Eſtavayer am Neuchateller See ausge— graben hat. Die Sachen von der erſten Station gehören dem Steinalter, die von der zweiten dem Bronzealter an. Es ſind Gegen— ſtände von hohem Werth, darunter Feuer- ſteinlanzen bis zu 20 Centimeter Länge, eine Serpentinaxt von 37 Centimeter Länge, durchbohrte, den nordiſchen ähnliche Stein— hämmer, kleine Nephrit- und Jadeit-Beile Unter den Bronzeſachen zeichnet ſich eine ſehr ſchöne, ornamentirte Schale aus, ferner große Arm— bänder, eine Gußform aus Bronze für Bronzebeile, Bronzenadeln bis zu 70 Centi— meter Länge, Meſſer mit eingravirten Orna— menten, einige Pferdegebiſſe, die Garnitur eines bronzenen etruskiſchen Streitwagens u. a. m. ſicht bezieht, nach der ſämmtliche Rinder, Hirſche, Hunde, Katzen u. ſ. w. Entart⸗ ungen je eines Urrindes, Urhirſches, Ur— hundes u. ſ. w. ſeien. Buffon war zu geiſtreich, um nicht von ſolchen Anregungen aus gelegentlich zu wirklich evolutioniſtiſchen Ideen geführt zu werden, aber er ver— folgte den Gedanken nicht nur nicht tiefer, ſondern er wies ihn im Gegentheile an vielen Stellen ſeines Werkes ausdrücklich als falſch zurück. Butler meint nun, an allen den letzteren Stellen habe Buffon ironiſch geſchrieben, weil er nämlich von der Sorbonne ver— warnt worden war, nicht gegen die Bibel zu ſchreiben. Allein Ref. hat nachweiſen können, daß das Degenerations-Dogma da⸗ mals der Kirche ſehr willkommen war, und daß Buffon nur wegen ſeiner dem mo— ſaiſchen Berichte direkt widerſprechenden Erd⸗Entwickelungstheorie, nach welcher die Erde durch einen Kometen von der Sonne losgeriſſen und ungeheure Zeiträume im glühenden Zuſtande verblieben ſein ſollte, verwarnt wurde. Die Widerſprüche in Buffon's Schriften zeigen uns vielmehr, daß er mit dem Gedanken der Evolution, ohne tieferes Nachdenken und Eingehen, nur gelegentlich kokettirt hat, und ſein Mangel an feſten Ueberzeugungen zeigt eben, daß er kein Originaldenker auf dieſem Gebiete geweſen. Wollte man aber alle Perſonen, die heute darwiniſtiſchen Anſichten huldigen und morgen ſie bekämpfen, lediglich wegen dieſes Hin- und Herſchwankens für Humoriſten erklären, ſo würde man mehr Humor in der Welt vorausſetzen, als es leider giebt. Auch iſt es gänzlich unſtatthaft, ohne direkten Beweis einen Autor dadurch zu heben, daß man ſeine nicht in das vorgeſetzte Schema paſſenden Urtheile trotz des klaren Wort— lautes für anders gemeint, oder nach einer Kosmos, III. Jahrg. Heft 6. — Literatur und Kritik. 481 beliebten, aber hier nicht anwendbaren Me— thode für untergeſchoben erklärt. Dr. Erasmus Darwin iſt von But⸗ ler richtiger beurtheilt worden als Buffon, obwohl er von feinen Werken nur die Zo- onomia gekannt zu haben ſcheint. Falſch aber iſt wiederum die Unterſtellung, als ob Göthe ſeine transformiſtiſchen Ueberzeug- ungen erſt von E. Darwin erhalten habe; denn lange vor 1789, in welchem Jahre E. Darwin's erſtes Werk erſchien, hat Göthe mit Herder ähnliche Anſichten beſprochen, die Entdeckung des als trennenden Unterſchied zwiſchen Menſch und Thier betrachteten, weil angeblich fehlenden, Zwiſchenkiefers beim erſteren gemacht und die Idee ſeiner Pflanzenmetamorphoſe concipirt. Eher läßt ſich die Vermuthung begründen, daß La— marck erſt durch Erasmus Darwin's Schriften angeregt worden ſei, die Natur von dem Geſichtspunkte der Entwickelung zu betrachten. Alle dieſe Auseinanderſetzungen haben nun den Hauptzweck, zu zeigen, daß die älteren Naturphiloſophen, namentlich Eras- mus Darwin, den richtigen Weg geahnt hätten, um die Räthſel der Natur entſchleiern, daß dagegen Charles Darwin dieſen Pfad verloren habe und ſeine Zeitgenoſſen in der Irre herumführe. Hier ſteht man vor der bedenklichen Alternative, ent- weder den Verfaſſer oder die geſammte irre⸗ geführte Gelehrten-Welt unſrer Zeit für nicht recht geſcheidt halten zu müſſen, und fragt ſich verwundert, weshalb denn die Gedanken jener älteren Evolutioniſten ſpur⸗ los an ihren Zeitgenoſſen, unter denen doch auch einige leidlich urtheilsfähige Leute ge- weſen ſein werden, vorübergegangen ſind, während Charles Darwin's Schriften nach allen Seiten ſofort zündeten? Die Antwort lautet: Darwin's unſterbliches ꝓ))ꝓ))ꝓ)%000000S000ꝗSS05050—0 ·..... nn. 63 — 482 Verdienſt beruht darin, daß er eine Urſache nachwies, welche die Veränderungen der Organismen in beſtimmte Wege und zu einer Zweckmäßigkeitsſtufe leiten könnte, die ſie ſelbſt nicht zu kennen brauchen. But— ler meint hingegen, Erasmus Darwin und Lamarck ſeien auf einem beſſern Wege geweſen, indem ſie die Abſichten und Zwecke in die Organismen ſelbſt hineinlegten. Paley und die übrigen Teleologen ſuchen die Zweckmäßigkeit außerhalb der Organis— men in einem für ſie denkenden und ſorgenden Schöpfer; Ch. Darwin läugne eine vorbedachte Zweckmäßigkeit ganz; er (Butler) ſchlage mit den ältern Evolutio— niſten den Mittelweg ein, ſie weder außer— halb zu ſuchen, noch zu läugnen, ſondern ſie in den Organismen ſelbſt zu ſuchen. Man dürfe dabei nicht an weit ausſehende Zwecke denken, auch nicht an unbewußte, — Butler weiſt jede ihm imputirte Gemein— ſchaft mit Hartmann weit von ſich — ſondern nur an kleine, unmittelbare Ver— beſſerungen, die ſich allmählich zu bedeuten— Literatur und Kritik. den Größen ſummirten. Jede Fähigkeit wird durch den Verſuch erworben, und ob Einer z. B. theoretiſch wiſſe, worauf es beim Schwimmen ankomme oder nicht — lernen könne er es jedenfalls nur durch die Praxis; ſo könne man nicht ſagen, der erſte Schwimm— vogel habe dieſe Kunſt zu lernen verſucht, weil er ihre Vortheile ahnte, ſondern er habe ſie gelernt, weil er in die Lage kam, ſie nach und nach lernen zu müſſen. Stückchen Schwimmhaut zwiſchen den Zehen konnte ihm dabei zu ſtatten kommen; dem— jenigen, der es nicht zu benutzen wußte, war der Zuwachs unnütz. Auch eine voll— kommene Maſchine werde nicht in ihrer Vollendung entworfen, ſondern roh conſtru— irt und durch oft ganz unwiſſende Leute nach und nach vervollkommnet; ſo könne auch Ein | die allmähliche Vervollkommnung des Nefter- baues begriffen werden, ohne Vorausſetzung großer Intelligenz und weitausſehender Pläne. Ich hoffe im Vorhergehenden die Ideen Butler's richtig wiedergegeben zu haben, obwohl es ſehr ſchwer iſt, zu verſtehen, was er mit ſeinen vielen Umſchreibungen eigent— lich ſagen will und ob er ſelbſt eine wirk— lich klare Vorſfellung von feinen Aufſtell— ungen hat. Ich kann mir auf dieſem Wege allerdings die Entſtehung von körperlichen Fähigkeiten und Inſtinkten denken, die be— wußt angeſtrebt, nachher unbewußt geworden ſind, aber keineswegs die Entſtehung der Schwimmhäute oder irgend welcher anderen