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Ernſt Günther's Verlag (Karl Alberts). nt Ah e e e e, ee ; ee * | hs kan 18 9 5 en dal HR“ Burg g [ 2 — * h f 19 K KM Nene 4 J Gant * 1 1 0 N 7 9 1 N N 15 75 a 5 A 5 KIN 10 45 N a * l 5 N 19 ö 4 l 5 ö \ SACHSEN, | nen N 1 1 — eh M, u Di N N Ei f N U 1 e N N au N ) 7 N UN . 1 ‚ n * * 0 2 y Dar ik: 1 . * — * Tag as N 1 ba e b 7 „1 N 2 Zu — N Verzeichniß der Mitarbeiter am fechlten Bande des Kosmos. John Ball (257— 277), A. W. Buckland (361-375), Prof. Dr. O. Caspari (31-02, 163— 175), Baron N. Dellingshauſen (93—97), Dr. A. Dodel⸗Port (395—407), Dr. W. O. Focke (473—474), Dr. C. Forſyth Major (353 — 360), Prof. Dr. S. Günther (55— 59, 70—77, 147-152, 278-291), Prof. A. Herzen (207 218), Prof. R. Hoernes (13—28), Dr. O. Kuntze (239 — 244), Dr. Ernſt Krauſe (1—12), Prof. O. C. Marſh (339—352, 425—445), Dr. C. Mehlis (153—157, 457 470, 488-490), Dr. Fritz Müller (386 — 388), Dr. Hermann Müller (29—39, 114—123, 225— 226, 302— 304, 446456), Prof. Dr. Fritz Schultze (247 — 256,327 — 338, 411-424), Dr. A. Wernich (98123), Leop. Würtenberger (192 - 206). 15 N Ir, PR 9 \ 4 | Inhalt des fehlten Bandes. Seite Ueber Fauſt-Stimmung. Ein Zeitbild von Ernſt Krauſe 1 Die Chorologie der Sedimente und ihre Bedeutung für Geologie und Des— ehe den Prof d Soern es 13 Schützende Aehnlichkeit einheimiſcher Inſekten. Von Dr. Fritz Müller- Mit Illuſtrationen .. 22 ae Die alten Felsklippen-Bewohner Nord— Amerikas Nach den Unterſuchungen von F. W. Heyden, A. D. Wilſon, W. H. Jackſon u. A. F Den nn el Darwinismus und Philoſophie. Mit Rückſicht auf die gleichnamige Schrift von G. Teichmüller. Von Prof. O. Caspari 81. 163 Die metaphyſiſche Grundlage der mechaniſchen Wärmetheorie. Von Baron N Dellingshauſen 93 Ueber Abſterben und Tödtung der niedrigſten near Von Dr. A. Wernich 98 Chriſtian Conrad Sprengel, geſchildert von zweien ſeiner Schüler. .. 124 Der gegenwärtige Stand der Eozoon-Frage nach Möbius, Dawſon, Carpenter u. A. Mit Illuſtrationen .. „„ Die darwiniſtiſchen Schlußergebniſſe meiner Ammoniten— idle Von Leop. Würkesnberge n J sv... 2102, Ueber die Natur der piychiichen Thätigkeit prof A. Herzen 7207 Entſtehungsgeſchichte der Vorſtellung „Seele“. Von Prof. Fritz Schultze 247.327.411 Ueber den Urſprung der europäischen Alpenflora. Von John Ball .. 257 leuchtende Barometer. Von Dr. S. Güntgjher 278 Geſchichte und Methode der paläontologiſchen Entdeckungen. Von Prof. O. JJ 00... 0. 2 oa..,9397495 Ueber quaternäre Pferde. Von Dr. C Forſyth Major. Mit Illuſtr .. 353 Ä 3 VI Inhalt. Ueber den Gebrauch von Erregungsmitteln bei wilden Völkern und bei den Alten. Von A. W. Buckland 55 Die Falterblumen des Alpenfrühlings und ihre Liebesboten Von Dr. Herm. Müller Ueber den Culturzuſtand der Sueben bei ihrem Eintritt in die Geſchichte Von Dr. C. Mehlis Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Weitere geſchichtliche Bemerkungen über die Mars-Trabanten. Von Prof. S. Günther Die Diſſociation des Chlors 5 Die Rolle des Chlorophylls in der det Pflanze ; Ueber das Variiren der großen Wegeſchnecke Die Schnabelmetamorphoſe der Larventaucher Neue amerikaniſche Jura-Säugethiere „ Die hiſtoriſche Entwickelung des Pferdegebiſſes. Mit Illuſtrationen Broca's vergleichende Beobachtungen über die Geiſteskräfte und die Gehirn— bildung bei Affen und Menſchen Ein controlirbares Beiſpiel von Mythenbildung Gletſcher- oder Drifttheorie für Norddeutſchland? 5 Bakterien und Mikrokokken als Urſachen der Wechſelfieber 15 Tuberkuloſe 3 Der Mammuthbaum uud ſeine Verbreitung in der Vorwelt Die Grundform und Abſtammung der Korallen Die Entſtehung des Kamelhöckers Das Alter des Menſchengeſchlechts . ; Neuere Verſuche über die Zuſammenſetzung der Elemente x Ueber das Anpaſſungs- und Nachahmungsvermögen der Stadel cee In Blumen gefangene Falter. — Fleiſchfreſſende Honigbienen. Von Dr. Herm. Müller Archaeopteryx macroura, ein Mittelglied e Vögeln 155 Reptilien Ueber die Prädispoſition und Immunität gewiſſer Thiere gegen Milzbrandanſteckung Ueber Verwandtſchaft von Algen mit Phanerogamen. Mit Illuſtrationen Ein Käfer mit Schmetterlingsrüſſel. von Dr. Herm. Müller. Mit Illuſtr. Die Sitten der Ameiſen . Riley's Unterſuchungen über die ec gewiſſer Sch Ueber einige Ueberreſte von Rieſen-Vögeln Der Chimpanſe des Berliner Aquariums. Seite 361 446 457 55 59 60 61 62 63 64 67 68 133 135 — Ein weißgewordener Neger Die erſten zweihundert Aſteroiden Sinken die Anden? . Ueber den Urſprung der en Föhren⸗ Be a een Waſſerthiere in Baumwipfeln. Von Dr. Fritz M üller. Wit Illuſtrationen Neue juraſſiſche Reptile und Säuger aus den Felſengebirgen Ueber die vermeintlichen Klauen vom Greif oder Vogel „Rock“ Die Entwickelungsgeſchichte der Seele Eine ſeltſame Eſelei auf den Galäpagos-Inſeln Neue Beobachtungen an den Sonnenflecken Der Urſprung der Feuerſteine . Tabak und Hummeln. Von W. O. Focke Die Entwicklung der Auſter i Die Moſaſaurier. Mit Illuſtrationen N : Analogie der Amylnitrit-Wirkung mit den Borna des Beſchämtſeins Die Culturpflanzen der alten Trojaner und Peruaner Die Kopfbildung der Brettſchneider Inhalt. Literatur und Kritik. Iſenkrahe, Dr. C, Das Räthſel von der Schwerkraft. Von Prof. S. Günther.) Zöckler, Dr. O., Geſchichte der Beziehungen zwiſchen Theologie und Natur— wiſſenſchaft II. Abth. Bieſe, Dr. R. Ertenntnißlehre des Ariſtoteles und Kant's GBonrof S. Günther) Cesnola, L. P. di, Cypern. (Von Dr. C. Mehlis.) du Prel, C., Pſychologie der Lyrik Ch riſt, H., Das Pflanzenleben der Schweiz Für das ſalzfreie Urmeer. Von Dr. O. Kuntze Liebrecht, F., Zur Volkskunde : Pfaff, Dr. F., Ueber den Einfluß des Dal hien — aft 115 Stoff. Rau, Alb., Entwicklung der modernen Chemie. Voit, C. v., Ueber die Entwicklung der Erkenntniß Jäger, G., Die Entdeckung der Seele Encyklopädie der Naturwiſſenſchaften Hellwald, Fr. v., Die Erde und ihre Völker. Henne-Am Rhyn, Dr. O., Die deutſche Volksſage im erhalt zu en Mythen aller Zeiten und Völker VIII Inhalt. Wurtz, Prof. A., Die atomiſtiſche Theorie Kaliſcher, Dr., Die Farbenblindheit. Nägeli, Prof., Theorie der Gährung. (Bon Dr. A. Dodel-Port) .. 395 Morley, John, Ueberzeugungstreue .. n Klein, Dr. H. J., Anleitung zur Aue des Himmels e Martins, Charles, Geſammelte kleinere Schriften naturwiſſenſchaftl. Inhalts 483 Pfaff, Dr. Friedrich, Der Mechanismus der Gebirgsbildung ... 486 Drei neue Werke über Inſektenkunde: 1. Graber, Prof. Dr. Vitus, Die Inſekten. 2. Taſchenberg, Prof. Dr. E. L., Einführung in die Inſektenkunde. 3. Taſchenberg, Prof. Dr. E. L., Die Käfer und Hautflügler . . 487 Zur Literatur über deutſches Alterthum: | 1. Stade, L., Deutſche Geschichte. 2. Lindenſchmit, L., Deutſche Alterthumskunde. (Von Dr. C. Mehlis.) Hoppe, Prof. Dr. J., Die Scheinbewegungen Ueber Tauſt-Atimmung. Ein Zeitbild von Ernſt Krauſe. hafte Naturforſcher den Kompaß des geſunden Menſchenverſtan— ſteuerlos den wildeſten Ström— ungen ihrer Phantaſie hingeben; in denen n unſeren Tagen, wo ſelbſt nam⸗ griffen. Ja, leugnen wir es nicht, wir Alle erlagen, wie einſt Fauſt und Hamlet, dem | man Geiſter und vierdimenſionale Weſen citirt, nicht etwa um ſich von ihnen den Knoten „der die Welt im Innerſten zuſammenhält“ löſen, nein, um ſich neue Knoten ſchürzen zu lich unzeitgemäß ſein, einmal von dem Weſen und der rationellen Behandlungsweiſe der Fauſt⸗Krankheit zu ſprechen. Früher nur die erhabenſten Denker heimſuchend, wenn ſie an Abgründen vor— bei, auf einſamen Alpenpfaden als „Opfer zum Hochaltare der Menſchheit“ wallten und von der Gemeinſchaft der an Leib und Seele „Geſunden“ ausgeſtoßen wurden, oder vielleicht gar den Scheiterhaufen be— ſteigen mußten, hat dieſe Krankheit heute Zweidrittel der gebildeten Menſchheit er- Forſchung. Gar treu und wahr habe F Wittenberger Miasma, und Ihr, die Ihr die Anſteckung verheimlicht, vielleicht am ſtärkſten. Aber dieſe Krankheit iſt nicht mehr, was ſie früher war, eine ſchwere Kriſis, an der man unterging, wenn man nicht ſchleunig zu dem heroiſchen Gegengift des Myſticis— mus griff, ſondern ſie iſt durch Anpaſſung und abgekürzte Vererbung zu einer heilſamen laſſen, da dürfte es vielleicht nicht gänz⸗ Mauſerung und Entwickelungskrankheit des Geiſtes geworden, in der wir uns von den ererbten Irrthümern der Vorzeit reinigen, die angebornen und anerzogenen Vorurtheile der Ahnen ausſtoßen, wie die Unreinig— keiten des Milchſchorfs, der Maſern und ähnlicher Kinderkrankheiten, die man gehabt haben muß, um leidlich geſund zu werden. Der Urſachen, welche dieſe Entwickelungs— krankheit zum Ausbruch bringen, giebt es mancherlei. Die ſtärkſte darunter iſt un— leugbar der Trieb zur Naturerkenntuiß und Kosmos, III. Jahrg. Heft 7. 1 . 5 | ae 2 und Lenau die Gelegenheit geſchildert, in— dem ſie den Forſcher in ſeinem Studir— zimmer, den Arzt am Secirtiſche, von dem Geiſte des Zweifels und der Verneinung überfallen ließen! Das Pflücken von dem „Baume der Erkenntniß“ haben ja ſchon die älteſten Heiligthumshüter gebrandmarkt, aber obwohl mit dem Verluſt des Para— dieſes gedroht wurde und gedroht wird, wir können die fauſtiſche Ader einmal nicht zügeln, — war doch der typiſche Stamm- vater des Menſchesgeſchlechtes, bei den Grie- chen und bei den Juden, der erſte Menſch, auch ſchon der erſte Fauſt, und ſo mögen wir mit dem Blute die „Erbſünde“ der Wahrheitsbegierde ererbt haben. Wollte man aber in jener wohlausgedachten Alle gorie die alte Schlange und ihren Vetter | Mephiſtopheles nur als die Perſonificationen des Zweifels betrachten, ſo würde man in ihnen doch nicht den Geiſt der Lüge, ſon- dern den Geiſt der Wahrheit zu ſehen haben, denn der Zweifel iſt ohne Zweifel das wirk— ſamſte Förderungsmittel der Wahrheits- Erkenntniß. Was die „wohlthätige Warn— ung des Schmerzes“ dem Körper, das iſt der Zweifel dem Geiſte, nämlich das Mittel, ihn geſund zu erhalten und ihn durch die Hemmniſſe alter Vorurtheile und der Selbſt— ſucht unbeſchädigt hindurch zu führen. Von allen Forſchungszweigen vermag keiner die Fauſt⸗Stimmung ſchneller herbei— zuführen und mächtiger zu nähren, als die Aſtronomie, der unmittelbare Anblick der Unendlichkeit im Sternenhimmel. In ein Nichts verſinkt augenblicklich vor ihm die Erde mit ihren niederen Bedürfniſſen und eigenſüchtigen Zwecken, das Gefühl der Un— endlichkeit und des Ewigen überkommt und trägt uns empor, ein Glied des Alls zu den Uranfängen des Seins. Leopardi hat dieſes unausſprechliche Gefühl mit Wor— | Kaufe, Ueber Faujt - Stimmung. ten geſchildert, die nicht analyſirt, ſondern nachempfunden werden wollen, in ſeinem kleinen Gedichte „Das Unendliche“: „Mir theuer ſtets war dieſer öde Hügel Und dies Geſtrüpp, das einen großen Theil Vom fernen Horizonte raubt den Blicken: Denn ſitzend hier und um mich ſchauend träum' ich, Endloſe Weiten, übermenſchlich Schweigen Und allertiefſte Ruhe herrſche dort Jenſeits der niedern Schranke, und das Herz Erſchauert mir vor Grau'n. Und hör' ich dann Den Wind erbrauſen im Gezweig, vergleich' ich Die grenzenloſe Stille dort, und hier Die laute Stimme: dann der Ewigkeit Der todten Zeiten und der gegenwärt'gen Gedenk' ich und wie ihre Stimme klingt. Im uferloſen All' verſinkt mein Geiſt, Und ſüß iſt mir's in dieſem Meer zu ſcheitern. Vielleicht wird es auch Andern ſo ſcheinen, als ob dieſes wunderbare Gedicht ſchon vor dreihundert Jahren einmal gedichtet worden wäre, in jenem ergreifenden Kupfer— ſtiche Dürer's, den man gewöhnlich „die Melancholie“ nennt. Ein koloſſales geflügel— tes Weib, „der Genius der Menſchheit“, ſitzt, den Blick in die Unendlichkeit gerichtet, in tiefes Nachdenken verſunken da, brütend, wie wir ſagen, über die Räthſel der Welt. Dieſe Perſonification des Forſchungstriebes hat bereits alle Hilfsmittel der Erkenntniß erſchöpft: den Zirkel hält ſie in der Hand, Wage und Sanduhr hängen ihr zu Häupten, im Tiegel glüht der Stein der Weiſen, an der Wand hängt das Quadrat der magi— ſchen Zahlen. Aber was hat alles Stu— diren und Probiren, was hat Rechnen und Kabbala genützt? Vor ihr liegt der räthſel— hafte Kryſtall mit den hemisdriſchen Flächen, — warum hat die Natur von den acht gleichen Ecken blos zwei ſcharf weggeſchnitten? — am Himmel ſtehen Komet und Regen— bogen — das Zeichen des himmliſchen Zor— nes in dem Zeichen der Verſöhnung — Krauſe, Ueber Fauft - Stimmung. 3 ihr zu Füßen kauert die niedere, jedoch die gleiche Luft athmende Creatur, ein ſchlafen— der Hund, und neben ihr thront das wechſel— volle Schickſal, in Geſtalt des Flügelknaben auf dem Rade — lauter unlösbare Ge— heimniſſe rings umher! Man hat die Com— poſition eine „froſtige Allegorie“ genannt und friſchweg auf den wackern Pirkheimer als den muthmaßlichen Urheber geſcholten,“) allein damit nur ſeiner eigenen Beſchränkt— heit, großartige Künſtler-Phantaſien zu ver— ſtehen, ein ſchlimmes Zeugniß ausgeſtellt. Denn unter den vielen genialen Schöpf— ungen Dürer's nimmt die Darſtellung der Fauſt-Stimmung, als welche ſie auch Thauſing erkannt hat, eine der vor— nehmſten Stellen ein, und Rembrandt's ſogenannte Fauſt-Radirung verliert da— neben gar ſehr an Reiz. Die Kometen-Beobachtungen waren es, welche zu Dürer's Zeiten zur Verläug— nung der kryſtallnen Sphären des Arifto- teles führten, und ſchon vorher hatte die Verfolgung der Planetenbahnen die Erde entthront und das Sigual zu unzähligen Fauſt⸗Betrachtungen gegeben, über die Zahl, Beſtimmung und Bewohnerſchaft unſerer Be— gleiter auf dem Wege um die Sonne, und die Rangſtellung der Erde unter ihnen. Wie oft mag ſeitdem die Frage variirt worden ſein, mit welcher der „Sphärengeſang“ von Hieronymus Lorm ausklingt: So lang die Sterne kreiſen Am Himmelszelt, Vernimmt manch' Ohr den leiſen Geſang der Welt: „Dem ſel'gen Nichts entſtiegen, Der ew'gen Ruh', Um ruhelos zu fliegen — Wozu? Wozu?“ Schon der alte Seneca hat, Cicero's *) Dr. W. Schmidt in Dohme's „Kunſt und Künſtler“, Bd. I. Traum des Scipio in vollendeterer Geſtalt nachahmend, ſich in der Einleitung ſeiner Naturbetrachtungen auf einen Stern ge— ſchwungen, um die Nichtigkeit des irdiſchen Daſeins zu verſpotten. Er iſt aber zu dieſem Zwecke nur auf einen der benachbar— ten Planeten geſtiegen, ſo daß er den „Mittelpunkt des Alls“ immer noch ſehen konnte. „Das alſo dort,“ ſpricht er bei ſich ſelbſt, „das iſt das Pünktlein, um das ſich ſo viele Nationen mit Feuer und Schwert reißen? Oh, wie lächerlich ſind die Grenz— linien der Sterblichen! Den Iſter ſoll der Dacier nicht überſchreiten; der Strymon ſoll die Thracier einſchließen; den Parthern ſoll der Euphrat den Weg verſperren; der Da— nubius ſoll ſarmatiſches und römiſches Land trennen; der Rhein Germanias Grenze bilden; die Pyrenäen ſollen mitten zwiſchen Gallien und Spanien ihren Gebirgsrücken erheben, und zwiſchen Aegypten und Aethio— pien die ungeheure Sandwüſte liegen! Wenn den Ameiſen Menſchenverſtand gegeben wäre, würden ſie nicht auch ihr kleines Ländchen in eben jo viele Provinzen eintheilen? So oft Du Dich auf jene wahren Höhen erhebſt, und da unten mit fliegenden Fahnen Heere marſchiren ſiehſt, und Reiterſchaaren, die, als ob etwas Großes vorgehe, bald die Umgegend ſtreifend durchſpähen, bald die Flanken umſchwärmen, wirſt Du mit Virgil rufen: Schwarz dort wallt's im Gefilde von Schaaren, die dem Hin- und Herlaufen von Ameiſen gleichen, welche auf ihrem kleinen Berge arbeiten. Was iſt denn für ein Unterſchied zwiſchen uns und ihnen, als der bloße, unwichtige der Körpergröße? Ein Stäub— chen im Weltall iſt es, auf dem ihr ſchiffet, Kriege führt, Königreiche abgrenzt, und eine Hufe Land ſind dieſe, mögen ſie auch auf beiden Seiten an den Ocean ſtoßen. Droben, 4 Krauſe, Ueber Fauft- Stimmung. da find die ungeheuren Räume, die der Geiſt in Beſitz nehmen kann . . . . . Ruhig haut er der Geſtirne Auf- und Nieder- gang und bei ihrer Harmonie die Verſchie⸗ Er beobachtet, wo jeglicher Stern ſein Licht zuerſt der Erde darbiete, wo ſein Höhepunkt ſei, welches denheit ihrer Bahnen. ſeine Bahn und wie weit abwärts er ſich bewege. Ein wißbegieriger Zuſchauer er— gründet und erforſcht er das Alles, und warum ſollte er auch nicht? Weiß er doch, daß es ihn angeht. Da iſt ihm dann frei— lich die Beſchränktheit ſeines ſonſtigen Wohn— platzes etwas Kleinliches. Denn was iſt doch der ganze Raum von Hiſpaniens äußer— ſten Küſten bis zu den Indiern? Wenige Tagereiſen, wenn das Schiff bei günſtigem Winde mit vollen Segeln fahren kann. Dagegen weiſen jene Regionen des Himmels dem ſchnellſten aller Geſtirne, das ohne Aufenthalt in gleichmäßiger Bahn geht, eine dreißigjährige Umlaufszeit zu! Da lernt der Geiſt erſt, wonach er längſt ge— forſcht, da fängt er an, die Gottheit zu er— kennen. Was iſt die Gottheit? die Seele des Alls. Was iſt die Gottheit? das Ganze, was Du ſiehſt, ob Du es gleich nicht in ſeiner Ganzheit ſiehſt. So erſt wird ihre Größe erkannt, über die hinaus nichts zu denken iſt, denn ſie iſt allein Alles, und beherrſcht ihr Werk nach innen und Aüße ! 1 Mit Unrecht lächeln wir, falls wir lächeln, über den trefflichen Denker, der ſich ſo begeiſtern konnte durch den Anblick einer Welt, deren äußerſten Umfang ihm der drei— ßigjährige Lauf des Saturn begrenzte! Er konnte ja nicht ahnen, daß eine ſpätere Generation Welten erblicken würde, von denen der Lichtſtrahl, trotz ſeiner Schnel— ligkeit von über vierzigtauſend Meilen in der Secunde, dennoch Jahrtauſende braucht, um in unſer Auge zu gelangen; er konnte nicht ahnen, daß von dem nächſten aller Fix— ſterne die Erde durch keins unſerer Hilfsmittel der Forſchung mehr zu entdecken wäre. Erſt ein moderner Dichter wie Leopard i konnte dieſe Erweiterung des meuſchlichen Geſichts— kreiſes, das dadurch bedingte Wachsthum des Unendlichen, ja der Gottheit ſelbſt, in Rhythmen faſſen, die uns nicht mehr zum Lachen bringen: „Nun wie beſä't mit Funken in der Runde, Seh' ich die Welt im heitern Aether ſchimmern. Und wendet ſo das Aug' ſich zu den Lichtern, Die ihm nur Punkte ſcheinen, Und doch ſo unermeßlich, Daß gegen ſie nur Punkte Meer und Erdkreis In Wahrheit; denen ewig unbekannt iſt Der Menſch und ſelbſt der Erdball, Auf dem ein Nichts der Menſch; und blick' ich aufwärts Sodann zu jenen noch unendlich fernern Sternknäueln, wenn ich ſo ſie darf benennen, Die uns ein Nebel ſcheinen, Und denen nicht blos Erd' und Menſch, nein ſelber Die Sterne grenzenlos an Zahl und Maſſe Mitſammt der goldnen Sonne Fremd ſind für immer: Ha wie ſcheineſt Du In ſolcher Perſpektive Dem innern Sinn, o menſchliche Gemeinde? Und denk ich Deinen Zuſtand dann hier unten, Deß Bild die Wüſte iſt, die ich beſchreite, Denk' ich, wie Du als Herrſcher Dich dem Ganzen f Zum Gipfel meinſt beſtellt, und wie viel male Zu faſeln Dir's gefiel von Himmelsgöttern, Die auf das arme Sandkorn, Das dunkle, das man Erde Benennt, herunterſtiegen, um behaglich Zu plaudern mit den Deinen — Welch' gemiſcht Empfinden Fühl' ich dann gegen Dich in mir erwachen, Nicht wiſſend, ob für Deines Sinn's Ver— blendung, Oh Erdenſohn, ſich ziemet Des Mitleids Thränenzoll, ob ſpottend Lachen! (Der Ginſter, überſetzt von Hamerling). r 2 Kaufe, Ueber FZauft- Stimmung. 5 und den dadurch bedingten Erweiterungen des geiſtigen Horizontes fügten ſich all— Mikroſkopes, und zu der Unendlichkeit des Makrokosmos geſellte ſich die Unergründ— lichkeit der Welt im Waſſertropfen, des Mikrokosmos. Vielleicht konnte ſich der Menſch dieſer letzteren Welt gegenüber un— endlich groß, rieſenhaft, allgewaltig fühlen, aber näher den anatomiſchen Bau betrach— tend, fand er ſchließlich gerade wegen ſeiner Kleinheit das mikroſkopiſche Leben mindeſtens eben ſo wunderbar wie das eigene. Weder von außen, aus der erdbewegenden „archi— mediſchen Perſpektive“, uoch von innen her— aus durch die Ehrenberg'ſche Verſenkung, wollte es ihm gelingen, der umringenden Fragen Meiſter zu werden, unaufhörlich tauchten an den Grenzen des Sichtbaren neue unauflösbare Nebel — in des Wortes geiſtigem Sinne — auf. Zwiſchen Mikroskop und Fernrohr verzweifelnd, im Aublicke der Milbe und des Firmamentes der Fauſt— ſtimmung erliegend, hat uns Paskal in feinen „Penſees“ mit feiner ganzen Be— redſamkeit den Naturforſcher geſchildert. „Wer ſich ſo nach beiden Seiten betrachtet“, jagt er (Art. IV, 1), „wird ohne Zweifel erſchrecken, ſich zwiſchen zwei Abgründen, gleich entfernt von Beiden hängend, zu erblicken, zwiſchen der Unendlichkeit und dem Nichts. . Was iſt der Menſch in der Natur? Ein Nichts im Hinblick auf das Unendliche, ein All' im Hinblick auf das Nichts, ein Mittelding zwiſchen dem Nichts und dem N „Seine Intelligenz nimmt in der Ord— nung der geiſtigen Dinge dieſelbe Stellung ein, wie ſein Körper in der Ausdehnung der Natur, und alles was ſie vermag, be— ſteht darin, einen Schein von dem mitt- Zu den Entdeckungen des Fernrohres mählich die nicht kleineren Aufſchlüſſe des leren Zuſtande der Dinge zu erhaſchen, in einer endloſen Verzweiflung weder den An— fang noch das Ende, weder die Grundur— ſache noch das Ziel zu ſchauen. ..... Dieſer Zuſtand, welcher die Mitte zwi— ſchen den Extremen hält, findet ſich in unſrem geſammten Können. Unſere Sinne empfinden nichts Extremes. Zuviel Geräuſch macht uns taub, zuviel Licht blendet uns, zu große Entfernung und zu große Nähe hindern das deutliche Sehen . . . zu viel Vergnügen wird unbequem und zu viel Einklang ermüdet. Wir empfinden weder die äußerſte Hitze, noch die äußerſte Kälte, die übermäßigen Sinnesqualitäten ſind uns feindlich; wir fühlen ſie nicht, ſondern erleiden ſie nur. Zu viel Jugend und zu viel Alter hindern den Geiſt, zu viel oder zu wenig Nahrung ſtören unſre Thätigkeit, zu viel und zu wenig Unterricht verdummen. Die extremen Dinge ſind für uns ſo gut wie nicht vorhanden, und wir können ſie nicht berückſichtigen. Sie entſchlüpfen uns, oder wir ihnen. So iſt unſer wahrer Zuſtand. Und das iſt es, was unſre Kenntniß in gewiſſen Schranken hält, die wir nicht überſchreiten können. Nicht nur unfähig ſind wir, Alles zu wiſſen, ſondern auch unfähig, abſolut gar nichts zu wiſſen. Wir befinden uns auf einer weiten Mitte, immer ungewiß und zwiſchen Kenntniß und Unwiſſenheit um— herirrend. Wenn wir denken, vorwärts zu gehen, weicht unſer Objekt und entſchlüpft unſerer Annäherung, es verbirgt ſich und ſchwindet in einer ewigen Flucht: Nichts kann es halten. Das iſt unſere Naturlage, ſo entgegengeſetzt wie möglich unſerer Neig— ung. Wir brennen vor Begierde, Alles zu ergründen, einen Thurm bis in's Unendliche zu erbauen. Aber unſer ganzes Gebäude kracht und ein Abgrund öffnet ſich zu unſern Füßen.“ 6 Krauſe, Ueber Fauft - Stimmung. Ja wohl, ein Abgrund öffnete ſich vor ihm, er ſah daraus beſtändig die Flammen der Hölle vor ſeinem Stuhle aufſteigen, und wurde — nicht der Erſte! — ein Opfer der Fauſtſtimmung: bei den frommen Einſiedlern von Portroyal büßte er ſeine intellektuellen Sünden. Es iſt eine ſchlimme Stunde, wenn der moderne Fauſt, an einem vorläufig unlösbaren Probleme ſeine Kräfte verſchwendend, ſchließlich unmuthig ſein Ignorabimus ruft und, ſich windend in Qualen des Geiſtes, bekennt: Sehe ein, daß wir nichts wiſſen können, Das will mir ſchier das Herz verbrennen! Aber die ſtarken Geiſter überwinden ſolche Stunden der ſchwächlichen Verzweifel— ung und Entſagung, wie ſie ja Keinem erſpart bleiben, und bald hören wir ſie mit einem: Laboremus! wieder an die Arbeit gehen, vielleicht voll Reue über ihr vorſchnelles Abſprechen und dem darin liegenden Freveln an der Zukunft des Geiſtes. Vielen ohne Zweifel, die das Ganze zu wiſſen begehrten, iſt dann die Theilſtrecken-Forſchung für immer verleidet, ſie ſuchen in praktiſcher Thätigkeit ihr geiſtiges Leid zu vergeſſen, ſo der Genius Dürer's, dem Hammer und Säge, Hobel und Richtſcheit Troſt bietend winken, ſo der Canäle bauende und Länder entwäſſernde Fauſt des alternden Dichters. Aber unentmuthigt von dem Anblicke der niedergeſchmetterten und gebeugten Titanen ſehen wir immer neue, junge und friſche Kräfte auftreten, wie der griechiſche Dichter ſagt: Manch einen finſtern Geiſt, der ſich in Unruhe ſehnet, Dem Wiſſen nachzueilen wie einem ſinkenden Stern, Weit über den äußerſten Flug menſchlichen Denkens hinaus. Und ſchließlich, was bleibt dem Weſen, | welches, wie Paskal ſo richtig jagt, doch nun einmal nicht im Stande iſt, abſolut nichts zu wiſſen, übrig, als immer wieder aufs neue an der Straße weiter zu bauen, die in das Land der Erkenntniß führt, und ja doch alle Tage ein Stück weiter geführt wird. Und wollte der Menſch andere Wege gehen, auch da würde das Phantom auf— tauchen, was immerfort jene Worte wieder— holt, welche die Sterne ſingen: Wozu? Wozu? Möge er doch ſeinen Blick abwen— den von der „fremden“ Natur, und nur ſich ſelbſt, die Menſchheit und ihre Geſchichte betrachten: auch da, in den wimmelnden Schwärmen der Dahingegangenen, taucht die Lilith auf, welche Adam verführte, ver— gebens fragt er ſich, ob denn die alten Kulturen untergehen mußten, blos damit immer wieder von vorn angefangen werde? — und ſtatt des „Gott in der Geſchichte“, erblickt er ein verſteinerndes Gorgonenhaupt. In der That, nicht leicht eine andere äußere Urſache kann die Fauſt-Stimmung mehr befördern als einige Stunden Spazieren— gehens auf den Trümmerſtätten von Perſe— polis, Babylon, Memphis, Jeruſalem, Palmyra, Karthago, Athen oder Rom. Was iſt noch übrig von jenem Athen des Phidias und Sokrates, von jenem Rom aus Gold und Marmor der Kaiſerzeiten, welches einſt Horaz der Obhut des Sonnen— gottes empfahl? Sonnengott, Allnährer, deß' heller Wagen Tag erſchafft und birgt, der du gleich und N anders Stets erſcheinſt, o möchteſt du Größ'res niemals Schauen als Roma! „Wer weiß“, ſagt der Verfaſſer der „Ruinen“, „ob nicht eines Tages unſre eigene Heimath einer gleichen Verlaſſenheit anheim— fallen wird? Wer weiß, ob an den Ufern Krauſe, Ueber Fauft - Stimmung. der Seine, der Themſe oder der Zuiderſee, da wo jetzt das Herz und die Augen in dem Strudel der Vielheit ihren Eindrücken kaum genügen können, wer weiß, ob nicht eines Tages ein Neiſender, wie ich, ſich dort auf ſtummen Ruinen niederſetzen wird, um einſam zu weinen über die Aſche der Völker und das Andenken ihrer Größe?“ Be— ſonders ſind die Ruinenſtätten als quasi— klimatiſche Curorte für Ruhmſüchtige zu empfehlen. Nirgends gewinnt die Mahn— ung Cicero's: „Was gewönneſt du damit, daß die Nachgebornen von dir ſprechen, da doch die zahlreicheren und vielleicht tüchtigeren Leute die vor dir gelebt haben, nichts von dir erfahren?“ — nirgends gewinnt dieſe 6 miſchte ſich der bittre Vorwurf Derer, die Mahnung eine ſtärkere, unterirdiſche Reſonanz als auf den Friedhöfen ganzer Nationen. Gut, du magſt von Vor- und Nachwelt nichts hören, kehren wir alſo zurück in die Gegenwart, greifen wir hinein ins volle Menſchenleben! — Verlorne Mühe, wenn die Stunde flüchtigen Genuſſes dazu dienen ſoll, den quälenden Fauſtgedanken zu ent- fliehen! Vergeblich ſucht ſich der Blick dem Elende des Menſchengeſchlechts zu ver— ſchließen, nicht weniger vergebens es durch künſtliche Interpretation mit der ewigen Güte zu vereinen: die Thaten eines fanati- | ſirten Menſchenhaufens, die Schlachtfelder, Gefängniſſe, Beſſerungs-Anſtalten, Irren häuſer, Peſtlazarethe, und der unſägliche Jammer, der ſich in den Spelunken und Höhlen des Verbrechens und der Armuth ver- birgt, rufen die Fauſtſtimmung ſofort wieder mit Donnerſtimme in's Daſein zurück. Und unſere Wehmuth wird nicht etwa geringer, wenn wir uns erinnern, daß es immer ſo geweſen und daß die Gegenwart nur ein Spiegel der Vergangenheit iſt. Allerdings iſt es nicht anders. Erſchütternd klingt uns die Klage des menſchlichen Elendes 7 bereits aus dem hebräiſchen Fauſtdrama, dem Buche Hiob, entgegen, und Homer hat ihr ergreifende Worte geliehen, indem er ſang: Gleich wie die Blätter der Bäume, ſo ſind die Geſchlechter der Menſchen; Blätter verwehet zur Erde der Wind nun, andere treibt dann Wieder der knospende Wald, wann neu auflebet der Frühling: So der Menſchen Geſchlecht, dies wächſt und jenes verſchwindet. Dieſelbe düſtere Klage iſt dann wieder— holt worden von allen Dichtern der Welt, denen die Macht verliehen war, zu ſagen, was alle Herzen bewegte. Und darunter dem allgemeinen Elend abzuhelfen ſuchten und denen mit Undank gelohnt wurde: Den Menſchen Mitleid bot ich und deß werd' ich ſelbſt Nicht werth geachtet, ſondern unbarmher— ziglich So aufgeſtellt hier, eine Schau, ruhmlos für Zeus. (Aeſchylos, Gefeſſelter Prometheus). Was Wunder, wenn die ſtarken Geiſter unter ſolchen Umſtänden rebelliſch wurden, wie eben dieſer ältere Bruder des Fauſt, und, der Götter nicht achtend, jenem Centauren bei Euripides zuſtimmten, der da rief: Die Erde muß, ſei's willig oder nicht, Gezwungen meinem Vieh ihr Gras zur Weide reichen. Aber was half ihnen der Trotz, die Hilfloſigkeit wurde nur um ſo fühlbarer. Selbſt die Hoffnung verläßt das immer wieder getäuſchte Menſchenherz endlich, es flucht der Geduld und Allem, — auch ſich ſelber. Keiner unter den alten und modernen Poeten, weder Lenau noch der Dichter des Manfred haben dieſer letzten Stufe des 3 8 Krauſe, Ueber Fauſt-Stimmung. | Peſſimismus jenen erſchütternden Ausdruck gegeben, wie Leopardi, der eigentliche Dichter des Weltſchmerzes. Man leſe fol— gende hoffnungsloſe Grabſchrift, die er ſich ſelber gedichtet: Nun wirſt Du ruhn für immer, Du müdes Herz. Hin iſt der Wahn, der letzte, Dem ewig ich geglaubt. Er iſt zerronnen, Es ſchwand für holden Trug mir Der Wunſch ſogar, nicht blos die Hoffnung. Ruhe Nun aus für immer! Lange Genug haſt Du gepocht. Nichts lebt, das würdig Wär' deiner Regungen, und keinen Seufzer Verdient die Erde. Bittre Langeweile Iſt unſer Sein, und Schmutz die Welt — nichts Andres. Beruh'ge dich! Laß dieſe Verzweiflung ſein die letzte! Kein Geſchenk hat Für uns das Schickſal als den Tod. Ver— achte Dich, die Natur, die dunkle Gewalt, die ſchnöd' uns quält, im Dunkel herrſchend, Die grenzenloſe Nichtigkeit des Ganzen. (eberſetzt von Hamerling). Wir ſind hier an dem Abgrunde des Peſſimismus, den man eine Potenz der Fauſtſtimmung nennen kann, angelangt, wir können nicht weiter und auch nicht ausweichen, wenn uns Herr v. Hartmann oder ein Anderer hier fragen will, ob er nicht Recht habe, die Welt dreifach zu verachten, ob jener Ausbruch der Verzweifelung und der Aufſchrei nicht vollauf berechtigt ſeien? Wir antworten ihm: Ja, der Peſſimismus iſt berechtigt, aber nur von einem beſtimmten Standpunkte aus, nämlich von demjenigen des Träumers, der plötzlich aufwacht, des Getäuſchten, der aus ſeinem Wahn geriſſen wird, des alten Weibes, das ſich vertrauens— ſelig an Hoffnungen geklammert hat, deren Unerfüllbarkeit es längſt hätte einſehen ſollen. Nur Diejenigen haben Urſache zum Peſſi— mismus, die noch immer mit einem Beine tief im Myſticismus ſtecken, die noch immer mit der Gotteskindſchaft des Menſchen lieb— äugeln, und ſich mit dem Gedanken nicht befreunden können, nicht der Herrſcher und Günſtling der Natur zu ſein, wie man ihnen vorgeredet hatte, und wie ſie leicht— fertig genug waren zu glauben. Der Peſſimismus, mit einem Worte, iſt der Katzenjammer, der dem Rauſche folgt und um ſo ſchlimmer ausfällt, je mehr man fi im Myſtieismus übernommen hat, und je mehr davon noch in dem heftig ſchmer— zenden Schädel ſpukt. Paskal hat aus eigener Erfahrung vortrefflich dieſen Urſprung des Weltleides ſowohl, als die allen Peſſimiſten, von Byron und Heine bis auf Schopenhauer und Hartmann, gemeinſame Gewohnheit, mit ihrem Elend zu prunken und kokettiren, geſchildert. Sie ſchwelgen in ihrem eher bedauernswerthen Jammer, indem ſie ihn als eine höhere Art von geiſtigem Raffine— ment ausbeuten, und prahlen gar mit der Erkenntnißſtufe, die ſie befähigt, ſich elend zu fühlen. „Der Menſch,“ ſagt Paskal, „iſt ſo groß, daß ſeine Größe ſelbſt darin erſcheint, daß er ſich als elend erkennt. Ein Baum erkennt ſich nicht als elend. Es iſt wahr, daß es elend ſein iſt, ſich als elend zu erkennen, aber es liegt auch Größe darin, anzuerkennen, daß man elend iſt. So beweiſen ſogar alle dieſe Miſeren ſeine Größe. Es find «miseres de grand seigneum, Mi- ſeren eines depoſſedirten Königs. Wer be findet ſich unglücklich, nicht König zu ſein, außer ein entthronter König? Fand man Paulus Aemilius unglücklich, nicht mehr Conſul zu ſein? Im Gegentheil, Jedermann fand, daß er glücklich wäre, es geweſen zu BR Krauſe, Ueber Fauft - Stimmung. fein, weil es nicht feine Beſtimmung war, es immer zu bleiben. Aber man fand Perſeus fo unglücklich, nicht mehr König zu | ſein, weil es ſeine Beſtimmung war, es immer zu fein, jo daß man es ſonderbar fand, daß er das Leben noch ertragen konnte. Wer findet ſich unglücklich, nur einen Mund zu haben, und wer fände ſich nicht un— glücklich, nur ein Auge zu beſitzen? . . .“ Genau dieſelbe Lage iſt es, welche die Peſſimiſten ſo unglücklich macht. Sie fühlen ſich als die depoſſedirten Beherrſcher der Natur, als die enterbten Aſpiranten des Himmelreichs, und das können ſie nicht überwinden. Diejenigen, welche nie an die ſchönen Geſchichten von der höheren Fürſorge des Himmels und von den Belohnungen im Jenſeits geglaubt haben, oder ſich durch den normalen Verlauf der Fauſtkriſis von ſolchen berauſchenden Großmanns-Ideen ihrer Erziehung befreit haben, für die gibt es jenen Fall aus den ſieben Himmeln nicht, an deſſen Folgen jetzt ſo viele ſog. Philo— ſophen ſiechen, und von dieſem Geſichtspunkte aus haben wir oben die Fauſtkriſis eine zuträgliche Entwicklungskrankheit genannt, die man gehabt haben müſſe, um leidlich geſund zu ſein. Wie im materiellen Leben nur Derjenige es zu etwas bringt, der da weiß, daß er ſich nur auf ſich ſelbſt ver— laſſen kann und auf eigenen Füßen ſtehen muß, ſo auch im geiſtigen Leben. Jeder muß ſich überzeugt haben, daß in der Welt die Naturgeſetze und nur die Natur- geſetze gelten, um, gleichweit entfernt von Ueberhebung und verzweifluugsvoller Er— niedrigung, auch das Schlimmſte ertragen zu können, was ohne ſeine Schuld und unabwendbar über ihn hereinbrach. Gewiß nicht ohne ſchwere, aber doch heilſame Fauſt— Krankheit hat ſich Shelley zu dem Stand— | 9 punkte emporgerungen, auf dem er dichten konnte: Geiſt der Natur, du allgewalt'ge Macht! Nothwendigkeit, des Weltalls Mutter du! Ungleich dem Gott des Menſchenwahns, verlangſt Du nicht Gebet, noch Lobgeſang; die Laune Des ſchwachen Menſchenwillens hat nicht mehr Gemein mit deinem Thun, als ſeiner Bruſt Veränderliche, flücht'ge Leidenſchaften Mit deiner ew'gen Harmonie; der Sklav, Deß grauſenhafte Lüſte rings umher Elend verbreiten, und der Biedermann Dem angeſichts des Glücks, das ſeinen Thaten Entkeimt, die Bruſt in edlem Stolze ſchwillt; Der Giftbaum, unter deſſen Schatten Alles, Was lebt, verdorrt; die Eiche, deren Dach Ein laub'ger Tempel iſt, wo ſel'ge Liebe Die Schwüre tauſcht, ſind gleich vor deinem Blick. Du nährſt nicht Haß, noch Liebe, kennſt nicht Gunſt, Noch Rache, noch die ſchlimmſte Gier — nach Ruhm; Und Alles, was die weite Welt umfaßt, Iſt nur dein willenloſes Werkzeug, du Betrachteſt Alles unbeſtochnen Blicks, Und fühlſt nicht ſeine Luſt, noch ſeine Leiden, Denn menſchlich nicht find deine Sinne, Und menſchlich deine Seele nicht. (Aus Königin Mab, überſetzt von Strodtmann.) Von dem Geſichtspunkte des freiwillig und aus Ueberzeugung vom Throne ge— ſtiegenen Gliedes der Natur, des Denkers, der, wie Göthe ſagte „im Ganzen reſig— nirt hat,“ verlieren die Stätten des Elends ihre peſſimiſtiſche Glorie; ſofern ſie Schöpf— ungen der Humanität darſtellen, leiſten ſie im Gegentheil dem von dieſem Standpunkte berechtigen Optimismus Vorſchub. Alle Fortſchritte des Gemeinſinnes und der Civiliſation dürfen ihn mit dem Bewußt— ſein erfüllen, die Naturlage ſeines Geſchlechtes aus eigenen Anſtrengungen verbeſſert zu Kosmos, III. Jahrg. Heft 7. 10 Krauſe, Ueber Fauft - Stimmung. ſehen. Die Philanthropie ift eine Errungen— ſchaft, weniger des Prieſterthums, als der Volksaufklärung, der conſequente Peſſimis— mus aber müßte auf ihre Zerſtörung dringen. So beginnt die Veredelung des Geſchlechtes von einer höheren Stufe aus, mit der Er— kenntniß der Naturnothwendigkeit in der Fauſtkriſis. Zu einem genußſüchtigen Daſein im ſchlimmen Sinne hat fie viel ſeltener geführt, als ſogar die kirchliche Frömmig— keit; ſie kennt keine Vergebung der Sünden auf welche hin ſie, wie die letztere, weiter ſündigen könnte. Das Leben nach der Natur im höchſten Sinne, wie es Mark Aurelius Antoninus predigte, iſt ihre Parole. Das beſte und ſchnellſte Heilmittel für die Fauſtkriſis gibt daher die Vertiefung in das Studium der Entwicklungslehre an die Hand. Wo die erſtere noch nicht be— gonnen hat, bewahrt uns das letztere wie eine Impfung vor dem ſtärkeren Ausbruch der Krankheit, indem es Ueberzeugungen ein— flößt, die denen des Peſſimismus entgegen— geſetzt ſind. Die Entwicklungs-Theorie lehrt, den Menſchen, daß er keine Anſprüche, wohl aber Hoffnungen habe, im Wege einer natürlichen Entwicklung ſeine Lage zu verbeſſern, daß er bisher ſelbſt in den endloſen Kriegen der Vorzeit und im Sturze der Weltreiche nichts verloren, ſondern nur immer gewonnen habe, daß die goldene Zeit nicht in der Vergangenheit, ſondern in der Zukunft liege. Sie predigt das Recht der Lebenden, und findet es überflüſſig, mit Volney auf den Ruinen der Vorzeit zu weinen; ihre Wahlſprüche heißen: Das Beſſre ſiegt! und: Hilf dir ſelber! Was aber die Verzweiflung betrifft, daß wir nichts wiſſen können, ſo iſt ſie wiederum nur die Folge jener Vorauſetzung, daß wir, weil von göttlicher Abkunft, Alles wiſſen und begreifen müßten. Aber die wahre Sachlage iſt die, daß wir Alles, was wir wiſſen, durch uns ſelber wiſſen, und deshalb jedenfalls nicht mehr wiſſen können, als wir bisher erarbeitet und enträthſelt haben. Die Geſchichte der Wiſſenſchaft gibt darüber gewiß ernſte Lehren. Seit den älteſten Zeiten gab es Perſonen, welche zu den Andern in Hinblick auf die Geheimniſſe der Welt geſagt haben: „Wir wiſſen Alles, denn es iſt uns offenbart worden.