körperlichen Veränderungen. Butler's Theorie ſetzt voraus, daß alle Verbeſſerungen einmal bewußt angeſtrebt wurden, und er führt die ganz neuen und ungewöhnlichen Fähigkeiten an, welche Gaukler und Medien durch den bloßen Willen über gewiſſe Kör— pertheile erreichen. Allein dabei handelt es ſich um ziemlich weit ausſehende Zwecke, und ſo gut er ihn vielleicht brauchen könnte, hat ſich noch kein Taſchenſpieler einen ſechſten Finger zu verſchaffen gewußt, noch haben Leute mit rüſſelförmig verlängerter Ober— lippe trotz alles Strebens, ſie einzuziehen, damit Erfolg gehabt. Auch glaube ich nicht, daß jemals ein Organismus den Trieb ge— fühlt hat, in einer anderen Haut zu ſtecken, als in der ſeinen. Von uns müſſen wir jedenfalls bekennen, daß wir nicht im Mindeſten wiſſen, in welcher Richtung wir unſere Körper ver— vollkommnen könnten, es müßte denn die Sehnſucht nach den beiden Flügeln ſein, deren Anheftungsſtelle der Phyſiologe Carl Guſtav Carus bereits vorgeſehen fand. Vielleicht führt das zu einer Erklärung des Spinoza'ſchen Satzes, daß die erſten Modificationen der Subſtanz die voll— kommenſten ſeien, im Butler'ſchen Sinne. Literatur und Kritik. 483 Nur die Protoplasma⸗Weſen hätten den ganzen vor ihnen liegenden Weg gekannt, jedem Thiere aber wäre das Bewußtſein der ſchon zurück— gelegten Entwickelungsſtrecke wegen allzu— häufiger Wiederholung unbewußt geworden, und darum wiſſe der Menſch von ſeinen körperlichen Zielen am wenigſten. Aber ſo richtig es ſein mag, mit einem Autor, wie Herrn Butler, zu ſcherzen, wollen wir ihm zum Schluß doch auch einige ernſt— haft gemeinte Fragen vorlegen. Warum irren die Organismen in ſo vielen Richt— ungen (Variationen) umher, wenn ſie, wie General Trochu, „ihren Plan“ haben? Die immanente Zweckmäßigkeit könnte doch wie die Wahrheit, nur eine ſein, und man dürfte ſtatt der vielen Zweige des Thier— und Pflanzenreiches doch höchſtens einige wenige vermuthen? Oder wenn in jenen zahlreichen Zweigen, die frühzeitig und auf alle Zeit abſtarben und ihr Ziel nicht er— reichten, der Naturinſtinkt irrte, nicht im- mer die zweckmäßigſten Schritte einſchlug, mußte da nicht dieſer Irrthum wenigſtens den überlebenden Verwandten unabſichtlich zu Gute kommen? in ſeiner trefflichen, wenn auch etwas zu nachſichtigen Kritik von Life and Habit hat ſehr richtig hervorgehoben, daß Die. Butler'ſchen Ideen nur als Ergänzung der Selektionstheorie einige Berechtigung haben. Denn ſelbſt wenn man den Organismen ein wirkliches unbeſtimmtes Streben nach dem Zweckmäßigeren, ein Suchen des rechten Weges zugeſtehen wollte, immer würde erſt der natürlichen Zuchtwahl die Zutheilung der Prämien für das Erreichte, für die in gewiſſem Sinne vollkommenſte Leiſtung zu— ſtehen, und dieſe Prämie heißt Fortleben. Wie es dem Referenten ſcheint, fehlt Profitiren ſie nicht darin wenigſtens unausweichlich von der natürlichen Zuchtwahl? Dr. H. Müller mit denen Butler Ch. Darwin's An— es Herrn Butler an Conſequenz, ſeine Ideen bis ans Ende zu verfolgen und ſie gewiſſen Proben zu unterwerfen, die uner— läßlich ſind. Wahrſcheinlich haben umge— kehrt die den Butler'ſchen verwandten Ideen Erasmus Darwin's, obwohl derſelbe we— nigſtens eine geſchlechtliche Zuchtwahl an— nahm, darum ſo wenig Beifall bei den Zeitgenoſſen gefunden, weil er uner— ſchrocken alle Conſequenzen ſeiner Theorie zog. Indem er von bewußten Strebungen der Thiere ausging, unterließ er doch nicht, dieſe Strebungen auch den Pflanzen zuzu- ſchreiben, und da er dieſelben nicht ohne nervöſe Organe denken konnte, ſo ſuchte er auch hier nach denſelben. Bei den Pflanzen aber iſt es, wo ſich die Schwierigkeiten einer ſolchen Art von Naturauffaſſung am meiſten häufen. Und wenn man nun gar die gegenſeitigen Anpaſſungen von Inſekten und Blumen von demſelben Standpunkte betrachten wollte, da müßte man an Ver⸗ abredungen Beider, auf daſſelbe Ziel los— zuſteuern, denken, falls man die Wirkungen der Ausleſe, wie Butler es thut, aus— ſchließen wollte. Wir verzichten darauf, die zum Theil wahrhaft puerilen Gründe wiederzugeben, ſichten bekämpft. Nur die Pflicht, auch über ſolche unbegreiflichen Rückſchritte des Denkens unſern Leſern Bericht zu erſtatten, konnte uns dieſe Auseinanderſetzung ab- nöthigen. Weiter mit Autoren herumzu- ſtreiten, die nicht einſehen können, daß „zweck— mäßig iſt, was ſich bewährt,“ und „ſchön iſt, was gefällt“, daß eine abſolute Zweck— mäßigkeit und eine abſolute Schönheit über- haupt nicht exiſtiren, fühlen wir keinen Beruf. K. 484 Literatur und Kritik. Henry M. Stanley, Through the | breiten Straße gebildet, die auf jeder Seite Dark Continent. Copyright edi- tion. Grädener. Die letzte Expedition des unerſchrockenen Nilquellen, Umkreiſung der großen Seen des äquatorialen Afrikas und die Durch— kreuzung des Welttheiles in der Linie des Livingſtone-Stromes lieſt ſich in dieſer leben— digen Schilderung um ſo mehr wie ein Roman, als des Raumes wegen hier die geographiſchen und naturhiſtoriſchen Ergeb— niſſe der Reiſe nur die kürzeſte Erwähn— ung fanden, und der weitaus größte Raum den Erlebniſſen gewidmet iſt. Wir müſſen von dem höchſt anregenden Werke ſchon um deswillen hier mit einigen Worten Notiz nehmen, weil eine mißverſtändliche Auffaſſ— ung, die durch alle Tagesblätter gegangen war, eine Stelle dieſes Berichtes ſo aus— gelegt hatte, als wenn Stanley in ge— wiſſen thierähnlichen Schädeln Reſte eines dem Menſchen noch näher als die bisher bekannten Anthropoiden ſtehenden Weſens ge— funden hätte. Wir wollen die Stelle (Band III, S. 182 - 185), um jene Nachricht richtig zu ſtellen, wiedergeben: „Am 17. November (1876)“, erzählt Stanley, „kreuzten wir mehrere hohe Hügelketten, die durch ſchrecklich finſtere Schluchten getrennt waren, in denen einige klare Waſſer weſtwärts floſſen, und nach einem Marſch von 11 Meilen durch die feuchten, tropfenden Wälder kamen wir in Kampunzu (Diſtrikt Uvinza) an, wo die wahren Eingeborenen des Waldlandes wohnen. | von einem geraden, ſymmetriſchen und hohen Four volumes with map of Häuſer-Viereck mit Giebeldächern flankirt the author's route, copious appen— wird. dix and index. Hamburg 1878, Karl | Einige kleine Nachbardörfer find von derſelben Bauart. Die ſonderbarſte Eigenthümlichkeit des Dorfes Kampunzu waren zwei Reihen Livingſtone-Finders, ſeine Aufſuchung der Schädel, welche zehn Fuß abſeits durch die ganze Länge des Dorfes liefen, ungefähr zwei Zoll tief in den Boden eingebettet, die Hemiſphären emporſchauend, vom Wetter gebleicht und weißſchimmernd. In dieſem einen Dorfe waren 186 ſolcher Schädel vorhanden. Es ſchienen mir menſchliche Schädel zu ſein, obgleich viele eine außer— ordentliche Ausladung der hinteren Lappen, andere der Seitenwand zeigten, und die Stirnwand ungewöhnlich hoch und zurück— fliegend war; dennoch waren die Näthe und der allgemeine Anblick der größten Zahl darunter ſo ähnlich dem, was mir als Menſchenſchädel vorſchwebte, daß ich mit einer faſt gleichgiltigen Miene meine Führer und Araber frug, was das für Schädel wären? Sie erwiderten: „Sokos“ (Chimpanfen). „Sokos aus dem Walde?“ „Sicherlich,“ erwiderten Alle. „Bringe ſofort das Oberhaupt von Kampunzu zu mir....“ Das Oberhaupt von Kampunzu — ein hoher, kräftig gebauter Mann von un— gefähr 45 Jahren — erſchien und ich fragte: „Mein Freund, was ſind das für Dinge, mit welchen Ihr die Straßen Eures Dorfes verziert?“ Er antwortete: „Nyama“ (Fleiſch). „Nyama! Nyama wovon?“ „Nyama aus dem Walde.“ „Aus dem Walde! Was für'n Ding iſt dieſes Nyama aus dem Walde?“ Das Dorf Kampunzu iſt etwa 500 „Es iſt ungefähr von der Größe dieſes Knaben,“ ſagte er, auf Mabruki, meinen Hards lang und wird von einer 30 Fuß Gewehrträger deutend, der 4° 10” groß iſt. „Es ſchreitet wie ein Mann und geht mit einem Stock umher, mit welchem es gegen die Bäume im Walde ſchlägt und einen ſchrecklichen Lärm macht. Der Nyama ißt unſere Bananen und wir jagen, tödten und eſſen ihn.“ „Sind ſie gut zu eſſen?“ frug ich. Er lachte und erwiderte, daß ſie ſehr gut wären. „Würdet Ihr einen verzehren, wenn Ihr ihn hättet?“ „Allerdings würde ich. Soll ein Mann Fleiſch verſchmähen?“ „Wohl, ſieh her. Ich habe hundert Kauris hier. Nehmt Eure Leute und fangt einen und bringt ihn mir, lebend oder todt. Ich brauche blos ſein Fell und ſein Haupt. Das Fleiſch ſollt Ihr haben.“ Kampunzus Häuptling brachte mir, be— vor er mit ſeinen Leuten auszog, ein Stück Fell eines derſelben, welches wahrſcheinlich den Rücken bedeckte. Der Pelz war dunkel— grau, das Haar zolllang, meiſt weißſpitzig, eine Linie dunkleren Haares bezeichnete das Rückgrat. Dies, verſicherte er mir, wäre ein Stück Fell vom Soko. Er zeigte mir auch eine daraus gefertigte Mütze, die ich kaufte. Der Häuptling kehrte gegen Abend erfolglos von der Suche zurück. Er lud uns ein, zwei bis drei Tage zu bleiben, um Schlingen zu legen für die „Sokos“, da ſie ſicher in der Nacht kommen würden, um die Bananen zu beſuchen. Außer Stande, ſo lange zu warten, erhielt ich für einige Kauri einen männlichen und einen weiblichen Schädel. Dieſe beiden Schädel wurden wohlverwahrt nach England gebracht und Prof. Huxley vorgelegt, welcher folgen— des Urtheil über ſie abgegeben hat: „Von den zwei mir zur Unterſuchung . Literatur und Kritik. 485 übergebenen Schädeln ſtammt der eine von einem Manne, vermuthlich etwas unter 30 Jahren, der andere von einer Frau über fünzig. Der Mannesſchädel beſitzt alle charakteriſtiſchen Eigenthümlichkeiten des Negertypus, einbegriffen einen ausgefpro- chenen, aber nicht ungewöhnlichen Progna— thismus. Bei dem weiblichen Schädel iſt der einzige bemerkenswerthe Punkt eine einigermaßen ungewöhnliche Breite der vorderen Naſenöffnung im Verhältniß zu ihrer Höhe, andeutend, daß die Naſenlöcher etwas weiter ſeitwärts und die Naſenſpitze etwas platter als gewöhnlich geweſen ſein mögen. Bei beiden Schädeln beträgt der Index 75. Nichts rechtfertigt hinſichtlich dieſer Schädel die Annahme, daß ihre ehemaligen Beſitzer in irgend einem merklichen Grade von dem gewöhnlichen afrikaniſchen Neger abweichend geweſen wären.“ „Prof. Huxley“, ſetzt Stanley hinzu, „erſchreckt mich durch das Obige mit dem Beweiſe, daß Kampunzus Bewohner Kanibalen waren, denn mindeſtens die Hälfte der von mir geſehenen Schädel trug die Spur eines in das Haupt der lebenden Opfer geſchlagenen Beiles“. Karl Faulmann, Illuſtrirte Ge— ſchichte der Schrift. Populär- wiſſen⸗ ſchaftliche Darſtellung der Entſtehung der Schrift, der Sprache und der Zahlen, ſowie der Schriftſyſteme aller Völker der Erde. Mit vierzehn Tafeln in Farben und Tondruck und vielen in den Text gedruckten Schriftzeichen, Schriftproben und Inſchriften. A. Hartleben, Wien, Peſt und Leipzig. Lief. 1. und 2. Der Verfaſſer beginnt dieſes auf zwanzig Lieferungen à zwei Bogen berechnete Werk 486 mit den Worten: „Eine Geſchichte der Schrift iſt bisher noch nicht geſchrieben worden.“ Heinrich Wuttke's Geſchichte der Schrift (1872— 73) wird demnach einfach ignorirt. In der That iſt der Standpunkt des Ver— faſſers ein dem Wuttke'ſchen diametral ent— gegengeſetzter. Wuttke hatte mit der über— wiegenden Mehrzahl aller Forſcher auf dieſem Gebiete angenommen, die Menſchen hätten zuerſt ihre Aufzeichnungen in rohen Bildern gemacht, aus dieſen Bildern ſei eine Wort— ſchrift entſtanden, die zur Silbenſchrift und endlich durch Vereinfachung zur Buchſtaben— ſchrift gemacht worden ſei. Dieſe namentlich von Aegyptologen ausgegangene Anſicht, die ſich jedenfalls durch Einfachheit und Wahr— ſcheinlichkeit empfiehlt, wird von dem Ver— faſſer auf das Entſchiedenſte bekämpft, und durch eine anſcheinend recht complicirte Theorie erſetzt, wonach von Anfang an nicht Bilder, ſondern abſtrakte Symbole benutzt worden fein ſollen, um Bedürfniſſe in bedeut- ſamen Zeichen auszudrücken, ähnlich wie die Geſten urſprünglich eine Sprache erſetzt haben oder erſetzt haben können. Verſchiedene Sprachforſcher haben die Wahrſcheinlichkeit dargelegt, daß die Vernunft erſt durch die Sprache ausgebildet worden ſei, Faulmann geht noch einen Schritt weiter und ſagt, die Sprache ſei im gewiſſen Sinne erſt durch die Schrift erſchaffen worden, wenigſtens ſcheinen ſeine bisherigen Auseinanderſetzungen dieſes Ziel anzudeuten. Die in dem „Runa oder das Geheimniß des Urſprungs der Lautzeichen“ betitelten erſten Theil gegebenen Auseinanderſetzungen ſind, ſoweit ſie bisher vorliegen, ebenſo originell als intereſſant und leſenswerth, Literatur und Kritik. | aber freilich können wir dabei das Bedenken nicht unterdrücken, ob Meinungen oder Auf— faſſungen, die ſich noch in keiner Weiſe im Rathe der Forſcher bewährt und, wie es ſcheint, nicht einmal vorher der Kritik in wiſſenſchaftlichen Zeitſchriften u. ſ. w. dar- geboten worden ſind, die alſo einen vor— wiegend individuellen Charakter tragen, ſich dazu eignen, in einem Lieferungswerke der großen Menge dargeboten zu werden, die darin natürlich das Ergebniß der allgemeinen Schriftforſchung ſehen wird. Sogar der Entwicklungslehre wirft man alle Tage vor, daß ſie zur Populariſirung noch nicht reif ſei, während ſie doch durch Erfahrungen und Ueberzeugungen Tauſender geſtützt wird: Hier aber haben wir nur die Ideen eines einzelnen Autors, welcher jeden Mythus, jedes Zeichen nach ſeiner augenblicklichen Ueberzeugung deutet und ſeine Stärke darin ſucht, fie in einer von allem Bisherigen a b— weichenden Weiſe zu deuten. Im Uebrigen müſſen wir uns natürlich ein eingehendes Urtheil bis zu einem Zeitpunkte verſparen, wo mehr von der jedenfalls originellen Arbeit vorliegen wird. Die Darſtellung iſt ebenſo klar als gewandt, die Ausſtattung äußerſt ſplendid. Thomas H. Huxley's in Amerika ge— haltene wiſſenſchaftliche Vorträge, nebſt einer Vorleſung über das Studium der Biologie. Autoriſirte Ausgabe von Dr. J. W. Spengel. Mit in den Text eingedruckten Holzſchnitten. Braunſchweig Friedrich Vieweg und Sohn 1879. 