“ Ihnen gegen— über traten Andere, welche bekannten: „Wir wiſſen gar nichts, darum müſſen wir forſchen.“ Darauf hat ſich denn der ſonderbare Erfolg gezeigt, daß die vermeintlich offenbarte Weis— heit, Stück für Stück der ſelbſterrungenen hat Platz machen müſſen, trotz allem Gezeter ihrer bei der großen Menge angeſehenen Wächter. So hat ſich aus kleinen Anfängen eine Achtung gebietende Naturwiſſenſchaft entwickelt, die nach allen Richtungen Licht und Segen ſpendet, ſoweit ſie auch noch von irgend einer Vollkommenheitsſtufe ent— fernt iſt. Es liegt nun aber in dem Charakter jedes Entwicklungsprozeſſes, — und auch die Wiſſenſchaft iſt ein ſolcher — immer nur langſam und ſchrittweiſe vorwärts zu kommen, und wenn nun Jemand eine Stufe anſtrebt, deren nothwendige Vorſtufen noch fehlen, ſo wird er eben, aber freilich durch eigene Schuld, an der Löſung vorläufig verzweifeln müſſen. Wollte vielleicht Dürer in ſeiner Melancholie dieſes allmähliche Wachsthum der Erkenntniß durch die Sproſſen ſeiner langen Dachleiter an— deuten? Hierbei nun ſollte wohl ein Blick auf den Umfang und das Gewicht des bisher Errungenen jeden Forſcher abhalten, die Löſung irgend welchen Naturräthſels auch in aller Zukunft für unmöglich zu erklären. Die Errungenſchaften der Spektral-Analyſe würden beſpielsweiſe, wenn man ſie vor dreißig Jahren einem Chemiker, Phyſiker un) . oder Aſtronomen hätte aufzählen können, für ſchlechterdings unmöglich, ja wunder— bar erklärt worden ſein, und ebenſo ſehr viele andere Dinge. Nunmehr an den Schluß unſerer Be— trachtungen gelangt, knüpfen wir wieder an den Anfang an. Der Beweis unſerer obigen Behauptung, daß die Fauſtkrankheit eine Weltkrankheit geworden ſei, liefert auch das Wachsthum des Spiritismus in unſeren nicht die kleinſte Probe einer höheren Er— Tagen, denn es ſtellt jene Phaſe des Uebels dar, wo die Fauſte, daran verzweifelnd, aus eigener Kraft ſich aus ihrer Verzweiflung hervorzuarbeiten, wiederum zur Citation überirdiſcher Weſen ihre Zuflucht nehmen, | um ſich von ihnen ihre Zweifel benehmen und Erlöſung reichen zu laſſen. handelt es ſich dabei nur um eine Reſtau— ration des verlorenen Paradieſes, um eine Neu- Beglaubigung und Beſieglung des Längſtbekannten, an dem man eben irre geworden war. In einer ſolchen verzwei— felten Fauſtſtimmung müſſen ſich auch die Leipziger Profeſſoren befunden haben, als ſie, um einige Räthſel zu löſen, zu denen ihnen die Sproſſen fehlten, die Löſung vom oberen Ende der Himmelsleiter herabge— reicht zu erhalten ſuchten. Wir nehmen gern an, daß einige der Zuſchauer dieſer Fauſt— Aufführung nur darauf hinaus waren, einen Taſchenſpieler-Knoten aufzulöſen, aber ſie haben dabei die Wahrheit des Dichterwortes erfahren: Doch mancher Knoten ſchürzt ſich auch! Einige aber kamen bereits im Beſitze höherer, den anderen Sterblichen verborge— ner Wahrheit in die Sitzung, ſie wollten nichts erforſchen, ſondern begehrten blos nach der amtlichen Beglaubigung ihrer Ent— deckung eines höheren Sein's, welche Be— glaubigung ſie denn auch ohne Mühe in altperuaniſcher Knotenſchrift empfingen. Leider Natürlich Krauſe, Ueber Fauſt-Stimmung. 0 ließ ſich über die Natur der längſt durch Philoſophie und Rechnung gefundenen vier— | dimenſionalen Weſen, trotz des vielfältigften Verkehrs mit ihnen, bisher nichts weiter gewinnen, als die traurige Wahrnehmung, daß wenn wir niederen Exiſtenzen uns nach drei Dimenſionen beſchränkt und unwiſſend wiſſen, jene höheren Weſen uns noch viel ſtärker, nämlich mindeſtens nach vier Di— menſionen beſchränkt erſcheinen, denn auch kenntnißſtufe, keine neue Entdeckung oder allgemeinere Wahrheit, nicht einmal den Nachweis vergrabener Schätze und dergl. Blödſinns. hat man aus ihnen bisher herauslocken können; ihre Proben in Schrift und That beſchränkten ſich auf Leiſtungen des, wie wir längſt ahnend zu ſagen pflegten, „höheren“ Wenn wir uns aber damit beſcheiden müſſen, höhere Wahrheit von ihnen nicht zu erhalten — ſei es, weil der Menſch ſie ſelbſt erarbeiten ſoll, und nicht einmal faſſen würde — was nützt uns da der fauſtiſche Verkehr mit einer andern Welt, die wir doch nicht begreifen können? Ueber dieſe nothwendige Selbſtbeſchränk— ung der menſchlichen Forſchung hat ſich be— ſonders ſchön Plinius ausgedrückt, und da wir im Vorhergehenden wiederholt die Be— quemlichkeit gebraucht haben, andere Auto- ren unſere eigenen Empfindungen ausſprechen zu laſſen, ſo möge der römiſche, gewiß auch durch manche Fauſtſtimmung hindurchge— gangene Naturforſcher, deſſen achtzehnhun— dertſten Todestag wir neulich begangen haben, zum Schluß das Wort erhalten: „Die Welt“, jagt er im Eingange feiner Natur- geſchichte, „und jenes Unbegrenzte, was man den Himmel nennt, in deſſen Umwölbung Alles lebt, muß man füglich für eine Gott— heit halten, für ewig, unermeßlich, uner— zeugt und unvergänglich. Denn, was jen— 12 N Krauſe, Ueber Fauſt-Stimmung. ſeits ihrer Grenzen liegt, nachzuforſchen, hat für den Menſchen keinen Werth, noch reicht das menſchliche Urtheil dazu aus. Sie iſt ein Heiligthum, ewig, unermeßlich, ein Gan— zes im All oder vielmehr ſelbſt das All; unendlich und doch dem Endlichen ähnlich, in allen Theilen geſetzlich und dennoch ſchein— bar ungeſetzlich; Alles, außerhalb, inner— halb, in ſich vereinigend, ein Erzeugniß des Urweſens der Dinge, und zugleich das Ur- weſen der Dinge ſelbſ et. Wahn⸗ ſinn, in der That Wahnſinn iſt es, aus der Welt gleichſam hinauszugehen, und gerade als wenn alles Inwendige ſchon bekannt wäre, nach dem außerhalb Befindlichen zu forſchen, als ob ſich Jemand mit dem Maße irgend eines Dinges beſchäftigen könnte, der ſein eigenes nicht kennt, oder der menſchliche Verſtand das ſehen könnte, was die Welt nicht faßt!“ Die Chorologie der Aedimente und ihre Bedeutung für Geologie und Descendenzlehre. Von R. Hoernes, h , . eologie und Paläontologie = müſſen auf die Kenntniß der ſirt werden, wenn anders man zur Einſicht jener allmählichen Veränderungen kommen will, durch welche der gegenwärtige Zuſtand herbeigeführt wurde. — Dieſer Grundſatz wird wohl allgemein anerkannt, doch findet er nicht jene allſeitige, weittragende Anwendung, welche allein den Entwickelungsproceß der Erde und der ſie bevölkernden Organismen zu erklären vermag. — „Selbſt die prin— cipiellen Anhänger der Lehre von der all— mählichen ruhigen Entwickelung und Um— bildung kommen ſelten über eine platoniſche Parteinahme zu Gunſten der von Lhell, Prévoſt, v. Hoff, Lamarck, Darwin u. A. inaugurirten Richtung hinaus. Es iſt namentlich im hohen Grade auffallend, daß die Descendenzlehre auf ſo vielfachen Wider— ſpruch von geologiſcher Seite ſtößt. Man ſcheint zu überſehen, daß die Lyell'ſchen Grundſätze der Geologie nothwendig auch Profeſſor der Geologie an der Univerſität Graz. zur Annahme der innigen Verkettung und langſamen Umänderung der organiſchen Welt führen. Die Descendenzlehre iſt nur eine logiſche Conſequenz der Lyell'ſchen Geologie. Der Macht der Gewohnheit traditioneller Anſchauungen geſellen ſich eigenthümliche, aber tief in der Natur der Sache begrün— dete Schwierigkeiten hinzu, zu deren Ueber— windung noch kaum der erſte Schritt ge— than worden iſt.“ Es iſt unſtreitig ein großes Verdienſt Mojſiſovics', deſſen Anſichten wir in dieſem Artikel wiedergeben ), die Art dieſer Schwierigkeiten klar geſtellt und die Auf— gaben der hiſtoriſchen Geologie hierdurch präciſirt zu haben. Betrachten wir die gegenwärtig an der Oberfläche unſeres Planeten herrſchenden ) Vergleiche namentlich das erſte Kapitel: „Allgemeine Betrachtungen über die Choro— logie und Chronologie der Erdſchichten“ in deſſen Werk: „Die Dolomitriffe von Süd— tyrol und Venetien.“ 14 Hoernes, Die Chorologie der Sedimente. Organismen allenthalben von den phyſi— kaliſchen Bedingungen abhängig find. Inner⸗ halb eines und deſſelben Faunen⸗ oder Florengebietes treffen wir ſehr verſchieden— artige Vergeſellſchaftungen, welche entweder gleiche äußere Bedingungen vorausſetzen oder zueinander in irgend einem Ab— hängigkeitsverhältniß ſtehen. Verſchieden— artige phyſikaliſche Urſachen bedingen die Sonderung der Elemente, welche einer zoo— oder phytogeographiſchen Provinz angehören, zu einzelnen Gruppen, welche das Terri— torium nicht gleichmäßig erfüllen, ſondern an beſtimmten Standorten auftreten. Da nun die Sedimentirung ebenfalls unter mannigfachen phyſikaliſchen Bedingungen er— folgt, iſt ſie ebenſo verſchiedenartig und es entſprechen beſtimmten phyſikaliſchen Urſachen beſtimmte Lebensverhältniſſe und beſtimmte Geſteinsbildungen. Das Wort „Facies“ iſt ſeit Greßly und Oppel zur Bezeichnung von Ab— lagerungen, welche unter verſchiedenen äuße— ren Bedingungen gebildet wurden, in Auf— nahme gekommen; es wurde nur dann an- gewendet, wenn der Gegenſatz verſchieden— artiger Bildungen hervorgehoben werden ſollte, doch erſchien der Begriff Facies in der geologiſchen Literatur als ein ſehr ſchwan— kender, bis es Mojſiſovics unternahm, ihn ſchärfer zu umſchreiben: „Es iſt von Wichtigkeit, daran feſtzu— halten, daß der Begriff Facies die gene— rellen Wechſelbeziehungen zwiſchen den äu— ßeren Bedingungen einerſeits und dem Ge— ſteinsmaterial und den Wohnſitzen von Orga— nismen andererſeits ausdrückt. Die gleichen | Facies können ſich in benachbarten biolo— giſchen Provinzen finden, das Geſteins— material wird dann nahezu oder völlig iden— tiſch ſein, dieſelben Gattungen oder Gruppen von Lebeweſen werden erſcheinen und der Unterſchied wird lediglich in der Verſchie— denheit der Formenreihen und Arten liegen. Es muß deshalb die Anwendung der Be— zeichnung Facies in allen Fällen vermieden werden, wo lediglich von geographiſchen Gegenſätzen gehandelt wird. Auch ſcheint es nicht angemeſſen, marine und terreſtriſche Bildungen als Facies unter einander in Ge— genſatz zu bringen.“ Es iſt hier der Begriff der Facies auf das richtige Maß eingeſchränkt, und un— begreiflich erſcheint es, wie C. Vogt vor kurzem die Meinung ausſprechen konnte, daß Mojſiſovics denſelben zu weit ge— faßt hätte. Ein Gegenſatz zwiſchen der Auf— faſſung der Facies bei Greßly und Mojſiſovics beſteht hinſichtlich des Um— fanges des Begriffes nicht. Der Letztere hat nur eine genauere Definition deſſelben gegeben, indem er die „Facies“ als eine Kategorie der chorologiſchen Erſcheinungs— formen darſtellte. Der Name „Chorologie“ wurde bekanntlich von Häckel für die Lehre von der räumlichen Verbreitung der Orga— nismen über die Erdoberfläche eingebürgert. Es iſt von vornherein klar, daß die Unter— ſuchung der chorologiſchen Verhältniſſe, welche in vergangenen Epochen auf der Oberfläche der Planeten herrſchten, von höchſter Wich— tigkeit für die hiſtoriſche Geologie iſt, ja man kann mit Fug und Recht behaupten, daß erſt nach der chorologiſchen Erforſchung der zahlreichen geologiſchen Bildungsphaſen eine ſichere geologiſche Chronologie zu ge— winnen ſein wird, denn unſerer heutigen Formationslehre kann nur der Werth eines vorläufigen Verſtändigungsmittels beigelegt werden. Es wurde an anderer Stelle?) gezeigt, daß die Veränderung der Organis- men am meiſten geeignet erſcheint, bei der Feſtſtellung der geologiſchen Chronologie Vergl. Bd. V, Heft 4, S. 256 flgde. C —— . —— Hoernes, Die Chorologie der Sedimente. Anhaltspunkte zu gewähren, doch wurde zugleich auf jene Bedingungen hingewieſen, unter denen allein die allmähliche Umbild— ung und Veränderung der Lebeweſen als geologiſches Zeitmaß Anwendung finden kann. Die genaueſten chorologiſchen Unter— ſuchungen müſſen den Verſuchen, geologiſche Chronologien aufzuſtellen, vorausgehen, es iſt deshalb von beſonderer Wichtigkeit, den Weg, welchen die hiſtoriſche Geologie nun- mehr einzuſchlagen hat, durch Mojſiſo— vics in klarerer und ausführlicher Weiſe als bis jetzt geſchah, dargelegt zu ſehen. — Nach ihm zeigt eine Ueberſchau über die mannigfaltigen chorologiſchen Erſcheinungs— formen, daß eine dreifache Gliederung der— ſelben wahrzunehmen iſt: „In erſter Linie kommt das Bildungsmedium in Betracht. Daraus ergiebt fi) die fundamentale Ein theilung in marine und terreſtriſche (lacu— ſtriſche) Bildungen. Es iſt ſelbſtverſtänd— lich von großer Wichtigkeit, Ablagerungen verſchiedener Bildungsmedien oder „hete— romeſiſche“ Formationen ſcharf von ein— ander getrennt zu halten. Die Entwickelung des organiſchen Lebens in heteromeſiſchen Gebieten muß eine ſehr verſchiedene ſein und es iſt a priori ſehr unwahrſcheinlich, daß die Aenderungen der marinen Bevöl— kerung mit Aenderungen der terreſtriſchen Bewohner zeitlich zuſammenfallen oder um— gekehrt.“ Es ſei geſtattet, dieſen Satz näher zu begründen und wenigſtens mit einem Beiſpiele zu belegen. Bevölkerung des Feſtlandes und auf jene des Meeres ausüben. Den neueren An— ſichten zu Folge kommen Hebungen und Senkungen wohl nicht in jenem ungeheuren, ganze Continente in einem Hebungs- oder Senkungs-Felde umfaſſenden Umfange vor, wie man dies noch vor kurzer Zeit an— nehmen zu müſſen glaubte, doch iſt es eine unbeſtreitbare Thatſache, daß im Laufe der geologiſchen Epochen wiederholt Meeres— boden zu trocknem Lande wurde und um— gekehrt Feſtland unter den Meeresſpiegel ſank. Die Urſachen ſolcher Vorgänge, welche wahrſcheinlich in der durch die allmähliche Abkühlung und Contraction des Erdinnern bewirkten Runzelung der äußeren Rinde des Planeten zu ſuchen ſein werden, hier zu beleuchten, kann nicht unſere Aufgabe ſein, wohl aber die Erörterung der Einwirkung der Niveauſchwankungen auf das organiſche Leben. Senkungen bewirken nur neue Ver— bindungen für das Meer, Iſolirungen für das Feſtland. Neue Verhältniſſe des Concur— renzkampfes treten in der marinen Fauna auf und es werden von den ſich miſchenden Faunen-Elementen einige gänzlich verdrängt, andere zu raſcherer Veränderung und An— paſſung an die geänderten wechſelſeitigen Verhältniſſe gezwungen werden. Jedenfalls wird, auch wenn die phyſikaliſchen Beding— ungen keine größere Verſchiebung erfahren ſollten, ſchon durch die Concurrenz vorher nicht aufeinander einwirkender Formen eine merkliche Veränderung der Meeres— fauna hervorgehen. Die bei der Senkung eingetretenen Ver— bindungen von Meerestheilen ſind ſelbſt— verſtändlich mit Iſolirungen auf dem Feſt— lande verknüpft. Die Einwirkungen der letzteren auf die terreſtre Fauna und Flora Vergegenwärtigen wir uns die Folgen, welche Hebungen und Senkungen auf die ſind entweder ganz unbedeutend oder ſie äußern ſich ſehr langſam. Erſt allmählich mögen ſich in den nun getrennten Bezirken vicarirende Arten aus einem Theile der dem urſprünglichen Faunen- und Floren— gebiete gemeinſamen Typen entwickeln, wäh— rend der größte Theil derſelben unverän— dert perſiſtiren wird, wenn, wie oben ange- > 16 Hoernes, Die Chorologie der Sedimente. nommen, die Senkung keine weiteren phyſi— kaliſchen Veränderungen verurſacht. Es wird alſo durch eine Senkung eine ſehr bedeutende Veränderung der marinen Fauna bewirkt werden können, während möglicher— weiſe in der Bevölkerung des Landes keine weſentliche Modification eintritt. Der Einfluß einer Hebung wird ſich in Erzeugung von Communicationen auf dem Feſtland und Iſolirungen von Meerestheilen zeigen. Diesmal werden, wenn anders die entſtandenen Verbindungen hinreichen, ſeither geſonderte Verbreitungsbezirke beſitzende ter— reſtre Formen in Concurrenzkampf treten, und es wird hieraus eine mehr oder weniger raſche Veränderung oder auch das Aus— ſterben einiger Typen bewirkt werden, wäh— rend im Meere der Einfluß ein ſehr ver— ſchiedener fein kann. Iſolirungen von Meeres— theilen werden nämlich faſt ſtets auch phyſi— kaliſche Veränderungen herbeiführen, welche für die Organismen von höchſter Bedeutung ſind. Stehen die früher unmittelbar zu— ſammenhängenden Meerestheile nach der Iſolirung noch mit dem Ocean in freier Verbindung, ſo daß die Circulation des Waſſers die localen Verſchiedenheiten im Salzgehalt und anderen Beimengungen aus— zugleichen im Stande iſt, ſo wird eine ſtärkere Veränderung der phyſikaliſchen Ver— hältniſſe und damit auch der Bevölkerung nicht eintreten. Wohl aber werden ſolche Veränder— ungen eintreten, wenn aus den früher in freier Verbindung ſtehenden Meerestheilen durch die Aufhebung der Communicationen Binnen— meere nach Art des kaspiſchen, welche gänz— lich iſolirt erſcheinen, oder aber unvollkom— men abgeſchloſſene Meere nach Art der Oſtſee und des Mittelmeeres, welche nur durch einen engen und ſeichten Canal mit dem Ocean zuſammenhängen, entſtehen würden. | Derartig abgeſchloſſene Meeresbecken ver— mögen nur nach Maßgabe der Breite und Tiefe des Verbindungskanales an der allgemei— nen Waſſercirculation theilzunehmen. In Folge deſſen ſtellen die tieferen Waſſermaſſen eines ſolchen abgeſchloſſenen Beckens gewiſſer— maßen einen ſtagnirenden Sumpf dar, der wegen der unvollkommenen Erneuerung der vom Waſſer abſorbirten Luft nicht im Stande iſt, jenes reiche organiſche Leben zu beher— bergen, welches im offenen Weltmeer ſelbſt in größerer Tiefe ſich noch findet. Dies erklärt zunächſt die auffallende Thatſache, daß die größeren Tiefen iſolirter Meeres— becken (3. B. des Mittelmeeres) faſt keine Organismen enthalten, eine Thatſache, die früher zu der Meinung veranlaßte, daß die Tiefſee im Allgemeinen unbelebt ſei, während ſeither umfaſſende Unterſuchungen dargethan haben, daß im offenen Ocean bis zu ſehr bedeutenden Tiefen zahlreiche Organismen vorkommen, und nur in den tiefſten becken artig abgeſchloſſenen Regionen, wahrſchein— lich nicht wegen der großen Tiefe, ſondern wegen der auch hier mangelnden Circulation, das organiſche Leben zurücktritt. Im freien Weltmeere bleibt ferner der Salzgehalt ſtets gleich und das Süßwaſſer, welches dem Ocean durch die Flüſſe zugeführt wird, findet durch die Verdampfung wieder ſeinen Weg aufs Feſtland. Zudem gleicht die Circulation alle local etwa eintretenden Ver— ſchiedenheiten ſtetig aus und nur an jenen Stellen, wo große Ströme ausmünden oder ſchmelzendes Polareis große Quantitäten Süßwaſſer liefert, tritt bei dem Umſtande, als das leichtere Süßwaſſer auf dem Salz— waſſer des Meeres ſchwimmt, locale und zeitweilige Ausſüßung ein. Wird ein Meerestheil durch irgend einen Vorgang, durch Erhebung eines Landſtriches, durch Dünen- oder Lido-Bildung oder dergl. vollkommen iſolirt, ſo wird die Circulation Hoernes, Die Chorologie der Sedimente. N aufhören, zwiſchen den örtlich verſchiedenen gehaltes aufweiſt, dieſelben eine ungemeine Größen der Verdampfung und des Zu- Vielgeſtaltigkeit jener wenigen Formen her— fluſſes auszugleichen. ſüßem Flußwaſſer iſt beſtrebt, das Volumen zu vermehren und dadurch den Salzgehalt zu verringern, umgekehrt wird die Ver— die Waſſermenge zu verkleinern ſuchen. Es wird alſo von dem Verhältniſſe dieſer beiden Factoren abhängen, ob ein ausgeſüßtes, ver— Salzſee gebildet wird. und Verdampfung je nach der Jahreszeit wechſeln, jo werden ſolche iſolirte Meeres becken ſehr eigenthümliche Verhältniſſe dar— bieten, und es iſt klar, daß dieſelben durch große Flüſſe in viel höherem Grade be— einflußt werden, als es im offenen Meere der Fall iſt. Bei dem ausgezeichneten Bei— ſpiele des kaspiſchen Meeres bewirkt einer— ſeits die Verdampfung eine Erhöhung des Salzgehaltes, während die großen Waſſer— Der Zufluß von beiführen werden, welche ſolche Schwank— ungen zu ertragen vermögen. Wir erſehen hieraus, daß Aenderungen in der marinen Bevölkerung mit Aender— dampfung den Salzgehalt zu erhöhen und ungen der terreſtriſchen Bewohner wahr— ſcheinlicherweiſe ſehr ſelten zuſammenfallen und eine ganz verſchiedene Chronologie zu Stande kommt, wenn man ausſchließlich die größertes Binnengewäſſer, oder ein kleinerer Da aber Zufluß eine oder die andere Gruppe von Lebeweſen berückſichtigt. Ein gutes Beiſpiel hiefür gibt die Ver— gleichung der Veränderungen, welche in Dft- und Südeuropa zur jüngeren Tertiär— Zeit in der Conchylien-Fauna des Meeres und in der Säugethier-Bevölkerung des Feſtlandes eingetreten ſind. Für das Unter— Miocän Italiens und Oeſterreichs (Aquita— maſſen, welche die Zuflüſſe und unter dieſen | vor allem die Wolga herbeiführen, den- ſelben erniedrigen. Es iſt daher der Salz— gehalt im kaspiſchen Meer ein local ſehr verschiedener und auch nicht zu allen Jahres— zeiten gleicher. Ihre extreme Wirkung zeigen die Jahreszeiten in jenen Fällen, in welchen die Verdampfung ſo ſehr den Zufluß über— kann es, wie im Elton-See, dazu kommen, daß im Sommer Salzablagerung ſtattfindet, während im Winter der überſchüſſige Zu— fluß wieder einen Theil des abgelagerten Salzes auflöſt. In ſolchen Fällen wird faſt das ganze organiſche Leben erlöſchen, während in jenen Fällen, in welchen ein Binnengewäſſer locale Ausſüßung und zeit— weilige und örtliche Variationen des Salz— Kosmos, III. Jahrg. Heft 7. niſche Stufe Ch. Mayer's oder Oberoligocän der deutſchen Geologen) iſt eine marine Con— chylien-Fauna, welche Elemente der obereo— cänen (oder oligocänen) Stufe, der Gom— berto-Schichten, mit ſolchen von echt miocänem Habitus vereinigt, ebenſo charakteriſtiſch, wie eine durch das Vorkommen großer Anthra— cotherien ausgezeichnete Säugethier-Fauna für die terreſtriſchen oder lacuſtriſchen Ab— lagerungen dieſer Etage. Miocän-Zeit hat ſich die Bevölkerung des wiegt, daß das ehemals ausgedehnte Binnen- becken zu einer kleinen, mit Salz über ſättigten Waſſerlache zuſammenſchmilzt; dann In der Mittel- Meeres wiederholt geändert, während die Säugethier⸗Fauna faſt unverändert exiſtirte. So iſt die marine Conchylien-Fauna der erſten Mediterran-Stufe Sueß durch eine Reihe ihr eigenthümlicher Formen von jener der zweiten Mediterran-Stufe verſchieden, die ihrerſeits manche Formen enthielt, welche veränderte Nachkommen von ſolchen der älteren Mediterran-Stufe ſind. Eine außerordentliche Veränderung der marinen Bevölkerung bezeichnet ſodann den Uebergang von der zweiten Mediterran-Stufe zur 2 3 18 Hoernes, Die Chorologie der Sedimente. ſarmatiſchen Etage — während die Säuge— thier-Fauna, welche Sueß, da die Anthra— cotherien führenden Ablagerungen in Wiener— Becken fehlen, als „erſte Säugethier-Fauna des Wiener-Beckens“ bezeichnete, von allen dieſen Veränderungen unberührt blieb, und während der angeführten Abſchnitte der Mittel- Miocänzeit faſt unverändert exiſtirte. Im Ober-Miocän ändert ſich jedoch das Verhältniß zu Gunſten der Landfaunen. Auf die Säugethierfauna von Pikermi und Eppelsheim folgt raſch jene von Bribir und auf dieſe jene des Arnothales, alle drei ſtark von einander verſchieden, während in der marinen Bevölkerung keine ſo raſchen und weitgehenden Veränderungen eingetreten zu fein ſcheinen. Die Fauna von Eppels— heim und Pikermi ſcheint zwar nicht, wie Th. Fuchs in neueſter Zeit glauben machen wollte, bereits dem italieniſchen Pliocän an— zugehören, doch müſſen wir dieſem jedenfalls zwei Säugethierfaunen, jene von Bribir und jene des Arnothales, als zeitliche Aquivalente zutheilen, welchen keine gleichwerthigen Ver— änderungen in der marinen Pliocän-Fauna entſprechen. Auch den ſtarken, durch die Glacialepoche bewirkten Verſchiebungen der Landſäugethier-Faunen entſprechen keineswegs ähnliche Veränderungen in der Bevölkerung des Meeres. Zur Orientirung über das eben dis— kutirte Alterniren der Veränderungen in der Meeres- und Feſtlands-Fauna der oberen Tertiär-Ablagerungen Oſt- und Südeuropas mag die folgende tabellariſche Zuſammen— ſtellung dienen: Etage: Conchylienfaunen Säugethierfaunen ge: des Meeres: des Feſtlandes: Pliocän Pliocän-Fauna | San dee Italiens und Italiens Fauna von Bribir u. Ajnäeskö Ober-Miocän Fauna von Pikermi u. Eppelsheim Fauna der Sarmatiſchen Stufe „Erſte Säugethierfauna des Wiener Beckens“ Fauna von Eibiswald und Wies in Steiermark, Fauna der I. Mediterran-Stufe vom Monte Bamboli in Toscana Unter-Miocän Wir gelangen nun zur Diskuſſion einer zweiten Gruppe von chorologiſchen Abſtuf— ungen, über welche ſich Mojſiſovics folgendermaßen ausſpricht: „Innerhalb der Bildungsmedien erfolgen weitere Scheidungen durch die territoriale Spaltung nach Schöpfungscentren Bildungsräumen. In dieſe chorologiſche Kategorie fallen demnach die zoo- und phyto— geographiſchen Provinzen, bei welchen die Mittel-Miocän Fauna der II. Mediterran-Stufe Fauna der Schioſchichten oder Anthracotherien-Fauna Wanderungen und die durch bedeutendere Aenderungen der phyſikaliſchen Verhältniſſe veranlaßten Verſchiebungen und Verdräng— ungen ſehr complicirte Erſcheinungen hervor— rufen. Die Unterſcheidung von „iſotopiſchen“ und „heterotopiſchen“ Bildungen iſt für die hiſtoriſche Geologie von eminenter Be— deutung. Gar viele der angenommenen Formationsgrenzen ſind auf die Ueberlager— ung von heterotopiſchen Formationen baſirt. Hoernes, es daher ſein, durch alle ihre Entwickelungsphaſen und Ortsveränderungen bis zum Zeitpunkte ihrer Abzweigung von einem, mindeſtens zweien von ihnen gemeinſamen, e raume zu verfolgen.“ Welche Bedeutung die Auffuchung und Verfolgung der alten zoogeographiſchen Provinzen für die geologiſche Chronologie hat, außerordentlich weittragenden Reſultate, zu welchen Mojſiſovies im Studium der alpinen Triasablagerungen gelangt iſt. Die Trias der Alpen iſt in ihrer Gliederung von jener Mitteleuropa's weit verſchieden und nur zur Noth laſſen ſich die unteren Glieder paralleliſiren, während dies hinſichtlich der oberen nicht mehr mög— lich iſt. Dem deutſchen Buntſandſtein ent— ſprechen in den Alpen, nachdem Grödner— Sandſtein und Bellerophonkalk als Perm— Bildungen erkannt wurden, Schichten. Dieſe bilden den chorologiſch con— ſtanteſten Triashorizont der Alpen; ihre Fauna enthält manche für den Buntſand— ſtein bezeichnende Form (3. B. Trigonia costata). Der außeralpine Muſchelkalk iſt in den Alpen durch Bildungen vertreten, welche zwei altersverſchiedene Faunen ent— halten, die allenfalls den zwei deutſchen Muſchelkalkfaunen gleichgeſtellt werden kön— nen. Dabei ſind jedoch ſehr intereſſante Umſtände zu berückſichtigen. Wenn man die Fauna des unteren alpinen Muſchel— kalkes im Großen betrachtet, beſteht unleug— zeigt am beſten die Betrachtung der Die Chorologie der Sedimente. Aufgabe der geologiſchen Forſchung muß; ſtimmen aber ſonderbarer Weiſe die iſotopiſchen Bildungen 19 nicht ſo gut überein, und müſſen als geographiſche Varietäten oder als vicarirende Arten be— zeichnet werden. Es ſcheinen demnach ſchon zur Zeit des Wellenkalkes die früher be— päiſche Triasgebiet verbreitet ſind. die Werfener⸗ weniger bar eine große Uebereinſtimmung mit der deutſchen Wellenkalk-Fauna. Die überwie- gende Mehrheit der Pelecypoden, Brachio— poden und Cirinoiden iſt beiden gemein— ſam. Die Ammoniten, welche gewöhnlich eine weite horizontale Verbreitung beſitzen, P | ſtandenen Verbindungen zwiſchen den Deutſch— land und die Oſtalpen bedeckenden Meeres— theilen aufgehoben zu ſein, ein Verhältniß, welches jedenfalls zur Zeit des Haupt— muſchelkalkes bis zur gänzlichen Iſolirung geführt haben muß, da von den dem deutſchen Hauptmuſchelkalke eigenthümlichen Thier— formen ſich keine einzige in den Alpen findet. Die Scheidung der mitteleuropäiſchen und der alpinen Triasprovinz hält durch die ganze Zeit, in welcher in erſterer die Keuperbildungen abgelagert worden, an, und erſt gegen die obere Grenze der Trias findet wieder eine Communication ſtatt, in— dem die Schichten der Avicula contorta gleichmäßig über das ſüd- und mitteleuro— Der Charakter der mitteleuropäiſchen Triasbild— ungen iſt nun ein hüchſt eigenthümlicher. Die marine Bevölkerung des Muſchelkalkes zeichnet ſich nicht ſowohl durch Mannigfaltig— keit an Geſchlechtern und Arten, als viel— mehr durch den Reichthum an Individuen Arten aus; unter welchen die Pelecypoden die Hauptrolle ſpielen, während die Cephalopoden ſehr zurücktreten. Die Annahme, daß der deutſche Muſchelkalk die Bildung eines unvollkommen ſſolirten Meeresbeckens ſei, welches etwa nach Art des ſchwarzen Meeres durch einen engen und ſeichten Kanal mit dem Ocean com— municirte, liegt ſehr nahe. Als dann auch dieſe unvollſtändige Verbindung aufgehoben wurde, verwandelte ſich das Binnenbecken in den Brakwaſſer-See der Keuper-Periode, | welcher etwa ähnliche phyſikaliſche Verhält— niſſe wie heute der Kaspi-See beſeſſen haben E 20 mag. trennenden Schranken hinweg und ein ein- ziger Meeresſpiegel vereinigte die früher getrennten Gebiete. Während aber zur Keuperzeit in Deutſchland Brakwaſſer-Ab— ſätze mit ſpärlichen marinen Thierreſten und maſſenhaft eingeſtreuten Landpflanzenreſten ſtattfanden, blieben die Meerestheile der Alpen in freier Communication mit dem Ocean; äußerſt zahlreiche marine Thierreſte lagern in den Sedimenten, welch enach den ſtatt— gefundenen Veränderungen der Organismen in zahlreiche Etagen gegliedert werden können. Für dieſe alpinen Bildungen läßt ſich der nicht anwenden, weil der Zeitpunkt, der in Mitteleuropa das Erlöſchen der Mufdel- kalkfauna in Folge der steigenden Ausſüßung der Binnenmeere bezeichnet, in den Alpen nicht fixirt werden kann, da ja, wie wir oben geſehen haben, ſchon zur Zeit des Muſchelkalkes trennende Schranken zwiſchen beiden Gebieten vorhanden waren. Die obere Trias der Alpen hat ſonach ihre eigene Chronologie, ja, es laſſen ſich in den Oſtalpen noch zwei Provinzen unterſcheiden, welche während eines geraumen Zeit— raumes, den Mojſiſovics als noriſche Stufe bezeichnet, vollſtändig von einander getrennt erſcheinen und eigenartige Entwickel- ung ihrer Bevölkerung beſitzen. Erſt zur rhätiſchen Zeit fielen die On Hoernes, Die Chorologie der Sedimente. | treten, thümlich. gemeinſam wären. Jeder dieſer Provinzen ſind einige Ammonitiden-Gattungen eigen— So der juvaviſchen Provinz: Phylloceras, Didymites, Halorites, Tro- pites, Rhabdoceras und Cochloceras; der mediterranen Provinz: Lytoceras, Sage- ceras und Ptychites. Die gemeinſamen Gattungen ſind in jeder Provinz durch ver— ſchiedene eigenthümliche Formengruppen ver— ſo daß man bis jetzt keine einzige gemeinſame Cephalopoden-Art kennt. Von den beiden nahe verwandten Pelecypoden— Gattungen Daonella und Halobia ift zur noriſchen Zeit Daonella auf die mediterrane, Name „Keuper“ ſchon aus dem Grunde ſchränkt.“ Halobia auf die juvaviſche Provinz be— Es iſt klar, daß jede der beiden Pro— vinzen ihre ſelbſtſtändige Chronologie beſitzt, welche durch genaue Unterſuchung der ſich verändernden Fauna und durch Conſtatirung neu einwandernder Formen (ein Umſtand, der namentlich bei den juvaviſchen Faunen ins Gewicht fällt) feſtgeſtellt werden mußte. Es laſſen ſich nun in der mediterranen Provinz nur zwei verſchiedene, der noriſchen „Die nordöſtlichen Kalkalpen öſtlich von der Saale bilden zur noriſchen Zeit ein merk— würdig ſcharf abgegrenztes, geſchloſſenes Fau— nengebiet, welches wir die juvaviſche Trias— Provinz nennen. Nichts zeigt die große Ver— ſchiedenheit der Faunen dieſer beiden Provinzen deutlicher, als die totale Verſchiedenheit der beiderſeitigen Cephalopodenfaunen. Denn dem Rufe der beſten Schwimmer ſtehen, ſo nahe benachbarten Provinzen wenigſtens theilweiſe 0 | Stufe angehörige Phaſen beobachten, wäh— rend in der juvaviſchen nicht weniger als fünf paläontologiſche Zonen conſtatirt wer— den konnten. 6 Ueber den Ablagerungen der „noriſchen Stufe“ folgen in den Oſtalpen jene der „karniſchen“. Ihre Thierreſte lehren, daß die heterotopiſche Spaltung in zwei ſcharf getrennte Provinzen allmählich aufgehoben wird. Mediterrane Typen erſcheinen am Be— ginne der karniſchen Zeit in der juvaviſchen Provinz und umgekehrt dringen einige juva— viſche in die andere Provinz ein. Aber die Verbindungen waren in der erſten Zeit noch man ſollte doch erwarten, daß Thiere, welche in | den drei Horizonten ſowohl in der juva— ſehr unvollkommen, und von altersverſchiedenen karniſchen bewahrt der unterſte =) Hoernes, Die Chorologie der Sedimente. viſchen, als in der mediterranen Provinz noch einen ansgeſprochen verſchiedenen Cha- rakter, während nur einzelne Formen beiden Gebieten ſchon zu dieſer Zeit gemeinſam ſind. In den oberen karniſchen Bildungen findet ſich eine völlige Mengung der medi— terranen und juvaviſchen Typen, und zur Zeit der zweiten karniſchen Fauna müſſen die früher getrennten Provinzen bereits in unmittelbarer Verbindung geſtanden haben. Zur Zeit der rhätiſchen Stufe endlich trat auch die Ver— bindung des alpinen mit dem mitteleuropäiſchen Triasgebiet wieder ein, und die Zone der Avicula contorta hat durch ihre gleich— mäßige Verbreitung über das ſüd- und mittel— europäiſche Triasgebiet beſondere Wichtigkeit. Auf ſo manche höchſt intereſſante, durch das Studium der alpinen Triasfaunen con— ſtatirte chorologiſche Thatſachen können wir 21 verwieſen, daß die juvaviſche Provinz zur noriſchen Zeit fortwährend neu einwandernde Formen erhält, während ſolche in der medi— terranen Provinz eine viel geringere Rolle ſpielen, — daß ferner die im alpinen Muſchelkalk auftretenden Ammonitiden— Gattungen Aegoceras und Amaltheus den höheren Trias-Horizonten der Alpen fehlen und ſich, wie es ſcheint, aus den europäiſchen Gewäſſern zurückgezogen haben, um erſt am Schluſſe der Triasperiode und im Lias mit einer in entlegener Provinz entwickelten „heterotopiſchen“ Fauna vergeſellſchaftet in dieſelben zurückzukehren. Dieſe durch palä— ontologiſche Unterſuchung heute bereits feſt— geſtellten Thatſachen werden freilich erſt dann ihre volle Bedeutung erhalten, wenn die Un— terſuchung auch der außereuropäiſchen Trias— Ablagerung vollendet ſein und eine allgemeine hier nicht näher eingehen, es ſei nur darauf Chorologie der Formation vorliegen wird. Bezeichnung der Stufen Bezeichnung der paläontologiſchen Zonen in der juvabiſchen und mediterranen Trias-Provinz Rhätiſche Stufe Zone der Avicula contorta Zone des Turbo solitarius und der Avicula exilis Karniſche Stufe Zone des Trachyceras aonoides Zone des Tropites subbullatus Zone des Trachyceras Aon Didymites tectus Zone des Trachyceras Archelaus und des Daonella Lommeli Noriſche Stufe u Pinacoceras parma Zone des Pinacoceras Metternichi | Zone des Trachyceras Curioni und des Trachyceras Reitzi | Zone des Choristoceras Haueri Muſchelkalk Zone des Trachyceras trinodosum Zone des Trachyceras binodosum und balatonicum Werfener Schichten Bunt⸗Sandſtein 1 Zone des Tirolites cassianus und des Naticella costata — — 22 Hier ſeien nur die ſicher conſtatirten provinziellen Verſchiedenheiten der alpinen Triasentwickelung betont, und die vorſtehende Tabelle mag über das Verhalten der juvavi— ſchen und mediterranen Provinz als ein Bei— ſpiel heterotopiſcher Gliederung orientiren. Es iſt ſonach klar, daß die geologiſche Hoernes, Die Chorologie der Sedimente. Charakter der Facies ſteht, ſo iſt doch, wie die Erfahrung lehrt, die lithologiſche Uebereinſtimmung für ſich allein noch kein genügendes Kriterium iſopiſcher Bildungen. Die verſchiedenen Kalkformationen z. B. entſprechen einer anſehnlichen Anzahl hetero— piſcher Bildungen. In vielen Fällen iſt man Chronologie ſich zunächſt beſtreben muß, für jede Provinz die ihr eigene Geſchichte feſt— zuſtellen und dieſelbe einerſeits bis zu dem Zeitpunkte der Abzweigung von größeren Provinzen zurück zu verfolgen, andererſeits aber auch die Wiedervereinigung früher ge— trennter Gebiete chronologiſch feſtzuſtellen. „Die dritte Abſtufung der chorologiſchen Erſcheinungen bilden — wie Mojſifovics weiter bemerkt — die Facies verhältniſſe. Hier ſpielen die localen phyſikaliſchen Be— dingungen die Hauptrolle. Flächenräume die inneren Verhältniſſe ſich gleich bleiben, da werden weit ausgedehnte einförmige Bildungen mit conſtanten Charak- teren zur Ablagerung gelangen. So in den Tiefen der Oceane und auf dem Boden großer Landſeen. Wo dagegen, wie in der im Bereiche ſich kreuzender Strömungen, der häufige und raſche Wechſel der äußeren von Verhältniſſe eine Mannigfaltigkeit Exiſtenzbedingungen ſchafft, da werden auf engem Raume nebeneinander die größten Gegenſätze in lithologiſcher und biologiſcher Beziehung entſtehen.“ Ebenſo wie ſich zu gleicher Zeit und neben— einander im ſelben Raume verſchiedenartige Wo über große zwar im Stande, an gewiſſen, dem geübten Auge erkennbaren Merkmalen aus dem Geſtein auf die Art der Facies zu ſchließen, in andern Fällen jedoch iſt eine genauere Beſtimmung nicht möglich, ſei es wegen ſpäterer Veränderung des Geſteins (Dolo— mite, kryſtalliniſcher Kalk), ſei es wegen der Unzulänglichkeit unſerer Wahrnehmung, jet es wegen thatſächlicher Ununterſcheid— barkeit.“ — Welche gewaltige Rolle die Faciesver— hältniſſe in der Geologie ſpielen, und wie außerordentlich wichtig ihre richtige Deut— ung für die Stratigraphie iſt, mögen einige Beſpiele zeigen. Wenden wir uns zunächſt zu den marinen Tertiär-Ablagerungen des Wiener | Beckens, für welche E. Sueß zuerſt die Nähe von Küſten (Inſeln, Atolle) und | Facies bilden, fo erſcheinen in verſchiedenen Räumen (Provinzen) und zu verſchiedenen Zeiten gleichartige Facies. Die erſten nennen wir heteropiſche, die letzteren iſopiſche Bildungen. Obwohl die lithologiſche Be— ſchaffenheit der ſedimentären Ablagerungen in beſtimmten Beziehungen zu dem biologiſchen Gliederung in gleichzeitige, aber wegen der verſchiedenen Tiefe, in welcher ſie zur Ab— lagerung gekommen, höchſt verſchiedenartige Bildungen aufſtellte, während von D. Stur Altersverſchiedenheit behauptet und in zahl— reichen Aufſätzen vertheidigt wurde. Die Detailſtudien von Th. Fuchs und F. Karrer in den Tertiär-Ablagerungen des Wiener Beckens, und namentlich des Letzteren erſchöpfendes Werk über die Geologie der Wiener Hochquellen-Waſſerleitung haben ſeither die Anſicht von Sueß als die allein berechtigte dargethan. In der That zwingt ſchon die Vergleichung mit den gegenwärtig an Meeresküſten herrſchenden Verhältniſſen dazu, in den marinen Tertiärablagerungen ähnliche bathymetriſche Zonen vorauszu— Hoernes. Die Chorologie der Sedimente. ſetzen, wie ſie in den heutigen Meeren conſtatirt werden konnten. — Heute unter— liegt es keinem Zweifel mehr, daß der hauptſächlich von Lithothamnien gebildete „Leithakalk“ mit ſeinen dickſchaligen, großen Oſtreen und Pektines die Strandbildung deſ— ſelben Meeres darſtellt, in deren größerer Tiefe der „Badener Tegel“ mit einer Un— zahl von canaliferen Gaſtropoden-Gehäuſen zur Ablagerung kam, während die „Pötz— leinsdorfer Sande“, welche große Mengen von ſinupalliaten Pelecypoden enthalten, eine ſehr locale Uebergangsbildung darſtellen. Ganz ähnliche Faciesverhältniſſe zeigen ſich in der im außeralpinen Wiener-Becken entwickelten erſten Mediterranſtufe. Hier fällt die Rolle des Leithakalkes dem Kalkſteine von Zogelsdorf, die Rolle der Pötzleinsdorfer Sande dem Sand und Mollaſſenſandſtein von Eggenburg, und die Rolle des Badener Tegel dem „Schlier“ zu, welcher weniger im außeralpinen Becken von Wien als in Oberöſterreich (Ottnang) in typiſcher Weiſe enwickelt iſt. Die Aehnlichkeit der „iſopiſchen“ Bildungen der beiden altersverſchiedenen Etagen iſt eine ſo bedeutende im allgemeinen Habitus der Fauna und im petrographiſchen Charakter der Sedimente, daß Fuchs ſelbſt, den man heute füglich als beſten Kenner der ſüd- und oſt⸗europäiſchen Tertiär-Ablager— ungen bezeichnen kann, früher die Identität und Gleichzeitigkeit der Ablagerungen der erſten und zweiten Miditerranſtufe behauptete, eine Anſicht, die er freilich ſelbſt bald auf— zugeben genöthigt war. Der unumſtöß— liche Beweis für die Altersverſchiedenheit der erſten und zweiten Mediterran-Stufe liegt in der bei der Vergleichung der iſopiſchen Faunen leicht zu conſtatirenden Thatſache, daß die jüngere Fauna derivirte Nachkommen der Stammformen der älteren Fauna enthält. Was die oben angeführten Facies an— 23 langt, ſo hat ſie Fuchs in den oligocänen (obereocänen) Ablagerungen der vicenti— niſchen Alttertiär-Bildungen in ähnlicher Weiſe nachgewieſen, indem er die vordem als altersverſchieden gedeuteten Corallen führenden Kalke von Caſtel-Gomberto, die Pelecypoden-Sandſteine von Laverda und die foſſilreichen Tuffe von Sangonini — als gleichzeitige Faciesgebilde conſtatirte. Bringen wir dieſelben mit den oben erörterten jüngeren im Wiener Becken in Parallele, ſo entſpricht der Corallen-Kalk von Gom— berto dem Lithothamniengeſtein des Leitha— kalkes, der Sandſtein von Laverda dem Pötzleinsdorfer Sand, und der Tuff von Sangonini dem Badener Tegel. Die Fauna der Sangonini-Schichten erinnert in ihrer Zuſammenſetzung aus zahlreichen kleinen Gaſteropoden ebenſo ſehr an die Badener Fauna wie die Pelecypoden der Sandſteine von Laverda an die Fauna des Pötzleins— dorfer Sandes. In allen Formation und in allen Re— gionen ſpielen Facies-Verſchiedenheiten eine Rolle, die bedeutendſte vielleicht in den alpinen Ablagerungen der Triasformation. Vor Mojſiſovics' Unterſuchungen konnte von einer richtigen Stratigraphie und Chrono— logie der alpinen Triasbildungen nicht die Rede ſein, da die Faciesverhältniſſe faſt gänzlich unbeachtet blieben und die oben erwähnten Faunengebiete und Provinzen durch die ältere Methode der Forſchung nicht erſchloſſen werden konnten. Die Er— kenntniß, daß die oft ſehr verſteinerungs— armen Kalke und Dolomite als Seicht— waſſer (größtentheils Corallenriff-) Bildungen zu den meiſt verſteinerungsreicheren, in etwas tieferem Waſſer abgelagerten thonigen und mergeligen Sedimenten als gleichzeitige Ablagerungen gehören, hat völlig neues Licht auf die früher ſo ſchwer zu 1 — ſelnden alpinen Trias-Bildungen geworfen. Die Zeit liegt nicht ferne hinter uns, in welcher man daran verzweifelte, in den mannigfachen Kalkſteinen der Alpen und ihren Verſteinerungen die Aequivalente der außeralpinen Formationen zu erkennen, und den Verlegenheits-Namen „Alpenkalk“ in die Literatur eiuführte. Heute erſcheint der Name als überflüſſig, und der ehemalige Alpenkalk iſt ſchärfer in palöontologiſche Zonen geſchieden worden, als dies bei den außeral— pinen meſozoiſchen Formationen der Fall iſt. Vor der Erkenntniß der Bedeutung der Facies⸗Erſcheinungen lag allerdings die Chro— nologie zumal der Triasablagerungen ſehr im Argen. Es genüge der Hinweis darauf, daß heute der Wellerſteinkalk und Dolomit der Nordalpen als gleichzeitige Bildung 24 Hoernes, Die Chorologie der Sedimente. der Partnachmergel, der Schlerndolomit der Südalpen als Aequivalent der mergeligen Wengener- und Caſſianer Schichten erkannt wurden. Es fällt dabei dem Kalk und Dolomit zumeiſt die Rolle einſtiger Corallen— riffe zu, eine Thatſache, welche bereits der geniale Blick v. Richthofens hinſichtlich des Schlerndolomites von Südtirol erkannte, während es Mojſiſovics vorbehalten blieb, für Richthofens Anſicht durch Darlegung der Faciesverhältniſſe vollgültige Beweiſe zu erbringen. Die nachſtehende Tabelle mag über die Faciesverhältniſſe einiger Tertiär- und Triasſtufen orientiren; — ähnliche Beiſpiele ließen ſich aus jeder Gegend und jeder Formation beibringen. Etage: Strandbildung 5 ß Ablagerung aus Zwiſchenglieder | tieferem Waſſer II. Mediterran-Stufe Leithakalk im Wiener Becken eee | | | | | I! Sand En Badener Tegel I. Mediterran-Stufe Kalkſtein v. Zogelsdorf (Lithothamnienkalk) Sand und Sandſtein | 3 5 von Eggenburg „Schlier ee ee Sandſtein von Laverda, Tuffe von Sangonini Mittlere Trias | Schlerndolomit 11 . in Süd⸗Tyrol | Korallriffbildung) „ et Safian > Partnach-Mergel- und Mittlere Trias Wetterſteinkalk in Nord-Tyrol (Korallriffbildung) Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß die „Ueber— gangsglieder“ oft ungemein mannigfaltig ſind, und daß ſich bei genauerer Betrachtung in jeder Etage eine große Anzahl verſchie— dener Facies unterſcheiden laſſen, wenn man auch auf die mehr localen Verſchiedenheiten in der petrographiſchen Beſchaffenheit der Sedimente und auf das maſſenhafte Auf- Schiefer treten einzelner Thiere oder Pflanzen Ge— wicht legt. — Die drei beſprochenen chorologiſchen Abſtufungen nach dem Bildungsmedium, dem Bildungsraum und nach den phyſikaliſchen Verhältniſſen des Bildungsortes erſchweren ſelbſtverſtändlich die Aufgabe der Geologen und Paläontologen in viel höherem Grade, & als man früher in Unkenntniß dieſer Ver— hältniſſe zu glauben geneigt war. Die drei Hoernes, Die Chorologie der Sedimente. - 25 welche von den Gegnern der Descendenzlehre I | | Faktoren, von welchen die Chorologie der | Sedimente abhängt, bedingen durch ihre Veränderung jene zahlreichen Lücken, mit welchen Geologie und Paläontologie ſo oft zu kämpfen haben. Die vielfach beklagte Lückenhaftigkeit der geologiſchen Urkunde, ſtets als ein Hauptbeweis gegen dieſelbe vorgebracht wurde, findet ihre Erklärung durch den Wechſel der chorologiſchen Ver— hältniſſe, deren oben ausführlich erörterte Mannigfaltigkeit uns die nachſtehende Tabelle verſinnlichen mag: Bildungsmedium Bildungsraum e n ne Marin terreſtriſch Provinzen | ER Facies 7 TERN. 1 Be op ' Iſotopiſch (Slap Iſomeſiſch | 1 ſch U Iſopi | Heterotopiſch \deteropifch TT f bade Heteropiſch Heteromeſiſch | 7 5 bene ern 5 Die wirklichen Unterbrechungen der geo— logiſchen Urkunde laſſen ſich nun auf mehr oder minder locale Erſcheinungen zurück— führen und treten an Zahl weit hinter den heterotopiſcher und heteropiſcher Bildungen beruht. Die zahlreichen größeren und kleineren Unterbrechungen beſtehen ſonach in der ver— ticalen (localen) Discontinuität iſopiſcher, iſo— topiſcher und iſomeſiſcher Bildungen. Würde nns an irgend einem Orte eine ununter— brochene Reihenfolge iſopiſcher und iſotopiſcher Ablagerungen vorliegen, ſo würde uns auch die continuirliche phylogenetiſche Reihe der dieſe Facies charakteriſirenden Organismen erhalten ſein. Da aber ſtetig räumliche Verdrängung und Verſchiebung des Feſten und Flüſſigen, der Faunen- und Floren— Gebiete und der Facies ſtattgefunden hat, ſo iſt es Aufgabe der Geologen, dieſe Ver— ſchiebungen genau zu ſtudiren. Unſere heutigen Anſchauungen von der allmählichen Veränder— ung der phyſikaliſchen Verhältniſſe und von ſcheinbaren Lücken zurück, deren Weſen auf dem fortwährenden Wechſel heteromeſiſcher, der ſtetigen Fortbildung und Entwickelung der organiſchen Welt zwingen uns zu der Annahme einer beſtandenen Continuität zu— nächſt der iſomeſiſchen, ſodann der iſotopiſchen und endlich, innerhalb der einzelnen Bild— ungsräume der iſopiſchen Bildungen, — welche Annahme bereits durch zahlreiche Erfahrungen ihre Beſtätigung erfahren hat, und durch die Anwendung der chorologiſchen Grundſätze auf die geologiſchen Forſchungen in noch viel größerem Maße erhalten wird. Die conſequente Anwendung der choro— logiſchen Unterſcheidungen im Gebiete der Geologie und Paläontologie liefert auch das Mittel zur Beantwortung einer der ſchwierigſten Fragen dieſer Wiſſenſchaften, “nr Kosmos, III. Jahrg. Heft 7. 4 e deren Löſung zur einheitlichen Auffaſſung der Geſchichte der Organismen unumgäng— lich nöthig iſt. Es betrifft dieſe Frage die bis nun als älteſte erkannten Reſte von Organismen und die Thatſache, daß deren erſtes Auftreten durchaus nicht in Einklang mit den Vorausſetzungen der Descendenzlehre gebracht werden kann. Am ſchärfſten wurde der Gegenſatz, welcher ſich zwiſchen der „paläontologiſchen Theorie“ und der Zu— ſammenſetzung der „Primordial-Fauna“ be obachten läßt, durch J. Barrande betont. Aeußerſt ausführlich hat dieſer ausgezeichnete Forſcher, durch deſſen Unterſuchungen die Kenntniß der älteſten Verſteinerungen wohl am weiteſten gefördert wurde, gezeigt, daß in den tiefſten, überhaupt Verſteinerungen führenden Schichten eine Fülle von höher organiſirten Formen (vor allen Trilobiten) auftritt, während erſt in den höheren Etagen der Silurformation Reſte von niedriger ſtehen— den Organismen (Corallen, Pelecypoden ꝛc.) in größerer Zahl ſich finden. Da an der Thatſache ſelbſt kein Zweifel erhoben werden konnte, hat ſie ſeit langem zur Erklärung herausgefordert. Es muß vor Allem hervorgehoben werden, daß alle organiſchen Reſte aus der Primor— dial⸗-Stufe Barrande's und aus den cam— briſchen Schichten einer einzigen Facies ange— hören, welche des petrographiſchen Charakters wegen der Erhaltung der Reſte noch ziemlich günſtig war. Ablagerungen ſind Thonſchiefer, welche Tri— lobiten (alſo bereits ziemlich hoch organiſirte Cruſtaceen) in meiſt großer Zahl enthalten, während die im zoologiſchen Syſtem tiefer ſtehenden Mollusken faſt ganz fehlen; nur hornſchalige Brachiopoden treten in größerer Zahl auf. Dieſes Verhältniß ſchon deutet auf eine Facies, welche im tieferen Waſſer, ja geradezu in der Tiefſee zu Die älteſten foſſilführenden Hoernes, Die Chorologie der Sedimeute. Hauſe iſt*), eine Annahme, welche durch manche Organiſations-Verhältniſſe der pri— mordialen und unterſiluriſchen Trilobiten beſtätigt wird. Ein Theil derſelben zeigt verkümmerte Augen, und zwar in ſolcher Weiſe, daß dieſe Trilobiten ganz gut den in letzterer Zeit entdeckten höherſtehenden blinden Cruſtaceen der heutigen Tiefſee gegen— übergeſtellt werden können. Solche Formen mit rückgebildeten (nicht in primitiver Anlage befindlichen) Organen können unmöglich als urſprüngliche betrachtet werden. Wir ſind zu der Annahme gezwungen, daß die blin— den Trilobiten der „primordialen“ Tiefſee von Seichtwaſſerformen mit entwickelten Augen abſtammen. Dies lehrt erſtlich, daß (wie auch aus den Anforderungen der Descendenzlehre geſchloſſen werden kann) die ſogenannte Primordialfauna nicht die älteſte und urſprünglichſte, ſondern eine jüngere und derivirte, an die eigenthümlichen Ver— hältniſſe der Tiefſee angepaßte iſt; — ſodann aber auch, daß wir uns in den älteſten Seichtwaſſerbildungen nach den Reſten der erſten Organismen umzuſehen haben. Hier aber iſt das Reich der Beobachtungen zu Ende und nur die Analogie mit jüngeren Bildungen erlaubt uns Schlüſſe zu ziehen. Erkennen wir die allein Verſteinerungen enthaltenden cambriſchen und primordialen Thonſchiefer als Tiefſeebildungen, ſo müſſen wir die mit vorkommenden Kalkſteine als in ſeichtem Waſſer abgelagerte Sedimente be— trachten. Vergeblich aber beſtreben wir uns, in dieſen die Spuren einſtigen organiſchen Lebens zu entdecken; die hochgradige Umwand— ) Vergl. hinſichtlich des Tiefſeecharakters der cambriſchen Thonſchiefer: E. v. Mojſi— ſovies: Dolomitriffe, S. 9—11. Ausführ⸗ licher wurde der Gegenſtand und zwar im Sinne der nachſtehenden Ausführungen durch E. Sueß in einer Reihe öffentlicher Vorleſ— ungen behandelt. 0 | Hoernes, Die Chorologie der Sedimente. lung, welche die älteren Kalkſteine erlitten haben, ſcheint alle Reſte gründlich vertilgt zu haben und doch müſſen wir annehmen, daß der Abſatz dieſer Kalkſteine, welche bis in die Gneisformationen hinabreichen, hauptſächlich durch die Vermittelung von Organismen im Seichtwaſſer ſtattfand. Die Silur-Ablagerungen Böhmens, von deren Foſſilreſten behauptet wurde, daß ſie entſchieden gegen die Descendenzlehre ſprechen, enthalten mehr als einen Beweis für dieſelbe. Für das Vorhandenſein älterer, von uns ungekannter Seichtwaſſerformen ſpricht auch das allmähliche Auftreten von Seichtwaſſer— Formen (denn als ſolche müſſen wir wohl die Mollusken und die von den unterſiluri— ſchen ganz verſchiedenen Trilobiten der Ober— Silur-Stufe bezeichnen), wie daſſelbe in der eigenthümlichen Erſcheinung der Colonien am anffallendſten ſich zeigt. Nachdem in der böhmiſchen Silur-Mulde durch die ganze Primordial- und Unter-Silur-Stufe der Tiefſeecharakter geherſcht hatte, tritt uns in den oberſten Schichten der letzteren local und zeitweilig eine andere Facies entgegen. Sowohl der Geſteinscharakter als auch die zahlreichen Verſteinerungen der Colonien entſprechen den unterſten Schichten der Ober— Silur-Stufe. Dieſe minder tiefem Waſſer entſprechende Facies vermochte aber gegen das Ende der Unter -Silur-Epoche nur unter localen, günſtigeu Verhältniſſen Boden zu gewinnen, ſie wurde auch wieder von demſelben verdrängt, ſo zwar, daß ihre Bildungen in hüchſt eigenthümlicher Weiſe den unter⸗-ſiluriſchen Sedimenten eingelagert erſcheinen. Endlich aber kam die Zeit, da die ſeichterem Waſſer entſprechende Facies die Tiefſee-Facies definitiv verdrängte, und die unteren Abtheilungen der Ober-Silur— Stufe Böhmens laſſen dieſen allmählichen Vorgang ſehr deutlich erkennen. 1 27 Die Sedimente der Etagen E. Bar— rande's“) find, wie die eingeſchloſſenen Reſte, unter welchen namentlich in E die Cephalopoden die Hauptrolle ſpielen, be— weiſen, in noch ziemlich tiefem Waſſer zur Ablagerung gekommen, während die Etagen F und namentlich Fe durch ihre zahlreichen Corallen und Brachiopoden als wahre Seicht— waſſerbildungen gekennzeichnet ſind. Die Erſcheinung der Colonien, deren Erklärung einſt einen ſo gewaltigen Feder— krieg unter den öſterreichiſchen Geologen entfachte, wurde ſchon damals von E. Sueß in ihrem wahren Charakter erkannt und als eine bedeutſame Beſtätigung für die all— mähliche Entwickelung der organiſchen Welt dargeſtellt. Die Colonien beweiſen, daß während in der böhmiſchen Silurmulde zur Unter-Silur-Zeit Tiefſeebildungen zum Abſatz kamen, in benachbarten Regionen Seichtwaſſerfacies herrſchten, die gegen den Schluß der Unter-Silur-Zeit in das cen— tralböhmiſche Becken hereingriffen. Dieſe unterſiluriſchen Seichtwaſſerbildungen ſind theils durch Denudation längſt zerſtört worden, theils mögen ſie unter jüngerer Bedeckung verborgen ſein, ihr einſtiges Vor— handenſein aber iſt durch das Auftreten der Colonien ſichergeſtellt. Seichtwaſſer-Facies aber waren un— ſtreitig ſchon in den älteſten Meeresbildungen vertreten; — die halbkryſtalliniſchen und vollkryſtalliniſchen Kalkſteine, welche in den Etagen der cambriſchen und älteren, azoiſchen Thonſchiefer, der kryſtalliniſchen Schiefer und ſelbſt der Gneiße auftreten, wurden gewiß unter der Mitwirkung von Seichtwaſſer— ) Barrande bezeichnet bekanntlich die Etagen der böhmiſchen Silur-Formation in folgender Weiſe: A und B — Azoiſches Grund— gebirge; C = Primordialſtufe; D — Unter- Silur; E, F, G, und H = Ober-⸗Silur. . % * 28 Organismen gebildet, wenn auch heute or— ganiſche Reſte dieſen Kalkſteinen fehlen. Die mannigfachen Schiefergeſteine aber dürfen auch aus petrographiſchen Gründen als Tiefſee— Gebilde bezeichnet werden. Die älteſten Tiefſeebildungen entbehrten wahrſcheinlich ganz des organiſchen Lebens, während daſſelbe an der Oberfläche des Meeres, wo die Bedingungen für eine reiche Entfaltung viel günſtiger waren, bereits in ausgedehnterem Maße vorhanden ſein mußte. Erſt ſpäter wanderten einige Faunenelemente (einige Trilobiten-Geſchlechter, hornſchalige Brachiopoden) in die Tiefe und paßten ſich den dortigen Lebensbedingungen an. Die Hoernes, Die Chorologie der Sedimente. älteſten Seichtwaſſerbildungen aber unter— lagen einer hochgradigen Umwandlung und wir werden wahrſcheinlich ſtets vergeblich in den kryſtalliniſch gewordenen Kalken nach deutlichen Verſteinerungen ſuchen, während die Thonſchiefer der Erhaltung derſelben günſtiger waren. Es ſind daher keineswegs die älteſten Organismen, deren Reſte uns in den cambriſchen primordialen Schiefern entgegentreten, und wir ſehen, das jene Argumente, welche ſich aus den angeblich älteſten Faunen gegen die Descendenztheorie ableiten laſſen, aus chorologiſchen Gründen als unrichtig bezeichnet werden müſſen. — — — — — Achützende Aehnlichkeit einheimiſcher Julekten. Unter Benutzung von Beobachtungen des Dr. A. Speyer in Rhoden ſen einem früheren Aufſatze “) glaube ich nachgewieſen zu haben, daß blumenbeſuchende Inſekten, indem ſie ſich bei der Auswahl der Blumen, die ſie beſuchen, wußte Blumenzüchter wirken, wie Menſchen ſelbſt, wenn wir von unſeren Hausthieren und Kulturpflanzen die uns nützlichſten oder am beſten gefallenden Ab— änderungen pflegen und vermehren, daß daher die Ausprägung der bunten Farben der Blumen, ihres Wohlgeruchs, ihres Honigs, ihrer Saftdecken, Saftmale u. ſ. w., kurz aller derjenigen Eigenthümlichkeiten, welche unmittelbar nur den Inſekten, und 8 9 J In meinem Aufſatze über Bombus mastrucatus (Kosmos, lies: Anpaſſungen ſtatt Schaffungen, An— paſſungsrichtung ſtatt Anpaſſungsvorricht— ung, Bürſten ſtatt Borſten, Eumenes ſtatt Eumenus, Raubhummel ſtatt Staubhummel, Anthyllis ftatt Anthyllus. 0 Kosmos, Bd. III, S. 314, 403, 476. 5 von Dr. Hermann Müller.“) N durch ihre Bedürfniſſe und Neigungen leiten laſſen, in ganz demſelben Sinne als unbe wir III. Jahrg., Heft 6) | erſt mittelbar, durch die von dieſen bewirkte Kreuzung, auch den Pflanzen ſelbſt zu gute kommen, unſerem Verſtändniſſe keine ande— ren Schwierigkeiten darbietet, als die unter der züchtenden Hand des Gärtners und Landwirths erfolgende Ausprägung der uns ſelbſt zum Nutzen oder Vergnügen gereichen— den Eigenſchaften der Hausthiere und Kul— turpflanzen. Ich habe ſodann, auf Grund dieſer, wie mir ſcheint, unbeſtreitbaren That— ſache, ausfindig zu machen geſucht, welche Eigenthümlichkeiten gewiſſer, weſentlich von einander verſchiedener Formen unſerer Blu— menwelt von Inſekten gezüchtet, welche da— gegen durch blinde Naturzüchtung ausgeprägt worden ſind, und glaube, ſo weit dieſer Verſuch gelungen iſt, durch denſelben in der That zu einem klareren und eingehenderen Verſtändniſſe vieler unſerer Blumenformen gelangt zu ſein. Wenn nun die Vorausſetzungen und Schlüſſe dieſes früheren Aufſatzes richtig ſind, ſo fordern ſie unmittelbar zur Um— ſchau nach anderen natürlichen Züchtungs— ee) 30 Produkten auf, welche ebenfalls nicht blos dem Walten blinder Naturausleſe, ſondern großentheils der Auswahl ſehender und empfindender Weſen ihre Ausprägung ver— danken. Denn wenn wir für die Ent— ſtehung derſelben auch nicht eine ſo durch— gängige Weſensgleichheit werden erwarten dürfen, wie für die Blumenzüchtung der meiſten Inſekten und der Menſchen, ſo wird doch ſchon die eine Uebereinſtimmung uns ihr Verſtändniß weſentlich erleichtern können, daß ſie, gleich unſeren eigenen Züchtungs— produkten, der Unterſcheidungsfähigkeit und der durch Noth oder Liebhaberei geleiteten Wahl lebender Weſen einen großen Theil ihrer Eigenthümlichkeiten verdanken. Die Liebhaberei an gewiſſen Ge— ſichts-, Geruchs- und Schallempfindungen ſpielt namentlich bei der geſchlechtlichen Aus— wahl die entſcheidende Rolle, und es iſt bekannt, welche reiche Mannigfaltigkeit auch unſer Auge und Ohr ergötzender Erſchein— ungen des Thierreichs nach Ch. Darwin's (von Wallace beſtrittener) Auffaſſung wir der poſitiven Wirkung der geſchlechtlichen Ausleſe zu verdanken haben. Poſitiv können wir die Wirkung nennen, da ſie diejenigen Formen, Farben, Töne und Gerüche ausprägt, welche von den auswählenden Thieren wahrgenom— men und mit Vergnügen empfunden werden. Noth dagegen, bittere Noth in der Form von das Leben bedrohendem Hunger leitet oft die Wahl der nach Nahrung ſuchenden Thiere. Auch dieſe Wahl muß züchtend wirken, aber in negativem Sinne. Denn gerade diejenigen Abänder— ungen der lebenden Beutegegenſtände, ſeien es Pflanzen oder Thiere, welche von den von Hunger getriebenen Züchtern wahr— genommen und als Stillungsmittel ihres Hungers mit Vergnügen empfunden werden, fallen der Vernichtung anheim, und nur Müller, Schützende Aehnlichkeit einheimiſcher Inſekten. diejenigen, welche ihrer Wahrnehmung ent— gehen oder, als zur Stillung des Hungers ungeeignet, verſchmäht werden, bleiben er— halten und können ſich fortpflanzen und ihre Eigenthümlichkeiten auf Nachkommen vererben. So ſind die Pflanzenfreſſer als negative Züchter der Stacheln, Dornen, Brennhaare und der mannigfachſten Pflan— zengifte thätig; jo haben Ameiſen, Blatt- läuſe, Raupen, Schnecken und andere für die Kreuzungsvermittelung nutzloſe, durch Honigdiebſtahl und Vernichtung zarter Blüthentheile verderbliche Blumengäſte die Ausprägung aller jener Schutzmittel der Blüthen herbeigeführt, die uns Kerner in einer beſonderen Arbeit) geſchildert hat, So haben die Raubthiere als negative Züchter die Gleichfarbigkeit vieler von ihnen als Nahrung benutzter Thiere mit ihrer Umgebung, die täuſchende Aehnlichkeit an— derer mit ungenießbaren Gegenſtänden, die Ausrüſtung wieder anderer mit Giftfäften und Widrigkeitszeichen, kurz die allerman— nigfaltigſten Schutzmittel ihrer Beutethiere herbeigeführt. Und umgekehrt mußte wieder die Fähigkeit gewiſſer Beutethiere, ihre Ver— tilger ſchon aus der Ferne wahrzunehmen und ihnen zu entfliehen, oder ſich vor ihnen zu verſtecken, oder ſich ihnen zur Wehr zu ſſetzen, oder auf irgend welche andere Weiſe ihre Abſichten zu vereiteln, negativ züchtend auf die Raubthiere zurückwirken. Denn ſolche Raubthier-Abänderungen, welche nicht geſchickt genug waren, ihren Nahrungsbe— darf zu erbeuten, mußten natürlich von jeher verhungern, und nur ſolche, denen es durch Gleichfarbigkeit mit der Umgebung oder durch täuſchende Aehnlichkeit mit einem von den Beutethieren nicht gefürchteten Ge- genſtande oder ſonſt wie gelang, dieſelben ) Die Schutzmittel der Blüthen gegen unberufene Gäſte. Wien 1876. Müller, Schützende Aehnlichkeit einheimiſcher Inſekten. unbemerkt zu überfallen oder durch Schnellig- | keit, Liſt, überlegenen Scharfſinn oder ſonſtige glückliche Ausrüſtung in ihre Gewalt zu bekommen, find erhalten geblieben und haben | ihre vortheilhaften Eigenſchaften einer Nach— kommenſchaft hinterlaſſen. So weit nun die Schutzmittel der Beute— thiere und die Erbeutungsausrüſtungen der Raubthiere unter den beſtändig lauernden Augen um ihr Daſein kämpfender Feinde als die wirkſamſten erhalten geblieben ſind, tragen ſie natürlich auch für unſer Auge das Gepräge durch ſehende Weſen geſtalte— | ter oder gefärbter Gegenſtände an fid und erwecken, ebenſo wie die Blumen, bei ober— flächlicher Betrachtung ganz beſonders leicht die Vorſtellung, als könnten ſie nicht die natürlichen Wirkungen der den Stoffen innewohnenden Kräfte, als müßten ſie viel— mehr die unmittelbaren planmäßigen Schöpf— ungen eines ſehenden und denkenden Weſens ſein. Und in der That ſind, wie früher die Erſcheinungen der Blumenwelt, ſo noch bis heute diejenigen der ſchützenden Aehn— lichkeit oder Mimicry?) ganz beſonders gern als Einwände gegen die Entwickelungslehre vorgebracht worden. In Bezug auf die Blumenwelt hat bereits ein bloßes, gedul— diges, viele Jahre lang ausdauerndes An— ſammeln und Vergleichen der vorliegenden Thatſachen genügt, dieſe Einwände verſtum— men zu laſſen und ſie ſogar jedes Scheines von Berechtigung zu entkleiden. Ich ſehe keinen Grund, weshalb wir nicht auf dem Gebiete der Mimiery von dem gleichen Da ſich zwiſchen Gleichfarbigkeit mit der Umgebung und täuſchender Aehnlichkeit mit lebloſen und belebten Gegenſtänden, wie aus dem Folgenden deutlich hervorgeht, eine Grenze nicht ziehen läßt, ſo habe ich mir geſtattet, die Bezeichnung Mimiery als gleich— bedeutend mit ſchützender Aehnlichkeit über— haupt zu gebrauchen. 31 Verfahren den gleichen Erfolg erwarten ſollten. Es wäre daher gewiß eine ſehr dankbare Aufgabe, auch die Fälle ſchützen— der Aehnlichkeit, welche die einheimiſche Thier— welt darbietet, umfaſſender und ſorgfältiger, als es bisher geſchehen iſt, zu beobachten und nach den Abſtufungen ihres Auspräg— ungsgrades geordnet zuſammen zu ſtellen. Namentlich unſere Inſektenwelt wird gewiß noch Hunderte bis jetzt unbeachtet gebliebener Fälle darbieten, und unſere zahl— reichen ſammelnden Entomologen könnten ſich ein großes Verdienſt erwerben, wenn ſie einen Theil ihres Sammeleifers darauf verwenden wollten, dieſe Lücke unſerer Kennt— niſſe auszufüllen. Die ausgeprägteſten An— paſſungen werden zwar, wie man bereits mit ziemlicher Sicherheit behaupten kann, auf dieſem Gebiete, ebenſo gut wie in der Blumenwelt, in den Tiefländern der heißen Zone zu finden ſein, die ſeit unzählbaren Jahrtauſenden im Ganzen gleichen phyſika— liſchen Bedingungen ausgeſetzt geweſen ſind, und deren Bewohner daher, ohne durch Glacialperioden vertrieben oder vernichtet und in darauf folgenden milderen Perioden durch neue Eindringlinge erſetzt zu werden, ſich ſtetig immer inniger an einander haben anpaſſen können. Wir werden daher, auch bei gründlichſter Kenntniß der Wechſel— beziehungen unſerer Thiere und Pflanzen, wohl ſchwerlich jemals Fälle einheimiſcher Mimicry zu verzeichnen haben, die ſich den von Bates, Wallace, Belt und mei— nem Bruder Fritz Müller beobachteten als ebenbürtig an die Seite ſtellen könnten. Aber ebenſo gut wie ſich die beſcheidene einheimische Blumenwelt als höchſt frucht— bar für den Ausbau der Entwidelungs- lehre erwieſen hat, werden wir daſſelbe von einer eingehenderen Durchforſchung der ein— heimiſchen Mimiery erwarten dürfen. Hat FR 0 doch ſchon die erſte gründliche Arbeit, welche einen beſchränkten Bezirk des weiten Ge— bietes der Schutzfärbungen mit wiſſenſchaft— licher Schärfe in die Einzelheiten verfolgt hat“), mächtige neue Stützen für die Ent— wickelungslehre geliefert und den Gegnern derſelben wirkſame Waffen entwunden. Der Wunſch, den einen oder anderen unſerer zahlreichen ſammelnden Entomologen zum Sammeln in das Gebiet der Mimicry einſchlagender Beobachtungen anzuregen, hatte mich vor einiger Zeit veranlaßt, die mir ſelbſt ungeſucht aufgefallenen Beiſpiele ſchützen— der Aehnlichkeit einheimiſcher Inſekten zu— ſammen zu ſtellen, um ſie, durch einige erſt noch anzuſtellende Beobachtungen er— gänzt, gelegentlich zu veröffentlichen. In— zwiſchen hat mir mein ſchmetterlingskundiger Freund, Dr. A. Speyer in Rhoden, den ich über einige mir zweifelhafte Fälle um Rath fragte, aus dem reichen Schatze ſeiner eigenen Erfahrung über Raupen- und Schmetterlings-Mimicry ſo umfaſſende und werthvolle Beobachtungen zur Benutzung für den beabſichtigten Aufſatz mitgetheilt, daß mich dieſelben zu unmittelbarer Ver— öffentlichung deſſelben beſtimmen. Am leichteſten konnten durch die nega— tive Züchtung inſektenfreſſender Thiere offen— bar ſolche Abänderungen der dem Gefreſſen— werden ausgeſetzten Inſektenarten zu con— ſtanten Raſſen ausgeprägt werden, welche ſich annähernder oder vollſtändiger Gleich— farbigkeit mit einer gleichmäßig ge— färbten Umgebung erfreuten. Dieſe iſt daher in der That bei den einheimiſchen In— ) Dr. Aug. Weismann, Studien zur Descendenztheorie. II. Ueber die letzten Ur— ſachen der Transmutationen. 1) Die Ent— ſtehung der Zeichnung bei den Schmetterlings— Raupen. Leipzig, W. Engelmann, 1876. Müller, Schützende Aehnlichkeit einheimiſcher Inſekten. ſekten und wahrſcheinlich bei den Inſekten und im ganzen Thierreiche überhaupt der bei weitem häufigſte Fall ſchützender Aehnlichkeit. Wenn von den grünen Blättern irgend einer Pflanze alle durch abweichende Farbe in die Augen fallenden Exemplare einer aller Schutzmittel entbehrenden Raupenart von Vögeln weggepickt werden, ſo bleiben eben blos grüne Raupen übrig; und ganz in derſelben Weiſe, wie der Gärtner von einer in der Farbe variirenden Blume eine anfangs vereinzelt auftretende, beſtimmte Färbung ſchließlich in voller Reinheit da— durch erhält, daß er von Generation zu Generation alle abweichend gefärbten Indi— viduen ausjätet, müſſen die Raupen freſſen— den Vögel durch Wegpicken aller abweichend gefärbten Individuen von ſolchen Raupen— arten, die offen auf Blättern leben, ohne durch Dornen, Brennhaare, mit Trutzfarbe combinirte Giftſäfte oder ſonſtige Ausrüſt— ungen geſchützt zu ſein, der Umgebung gleich— farbige Raſſen züchten. Die Bedingungen der Züchtung ſind in beiden Fällen ganz dieſelben, der Erfolg dagegen in Bezug auf das Intereſſe des Züchters ein entgegen— geſetzter, für den Gärtner ein poſitiver, für die Raupenfreſſer ein negativer. Der Gärt— ner züchtet die Blumenfarbe ſeiner Wahl, der Vogel die Raupenfarbe, die ſeiner Aus— wahl entgeht. Die Verallgemeinerung dieſes an einem beſtimmten Beiſpiele veranſchau— lichten Verhältniſſes auf alle Inſektenver— tilger überhaupt ergiebt ſich von ſelbſt. Da Blätter, Baumrinden, altes Holz und Laub, Steine und Erdboden den ge— wöhnlichſten Schauplatz offen lebender In— ſektenarten bilden, ſo ſind Grün, Grau, Braun, Schwärzlich und Zwiſchenſtufen zwiſchen den drei letzteren die gewöhnlichſten Schutzfarben der Inſekten, und es würde bei eingehender Nachforſchung gewiß für viele mit Schutzfärbungen ausgerüſtete In— ſektengruppen möglich fein, was Weis mann für die Gruppe der Sphingiden— Raupen thatſächlich geleiſtet hat, durch um— ſaſſenden Vergleich zahlreicher, in ihrer in— dividuellen Entwickelung genau beobachteter Arten Schritt für Schritt die Abſtufungen klar zu legen, welche von der erſten rohen und allgemeinen Aehnlichkeit der Geſammt— färbung zur ausgeprägteſten Durchführung einer feinen nachahmenden Zeichnung geführt haben. Ohne umfaſſende Erfahrungen auf dieſem Gebiete muß ich mich damit begnügen, und es wird für den angegebenen Zweck ausreichen, wenigſtens die verſchiedenen Arten ſchützender Aehnlichkeit, ſo weit ſie mir aus eigener Beobachtung bekannt geworden ſind, nach ihrem Ausbildungsgrade geordnet an einander zu reihen und durch Beiſpiele zu belegen. Zahlloſen Raupen, wie z. B. denen des kleinen Kohlweißlings (Pieris rapae), des Schildkrötenſpinners (Limacodes testu- do), mehreren Schmetterlingen, wie z. B. dem Eichenblattwickler (Tortrix viridana), vielen Käfern, z. B. aus den Gattungen Phyllobius, Polydrosus, Cassida, dient ohne Zweifel ihre grüne Farbe als wirkſames Schutzmittel gegen ihre Verfolger. Es iſt mir kaum zweifelhaft, daß es unter unſeren Inſekten auch grün gefärbte räuberiſche Arten geben wird, denen ihr grünes Kleid denſelben Vortheil gewährt, wie ſein grüner Rock dem Jäger im Walde. Doch vermag ich es von keinem Beiſpiele mit Sicherheit zu behaupten. Die Vermuthung liegt nahe, daß vom Gold— hähnchen (Carabus auratus) im grünen Felde, vom Puppenräuber (Calosoma sy- cophanta) im grünen Walde, von gewiſſen Cieindela-, Pterostichus- und Harpalus- Arten im Grün ihrer Jagdreviere die grün 22 [9 79] gefärbten Abänderungen dadurch zum Siege gelangt ſind, daß ſie am ungeſehenſten ihre Beute überfallen konnten und daher in Zeiten der Hungersnoth als die erfolg— reichſten Jäger die allein Ueberlebenden blieben, doch ſpricht, namentlich bei den beiden erſten, der in die Augen fallende goldige Metallglanz einigermaßen dagegen. Der ſchwärzlich oder bräunlich grauen Färbung der Baumrinden, an denen ſie zu ſitzen pflegen, erfreuen ſich die Kaffee-Eule (Triphaena pronuba), das rothe Ordensband (Catocala nupta) und ſeine Raupe, ſowie die Raupe der Eichen— glucke (Gastropacha quereifolia) und viele andere. Bei den genannten Schmetterlingen ſind, wie überhaupt, wenn ſie neben einan— der auftreten, Schutz- und Trutzfarben in der Weiſe combinirt, daß in der Ruhelage nur die erſteren, beim Ausbreiten der Flügel auch die letzteren ſichtbar werden. Beim rothen Ordensband z. B. ſind die in der Ruhe, wie in der Regel bei den Eulen, über dem Hinterleibe dachförmig zuſammen— gelegten Vorderflügel ſchwärzlich aſchgrau, mit verwaſchener Zeichnung, ſo daß der ruhig auf gleich-gefärbter Unterlage ſitzende Schmetterling auf das Leichteſte überſehen wird. Breitet er aber ſeine Flügel aus— einander, ſo fällt nun neben der unſchein— baren Schutzfarbe der Vorderflügel die ver muthlich durch geſchlechtliche Auswahl ge— züchtete zinnober- bis carminrothe Putzfarbe der Hinterflügel ins Auge, die ſich durch eine weißgeſäumte, breite, ſchwarze Binde des Hinterrandes, und eine ſchmalere, dieſer parallele ſchwarze Binde über die Mitte des Flügels noch ſchöner hervorhebt. Aehn— lich die Kaffee-Eule mit ihren ſchwärzlich graubraunen Vorderflügeln und ockergelben, vor dem Hinterrande mit ſchwarzer Binde gezierten Hinterflügeln. Auch die genannten un Kosmos, III. Jahrg. Heft 7. — 34 Raupenarten ſind ſchwer aufzufinden, wenn ſie, ihrer Gewohnheit gemäß, dicht ange— drückt an einer gleich gefärbten Baumrinde oder an einer altersgrauen Holzplanke raſten. Bei der Raupe der Eichenglucke iſt die Kante, in welcher die abgeplattete Unterſeite mit der ſchwachgewölbten Oberſeite zuſam— menſtößt, mit ſchwärzlich grauen Haaren beſetzt, die ſich der Unterlage dicht anlegen und ſelbſt die ſonſt ſchwach ſichtbare Umriß— linie der Raupe verwiſchen. Zwei ſchwärz— lich- blaue Querbänder im zweiten und dritten Ringeinſchnitt vollenden, indem ſie als Klüfte erſcheinen, das Täuſchende der Färbung. Die Raupen anderer Gastro- pacha-Arten, wie z. B. populi, erſcheinen ebenfalls ihrem Aufenthaltsorte täuſchend ähnlich gefärbt. Die Raupe von Eupi— theeia campanulata hat nach Speyer genau die Farbe der Samenkapſeln von Campanula trachelium, an und in denen ſie lebt. wohnende Rüſſelkäfer Strophosomus coryli hat die graubraune Farbe der Rinde dieſes Strauches, wogegen ſein ſandbewohnender Familiengenoſſe Cneorhinus geminatus die weißgraue Farbe des Sandes theilt. An alten, ſchwärzlich grauen Steinen des Lippſtädter Kirchhofes ſitzen, in filzähnlichen Köchern verſteckt, die Larven und Puppen einer durch völlig flügelloſe Weibchen aus- gezeichneten Motte (Talaeporia pseudo- bombycella), ihrer Umgebung ſo gleich gefärbt, daß man auch bei genauer Kennt— niß des Fundortes nur mit Mühe ſie auf— findet. Wie überhaupt auf dunkelm Grunde jagende Raubthiere, ſo mögen Staphylinen, die auf dunkler Erde oder im Schatten von Gras, Moos u. ſ. w. ihrer Beute nachgehen, ihr ſchwarzes Jagdgewand 1 das am ſchwerſten zu erkennende und Der die Haſelnußſträucher be⸗ örterte Beiſpiel grüner Raupen, die offen und ohne Schutzmittel auf grünen Blättern unter den Käfern zahlreiche Caraben und Müller, Schützende Aehnlichkeit einheimiſcher Inſekten. daher wirkſamſte durch die negative Zücht— ung ihrer Beutethiere erworben haben. Unſer Tagpfauenauge dagegen, das ſeinen Liebhabern im prächtigſten Putzkleide er— ſcheint, wenn es im Sonnenſchein die Flügel auseinander faltet, und im nächſten Augen— blick ſeinen Feinden unſichtbar wird, indem es ſich mit aufrecht zuſammengelegten Flügeln auf dunkeln Boden oder in den Schatten ſetzt, verdankt höchſt wahrſcheinlich ſeinen Pfauenſchmuck den pofitiven Wirkungen der geſchlechtlichen Auswahl, die ſchwarze Färb— ung der unteren Flügelſeite aber ohne Zweifel der negativen Züchtung der ihm nachſtellenden Vögel. In allen dieſen Fällen, deren Zahl ſich leicht vervielfältigen ließe, finden wir bald Raubthiere, bald Beutethiere einer gleich- mäßig gefärbten Umgebung annähernd oder ununterſcheidbar gleich gefärbt. Die Er klärung dieſer Fälle bietet daher keine an— dere Schwierigkeit dar, als das oben er— leben. Ein beſonders dankbares Feld für das weitere Studium dieſer einfachen Gleich— farbigkeit mit der Umgebung würde, nach Speyer, die artenreiche Spannergattung Eupithecia bieten. „Von Eupithecia absinthiata iſt z. B. die ſich von Blüthen nährende Raupe auf den goldgelben Blüthen der Goldruthe (So- lidago virgaurea) goldgelb, auf Calluna vulgaris trübroth wie die Heideblüthe, auf Artemisia vulgaris ſehr wechſelnd: violett, graugrün, braunroth und weißlich bunt ge— miſcht, überall dem Ausſehen der Nahrungs- pflanze angepaßt“, was dafür ſpricht, daß die Züchtung der Umgebung gleichfarbiger Raupenraſſen durch die Vögel unter gün- ſtigen Umſtänden vielleicht ebenſo raſch zum Ziele führt, als die Züchtung beſtimmt — gefärbter Raſſen einer in Farbe variiren— den Blume durch den Gärtner. Von den Fällen der Uebereinſtimmung mit einer völlig oder annähernd gleichmäßig Müller, Schützende Aehnlichkeit einheimiſcher Inſekten. | | 2E. 30 Auf den Alpen verſchwand meinem Auge wiederholt ein graulich und weißlich ſchimmernder Spanner, den ich an Blu— gefärbten Umgebung führen uns aber die unmerklichſten Abſtufungen zu immer ſtärker differenzirten Schutzfärbungen, zu immer feiner durchgeführten, nachahmenden Zeich— nungen, wie Weismann z. B. für die Längsſtreifen dünne Stengel und Blätter bewohnender grüner Raupen, für die Seiten— ſtreifen dicker grüner Sphingidenraupen (die einen ähnlichen Eindruck hervorbringen wie die Seitenrippen grüner Blätter), für die den Sanddornbeeren ähnlichen rothen Flecke der Raupe von Deilephila hippophaés und für die weitere Ausbildung der Ring— und Augenflecken ſchlagend nachweiſt. Und zu der bloßen Uebereinſtimmung mit der Farbe lebloſer Gegenſtände oder gewiſſer Pflanzentheile geſellen ſich, ebenfalls durch Zwiſchenſtufen untrennbar mit ihnen ver— knüpft, entfernte, näher kommende und ſchließlich ſelbſt täuſchende Uebereinſtimmun— gen des Körperumriſſes, ſo daß ſich zwi— ſchen den einfachſten Fällen gleichmäßiger Schutzfärbung und den täuſchendſten Copien eines Stückes Rinde, eines Zweiges, einer Samenkapſel u. ſ. w., in der Erſcheinung wie in der Erklärung, nirgendwo eine Grenze ziehen läßt. Da die einfacheren und einfachſten Fälle täuſchender Aehnlichkeit die bei weitem zahl— reichſten ſind und die mannigfachſten Zwiſchen— ſtufen darbieten, ſo iſt es jedenfalls weit lohnender, ihnen unſere volle Aufmerkſamkeit zuzuwenden, als die vollendetſten Beiſpiele der Mimicry anzuſtaunen. Wir wollen daher erſt noch verſchiedene Fälle differen— cirter Schutzfärbung ins Auge fallen, ehe wir gleichzeitige Nachahmungen von Farbe und Geſtalt betrachten. men beobachtet hatte und deshalb gern zur Beſtimmung eingeſammelt hätte, den ich aber jedesmal vergeblich wieder zu finden ſuchte, bis ich endlich dahinter kam, daß er ſich auf der Flucht plötzlich mit ausgebreiteten Flügeln mern. auf einem der zahlreich umherliegenden Talk— ſchieferſtücke ruhig hinſetzte, die in ganz ähnlicher Weiſe graulich und weißlich ſchim— Ich fing ihn nun mit Leichtigkeit Es war Gnophos obfuscata. Unſer Kiefernſchwärmer (Sphinx pin— astri) hat als Grundfarbe das ſchwärz— liche oder bräunliche Grau der Kiefernrinde, an der er bei Tage mit zuſammengelegten Flügeln ruhig ſitzt; die dunkeln Flecken und die ſchwarzen Striche ſeiner Flügel ähneln den dunkleren Flecken und den Riſſen der Rinde. Bei mehreren Wicklern hat Speyer eine gleiche Rinden— ähnlichkeit conſtatirt: „Tereas niveana F. ſitzt im Herbſt und (nachdem ſie überwintert hat) im Frühjahr an den Stämmen der Birken, deren Farbe ihre trübweißen, mit einzelnen ſchwärzlichen oder grauen Pünktchen und verloſchenen Fleckchen verſehenen Flügel genau angepaßt ſind. Daſſelbe iſt mit Tereas literana L. der Fall, die gleich— zeitig an den Stämmen und Aeſten der Eichen ſitzt. Ihre mit aufgeworfenen Schuppenreihen verſehenen, in mannigfachen Varietäten zwiſchen lebhaftem Grün, Matt— grün und Graugrün wechſelnden, bald faſt einfarbigen und tiefſchwarz gezeichneten, bald weißlich und braungrau gemiſchten, mit ſchwärzlichen Längs- und feinen Querſtrichel— chen verſehenen Flügel (Var. Squamana F.) laſſen ſie an dem mit gleichfarbigen Flechten überzogenen Aufenthaltsorte nur ſchwer er— kennen.