141 Seiten in 8. — In dieſem vortrefflichen Buche ſind es namentlich die drei erſten in Neu-Vork gehal— tenen Vorträge über die Entwicklungslehre, welche das außerordentliche Talent Huxley's illuſtriren, „vorausſetzungslos“ über die ſchwierigſten und heikelſten Thema zu ſprechen. In dem erſten behandelt er die drei Hypo— theſen über die Geſchichte der Natur. Dieſe Literatur und Kritik. drei Hypotheſen ſind: 1) Die Welt mit ihren Bewohnern iſt, abgeſehen von unbedeutenden Schwankungen, immer ſo geweſen, wie ſie jetzt iſt; 2) ſie iſt vor nicht langer Zeit in kurzer Friſt erſchaffen worden; 3) fie hat ſich aus niederen Anfängen äußerſt langſam entwickelt. Mit dem ihm eigenen bewunder— ungswürdigen Geſchick hat Huxley die bibliche Hypotheſe eliminirt, da ſie von den verſchiedenen Theologen ſo verſchieden inter— pretirt werde, daß man gut thue, die „Biegſamkeit der hebräiſchen Sprache zu be— wundern“ und ſich an eine unzweideutige Auf— faſſung, wie ſie Milton giebt, zu halten. Die Miltonſche Hypotheſe wird dann, wie diejenige von der Unveränderlichkeit der Welt, durch Geologie und Paläontologie widerlegt und die Evolutionstheorie als die allein haltbare dargethan. Zu derſelben im zweiten Vortrage ſpeci— eller übergehend, widerlegt Huxley zunächſt die Meinung, daß die ſogenannten Dauer— typen etwas gegen die Lehre von der Veränderlichkeit der Art beweiſen könnten. Er zeigt, daß es ſo gut wie heute zu allen Zeiten unveränderliche Typen gegeben hat, daß gewiſſe Globigerinen, Brachiopoden und Fiſchgattungen ſeit der Kreidezeit, ja aus noch älteren Zeiten, unverändert oder faſt unver— ändert bis auf unſere Zeit gekommen ſind. Dies aber ſei kein Beweis gegen die Ent— wicklungslehre im Allgemeinen, ſondern nur für jene Form derſelben, welche von der Annahme ausgeht, daß eine innere Noth— wendigkeit auf Seiten der einmal entſtandenen Thierarten beſtehe, ſich beſtändig umzubilden. Dagegen ſtimmen ſolche Thatſachen völlig mit der Darwin'ſchen Theorie überein, und widerſprechen nicht einmal der Annahme, daß allen Organismen wenigſtens in einer gewiſſen Daſeinsperiode eine Variations— Tendenz beigewohnt habe. Es handelt ſich 487 hierbei um folgenden Unterſchied: „Iſt einmal die Tendenz zur Variationsbildung zugegeben, ſo hängt es lediglich von den Verhältniſſen, welche den Kampf um das Daſein bedingen, ab, ob die entſtandenen Variationen die Stammform überleben und an ihre Stelle treten, oder ob die Stammform die Varia- tionen überlebt und an ihre Stelle tritt. Sind die umgebenden Verhältniſſe derart, daß die Stammform mehr dazu angethan iſt, ſich ihnen zu fügen und unter ihnen zu gedeihen, als die abgeleiteten Formen, dann wird ſich im Kampfe ums Daſein die Stammform erhalten, und die abgeleiteten Formen werden zu Grunde gehen. Sind die Verhältniſſe dagegen derart, daß ſie einer abgeleiteten Art günſtiger ſind, als der Stammform, dann wird die Stammform ausgerottet werden, und die abgeleiteten an ihre Stelle treten. Im erſten Falle wird kein Fortſchritt, keine Veränderung im Bau während einer auch noch ſo langen Zeit ſtattfinden, im zweiten dagegen eine Umbildung und Ver— änderung der Form.“ In einer ebenſo geiſt— reichen Weiſe beſeitigt er die Bedenken wegen der Lückenhaftigkeit der Urkunden, indem er an den Connektikut⸗Sandſtein erinnert, der uns aus der Zeit ſeiner Bildung Tauſende von Fußſpuren merkwürdiger Thiere erhalten hat, von denen kaum ein Knochen auf unſre Zeit gekommen iſt. Er geht dann auf die Entwicklung der Vögel aus den Reptilien über, wobei er den Charakter der ſogenannten „Schalttypen“ erörtert, die man nicht eigentlich als Verbindungsglieder, ſondern als abgeleitete Formen von denſelben zu betrachten habe. Im dritten Vortrage erläutert der Verfaſſer an dem Beiſpiele der vorweltlichen Pferde Dasjenige, was er mit Recht Beweiſe für die Entwicklungslehre nennt. Der vierte Vortrag enthält eine zur urn, 488 Eröffnung der Hopkins-Univerſität zu Bal- | | timore gehaltene Rede über Univerſitäts— bildung, und die letzte eine Rede über das Studium der Biologie, durchgeiſtigt von jener als Lehrer und Examinator natur— wiſſenſchaftlicher Disciplinen erworbenen Kenntniß, die ihn zu einem ſo feinen Beurtheiler deſſen macht, was dem Studirenden vor Allem Noth thut. Beiläufig erfahren wir in dem letzten Vortrage, daß das namentlich durch Treviranus aus Bremen eingeführte Wort Biologie eigentlich nicht die Lehre vom Leben überhaupt, ſondern die Lehre vom menſchlichen Leben (Bios) heißen würde, aber wir hoffen mit ihm, daß der Irrthum verjährt ſein und das als richtiger vor— geſchlagene harte Wort „Zootokologie“ uns erſpart bleiben möge. Wir empfehlen das wie alles aus ſeiner Feder Stammende, un— gemeine klare Buch Huxley's nicht nur den Anhängern, ſondern beſonders auch den Gegnern der Descendenztheorie zum reuevoll— ſten Studium. Die Morphologie des Schädels von W. K. Parker und G. T. Bettany. Deutſche autoriſirte Ausgabe von Dr. B. Vetter, Profeſſor an Polytechnikum in Dresden. Mit 86 Holzſchnitten. Stutt- Literatur und Kritik. gart, E. Schweizerbart (E. Koch), 1879, 362 in 8. — Dieſes vortreffliche Werk, auf welches wir bereits beim Erſcheinen der engliſchen Ausgabe hinwieſen (Bd. II. S. 190), iſt hauptſächlich für Studirende beſtimmt, indem es die Reſultate genauer Beobachtungen der Schädelentwicklung bei acht Vertretern der Wirbelthiere (Hundshai, Rochen, Lachs, Axolotl, Froſch, Natter, Haushuhn und Schwein) darſtellt, wobei Bildung und Um— bildung der einzelnen Theile nach Indivi— duum und Klaſſe verfolgt werden. Da dieſe Unterſuchungen erſt das Fundament einer vergleichenden Schädelwiſſenſchaft bilden helfen, ſo iſt von allgemeinen Schlüſſen meiſt abgeſehen worden, doch bilden die Grundgedanken der Evolutionstheorie durch— weg den Einigungspunkt der in großer Zahl feſtgeſtellten Einzelnheiten. Auch von der Betrachtung des Schädels aus wird hier als ſicher gefolgert, daß die Säuge— thiere als direkte Abkömmlinge der Amphi- bien betrachtet werden müſſen, ein Schluß, zu welchem Huxley von ganz andrer Seite her gelangt iſt. In der verdienſt— vollen Ueberſetzung von Prof. Vetter iſt das Buch ſicherlich eine ſchätzenswerthe Be- reicherung unſerer anatomiſchen Literatur geworden. Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig, u ai . Dr. Krauſe-Hamburg ſprach über mafrocephale Schädel von den neuen Hebriden, von denen das Muſeum Godef— froy; in Hamburg 16 Exemplare beſitzt. Unter Vorlegung zweier ſolcher Schädel zeigt der Redner, daß dieſelben künſtlich deformirt ſind; er weiſt darauf hin, daß es von Intereſſe ſei, dieſe künſtliche Form der Schädel auch bei einer rein melaneſiſchen Bevölkerung zu finden. Die Deformation hat nach zwei Richtungen ſtattgefunden; ſowohl die Stirn— wölbung als die Scheitelwölbung iſt durch Einſchnürung niedergedrückt. Das Weſent— liche der Deformation beſteht darin, daß alle Längenmaße unverändert geblieben ſind, während die Dimenſionen der Breite ſich verringert und als Compenſation die der Höhe ſich vergrößert haben. Als Mittel- indices erhielt Krauſe 77,6; 69,6; 108,8; für die Capacität 1280,7 kem. Dem Vor— tragenden iſt es dadurch erwieſen, daß das Wachsthum des Schädels gehemmt wurde. Die Häufigkeit von unregelmäßigen Bild— ungen weiſt auf eine niedere Stufe der Bevölkerung hin, worauf bereits Virchow aufmerkſam gemacht hat. Außerdem zeigt Redner einen neuen Schädelmeß- und Zeichenapparat vor, welcher von Herrn In— genieur Kaemp in Hamburg nach ſeiner Angabe conſtruirt iſt, und mit dem es er— möglicht wird, die Schädeloberfläche durch Zeichnung auf die Fläche zu projiciren. Im Anſchluß hieran legte Prof. Joh. Ranke einen nach ſeiner Angabe vom Mechaniker Stollenreuter in München gefertigten Zeichenapparat vor, ein ſtorchſchnabelähn— liches, mit Luca e 'ſchem Diopter verſehenes Inſtrument, welches ſchon in mehreren Exem— plaren ſich in der Hand hervorragender Forſcher befindet. Geh. Rath Schaaffhauſen- Bonn legte einen foſſilen Schädel eines Kosmos, III. Jahrg. Heft 6. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Moſchusochſen vor. Es iſt der achte derartige, bisher in Europa gemachte Fund. Er ſtammt aus Moſelweiß bei Coblenz von einem Abhange des alten Moſelthals und hat etwa 13 — 14 Fuß tief im kalkigen Lehm gelegen. Der Schädel iſt ſehr wohl erhalten und beſitzt die linken Knochenzapfen für das Horn vollſtändig. Der Moſchus— ochſe iſt das nördlichſte der heute noch leben— den Thiere der Quaternärzeit und daher der Schluß wohl berechtigt, daß damals die Gletſcherzeit herrſchte, als er im Rheinland lebte. Der vorgelegte Schädel hat deshalb einen großen Werth, weil ſich an ihm am Stirnbein und am Hinterhaupt ſcharfe Ein— ſchnitte vorfinden, welche Vortragender als unzweifelhaft von der Hand des Menſchen herrührend bezeichnet. Dieſe Einſchnitte hatte Herr Schaaffhauſen erſt entdeckt, nach— dem er den mit Kalkſinter überzogenen Schädel gewaſchen und gereinigt hatte. Die mit einem Steinbeil ausgeführten Hiebe, welche ſich auf dem Vorderkopf des Schädels befinden, ſind wahrſcheinlich diejenigen, mit denen das Thier getödtet worden iſt; außer— dem finden ſich noch einige ſcharfe Einſchnitte an der Baſis der Knochenzapfen, die bei der Abhäutung des Thieres gemacht ſein mögen. Der Vortragende forſchte in der Nähe der Fundſtelle nach Spuren des Menſchen aus prähiſtoriſcher Zeit und war ſo glücklich, eine höchſt merkwürdige Nachricht zu erhalten, die er für ebenſo werthvoll hält, als den Fund des Moſchusochſen-Schädels ſelbſt. Es fand ſich nämlich in einer Mulde dieſes Thalabhanges, in derſelben Tiefe wie jener Lehm, einige hundert Fuß von der Fund— ſtelle entfernt, eine vier Fuß hohe Ablagerung von Bimſtein und unter derſelben eine ſechs Fuß im Durchmeſſer einnehmende Schicht | von zolldicken Kohlen, die ſchon von den Arbeitern als alter Feuerherd gedeutet EEE a 5 SE 62 474 worden war. dieſe Anſicht, nach welcher der Menſch ſchon zu jener Zeit am Rhein gelebt habe, als daſelbſt die vulkaniſchen Erſcheinungen ſtatt— fanden. Es fehlt übrigens nicht an andern Zeichen der Exiſtenz des Menſchen in da— maliger Zeit und Gegend; ſo z. B. legt der Vortragende die Photographie eines aus der Gegend von Andernach ſtammenden Lava— blockes vor, in dem ein großer eiſerner Nagel eingeſchloſſen iſt. Redner findet in den Einſchnitten des Schädels des Moſchusochſen einen beſſeren Beweis für die gleichzeitige Anweſenheit des Menſchen mit der aus— geſtorbenen Thierwelt der Vorzeit, als in den mancherlei Angaben, welche für das Zuſammenleben des Menſchen mit dem Mammuth gemacht werden. Das Auffinden von Mammuthknochen, welche von Menſchen— hand bearbeitet ſind, iſt nicht ohne weiteres als ein ſolcher Beweis anzuſehen, da der Menſch der Vorzeit ohne Zweifel ſchon das foſſile Mammuth-Elfenbein gefunden und bearbeitet haben kann. Der Redner ging dann über auf die Betrachtung und Be— ſprechung des größten megalithiſchen Denkmals im Moſelthal, des bei Trarbach ſchon ſeit zweihundert Jahren bekannten ſogenannten „Wildſteins“, an den ſich Sagen knüpfen, und von dem er Abbildungen vorlegt. Schließlich gibt er unter Vorlegung zahl- reicher ſchöner Fundſtücke aus der Zeit der Merovinger im fünften und ſechſten Jahr— hundert einen Bericht über eine Ausgrabung bei Meckenheim in der Nähe von Bonn. Es handelt ſich hier um fränkiſche Rieſen— gräber. Unter den gefundenen menſchlichen Reſten befindet ſich ein Makrocephalos, den Redner als Hunnenſchädel deutet. Todten hatten im Gürtel den Feuerſtahl und Feuerſtein; zwiſchen den Zähnen lag bei Einem eine merovingiſche Soldmünze als Obolus. Auch der Vortragende theilt Die Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Dr. Mehlis aus Dürkheim giebt hierauf einen ausführlichen Bericht über ſeine neueſten Ausgrabungen auf der Lim— burg. Er hat hier auf Virchow's Rath eine neue Schürfung in einer Ausdehnung von vierzig Quadratmetern vorgenommen in einer Richtung, welche ſüdöſtlich von den beiden erſten Schachten liegt. Die oberſte Schicht ergab mittelalterliche Reſte, darunter folgte eine römiſche Schicht, in der ſich u. a. eine Münze aus ſpäterer Zeit, vom Kaiſer Valerian, fand. Gleichzeitig kamen Gefäß— reſte aus römiſcher Zeit, wie die Technik bewies, zum Vorſchein. Das unterſte war endlich eine Brandſchicht mit rothen Scherben. mit Knochen, Wirbeln, mit Bronzefunden, Armringen u. a. m. Die Knochen ſind durch Prof. Fraas beſtimmt worden, ſie ſtellen ſich heraus als herrührend von klein— hörnigen Rindern, Wildſchwein, Edelhirſch, Reh, Ziege, Schaf, Haushund, Elenthier (?) u. ſ. w. Der Redner zieht aus feinen: neueſten Unterſuchungen