“ ein. N) 36 Auch zahlreiche auf Rinden lebende Käferarten ſind durch rindenähnliche Färbung geſchützt, jo z. B. der auf Eichen— rinde lebende Platyrhinus latirostris und der alten Weiden häufige Crypto— rhynchus lapathi; beide vereinigen eine ſchwärzliche, mit Grau untermiſchte Färbung mit einer höckrig rauhen Oberfläche und grauweißem Hinterleibsende. Auch ver— ſchiedene Bockkäferarten, die ſich auf altem Reißig von Weiden, Pappeln, Weißdorn an u. dgl. aufhalten, wie z. B. Exocentrus | balteatus, Pogonocherus-Arten, Leiopus nebulosus, ſind durch ihre ſchwärzlichbraune und graue Färbung an ihren Aufenthalts— orten faſt unſichtbar, ebenſo Hedobia im- perialis, die ich aus alten Hainbuchenhecken ſchüttelte. Selbſt der ſtattliche Zimmerbock, Astynomus aedilis, der an Fühlerlänge alle andern einheimiſchen Bockkäfer übertrifft, iſt mit ſeiner zwiſchen Röthlichgrau, Braun und Schwärzlich wechſelnden Farbe, wenn er auf der gleichgefärbten Kiefernrinde ſitzt, ſehr leicht zu überſehen. Sind die Ninden mit Flechten be wachſen, jo iſt zu ihrer täuſchenden Nach- ahmung ſchon eine etwas mehr ins Einzelne gehende Zeichnung nöthig, die in der Regel wohl erſt durch verſchiedene auf einander gefolgte Schritte der von den Vögeln be— wirkten Ausleſe erreicht worden ſein mag. Wenn man indeß die ſchwankende Färbung und unregelmäßige Zeichnung einer mit Flechten bewachſenen Baumrinde ſich ver— gegenwärtigt, ſo wird man begreifen, daß es hier niemals auf eine getreue Copie eines beſtimmten Muſters, ſondern nur auf un— beſtimmte allgemeine Annäherungen an— kommt, die an den verſchiedenſten Aus— grabungspunkten uns gleich erreichbar ſind. Die Seladoneule (Dichonia aprilina) kann man z. B., wenn ſie an einem mit Müller, Schützende Aehnlichkeit einheimiſcher Inſekten. Parmelia saxatilis und ähnlichen Flechten bewachſenen Baumſtaume ſitzt, gewiß nur mit größter Mühe entdecken, und doch ahmen die ſchwarzen Punkte und Striche, die ſich von der grünlichen und weißlichen Grundfarbe ihrer Flügel als unregelmäßige Zeichnung abheben, die Umriſſe eines Flechten— thallus nur in höchſt unvollkommener Weiſe nach. „Dianthoecia filigrama (in der Var. xanthocyanea),“ ſchreibt mir Dr. Speyer von Rhoden, „kam hier einige Jahre hinter einander an einem alten, mit Flechten bewachſenen Pfahlwerke vor, in deſſen Nähe ihre Nahrungspflanze, Silene nutans, wuchs. Die Schmetterlinge lagen bei Tage ruhig an den Pfählen, deren Farbe und Flechtenbezug aber die grau, weißlich und goldgelb gemiſchte Färbung und verworrene Zeichnung der Eule ſo täuſchend wiedergab, daß es mir faſt nur dadurch gelang, die Thiere aufzufinden, daß ich den Pfahl im Profil auf's Korn nahm und nun durch die kleinen Vorſprünge an ſeiner Oberfläche auf die Thierchen geleitet wurde.“ „Auch Raupen, die von Baumflechten leben, gleichen dieſen in der Regel in Farbe und Zeichnung. So die Raupe von Bo- armia lichenaria, die mit vielen größeren und kleineren Warzen und Höckerchen beſetzt und flechtenartig, moosgrün, gelbgrün, grau— grün gefärbt und braunſchwarz gefleckt iſt. Aehnlich flechtenartig gefärbt und gezeichnet ſind die Raupen von Odontoptera biden- tata L. und vielen andern, auch ſolchen, die nicht von Flechten leben, aber bei Tage in den Rindenſpalten zwiſchen Flechten ruhen, wie Catocala promissa. Sie ſind alle in Farbe und Zeichnung ſehr variirend, wie es das Ausſehen ihrer Rnheplätze eben— falls iſt.“ Wie den Baumrinden und Flechten be— Müller, Schützende Aehnlichkeit einheimiſcher Inſekten. 37 wohnenden Arten, giebt auch den an Schilf oder zwiſchen welkenden Blättern lebenden in der Regel ſchon eine allgemeine Aehn— lichkeit der Färbung hinreichenden Schutz, um der Vernichtung durch Vögel zu ent— gehen. „Faſt alle an Schilf und Rohr lebenden Schmetterlinge beſitzen als Raupen und ebenſo als fertige Inſekten eine ſchilfrohrähnliche Farbe; ſo beſonders die Eulen aus den Gattungen Nonagria, Leucania und den verwandten Phragma- toecia arundinis, Orthotaelia sparga- niella. Die Falter halten ſich eben an denſelben Plätzen auf, welche die Raupen bewohnten. Unter den Eulen und Spannern, welche erſt zu Ende des Sommers und im Herbſt fliegen, iſt die Farbe des abſterbendes Laubes ſehr reichlich ver— treten: von leuchtendem Gelb bis ins Braune oder Rothe. So bei den Arten der Gattung Xanthia und einzelnen Or- thosia, bei Hibernia defoliaria, auran- tiaria, progemmaria. Dieſe Falter ruhen bei Tage an den Zweigen der Laubbäume, welche ihre Raupen ernährten, und fallen mit dem Laube herunter, wenn man dieſe erſchüttert. Hibernia progemmaria erſcheint zwar erſt im März, liebt es aber, ſich dann zwiſchen dem trockenen Laube zu verſtecken, welches hie und da an einzelnen Aeſten übrig geblieben iſt.“ Während bei unbeſtimmter und man— nigfach ſchwankender Farbe des Ruheplatzes ſchon eine allgemeine Uebereinſtimmung mit der Färbung und Zeichnung deſſelben ge— nügenden Schutz verleiht und auch allein ſich ausprägen kann, macht dagegen eine beſtimmte differenzirte Farbe und Zeichnung der Umgebung auch für das der Unſicht— barkeit bedürftige Inſekt eine ebenſo beſtimmte Ausprägung der Färbung und Zeichnung nöthig. Da nun zwiſchen Ruheplätzen der erſteren und ſolchen der letzteren Art eine ſcharfe Grenze ſich nicht ziehen läßt, ſondern die mannigfachſten Zwiſchenſtufen ſich finden, ſo kann auch die engſte Anpaſſung der Inſektenraupen an die letzteren, durch die aus— jätende Wirkung inſektenfreſſender Vögel, der Erklärung kaum Schwierigkeiten darbieten; vielmehr ſind wir im Stande, mancherlei aufeinanderfolgende Schritte, welche zu der— ſelben geführt haben können, uns vorzuſtellen. Wir finden es daher wohl begreiflich, daß Cueullia umbratica und verwandte Eulen, die völlig offen an alten grauen Bretterzäunen ruhen, dieſen an Färbung und Zeichnung ſo ähnlich ſind, daß ſie ſelbſt dem geübten Auge des Sammlers leicht entgehen. Nur wenn ſie ſich, durch die Furcht vor Gefahr erſchreckt, ängſtlich von der Stelle bewegten, würden ſie ſich den Blicken auflauernder Feinde leicht verrathen. Aber eben weil dies von jeher der Fall geweſen iſt und weil alle Individuen, welche ihre Aengſtlichkeit ver— rieth, von jeher von Vögeln weggepickt worden ſind, haben nur ſolche individuelle Abänderungen übrig bleiben und die ſie rettenden Eigenthümlichkeiten auf Nachkom— men vererben können, die ſich auch bei drohendſter Gefahr nicht von der Stelle rührten. So erklärt es ſich, daß Cueullia- Arten und viele andere durch Aehnlichkeit mit der Umgebung geſchützte Eulen (und Juſekten überhaupt) in ſtaunenswerther Regungsloſigkeit verharren, aus welcher ſelbſt die Nadel des Sammlers ſie nicht ſogleich zu erwecken vermag; während andere, nicht durch Mimicry geſchützte Eulen die größte Vorſicht bei der Annäherung nöthig machen, wenn ſie nicht eiligſt entfliehen ſollen. Schon in den bisher beſprochenen Bei— ſpielen kann man die erſten Andeutungen Be) 38 von einer Nachahmung beſtimmter For— men neben denjenigen der Farbe ent— decken. Die Zeichnung der Seladoneule ahmt ja den Umriß des Flechtenthallus, die Zeich— nung des Kiefernſchwärmers die Geſtalt eines Stückchens Kiefernrinde, wenn auch in unvollkommenſter Weiſe, nach, obſchon der Körperumriß dieſer Thiere noch keinerlei Umänderung erfahren hat. Die mehr oder weniger täuſchende Aehnlichkeit in Form und Farbe mit den mannigfachſten lebloſen oder belebten Gegenſtänden, welche vielen unſern Inſekten zum Schutze gereichen, und für die wir jetzt Beiſpiele aufſuchen wollen, führt uns daher nicht zu der Art nach, ſondern nur zu dem Ausbildungsgrade nach Ver— ſchiedenem. Viele auf dem Boden Schutz ſuchende Inſekten ſtimmen nicht nur in der Farbe mit demſelben überein, ſondern haben auch eine Form, die ſich von der der Bodenkrümchen ſelbſt aus geringer Entfern— ung nicht leicht unterſcheiden läßt. Nament— lich find zahlreiche Rüſſelkäfer (Mononychus pseudacori, Ceutorhynchus, Coeliodes, Rhinoncus u. ſ. w.), welche die Gewohn— heit haben, bei der geringſten Beunruhigung ſich mit Einziehung aller hervorragenden Theile zu Boden fallen zu laſſen, nicht nur durch dunkle Farbe und matte, oft rauhe Oberfläche, ſondern auch durch den kugeligen Umriß und die ſtarre Haltung ihres Kör— pers, den lebloſen Brocken, zwiſchen die ſie zu liegen kommen, ſo ähnlich, daß ſie, ſo lange ſie ſich ſtarr verhalten, vor Entdeckung hinlänglich geſichert bleiben. Daſſelbe gilt von den Byrrhus und Acalles-Arten, die ſich nicht erſt zu Boden fallen zu laſſen, ſondern blos leblos zu ſtellen brauchen. Ein umfaſſender Vergleich der verſchiedenen Ab- ſtufungen derartiger Fälle, zu welchem nament- lich die Familie der Rüſſelkäfer reichlichen Stoff darbietet, würde wohl mit Klarheit erkennen laſſen, ob die aus einem flüchtigen Ueberblick geſchöpfte Vermuthung richtig iſt, daß von den ſchützenden Eigenthümlichkeiten, die wir hier vereinigt finden, in der Regel zuerſt die ſchützende Färbung, dann die Gewohn— heit, bei Beunruhigung ſich ruhig zu ver— halten, ſich fallen zu laſſen und todt zu ſtellen, endlich eine Annäherung der Körper— form an die der Bodenkrümchen und Stein— bröckchen zur Ausprägung gelangt iſt. Außer der von dem ſcharf auflauernden Auge der Feinde (Vögel, Grabwespen, Spinnen) bewirkten negativen Züchtung dürfte übri— gens an der Ausprägung der Gewohnheit, in Gefahr ſich ruhig zu verhalten und der weiteren, ſich todt zu ſtellen, von Seiten des ſchutzbedürftigen Thieres ſein Erkennen der Gefahr und ſein Bemühen, derſelben zu entgehen, weſentlich mit betheiligt geweſen ſein. Wie bei den auf dem Erdboden lebenden oder auf denſelben herabfallenden Inſekten eine zufällige Aehnlichkeit der Form und Färbung mit derjenigen der Bodenkrümchen, ſo konnte an andern Aufenthaltsorten eine zufällige Aehnlichkeit der Form und Färb— ung mit irgend einem lebloſen oder auch belebten, aber ungenießbaren Gegenſtand das Auge des Feindes ablenken und über das Erhaltenbleiben und in gleicher Richtung weiter Ausgeprägtwerden dieſer oder jener Abänderung entſcheiden. Als ich, nach ſolchen Aehnlichkeiten ſuchend, meine Schmetterlings— ſammlung durchmuſterte, fiel mir unter Wicklern, die ich vor vielen Jahren, ehe ich noch an Mimicry dachte, in ihrer natürlichen Ruheſtellung mit zuſammengelegten Flügeln aufgeſteckt hatte, Penthina variegana durch ihre Aehnlichkeit mit den Excrementen eines Vogels auf, und ich bat meinen Freund Speyer, ohne ihm den Namen meines Wicklers zu nennen, mir doch mitzutheilen, — Müller, Schützende Aehnlichkeit einheimiſcher Inſekten. 3 ob ihm nicht eine vogeldungähnliche Motte bekannt ſei; ich ſei der Meinung, eine ſolche zu beſitzen. Ich erhielt darauf die Antwort: „Ihre vogeldungähnliche Motte war vielleicht eine Art der Wicklergattung Penthina, von denen mehrere (wie Pru- niana, Variegana, Betuletana ete), wenn ihre an der Wurzelhälfte ſchwärzlich, an der Saumhälfte weißlich gefärbten Flügel im Ruhezuſtande zuſammenſchließen, in der Phyllophora, Phylloptera, Pterochroza That einem Vogelexcrement ganz ähnlich ſehen und von dem ſeligen Glad bach wirklich auch den mehr bezeichnenden, als äſthetiſchen Namen „Spatzendreck“ erhalten haben. Es giebt aber auch Raupen, die Vogelexerementen täuſchend ähn— lich ſind, wenn ſie — und das iſt eben ihre Sitte — halb zuſammengekrümmt ruhig auf der Oberſeite eines Blattes ihrer Nahrungspflanzen ſitzen. So ähnelt die höckrige, braune Raupe von Thyatira batis, die frei auf den Blättern der Brombeeren und Himbeeren ruht, einem größeren, mehr einfarbigen Vogeldreck, und wird darum trotz ihrer Größe ſehr leicht überſehen. Die Raupe von Acronyeta alni iſt vor der letzten Häutung ſchwärzlichgrau, an den vier hintern Segmenten aber weißlich gefärbt, und als ich ſie zum erſtenmale in der an— gegebenen Stellung auf einem Erlenblatte ſitzen ſah, frappirte mich die Aehnlichkeit mit Vogelmiſt ſo, daß ich den Eindruck in dreißig und einigen Jahren nicht ver— geſſen habe. Ein nicht entomologiſches Auge Müller, Schützende Aehnlichkeit einheimiſcher Inſekten. wird ſolche Thiere nie erkennen, ſo wenig wie jene dem Gegenſtande, an welchem ſie zu ruhen pflegen, entſprechend gefärbten Schmetterlinge.“ Der letzte Satz findet vielleicht in noch verſtärktem Grade auf die— jenigen Inſekten Anwendung, welche in Form und Färbung, oft bis in die kleinſten Einzelheiten, dürren oder welkenden Blättern gleichen, wie in der heißen Zone zahlreiche Gradflügler (Phyllium, u. a.) und Schmetterlinge (Siderone, Kal- lima, verſchiedene Nachtfalter). Unter den einheimiſchen Inſekten iſt mir nur ein einziges dahin gehöriges Beiſpiel bekannt, der Pappelſchwärmer, Smerinthus populi, der zwar nicht annähernd ſo treu wie die genannten tropiſchen Arten welkende Blätter copirt, aber gerade dadurch einen ſchlagenden Beleg liefert, daß auch eine ent— ferntere Formenähnlichkeit zu völliger Täuſch— ung genügen kann. Denn wenn unſer Pappelſchwärmer mit ſeinen braun in Grau gefärbten, wunderlich auseinandergeſpreizten, ungefähr nach Art eines dürren Pappel— blattes gekrümmten und ausgeſchnittenen Flügeln zwiſchen den dürren Blättern am Fuße eines Pappelſtammes ſitzt, die Hinter— flügel unter den auseinanderſtehenden Vorder— flügeln her weit nach vorne gezogen und wie die Flügel ſo auch den Leib wellig ge— bogen haltend, ſo wird ihn ſicher das Auge eines Laien nicht leicht auffinden. (Schluß folgt.) Jverſchiedener vergleichsweiſe hoch— Ne civiliſirter Völker entdeckt, die alle Neuen Welt ſchon mehrere Culturepochen dahingegangen ſein mußten, ehe Columbus Befeſtigungen entdeckt, auf hervorragenden Felſen künſtleriſch gearbeitete Altäre und Opferſtätten gefunden, an den Flußläuften weite Begräbnißplätze nachgewieſen. Zu alle im fernen Südweſten entdeckten Städte— ruinen, von gewaltigen, pittoresken Maſſen großer Steinbauten, für deren Alter durch keine Ueberlieferung ein Anhaltspunkt gegeben und deren Auffindung den Anfang einer neuen Aera in der amerikaniſchen Archäologie bezeichnet. Die myſteriöſen Erdbauten der Prärien ſinken in verhältnißmäßige Unbe— deutendheit vor dieſen Veſten und Thürmen der Cliff-Dwellers oder Felſenbewohner, N darauf hinweiſen, daß in der Holmes und Erneſt Ingerſoll wichtige ihre Küſte betrat. In den Prärieen hatten die amerikaniſchen Archäologen ausgedehnte dem kam nun kürzlich die Kunde von ſeltſamen, Die alten Felsklippen-Bewohner (Clifl-Dwellers) Nordamerikas. Nach den Unterſuchungen von die ſich inmitten der Sandwüſten von Arizona auf den teraſſirten Gebirgsabhängen der Rio Mancos und des Hovenweep erheben. Hier haben Prof. F. V. Hayden, A. D. Wilſon, W. H. Jafkſon, W Entdeckungen gemacht, von denen E. C. Hardacre eine zuſammenfaſſende Dar— ſtellung der gewonnenen Reſultate gab, die dieſen Mittheilungen zu Grunde liegt. Eine Ruine, die Mr. Wilſon von der Hayden'ſchen Landvermeſſungs-Commiſ— ſion als Chef der topographiſchen Abtheil— ung in Süd⸗Colorado bei Verfolgung ſei— ner Arbeiten in jener Gegend entdeckte, be— ſchreibt derſelbe folgendermaßen: Es war ein großes Steingebäude von gleichem Um— fange wie das Patentamt in Waſhington, Es ſtand auf den Felſen der Animas im San-Juan-Lande und enthielt ungefähr fünfhundert Zimmer. Das Dach und ein Theil der Wände waren eingeſtürzt, aber der ſtehengebliebene Theil zeigte noch deut— lich genug, daß das Gebäude urſprünglich vier Stockwerke hoch geweſen fe. Eine bedeutende Anzahl Zimmer war noch in ſehr gut erhaltenem Zuſtande und dieſelben hatten ſchießſchartenähnliche Fenſteröffnungen, aber nirgends ließ ſich eine nach außen führende Thür entdecken. Offenbar hatten die Bewohner ſich früher auf die Weiſe Eingang in ihr Wohnhaus verſchafft, daß ſie mit Hilfe von Leitern in die Fenſter— öffnungen hineinſtiegen und dann die Lei— tern in das Innere nachzogen. Die Fuß— böden beſtanden aus Cedernholz und waren in der Weiſe gefertigt, daß ungefähr einen die Zwiſchenräume ſorgfältig mit kleineren Aeſten und Zweigen ausgefüllt, das Ganze aber mit einem teppichartigen Ueberzug von Cedernrinde überdeckt wurde. Die Enden der Balken ſahen rauh und zerfaſert aus, als habe man ſich zu ihrer Bearbeitung ziemlich ſtumpfer Werkzeuge bedient, und in der Nähe fanden ſich Steinäxte, ſowie aus ungefähr zwei Fuß langen Stücken gefertigte Sandſteinſägen, deren Schneide durch langen Gebrauch ganz glatt gewor— war. Einige hundert Meter von dieſem rieſigen Gebäude fand ſich ein anderes großes Haus in Ruinen und in dem da— zwiſchen befindlichen Raume ſtanden Reihen von kleineren, aus aufeinander gehäuften Kieſelſteinen erbauten und in Straßen, nach Art eines heutigen Dorfes, geordne— ten Wohnhäuſern. Dieſe kleineren Häuſer waren in einem weit vorgeſchritteneren Zuſtande des Verfalls als die großen, da ja die runden Steine ſich unter dem Einfluß der Elemente viel leichter aus ihrem Zuſammenhange löſen mußten, als jene gewaltige Steinmetzarbeit. Die Stra— ßen und Häuſer dieſer verlaſſenen Stadt ſind von Wachholder und Pinnon über— wachſen (dieſes Pinnon iſt eine Art kein Beweis gegen ihr hohes Alter. der trockenen reinen Luft des ſüdlichen Co— Fuß dicke Stämme nebeneinander gelegt, Hayden 2c., Die alten Felsklippen-Bewohner (Cliff-Dwellers) Nordamerikas. 41 breitäſtiger Zwergfichte, die unter den Schuppen ihrer Zapfen wohlſchmeckende und nahrhafte Kerne enthält). Aus der Größe dieſer Bäume und ihren Stellungen auf den Trümmerhaufen der Häuſerruinen zieht Mr. Wilſon den Schluß, daß ſchon ein ſehr großer Zeitraum ſeit der Zerſtör— ung oder dem Verlaſſen dieſer Wohnſtätten verfloſſen ſein muß. Das Vorhandenſein noch wohlerhaltenen Holzes in dieſen Gebäuden iſt durchaus In lorados kann ſich einigermaßen geſchütztes Holz unzweifelhaft viele Jahrhunderte lang in ungeſchädigtem Zuſtande erhalten. In Aſien hat ſich Cedernholz über ein Jahr— tauſend erhalten und von dem egyptiſchen Cedernholz wiſſen wir, daß es mehr als zwei Jahrtauſende nach der Zeit, da es ſeinen Wald verlaſſen, noch ganz unver— ändert ſich erhalten hatte. In dem ganzen Umkreis der ſüdweſtlichen Territorien der Vereinigten Staaten findet man nirgends verfaulte Cedern, nicht einmal im Dickicht des Urwaldes. Sie ſterben ab, aber ihre Stämme bleiben feſt und ausgedorrt auf— recht ſtehen. Die Winde und der von ihnen umhergewirbelte Sand ſchneiden ſo zu ſagen die todten Bäume zu phantaſtiſch ſchönen Geſtalten zu, ſie bohren Löcher durch die Stämme und reiben ſeine durchlöcher— ten Glieder ſo lange, bis endlich nach jahrhundertelangem Widerſtande der Reſt des Baumes wörtlich in Atomen vom Winde fortgeblaſen iſt. f Auf dem Rio San Juan, ungefähr fünf deutſche Meilen von der Stadt der Animas (1080 weſtl. von Greenwich 37 ½ N. Br.) entfernt, erblickte Mr. Wilſon am folgenden Abend vom Lager— platze aus ein ähnliches Gemäuer in düſterer Kosmos, III. Jahrg. Heft 7. N = 42 Großartigkeit durch die Dämmerung hin- durch ſichtbar werden. Das Ganze war nach ſeiner Beſchreibung eine bezaubernde Scene. Als der Mond aufging, fielen die Schatten des geiſterhaften Gebäudes dunkel über die ſilberglänzende Ebene. Die Glut der Lagerfeuer, die zierlichen Zelte, der Negerkoch, die Männer in ihren ledernen Jagdanzügen und die an ihren Pfählen feſtgebundenen Maulthiere bildeten in der ſchönen Sommernacht auf dem Hintergrund der mondhellen Wüſte ein ſeltſames Bild, während in der Ferne die verlaſſenen Ruinen ſichtbar waren und auf ihren Zinnen hohe gewaltige Cedern emporragten, deren ge— bleichte Gerippe gleich Geiſtern die ſchweig— ſamen Mauern und Thürme einer düſteren Vergangenheit zu bewachen ſchienen. Im Sommer des Jahres 1874 wurde dann eine Abtheilung der Hapden'ſchen Landvermeſſungsexpedition unter Leitung des Herrn W. H. Jackſon beſonders zu dem Zwecke ausgeſchickt, dieſe alten Städte des Südweſtens aufzuſuchen und auf das eingehendſte zu durchforſchen. Dieſe Unter— nehmung brachte die erſten authentiſchen amtlichen Nachrichten über dieſe Sache. Nach ihrem Bericht liegt die von Mr. Wilſon entdeckte Ruinenſtadt an der nörd— lichen Grenze einer ungeheuren Niederlaſſung, und zwar einer dicht bevölkerten, die ſich vor Zeiten bis nach Neu-Mexico hinein erſtreckte. Der Flächeninhalt derſelben be— trägt mehrere tauſend engliſche Quadrat- meilen und umfaßt die zuſammenſtoßenden Theile von Colorado, Utah, Arizona und Neu-Mexico. Die ſüdlicheren Ruinen zeigen eine weit höher entwickelte Architektur als die mehr nach Norden gelegenen. Die ganze Region iſt von dem jetzigen Gebiete civili- ſirten Lebens weit entfernt, die nächſte Eiſen— bahn liegt über dreihundert engliſche Meilen weit entfernt. Von dem Fort Garland aus hat man eine pfadloſe Wüſte zu durch— ziehen, deren Vegetation nur aus verein— zelten Salbeibüſchen und verkrüppelten Talg— bäumen beſteht und deren Einſamkeit nur durch Klapperſchlangen, Hornkröten und giftige Spinnen, Tarantulas, belebt wird. Ju wollähnlichen Flocken bedeckt an einzel— nen Stellen das Alkaliſalz wie friſch ge— fallener Schnee eine größere Bodenſtrecke und auf das Ganze ſendet die Sonne ihre wärmſten Strahlen und erzeugt eine wahr— haft tropiſche Glut. Die vom weſtlichen Abhang der Rocky Mountains herabſtrö— menden Flüſſe haben durch den ſüdlichen Theil der Wüſte lange Thäler, ſogenannte Cannons, eingeſchnitten, in denen dann ihre Flußbetten beinahe horizontal verlaufen, und zwar ſind hier die Felſen, die den Unter— grund der Prärie bilden, zuweilen bis zu einer Tiefe von mehreren tauſend Fuß fort— gewaſchen, ſo daß ſich an den Seiten der Flüße ſcheinbar hohe Gebirge, thatſächlich aber nur hohe Felswände erheben, die zur Hochebene der Prärie hinaufführen. Dieſe Flußbetten ſind den größten Theil des Jahres hindurch trocken, nur im Frühling kommt aus den geſchmolzenen Schneefeldern eine kurze, kühle Fluth, die aber bald wie— der verſchwindet und nur noch ſtagnirende, ſumpfige Tümpel in den Vertiefungen des Felsbodens zurückläßt. Nur ſelten findet ſich eine am Abhang der Cannons herab— ſickernde Quelle, und die macht ſich dem ſuchenden Auge durch ihre Umgebung von Mooſen und Kräutern bemerkbar, die ſogar in der Wüſte auch das kleinſte Waſſergerieſel zu entdecken wiſſen, um bei ihm ſich hei— miſch zu machen. Umgeben von den Rio Mancos, La Plata und San Juan erſtreckt ſich hier in dreieckiger Geſtalt eine Land— Hayden 2c., Die alten Felsklippen-Bewohner (Clitk-Dwellers) Nordamerikas. 9 | Hayden ꝛc., Die alten Felsklippen-Bewohner (Cliff- Dwellers) Nordamerikas. 43 Fig. 1. Felswohnungen am Rio Mancos, 700 Fuß über dem Fluſſe. fläche von ſechshundert engliſchen Quadrat— meilen Inhalt, in der auch nicht ein ein— ziger Tropfen Waſſer ſich findet. Die Seiten dieſes Dreiecks werden durch ein weitausgedehntes Netzwerk von Felsſchluchten begrenzt, die beinahe auf allen Punkten mit ſolchen Ruinen, wie den oben beſchrie— benen erfüllt ſind. Der San Juan und der La Plata haben zwar zu beiden Seiten ihres Bettes ganz breites Uferland, ehe | ſich die fie einſchließenden Felſenwände er- heben, aber der Rio Mancos ſtrömt wie ein Gebirgsbach in einem ganz ſchmalen Bette, und unmittelbar an feinen Uferrän⸗ derzeit von unten her zu ihnen hinauf zu dern ſteigen die Felſen mehrere tauſend Fuß hoch ſteil in die Höhe. Auf den Abhängen der weiter ſich öffnenden Cannons liegen Mengen von pittoresken Ruinen von unmittelbar am Rande der gähnenden Ab— gründe hingeklebten Häuſern; auf den zwiſchen dem Flußlauf und den Felswänden ſich erſtreckenden Uferländern dehnen ſich die Ueberreſte der alten Städte aus und auch in den wilderen Cannons entdeckt man noch einzelne, an den unzugänglichſten Stellen über einer ſenkrecht in die Tiefe ſich ſen— kenden Felswand angebrachte Wohnhäuſer und Zufluchtſtätten. An einer Anſiedlungs— ſtelle, ungefähr tauſend Fuß über dem Thale des Rio Mancos finden ſich auf einem ganz ſchmalen, lang ſich hinſtrecken— den Vorſprung des Felſens einzeln gebaute, faſt die ganze Breite dieſes Felſenſimſes einnehmende Häuschen, die zuſammen ein großes Dorf ausmachen. Sie liegen ſo hoch, daß das unbewaffnete Auge ſie von unten kaum noch als bloße Punkte zu unterſcheiden vermag. Von oben her iſt es ganz unmöglich, zu dieſen Häuſern her— abzugelangen, da die Felswand über ſie herabhängt. Und ebenſo unmöglich iſt es, 4 gelangen, wenngleich Spuren und Löcher im Geſtein den Weg andeuten, auf dem die Bewohner dieſer Felſenneſter früher mit Hilfe von Stricken und Leitern hin— auf und hinunter gelangten. Der Fels beſteht theilweiſe aus Sand— ſtein, hauptſächlich aber aus Kalkſtein und dazwiſchen ſind dann abwechſelnd Schichten vou Kräuterſchiefer und Schieferthon ein— geſprengt. Dieſe weicheren Schichten ver— mögen dem Einfluß des Waſſers und der Luft auf die Dauer nicht zu widerſtehen und ſo entſtanden Höhlen, deren feſte Fel— ſenplatten als Fußboden und Decken der darin errichteten Häuſer dienen. Einige Häuſer haben zwei Stockwerke, eines war kaum zwei Meter hoch. Solche Höhlen wurden in mehrere Abtheilungen getheilt, indem die Bewohner von der hinteren Wand der Aushöhlung bis zu ihrer Oeffnung reichende, feſte Steinwände erbauten und dann den Eingang durch eine ſo geſchickt aus demſelben Geſtein wie der umgebende Fels erbaute Mauer verſchloſſen, daß man bei einem flüchtigen Blick dies Werk der Menſchenhand kaum von dem natürlichen Felſen unterſcheidet. Auf dem Rande der höheren Felszinnen ſind dann hier und da in unregelmäßigen Zwiſchenräumen runde Thürme errichtet, die ganz wie ein mittel— alterlicher Wartthurm oder Lug-ins-Land ausſehen, abgeſehen davon, daß man auch zu ihnen nur mit Hilfe von Leitern ge— langen kann — und die höchſtwahrſchein— lich demſelben Zwecke wie die mittelalterlichen Wartthürme dienten. Die Kreislinie die— ſer Thürme iſt tadellos ausgeführt, die Schutzmauer, nur nach dem Abgrund hin offen, wo die Leitern zu den Wohnhäu— ſern hinunterführen, iſt jetzt meiſt ſchon in Trümmern, auch die Zinne des Thurmes — Hayden ꝛc., Die alten Felsklippen-Bewohner (Cliff-Dwellers) Nordamerikas. ſchon abgebröckelt, aber im übrigen Alles noch außerordentlich wohl erhalten, und ſtolz und kühn ſteht das Gebäude noch immer auf der Höhe und ſcheint noch immer ſeiner früheren Bewohner zu warten, die einſt vor Jahrhunderten auf ſeinen Zinnen die Warnungsfeuer für ihre Stammesgenoſſen aufflammen ließen. In unſerer Zeit ſind es nur noch die räuberiſchen Novajos, viel- leicht auch noch einzelne hierher verſchlagene Utesindianer, die dieſes wüſte, verlaſſene Land durchziehen. In dem Me. Elmo Cannon ſteht eine unter dem Namen des Schlachtenfelſens, des „Battle Rock“, bekannte Ruine. Ein gewaltiger Felsblock iſt herabgerollt und ſogar vier Stock hoch, die meiſten ſind aber laſtet auf der Mauer eines in geraden Linien, nicht in Curven, wie jene Wacht— thürme, aufgeführten Befeſtigungswerkes; und beide, der herabgefallene Felsblock und das Feſtungswerk, ſind in wunderbar ſchöner Weiſe ganz von ſie umrankendem wilden Wein umhüllt. Auf dem Felſen⸗ vorſprung unter „Battle Rock“ ſtehen die Ueberreſte eines Gebäudes, an welchem die Enden von Holzbalken noch ganz deutlich die Stelle anzeigen, wo das zweite Stock— werk begann, und noch weiter unten lehnen halbzerfallene Thürme ſchwer an die Sand— ſteinwand des Gebirges. Ueber dieſen drei Gebäudegruppen auf dem höchſten Gipfel des Felſens erhebt ſich dann noch eine An— zahl von wachholder-überwachſenen Mauer- reſten, und einen eigenthümlichen Anblick gewährt es, wie auf dem höchſten derſelben, einer Fahne vergleichbar, eine ſchlanke Fichte erwachſen iſt. Die ganze Umgebung dieſer Stelle war wie beſäet mit Pfeilſpitzen aus Feuerſteinen, die in die Felsſpalten einge— drungen waren oder in die Erde ſich ein— gebohrt hatten. Nun haben ſich aber in keiner dieſer Niederlaſſungen ſonſt Pfeil— Hayden 2c., Die alten Felsklippen-Bewohner (Cliff-Dwellers) Nordamerikas. ſpitzen oder auch nur theilweiſe dazu bear— beitete Steine oder ſonſt irgend welche An— zeichen dafür gefunden, daß die Felſenbe— wohner ein kriegeriſches Volk geweſen ſeien oder ſich der Bogen als Waffen bedient hätten. Hierdurch, wie durch die Lage der Pfeile, wird die Schlußfolgerung nahe ge— legt, daß dieſe Pfeile von einer feindlichen Völkerſchaft herrühren, die einmal in lange | vergangenen Zeiten das ganze Land über- ſchwemmte und einen blutigen Krieg gegen dieſe reichen Städte des Südens führte. Nicht minder ſchön und intereſſant als der „Battle Rock“ von Me Elmo iſt das benachbarte „Hovenweep Caſtle“, wört— lich das Caſtell des verlaſſenen Thales. Auf den umgebenden Vorländern des Hoven— weep ſowohl als auf den entfernteren Pla— teaus des Dolores und anderer Flüſſe er— heben ſich die Gedenkſteine düſterer Todten— ſtädte, alter Begräbnißplätze aus den öden Sandflächen der Wüſte. Bis jetzt hat man in dieſen Begräbniß— ſtätten noch nirgends die Ueberreſte menſch— licher Knochen gefunden, auch keine Spur von eigentlichen Gräbern, ſondern nur mit Sand vermiſchte, verkohlte Holzſtücke und Aſchen— haufen. Aller Wahrſcheinlichkeit nach waren dieſe Urbewohner des Landes Feueranbeter, die ihre Todten verbrannten und von den Seelen der Ihren meinten, daß ſie gleich Feuerfunken emporflögen und im Schoße der glühenden Sonne ihre Ruheſtatt fänden. Die aufgerichteten Steine ſind nur Erinner— ungszeichen und ſollten die Stelle bezeich— nen, an der die Verbrennung der Leichname ſtattgefunden. Das eben Geſagte iſt die Anſicht der erſten Durchforſcher dieſer Gebiete. Wenn— gleich nun nach dem Befunde dieſer (verkohlte Stellen in der Wüſte, auf denen noch da— zu Steine ſich befinden, die offenbar von Meunſchenhand dorthin gebracht ſind, es ſich nicht ableugnen läßt, daß dies Verbrenn— ungsſtätten der Todten geweſen ſeien, ſo iſt doch der daraus gezogene Schluß, daß die Bewohner dieſer Felſencaſtelle Feueran— beter geweſen ſeien, ein etwas gewagter, und die ihnen zugeſchriebene Lehre vom Aufſteigen der Seele des Abgeſchiedenen zur Sonne wohl nur als ein phantaſtiſch— betrachten ſeien. Holzſtücke und Aſchenmengen enthaltenden) poetiſcher Einfall aufzunehmen. Auch aus den folgenden, von den Entdeckern dieſer prähiſtoriſchen Ruinen angeführten Gründen dürfte ſich höchſtens der Rückſchluß machen laſſen, daß jene Urbewohner eine Art des Geſtirndienſtes gehabt haben mögen, aber Genaueres über ihre Weltanſchauung u. ſ. w. doch wohl kaum zu eruiren ſein. Die weiteren Gründe, welche dafür ſprechen ſollen, daß ſie die Sonne als ihre Gottheit verehrten, ſind nämlich folgende: In faſt allen dieſen Ruinen und Ruinen— ſtädten finden ſich die ſogenannten „estufas“, Dieſe Gebäude, die gottesdienſtlichen Zwecken dienten, ſind von kreisrunder Geſtalt, zeigen in der Mitte eine Bodenvertiefung mit deutlichen Spuren eines Altars oder einer Feuerſtätte, haben häufig drei Außen— wände, und vom Mittelpunkt aus ſonnen— ſtrahlenartig bis zur äußeren Peripherie hindurchgehende Zwiſchenwände, ſo daß eine Anzahl von kleinen Räumlichkeiten entſteht, in denen ſie wahrſcheinlich ihre Koſtbarkeiten aufbewahrten. Es iſt eine allgemein jetzt unter den Archäologen Amerikas verbreitete Anſicht, daß die jetzigen Pueblo-Indianer von Neu— Mexico und Arizona als der entartete Reſt der Nachkommen dieſer Felſenbewohner zu Die Schlammhütten der Pueblo-Indianer ſind wie eine ſchwache Nachbildung jener kleineren Felſenbauten 45 a\ 46 Hayden ꝛc., Die alten Felsklippen-Bewohner (Cliff-Dwellers) Nordamerikas. geſtaltet, beſonders der kleinen Häuſer, die auf dem Uferland des Fluſſes liegen, und auch im Uebrigen finden ſich bei dieſen Wilden noch einige Anzeichen, die auf eine frühere Civiliſation und Kultur hinweiſen. Auch haben die Niederlaſſungen dieſes Stammes, die ſogenannten ſieben Moquiſtädte von Arizona, „estufas“, und man findet bei ihnen allen ohne Ausnahme einen Cultus des Feuers. Dieſe Moquiſtädte befinden ſich jetzt noch unverändert in ganz dem— ſelben Zuſtande, wie ſie von den eindring— enden Spaniern vor beinahe vier Jahr— hunderten beſchrieben wurden. Da man nun die Moquis als die direkt von den Cliff-Dwellers abſtammenden Völker be— trachten muß, ſo iſt es klar, daß die alten Caſtelle der Cannons ſchon ſeit ungemein langer Zeit verlaſſen ſein müſſen, da ſogar die Moquis auch nicht die geringſte Kunde mehr von den großartigen Wohnſtätten ihrer Vorfahren beſaßen. Was nun das Alter des Puebloſtammes betrifft, ſo wurde derſelbe, nach einem aus der Zeit der ſpaniſchen Eroberungen ſtammenden Bericht des Coronado, damals für ein ſehr altes Volk gehalten, und Caſtenado überliefert die genauere Mittheilung, daß die Landesbe— wohner ihm erzählt hätten, die Pueblos wären ſchon ſeit mehr als ſieben Gener— ationen — alſo auch ſchon in ihrem degen— erirten Kulturzuſtande — in ihren damaligen Wohnſitzen. Das Vorhandenſein dieſer Ruinen, die jetzt entdeckt worden ſind, wurde auch ſchon zur Zeit der ſpaniſchen Eroberung, aber nur nach Hörenſagen, als unglaubwürdige Fabelei erwähnt. Im Jahre 1681 ver— zeichnet Don Antonio de Otermin un— beſtimmte, ihm zu Ohren gekommene Ge— rüchte in ſeinem Tagebuche, des Inhalts, daß ſich in einer Entfernung von achtzig Meilen „Caſas Grandes“ befänden, die vor langen Zeiten einmal den Ureinwohnern als Feſtungen gedient hätten. Albert Gallatin ſagt: „Es ſollen ſich in dieſem Landſtrich als Caſas Grandes bekannte Ruinen von großen Gebäuden befinden, die den Azteken zugeſchrieben werden. Daß die Pueblo-Moquis in gleicher Weiſe wie die Cliff-Dwellers Feueranbeter ſeien, ſoll dann des Ferneren auch noch aus einem Bericht in Davis' „Conquest of New-Mexico“ hervorgehen. In dieſem Buche von Davis über die Eroberung von Neu-Mexico findet ſich nämlich die Angabe, „daß viele ſonderbare Erzählungen über die abergläubiſchen Vorſtellungen der Pueblo im Umlaufe ſind. Sie behaupten, Montezuma ſelbſt hätte ihre heiligen Feuer in den Eſtufas angezündet und ihnen an— befohlen, dieſelben bis zu ſeiner Rückkehr brennend zu erhalten. Sie lebten der Er— wartung, daß er mit der aufgehenden Sonne wieder erſcheinen würde und jeden Morgen ſtiegen die Genoſſen dieſes Stammes hinauf auf die Dächer ihrer Häuſer und blickten ſehnend hinaus nach Oſten, nach ihrem Retter und König. Die Pflicht der Bewachung und Unterhaltung der heiligen Feuer fiel den Kriegern zu, die abwechſelud je zwei Nächte hindurch, ohne irgend etwas zu eſſen oder zu trinken, dieſen Dienſt verſahen, ja einige von ihnen ſollen auf Poſten geblieben ſein, bis völlige Erſchöpfung, Ohnmacht, ja der Tod ſie abrief.“ Des Ferneren berichtet Espejo: „Bei den Pueblos werden Abbilder der Sonne, des Mondes und der Sterne verfertigt und dienen als Gegenſtände der Anbetung. Als ſie die Spanier mit ihren Pferden ſahen, waren ſie nahe daran, dieſelben als höhere Weſen anzubeten,“ — (alfo etwas Aehnliches wie bei dem Erſcheinen der Spanier SCC TTT en 7 ſteige. Hayden 2c., Die alten Felsklippen-Bewohner (Clitk-Dwellers) Nordamerikas. 47 in dem eigentlichen Mexico) — „brachten ſie in ihren ſchönſten Häuſern unter und drangen in ſie, das Beſte anzunehmen, was ſie beſaßen.“ Hiermit hat allerdings dann die Mit— theilung von Davis über die Anbetung eines Abbildes der Sonne, das zugleich den | göttlichen König Montezuma darſtellen ſollte, eine gewiſſe Aehnlichkeit. „Die Häuſer ſind aus Schlamm und Steinen erbaut und man gelangt mit Hilfe von Leitern, die von außen angelegt werden, in die— ſelben hinein. Sie (nämlich die jetzigen Pueblo-Indianer) zeigten mir ihren Gott Montezuma. Es war ein Stück gegerbtes Leder, das ſie über einen kreisrunden, etwa neun Zoll im Durchmeſſer habenden Holz— rahmen geſpannt hatten. Die eine Hälfte dieſes Kreiſes hatten ſie dann roth, die andere grün bemalt, auf der grünen Hälfte waren Löcher angebracht, die die Augen vorſtellen ſollten, auf dem rothen Theil aber Lederſtückchen ſtatt des Mundes und der Ohren. Die Leute knieten um dies Ding herum und beteten es an, der eine von ihnen ſagte zu mir, es ſei Gott und der Bruder Gottes.“ Ein Mitglied der Hayden'ſchen Expedition, die dieſe Pueblos im Jahre 1875 beſuchte, erzählte von ihnen desgleichen, „bei Anbruch des Tages ſtehen die Einwohner auf den Dächern ihrer Häuſer, ſchweigend darauf wartend, daß die Sonne am Horizont empor— Sobald dieſelbe erſcheint, ſtoßen ſie einen lauten, freudigen Ruf aus und ver— ſchwinden wieder in ihren Häuſern.“ Man ſieht, es iſt Material und Anhalt dazu vorhanden, das intereſſante Problem des Zuſammenhanges der jetzigen und ehemaligen Pueblo-Indianer mit den früheren Bewohnern der Steinbauten in den Cannons eingehender zu durchforſchen und dieſer Frage eine ſorgfältige Unterſuchung ange— deihen zu laſſen. Dieſe jetzt ſchon begonnenen Unterſuchungen werden hoffentlich zu einer genaueren Kenntniß der Eigenthümlichkeiten und des Kulturzuſtandes der untergegangenen Völker führen; vielleicht wird manches hie— her gehörige Reſultat ſchon auf dem be vorſtehenden Amerikaniſten-Congreß mit— getheilt werden. Aber von dieſer Abſchpeifung auf das noch ganz jungfräuliche Gebiet der Hypotheſen über die Bewohner und Urheber dieſer Ueberreſte vergangener Zeiten iſt zu der Beſchreibung der aufgefundenen Bauwerke ſelbſt zurückzukehren. Einzelne Theile der Cannonwände ſind mit Bilderſchrift und ſeltſamen Hierogly— phen bemalt. In einem Falle befanden ſich ſolche Inſchriften an der hinteren Wand einer durch einen großen Rollſtein geſperrten Felsſchlucht. Der den Zugang zur In— ſchrift völlig verſperrende Felsblock war ſchon vor ſo langer Zeit heruntergeſtürzt, daß einzelne Theile deſſelben ganz von Baumſtämmen umhüllt waren, und doch ſah die dahinter ſichtbare Schrift an der Fels— wand noch immer ſo friſch aus, als wäre ſie erſt geſtern gemalt worden. In einer Höhle am Rio de Chelley, einige hundert Fuß über dem Flußbett, wurden etwa fünfzig zierlich gearbeitete Pfeilſpitzen und ſieben grobe Krüge aus— gegraben. Dieſe Höhle birgt in ihrem Innern ein drei Stock hohes Haus, das allein in ſeinem Erdgeſchoß 76 Zimmer enthält. Die Ruine dieſes Hauſes hat eine Länge von 550 Fuß. In einem großen, wahrſcheinlich als Werkſtätte benutzten Raume fanden ſich große Mahlſteine und verſchiedenartige andere Werkzeuge aus der Steinzeit. Die Wände ſind mit einem weißen, N ſtuckartigen Cementüberzug verſehen. Daß derſelbe nicht mit Hilfe von Werkzeugen, ſondern direkt mit der Hand auf die Wand— fläche übertragen wurde, erhellt daraus, daß man deutlich den Abdruck der Poren und Linien der menſchlichen Haut darauf unter— ſcheiden kann. Zeitweiſe iſt auch der Ab— druck einer ganzen Hand darauf zurückge— blieben; ſo hat ſich an einer Stelle die Geſtalt der zarten Finger einer Frau für die Menſchen des neunzehnten Jahrhunderts erhalten, flehend ſcheinen ſie ſich auszubreiten, als riefen ſie nach Rettung vor dem Schrecken der Vernichtung. Ganz unten an den Wänden ſieht man Abdrücke von dicken Händchen kleiner Kinder, jede Linie und jedes Grübchen wohlerhalten. Von einer ſehr pittoresken Ruine des Rio de Chelley iſt mitſammt der umliegenden \ 48 Hayden 2c., Die alten Felsklippen-Bewohner (Cliff-Dwellers) Nordamerikas. | Felspartie ein ſehr wohlgelungenes Mini- aturmodell angefertigt worden. Die kleinen Vorſprünge des Felſens, mit deren Hilfe man zur Höhle emporkletterte, die Höhle ſelbſt und das zerfallende Gemäuer darin werden durch ſolche plaſtiſche Darſtellung ganz anders zur Anſchauung gebracht, als die beſchrei— bende Feder oder auch der Zeichenſtift es zu thun vermögen. Von dieſem Modell ſind dann Gypsabgüſſe genommen und genau ebenſo gefärbt worden, wie die wirk— lichen Felſen und Ruinen. Dieſe Abgüſſe können nicht nur Schulen, ſondern auch Privatleute zum Koſtenpreiſe von Profeſſor Hayden beziehen. Dieſe zur Erklärung und Veranſchaulichung der Beſchaffenheit der Felſenminen unentbehrlichen Modelle haben eine Länge von zwei und eine Höhe von drei Fuß. 2 Fig. 2. Wohl die bedeutendſte der zahlloſen Ruinen des Rio San Juan befindet ſich in einer cylinderförmigen, wohl zweihundert Fuß hohen Höhle, die wie ein tiefer runder Tunnel ſich in die Seitenwand des Cannon hinein erſtreckt. In der Mitte der Höhle befindet ſich eine Felserhöhung, die als Ruinen am Rio de Chelley. wahrſcheinlich als Werkſtätte. Löcher im Fundament eines gewaltigen, in das Zwie— licht der Höhle bis zur Hälfte ihrer Höhe aufſteigenden Baues dient. Schon in der Entfernung einer engliſchen Meile kann man denſelben vom Cannon aus erblicken. Ein offener Platz im Innern der Höhle diente N— Felsboden dienten vielleicht zur Aufnahme und Befeſtigung der Pfoſten ihrer Web- ſtühle, und Rinnen und Einſchnitte im Fuß⸗ boden bezeichnen noch die Stellen, an denen die Arbeiter jener Zeit ihre Steinſägen ver— fertigten und ihre plumpen Steinäxte ſchärften. Der vordere Theil des Erdgeſchoſſes iſt ein großer Raum, eine Art Veranda oder Ver— Hayden ꝛc., Die alten Felsklippen-Bewohner (Cliff-Dwellers) Nordamerikas. ſammlungshalle, die oberen Zimmer haben keine Fenſter, aber Verbindungsthüren, die von einem Raume in den andern führen, ſowie Oeffnungen in der Außenwand, die jedoch alle nur nach dem hintern Theile der Höhle hinausführen. Das milde Klima machte bei dem Schutze, den die dom— artige Decke der gewölbten Höhle ge— währte, irgend welche Art von Bedachung des Hauſes ganz überflüſſig. In einem central gelegenen Raume des Hauptgebäudes findet ſich eine Vertiefung des Bodens, die deutliche Spuren von Feuerſtätten zeigt; es war dies offenbar die Küche des Caſtells, wo auf glatten, erhitzten Steinen einſt die Kuchen von Eichenmehl gebacken wurden. Dieſe Backſteine liegen noch jetzt neben den Aſchenhaufen. In der Vertiefung röſteten ſie ihre Schweine, die weggeworfenen Kno— chen derſelben liegen draußen in großen Haufen. Ob der einfach geröſtete Mais— kolben oder der jetzt bei den dortigen In— dianern beliebte Succotaſh, ein aus Mais und jungen Bohnen gemiſchtes Gemüſe in gekochtem-Zuſtande, die Lieblingsſpeiſe dieſer Höhlenbewohner ausmachte, werden wir wohl nie ergründen können, nur das erſehen wir aus dem im Stuck einer Zimmer— wand ſich befindenden Abdruck eines Mais— kolbens, daß zur Zeit der Cliff-Dwellers der Mais bereits angebaut wurde. Meh— rere von den Zimmern zeigen Spuren von Feuern, die an der Hinterwand unter— halten wurden, ſo daß der Rauch bei Ab— 49 weſenheit eines Daches nach oben in die Höhle hinausſtrömen konnte. Das Haus iſt ganz leer, abgeſehen von großen Mengen zerbrochener Töpferwaare, die künſtleriſch bemalt iſt; alle ſonſtigen Dinge von irgend welchem Werth ſind wohl ſchon längſt von den räuberiſchen Indianerhorden fortge— ſchleppt worden. Dieſes Gebäude iſt von einem ungewöhnlich impoſanten Ausſehen. AA! AAAA VA \ m N „ 0 Fig. 3. In den Ruinen von San Juan und Umgegend gefundene Thongefäße, und deren Bemalungen. Keiner von den Nachbarn erfreute ſich des Beſitzes einer ſo hohen und tiefen Höhle und keiner konnte ſich einer ſo großartigen Vorhalle zu ſeinem Hauſe rühmen. Die Familie, die vor Zeiten dieſen zweifellos als Palaſt zu bezeichnenden Bau bewohnte, muß unbedingt zur Ariſtokratie des Landes gehört haben. Von der Ausſichtsſtelle auf dem Gipfel des Hauſes konnte ſie den tiefen Abhang Kosmos, III. Jahrg. Heft 7. Me 50 hinab auf ihre wallenden Maisfelder, ihre Anpflanzungen von Baumwollenbäumen, ihre Schafhürden, ihre Pinnon-Obſtgärten hinunterblicken, und hinaufſchauen zu dem erhabenen Dach der Höhle, das ihnen die Rieſenhand der Mutter Natur ſelbſt zum tönenden Geiſterſtimmen aus den grauen Schatten der alten Höhle zu antworten ſcheinen. ſchirmenden Heime gewölbt. Dieſer Höhlenwohnung gab Mr. Jack— Hayden ꝛc., Die alten Felsklippen-Bewohner (Clitk-Dwellers) Nordamerikas. ſon den Namen „Caſa del Eco“ wegen der wirklich erſtaunlich oft reverberirender Reſo— nanz der Höhle; es entſteht dadurch ein wohl ſelten ſich in gleicher Weiſe wieder— findendes Echo, ſo daß auch bei dem leiſeſten Flüſtern den Beſuchern tauſende von laut er- Fig. 4. Zu der von frohem Leben widerhallte, gab es wahr— ſcheinlich ſchon eben jo gut wie heute geſell- ſchaftliche Unterſchiede. In den prähiſtorichen Zeiten war es ebenſo wenig wie heute einem Jeden vergönnt, ſich des Beſitzes eines Pa— laſtes zu erfreuen. Die Armuth verbarg ihre vom Mangel abgemagerten Züge hinter pittoresker Einfachheit, junge Leute verſuchten, ob Raum auch in der kleinſten Hütte für ein glücklich liebend Paar ſei und lebten im Vergleich zu ihren ſtolzeren Stammesgenoſſen wie in einem kleinen Taubenſchlage. So findet ſich ein reizendes kleines Heimweſen, rein und ordentlich wie eine holländiſche Küche, auf einem der höchſten Punkte des Weſt⸗Montezuma, nahe ſeiner Vereinigung Zeit, als Caſa del Eco noch Höhlenhaus in der Nähe der Montezuma-Berge. mit dem öſtlichen Höhenzug dieſes Gebirges. Das Haus iſt in einer kleinen ovalen Höhle erbaut, die durch Regen und Wind in einem gewaltigen Sandſteinblocke ausgewaſchen worden iſt, der am Rande einer durch die ſeltſame Anordnung ihrer Felsſtrata merkwürdigen Kluft ruht. Das kleine, nur ſechs bis zehn Fuß meſſende Häus— chen iſt darin ſo ſicher vor glühenden Sonnenſtrahlen und ſtrömendem Regen ge— ſchützt, wie ein kleiner Junge unter einem großen Schirm. Der Zwiſchenraum zwiſchen der Seitenmauer des Häuschens und der daſſelbe umgebenden Felswand bildet eine reizende, kleine, ſchattige Piazza. Wer weiß, ob nicht von dieſem luftigen Wohnſitz aus früher einmal eine dunkle Braut ſehnſüchtig 5 = Hayden ꝛc., Die alten Felsklippen-Bewohner (Cliff - Dwellers) Nordamerikas. 1 nach ihrem Manne ausſchaute, wenn die Schatten des Abends ſich dunkel über die verbunden ſind; manchmal aber ſind ſie auch ſchmalen Pfade des Cannons ſenkten. Weiter hinunter am Montezuma finden ſich Niederlaſſungen am Fuße der Felswände, worunter einzelne hundert Fuß im Quadrat große Häuſer ſind, deren Grundmauern ſich ſechs Fuß unter die Oberfläche des Bodens hinunter erſtrecken. In dem einen fand ſich eine zu ſcharfer Schneide geſchärfte Steinaxt, mit den nöthigen Löchern zur Befeſtigung an eine Handhabe verſehen, außerdem wurden noch kleine, aus zuſammengedrehten ſich hierher verirrt, in der Höhle Obdach Binſen gefertigte Tau-Enden, eine kleine, noch unzerbrochene Trinkſchale und verkohlte Mais- ähren aus den Ruinen herausgebracht. Eine großen Schaaren dieſe Cannons und Ebenen Reihe von kleinen Häuſern, die hoch oben in der Luft über den Rand einer ganz ſchmalen Felskante herabhängen, ſcheint fort- während eine dreihundert Fuß tiefer gelegene, kaſernenartige Reihe mit ihrem Herabſturz zu bedrohen. dann eine vierhundert Fuß weit ſich er— ſtreckende Reihe von zuſammenhängenden Häuſern erbaut worden, die den modernen ſtädtiſchen Miethshäuſern überraſchend ähn- lich ausſehen. Nur das Eckhaus oder Eckzimmer beſitzt einen von außen in die Reihe hineinführenden Eingang, im Uebrigen finden ſich lediglich noch die Verbindungs— thüren im Innern des Baues. Was nun etwaige menſchliche Ueberreſte in dieſen Ruinen betrifft, ſo bezieht ſich darauf die folgende Stelle in Mr. Jack— | | mehrere Fuß dicke Zwiſchenſchicht getrennt „Der Cannon erweitert ſich ſtellenweiſe ſon's letztem Bericht: zu vier- bis achthundert Fuß breiten Thälern, um ſich dann wieder zu einer kaum zwanzig Fuß breiten Schlucht einzuengen. An den weiteren Stellen treten die Felſen zuweilen in vorgebirge-artigen Vorſprüngen hervor, Be Meilen Dieſe untere Terraſſe iſt ſechs Fuß tief ausgegraben und hierauf Gebirges erbauten, ſind keine körperlichen die mit dem Hauptgebirge manchmal nur noch durch einen ganz ſchmalen Felſengrat von demſelben durch die eroſiven Kräfte der Gewäſſer, die das Cannon ausgehöhlt haben, völlig losgelöſt. Auf einer Strecke von achtzehn engliſchen (etwa vier deutſchen) ſind die Höhen von fünfzehn dieſer Vorgebirge mit Ruinen gekrönt. In nur einer derſelben fand ſich ein in eine zerlumpte, ſchwarz und weiße Novajodecke gehülltes menſchliches Gerippe. Es war offenbar das eines Novajo-Indianers, der gefunden hatte und dort geſtorben war.“ Von den Menſchenmengen, die einſt in belebten, die jene erſtaunenswerthe Thätig— keit beim Verfertigen ihrer Steinwerkzeuge und beim Fällen und Zurichten der Baum— ſtämme entwickelten, die Städte gründeten und die Caſtelle und Einzelwohnungen auf den höchſten, unzugänglichſten Punkten des Ueberreſte gefunden worden, die auch nur mit einiger Wahrſcheinlichkeit als von dieſen „Cliff— Dwellers“ herrührend angeſehen werden könnten. Ein einziger verſteinerter Schädel, deſſen Gehirnhöhle ſich mit feſtgewordenem Sande erfüllt hatte, wurde in einer Schlucht, achtzehn Fuß tief unter der Erdoberfläche, aufgefunden; darüber befanden ſich die Ruinen zweier alter Häuſer von denen das eine über den Grundmauern des andern erbaut war, und zwar derart, daß beide noch durch eine waren, demnach alſo zwiſchen dem Verlaſſen— wordenſein des unteren und der Erbauung des oberen unzweifelhaft ein langer Zeitraum verſtrichen ſein muß. Die bemerkenswertheſten bis jetzt ent— deckten Ruinen befinden ſich in Neu-Mexico, — 52 in einer geringen Entfernung von den be— reits erwähnten. Neben ihnen verſchwinden primitiven Blockhäuſer der amerikaniſchen Hinterwälder, die Holzhütten der Prärien, die Erdhöhlen der Bergwerkdiſtrikte. An Umfang und Großartigkeit des Entwurfes geben ſie keinem der jetzt in Amerika vor— | handenen Gebäude, wobei kaum das Capitol in Waſhington auszunehmen, etwas nach, und können ſogar mit dem Pantheon und dem Eliſeum Roms verglichen werden, ohne gar zu ſehr hinter ihnen zurückzuſtehen. Vor ungefähr dreißig Jahren entdeckte Lieu tenant Simpſon vom Stabe des Oberſten Waſhington, des Militair-Gouverneurs von Neu-Mexico, auf einem Streifzuge gegen die Novajos, einen Theil der Ruinen von Chaco Cannon, der ſüdlichſten der alten Städte des Südweſtens. Mr. Jackſon war nun ſo glücklich, in Jemez auf einen Indianer zu treffen, der den Lieutenant Simpſon bei ſeiner Expedition begleitet hatte. „Hoſta“ war ſchon über achtzig Jahre alt, vom Alter abgemagert und gebeugt, verſicherte aber der Hayden'ſchen Geſell— ſchaft, daß er ſich noch eben ſo jung fühle, als er je geweſen, und ſie auf den nächſten Gebirgspfaden zum „Chaco Cannon“ hin- führen könne. Er belebte die Reiſe durch ſeine ſchwatzhaften Berichte von den Erleb— niſſen der früheren Expedition und beſchrieb den Oberſt Waſhington und ſeine Leute, deren er ſich noch immer recht gut erinnerte, auf das genaueſte. Dieſe Forſcher berich— teten nun, daß ſie nach Ueberſchreitung der Grenze von Neu-Mexico häufig die ſelt— ſamſten optiſchen Täuſchungen erlebten. Glänzende Waſſerſpiegel breiteten ſich vor ihnen aus, grüne Oaſen und ſchattiges, von Grün umranktes Gemäuer tauchte vor ihnen auf; die Sandhügel, Salbeibüſche Hayden ꝛc., Die alten Felsklippen-Bewohner (CH -Dwellers) Nordamerikas. und ſpärlichen Grashalme vergrößerten ſich zu Gebirgen, Wäldern und Maisfeldern. als Wohnſtätten unciviliſirter Wilder die Die Ruinen werden ſchon in einer Ent— fernung von ſieben engliſchen (nicht ganz anderthalb deutſchen) Meilen ſichtbar. Nahe dabei befinden ſich niedrige „Neſas“ oder Hügelketten und die Jemely Mountains, der San Mateo und der Cerro Cabezon find deutlich ſichtbar. Die Ruinen des Can— non ſind elf an der Zahl und liegen in Abſtänden von einer viertel bis zu zwei engliſchen Meilen (½ — */; deutſche Meilen) von einander entfernt. An den Felſen von Pueblo Pintado entdeckte Mr. Jackſon Steinſtufen, die mit großer Mühe aus dem Felſen herausgearbeitet waren, und neben denſelben ſozuſagen runde Knäufe, zu dem Zwecke herausgemeißelt, daß man ſich beim Hinaufklimmen mit den Händen daran feſt— halten könne. Das Pueblo Penasco Blanco auf der gegenüberliegenden Seite des Cannon hat eine elliptiſche Geſtalt. Die weſtliche Hälfte der Ellipſe iſt ein großes, maſſives, fünf Zimmer tiefes Gebäude, die andere Hälfte dient als Hof und iſt ſtatt einer Mauer von einer halbkreisförmigen, zuſammenhän⸗ genden Reihe kleiner Häuſer umgeben. Die Größe des Innern dieſes Hofes beträgt 346 zu 269 Fuß, und wenn man die denſelben umgebenden Gebäude mit hinzu— nimmt, ſo ergiebt ſich eine Größe von 329 auf 363 Fuß mit einem äußeren Umfang von 1200 Fuß. Die große Tiefe der umherliegenden Schutt- und Trümmer⸗ maſſen weiſt auf eine urſprüngliche Höhe von fünf Stockwerken hin. Auf der weſt— lichen Seite befinden ſich ſieben Eſtufas. Die Pueblo del Arroya hat Flügel von ungefähr 135 Fuß Länge und die weſtliche Hofmauer iſt 268 Fuß lang. Dem Mittel- punkt des Hofes zugewendet ſtehen drei Eſtufas, — Hayden ꝛc., Die alten Felsklippen-Bewohner (Cliff-Dwellers) Nordamerikas. 53 von kreisrunder Geſtalt, eine jede ſieben— unddreißig Fuß im Durchmeſſer und drei Stockwerke hoch. Mr. Jackſon machte in dieſem Pueblo eine bemerkenswerthe Entdeckung, über die er Folgendes mittheilt: „Ungefähr zweihundert Meter die Arroya hinauf befinden ſich Ruinen, deren Außen— fläche den Eindruck von Erdarbeiten macht und nur ſehr geringe Spuren eigentlicher Maurerarbeit zeigt. An der einen Ecke hat nun der Fluß dieſelben unterhöhlt und eine fünf bis ſechs Fuß unter dem Niveau des Thales befindliche Mauer blosgelegt. Auf der Oberfläche finden ſich aber nicht die geringſten auf dieſe Mauer hindeutenden Spuren. Die Arroya iſt hier ſechszehn Fuß tief, aber nahe der großen Ruine zieht ſich ein älterer, nur halb ſo tiefer Canal hin. Unterhalb der Ueberbleibſel dieſer Mauer befindet ſich dann eine bis in die Haupt⸗Arroya hinein und bis zu einer Tiefe von vierzehn Fuß unter dem Niveau des Thales hinunter ſich erſtreckende un— dulirende Schicht von zerbrochenen Thon— ſcherben, Feuerſteinſplittern (Abfall bei Ver— fertigung der Steinwerkzeuge) und kleine Knochen, die in ein grobes Kieſelgeſchiebe feſt eingebettet ſind.“ Das Pueblo Weji-gi iſt aus kleinen, tafelförmigen Sandſteinſtücken erbaut, die in ihrer vollendet ſchönen, regelmäßigen An— ordnung einen ſehr günſtigen Eindruck her— vorrufeu. Es iſt ein rechtwinkeliges, einen offenen Hof vollſtändig umgebendes Ge— bäude. Seine äußeren Dimenſionen betragen 224 zu 120 Fuß, ſeine Höhe drei Stockwerke. Nahe dem Pueblo Ana Vida erweitert ſich der hier zugleich völlig ebene Cannon zu einer Breite von fünfhundert Fuß. Inner— halb des Hofes dieſes Pueblo befinden ſich die Ueberreſte der größten Eſtufa, die über— haupt bis jetzt bekannt geworden iſt, wenigſtens im Gebiete dieſer Ruinen. Sie mißt im Innern wenigſtens ſechzig Fuß von Wand zu Wand. Ihre Oberfläche liegt in dem— ſelben Niveau, wie der Boden des Hofes; es war ein unterirdiſches Gebäude. In dem Pueblo Hungo Pavie ſind noch beinahe alle die Balken, die die Fußböden trugen, in ihrer alten Lage. Es iſt dies ein vier Stockwerke hohes Gebäude, deſſen Mauern unten drei Fuß ſtark ſind. Die Eſtufa reicht bis in das zweite Stockwerk hinauf, und auf ihrer einen Seite befindet ſich ein Vorbau oder Thorbogen; ihr Inneres hat einen Durchmeſſer von drei— undzwanzig Fuß und iſt mit ſechs in gleichen Zwiſchenräumen an der Wand angebrachten Pfeilern von Steinmetzarbeit geziert. Das Pueblo Chettro Kettle iſt 440 Fuß lang, 250 Fuß tief und zeigt die Ueberreſte von vier Stockwerken. Die Balken, die den Fußboden des zweiten Stock— werkes bildeten, erſtrecken ſich, durch die Hausmauer hindurch, ſechs Fuß weit hinaus und trugen wahrſcheinlich früher einmal einen hier auf der Schattenſeite des Hauſes ſehr wohlangebrachten Balkon. Der Treib— ſand hat ſchon theilweiſe das zweite Stock— werk mit verſchüttet und die Fenſter— höhle völlig verſtopft. Die Höhle eines Coyoten leitete auf eine äußere, das ganze Gebäude umgebende Schutzmauer, die ſonſt ſchon vollſtändig unter dem Triebſande ver— ſchwunden war. Das Mauerwerk dieſes Pueblo iſt ausnehmend ſchön ausgeführt, — aus ſehr kleinen Stücken warm hellgelb getönten Sandſteins ſo compakt in einander— gefügt, daß die Oberfläche der Mauer wie aus einem großen Block errichtet zu ſein ſcheint. Mr. Jackſon hat berechnet, das allein auf der Oberfläche der 935 Fuß langen und 40 Fuß hohen, das Gebäude auf drei Seiten umgebenden Mauer min— 54 deſtens zwei Millionen Bauſteine enthalten ſind. Wenn man nun die andere Seite hinzunimmt und mit Hilfe des Breitenmaßes der Mauer ihren Inhalt berechnet, ſo er— giebt ſich eine Geſammtſumme von dreißig Millionen Steinen in 350 Cubikfuß. Dieſe Millionen von Steinen mußten zurecht— gehauen und aufgeſchichtet, das Bauholz aus weiter Ferne herbeigeſchafft, Leitern gefertigt und Mörtel bereitet werden, woran unbedingt eine große Zahl von erfahrenen Arbeitern unter tüchtiger Leit— ung und ſtraffer Disciplin lange Zeit haben arbeiten müſſen. Wenn wir den ungeheuren Umfang dieſer zu Tage liegenden Ruinen und den noch größeren der unter dem Triebſand verſchütteten in Betracht ziehen, ſo müſſen wir bewundernd vor dieſen ungeheuren Werken der Vergangenheit ſtehen, die ſicherlich viele Menſchenalter zu ihrer Vollendung bedurften und weit vor der Zeit liegen, die wir als die hiſtoriſche zu bezeichnen pflegen. Kaum 600 Meter von dem Pueblo eine Strecke weit hinausdehnt. Hayden ꝛc., Die alten Felsklippen-Bewohner (Cliff-Dwellers) Nordamerikas. Chettro Kettle entfernt liegt noch eine ſchöne Ruine, die den muſikaliſchen Namen Pueblo Bonita trägt. Sie iſt, zwanzig Meter von der Felswand entfernt, auf dem ebenen Ufer— lande erbaut, das, von einem ſeichten Bäch— lein durchſchnitten, ſich als ſandige Ebene Die Länge des Pueblo Bonita iſt 544 Fuß, ſeine Tiefe 314 Fuß. Das ſind im Weſentlichen die thatſäch— lichen Ergebniſſe der Expedition des Prof. Hayden und ſeiner Gehilfen. Die daraus im Verlaufe eingehenderer Forſchung ge— wonnenen Reſultate, die Anſichten und Hypotheſen über das genaue Alter, die nationale Zugehörigkeit und den Kultur— zuſtand dieſes präcolumbiſchen Volkes der „Cliff⸗Dwellers“ find bis jetzt noch Seitens Keines der auf dem Gebiete der prähiſtoriſchen Völkerkunde Amerikas arbeitenden Archäo— logen bekannt gegeben worden, werden aber hoffentlich auf dem diesjährigen Amerika— niſten-Congreſſe in Brüſſel in umfaſſendſter Weiſe zur Beſprechung gelangen. — —̃—8————— — — ̃ ͤòö— Kleinere Mittheilungen und Journallchau. weitere geſchichtliche Bemerkungen über die Mars-Trabanten. ſrüher, als er es gedacht, iſt der ), Verfaſſer in die Lage gekommen, dem von ihm im vorvorigen Hefte des „Kosmos“ ertheilten Rath ſelbſt Folge geben und noch nachträglich weitere Aufſchlüſſe über das Vorkommen der noch nicht entdeckten Marsmonde in der älteren und neueren Literatur ſeinen früheren an— reihen zu können. Die nächſte Veranlaſſung für ihn war der eigenthümliche Umſtand, daß, einer Mittheilung ſeines verehrten Freundes, des Ingenieurhauptmanns H. Brocard in Grenoble, zu Folge, dieſer ſelbſt, genau zu der Zeit, als der angezogene Kosmos ⸗-Artikel erſchien, eine hiſtoriſche Notiz über den gleichen Gegenſtand veröffentlicht hatte, in welcher beſonders für die Stellung Kepler's zu der Frage etwaiger neuer Nebenplaneten intereſſante Nachweiſungen gegeben waren. Dieſe Ankündigung regte den Verfaſſer zu nochmaligen Studien an, welche denn auch durchaus nicht erfolglos blieben, ſondern mehrfache bemerkenswerthe Ergänzungen zu dem bereits früher Mit— getheilten lieferten. Herr Brocard hatte vor der gelehrten Geſellſchaft ſeines Departements Bericht e über das auch von uns ehrend erwähnte Werk Aſſaph Hall's erſtattet und da⸗ ran ein geſchichtliches Reſumé geſchloſſen, von welchem wir Folgendes erfahren“): „M. H. Brocard termine sa communi- cation en eitant les extraits de divers éerits qui se rapportent à l'existence de deux satellites autour de la planete Mars. megas de Voltaire renferme une affir- mation tres-categorique. Enfin Kepler se basant sur l’analogie des combinaisons arithmetiques, assignait deux satellites A Mars. Il voulait, disait-il, devancer Galilée dans la découverte de ces deux satellites. Il se figura meme que Galilee avait du les découvrir, et il essaya de tirer cette conelusion de Fanagramme, sous laquelle Galilée cachait alors la découverte qu'il eroyait avoir faite de la constitution singuliere de la planete Saturne. Ce fut la seule erreur de Galilée; il était réservé à Huygens de la découvrir 45 ans plus tard.“ Auf dieſe Angabe hin wurden die Werke Kep— ler's einer neuen Durchſicht unterzogen, und es fand ſich folgendes Neue: Unterm 9. Januar 1611 äußert ſich Kepler in einem Schreiben mannigfachen Un eurieux passage du Micro— =) Société de statistique du département de l’Isere, le 23 juillet 1879 (Sitzungsprotoc.). 8 56 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Inhaltes folgendermaßen): „Annus jam vertitur, ex quo Galilaeus Pragam per- seripsit, se novi quid in coelo praeter priora deprehendisse. Et ne existeret, qui obtreetationis studio priorem se spectatorem venditaret, spatium dedit propalandi, quae quisque nova vidisset; ipse interim suum inventum literis trans- positis in hune modum deseripsit: Smaismrmilmepoetaleumibunenugttauiras. Ex hisce literis ego versum confeci semibarbarum, quem Narratiuneulae meae inserui, mense Septembri supe- rioris anni *): Salve umbistineum geminatum Martia proles. Sed longissime a sententia literarum aberravi; nihil illa de Marte contine- bat.“ Galilei hatte durch fein Ana— gramm die Dreigeſtalt des Saturn ſignali— ) Joannis Kepleri Opera omnia, ed. Frisch, Vol. II., Francofurti et Erlangae 1859 p. 462. **) Mit dem leider fein ganzes Geſchichts— werk charakteriſirenden Leichtſinn behauptet Maedler (Geſchichte der Himmelskunde von der älteſten bis auf die neueſte Zeit, 1. Band, Braunſchweig 1873. S. 252), Galilei ſelbſt habe den obigen holprigen Hexameter Kep— ler'n mitgetheilt. Daß der Letztere auf dieſe Weiſe aber ſeinen Freund abſichtlich auf eine falſche Spur gelenkt haben würde, hätte er wirklich ſo gehandelt, daran denkt er nicht. Wolf, der den Vorgang, wie ſich bei ihm von ſelbſt verſteht, vollkommen richtig erzählt, meint, den beſten Sinn ergäbe Kepler's Deutung wohl dann, wenn man das Wort umbistineus von umbo, Schild, ableite und alſo etwa ſo überſetze: „Sei gegrüßt, doppelt gepanzerter Nachkomme des Mars“. (Wolf, Geſchichte der Aſtronomie, München 1877. S. 404.) Freilich müßte man auch dieſen Worten noch ganz außerordentliche Gewalt anthun, um daraus auf die zwei Trabanten des Mars zu ſchließen, welche Kepler, wie wir ſchon von früher her wiſſen, dieſem Pla— neten zuerkannt hatte. ſiren wollen. Wolf huldigt der Anſicht, Kepler habe ſein Ergebniß auf arithme— tiſch-combinatoriſchem Wege erhalten, in— dem er die einzelnen Permutationen bildete; auf dieſem Wege vermochte auch ſeine eminente Ausdauer nicht zum Ziele zu gelangen, da Galilei's Complexion 7202 Quintillionen Verſetzungen zuläßt.“) Immerhin mag man auch aus dieſem fehl— geſchlagenen Verſuche erſehen, wie feſt der Reformator der theoretiſchen Aſtronomie von der Exiſtenz zweier Mars - Satelliten überzeugt war. Um ſo höher iſt es anzuerkennen, daß er nicht in den ſo häufig vorkommenden Fehler entdeckungseifriger Männer verfiel, nun auch um jeden Preis ſeine Vermuthung praktiſch feſtſtellen zu wollen. Wir haben für ſeine den echten Forſcher kennzeichnende Vorſicht in dieſer Richtung einen Beleg, der an— ſcheinend noch von keinem Schriftſteller wahrgenommen worden ift. In ſeiner „Nar- de Jovis Satellitibus“ meldet er uns, er habe einmal von ungefähr ſein Fernrohr nach dem Mars gerichtet und „intra amplitudinem instrumenti“, d. h. im Geſichtsfeld, 4—6 kleine Sternchen auf- gefunden. Da ſei ihm denn ſofort der Gedanke gekommen, dies möchten wohl ebenſo Begleiter des Mars ſein, wie ſolche Galilei für den benachbarten Planeten Jupiter nach— gewieſen habe. „Sed sequentium dierum observatio docuit, Martem quamvis tardo motu exisse e septo harum stellularum ratio versus orientem et denudatum penitus. Itaque fixae erant, de quibus ideo nullum porro faciam mentionem*.**) ) Nach einer bekannten Formel iſt die geſuchte Anzahl gleich 371: (Al 41 41 21 51 2] 21 21 31 30. (Wolf, Geſchichte der Aſtronomie, München 1877. S. 403.) **) Kepleri Opera, Vol. II. p, 511. Hätte ein Jeder, der auf neue Finde am Firmamente ausging, ſich eine gleiche Nüchtern— heit in der Beurtheilung der eigenen Wahr— nehmungen bewahrt, ſo könnte uns nicht Libri?) die durch Galilei's erſte Ent— deckungen hervorgerufene Bewegung als eine ſolche ſchildern, in der eine ſchwindel— hafte Planeten- oder Satelliten-Auffindung die andere drängte. Es wäre gut, wenn ſeine Quelle, Nelli, ſich etwas eingehender verbreitet hätte über dieſe ſonſt nicht weiter bekannten Schein- Entdeckungen, unter denen wohl auch die uns bekannte des Schyr— laeus figurirt hat. Wir haben die einzelnen Divinationen, welche wir finden konnten, bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts verfolgt und da— bei geſehen, daß mit Rückſicht auf den Natur-Haushalt die Mondloſigkeit des der Erde in ſo vielen Stücken ähnelnden Wandel— ſternes allſeitig nicht recht begriffen, man möchte faſt ſagen, bedauert oder verurtheilt wurde. Es galt ſomit, dieſen Uebelſtand, dieſen Mangel an Harmonie, zu erklären, und wir finden auch einen erſten ſolchen Erklärungsverſuch bei dem Manne, der als der Erſte das Weltganze cauſal aus mecha— niſchen Urſachen zu begreifen verſuchte, bei Kant. Das vierte Hauptſtück des erſten Theiles in ſeiner berühmten „Naturgeſchichte des Himmels“ hat es mit dem Urſprung der Monde und mit der Axendrehung der Planeten zu thun. Ueber erſteren Punkt ſpricht er ſich in der folgenden Weiſe aus *): „Die Anziehungskraft des Planeten muß groß, und folglich die Weite ſeiner Wirkungsſphäre weit ausgedehnt fein, da— ) Libri, Histoire des sciences mathé- matiques en Italie. Tome IV., A Paris 1841. P. 210. *) Immanuel Kant's Schriften zur phyſiſchen Geographie, herausgegeben von F. W. Schubert, Leipzig 1839. S. 124. Kosmos, III. Jahrg. Heft 7. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 57 mit ſowohl die Theilchen durch einen hohen Fall zum Planeten bewegt, ungeachtet deſſen, was der Widerſtand aufhebt, dennoch hin— längliche Geſchwindigkeit zum freien Um— ſchwunge erlangen können, als auch genug— ſamer Stoff zur Bildung der Monde in dieſem Bezirke vorhanden ſei, welches bei einer geringen Attraktion nicht geſchehen kann. Daher ſind nur die Planeten, von großen Maſſen und weiter Entfernung, mit Begleitern begabt. Jupiter und Saturn, die zwei größten und auch entfernteſten unter den Planeten, haben die meiſten Monde. Der Erde, die viel kleiner als jene iſt, iſt nur einer zu Theil worden; und Mars, welchem wegen ſeines Abſtandes auch einiger Antheil an dieſem Vorzuge gebührte, geht leer aus, weil ſeine Maſſe ſo gering iſt.“ Eine offenbar recht gezwungene Erklärung, wie denn überhaupt bei aller Achtung, die uns auch dieſes Werk des ſtets originell auftretenden Philoſophen abnöthigt, von der geſammten „Naturgeſchichte des Himmels“ das etwas herbe Urtheil H. J. Klein's ) gilt, die darin enthaltenen Entwickelungen ſeien zu einem großen Theile „fehlerhaft und ungerechtfertigt.“ Hiermit war ein etwas jüngerer Zeit— genoſſe Kant's, der bekannte J. E. Bode, durchaus nicht einverſtanden, und zwar war es für ihn die Harmonie des Weltalls, aus der er in entgegengeſetztem Sinne wie Kant ſeine Schlüſſe zog. Nürnberger's aſtronomiſches Lexicon enthält bei Gelegen— heit der Frage, ob Erde und Mars als vollkommen ähnliche Himmelskörper betrachtet werden dürften, nachſtehende Anmerkung unter dem Texte“): „Nach einer gewiſſen ) H. J. Klein, Entwickelungsgeſchichte des Kosmos, Braunſchweig 1870. S. 37. ) Nürnberger, Populäres aftrono- miſches Hand-Wörterbuch, 2. Band, Kempten 58 Regel müßte Mars gleichwohl einen Mond haben. Der verewigte Berliner Aſtronom Bode hielt ſich, wie er mir oft mündlich erklärt hat, vom Daſein eines ſolchen feſt überzeugt. „Da Mars, bemerkt er in ſeiner Sternkunde, „ſelbſt nur klein iſt und das Licht der Sonne nicht eben lebhaft zu— rückwirft, ſo finden beide Umſtände ver— muthlich auch bei ſeinen (Bode ſchreibt ſeinen, nicht ſeinem — er ging von dem Ge— ſichtspunkte aus, daß die Zahl der Monde nach der Regel der wachſenden Entfernung des betreffenden Hauptplaneten von der Sonne zunehmen müſſe) Trabanten ſtatt. Ferner kommt Mars der Erde nur etwa alle zwei Jahre näher, und dann wäre nur wenige Zeit hindurch Hoffnung, ſeine Tra— banten durch die vollkommenſten Teleſkope zu ſehen; endlich aber entfernen ſie ſich vielleicht um viele ſeiner Durchmeſſer von ihm, und die Neigung ihrer Bahnen gegen die Ekliptik könnte auch beträchtlich ſein, wodurch ihre Auffindung noch mehr er— ſchwert werden würde» Zum Theil hatte Bode ganz Recht, denn ohne die neueſte, ganz ungewöhnlich günſtige Oppoſition des Mars wäre Hall's Entdeckung nicht mög— lich geworden, allein daran dachte Jener nicht, daß ebenſo wie eine allzugroße, ſo auch eine äußerſt geringe Entfernung des 1848. S. 80. — Falſch, wie gewöhnlich, wenn es ſich um geſchichtliche Dinge handelt, iſt Maed— ler's (Geſch. d. Himmelsk, 2. Band, Braun⸗ ſchweig 1873. S. 437.) Angabe, Nürnberger ſelbſt habe die Exiſtenz eines Mondes behauptet, deſſen Mars ja nicht entbehren könne. Es iſt ja freilich bekannt, das der genannte Leri- cograph der Sternkunde ſehr gerne in der von ihm ſelbſt fo. genannten Conjektural— Aſtronomie machte und dabei manch' ſonder— bares Zeug zu Tage förderte, allein in unſerem Falle iſt er wirklich ſchuldlos. Denn weder berechtigt die oben eitirte Stelle Maedler | Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Neben- vom Hauptplaneten nur einen Hin⸗ derungs-Grund bieten mußte. Anderswo giebt übrigens Bode ſeiner Anſicht einen noch entſchiedeneren Ausdruck, indem er ſagt“): „Ohne Zweifel hat der Mars einen oder mehrere Monde zu Begleitern, obgleich unſere jetzigen Ferngläſer ſolche nicht zeigen, da dieſe Monde, der Größe und Eigenſchaft ihres Hauptplaneten angemeſſen, mithin für uns zu klein ſein werden, auch wahrſcheinlich wenig Licht zurückwerfen.“ Von Aeußerungen neuer Aſtronomen ſind wir in der Lage, zwei anzuführen. Bei ſeiner Schilderung des Mars und ſeiner wichtigeren Eigenſchaften ſagt Maed— ler, wie ſich durch die ſeitdem erkannten Thatſachen ausweiſt, ganz richtig“): „Ihm ſelbſt fehlt ein Mond, oder dieſer müßte von einer Kleinheit ſein, wie kein anderer Welt— körper. Hätte ein Marsmond auch nur drei Meilen Durchmeſſer, er könnte uns in günſtigen Oppoſitionen nicht verborgen bleiben.“ Aehn— lich J. J. v. Littrow ***): „Satelliten hat man, wie geſagt, bei dieſem Planeten noch keine bemerkt; demungeachtet könnten ſie exiſtiren. Da Mars ſelbſt nur ſo matt beleuchtet iſt, ſo wäre es möglich, daß dieſe Satelliten ihr von der Sonne erhaltenes Licht in noch ſchwächerem Grade zurück— werfen, und daß ſie ſich überdies vielleicht mehrere Grade von ihrem Hauptplaneten zu ſeiner Beſchuldigung, noch auch eine an— dere Nürnberger, a. a. O. S. 75.), welche ganz richtig ausführt, daß, wenn überhaupt ein Mond vorhanden ſei, derſelbe von einer Kleinheit ſein müſſe, „wie kein anderer Welt— körper.“ Und das iſt wahr. ) Bode, Anleitung zur Kenntniß des geſtirnten Himmels, Berlin 1806. S. 622. ff. ) Maedler, Populäre Aſtronomie, Berlin 1861. S. 213. ) v. Littrow, Wunder des Himmels, Stuttgart 1865. S. 388. —— ——̃̃ ——— ä — —.— — ä D— Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 59 entfernen, wodurch das Auffinden dieſer der berühmte Chemiker Schönbein, der Monde ſehr erſchwert werden müßte. Es Entdecker des Ozons, hat ſich bis zu ſeinem wäre deshalb vielleicht zweckmäßig, dieſen Planeten und ſeine Umgebungen, beſonders zu der Zeit feiner Oppoſition, wo er der Erde am nächſten ſteht, mit lichtſtarken Fern- röhren aufmerkſam und wiederholt zu unter— ſuchen.