den Schluß, daß die Limburg von den Römern bewohnt geweſen ſei, aus welcher Zeit die alte Ringmauer ſtamme, ebenſo wie die Anlagen auf dem Odilienberg; daß jene Gegend aber vorher von einer prähiſtoriſchen Bevölkerung ein— genommen geweſen ſei. Der Vortragende legt eine große Anzahl von Fundſtücken aus ſeinen Unterſuchungen vor. Straub, der gelehrte Canonicus vom Straßburger Bisthum referirte über die Ausgrabungen in der ſchon berührten Nekro— pole. Nach den Funden, die wir ſelbſt dort dem Boden entnahmen, den Gläſern und Thonbechern, den Münzen Conſtantins und der Inhumationsart rührt das Ende dieſes Todtenlagers aus der ſpäteſten Römerzeit her. Mit einigen ſcharfen Worten der Po— lemik gegen Virchow, der noch auf der vorjährigen Verſammlung Zweifel gegen ſeine Funde ausgedrückt hatte, leitete Dr. Mook aus Cairo einen Vortrag über alte Steinwerkzeuge in Egypten ein. Er bringt ein überaus reiches Material zur Stelle, welches er von Mitte November bis Mitte Dezember vorigen Jahres bei Heluau ausgegraben, und ſpäter in Oberegypten bei Derr auf dem rechten Nilufer in der Nähe von Luxor geſammelt hat. An foſſilen Thieren wurde in Unteregypten neu aufge— funden Antilope bubalis. In Egypten zeigen ſich dieſelben Steinzeitepochen wie in andern Ländern, mit Ausnahme des polirten und durchbohrten Steins. Virchow hatte zu erwidern, daß wenig— ſtens an den Dardanellen und auch an andern Orten des Orients von einer eigentlichen Steinzeit keine Spuren gefunden ſeien. Das ändert indeſſen nichts an der Thatſache, daß in Syrien, Egypten und andern orientaliſchen Ländern zahlreiche Spuren einer Steinzeit conſtatirt werden konnten. Herr Dr. Much-Wien ſprach alsdann über einen von ihm aufgedeckten Lager— platz von Mammuthjägern bei Still— fried an der March in Niederöſterreich. Im Gegenſatze zu der verhältnißmäßigen Selten— heit von direkten Beweiſen der Gleichzeitig— keit des Menſchen mit dem Mammuth ſind die Prähiſtoriker in Niederöſterreich in der glücklichen Lage, dieſelben mehrfach bringen zu können. Kurz zu erwähnen ſind die bisherigen Fundorte von Joslowitz, Zeiſel— berg, Göſing und Stettenhof. In Stillfried, auf einem wahrhaft klaſſiſch prähiſtoriſchen Boden, finden ſich zwanzig Meter tief unter prähiſtoriſchen Gräbern und römiſchen Reſten Knochen vom Mammuth, und ſolche von den Extremitäten, insbeſondere Backen⸗ und Stoßzähne, vorwiegend von in einer etwa zwei Meter mächtigen Löß— zwar jungen oder doch nicht ſehr alten Thieren Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 475 | ſchicht, vermischt mit zerſtreuter Kohle, ſtellen— weiſe größeren, bandförmigen Aſchenanſamm— lungen und Artefakten aus Feuerſtein, ins⸗ beſondere Meſſern und Schabern. Artefakte aus Knochen wurden nicht gefunden, doch zeigt ein Stoßzahn deutliche Spuren von ſchweren Hieben durch Steingeräthe; nament— lich zeigen einzelne Schnittflächen genau die feinen Riefen, welche die Zähne an der Schneide der Steingeräthe eingegraben haben, Die ſchwierig zu beurtheilenden Localverhält— niſſe werden ſcheinbar noch räthſelhafter da— durch, daß ſich bei der Fundſtelle in den Löß gegrabene Höhlen befinden, welche übrigens auch an andern Orten des Landes zahlreich vorkommen, jedoch in keinem Falle zu den eben beſchriebenen Lagerplätzen der Mammuth⸗ jäger in Beziehung gebracht werden können. Ueber einen Vortrag, den Prof. Vir— chow noch über Troja gehalten, können wir uns den Bericht ſparen, da wir über ſeine Wahrnehmungen bereits ausführliche Mit— theilungen gebracht haben. Am Schlußtage brachte ein Ausflug auf die Heidenmauer des Oſdilienberges mit ſeinen gewaltigen, gethürmten Quadern, welche Eiſen und Holz zuſammenbinden, durch Aufdeckung eines Plattengrabes auch Zeugen ſpäterer Jahrhunderte vor die er— ſtaunten Augen, welche mindeſtens einige keltiſche Druiden entdecken zu müſſen glaub— ten, nämlich Fundobjekte aus der me— rovingiſchen Culturepoche, als Ohrringe mit Berloquen aus Silber, Kopfputzborten aus Gold, eine Schleife aus Bronze. — Und ſomit wären an dieſem anthropologi— ſchen Congreſſe alle Epochen der Geſchichte kurz „durchlaufen“ worden; vom Kampfe mit dem Moſchusochſen bis zur Urſchmiede am Mitterberge, vom vorgeſchichtlichen Vul— kanausbruche in der Eifel bis zur Beſtatt— ung der Römer und Merovinger. 476 Die Symbolik der langen Nägel. Im Anſchluſſe an die Sitte vornehmer Stände Europas und Aſiens, die Finger— nägel lang zu tragen, giebt Carl Haber— land im Globus (Bd. XXXIV, S. 191) einen Ueberblick über die weite Verbreitung dieſer Gewohnheit, dem wir das Folgende entnehmen: „Auf Mindauas fand bereits Dampier, daß man die Daumennägel, namentlich der linken Hand, ſehr lang trug und dieſelben nie beſchnitt, ſondern nur be— feilte; noch jetzt herrſcht dort dieſe Sitte, ebenſo wie auf Java). Unter den poly— neſiſchen Gruppen wird von Tahiti berichtet, daß die Häuptlinge an einem oder an allen Fingern lange, bisweilen gliedlange Nägel tragen und ſolche ſorgfältig rein erhalten; unter den melaneſiſchen von Viti, daß man als Zeichen der Fürſtenwürde am Daumen die Nägel lang wachſen läßt.“) In Afrika iſt die Sitte bei verſchiedenen Völkerſchaften verbreitet. Livingſtone fand bei den Makololo lange Nägel, weil ſie dieſelben überhaupt nicht zu ſchneiden pflegten“ “), und Cameron fielen am Thronfolger in Kanyenye die enorm langen Nägel ſeiner linken Hand auf, welche er als Zeichen, daß er nicht nöthig habe, zu arbeiten, trug. ) Auf der Goldküſte galt die Länge der Nägel gleichfalls als vornehm; je länger dieſelben, welche übrigens ſtets ganz frei von Schmutz und ganz weiß gehalten wurden, deſto höher war der Beſitzer geachtet. In Groß-Baſſam (Guinea) läßt man die Nägel der linken Hand, deren man ſich niemals beim Eſſen, ſondern nur bei unreinen Beſchäftigungen *) Th. Waitz, Anthropologie der Natur- völker. Fortgeſ. von Gerland. Bd. VI, S. 28. ) Ebdſ., S. 658. ) Ausland 1865, S. 1231. 7) Globus XXXI, S. 321. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. bedient, gleichfalls lang wachſen.“) Daß bei den afrikaniſchen Völkerſchaften übrigens bereits in älteſten Zeiten lange Nägel als Hoheitszeichen üblich waren, zeigen uns die Darſtellungen des alten Meroe, auf welchem die unförmig beleibten Königinnen ſich durch die Länge ihrer Nägel auszeichnen.“) Die mexikaniſche Prieſterſchaft trug gleichfalls lange Nägel, wohl weniger als Rangaus— zeichnung, als weil dieſelben, ebenſo wie das Haar, nicht geſchnitten werden durften“ *); dagegen berichtet Vasconcellos von einigen wilden Stämmen Braſiliens, daß als Auszeichnung ihre Häuptlinge die Dau— mennägel krallenartig wachſen ließen. 