“ Dies iſt geſchehen, und der Befolgung des an ſich verſtändlichen Rathes verdankt die Aſtronomie zwei höchſt wichtige Bereicher— ungen: die Entdeckung des mundus mar- tialis und Schiaparelli's minutiöſe Topo— graphie der Mars-Oberfläche. Ansbach. Prof. S. Günther. Die Diſſociation des Chlors. Die Anſicht des engliſchen Aſtronomen Lockyer, daß unſre ſogenannten chemiſchen Elemente zuſammengeſetzte Körper wären, die durch hohe Temperaturen in ihre Be— ſtandtheile zerſetzt würden (Kosmos Bd. IV. S. 475), ſcheint von chemiſcher Seite eine Stütze zu erhalten durch Verſuche von Victor und Carl Meyer über das Ver— halten des Chlors bei hoher Temperatur. Bekanntlich iſt dieſer Stoff noch viele Jahrzehnte nach ſeiner Entdeckung durch Scheele (1774) wegen ſeines geſammten chemiſchen Verhaltens für einen zuſammen— geſetzten Körper gehalten worden, und wurde zuerſt dephlogiſtirte, ſpäter oxygenirte Salzſäure genannt; auch ſpäter noch, nach— dem Davy gewichtige Gründe für die elementare Beſchaffenheit deſſelben beige— bracht hatte, wurde er von vielen Chemi— kern für die höhere Oxpdationsſtufe eines hypothetiſchen Radikals, Murium oder Mu- riatum genannt, gehalten, deſſen niederes Oxyd die Salzſäure darſtellen ſollte. Auch 1869 erfolgten Tode keineswegs von der Einfachheit des Chlors überzeugen können. Victor und Carl Meyer beſchäftigten ſich nun in jüngſter Zeit mit Verſuchen nach einer von Erſterem weſentlich verbeſſer— ten Methode, die Dampfdichten der Ele— mente bei ſehr hohen Temperaturen zu be— ſtimmen, um darnach ihre Molekularzuſam— menſetzung zu prüfen. Als Verſuchstem— peraturen wurden 620“, 808%, 1028, 1242 0, 13920 und 15670 C. gewählt, die ſämmtlich durch calorimetriſche Metho— den feſtgeſtellt wurden. Es ergab ſich hierbei, daß die Moleküle des Sauerſtoffs, Stickſtoffs, Schwefels noch bei 15670 C. die ihnen gewöhnlich zuge— ſchriebenen Formeln O02, Na, Sz l beſitzen. Ganz verſchiedene Reſultate ergab die Unterſuchung des Chlors. Bei der relativ niedern Temperatur von 620% . erhielt man die Dichten von 2,42 und 2,46, die der für Ol, berechneten Dichte von 2,45 ziemlich entſprechen würden. Zu höheren Temperaturen übergehend wurde jedoch ein andres Ergebniß zielt. Schon wenig ober— halb der erwähnten Verſuchstemperatur ſcheint eine Diſſociation einzutreten, bei 800 und 1000 ergaben ſich Mittelzahlen, während von 1200 aufwärts, nämlich bei 12420, 1392 und 1567“, die Dichte wieder con— ſtant wurde, und zwar ſo, daß ſie nun ge— nau zwei Drittel des für Cl, berechneten Werthes betrug. Daraus ergaben ſich die Dichtigkeitswerthe 2,21 und 2,19 bei 808°; 1,85 und 1,89 bei 1028“, 1,65 und 1,66 bei 1242“; 1,66 und 1,67 bei 1392“; 1,60 und 1,62 bei 15670. Somit iſt erwieſen, daß oberhalb 12009 und zwar von 12420 bis zu 15679, al— jo in einem Temperatur-Intervall von ca. a | 8 60 325% die Dichte des Chlors unveränderlich iſt und einen mit der Formel / Cl genau übereinſtimmenden Werth beſitzt. Das Molekulargewicht des Chlors, welches bei niederer Temperatur (bis oberhalb 6000) 71 beträgt, iſt alſo oberhalb 1200 „ ſchieden deuten laſſen, würden, wenn ein Zuſammengeſetztſein des Chlors dadurch bewieſen werden könnte, von um ſo größerer Tragweite ſein, als die Ausweiſung des Chlors aus der Reihe der Elemente wahr— ſcheinlich auch die andern Salzbildner oder Halogene (Jod, Brom, Fluor) in Mitler- denſchaft ziehen würde. In der That er— gab ein Verſuch, daß das Jod ganz ana— loge Erſcheinungen wie das Chlor zeigt. Um dieſe Fragen zur Entſcheidung zu bringen, werden die Entdecker zunächſt verſuchen, ein etwa durch die Diſſociation erhaltenes Gasgemenge durch ein Diaphragma diffun— diren zu laſſen. Uebrigens laſſen ſich dieſe Verſuche auch ſo deuten, daß das gewöhn— liche Chlor ſich zu einem einfacheren Chlor— molekül verhalte, wie das Ozon zum Sauer— ſtoff, und gerade die Ozon-Aehnlichkeit des Chlors war es bekanntlich, die Schönbein zu ſeinen Zweifeln beſonders Nahrung gaben. Das Weitere müſſen fernere Un— terſuchungen entſcheiden. (Berichte der Deut— ſchen chemiſchen Geſellſchaft 1879 Bd. XII. S. 1426.) Die Rolle des Chlorophylls in der lebenden Pflanze. Profeſſor Prings heim in Berlin hat nach einer durch mehrjährige Unterſuchungen Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. von den Vorſtellungen, die wir bisher über Aſſimilation und Stoffwechſel in den grü— nen Pflanzen hatten. Er bezeichnet dieſe Methode als „mikroſkopiſche Photochemie“. Sie beſteht im Weſentlichen aus einer Con— centrirung der Sonnen -Lichtwirkung auf pflanzliche und thieriſche Objekte, während Dieſe Ergebniſſe, die ſich zunächſt ver- der Unterſuchung, und zwar ſowohl auf a) ganze Gewebe, als auch auf einzelne Zellen und die Formbeſtandtheile der einzelnen Zelle. Die organiſchen Gebilde werden hierbei in dem Sonnenbilde unterſucht, welches vermittelſt eines Helioſtaten und einer achromatiſchen Linie von 60 Mmtr. Durchmeſſer entworfen wird. Pringsheim wies die Zuverläſſigkeit dieſer Methode nach und zugleich auf die Bedingungen hin, die es ermöglichen, mit derſelben die Wärme— wirkungen und die photochemiſchen Wirkungen des Lichtes auf organiſche Körper geſondert zu ſtudiren und die Grade der Diather— manſie und der photochemiſchen Empfind— lichkeit der Zellenbeſtandtheile kennen zu lernen. — Mit dieſer Methode gewann derſelbe, wie geſagt, eine Reihe von neuen Thatſachen und Erfahrungen über die Be— ziehung des Lichtes zum Gasaustauſch der Gewächſe und über die Rolle, welche hier— bei die grüne Farbe der Gemächſe ſpielt, die ihn zu Anſchauungen führten, welche weit abweichen von den Vorſtellungen, welche hierüber bisher in der Wiſſenſchaft gegolten haben. Er zeigt unter Anderem, daß die Zerſtörung der grünen Farbe in der leben— den Pflanzenzelle im Verſuche leicht gelingt, daß dieſelbe aber mit der Kohlenſäure— zerſetzung der grünen Pflanzentheile nicht zu— ſammenhängt. Ferner zeigt er, daß das Licht eine bedeutende Steigerung der Athmung der Pflanze hervorruft, indem es die Affi— erprobten neuen Beobachtungsmethode Er⸗ gebniſſe erhalten, die ſehr weit abweichen nität des Sauerſtoffs zu den verbrennlichen Beſtandtheilen der Pflanzenzelle bedeutend —— Bi | Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 5 | 61 erhöht. Er zeigt weiter, daß die Funktion Zoologie,“ ſagte er, „die Urſachen des des Chlorophylls nicht — wie man bis— her annahm — in Beziehung zur Koh lenſäurezerſetzung ſteht, ſondern daß ſie eine Beziehung zur Athmung d. h. Sauerſtoff Aufnahme der Gewächſe hat. Durch ſeine ſtarke Lichtabſorption, nament— lich der ſogenannten chemiſchen Strahlen, ſetzt das Chlorophyll, wie Pringsheim nachweiſt, die Athmung herab und ermög— licht ſo, indem es als Regulator der Athmung die Athmungsgröße im Lichte unter die Aſſimilationsgröße herabdrückt, das Beſtehen der Gewächſe und die Anſammlung der Kohlenftoffhaltigen organiſchen Körper in der Pflanze. — Die grüne Farbe der Gewächſe wirkt demnach wie ein gegen das helle Tages- und Sonnenlicht ausgeſpannter Schirm, der den Zelleninhalt vor dem zer— ſtörenden Einfluß einer übermäßigen Ath— mung im intenſiven Lichte bewahrt. Prings⸗ heim hat dann mit dieſer Methode noch die Stoffe beſtimmt, welche bei der Athmung der Pflanzenzelle verbraucht werden, und zur gelangte endlich zur Auffindung eines neuen beſtimmten Gebiete findet, oder daß die ver— Körpers in jeder grünen Pflanzenzelle, welchen er als das primäre Aſſimilationsprodukt der Gewächſe, d. h. als den Stoff bezeich- net, welchen die Pflanzen uumittelbar bei der Kohlenſäurezerſetzung bilden, und aus welchem ſämmtliche Kohlenſtoff haltige Kör— per der organiſchen Welt hervorgehen. — Ueber das Variiren der großen Wegeſchnecke hielt Prof. Dr. Eimer in einer neueren Verſammlung des Württembergiſchen Vereins für vaterländiſche Naturkunde einen Vortrag, aus dem wir das Folgende entnehmen: „Es iſt eine der Hauptaufgaben der heutigen Variirens der Thierarten zu ergründen. Während viele der jetzt lebenden Formen kaum abzuändern ſcheinen, zeigen andere in ganz außerordentlichem Maße Verſchieden— heiten in Größe, Form, Zeichnung und Farbe. Dieſe gegenwärtig in der Variations— periode befindlichen Arten ſind es, welche unſere Aufmerkſamkeit vor Allem in An— ſpruch nehmen, und unter ihnen ſind wieder die Farbenvarietäten am auflallendſten. Vielleicht bieten dieſe Farbenvarietäten auch den lohnendſten Stoff, der Löſung der ge— ſtellten Frage näher zu kommen. Prof. Eimer führt Beiſpiele von Arten an, welche gegenwärtig ſo außerordentlich variiren, daß ſie kaum begrenzt werden können. Insbeſondere gehören hierher viele Mollusken. Die Farben-Abänderungen ſind unter dieſen mit am auffallendſten bei Arion empiricorum, der großen Wege— ſchnecke, welches Thier orangegelb, ziegelroth, rehbraun und dunkelbraun bis ſchwarz vor— kömmt. Dabei iſt auffallend, daß ſich eine Varietät entweder ausſchließlich in einem ſchiedenſten Varietäten an einem und dem— ſelben Orte vorkommen können. Der erſtere Fall iſt der häufigſte, für den zweiten iſt wieder bemerkenswerth, daß entweder alle Uebergänge zwiſchen den einzelnen Varie— täten vorkommen können, oder, was ſehr oft beobachtet wird, daß die Uebergänge vollkom— men fehlen, — als ob die einzelnen Varietäten ſich von einander getrennt halten, nicht mit— einander miſchen würden. Die Urſache der dunklen Färbung iſt in der Feuchtigkeit geſucht worden (Leydig). Eine große Bedeutung ſcheint Prof. Eimer auch die Höhe über dem Meere zu haben, in welcher die Thiere vorkommen. In höhern Lagen fand er ſie faſt immer dunkler; ſo traf er auf JC = CHE SVEN URESEESEEEN len 62 verschiedenen Höhen des Schwarzwaldes und der Alb nur eine ganz dunkle Raſſe. Zu- weilen war bei thalabwärts gerichteten Wan— derungen ganz außerordentlich ſchön zu ſehen, wie die Thiere um ſo heller wurden, je tiefer die Lage ihres Wohnſitzes war. Ein hervorragendes Beiſpiel dieſer Art bot unter andern der Abſtieg von der Höhe über dem Guterſteiner Waſſerfall bei Urach bis Guterſtein und weiter abwärts. Oben auf der Höhe — noch beim Waſſerfall — war die Schnecke ganz dunkel; auf der kurzen Strecke bis herab ward ſie heller und heller, ſo daß ſie unterhalb Guterſtein ganz hellroth bis orange erſchien; auch dieſe Farbe blieb die vorherrſchende den Bach ent— lang, welcher gegen den Uracher Waflerfall am Waldrande hinführt, alſo tief unten im Wieſenthal, auffallenderweiſe trotzdem, daß dieſes Thal als feucht bezeichnet werden muß. Gilt nach den bisher gemachten Beobacht— ungen die Regel, daß die Thiere in höheren Lagen dunkel werden, ſo wurden doch einige auffallende Ausnahmen bemerkt. Erſt aus— gedehnte Unterſuchungen werden im Stande fein, dieſe Ausnahmen zu erklären. (Jahres⸗ hefte des Württembergiſchen Vereins für vaterländiſche Naturkunde. 35. Jahrgang 1879. S. 48). Die Schnabel-Metamorphoſe der Larventaucher. In der Sitzung der franzöſiſchen Zoo— logiſchen Geſellſchaft vom 20. Mai 1879 legte Dr. Louis Bureau die Reſultate ſeiner ſeit mehreren Jahren fortgeſetzten Forſchungen über die Umbildungen der Vogelſchnäbel im Allgemeinen und diejenigen der Larventaucher im Beſonderen dar. Der Vogelſchnabel iſt bisher als ein feſtes, be— Kleinere Mittheilungen und { Journalſchau. ſtändiges und ſehr geeignetes Organ betrachtet worden, um darnach ſichere Gattungsunter— ſchiede zu machen. Dr. L. Bureau fand nun zunächſt, daß der Schnabel des gemeinen Larventauchers oder der Polar-Ente nach der Brutzeit in neun Stücken abgeworfen wird, und ſich im nächſten Jahre wieder ergänzt. Dieſer bis Helgoland herabkommende dick— köpfige Taucher hat einen kurzen, dreieckigen Schnabel, der von Weitem in ſeinem Um— riſſe einem Papageienſchnabel ähnlich ſieht, wonach der Vogel auch See-Papagei heißt. Er (der Schnabel) iſt roth gefärbt und an der Wurzel ſo hoch, daß er den größten Theil des Kopfes verdeckt, mit ſeinen herab— laufenden Quer-Streifen an eine aufgeſetzte Kunſtnaſe erinnernd und den Namen Lar— ventaucher rechtfertigend. Man muß nach den Unterſuchungen Bureau's nunmehr Winter- und Sommer- ſchnabel an dieſen Vögeln unterſcheiden. Der erſtere iſt klein, an der Baſis mit einer Haut bedeckt, der andere dick, breit, robuſt, durchweg hornig und von der Geſtalt einer Mauerkelle. Der ſcharfrandige Sommer— ſchnabel, der zur Brutzeit vollendet iſt, eignet ſich vorzüglich zum Graben von Erdhöhlen, ähnlich denen der Kaninchen, in denen dieſer Vogel niſtet. Nachher erleidet namentlich die untere Schnabelhälfte die auffallendſte Veränderung und es ſieht im Winter aus, als ob ein großes Stück davon mit der Axt weggeſchlagen worden ſei. Die Unbekanntſchaft mit dieſer Meta⸗ morphoſe hat den Zoologen, die nach der Bildung des Schnabels und einigen leichten Abänderungen des Gefieders mancherlei Arten gemacht haben, ſehr viele Schwierigkeiten bereitet. Einer der beſten Kenner dieſer Gruppe, Temminck, geſtand, daß er über dieſelbe nicht in's Klare kommen könne. Unter Anderm zeigte ſich nunmehr, daß die vermeintlichen Arten Mormon aretiea und Mormon grabae nur Jahreszeiten-Formen einer und derſelben Art vorſtellen. Dieſe neuen Erfahrungen werden wahrſcheinlich eine bedeutende Umwälzung in der Claſſifi— cation hervorbringen, da Bureau gefunden hat, daß dieſer Schnabelwechſel auch bei allen Verwandten vorkömmt, namentlich bei den Gattungen Fratereula, Lunda, Sag- matorrhina, Ceratorhyncha und Simo- rhynchus. Wir hoffen in der Folge ein— gehender auf dieſe für die Entwickelungsge— ſchichtewichtigen Forſchungen zurückzukommen. Ueue amerikaniſche Jura- Säugethiere. Während bis vor zwei Jahren noch kein einziges Säugethier der Juraſchichten Amerika's bekannt war, hat Prof. O. C. Marſh bei einem neueren Beſuche der Felſengebirge zu dem früher von uns' be— ſchriebenen Erſtlinge (Dryolestes priscus) mehrere andere in den mehrfach erwähnten Atlantoſaurus-Schichten (Kosmos Bd. V. „S. 137) entdeckt, die er im Juli- und Sep— temberheft des laufenden Jahrgangs vom American Journal of Science and Arts beſchrieben hat. Zunächſt handelt es ſich um mehrere weitere Kinnladen von Dryo- lestes, die aber einer andern Art angehören (Dryolestes vorax) und durch ihre beſſere Erhaltung jeden Zweifel beſeitigen, daß es ſich um eine Beutelthier-Gattung handele, die von der jetzt lebenden amerikaniſchen Beutelratte (unter andern durch das Vor— handenſein von vier Lückenzähnen) völlig verſchieden war. Neuerdings unterſchied Marſh nun eine fernere Gattung von Jura-Säugern, die mindeſtens zwölf Zähne in jeder Kinnlade 1 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 63 (alſo mindeſtens 48 im Ganzen) beſaßen. Die Lückenzähne beſitzen zum Theil zwei Fänge (fangs) und find zurückgekrümmt, die eigentlichen Backenzähne haben alle nur eine einfache kegelförmige Spitze. Dabei nehmen ſie vom erſten bis zum fünften an Größe zu. Weit von jedem lebenden Thiere entfernt, nähert ſich dieſe Gattung entſchieden ſehr der von Owen Stylodon benannten Gattung aus den Purbeckſchichten England's. Indeſſen ſtellt ſie offenbar eine neue Gatt— ung (Stylacodon gracilis) dar, die mit Stylodon eine eigenartige Familie (Stylo— dontidae) bildet. Das Exemplar gehörte einem Thiere an, welches noch kleiner als ein Wieſel und wahrſcheinlich inſektenfreſſend war. In einer Nachſchrift vom 16. Auguſt 1879 meldet Marſh den Fund einer noch merkwürdigeren Unterkinnlade an, die einiger— maßen an die von Owen beſchriebene Gattung Triconodon aus den engliſchen Juraſchichten erinnert. Wie bei dieſer Gatt— ung hat nämlich jeder Backenzahn eine aus drei Kegeln beſtehende Krone, aber während bei Triconodon dieſe Kegel einander an Größe gleich ſind, iſt hier der mittelſte be— deutend größer als die ſeitlichen, auch ſind hier vier anſtatt drei untere Backzähne vor— handen, von denen aber der letzte blos halb ſo groß iſt, als die folgenden. Beſonders auffallend an dieſer Kinnlade iſt der Kronen— Fortſatz, deſſen innerer Rand ſich unmittelbar hinter dem letzten Backzahn erhebt und mit dem Ramus einen rechten Winkel bildet. Dieſer Charakter ſowohl als der Mangel an Biegung an dem für die Beutelthiere ſo charakteriſtiſchen hintern Fortſatze läßt ver— muthen, daß man in dieſem Tinodon bellus getauften Inſektenfreſſer, der eine eigene Familie (Tinodontidae) für ſich bildet, eine jener Uebergangsformen zwiſchen Beutel— thieren und Placenta-Thieren vor uns haben, 64 wie fie Cope und Gaudry wiederholt lichkeit einer Abſtammung der höhern Säuger— familien von eben jo vielen Beutlerfamilien täglich zunimmt. Pferdegebiſſes. Pferde“ Ausfall der redaktionellen Controle hat eine höchſt bedauerliche, horizontale und ver— tikale Verwirrung auf derſelben Platz greifen laſſen, wofür wir bei unſern Leſern um Entſchuldigung bitten, indem wir die Tafel nunmehr in richtiger Form hier wiederholen. Und da man ſogar aus dem Mißgeſchick Vortheil ziehen ſoll, ſo wollen wir die Ge— legenheit benützen, einige Bemerkungen über die hiſtoriſche Entwickelung des Pferdege— biſſes daran zu knüpfen, bei denen wir den ausgezeichneten amerikaniſchen Vorleſungen Hurley’s folgen werden. Das Pferd kann in ſeinem geſammten Aufbau als das Ideal einer lebenden Lo— comotive, eines Lauf-Mechanismus ohne Gleichen betrachtet werden, und der Inge— nieur Hermann hat vor einigen Jahren verſucht, es ſo vollkommen als möglich in Eiſen-Conſtruktion nachzuahmen, um eine möglichſt vollkommene Zugmaſchine für un— ebenes Terrain zu conſtruiren. Die langen und biegſamen Beine find allerdings jo aus— ſchließlich der ſchnellen und ſichern Fort— bewegung des Körpers angepaßt, daß ſie außerdem wenig zu leiſten vermögen, aber dieſe Beſchränkung auf eine einzige Thätigkeit hat denn auch eine conſtruktive Vollendung erreichen laſſen, wie ſie kaum höher getrieben Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. nachgewieſen haben, jo daß die Wahrſchein-⸗ Ein wegen verſpäteter Herſtellung der Druckformen zu der Tafel „Genealogie der des vorigen Heftes ſtattgehabter ſtanden, find allmählich durch Verſchmelzung Die hiſtoriſche Entwickelung des werden kann. Unterarm und Unterſchenkel, die, wie bei der Mehrzahl der Vierfüßer, auch bei den älteſten Ahnen des Pferdes aus zwei völlig getrennten Knochen, dem Speichen- und Ellenbein einerſeits und dem Schien- und Wadenbein andrerſeits be— und andrerſeits durch Rückbildung zu einem einzigen Knochen geworden, und ebenſo ſind die dem Lauffuße entbehrlichen Zehen bis auf die mittelſte, die nun mit fünffacher Kraft und Sicherheit auftritt, zurückgebildet worden. „Nicht minder eigenthümlich als die Beine ſind die Zähne des Pferdes. Die lebende Maſchine muß, wie alle andern, gut geheizt werden, wenn ſie ihre Arbeit ver— richten ſoll, und das Pferd muß, wenn es ſeine Abnutzung wieder erſetzen und die für ſeine Bewegungen erforderliche ungeheure Kraftmenge aufbringen ſoll, gut und raſch ernährt werden. Zu dieſem Zwecke ſind gute Schneidezähne und mächtige, dauerhafte Mahlinſtrumente nöthig. Demgemäß ſtehen die zwölf Schneidezähne dicht gedrängt im Vordertheile des Mundes, wie ebenſoviele Meißel. Die Mahl- oder Backenzähne find groß und äußerſt complicirt gebaut, indem ſie aus einer Anzahl verſchiedner Stoffe von ungleicher Härte zuſammengeſetzt ſind. In Folge deſſen nutzen ſie ſich verſchieden raſch ab, und die Oberfläche eines jeden Mahlzahnes iſt daher immer ſo uneben, wie die eines guten Mühlſteines. Der Bau der Mahlzähne iſt, wie geſagt, ſehr complicirt: die härteren und die wei— cheren Theile find gewiſſermaßen durchein— andergeflochten. Die Folge davon iſt, daß bei der Abnutzung des Zahnes die Krone eine eigenthümliche Zeichnung darbietet, welche auf den erſten Blick nicht ganz leicht zu entziffern iſt; allein es iſt für uns wichtig, ſie klar zu verſteheu. Jeder Mahlzahn des Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Vorder- Hinter- Unter- Unter⸗ Oberer Unterer fuß fuß arm ſchenkel Backzahn Backzahn — — 138 Jetztzeit Equus Oberes Pliocän Pliohippus Unteres Pliocän Protohippus (Hipparion) Oberes Miocän Miohippus (Anchitherium) Unteres Miocän Mesohippus Eocän Orohippus Fig. 3. Die Genealogie des Pferdes. Kosmos, III. Jahrg. Heft 7. 66 Oberkiefers hat eine fo ausgeftattete Außen— wand, das fie auf der abgeſchliffenen Krone die Form von zwei Halbmonden darbietet, eines vordern und eines hintern, welche beide mit ihren concaven Seiten nach außen gekehrt ſind. Von der Innenſeite des vor— dern Halbmondes zieht eine halbmondförmige „Vorderleiſte“ nach innen und hinten, und ihre Innenfläche verbreitert ſich zu einer ſtarken Längsfalte oder einem „Pfeiler“. Vom vordern Theil des hintern Halbmondes nimmt eine „Hinterleiſte“ einen ähnlichen Verlauf und hat ebenfalls ihren Pfeiler. Die tiefen Zwiſchenräume oder „Thäler“ zwiſchen dieſen Leiſten und der Außenwand ſind von Knochenſubſtanz, dem ſogenannten „Cement“ erfüllt, welches den ganzen Zahn umhüllt. Die Zeichnung der abgenutzten Fläche der untern Mahlzähne iſt ganz anders. Sie erſcheint aus zwei halbmondförmigen Leiſten gebildet, deren Convexitäten nach außen ſehen. Das freie Ende jedes Halbmondes hat einen „Pfeiler“, und wo die beiden Halbmonde ſich berühren, findet ſich ein großer Doppelpfeiler. Das ganze Gebilde iſt gleichſam eingebettet in Cement, das wie bei den obern Mahlzähnen die Thäler erfüllt. Wenn man die Kauflächen eines obern und eines untern Mahlzahnes aufeinander legt, ſo ſieht man, daß die einander berüh— ſich vielfach kreuzen, und daß alſo beim Kauen ſtets ein harte Fläche des einen Zahnes auf eine weiche des andern trifft und umgekehrt. Sie bilden auf dieſe Weiſe einen äußerſt wirkſamen Mahlapparat, der ſich infolge des langen Wachsthums der Zähne ebenſo ſchnell erneuert, wie er ſich ab— Ferner haben die Kronen der Schneide— zähne eine eigenthümliche tiefe Grube, welche . Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. die bekannte „Kunde“ des Pferdes bildet. Außerdem befindet ſich eine weite Lücke zwiſchen den äußerſten Schneidezähnen und den vorderſten Mahlzähnen. In dieſem Raume beſitzt der erwachſene Hengſt in der Nähe der Schneidezähne oben und unten einen Eckzahn oder „Hakenzahn“, der ge— wöhnlich bei Stuten fehlt. Bei jungen Pferden ſteht ferner nicht ſelten vor dem erſten Mahlzahne ein ſehr kleiner Zahn, der früh ausfällt. Zählt man dieſen kleinen Zahn mit, ſo ſind hinter dem Eckzahn auf jeder Seite ſieben Zähne vorhanden, nämlich der erwähnte kleine Zahn und ſechs große Mahlzähne, unter denen der vorderſte größer iſt, als die folgenden, eine ganz ungewöhnliche Eigenthümlich kei... Für Jeden, der mit der Morphologie der Wirbelthiere bekannt iſt, geht daraus hervor, daß das Pferd ſich weit von dem allgemeinen Baue der Säugethiere entfernt. Die am wenigſten umgebildeten Säugethiere haben nämlich Speichen- und Ellenbein, Schien- und Wadenbein ge— ſondert und getrennt. Sie haben fünf ge— ſonderte, vollſtändige Zehen an jedem Fuß, und keine dieſer Zehen iſt größer als die übrigen. Bei den am wenigſten umgebil— deten Säugethieren beträgt ferner die Ge— ſammtzahl der Zähne ſehr allgemein vier— —u— 0. undvierzig, während bei den Pferden die renden Leiſten nirgends parallel ſind, ſondern gewöhnliche Zahl vierzig iſt, und wo die Eckzähne fehlen, gar auf ſechsunddreißig ſinkt. Die Schneidezähne entbehren der bei den Pferden ſich findenden Falte; die Mahlzähne nehmen von der Mitte der Reihe regelmäßig nach vorn hin an Größe ab, während ihre Kronen kurz ſind, früh ihre volle Länge erreichen und einfache Leiſten oder Höcker an Stelle der complicirten Falten des Pferde backzahnes beſitzen.“ Wie ſich nun von dieſem „regelmäßigen“ Ber — — Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Säugethier, durch Zehenreduktion, Ver— ſchwinden und Verſchmelzen des einen Unter— ſchenkel- und Unterarm-Knochens die heutigen Pferdearten ableiten, zeigt die Tafel deutlich, und nur bezüglich des Gebiſſes werden einige Erläuterungen wünſchenswerth ſein. Gehen wir dabei von der Jetztwelt aus, ſo ſchließt ſich in den Pliocänbildungen Nordamerika's eine Form an, die ſich faſt nur durch die etwas kürzern Kronen der Backenzähne von dem heutigen Pferde unterſcheidet (Plio- hippus). Der in dem untern Pliocän Nord— amerika's gefundene Protohippus bietet außer den noch kürzeren Zahnkronen auch im üb— rigen Gliederbau bereits bedeutende Ab— weichungen. Noch weiter gehen dieſelben beim europäiſchen Hipparion, das dieſer Stufe entſpricht, aber doch eher einer Seiten— linie anzugehören ſcheint. Die Schmelz— leiſtenfaltung iſt beinahe complicirter als beim modernen Pferde. Noch etwas tiefer im obern Miocän Amerika's fand ſich Mio— hippus, ziemlich genau entſprechend dem europäiſchen Anchitherium, welches anfäng— lich von Lartet und de Blainville als Paläotherium equinum oder hippoides beſchrieben worden iſt. Daſſelbe beſaß noch vierundvierzig Zähne. Die Schneidezähne hatten bei ihm noch keine ſtarke Grube. Die Eckzähne ſcheinen bei beiden Geſchlechtern wohl entwickelt geweſen zu ſein. Der erſte von den ſieben Mahlzähnen, welcher, wie oben erwähnt, beim jetztlebenden Pferde häufig fehlt, und wenn er vorhanden iſt, klein bleibt, iſt hier beſtändig vorhanden und von anſehnlicher Größe, während der darauf folgende Mahlzahn nur wenig größer iſt als die hinteren. Die Kronen der Mahl— zähne ſind kurz und wenn auch das Grund— muſter des Pferdezahnes zu erkennen iſt, ſo ſind doch die Vorder- und Hinterleiſten weniger gekrümmt, die acceſſoriſchen Pfeiler fehlen und die viel flacheren Thäler ſind nicht mit Cement ausgefüllt. Man ſieht, daß dieſes Thier, wie es Huxley fon n. vor ſieben Jahren deutete, den wahren Ueber— gang von den neueren Pferden zu den Alt— thieren bildete und ſeinen Namen „Zwiſchen— thier“ wie man Anchitherium etwas frei überſetzen kann, wohl verdient hat. Bei den noch älteren Pferdeformen Amerika's, Mesohippus, Orohippus, und Eohippus, findet man ganz kurze Zahnkronen und ein etwas einfacheres Muſter der Schmelzleiften. Dieſe Bemerkungen Huxley's über die Entwickelung des Pferdegebiſſes werden üb— rigens vielfach ergänzt durch die Unterſuchungen von Forſyth Major (Bd. II. S. 166 dieſer Zeitſchrifth über das Gebiß von Equus Stenonis, welches den unmittelbaren Vor— fahren des europäiſchen Wildpferdes darſtellte. Broca's vergleichende VBeobacht⸗ ungen über die Geiſteskräfte und die Gehirnbildung der Affen und Menſchen. In der Sitzung der Pariſer Anthro— pologiſchen Geſellſchaft vom 19. Juni 1879 berichtet Broca über einen von ihm beob— achteten jungen Magot, der nach ſeiner Ueberzeugung ein ihm gezeigtes unkolorir— tes Bild irgend eines Affen ſofort erkannte. Dieſe Beobachtung wäre, wenn über jeden Zweifel erhaben, ſehr intereſſant, denn es würde daraus folgen, daß jene Reiſenden, welche verſichert haben, daß gewiſſe Auſtra— lier und einige Wilde nicht im Stande ge— weſen ſeien, ihr Portrait wieder zu erken— nen, wahrſcheinlich übertrieben haben (oder von den ſchalkhaften Naturkindern zum Beſten gehalten wurden Ref.) Dem kolo— rirten Bilde eines Makaken gegenüber & fühlte ſich der Magot verpflichtet, feine geſchwiſterliche Zuneigung und Freundſchaft zu bezeugen, die bekanntlich unter Affen im gegenſeitigen Abſuchen des Ungeziefers gipfelt. Vor einer kolorirten Orang-Utang-Büſte drückte er Neugierde, vor einer unkolorirten Schrecken und Furcht aus, vor einer Ai— Büſte Zorn, vor einem Spiegel hat er zunächſt ſich bewundert, darauf aber, unter Aufwendung aller möglichen Aufmerkſamkeit und Liſt, das hinter dem Glaſe befindliche Bild zu greifen verſucht. In derſelben Sitzung zeigte Broca im Namen von Falſot aus Marſeille zwei Ne— gerinnen-Schädel und einen Schädel von einer Meſtizin, ſowie zwei mumificirte Ge— hirne. Das eine der letzteren ſollte von der Meſtizin ſtammen und wurde von Broca nach ſeinen Erfahrungen in der vergleichen— den Gehirn-Anatomie an nachſtehend er— örterten Kennzeichen erkannt. Bei den Primaten reducirt ſich der Geruchs-Apparat des Gehirns, der Saum— lappen, weil mehr und mehr unwichtig, und verliert ſein Unabhängigkeit. Der Hippocampus-Lappen im Beſondern neigt dazu, nach vorne mit dem Schläfenlappen zu verſchmelzen. Bei den Affen findet dieſe Verſchmelzung niemals ſtatt. Nach hinten verbergen die Uebergangsfalten bei— nahe die Spalte, welche ihre Trennung voll— zieht. Aber nach vorn beſteht ſtets eine kleine Furche, welche ſich bis zur ſylviſchen Spalte ausbreitet, — die Saumfurche (sillon limbique). Broca hat lange geglaubt, daß die Gegenwart dieſer Furche für das Ge— hirn der Affen charakteriſtiſch ſei. er hat dieſelbe ſeither bei allen Gehirnen nicht kaukaſiſcher Raſſe, welche er hat unter- ſuchen können, und im Beſondern bei den Negergehirnen, ebenfalls beobachtet. Ihre Abweſenheit iſt alſo ausſchließlich charakte⸗ Aber . Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. riſtiſch für die kaukaſiſchen Raſſen, die wahrſcheinlich die civiliſirteſten ſind, bei denen aber die Sinnesſchärfe, weil weniger in Anſpruch genommen, vermindert iſt. Auf dem einen der beiden mumificirten Gehirne Falot's nun erſtreckt ſich dieſe verkürzte Saumfalte nicht bis zur ſylviſchen Spalte; daraus ſchloß deshalb Broca, daß dies das Gehirn der Meſtizin ſein müßte. (Revue internationale des Sciences, Juillet, 1879. p. 91.) Ein controlirbares Beiſpiel von Mythenbildung. In der außerordentlichen Sitzung, durch welche die geographiſche Geſellſchaft von Frankreich am Abend des 11. Fe— bruar d. J. die Gedächtnißfeier des er— ſchlagenen Weltumſeglers Cook beging, wurde der Bericht erwähnt, welcher von hawaiiſcher Seite über Cook's Tod exiſtirt und ſeines Urſprungs wegen von größtem Intereſſe iſt. Er iſt in Form eines Gedichtes oder Geſanges abgefaßt und wird dem Häuptling Kupa, einem Augen: zeugen des Mordes, zugeſchrieben. Er beginnt mit der Schilderung von zwei auf dem Meere „ſchwimmenden Inſeln mit hohen Bäumen“, die ſich langſam dem Lande näherten; Kupa mit mehreren Be- gleitern ſchwimmt denſelben entgegen, um ſie näher zu betrachten. Sie finden, daß ſie von „Göttern mit blendend weißen Ge— ſichtern und funkelnden Augen“ bewohnt find, welche mit tabas (Tuch) von merk— würdigen Farben bekleidet ſind, in deren Seiten ſich „Löcher befinden, wo ſie die Hände hineinſtecken, und die voller Schätze zu ſein ſcheinen.“ Auch ſtießen ſie zum Schrecken der Hawaiier „Feuer und Rauch aus Mund und Naſe aus.“ Aber einer der Götter tödtet Kupa's Vater mit einem „Blitz und Donnerkeil“ und die anderen Schwimmer fliehen an's Ufer und berich— ten, was ſie geſehen haben. Der Ober— prieſter (Kahuma) erklärt, die ſchwimmen— den Inſeln ſeien die großen Kriegscanoes des Gottes Long, der vor ſechs Generationen, nachdem er ſein Weib Kaikilani aus Eifer— ſucht erſchlagen, von Reue gepeinigt, Ha— waii verließ, um das große Waſſer zu erforſchen und jetzt zurückgekehrt ſei. Er befiehlt den Eingeborenen, Geſchenke an Schweinen, Geflügel, Kokosnüſſen und Orangen den Göttern zu bringen, von denen ſie auch gnädig aufgenommen werden. Während der Nacht ſchießen Lono und ſeine Begleiter mit „ziſchenden Feuerpfeilen nach den Sternen, ſo daß mehrere derſelben ins Meer fallen“ (Raketen). Auch Flam— men von mancherlei Farben (wohl Schiffs— laternen) bewegen ſich an den Bäumen der ſchwimmenden Inſeln auf und ab und ſchreckliche Töne (Kanonenſchüſſe) erſchrecken die Eingebornen. Am nächſten Tage lan⸗ det Lono und wird als Gott mit Opfern und Niederwerfen empfangen; Prieſter und Volk rufen ihn an, aber entweder aus Zorn oder weil er „wegen ſeiner langen Abweſenheit die Sprache vergeſſen hat“, giebt er keine Antwort. Mehrere ſeiner „Untergötter“ ergreifen die geheiligten Fiſche, welche tabu und nur für Altare beſtimmt ſind, und beginnen die Palliſade einzureißen, welche die heilige Einfriedigung, den Morai, umgiebt. Der König Kalaimano wider- 69 ſetzt ſich ihnen, aber ſie lachen und ſetzen ihre Tempelſchändung fort. Da kommt Lono herbei, ſchreitet durch die heilige Ein— friedigung und will in die Morai gehen, aber Kalaimano ſtellt ſich ihm in den Weg, wird jedoch von Lono rauh zur Seite geſchoben. Aber der ſtarke König, der im Kriege Schon vielen der Feinde „das Rückgrat über ſeinem Knie zerbrochen hat“, hebt Lono in ſeinen Armen auf, und als dieſer ſich ſträubt, um ſich zu befreien, drückt er ihn unſanft. Da ſchreit Lono vor Schmerz auf. „Was!“ ruft Kalaimano, „er ſchreit, er iſt alſo kein Gott!“ und tödtet ihn. Die anderen Götter ergreifen die Flucht, aber die Hawaiier werfen ſich auf ſie und, ſonderbar, „ihr Blut fließt wie das von Sterblichen.“ Aber während König Kalaimano am Ufer ſeine Speere nach den Feinden wirft, wird er von dem „unſichtbaren Feuer“ getödtet. „So ſahen Eure Väter,“ ſchließt Kupa's Geſang, „an einem Tage den Tod ihres Gottes und ihres Häuptlings.“ Lieutenant King, Cook's Begleiter, berichtet, daß Cook den König habe als Geißel fortführen wollen und in dem dabei entſtandenen Aufruhr erſchlagen worden ſei, während Kupa die Schuld auf die Entweihung ihres Heiligthums durch die Fremden wirft und Cook durch die Hand des Häuptlings fallen läßt. Noch heutigen Tages iſt Cook bei den Einge— borenen von Hawaii mehr als Capena (Capitain) Lono, denn als Capena Kuki bekannt. r Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Literatur und Kritik. Iſenkrahe, Dr. C., Gymnaſialoberlehrer. Das Räthſel von der Schwerkraft. Kritik der bisherigen Löſungen des Gravitationsproblems und Verſuch einer neuen auf rein me— chaniſcher Grundlage. Mit in den Text eingedruckten Holzſtichen. ſchweig, Druck und Verlag von F. Vie— weg & Sohn, 1879. XXII u. 214 S. er glückliche Erfolg eines von ihm Jim vergangenen Jahre veröffentlichten 0 Oymnafinlpro gramms hat den Verf. ermuthigt, das von ihm damals be— handelte Thema zu einem größeren ſelbſtſtän— digen Werke zu verarbeiten, und mit dieſem haben wir es hier zu thun. Während jedoch früher weſentlich nur der geſchichtlichen Seite Rechnung getragen war, treten nunmehr auch die eigenen Gedanken des Autors gebührend hervor, und ſeine Schrift zerfällt demgemäß in zwei geſonderte Theile, deren jeder für ſich ein Ganzes bildet; immerhin kann die hiſtoriſch-kritiſche erſte Abtheilung auch als Einleitung zur zweiten gelten, inſofern in ihr auf all' die Irrthümer und Mängel hingewieſen wird, welche den früheren Gra— vitationstheorien anhaften, und inſofern auf dieſe Weiſe für die Conſtruktion eines neuen Syſtems der Boden bereitet wird. Die Literaturkenntniß des Verf. Braun⸗ ihm, Indem wir uns zunächſt lediglich mit jenem erſten Theile beſchäftigen, wollen wir ſogleich hervorheben, was uns an denſelben mißfällt, um ſodann auch ſeinen guten Seiten ihr Recht widerfahren zu laſſen. iſt der großen Aufgabe, welche er ſich geſtellt hat, durchaus nicht gewachſen, und damit ſteht es denn auch in Verbindung, daß er viel zu oft nach ſecundären, abgeleiteten, an Stelle der urſprünglichen Quellen citixt. Wir fühlen aus eigenſter Erfahrung mit wenn er (S. VII) ſich über die Schwierigkeiten beklagt, welche das Sam— meln der einſchlägigen Publikationen dem Bewohner einer Provinzialſtadt nothwendig bereitet, allein die „Fortſchritte der Mathe— matik“ und die „Fortſchritte der Phyſik“, dieſe Zierden unſerer vaterländiſchen Litera— tur, müſſen eben zugänglich ſein, und ſie geſtatten es, ein planmäßiges Studium vor- zubereiten. Herr Iſenkrahe erzählt uns mit Offenheit, daß es vielfach der Zufall geweſen ſei, der ihm wichtiges Material in die Hände geſpielt habe, allein der Gunſt dieſes launiſchen Geſellen ſollte man doch nicht ſo viel anheimſtellen. Schon die Lektüre der landläufigen Zeitſchriften hätte dem Verf. viele Fingerzeige geben können; er würde z. B. in der „Zeitſchrift für Mathematik und Phyſik“ eine äußerſt de⸗ i Ben. N ie taillirte Kritik der Spiller'ſchen „Ab— ſchleuderungstheorie“, ebenda und im „Kos— mos“ Beſprechungen der Arbeiten rt! et. nV. _ 0, 7 s Literatur und Kritik. aber nimmt es uns beſonders Wunder, ſie trotz ihrer Bedeutung für die Zwecke des von von Dellingshauſen, im „Grunert'ſchen Archiv“ eine mit der ſeinigen übereinſtim— mende Zurückweiſung der Atomenlehre Schramm's gefunden haben. Daß in Folge ungenügender Vorarbeiten manches überſehen, manches nicht richtig aufgefaßt worden iſt, läßt ſich leicht durch Beiſpiele | zeigen. Wer ſelbſt einer Aethertheorie das Leben giebt, ſollte doch der zahlreichen Schriften gedenken, in denen der verdiente Regensburger Phyſiker Wittwer ſeine auf die Wirkungen des intramolekularen Aethers baſirten molekular-phyſikaliſchen Anſichten ſeit Jahren vorträgt. Nicht minder durften ſolch' großartige Weltanſchauungen aus einem Guſſe bei der Aufzählung fehlen, wie ſie Wiener's „Grundzüge der Weltordnung“ und Scheffler's „Naturgeſetze“ entwickeln. Die Principien einer kinetiſchen Aethertheorie finden ſich, im Anſchluſſe an Secchi's be— kanntes Werk, wenn auch freilich noch in, ſehr rudimentärer Form, dargeſtellt in einem Regensburger Lyceal-Programm von Bi— ſchoff. Des Ferneren möchten wir den Verf. darauf verweiſen, daß ſich in Bres— lau ein eigener wiſſenſchaftlicher Verein mit der Tendenz gebildet hat, das Weſen der Anziehungskraft auf Bewegungsvorgänge zurückzuführen, und daß dieſer Verein — Vorſtand deſſelben iſt Herr Auerbach — der Naturforſcher-Verſammlung von 1874 einen Bericht über ſeine Thätigkeit vorge— legt hat, in welchem beſonderer Nachdruck auf einen Verſuch mit einer rotirenden Kugel gelegt wird, der die auffallendſte Aehnlich— keit mit dem experimentum erueis von Huygens!) beſitzt. Von zwei Werken ) Nicht Huyghens, wie es allenthal— ben im Buche heißt. Verf. von dieſem nicht berückſichtigt zu ſehen, da ſie doch ebenfalls im Verlage der Vie— weg'ſchen Buchhandlung erſchienen ſind. Wir meinen die „Verwandtſchaft der Naturfräfte” von Grove und „Atomiſtik und Kriticis— mus“ von Laßwitz. Zumal in dem letz— teren iſt vieles enthalten, was einer kinetiſchen Aetherlehre als Baſis dient, und ſehr viele Bemerkungen hätten daraus in unſere Vor— lage unmittelbar herübergenommen werden können. Der Begriff des phänomenalen Atoms, des einzigen, mit welchem der menſchliche Verſtand überhaupt zu operiren in der Lage iſt, ward in jenem Werke, welches den Leſern dieſer Zeitſchrift von früher her bekannt iſt, der Art fixirt, daß ſich kaum mehr etwas hinzuthun oder davon wegnehmen laſſen wird. Allerdings dürfen wir unſerem Verf. das Zeugniß nicht ver— ſagen, daß er ſeinerſeits auch zu der näm— lichen und unſerer Meinung nach richtigen Auffaſſung des Atoms durchgedrungen iſt, allein warum das bereits Geleiſtete noch— mals thun? Auch hätte dann manche ein— zelne Begründung wohl noch einen etwas präciſeren Charakter angenommen, ſo hätte es z. B. einer gewiſſen Entſchuldigung be— züglich Rechtfertigung der kugelförmigen Ge— ſtalt der Atome nicht bedurft, denn die Sphäriität iſt ſelbſtverſtändlich, da man es ja eben nicht mit „Atomen an ſich“, ſon— dern mit „phänomenalen Atomen“ zu thun hat, wie gar nicht oft genug betont werden kann. — Dem von der dynamiſchen Theorie des livländiſchen Gelehrten von Dellings— hauſen handelnden Abſchnitte iſt nichts weiter zu Grunde gelegt, als die „Grundzüge einer Vibrationstheorie der Natur“ von 1872; wenn aber ein Autor einem ſolchen Erſt— lingsverſuche eine Reihe von weiteren Spe— 2 7 cialunterſuchungen folgen läßt, in welchen ſeine Hypotheſe nicht allein auf alle mög- lichen Naturerſcheinungen ausgedehnt, ſon— dern auch intenſiv durchgearbeitet wird (vergl. unſere Recenſion in dieſen Blättern), ſo hat er ein Recht, von ſeinem Kritiker zu verlangen, daß derſelbe ſich mit den Fortſetzungen ebenſo wie mit dem Erſtling bekannt gemacht habe. Dieſer Anforderung iſt hier kein Genüge geſchehen. Eine nicht ausreichende Kenntniß der Originale ſcheint uns ferner in dem, was von den Thom— ſon'ſchen Wirbelatomen geſagt iſt, zu Miß— verſtändniſſen Anlaß geboten zu haben. So wenig wir uns mit denſelben befreunden können und ſo viele Bedenken wir auch ſelbſt bei Gelegenheit unſerer Beſprechung des Zoellner'ſchen Werkes gegen dieſelben geltend machten, ſo dürfte doch der rein mathematiſche Charakter dieſer abſolut un— zerſtörbaren Ringe nach den Entwickelungen von Helmholtz, welche dem Verf. aller— dings nicht ſelbſt zur Hand geweſen zu ſcheinen, ein unantaſtbarer ſein. Beiläufig bemerkt, kann man ſich über das Weſen dieſer neucarteſianiſchen Vorſtellung am beſten aus einer Abhandlung von Laß witz unter— richten, welche in den letzten beiden Heften der „Vierteljahrsſchrift für wiſſenſchaftliche Philoſophie“ enthalten iſt. Betraf Vorſtehendes mehr das rein geſchichtliche Element, ſo haben wir anderer— ſeits auch vom kritiſch-philoſophiſchen Stand— punkt aus einige Einwendungen zu erheben. Auf Kleinigkeiten legen wir kein Gewicht, wie z. B. auf die Forderung (S. 209): Körper A plötzlich aus dem Nichts ent— vermögen überſteigende Forderungen kommen jelbft bei den geachtetſten Schriftſtellern vor, Daß das Buch eine angenehme, lehrreiche „Setzen wir wieder den Fall, daß der ſtände,“ denn ſolche das menſchliche Denk— | natürlich, mit Newton, deſſen Anſichten der Verf., wie bei feiner Tendenz ſelbſt— allein der Phyſiker ſcheint in dem Verf. 2 Literatur und Kritik. mit dem Naturphiloſophen noch nicht zur vollkommenen Ausgleichung gelangt zu ſein. Wir leugnen auf das Beſtimmteſte, daß die Phyſik ſeit Newton's Zeit auf der „großen Abſurdität“ der fernwirkenden Kräfte ſich ſchlafen gelegt habe. Wenn wir den Newton'ſchen Standpunkt des „Hypothesim non fingo“ feſthalten und einzig das verlangen, daß alle Phänomene nur auf eine einzige gemeinſame Urſache, die „vera causa“, reducirt werden, ſo kann uns principiell die kosmiſche Schwere ebenſo lieb ſein als der Stoß einer unſichtbaren und unter allen Umſtänden eben doch wie— der nur hypothetiſch aus ihren Wirkungen erſchloſſenen Materie. Gelänge es, lediglich vermittelſt der Newton'ſchen Maſſenaktion, alle übrigen Eigenſchaften der Materie weg— zuſchaffen, ſo ſtände dem Erkenntnißtheoretiker dieſer Verſuch um kein Haar niedriger, als der in ſeiner Art gleichberechtigte unſeres Autors, und nur dadurch gewinnt der letz— tere in der Praxis den entſchiedenen Vor— rang, daß alle ſolche Beſtrebungen, wie man ſie von Gilles u. A. kennt, wohl kaum geglückt ſind. Hier entſcheidet nicht die aprioriſtiſche Betrachtung, ſondern der Er— folg. Wie es mit dieſem ausſieht, werden wir im Verlaufe unſerer weiteren Betracht— ung ſehen; nachdem wir unſere grundſätz— lichen und nicht zu unterdrückenden Beden- ken zur Geltung gebracht, treten wir an das Geſchäft des Referirens ſelbſt heran. und literariſchen Erſcheinungen verwandter Natur gegenüber auch verhältnißmäßig leichte Lektüre darbietet, wollen wir nicht unter— laſſen gleich von Anfang an zu conſtatiren. Der geſchichtliche Eſſay beginnt, wie verſtändlich, anders als Zoellner zu inter- re ea N Literatur und Kritik. 73 pretiren ſucht. Er hat unzweifelhaft Recht, wandt, daß ein Hauptargument für ſelbe wenn er die berühmte, an Negationen reiche ſeine Kraft verliere, ſobald man nicht mit Haupttheſe des großen Mannes auf ſeine Art in einen Affirmativſatz umwandelt, nur wird ſich niemals endgültig entſcheiden laſſen, ob er oder Zoellner ſich Newton's eigener Meinung mehr genähert habe. Uns perſönlich will es bedünken, als ob der Leipziger Gelehrte allzuviel Gewicht auf das „inanimate brute matter“ legte, um ſo für ſeine eigene Theorie Kapital zu ſchlagen, während uns andererſeits auch Iſenkrahe's mehr materialiſtiſche Deut— ung nicht völlig behagt. der Wahrheit am nächſten kommt, wenn man annimmt, es ſei Newton, dem das ſpätere Du-Bois-Reymond'ſche „Igno- rabimus“ Herzensüberzeugung war, ſehr gleichgültig geweſen, wie ſich der Einzelne ſein Weltgeſetz zurechtlege? Von New— ton führt ein natürlicher Uebergang zu der pſychiſchen Theorie Zoellner's, deſſen letzte Körperchen poſitiv und negativ elektriſche Maſſentheile ſind. Die Kritik gegen dieſe trausſcendentale Auffaſſung, ſowie gegen die punktuellen Atome Faraday's iſt ſachlich und in vielen Punkten berechtigt, doch will uns ſcheinen, als ob die Controverſe über den Ort eines Körpers, welcher nach den Scholaſtikern nur dort wirkt, wo er iſt, nach Zoellner dagegen dort überall iſt, wo er wirkt, in eine Wortſtreitigkeit aus— artete. So unbedingt iſt dieſe letztere De— finition denn doch nicht zu verwerfen, denn Niemand erkennt ja den Körper ſelbſt als „Ding an ſich“, ſondern lediglich aus den Wirkungen auf unſere Sinne läßt ſich ein Rückſchluß auf den Ort des Körpers machen. Das dritte Kapitel unterſucht kurz die Frage, ob die Form des Newton'iſchen oder des Weber 'ſchen Potentiales vorzu— ziehen ſei; gegen die letztere wird einge— 1 Ob man nicht Gravitation wieder in ſtatiſche und dynamiſche. untheilbaren Maſſepunkten, ſondern mit Körpern von endlichen Dimenſionen rechne. Dieſen „transſcendenten“ Auffaſſungen der ſtellt der Verf. die „me— chaniſchen“ gegenüber, und dieſe zerfallen Von erſteren wird nur die Aetherdrucktheorie von Spiller vorgenommen, deren Widerleg— ung keine ſchwierige iſt, denn der unmög— lichen Vorausſetzungen ſind, von faktiſchen mathematiſchen Irrthümern nicht zu reden, doch gar zu viele darin enthalten. Minder gelungen iſt wohl die negative Kritik der Theorie von Dellingshauſen, bei wel— chem die Atome mit den ſtehenden Wellen der das Weltall ſtetig erfüllenden Materie zuſammenfallen. Zwar gelingt es dem Verf. zu zeigen, daß die Vorſtellung von der Fortbewegung eines Körpers durch bloße Einwirkung von Undulationen einen Wider— ſpruch in ſich ſchließe, allein da Erſterem die neueren und höheren Phaſen dieſer Theorie, wie ſchon erwähnt, nicht bekannt waren, ſo kann von irgend einem Abſchluß nicht die Rede ſein. Dagegen müſſen wir uns mit den philoſophiſchen und phyſikali— ſchen Gründen, welche gegen Thomſon's Wirbelatome vorgebracht werden, völlig ein— verſtanden erklären; übrigens hat deren Er— finder ſelbſt ſich von ſeiner urſprünglichen Theorie einigermaßen zurückgezogen und einen Ausgleich zwiſchen dieſer und der Atomiſtik des alten Genfer Phyſikers Leſage anzu— bahnen verſucht; alsdann würden wir uns unter den Atomen der feſten Materie nichts als die Kanten ſtereometriſch- regelmäßiger Körperchen vorzuſtellen haben, durch deren Lücken der Aether frei hindurch paſſirt. Mit dem Verf. können wir in dieſer Mo— dification eine eigentliche Vervollkommnung | Kosmos, III. Jahrg. Heft 7. 10 74 nicht erblicken, vielmehr erſcheint uns da— durch ein ähnlicher „Verfall“ der reinen Atomenlehre ſignaliſirt, wie ihn Laßwitz vom 17. Jahrhundert geſchildert hat. Es ließ ſich erwarten, daß alle die bislang discutirten Theorien, nachdem ſich ihre Prä— miſſen ſo wenig haltbar erwieſen, auch die Erklärung des Gravitationsphänomens nicht in befriedigender Weiſe zu leiſten vermochten. Nunmehr ſchreitet die Darſtellung zu jener Gruppe von Hypotheſen fort, welche ſich des Stoßes der durch einander wirbeln— den Aetheratome zu jenem Zwecke bedienen. Allein welch' gefährlichen Klippen auch dieſe ausgeſetzt ſind, geht ſchon aus der erſten hier zur Sprache kommenden Hypotheſe, der Schramm''ſchen, hervor, denn während deren Urheber die Kräfte aus der Naturlehre ver— bannen will, legt er doch wiederum ſeinen Ato— men die Eigenſchaft der abſoluten Elaſticität, d. h. die Kraft bei, ihre irgendwie geänderte Körpergeſtalt von ſich aus wieder herzuſtellen. Damit aber haben wir, wie der Verf. ſehr richtig bemerkt, die „qualitas oceulta* in ſchönſter Form wieder. Bedeutung kommt dagegen dem Verſuche zu, welchen Huygens in ſeinem „Discours sur la cause de la pesanteur“ gemacht Eine weit höhere hat, die Schwere durch Aetherbewegung cauſal zu begreifen; das Verdienſt, auf dieſe ſchöne und trotzdem bereits in Vergeſſenheit gerathene Abhandlung des geiſtreichen Natur- forſchers die Aufmerkſamkeit der Neueren gelenkt zu haben, gebührt Fritſch in Königs- berg, welcher dann freilich in feinem Stre-⸗ ben, auf der von Huygens gegebenen Baſis einen Neubau aufzurichten, weit weniger Seine vom Glück begünſtigt geweſen iſt. Bekämpfung der Huygens'ſchen Wirbel— theorie ſtützt der Verf. insbeſondere auf die allerdings unzweifelhafte Thatſache, daß das Fundamental-Experiment ſofort verſagen Literatur und Kritik. muß, wenn man es unternehmen wollte, einen anderen Körper als eine Kugel durch die rotirende Flüſſigkeit nach dem Centrum, d. h. nach der Drehungsaxe, hintreiben zu laſſen.) Was Fritſch's ſelbſtſtändige Theorie betrifft, ſo laborirt ſie an zwei unheilbaren Gebrechen; erſtens nämlich führt der nur mittelſt halsbrechenden geometriſchen Raiſonnements erbrachte Beweis, daß die für den elaſtiſchen Stoß gültigen Geſetze unter gewiſſen Umſtänden auch beim un— elaſtiſchen noch beſtehen bleiben, zu der zweifelloſen Unrichtigkeit, daß in jedem Falle der Einfallswinkel dem Reflexionswinkel gleich ſei, und zweitens läßt Fritſch die— jenigen Erſcheinungen, welche ſich mit der allgemeinen Schwere decken, durch longitu— dinale Wellen zu Stande gebracht werden, für deren Exiſtenz er keinen anderen Grund beibringt, als: dieſelben ſeien im Allgemei— nen ganz ebenſo wahrſcheinlich, als die transverſalen, durch welche Licht und Wärme vermittelt werden. Der relativ größte Werth wird der Theorie Secchi's beigelegt, allein auch bei ihr laufen, wie hier nachgewieſen wird, Verſtöße mit unter. Indem der be- rühmte Aſtrophyſiker nämlich von den Un— terſuchungen Poinſot's über den Stoß rotirender Körper ausgeht, glaubt er den Nachweis führen zu können, daß der Stoß den ſtets unelaſtiſch vorausgeſetzten Atomen nur dann lebendige Kraft entziehen könne, wenn dieſelben in trauslatoriſcher, nicht aber, wenn dieſelben ſich in drehender Be— wegung befänden, ſo daß es alſo, um ſich aller aus der Annahme elaſtiſcher Atome ) Nothwendig iſt es wohl aber auch noch zu bemerken, daß Huygens' Vorſtell— ung, die Aethertheilchen bewegen ſich ihrer großen Mehrheit nach auf coneentriſchen Kugelflächen, eine erkenntniß-theoretiſche Un— möglichkeit involvirt. Literatur und Kritik. 75 entfließender Vortheile zu verſichern, ganz der von Huygens formulirten „praeeipua allein hinreichen würde, dieſen eine Axen- hypothesis“ verharre und daß er die ein— drehung zuzuſchreiben. Allein Herr Iſen— krahe thut ſchlagend dar, daß Secchi ſeine | betrachte, welche ſich nach allen Richtungen Vorlage nicht in allen Stücken richtig auf— faßte, und fo dahin gelangte, aus Poinſot Dinge herauszuleſen, die thatſächlich nicht irgendwie von dieſen abprallen. darin ſtehen. Einmal nämlich paſſirte ihm eine Verwechſelung der doch ſehr verſchiede— nen Begriffe „lebendige Kraft“ und „Be— wegungsgröße“, und dann ſagt Poinſot allerdings, es könne die Reflexion rotiren— | der ſtarrer Körper ſich manchmal gerade ſo geſtalten, als ſeien ſie elaſtiſch, nicht aber, es müſſe ſich unter allen Umſtänden ſo verhalten. Dieſe Mißverſtändniſſe machen ſowohl den allgemeinen Theil dieſer Stoß— theorie des Aethers, als auch ſpeciell die Erklärung der Gravitation illuſoriſch. Nach— dem alſo der Verf., und gewiß mit ihm die überwiegende Anzahl der Leſer, die Ueberzeugung gewonnen, daß die caufale | Begreifung des Attraktions-Phänomens bis— her noch keineswegs in erwünſchter Weiſe gelungen ſei, entwickelt er die Grundzüge einer neuen ſelbſtſtändigen Weltanſchauung, und in der That beweiſt er ſich hierbei als kundigen und exakten Forſcher, der die von ihm bei Anderen aufgedeckten Fehber ſeinerſeits zu vermeiden verſteht. Seine Theorie iſt in der Hauptſache eine Aus— dehnung der kinetiſchen Gastheorie von Kroenig-Clauſius auf einen unſäglich feinen, allenthalben gleichmäßig vertheilten Stoff, welcher mit dem Lichtäther des Phyſikers und mit dem Widerſtand leiſten— den Medium?) des Aſtronomen allem Ver— muthen nach identiſch iſt. Verf. ſtellt fürs Erſte feſt, daß er bei ) Die Exiſtenz dieſes vielfach angezwei— felten Mittels iſt durch die neue Reviſion, welche der leider ſo früh dahin geſchiedene zelnen Aetheratome als endliche, wenn auch äußerſt kleine und abſolut ſtarre Kügelchen durch den Raum bewegen und, an Moleküle der ſicht- reſp. wägbaren Materie anſtoßend, In einer allgemeinen Unterſuchung über den Kraft— begriff rügt er Kant's fundamentalen Irr— thum, die Undurchdringlichkeit der Körper für eine Kraft ausgegeben zu haben, welche jenen inhärire. Alsdann wird bewieſen, wie aus dem Princip von der Erhaltung des Schwerpunktes ſoſort die bekannte Formel für den Stoß unelaſtiſcher Maſſen folge, und wie endlich das Parallelogramm der Geſchwindigkeiten auch die Berechnung des ſchiefen Stoßes ermögliche. Mit dieſen wenigen Hülfsmitteln ausgerüſtet ſtudirt der Verf. die Wirkung des Hagels der Aetheratome auf ein iſolirtes, ruhendes Körper— molekül und gelangt auf mathematiſchem Wege zu dem von vorn herein wahrſcheinlichen Er— gebniß, daß eine Bewegung des Moleküls höchſtens inſofern hierdurch eingeleitet wer— den könne, als daſſelbe kleine, unregelmäßige Schwingungen um ſeine Ruhelage mache. Dieſe Aufgabe hat natürlich auch eine zu ihr reciproke, indem man auch nach den vom Molekül auf den Aether ausgeübten Wirk— ungen fragen kann. Da iſt es denn von hohem Intereſſe, zu wiſſen, in welchem Ver— hältniß die Durchſchnittsgeſchwindigkeit der vom Molekül bereits wieder abgeglittenen Atome zu ihrer ſonſtigen Durchſchnittsge— ſchwindigkeit ſteht. Es iſt dies ein auf Integrationen zurückzuführendes Problem der geometriſchen Wahrſcheinlichkeitsrechnung, v on Aſten der Bewegungslehre der Kometen, vorab des Enke'iſchen, angedeihen ließ, wie— der um Vieles wahrſcheinlicher gemacht worden. 76 welches der Verf. mit analytiſcher Eleganz auflöſt; iſt e jene generelle Geſchwindigkeit der hin- und herfliegenden Aetheratome von der durchſchnittlichen Maſſe , m die Maſſe des Moleküls, ſo iſt die geſuchte Geſchwindigkeit 2 3% + 3% m + m? gleich Ze 5 Man erkennt alſo, daß der Aetherdruck allſeitig in der Richtung nach dem Molekül hin ſich vermindert, und nicht minder leicht iſt ein— zuſehen, „daß dieſe Verringerung im um— Literatur und Kritik. gekehrten Verhältniß zum Quadrat der Ent- fernung von dieſem Molekül ſteht.“ Wenn das Molekül nicht ruht, ſondern mit einer — als conftant anzunehmenden — Ge— ſchwindigkeit im Raume ſich bewegt, ſo wer— den auf der nach vorne gerichteten Seite im Allgemeinen mehr Atome aufprallen, I . i . des Bruches — abhängig macht, wo v der Aether wird ſonach einen gewiſſen Wi- | 5 9 * Ak: derſtand der Körperbewegung entgegenzu- ſetzen ſcheinen; die Größe dieſes Wider— ſtandes wird durch eine Formel dargeſtellt, indem zugleich ein Ausdruck für die An— zahl all' derjenigen Atome ſich findet, welche während der Zeiteinheit innerhalb der Raumeinheit vorhanden ſind. ſtimmt mit jenem überein, welchen die Grundſätze der Gastheorie für die Gas— atome ergeben. Für Moleküle alſo, welche innerhalb des Aetheroceans treiben, Derſelbe gilt das Newton'ſche Geſetz, und mit dieſem | Reſultate, ſobald fie es auf ihre Art her- ausgefunden hatten, glaubten ſich die frühe- ren Theoretiker begnügen zu können. Unſer Verf. hält dagegen mit allem Fug dafür, daß damit doch nur ein erſter Schritt ge— than ſei und daß es nunmehr darauf an— komme, die für Moleküle als richtig er— kannten Thatſachen jetzt auch für Molekül— Anſammlungen, d. h. für phyſiſche Körper, zu generaliſiren. Er thut dies, indem er zuerſt die Wirkung unendlich dünner Platten auf einander ins Auge faßt; es ſtellt ſich unſchwer heraus, daß die Gravitation im zuſammengeſetzten Verhältniß des Volumens und der Dichte ſteht, und dem Verf. ſcheint demzufolge die Annahme nahe zu liegen, daß die letzten Beſtandtheile der Materie homogene Elemente ſeien, eine Annahme, welche nach den neueſten ſpektralanalytiſchen Forſchungen von Lockyer immerhin eine gewiſſe Berechtigung für ſich beanſpruchen kann. Wir können dem Verf. nicht auf dem an ſich allerdings leicht überſehbaren Wege folgen, den er nunmehr betritt, da es gilt, von einfach ausgedehnten zu wirk— lichen Körpern von drei Dimenſionen über— zugehen; es ſei nur erwähnt, daß er die ganze Angelegenheit von der Discuſſion die Anzahl der in der Secunde durch die Flächeneinheit hindurchpaſſirenden Atome, Av die Anzahl jener bezeichnet, welche von den feſten Molekülen am Durchpaſſiren verhindert werden. Die Meiſten ſetzten einfach 1 = o, allein dann iſt nicht ab- zuſehen, wieſo durch den Atomſtoß eine „Pſeudo- Anziehung“ bewirkt werden ſoll, wogegen umgekehrt das Newton'ſche Ge— ſetz ſofort dann nicht mehr gilt, wenn 1 einen nur irgend erheblichen Werth erreicht. Es muß dem Verf. nachgerühmt werden, daß er dieſes Dilemma nicht in beliebter Weiſe hinweg zu eskamotiren ſucht, ſondern ihm auf den Grund geht; da zeigt ſich denn, daß es, ſobald nur erſt die im Innern des Körpers ſelbſt wieder reflektirten Atome mit in Betracht gezogen werden, nicht ſo— wohl der oben erwähnte, ſondern der fol— a gende Bruch = 3 — es ift, auf den Alles v ankommt, unter Je eine gewiſſe, ebenfalls ſehr klein werdende Größe verſtanden. Treibt Literatur und Kritik. man die bezügliche Annäherung den natür— nug, ſo verſchwindet allerdings die Diskre— Ns 5 ſo gut wie R ’ m panz mit der Formel > 3 gänzlich. Im Uebrigen will es auch der Verf. dahin geſtellt ſein laſſen, ob denn dieſe Formel wirklich das letzte unverbrüch— liche Naturgeſetz ſei: er hält es für mög— lich, daß im Sinne Wilhelm Weber's auch die Geſchwindigkeiten der auf einander einwirkenden Körper mit in die Funda— mentalrelation eingehen müßten. Wäre dies aber der Fall, ſo müßte die Gravitation zur Fortpflanzung Zeit gebrauchen; um hierüber ins Klare zu kommen, verweiſt der Verf. auf die neuerdings von Jolly mit der Waage angeſtellten Experimente, ſo— wie auf diejenigen, welche ſich mit dem Hengler'ſchen Horizontalpendel anſtellen laſſen. Von ihnen erhofft er eine end— gültige Beantwortung ſeiner Frage im einen oder anderen Sinne und macht in letzter Inſtanz davon auch die Richtigkeit ſeiner eigenen Auffaſſung abhängig. Wir hoffen vorſtehend ein ausreichen— des Reſumé über das Iſenkrahe'ſche Buch gegeben zu haben. Es iſt kein vollſtändiger Abſchluß durch daſſelbe erzielt, und der Verf. wiegt ſich auch nicht in dem Wahne, bis zu einem ſolchen durchgedrungen zu ſein, vielmehr iſt er ſtets ſo ehrlich, die noch obſchwebenden Schwierigkeiten ſelbſt hervor— zuheben. Allein zweierlei iſt doch erreicht; wir ſehen mit Beſtimmtheit, daß und war— um frühere Verſuche, das Gravitations— Problem auf direkte Stoßwirkung zu be | gründen, fruchtlos blieben und bleiben mußten, und wir ſehen weiter, daß eine kinetiſche Theorie des Aethers, ſtrikte den von der mechaniſchen Wärmetheorie fixirten Grundregeln nachgebildet, ganz ſicher ihre 11 Zukunft hat. Wir erwarten, daß der Verf. lichen Verhältniſſen entſprechend weit ge | auf feinem Wege energiſch fortſchreiten und jo ſelber dazu beitragen wird, die von ihm aus— geſprochene Hoffnung, daß nur auf dieſe Weiſe dem menſchlichen Cauſalitätsbedürfniß Rech— nung getragen werden könne, zu realiſiren. Ansbach. Prof. S. Günther. Geſchichte der Beziehungen zwiſchen Theologie und Naturwiſſenſchaft mit beſonderer Rückſicht auf die Schöpf— ungsgeſchichte von Dr. O. Zöckler, o. Profeſſor der Theologie zu Greifswald. Zweite Abtheilung. Gütersloh, C. Bertels- mann, 1879. XII u. 836 S. in 8°. Wenn der Verfaſſer in der Vorrede ſagt, daß in dem mit dieſem Bande be— endigten Werke die Frucht zwanzigjährigen Forſchens der Oeffentlichkeit übergeben werde, ſo müſſen wir darauf mit dem harten Ver— dikt antworten, es ſeien ſelten zwanzig Jahre begünſtigten Forſchens weniger fruchtbrin— gend angewendet worden, als in dieſem Werke. Der erſte Band, welcher die Entwickelung gedachter Beziehungen bis auf Newton und Leibniz behandelte, konnte von uns, wenn auch mit einigen ſtarken Einſchränkungen, verhältnißmäßig günftig beurtheilt werden!), denn hier kamen dem Verfaſſer ſeine theologiſche Gelehrſamkeit und die vielen Vorarbeiten über die Kirchenväter u. ſ. w. zu Gute. Allein bei der Schilderung der neueren Zeit erlitt das Schifflein vollkommene Havarie, weil der nur theologiſch gelehrte Profeſſor von den naturwiſſenſchaftlichen Dingen nicht die leiſeſte Ahnung beſitzt, hier durchweg aus zweiter Hand ſchöpft und die Trag— weite der modernen Forſchungen, ihren Werth oder Unwerth, nicht ſelbſt beurtheilen kann, weil ihm dazu wohl alle Vorkenntniſſe fehlen. Wir haben ſchon bei der Anzeige *) Kosmos, Bd. IV, S. 76. 18 des erften Bandes darauf aufmerkſam machen müſſen, daß wir hier keine parteiloſe Ge⸗ eine einſeitige ſchichtsſchreibung, ſondern Parteiſchrift vor uns haben, und nament— lich in dieſem zweiten Theile ſteigert ſich Literatur und Kritik. dieſe Parteilichkeit ſtellenweiſe bis zum Ze lotismus. Es iſt äußerſt ſpaßhaft, wie ſich der eingefleiſchte Theologe die größte Mühe giebt, unparteiiſch zu erſcheinen, und Darwin und Haeckel manchmal als überaus geniale Forſcher preiſt, um gleich darauf wieder total aus der Rolle zu fallen. Im Voraus ſei bemerkt, daß wir es für den „Geſchichtsſchreiber“ vollkommen ange— meſſen halten, wenn er auch die ſchärfſten Verurtheilungen der Zuchtwahltheorie wieder— giebt, z. B. die Blumenleſe: „unbewieſene Dummdreiſtigkeiten“ (Giebel), „niedrig— dummſte und brutalſte Lehre“ (Schimper), „puerile hypothesis“ (Mivart); allein Den vergleichsweiſe gelungenſten Theil dieſes Bandes bildet das ſechſte Kapitel, wel— ches den Stillſtand der Naturforſchung nach Newton und Leibniz ſchildert. Den Sündfluthromantikern und Kometomanen des vorigen Jahrhunderts iſt der Verfaſſer völlig congenial, und ihre Phantaſien weiß er ziemlich unparteiſch zu würdigen; es waren ja fromme, collegialiſche Narrheiten, und Zöckler ſelbſt hat, wie er de- und wehmüthig geſtehen muß (S. 826), die Anſichten der Diluvianiſten, daß zu Noah's Zeiten erſt die Urformen der Pferde, Rin— | begünſtigt. der, Schweine, Hirſche u. ſ. w. entwickelt waren und ihrer geringeren Zahl wegen gut in der Arche Platz hatten, früher be— So iſt ſelbſt einem ſo fanati— ſchen Theologen der Darwinismus will— das Komische iſt dabei, daß der in dieſen Dingen völlig urtheilsloſe Berichterſtatter unter der Hand plötzlich dieſe Urtheile als die ſeinigen adoptirt, in ſeinem eigenen Namen von Zuchtwahl-Phantaſien ſpricht, und von ſeiner Katheder-Kanzel aus Haeckel's Arbeiten als „phantaſtiſche kommen, wenn er glaubt, damit ſeinen Kosmos, die Bibel, ſtützen zu können! In dem ſechſten Kapitel, „die Zeit des modernen naturwiſſenſchaftlichen Univerſalis— mus“, hat der Verfaſſer den Faden ſeines Werkes vollkommen verloren; rathlos auf fremden Gebieten irrend, giebt er uns | | | | | | Fiktionen regelwidriger Miſchformen aus Proſa und Poeſie“ (S. 696) hinſtellt. So ſicher urtheilt ein Mann, der S. 625 | Abriß der betreffenden Wiſſenſchaften ent- von „Eidechſen und anderen Amphi— bien“ ſpricht, und dem die kopernikaniſche Theorie erſt feſtzuſtehen ſcheint, ſeitdem Foucault's Pendelverſuch zu Rom 1852 „mit Erfolg“ ausgeführt wurde (S. In wahre Wuth geräth der Verfaſſer darüber, daß der „Jude“ S. Kaliſcher „gewagt“, das „Haeckel-Reuſchle'ſche Fündlein“ von Goethe's Stellung zur Evolutions— lehnt ſind. 352). Ueberſichten der Entwickelung der Aſtro— nomie, Chemie, Phyſik und ſämmtlicher Naturwiſſenſchaften, die offenbar den be— treffenden Kapiteln eines Converſations— Lexikons oder einem beliebigen geſchichtlichen Wichtigere Punkte, wie die mechaniſche Wärmetheorie, die Eiszeittheorien, werden geradezu in populärer Form vor⸗ geführt, kurz, das Werk geht unwillkürlich in eine (ſehr unzuverläſſige) Geſchichte der modernen Naturwiſſenſchaft über. Den theologiſchen Zweck des Buches haben wir über die Entdeckung des Anilins und der theorie „wieder aufzuwärmen“. Das verſteht ein Theologe, und viele ſeiner begeiſtertſten Bewunderer, unter Geſchichtsſchreibung! wir mit einem Male unſanft daran erinnert Chloroformirung, der Photographie und der Telegraphie ſchon ganz vergeſſen, wenn werden, durch ein beſonderes Kapitel, in welchem die chriſtlichen Naturforſcher von den räudigen Schafen (in namentlicher Liſte) geſondert werden und den Verdienſten der Miſſionare und Jeſuiten um die Wiſſen— ſchaft ein volltönendes Lob geſpendet wird. Der echt jeſuitiſche Grundſatz des Pater Secchi, in der Wiſſenſchaft der Natur und in der Religion dem Papſt zu folgen, wird trotz allen Lobes doch faſt ſchon zur „doppelten Buchhaltung“ gerechnet. Selbſt Agaſſiz iſt dem Verfaſſer zu lau. Von irgend einer gerechten Würdigung der ein— zelnen Leiſtungen iſt dabei nicht die Rede, die kleinſten Verdienſte um die Förderung der Wiſſenſchaft werden zu großen, wenn der Betreffende nur fromm war, und um— gekehrt die größten zu Nichts, nach dem Grundſatze, daß die guten Werke nichts taugen, wenn kein Glaube dabei iſt. Fa— ſelnde theoſophiſche Narren, die kein einiger maßen bewanderter Hiſtoriker in der Ge— | ſchichte der exakten Wiſſenſchaften nur auf führen würde, werden hier als großartige | Lumina behandelt, jo Gotthilf Heinrich von Schubert, deſſen „Geſchichte der Seele“ und „Symbolik des Traumes“ als „epoche- machende Werke von bleibendem Werth“ Aehnlich heißt es S. 520: „Um jo unzweifelhafter (S. 461) aufgeführt werden! haben die chriſtlichen Schellingianer ein Recht darauf, an hieſiger (sie) Stelle hat, ſo daß ſelbſt das zuſammengebrachte beſprochen zu werden. Unter den auch in der Reihe der Naturforſcher mitzählenden Vertretern dieſer Richtung ſind vor Allen Steffens und Schubert zu nennen. Beide ungemein phantaſievolle Denker und dabei wirklich gelehrte, über eine beträcht- liche Fülle exakten Wiſſens verfügende For— ſcher.“ Der gute Schubert und der treffliche Steffens! Phantaſievoll waren fie, das iſt wahr, aber den Steffen’- Literatur und Kritik. 79 ſchen Blödſinn vom Mond-, Kometen-, Flöz- und Planeten-Stadium der Erde und ihre „kosmiſche Monogamie“ ausführlich wiederzukäuen, als ob das Wiſſenſchaft wäre, das iſt ſtark! Es ſcheint allerdings, als ob Zöckler feine naturwiſſenſchaftliche Bildung hauptſächlich aus den „epoche— machenden“ Werken von Schubert, Steffens und aus dem „großen Haupt— werke“ von Perty, „Die Natur im Lichte philoſophiſcher Anſchauung“ (S. 451) ges ' ſchöpft habe, denn ſeine Citate ſind faſt nur im Geiſte dieſes edlen Kleeblattes ge— halten, und nach der Seite des theoſophi— ſchen Blödſinns enthält das Buch ein reiches Material von die Schöpfung betreffenden Belegſtellen, die den Verfaſſer gewiß ſehr angeheimelt haben. Zu ſeiner Entſchuldig— ung dient, daß er die meiſten wirklichen Naturforſcher nur vom Hörenſagen kennt, ſo z. B. den Phyſiker Hare, deſſen Be— kanntſchaft Zöckler offenbar nur in ſpi— ritiſtiſchen Schriften gemacht hat, denn nirgends anderswo findet man Rob. Hare als „gefeierten“ Chemiker (Zöckler, S. 410) geprieſen. Es wird gut ſein, denjenigen, die ſich durch den hohen Ton, Namen- und Citaten— Reichthum des Verfaſſers blenden laſſen, zu ſagen, daß der Verfaſſer trotz ſeines zwanzigjährigen Fleißes bei weitem nicht alle Bücher, die er anführt, ſelber geleſen Material nur mit der größten Vorſicht zu benutzen iſt. Ref. hat in jüngſter Zeit Ge— legenheit gehabt, den Verfaſſer hinſichtlich zweier Autoren zu controliren, die in die— ſem Buche eine Rolle zu ſpielen beſtimmt waren, und ſo ſchief beurtheilt worden ſind, wie nur irgend möglich. Wie Zöckler mit Monboddo, einem der gelehrteſten, ſcharfſinnigſten und 80 vorſichtigſten Forſcher des vorigen Jahr— hunderts, umſpringt, habe ich ſchon im letzten Hefte dieſer Zeitſchrift gerügt, den— ſelben Vorwurf der Oberflächlichkeit muß ich ihm auch hinſichtlich des älteren Dar⸗ win machen. An zwei Stellen (S. 595 und 685) wird derſelbe von ihm ein Nach— ahmer Blackmore's genannt, weil näm— lich dieſer ein Lehrgedicht über die Schöpf— ung verfaßt hat, und Darwin im „bota- niſchen Garten“ und „Tempel der Natur“ ebenfalls das Schöpfungsproblem behandelte. Sehen wir uns aber die Sache genauer an, ſo iſt Blackmore's Gedicht ein höchſt geiſtloſes, rein polemiſches Machwerk in der Tendenz dem Polignac'ſchen Antilucrez ähnlich, Darwin's Lehrgedichte ſind da— gegen gar nicht polemiſch, ſondern rein ſchildernd, ohne alle und jede Aehnlichkeit mit dem Blackmore 'ſchen. Die Nach— ahmung Darwin's beſteht blos darin, daß er Arzt wurde, wie jener, und daß Pope's ſatyriſcher Hieb auf Blackmore, er habe ſeine Gedichte gemacht, wenn er in ſeinem Doktorwagen über Land fuhr, ſpäter auch auf Darwin angewandt wurde. Davon hat Zöckler offenbar geleſen, und flugs wird aus Darwin ein Nachahmer Blackmore's! Ebenſo ſteht es mit hunderten ſeiner Angaben. Wahrhaft erſtaunlich iſt nur der Fleiß, mit welchem Zöckler alle antidarwiniſti— ſchen Schriften geleſen hat, deren er hat habhaft werden können, bis auf den hol— ländiſchen Roman „Darwinia“, den tragi— komiſchen Roman „Darwin“ von Jung, den „Doktor Nonſens“ und die Knittelverſe herab, die mit wenig Witz und viel Behagen meiſtens nur für Weinreiſende und junge Commis beſtimmt zu ſein pflegen. Wie iſt dieſes brennende Intereſſe für den Dar- winismus zu erklären? Immer wieder Literatur und Kritik. erklärt er den Darwinismus für eine ephe— mere Erſcheinung, und immer wieder packt ihn dieſelbe, ſo daß wohl an dreihundert Seiten ſeines Buches demſelben gewidmet ſein mögen. Von dieſen armen Theologen unſerer Zeit gilt, mit einer kleinen Abän- derung, was Heine von den Zwergen ſang: Sie haben nämlich Glaubens-Riſſe, Und bilden ſich ein, daß es Niemand wiſſe, Das iſt eine tief geheime Wund', Ueber die ich nimmermehr ſpötteln kunnt'. Mit dem Darwinismus gehen ſie zu Bette und ſtehen ſie wieder auf, es iſt ihre Tageslektüre, und des Nachts träumen ſie davon. Die Originalwerke können ſie wegen ihrer Wiſſens-Riſſe nicht verſtehen, darum halten ſie ſich an die ſeichten Gegen- ſchriften congenialer Theologen, oder gar an die unterhaltſamen, in witzige Reime ge— brachten Schriften Reymond's, und mit dieſem Arſenal glauben ſie den vermeintlichen Erzfeind niederzuſtrecken. Allein es handelt ſich hier nur um das laute Sprechen und Singen der Kinder, um ſich im Finſtern Muth einzuflößen; an eine Tragweite feiner Tiraden glaubt Zöckler ſelber nicht, und wir rathen ihm, dem früher bethätigten Zuge ſeines Herzens zu folgen und mit dem nichts weniger als religionsfeindlichen Dar— winismus ehrlich Frieden zu machen. Wir haben das Unſrige zum Entgegenkommen längſt gethan. Da Herr Zöckler bei Gelegenheit der jüngſten Synoden für den letzten gelehrten Theologen ausgegeben wurde, ſo bethätige er ſeine Befähigung zuerſt durch unparteiiſche Prüfung, ſtatt ſich auf ſolche in der Naturwiſſenſchaft völlig unbekannte Größen zu verlaſſen, wie Gotthilf Heinrich von Schubert, Steffens, Perty, Wigand u. A. K. Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig. * Darwinismus und Philoſophie 2 mit nt auf die gleichnamige Schrift von Yuftav Teichmüler in Dorpat. an * 8 Von Prof. Dr. Otto Caspari. 1. Karl Ernſt von Baer * und 1 55 Teichmüller in Dorpat. rofeſſor Teichmüller in Dorpat, der viel mit dem I „ eſeierten Naturforſcher Karl X Ernſt von Baer verkehrte, berichtet uns, über die Stellung der Philoſophie zum Darwinismus zur Erörterung zu bringen. Mannigfache Ausſprüche Ba er's, in ſeinen letzten Schriften niedergelegt fin— den, laſſen deutlich erkennen, daß der um gang mit Teich müller nicht ohne Ein— Naturforſchers hat ohne Zweifel von hier aus erhebliche Anſtöße erhalten. Inzwiſchen daß er häufig veranlaßt wurde, in Gegenwart deſſelben die Frage zember des Jahres 1876 gehalten hat. In erweiterter Form erſchien dieſe Feſtrede im darauf folgenden Jahre unter dem Titel: „Darwinismus und Philoſophie.“) In ge— wiſſem Sinne iſt ihr Inhalt den Manen des ſo hochgeehrten Baer geweiht, und ſchon aus dieſem Grunde muß uns die gedachte Schrift in hohem Maße intereſſiren. Teich— müller hat ſich in letzter Zeit in der philoſophiſchen Wiſſenſchaft hervorragend bekannt gemacht durch ſeine Studien zur Geſchichte der Begriffe, ferner durch ein zierlich geſchriebenes Werkchen über die Un— ſterblichkeit der Seele, und galt ſtets als ein die ſich Kenner und eifriger Erforſcher der Schrif— ten der altklaſſiſchen Philoſophen. Nicht ohne Einfluß auf unſeren Autor ſind die Doktri— nen der Pluraliſten Leibniz und Herbart fluß war. Die philoſophiſche Richtung dieſes geblieben, und an dem oben genannten | Schriften über die Seelen-Unſterblichkeit erkennt man deutlich den nachhaltigen Ein— hat Teichmüller feine philoſophiſchen n- ſchauungen formulirt und in einer Feſtrede zuſammengefaßt, die er zur Feier des Jahres- tages der Univerſität Dorpat am 12. De⸗ druck, den Lotze's pſychologiſche Lehren auf ) Darwinismus und Philoſophie von Dr. Guſtav Teichmüller o. ö. Profeſſor in Dorpat. Dorpat, C. Mattieſen, 1877. 5 Kosmos, III. Jahrg. Heft 8. 1 82 Caspari, Darwinismus und Philoſophie, den Dorpater Philoſophen ausübten. Ber tieft in die Lehren der Alten hat Teich— müller indeſſen nicht hinreichend die Erleb— niſſe der philoſophiſchen Wiſſenſchaft, wie ſie ſeit mehr denn fünfzehn Jahren ſich abſpielten, getheilt. Die Eindrücke, welche ſich her— leiteten aus dem mächtigen Umſchwunge der Biologie, wie ihn Darwin hervorrief, wurden in ihm nicht unmittelbar lebendig. Die Strahlen, die von den empiriſchen Forſch— ungen ausgingen, wurden in ihm gebrochen durch einen Gedankenkreis, der ſich aus ſeinen platoniſchen und ariſtoteliſchen Studien gebil— det hatte. Der erneuerte Kampf mit dem mo— dernen Materialismus, wie ihn Albert Lange in ſich erlebte, um den Verſuch zu wagen, ſich mit dem geſchärften Schwerte aus der Werkſtätte der kritiſchen Philoſophie Kant's einen klaren Standpunkt zu erkämpfen, blieb im Geiſte Teichmüller's unverſtanden. Kant galt ihm als überwunden, und charakteriſtiſch iſt ſeine Aeußerung hierüber, die ſich in dem Vorworte zu der hier von uns behandelten Schrift niedergelegt findet. „Man wird ſehen,“ ſo ruft unſer Autor aus, „daß mir die gegenwärtig viel angerufene Autorität Kant's ſehr wenig gilt. Ich bin eben der Meinung, daß der Kant'ſche Kriticismus ein ſchon von Hegel über— wundener Standpunkt iſt.“ Bei dieſer Vorein⸗ genommenheit gegen den großen Reformator der Erkenntnißkritik iſt es denn wohl ver— ſtändlich, daß Teich müller nicht in vollem Maße in ſich die Erſchütterungen verſpürte, die, einem Erdbeben gleich, durch die Schriften Darwin's erzeugt wurden, Erſchütterungen, die mit einem Schlage kund thaten, daß der alte jahrhundertelang währende Krieg zwiſchen den ſcholaſtiſchen Realiſten und Nominaliſten nur eingeſchlummert, nicht aber vollſtändig überwunden war. Nur dreimal hat die Philoſophie von Seiten der Erfahr— 1 I} ungswiſſenſchaft derartige tief eingreifende Anſtöße erfahren, wie ſie jüngſt von neuem erlebt wurden. Das eine mal durch Ko— pernikus, das andere Mal durch New— ton, und das letzte Mal wie erwähnt, durch Darwin. Durch dieſe Eingriffe mußten alle Probleme, die ein ſchläfriger Dogma— tismus längſt für gelöſt hielt, von neuem lebendig werden. Alle Feſtſtellungen, wie ſie Dogmatiker lieben, gerathen bei ſolchem wiſſenſchaftlichen Erdbeben in's Wanken, und neue Fundamente gilt es zu legen. Der Verſuch Kant's muß eben immer wieder erneuert werden, ſo fordert es der Geiſt des großen Königsberger Philoſophen. Hat Teichmüller alle dieſe wiſſenſchaftlichen Erfahrungen der jüngſten Zeit nicht getheilt, ſo wird es uns nicht Wunder nehmen, wenn wir in ſeinen Worten Stimmen aus dem Grabe zu vernehmen ſcheinen. Immerhin aber haben ſolche von fernher klingenden Geiſtertöne, je eindrucksvoller und je klarer ſie geſprochen werden, etwas Erhabenes und Würdiges an ſich, und ſo meint denn Schreiber dieſer Zeilen, daß dieſe Blätter, welche zur Vertheidigung der Lehren Darwin's be— gründet wurden, von den Anſchauungen Teichmüller's um ſo mehr Notiz zu nehmen haben, als die letzteren zugleich darauf hinweiſen, daß ſie im Einverſtändniß des großen Mannes niedergeſchrieben wurden, dem die biologiſche Wiſſenſchaft ſo viel zu danken hat. „Ich wünſchte“, ſo hebt uns der Autor hervor, „dieſe philoſophiſchen Geſichts— punkte ihm (Baer) in größerem Zuſammen— hange vorzulegen, und will nun dieſe Schrift als ein Zeichen meiner Liebe und Bewunderung für ihn hinſtellen.