5) Finden wir ſo den langen Nagel, weil er anzeigt, daß ſein Träger mit einer ſolchen Hand nicht arbeiten kann, und alſo über das gemeine, arbeitende Volk hinausgehoben iſt, bei verſchiedenen Völkern als eine Rang— auszeichnung, ſo braucht es uns nicht zu wundern, daß er auch bei uns in einigen Geſellſchaftsſchichten, als ein gewiſſes ariſto— kratiſches Air verleihend, ſorgfältig gepflegt wird, da gerade die aus derartigen Ideen— verbindungen niederer Stufen hervorge— gangenen Sitten, welche von dem hoch— ſtehenden Theile der Geſellſchaft als Aus— zeichnung krampfhaft feſtgehalten werden, von höchſter Zähigkeit ſind, und ſich noch weit in cultivirte Epochen hinein erſtrecken, nach— dem längſt das Bewußtſein des urſprüng⸗ lichen Gedankens, dem ſie ihre Entſtehung verdankten, verſchwunden iſt. Mag nun erwähnte Sitte bei uns ein ſolches Ueber— bleibſel ſein, oder mag die gleiche Idee, *) Waitz, a. a. O., I, S. 151. ) Lepſius, Briefe aus Aegypten, S. 181. Fr, Waitz, a an ., EV, GL. lo +) Ph. von Martius, Von dem Rechts- zuſtande unter den Ureinwohnern Braſiliens. München 1832, S. 19. 477 wie bei den niedrigſtehenden Völkern auch Pinart dieſen Träumereien und rück— in unſrer modernen Geſellſchaft, dieſe Ver— unſtaltung der Hand bewirkt haben, jeden— falls iſt es intereſſant, zu bemerken, wie der ſtolz auf ſeine wohlgepflegten Nägel blickende Ariſtokrat und der wulſtlippige Neger- oder menſchenfreſſende Fidſchi-Häupt⸗ ling gleicher Sitte huldigen, und wie gerade derartige unweſentliche Gebräuche den ge— waltigen Zwiſchenraum, welcher Cultur und Unkultur ſcheidet, überbrücken.“ Die Steinbilder der O ſterinſel. Man hat ſich ſeit lange gefragt, wie die berühmten Steinbilder der Oſterinſel aus ihrem ſehr harten Material hergeſtellt ſein könnten. Da man die Bevölkerung dieſer Inſel ohne Metallwerkzeuge fand, verlor man ſich in den wunderlichſten Schlüſſen, und einige Gelehrte, z. B. A. R. Wallace, waren nicht ſehr abgeneigt, in ihnen die Denkmale irgend eines myſte— riöſen, weiſen Urvolkes, einer vernichteten Urkultur zu erkennen (vergl. Kosmos Bd. . S. 152). In der Sitzung der Pariſer anthropologiſchen Geſellſchaft vom 19. Juli dieſes Jahres machte der durch ſeine Reiſen in Nordamerika wohlbekannte Ethnologe Urbewohner vollſtändig maſſakrirt. ſchrittlichen Speculationen ein Ende, indem er der Geſellſchaft einige jener Werkzeuge vorlegte, die dazu gedient haben, jene Steinbilder zu verfertigen: Es ſind Stein— beile mit ein oder zwei Schneiden aus dem außerordentlich harten Obſidian dieſer Inſel. Ebenſo hinfällig ſind die Schlüſſe, die man aus der angeblichen künſtleriſchen Vollend— ung dieſer Steinbilder hat ableiten wollen. Es ſind ſehr grobe Skizzen menſchlicher Büſten, gewöhnlich Hermen ohne Arme, oder dieſe, wenn ſie vorhanden ſind, nach egyptiſcher Art glatt an den Leib gelegt. Nach den eigenen Traditionen der Oſter— inſel ſind die jetzigen Bewohner von der Inſel Rapa, nach anderen Nachrichten von Mangareva, eingewandert, und haben die Man zeigt von erſteren auch noch Befeſtigungs— werke, die denen der Inſel Rapa ähnlich genug ſein ſollen. Ebenſo Holzſtücke mit Hieroglyphen, ſogenannte Toromiro, d. h. „ſprechende Hölzer“. In den Steinbildern des vernichteten Stammes hat man die Züge der Aymaras in Peru zu erkennen geglaubt, doch iſt ſolchen vagen Aehnlich— keiten und daraus gezogenen Schlüſſen na— türlich nicht das mindeſte Gewicht beizu— legen. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Titerafur und Kritik. Essai sur la meteorologie de Kepler par M. H. Brocard, Capitaine du genie, membre du Conseil de la So— ciété météorologique de France. Gre- noble, Maisonville et Fils, 1879. 43 ©. 0 line Zeitſchrift, wie dieſe, darf wohl in erſter Linie von jenen geſchichtlichen „Oh Arbeiten Notiz nehmen, welche uns über die Wege aufklären wollen, auf welchen der menſchliche Geiſt aus dem Dunkel mittelalterlicher Anſchauungen ſich in die Höhe arbeitete und zu einer rationellen Auffaſſung des Ganges der Naturerſcheinungen durch— drang. Für ſo manchen Zweig der Philo— ſophie und Naturwiſſenſchaft iſt dieſer Ent— wickelungsgang bereits aufgezeigt worden, allein gerade für eine der wichtigſten Dis— ciplinen, für die Witterungskunde, hat es bislang allzuſehr an literariſchen Verſuchen dieſer Art gefehlt. Der Unterzeichnete hat im 5. Hefte ſeiner „Studien zur Geſchichte der mathematiſchen und phyſikaliſchen Geo— graphie“ bei Beſprechung des aſtrometereo— logiſchen Syſtems, welches ſich der bekannte Aſtronom Werner conftruirt hatte, einen Ueberblick über die Geſchichte der Meteoro— logie bis zu jener Zeit zu geben verſucht, da Tycho Brahe's Scharfblick mit den aſtrologiſchen Phantaſtereien brach und der jungen Wiſſenſchaft jene Richtung vorzeich- * nete, deren conſequente Innehaltung fie zu ihrer heutigen Stellung emporgeführt hat. Brahe's geiſtiger Nachfolger war nach mehr denn einer Richtung hin unſer genialer Kepler, und angeſichts des im beſten Sinne polyhiſtoriſchen Charakters ſeiner Studien durfte man von Anfang an erwarten, ihn auch auf dieſem Gebiete thätig zu finden. Herr Brocard in Grenoble, ein vielfach auch um die geſchichtliche Seite ſeiner Wiſſen— ſchaft verdienter Mathematiker, hat in ſeiner hier zu beſprechenden Schrift eine Schil— derung des Meteorologen Kepler unter— nommen, und wenn wir Deutſche auch eigentlich eine kleine Beſchämung darüber empfinden müßten, daß es einem Ausländer . vorbehalten war, der Wirkſamkeit unſeres großen Landsmannes eine neue intereſſante Seite abzugewinnen, ſo ſoll uns das doch nicht abhalten, das Verdienſt dieſes neuen Beitrages zur Geſchichte der exakten Wiſſen— ſchaften dankend anzuerkennen. Abgeſehen von eine Reihe zerſtreuter Bemerkungen finden wir Kepler's Auf— merkſamkeit gewiſſen Specialkapiteln mit Vorliebe zugewandt: der vergleichenden Kli— matologie, als deren Schöpfer' ihn unſer Gewährsmann betrachtet wiſſen will, der me— teorologiſchen Optik, dem Weſen des Schnee— falls; auch eine zuſammenhängende Reihe von Witterungsbeobachtungen liegt von ihm vor. Nachdem Herr Brocard in ſeiner Ein— 8 Literatur und Kritik. 479 leitung dieſe allgemeineren Thatſachen feſt- betrachten, war man vor Kepler nicht gewohnt; geſtellt und auch darauf hingewieſen hat, daß der Einfluß der Geſtirne auf die Ver— änderungen unſeres Luftkreiſes bei Kepler nur noch eine ſehr untergeordnete Rolle ſpielt, tritt er in die unmittelbar an die Quelle ſich anſchließende Darlegung der Spe— cialitäten ein. In einer Erwiderung auf einen Brief von Fabricius wird ſcharf be tont, daß der Urſprung der Winde keines— wegs in irgend welcher planetariſchen Ein— wirkung, ſondern lediglich in den topo— graphiſchen Unregelmäßigkeiten der Erdober— fläche zu ſuchen ſei; die bei dieſer Gelegen— | heit angeſtellten Betrachtungen über die | ſchied zwiſchen Luft und Dampf ſucht Kepler neuen geographiſchen Wahrheiten, daß ein und derſelbe Wind für einen Küſtenſtrich und für ein Binnenland den allerverſchie— denſten Charakter an ſich trage, ſind ebenſo richtig, als bemerkenswerth. Ueber die ariſto— teliſche Meteorologie ſpricht ſich Kepler in ſeiner Dioptrik ſehr ſkeptiſch aus. Dagegen ſind ſeine — ebenfalls in ſeiner Correſpon- denz mit Fabricius — niedergelegten An— ſichten über die Calmen- und Paſſatwinde noch nicht über das erſte rudimentäre Sta- mals hingewieſen worden. In den Meteor— dium beſſerer Erkenntniß hinausgelangt. Dem Philologen werden, die ſprachverglei— chenden Verſuche, welche der ſtets geiſtreiche Mann zur Erklärung der Namen der Jahres- zeiten macht, Intereſſe bieten. Ueber die Geſtalt des Schnees hat Kepler bekanntlich ein eigenes Schriftchen geſchrieben, in wel— chem er das Hexagonalſyſtem der Schnee— kryſtalle molekular-phyſikaliſch zu deuten ſich beſtrebt. Die von Vielen behauptete mate— rielle Natur des Blitzes leugnet er. Den Regenbogen ſieht er bereits in fünf Farben erglänzen, deren Reihenfolge er richtig an— giebt, während noch Ariſtoteles darin deren nur drei bis vier unterſchieden hatte. Regenbogen und Nebenſonnen als ähnliche Phänomene zu er verkannte freilich nicht, daß ſeine Theorie lange nicht allen Schwierigkeiten begegne, allein ſo viel war ihm doch zweifellos, daß die Brechung der Sonnenſtrahlen in den winzigen, frei in der Luft ſchwebenden Waſſer— tröpfchen der maßgebende Faktor ſein müſſe. Er verſuchte ſogar dieſe Erſcheinungen ex— perimentell nachzuahmen. Originell, wenn auch in dieſer Form unſtichhaltig, iſt die Idee, die für verſchiedene Gegenden ver— ſchiedene Durchſchnittstemperatur der einzel— nen Jahreszeiten von der veränderlichen Höhe der über jenen Gegenden lagernden Luftſäule abhängig zu machen. Den Unter— in der verſchiedenen Dichte dieſer an und für ſich gleichwerthigen Materien; auch der jenſeit der eigentlichen Luftſphäre ſich an— ſchließende Aether zeigt blos eine graduelle, keine materielle Verſchiedenheit. Die jetzt allgemein gebräuchliche Windroſe ſtammt von Kepler her. Auf die von Fabricius angegebene Methode, die Höhe der Wolken zu meſſen, eine Vorläuferin der Bernoulli'- ſchen, iſt unſeres Wiſſens bis jetzt noch nie— ſteinen iſt Kepler geneigt, Auswürflinge eines Kraters der Erde zu erblicken; hierin thut er des Guten zu viel, aber darin trifft ſein Genie wieder das Richtige, daß er den vulkaniſchen Charakter der die Sonne verfin— ſternden Staubregen erkennt und hervorhebt. So weit der erſte, bis jetzt allein er— ſchienene Theil der Brocard'ſchen Mono— graphie. Wir ſehen der Fortſetzung, in welcher wohl auch die immerhin beachtens— werthen Spekulationen der „Harmonice Mundi“ einer Analyſe werden unterzogen werden, mit großem Vergnügen entgegen. Berlin. Prof. S. Günther. 480 Evolution, Old and New, or the Theories of Buffon, Dr. Erasmus Darwin and Lamarek as compared with that of Mr. Charles Darwin, by Samuel But- ler, Author of „Erewhon“, „The Fair „Life and Habit“ ete. (Opus 4) London Hardwieke and Bogue 1879. 384 S. iu 8. Auf der Rückſeite des Titels dieſes „Opus“ ſteht ein ſehr berechtigtes Urtheil Wallace's, gleichſam als Motto, welches lautet: „Der Mangel einer praktiſchen Be— kanntſchaft mit der Naturwiſſenſchaft ver— führt den Verfaſſer zu irrthümlichen An— ſichten über die Stellung ſeiner eigenen Theorien zu jenen des Herrn Darwin.“ Dieſe Worte waren in einer Beſprechung von des Verfaſſers letztem Buche (Like and Haven“, ſelben an hervorragender Stelle zeigt leider, daß der Verfaſſer zu der Klaſſe von Schrift— ſtellern gehört, die durchaus keine Lehre an— nehmen, weil ſie ſich klüger als Alle dünken. In der Vorrede erzählt er uns, daß er die Gewohnheit der Muſiker, ihre Werke zu numeriren, trotz der Gegendemonſtrationen ſeiner wohlmeinenden Freunde in die Litera- tur einführen wolle, damit man ſehen könne, wie ſich der Genius entwickle, ein Zug, der ein intereſſantes Streiflicht auf den hohen Werth wirft, den der Verfaſſer ſeinem Opus 4 beilegen mag. In dem Opus 3 hatte er, wie unſre Leſer wiſſen), nicht ohne Geſchick die An- ſicht entwickelt, daß Erblichkeit eine Art von unbewußtem Gedächtniß der lebenden Ma— terie ſei; eine Anſicht, die [don Erasmus Darwin aufgeſtellt Hatte**) und die in vor Jahren von Profeſſor Hering in einer ungleich wiſſenſchaftlicheren Geſtalt dar— ) Kosmos. Band. V. S. 23. ) Kosmos. Band. IV. S. 411. — . —— ß m — Literatur und Kritik. | gelegt worden ift, als von ©. Butler. Allein ſeine geſchickte Darſtellungsweiſe in dem genannten Buche hatte ihm dieſſeits und jenſeits des Kanals, z. B. in A. R. Wallace und Dr. H. Müller, nachſichtige Freunde gewonnen, deren Gunſt er freilich mit ſeinem neueſten Opus gründlich verſcherzen dürfte. Als Einleitung zu dem eigentlichen Ziele, auf welches er losſteuert, giebt der Verfaſſer eine Ueberſicht der Anſichten von Buffon, Erasmus Darwin, Lamarck Matthew, Spencer und anderen Vor— gängern Darwins, von der wir ſagen müſſen, daß ſie verdienſtlich ſein würde, wenn ſie der Verfaſſer nicht ſo ſehr mit ſeinen eigenen ſchiefen Urtheilen durchtränkt hätte. Buffon hat, wie Butler ausführlich nachweiſt, an vielen Stellen ſeiner Naturgeſchichte von Habit) enthalten, und die Wiedergabe der- einem „Degeneriren“ der Typen geſprochen und z. B. angedeutet, daß man den Eſel als ein degenerirtes Pferd, ja ſämmtliche Thiere als Degenerationen weniger Grund— formen betrachten könne. In Folge eines Mißverſtändniſſes, indem nämlich der Verf. „dégénération“ mit „descent with mo- dification“ überſetzt, glaubt er Buffon als den eigentlichen Urheber der Evolutions— theorie anſehen zu ſollen. Allein das Wort degenerer heißt bei Buffon und bei allen franzöſiſchen Autoren ſtets: entarten, aus der Art ſchlagen, und zwar mit dem Nebenbegriffe einer Verſchlechterung. Buffon deutet dies ausdrücklich an, wenn er von dem edlen Pferde und dem edlen Löwen als Typen ſpricht, die nicht degenerirt ſeien, dagegen meint er, man könne Eſel als entartete Pferde, verſchiedene Tiger und Katzenarten als entartete Löwen betrachten. Ich habe an einem andern Orte ausführ— lich gezeigt, daß ſich dieſer von Butler nicht verſtandene Ausdruck lediglich auf eine lange vor Buffon vielfach ventilirte An— AMA Q sh 9 N C an 1 or 5 N 1 RN, 1 * 9 \ x n R. TEN, 9 * F una Cards N ur 10 un Be 2 n SMITHSONIAN INSTIT! 3 9088 00876 3849