“ Unter ſolchen Umſtänden muß es den Leſer inter— eſſiren, die von Teichmüller in genannter Schrift entwickelten Lehren zunächſt kennen zu lernen. - dr 2. Die falſche und die richtige Grundtheſe über die Philoſophie des Darwinismus. Unſer Philoſoph will, wie er im Ein— gange zur Begründung ſeiner Lehren ſagt, nicht von einzelnen Interpretationen des Dar— winismus reden, ſo etwa, wie ſie Büchner, Vogt u. A. zu geben verſuchen, ſondern er will die Principien dieſer Lehre ſtudiren. Damit dies geſchehen könne, wird zunächſt die Theſis des ſog. Darwinismus dargelegt. „Alle Variationen des Darwinismus“, ſagt Teichmüller, „ſtimmen darin überein, daß man die ſämmtlichen Formen des thieriſchen und pflanzlichen Lebens genealogiſch und zugleich mechaniſch zu erklären verſuchen will.“ Dieſer Satz iſt richtig; denn die cauſal— mechaniſche Anſchauung, die übrigens jeder atomiſtiſchen Lehre, ſie ſei nun Monadologie oder Synadologie*), zu Grunde liegt, bietet allein die Möglichkeit ſachlich realer Erklär— ungen. Alles aber wird nun darauf an— kommen, wie man ſich das mechaniſch-ato— miſtiſche oder ſynadologe Getriebe vorſtellt. Hier nun ſchiebt Herr Teichmüller den Darwiniſten dogmatiſche Sätze unter, die über „darwiniſtiſche Philoſophie“ ein ganz Unſer Autor falſches Bild gewähren. nämlich fährt fort: „Die vollkommneren Arten erklären ſie aus den unvollkommneren, die Zweckmäßigkeit der organiſchen Formen aus zweckloſen und blinden mechaniſchen Kräften, und als Urſache der Entwickelung ſetzen ſie das zufällige Zuſammenſtoßen der verſchiedenen Körper, wodurch Alles variirt wird und einige Formen zu Grunde gehen, Caspari, Darwinismus und Philoſophie. * während andere ſich erhalten und ihre Eigen- thümlichkeit vererben. So gewinnen ſie ) Ueber dieſen Terminus vergleiche dieſe Zeitſchrift Bd. I. S. 4 fgde. und ferner S. 277 fgde. einen großen Stammbaum aller lebendigen Artformen mit einer gemeinſchaftlichen Urmutter, aber ohne Vater; denn dieſer iſt als unbekannter Zufall nicht zu recla— miren.“ Wenn dieſe Sätze als Theſis der darwiniſtiſchen Philoſophie bezeichnet werden, ſo muß man bekennen, daß ſich Herr Teichmüller nach philoſophiſcher Seite doch nur ſehr oberflächlich orientirt hatte. Was in dieſen Sätzen ſich ausgeſprochen findet, ſind Hinweiſungen auf unphilo— ſophiſche Anſchauungen, in welchen der Begriff Zufall (kritiſch betrachtet einer der ſchwierigſten) in fälſchlicher Weiſe aufge— nommen und in einen Gegenſatz zur onto— logiſchen Zwecklehre geſtellt wird, ſo daß in dieſer Formulirung der philoſophiſchen Quint— eſſenz des Darwinismus nur eine ungenaue und parteiiſche Darlegung erkannt werden kann. — Wir wüßten kaum eine Schule zu nennen, welche ſich in der genannten Weiſe den bezeichneten Prozeß vorſtellte. Selbſt die rein materialiſtiſche Richtung läßt die erſten Zuſammenſtöße im demokritiſchen „Wirbel der Atome“ durch das feſte und urſprüngliche Geſetz der Schwere entſtehen. Der materialiſtiſche Atomismus, ſo roh— ſinnlich er iſt, und ſo ſehr derſelbe durch den irrationalen Begriff des leeren Raumes in's Gedränge und in unverzeihliche Wider— ſprüche geräth, läßt ſomit das Getriebe ſeiner Zuſammenſtöße doch nur auf Grund eines Mechanismus vor ſich gehen, deſſen Axe durch den blinden „Herkules“ der Schwere gedreht, getragen und durch ihn unbewußt zweckmäßig bewegt würde. blinde Träger des Alls iſt hier jene urſprünglich ausgedehnte Stoffkraft, die, indem ſie Alles bewegt und zuſammenführt, weder einen abſoluten, noch einen relativen Zufall be— gründen läßt. Die Materialiſten laſſen Der UN daher ihren Weltmechanismus, an ſich be— trachtet, nicht nur ſehr zweckmäßig entſtehen, ſondern auch durch das Mühlrad der Gravitation, das die Weltaxe dreht, ebenſo weiter treiben. Wolle nun aber Prof. Teichmüller gegenüber den geſtellten tiefen Räthſeln und Problemen offen ſein und bekennen, daß die Herren Spiritualiſten für den obenerwähnten „Herkules“, der das Weltall trägt, nur einen anderen Namen reſp. eine andere Einkleid— ung annehmen. Iſt den Materialiſten der „Herkules“ als Träger und Beweger des Alls die an ſich ſtoffliche und unbe— wußt zweckmäßige, geſetzliche, blinde Kraft, jo erſcheint dieſelbe den Spiritualiſten vergeiſtigt, daher ſelbſtbewußt und hell— ſehend. Sie nennen dieſes Urweſen, in welchem ſich zugleich das abſolut wirkende Geſetz des Weltalls verkörpert, als Träger und Subſtanz des Alls, daher nicht mehr „Kraftſtoff“, ſondern Wille, Logos, Idee, Phantaſie, Unbewußtes und was dergleichen Umſchreibungen mehr ſind. — Alle dieſe dogmatiſchen Schulen, ſie mögen ſich Spiri— tualiſten oder Materialiſten nennen, ſollten den Begriff Zufall ganz bei Seite laſſen; denn wie man auch die geſetzlichen Bewegungen des Univerſums nennen möge — ſie müſſen, ſobald das allmächtige Geſetz in irgend einer Form denkt und lenkt, und als ſolches hemmt und herrſcht, anerkennen: daß Alles demſelben gemäß und in dieſem Sinne alſo bewußt oder unbewußt geſetz— lich zweckmäßig zugehe. Nur Kurz⸗ ſichtigkeit kann darüber hinwegtäuſchen. Wer den Darwinismus daher unter die Dogmen des Materialismus beugen will, der kommt, ohne es zu wiſſen, in eine abſtruſe Teleologie hinein, deren Doſis ſon— derbarer Weiſe ſogar noch größer iſt, wie die des Spiritualismus. Caspari, Darwinismus und Philoſophie. Jeder Dogmatismus, möge er vom Princip der Stoffkraft, oder von einem geiſtigen Ur— princip ausgehen, hält feſt an einem ſub— ſtanziellen Syſtem, und mit dieſem iſt die Zweck— mäßigkeit der eingeordneten Wirkungen ge— geben. — Durch dieſe Voreingenommenheit für ein dogmatiſches Syſtem mit der Unter— lage eines beſtimmten Weltplanes geſchah es, daß Prof. Teichmüller die Streitfrage und die daran geknüpfte Theſis kritiſch nicht richtig formulirt hat. Die Frage nämlich lautet: Iſt der Kosmos überhaupt ein an ſich feſt geſchloſſenes, abſolutes Syſtem, etwa nach Art einer Maſchine mit ihren Theilen, oder nach Art eines Kunſtwerks oder nach Art einer Fabrik und der— gleichen; oder etwa gleicht der Kosmos mit ſeinen Erſcheinungen und ſeinem Geſchehen dem Gedankenſyſtem eines Allgeiſtes, in deſſen Mittelpunkt ſich der Weltregent als Plan— macher befindet, nach deſſen Befehlen ſich Alles abwickelt, und nach deſſen Geſetz, das er handhabt, ſich Alles abſpielt, ſodaß Leben— diges wie Unlebendiges ohne Widerſpruch und Störung nach ſeiner Pfeife tanzen müſſen? Stellt demgemäß, ſo lautet die Frage weiter, der biologiſche Theil des Kosmos, nebſt allen Organismen, ebenfalls ein feſtes Syſtem dar mit beſtimmten und typiſch feſt fundirten Gattungen und Species, die, wie ein fein fabricirter Schubkaſten, aus einer großen Reihe von Einzelfächern beſtehen, in welchen ſich alle Individuen nach ihrer Art ſtreng von einander getrennt und dem entſprechend in typiſchen Formen einge— ſchachtelt finden? — Oder aber — und dies iſt die Antitheſe: Giebt es ein fo dogmatiſch feſt hingeſtelltes, abſolut ge— ſchloſſenes Syſtem als Weltall an ſich überhaupt nicht, weil alle Feſtigkeit und Geſchloſſenheit (Subſtanzialität), ferner die hiermit betonte feſte Abtheilungsweiſe und 2 ſyſtematiſirende Einſchachtelung des Indi— viduellen eben exiſtiren, der ſich bemüht, die Erſcheinungen, deren Fülle ſich vor ihm ausbreitet, mög— lichſt zu ordnen, um eine annähernde Ueber— ſicht und Orientirung zu gewinnen? Auf der einen Seite alſo die Syſte— matiker mit ihrem Dogma: Die Welt iſt ein geſchloſſenes Syſtem und beſitzt ſomit als Form einen a priori feft gegebenen Typus als Plan, auf deſſen Grundlage ſich wie ein ſtolzer Bau das Weltgebäude erhebt, — auf der anderen Seite hingegen die Empiriker, welche zunächſt nur eine Summe von Individuen wahrnehmen, die ſich mehr oder weniger ähnlich ſehen und aufeinander wirken. Um dieſe Wirkungen überſehen zu können, werden ſie verſuchs— weiſe geordnet und (nicht in ein Syſtem) ſondern nur in ein Schema gebracht, das nichts darſtellt, als eine Hypotheſe, welche die Betrachtenden zu ihrer Orientirung und Verſtändigung über die Naturphänomene aufſtellen. — Beſteht für jene Erſten daher Syſtem und Plan der Natur als feſt ge— ſchloſſenes Ganzes an ſich ſelbſt, und als a priori gegebenes Dogma, — ſo iſt den Anderen jedes Syſtem überhaupt nur ein mehr oder weniger Flüſſiges (Werdendes) und daher ein niemals abſolut geſchloſſenes und fertiges Schema als in ſich veränderliche Hypotheſe. Folgerichtig ſind ihnen daher auch alle eruirten Genealogieen und Stammbäume (Claſſificationen und Verwandtſchafts-Feſt— ſtellungen) ebenfalls nur Hypotheſen, und als ſolche nur ſo lange den Thatſachen ent— ſprechend, als die Annäherung an den em— piriſchen Thatbeſtand dies überhaupt dem Erkennenden geſtattet. Welcher Unterſchied! — Hier das Dogma des feſt geſchloſſenen Weltſyſtems als fertiges Caspari, Darwinismus und Philoſophie. 85 Ganze, als unumſtößliche, ſich um ſich ſelbſt nur in unſerem Kopfe drehende ſogenannte Weltordnung auf Grund eines Koig feſten und gegebenen Weltplans, der keine Abweichungen duldet, — dort in erſter Linie nur das beſtändige Streben, ſich unter der Fülle der Phänomene mit Hülfe eines Leitfadens (Schema's) zu orien— tiven. — Der große Königsberger Philo— ſoph hat mit den zween Worten „conſtitutiv“ und „regulativ“ den hier vorliegenden Unter— ſchied deutlich gemacht. Was jenen Erſte— ren (den Syſtematikern und Dogmatikern) an ſich feſt, d. h. „conſtitutiv“ gegeben iſt (nämlich das ewig geſchloſſene Syſtem als Ganzes), das ſtellen die Anderen, als Kriticiſten und Empiriker — und zu dieſen zählen die philoſophiſchen Darwiniſten — nur hin als relakiv und hypothetiſch gegeben; ſie machen daher aus dem ſogenannten Syſtem als Ganzes ein beſtändig werdendes, punktirtes und durchbrochenes, nichtgeſchloſſenes Schema. — Die Erſteren, als Dogmatiker (ſeien ſie nun Mate— rialiſten oder Spiritualiſten), meinen ſtets die an ſich feſte ſogenannte Weltordnung und den in ihr liegenden Plan und das Syſtem vor ſich enthüllen zu können, wäh— rend die Kriticiſten in ihrer mehr hypothe— tiſchen Betrachtung die Möglichkeit offen laſſen und anerkennen, daß ſich der ſoge— nannte Weltplan, als Ganzes und Syſtem, unter den wechſelſeitigen Einflüſſen der Indi— viduen und Faktoren im Laufe der flüſſigen und wechſelnden Zeit auch ändern könne, ja im be— ſtändigen zeitlichen Fluß und Wechſel der Phänomene vielleicht eben niemals ganz feſt, d. h. abſolut und an ſich fix und fertig beſtanden habe. Die wahre Theſe des Darwinismus muß daher, kritiſch ausgedrückt, lauten: Syſtem und Plan ſind feſt und ſtabil an ſich nicht gegeben im Univerſum. Beide ſind kein dem Weltall gemachtes Geſchenk 665 a. 86 Caspari, Darwinismus und Philoſophie. der Götter, ſondern fie dienen innerhalb des zeitlichen Veränderungsfluſſes nur regulativ dem Werthe der Orientirung und werden daher als Schemata aufgeſtellt zur gemein— ſchaftlichen Verſtändigung Solcher, die ſich über Naturphänomene unterrichten und innerhalb der ſogenannten Weltordnung die geſetzlichen Regeln und Ausnahmen empiriſch innerhalb begrenzter Zeit ergrün— den wollen. 3. Prof. Teichmüller's antidarwiniſtiſche Dogmen. Nachdem wir im obigen Capitel nach— gewieſen haben, daß Profeſſor Teichmüller die philoſophiſche Grundtheſe über den ſo— genannten Darwinismus kritiſch nicht in die richtige Form gebracht, ſondern ſich nur eine eigene Windmühle aufgebaut hat, gegen welche er zu Felde zieht, dürfen wir uns nicht wundern, wenn wir bei näherer Unterſuchung der hier behandelten Schrift zu dem Reſultat kommen, daß im Inhalte nichts Neues geboten wird, ſondern im Gegentheil, die alterthümlichen Dogmen eines ariſtote— liſchen Spiritualismus gegenüber den Dog— men eines ausſchweifenden Materialismus und unphiloſophiſchen Dilettantismus ver— fochten werden. Die Philoſophie des Darwinismus, will ſie mit Recht dieſen Namen führen, muß ſich über allen Dogmatismus, ſei materialiſtiſcher oder ein das nun ein ſpiritualiſtiſcher, zu erheben ſuchen. Denn man merke wohl: Jeder Dogmatismus (auch der ſogenannte naturwiſſenſchaftliche) geht mehr oder weniger bewußt von der Anſicht aus, daß die Welt (das All) ein abgerundetes Ganze (abſolutes Syſtem) ſei, das feſt geſchloſſen erſcheint, wie ein Ring, der, als ein Ganzes betrachtet, ſich im Grunde nur um ſich ſelbſt drehen kann. Wäre dem aber ſo, ſo gäbe es im Grunde (d. h. im Laufe der Ewigkeit) nichts wirklich Neues unter der Sonne, und alle weſentlichen Ereigniſſe müßten ſich periodiſch abſolut congruent wiederholen. Ja mehr noch, das Centrum des Ganzen müßte ſogar der Form nach typiſch völlig feſtſtehen, und wäre dem ſo, dann aller— dings hätte Prof. Teich müller recht; denn ein reales und wirkliches Werden, (Verändern) und Verfließen wäre alsdann eben nur oberflächlicher Schein und Phantom, es wäre eben nur ein Wer— den und Transmutiren auf dem Urgrunde des ewig ſtabilen Seins mit ſeiner ſtabilen Grundform, die ſich typiſch in Allem (d. h.“ auch in den organiſchen Gattungen und Species) mehr oder minder deutlich und charakteriſtiſch widerjpiegeln müßte. — Schreiber dieſes bekennt ſich nicht zu dieſer Anſicht, und niemals wäre er zur darwini— ſtiſchen Schule übergetreten, hätte er ſich nicht zuvor (was leider jo viele Naturwiſſen— ſchaftler, die ſcheinbar dem Darwinismus anhängen, verſäumt haben) in philofophi- ſcher Hinſicht vom dogmatiſchen Eleatismus völlig losgeſagt. Derſelbe geht vielmehr von dem Satze und der Thatſache aus, daß, wie nicht zwei abſolut gleiche und congru— ente Blattformen exiſtiren, auch in der Zeit ſich nichts abſolut genau zweimal wiederholt in der Welt, wenngleich die Ereigniſſe im Fluſſe der Zeit ähnlich auf einander folgen. Ihm iſt da⸗ her das All keineswegs ein abſolut feſt ge— ſchloſſenes, ſtabiles Ganze (feſtes Syſtem); denn der ewige Fluß der Zeit durch- bricht dieſen Ring als Syſtem und Gan- zes beſtändig nach Seiten einer Zukunft, die unerſchöpflich Neues bringt. — Der erſten Anſicht (der Eleaten), als Sta— bilitäts-Anfhauung des Weltalls, droht aller- Caspari, Darwinismus und Philoſophie. wegen, im Großen wie im Kleinen, das Geſpenſt der unerträglichen Langeweile und Leere; die zweite, richtig begründet, ſöhnt | uns allein aus mit den tiefften Anſprüchen der Vernunft, welche ein unaufhörliches Streben und eine ewige Aufgabe erforder— lich macht, die als Anpaſſung an Neues (ſoll es kein Scheinſtreben ſein) niemals in Stillſtand, Kreislauf und Langeweile unter- gehen kann.“) Ich erinnere hier an das welt— bedeutende Wort Leſſings, durch welches er alle fertigen Geſchenke der Götter ab— weiſt und das Streben vorzieht, und der Dichter ſingt mit Recht: So lang das Streben lebt, blüht in der Bruſt die Welt! Streben iſt Sonnenſchein, der dieſe Welt erhellt. — Betrachten wir uns nach dieſen Vor— erörterungen die philoſophiſchen Grundan— ſchauungen und Dogmatismen Teich— müller's. „Wenn wir als Philoſophen an die Theſen des Darwinismus heran— treten,“ ſagt unſer Autor, „ſo haben wir zuerſt die Artformen, welche vartiren ſollen, auf einen allgemeinen Begriff zu bringen. pſpchiſchen Affekte, die Künſte, Wiſſenſchaften, Denn vielleicht giebt es eine allgemeine Auf— faſſung, wonach a priori eingeſehen werden kann, ob die Speciestypen veränderlich oder unveränderlich ſind.“ Pflanzen und Thiere beſtehen aus Formen, ſo wird nun ausgeführt, die aus chemiſchen Ver— bindungen beſtehen, welche zu verſchie— denen Geweben zuſammengeordnet, ein ſy— ſtematiſches Ganzes ausmachen. Wenn ) Näheres über die wichtige Auflöſung der ſog. Antimonie zwiſchen der Seinslehre (Eleatismus) und Werdelehre (Heraklitismus) ſiehe in des Verfaſſers Werk über „Die Grund— probleme der Erkenntnißthätigkeit“. Bd. II. Berlin 1879, Th. Grieben. „ wir alſo generaliſiren, ſo müſſen wir noth— wendiger Weiſe keinen Unterſchied zwiſchen einfachen und complicirten Formen ſetzen, und deshalb ſofort auch ſämmtliche Formen der anorganiſchen Chemie dazu rechnen. Es würde ſich ſomit fragen, ob auch dieſe veränderlich oder unveränderlich ſind. Denn wir werden uns durch das Vorurtheil nicht blenden laſſen, als ob zwiſchen Anorganiſchem und Organiſchem eine Kluft befindlich ſei; in den allgemeinen Begriff der Form ge— hören ſie durchaus zuſammen. Allein auch das phyſikaliſche Gebiet muß hinzugenommen werden, und wir würden unlogiſch und kurz— ſichtig ſein, wenn wir nicht auch die phyſi— kaliſchen Formen, wie z. B. die Aggregat— zuſtände des Feſten, Flüſſigen und Gas— förmigen, und die Erſcheinungen aller Geſetze, als Typen des Naturlebens, alſo alle me— chaniſchen Naturformen, in eine Reihe mit den Typen der Pflanzen und Thiere rechneten. Will man alle Formen als ſolche betrachten und ihr Sein und Weſen er— gründen, ſo muß man hierzu Alles nehmen, was uns überhaupt die Erſcheinungen bieten. Nicht nur die Naturformen, ſagt Teich— müller, ſondern auch die Geiſtesformen, die Begriffsformen, endlich die Geſetze und Grundgeſetze bis zu den Formen von Raum, Zeit, Cauſalität und die logiſch-mathematiſchen Geſetze als Grund und Urformen überhaupt, ſind insgeſammt auf eine Reihe zu bringen, um demgegenüber das Problem der Um— änderung oder der Stabilität zu ergründen. Wer anders verfährt in ſeinen Betrachtungen, verfährt unphiloſophiſch, wer ſeinen Blick nur auf die Lebensformen und Organismen richtet, ohne alle übrigen Formen der Natur und alle ſonſtigen Geſetze, die aus der Tiefe herauf mitwirken und hierbei im Spiele ſind, mit in Rechnung zu ziehen, der beſitzt | entweder nur beſchränkte Kenntniſſe, oder er iſt ein oberflächlicher Dilettant, der ſich auf's Philoſophiren und Naturdeuten nicht einlaſſen ſollte.“) Alle dieſe Formen werden wir nun näher zu betrachten haben. Das Erſte, was wir hierüber bemerken, ſo erklärt uns der Autor, iſt der Unterſchied von Ur— bild und Abbild, Geſetz und Erſcheinung, zeitloſer Idee und Gewordenem. Denn der Künſtler, der ein Modell hat, macht davon unzählige Abgüſſe, das Modell aber bleibt immer daſſelbige. So müſſen wir auch in der Natur ein Urbild oder ein bleibendes Geſetz vorausſetzen, wie nach einem. Typus unzählige Pferde und Menſchen und überhaupt alle Individuen gebildet ſind.“ “) Dieſes Waſſer z. B. iſt jetzt tropfbar— flüſſig und trägt als Abbild das Urbild oder Geſetz des Tropfbar— Flüſſigen in ſich. Durch die Kälte geht es über in eine andere Form, indem es das Geſetz des Starren verwirklicht. Durch Wärme wird es wieder aus dieſer Form in eine andere Form z. B. die des Gaſes übergeführt. „Obgleich nun dadurch die wirklichen Formen der Erſcheinungen immer entſtehen und vergehen und ſich verändern, ſo ſind wir doch überzeugt, daß die Typen und Geſetze oder Urbilder, nach denen die Erſcheinungen erfolgen, weder entſtanden ſind, noch vergehen, noch ſich verwandeln. Denn Niemand wohl wird ſich einbilden, daß die Naturgeſetze ſelbſt auch jedesmal entſchwin— den und ſich veränderten, ſo oft eine Er— ſcheinung der Natur ſich verwandelt; ſondern jeder ſetzt ſtillſchweigend voraus, daß die Geſetze identiſch bleiben, zeitlos und wandel— los, und daß nur die Fälle ihrer Anwend— ung ſich in der Zeit bald ſo, bald ſo dar— bieten.“ Wenn man einwenden wollte, ſo ) A. a. O. S. 4. ) A. a. O. S. 9. Caspari, Darwinismus und Philoſophie. erklärt uns Teichmüller, dieſe Eintheil— ung und Betrachtung der Dinge ſei einem Bilde der Kunſt entlehnt und paſſe nicht auf die Natur, da die Typen der Thiere gar nicht vorhanden wären, ſondern nur die wirklichen Thiere, welche dieſen Typus tragen, ſo iſt es nicht ſchwer, dieſen Einwand ſchnell zu widerlegen; denn man kommt auf dieſen Widerſpruch nur, weil man mit zu be— ſchränktem geiſtigen Horizonte blos an die— jenigen Formen der Natur denkt, deren Ur— bilder oder Typen ebenfalls vergänglich zu ſein ſcheinen, wie z. B. die Typen der Triaszeit jetzt ausgeſtorben ſind. Sobald man aber den Horizont erweitert und alle Typen oder Geſetze der Natur in einen Begriff zuſammenfaßt, ſo ſieht man ſofort, daß man die Naturgeſetze nicht wegdenken kann, ſondern daß man ſtillſchweigend ihre ewige Macht vorausſetzt, wenn man nur ir— gend eine Erſcheinung in der Wirklichkeit erklären will. Nur unter dieſer Voraus- ſetzung kann man es auch wagen, eine Wiſſenſchaft von der Natur zu ſuchen, denn alle Wiſſenſchaft hat mit zeitloſen und un— veränderlichen Elementen zu thun und er— klärt aus dieſen die veränderlichen Erſchein— ungen in der Zeit. Der Kreis z. B. iſt ſeinem Weſen nach eine ewige Form, ein ewiges Geſetz und ſeine Eigenſchaften ſind nicht entſtanden, als der erſte Geometer ſie entdeckt; aber freilich dieſes Gold hier wird jetzt durch den Goldſchmied zum Kreis des Ringes geformt, und ſo entſtehen in dem Werdenden die Eigenſchaften, die zeitlos in dem Geſetze baſirt ſind. Die wirklichen Formen der Natur, ſo wird uns nun dar— gethan, laſſen ſich in drei Gruppen zerlegen. Die erſte Gruppe umfaßt alle diejenigen Geſetze, welche in den Erſcheinungen aus— nahmslos befolgt werden. Hierher gehören die Geſetze der Formen der Phyſik und & Caspari, Philoſophie und Darwinismus. Chemie. Die zweite Gruppe begreift alle Geſetze, welche in den Erſcheinungen keinen nothwendigen Ausdruck ſinden, ſondern über— tretbar und nur in der Regel maßgebend ſind. Dahin gehören nach Teichmüller alle organiſchen Formen. Die dritte Gruppe endlich umfaßt diejenigen wirklichen Formen, welche man gewöhnlich die zufälligen nennt, und zu denen alle blos ſingulären Ereigniſſe zu zählen ſind. Bei dieſen zeigt ſich keine allge— meine Regel und kein Geſetz. Es iſt zu bedauern, daß uns unſer Philoſoph über dieſe an ſich zufälligen Formen keine tiefere Erklärung gegeben hat. Hätte er hier die von ihm beregten geſetz— loſen Ausnahmen unter den Phäno— menen ſtudirt, ſo wäre er vielleicht zu einer völlig anderen, vom Dogmatismus weit abliegenden Weltanſchauung gekommen. Wir werden im Folgenden die Conſequenzen dieſer unfehlbaren Lehre und dieſes Dogma— tismus zur Darſtellung bringen, und da wird ſich uns zeigen, daß die Naturdeut— ungen der Darwiniſten allerdings zu Schaum zerrinnen, ſobald man ſich auf den eleatiſchen Standpunkt ſtellt. Dieſer Geſichtspunkt iſt, geſchichtlich betrachtet, bekanntlich uralt, und ſchon der große Stagirite Ariſtoteles hat ſich ſehr in ſeiner Nähe befunden. Jeder Dogmatismus, ſei er hinſichtlich ſeiner Lehre vom Sein (Ontologie), Atomenlehre (Viel— heitslehre Pluralismus), oder aber Subſtanzlehre (Einheitslehre S Monismus), kommt, wenn er ſich über ſeine erſten und eigentlichen Grundlagen wiſſenſchaftlich be— ſinnt, auf dieſen weltberühmten Grundgeſichts— vom feſten, dauernden Sein oder dem un— zerſtörlichen Urſein der Dinge, wie wir aus der Geſchichte wiſſen, von den Eleaten ent— deckt, und iſt derſelbe (zumal ſich Demokrit und die Materialiſten ebenſo wie Atomiſten Kosmos, III. Jahrg. Heft 8. 89 direkt an ihn anlehnen, weil ſie die abſolute Starrheit und unveränderliche Feſtigkeit ihrer Atome behaupten) in den meiſten Philo— ſophenſchulen ebenſoſehr wie auch unter den Naturforſchern bis heute in Geltung ge— blieben. Alle hierher gehörigen Sekten be— kennen ſich zum Eleatismus. Dieſe Welt— anſchauung beſagt, wie ſchon oben im Ein— gange angeführt wurde, daß alles Entſtehen und Vergehen (als ſog. Werden und Trans— mutation) nur ein oberflächlicher, ſinnlich täuſchender Schein iſt, weil im tiefſten Grunde das All als Sein an ſich ewig feſtſteht, und am ruhenden Punkte der Axe des Univerſums zugleich ein herrſchendes, Alles lenkendes Geſetz liegt, das mit abſo— luter, ausnahmsloſer Nothwendigkeit befiehlt, daß alle Phänomene ſich nach ſeiner Norm richten, und der hierzu vorgeſchriebene Typus der Geſtaltung daher trotz ſcheinbarer täu— ſchender Abſprünge nothwendig eingehalten werden muß. Deutlich aber zeigen dieſe Geſetzesſtabilität nach Teichmüller die chemiſch-phyſikaliſchen Typen der Kryſtalle, ſowie alle chemiſchen Verbindungen der Stoffe, ferner die ſtabilen Aggregatzuſtände, und, nur etwas verwiſchter, das Gleiche die Arten und Spezies der biologischen Weſen und Organismen, weil ſie ſich auf chemiſch-phyſikaliſche Grundeigenſchaften zu— rückführen laſſen. Ich behaupte daher con— ſequenter Weiſe, daß wer dogmatiſcher Eleate iſt, nur ein Scheindarwiniſt ſein kann; denn es wird ſich zeigen, daß die wirkliche Werdelehre (Mutationslehre) nicht blos mit Heraklit anhebt, ſondern über ihn ſogar punkt zurück. Derſelbe wurde mit der Lehre hinauszugehen genöthigt wird. — Es iſt nicht zu leugnen, daß Prof. Teichmüller | Sehr viele Naturforſcher auf feiner Seite hat und das Verhalten K. E. von Baer's iſt hierüber gewiß der ſprechendſte Beleg. Der größte Theil der heutigen Naturge— — 90 Caspari, Darwinismus und Philoſophie. lehrten hängt heute noch am Dogmatis— mus, und nur ſehr wenige ſind es, die ſich philoſophiſch bis zur kritiſchen Denkweiſe Kant's conſequenterweiſe zu erheben wiſſen. Beinahe Alle ſind daher im Grunde Elea— ten, wobei es ganz gleichgültig iſt, ob ſie ſich auf Grund einer Erkenntnißlehre als Materialiſten zu Demokrit oder als Spi— ritualiſten zu Leibniz oder zu Ariſtote— les oder zu Spinoza oder Schopen— hauer u. ſ. w. halten. Aller Wechſel, alles ſog. Entſtehen und Vergehen d. i. Ver— änderung, iſt nach dieſer Lehre nur Schein und ‚ein ſinnlich trügeriſches Gewebe der Maja, wie der große Buddhiſtenfreund Schopenhauer ſich ausdrückt; denn hinter ſeinen Fäden ſteht das an ſich feſte Geſetz, das Alles lenkt und ſchließlich Allem ſeine Formen vorſchreibt. Dieſes Geſetz iſt alſo der Lenker und Beweger aller Dinge, in ihm liegt nach Seiten des Raumes zugleich der feſte Typus ausgeprägt, der allen For- men im Wechſel damit mehr oder weniger deutlich aufgedrückt wird, und dem alle For- men unbewußt folgen, ja mehr noch, dem ſie ausnahmslos gehorchen müſſen, weil das Grund- und Urgeſetz unfehlbar noth— wendig iſt, und nicht die geringſte Abweich— ung und Ausnahme duldet. — In dieſer Unfehlbarkeits-Annahme des auf den an ſich feſten, eleatiſchen Thron erhobenen Geſetzes aber liegt der verſteckte Fehler, wie er allem Dogmatismus anklebt. Wir wollen ihn hier ſo kurz es geht hervorheben. Das, was wir erfahren und kennen, ſind zunächſt eine Summe von verſchiedenen Erſcheinungen und Ereigniſſen, von denen viele an unſe— rem Horizonte verharren, andere aber wechſeln, fi ändern und verſchwinden. Wir orien— tiren uns nun über die Unzahl aller dieſer verſchiednen Vorkommniſſe, und nehmen da— bei wahr, daß ſich Vieles hiervon unter = Kegeln bringen läßt, die weniger Ausnahmen zu erleiden ſcheinen, wie andere, welche, ähn— lich einer Anzahl von Kometen, nicht in ein feſtes Regelnetz unterzubringen und ge— nau zu berechnen ſind. Wir müſſen daher im Hinblick auf die Erfahrung in erkennt— niß⸗kritiſcher Hinſicht ſagen, daß ſog. Ge— ſetze gegenüber der bunten Mannigfaltigkeit aller Erſcheinungen in unſerem Kopfe nur Annahmen und Abſtraktionen ſind, gezogen aus einer Summe der vielfachſten, mehr oder weniger regelmäßig oder unregelmäßig vorkommenden empiriſchen Fälle. Wir müſſen uns daher vorſichtig ausdrücken und ſagen: Geſetze ſind nicht und ſie be— ſitzen keineswegs Realität wie Götter, und die Schwerkraft iſt daher nicht etwa ein großer, mächtiger Dämon, der Ale Geſtirne am Faden führt; ſondern Geſetze als ſolche gelten nur, d. h. ſie beſtehen, wie alle Verfaſſungen, nur ſo lange und nur dadurch, daß die Summe der Glieder ſie anerkennen und befolgen. Dieſen ſubtilen und weit— tragenden Unterſchied zwiſchen der Annahme der realen und conſtitutiven Exiſtenz eines Geſetzes und ſeiner bloßen, rein regulativen Geltung hat bekanntlich Kant angebahnt, und kaum Einer unter den ſpäteren Philo- ſophen hat ihn ſo ſcharf betont und die Verwirrung nachgewieſen, die man anſtellt, wenn man ihn überſieht, wie Hermann Lotze in Göttingen. Unbegreiflich iſt es mir daher, wie Teichmüller, der ebenſo wie Schreiber dieſer Zeilen ein begeiſterter Anhänger des berühmten Göttinger Philo— ſophen iſt, hier einen salto mortale in den ſcholaſtiſchen Realismus reſp. den un— fehlbaren Eleatismus macht, der beſtändig darauf angewieſen iſt, ein Alles bildendes und lenkendes und zugleich abſolut feſtſtehen— des Urgeſetz an ſich anzunehmen, das in dieſer Form gleichſam Hände und Füße = —— Caspari, Darwinismus und Philoſophie. beſitzt, um den Thon aller Erſcheinungen hüten, ein Götzendiener von ſogenannten (natürlich ſeinem Zwecke gemäß) zurechtzu— kneten. als bildender Typus auftritt, alsdann nichts als die ſehr gehorſamen Diener; denn ſie leben in einer Weltordnung, wo Lenker (Ordner, vods) und Verfaſſung (d. h. Geſetzesvorſchriften) abſolut eins ſind. — Wäre der Kosmos ein ſolcher Abſolutis— mus, ſo gäbe es nur Regeln und keine Ausnahmen, fo gäbe es nur logiſche (on— tologiſche) Cauſalfolgen, nicht aber neben— dem ein empiriſches Zuſammentreffen von Bedingungen, die einander fremd ſind und ſich (logiſch betrachtet) nichts angehen; ein empiriſches Zuſammentreffen, das man in ſeiner Form und feinem ausnahmsweiſen Auftreten (den Regeln gegenüber) mit Recht als relativen „Zufall“*) bezeichnet. Man hüte ſich daher in alle Wege vor dem Dog— matismus, der ſich empiriſch ſtets wider— legt; denn erfahrungsmäßig beſitzen wir unter den Erſcheinungen zunächſt nichts als eine Summe ſich einander mehr oder weniger ſtörender Glieder und Elemente. Erkennen wir unter deren Bewegungen Verfaſſungen mit geltenden Regeln (Ge— wohnheiten und Geſetze) ſo iſt damit bei weitem nicht ausgemacht, ob gerade ſie, als die jetzt beobachteten, immer und zu allen Zeiten gelten werden; denn andre Verfaſſungen (Ordnungen und Gewohnheiten) mit anderen Regeln und Paragraphen könn— ten an ihre Stelle treten. Man hüte ſich daher vor allem vorſchnellen Generaliſiren und bedenke, wie weit ſich oft Philoſophen und Naturforſcher verirrt haben. Wer den Lehren, welche die Thatſachen ertheilen, ) Vergleiche des Verfaſſers „Grundpro— blem der Erkenntnißthätigkeit“ Bd. II. S. 266. Die Elemente, Atome und Fak- toren find dieſem feſten Geſetze gemäß, das sul zugänglich bleiben will, der möge ſich daher Regeln und Geſetzen (Naturgeſetzen) zu werden, die alle ſtatiſtiſch aus einer Summe von Fällen extrahirt ſind. Wird die Naturſtatiſtik gut gehandhabt und ihr Geſichtspunkt richtig gewählt, nun wohl, ſo gewinnt man an ihrer Hand empiriſche Regulative (d. h. kritiſch betrachtet, Geſetze in Punktreihen, welche übereifrige, dogma— tiſche Götzendiener ſofort in continuirliche Linien und dogmatiſche feſte Geraden ver— wandeln“), niemals aber feſte, typiſche Grundformen, welche ſich anmaßen dürfen, den Weltgang zu regieren und zu beherr— ſchen. Unter den Naturforſchern ſind am meiſten die Aſtronomen und Aſtro-Phyſiker, d. h. die Forſcher, welche ſich mit der Sternenwelt beſchäftigen, geneigt, die ſog. Feſtigkeit (Subſtanzialität und Conſtanz x.) der Weltverfaſſung und ihrer Geſetzes— paxagraphen dogmatiſch aufzuſtellen. Mögen ſich dieſelben doch nur ſtets auf die Ge— ſchichte ihrer eigenen Wiſſenſchaft zurückbe— ſinnen. Wie feſt ſchworen ehedem die Aſtronomen aus der ptolemäiſchen Schule auf die Feſtigkeit ihrer Dogmen! Nach— dem Newton gelehrt hatte, kam ein neuer Dogmatismus auf, indem man voreilig eine Weltverfaſſung proclamirte, ohne alle Einzelerſcheinungen und Details am Him— mel genügend ſtudirt und gekannt zu haben. Seitdem wir immer tiefer in die irregulä— ren Erſcheinungen des Meteoriten- und Kometenlebens eindringen, ſeitdem wir die Elektricitätsgeſetze immer tiefer kennen lernen, wiſſen fortgeſchrittene Phyſiker recht wohl, wie verhältnißmäßig nur wenig in der ) Vergleiche über dieſe ſubtilen kritiſchen Unterſchiede „Grundprobleme der Erkenntniß— thätigkeit“ Bd. II und Zeitſchrift: „Das Aus⸗ land“ Jahrg. 1876 S. 1032 flgde. 92 Phyſik des Himmels durch die Formeln der Newton'ſchen Schwerkraft erklärt wird, und längſt hat man dieſelben als Special— fälle eines weiter reichenden und allgemeinen Elektrizitätsgeſetzes zu definiren verſucht. Auch hierbei wird man nicht ſtehen bleiben, und viel fehlt noch daran, um Regeln und Ausnahmen ſo gegeneinander wägen zu können, daß es gelingt, den punktirten Umriß der gegenwärtig in Geltung be— findlichen univerſalen Weltverfaſſung (wenn wir uns ſo ausdrücken dürfen) feſtſtellen zu können. — „Die Welt iſt ein feſtes Ganze, ein Typus an ſich,“ ruft Prof. Teich- müller aus; aber iſt empiriſch dieſes Ganze überhaupt bekannt? Zum Ganzen aber gehört doch auch die Zeit mit ihrem 2 Caspari, Darwinismus und Philoſophie. ung der Dinge; freilich, wer dieſen wichtigen Paragraphen aus der Weltverfaſſung ſtreicht, wird es leicht und billig haben, die Uni— verſalgeſetze unter einige ſtrenge Paragraphen zu bringen, um aus ihnen die Zukunft aller Zeiten und ihrer ſtabilen Formen zu pro— phezeihen. Mögen die Unfehlbaren Unfehl— bares prophezeihen, der echte Forſcher be— gnügt ſich, wie oben erwähnt, mit der Welt— ſtatiſtik der Thatſachen, um aus Dem, was ſie zu lehren ſcheint, Hypotheſen und Wahr— ſcheinlichkeiten des gegenwärtig im Kosmos Geltung Habenden zu ergründen. Verſuchen wir nun im Folgenden die Conſequenzen kennen zu lernen, zu welchen Prof. Teich— müller vorſchreitet, nachdem er ſich, wie wir entnahmen, zum ſtrengſten dogmatiſchen weitreichenden Wechſel und ihrer Veränder- Eleatismus bekannt hat. (Schluß folgt) * — 2 — — =, Such jenigen find, Die metaphyſiſche Grundlage der mehanifhen würmetheorie. Von Baron A. Dellingshanfen. 1) isher hat man ſich in der z mechaniſchen Wärmetheorie 77 5 darauf beſchränkt, die Wärme SA als eine innere Bewegung Ns — der Körper zu betrachten, ohne über die Art dieſer Bewegung be— ſtimmte Vorausſetzungen zu machen. Dieſer Beſchränkung verdankt die mechaniſche Wärme— theorie die Sicherheit ihrer Reſultate, zu— gleich aber findet ſie darin eine Grenze, die ſie nicht überſchreiten kann, und die ſie daran verhindert, den vollen, ihr gebührenden Ein— fluß auf die übrigen Zweige der Natur— forſchung zu erlangen. Dieſem Umſtande iſt es zuzuſchreiben, daß in der theoretiſchen Naturlehre noch ſo viele Lücken und Irr— thümer vorkommen, die bei einer weiteren Entwickelung der mechaniſchen Wärmetheorie verſchwinden müßten, da ſich erwarten läßt, daß die Feſtſtellung der Bewegungs— art im Innern der Körper zu keinen ge— ringeren Reſultaten führen wird, als die— zu welchen die Vibrations- theorie des Lichtes durch ihre beſtimmte Vorausſetzung transverſaler Vibrationen ge— langt iſt. Nur müßte ſolches auf einer richtigen metaphyſiſchen Grundlage geſchehen. Einen derartigen Verſuch haben bereits Krönig und Clauſius in ihren Gas— theorien gemacht. Krönig vergleicht die Gaſe mit elaſtiſchen Kugeln, welche in einem elaſtiſchen Kaſten heftig durch einander ge— ſchüttelt werden, eine Vorſtellung, welche die Anwendung des mathematiſchen Ver— fahrens trefflich geſtattet, die aber dem wirklichen Sachverhalte wohl ſehr wenig entſpricht. Clauſius erklärt ſich mit den Anſichten von Krönig einverſtanden, glaubt aber, daß außer der geradlinig fortſchreiten— den Bewegung der Moleküle noch rotirende und vibrirende Bewegungen innerhalb der— ſelben ſtattfinden, und daß jedes Maſſen— atom noch mit einer Quantität eines feineren Stoffes begabt ſei, welcher, ohne ſich von dem Atom zu trennen, doch in ſeiner Nähe beweglich fein könne. Außerdem ſtellt Clauſius an die Gaſe noch die Beding— ungen, daß der Raum, welchen die Mole— ER 94 küle wirklich ausfüllen, die Dauer ihres Stoßes gegen einander oder gegen eine Wand und der Einfluß der Molekular— kräfte verſchwindend klein ſeien. Wie man ſieht, ſteht Clauſius noch vollſtändig auf dem Standpunkte der atomi- ſtiſchen Theorie, einer Theorie, welche die realen Objekte, d. h. die Atome, und die leeren Räume, d. h. das Nichts, gleich— werthig neben einander ſtellt, — welche den Atomen nach Bedarf alle möglichen Eigen— ſchaften zuſchreibt und doch keine einzige Natur— erſcheinung genügend zu erklären vermag, — welche zur Aushülfe nach den anziehenden und abſtoßenden molekularen Centralkräften greift, von denen man nicht weiß, was fie | ſind, wie ſie an den Atomen haften, und von denen es nach Maxwell zweifelhaft bleibt, ob ſie im Verhältniß der halben oder der fünften Potenz der Entfernung wirken, — welche schließlich ihre Zuflucht zu ſie wegen ihrer atomiſtiſchen Ausſchmückung den Imponderabilien nimmt, d. h. zu einem Zwitterdinge zwiſchen Stoff und Kraft, das zwar ausgedehnt iſt, aber keinen Raum einnimmt. Alle dieſe Hypotheſen verſchärft Clauſius noch durch die Annahme einer verſchwindend kleinen Größe der Atome und einer verſchwindend kleinen Dauer ihres Stoßes, ſo daß die Gaſe zu einem von den räumlichen und zeitlichen Schranken befreiten Objekte werden, welches wohl in „Die Welt eine Vorſtellung“ von Schopen— hauer, nicht aber in die reale Erſcheinung hineinpaßt. die Atome trennenden Zwiſchenräumen nichts merken, und wie die ausdehnungsloſen Atome im Stande find, durch einen zeit- | Auf loſen Stoß einen Druck auszuüben. Verwundert fragt man ſich, wie es noch möglich ſei, daß wir die aus verſchwindenden Atomen gebildeten Gaſe wahrnehmen können und von den großen, | dieſe Grundlage hin verſucht Clauſius | * Dellingshauſen, Die metaphyſiſche Grundlage der mechaniſchen Wärmetheorie. eine mathematiſche Gastheorie zu entwickeln, ſogar die Weglänge der Atome zu ermit— teln, ohne die atomiſtiſche Zuſammenſetzung der Körper, die fortſchreitende Bewegung der Atome in den Gaſen, die Molekular— kräfte, deren Einfluß zu leugnen er für nothwendig findet, und den feinen Stoff, der in der Nähe der Atome beweglich fein ſoll, mit einem Worte zu rechtfertigen oder zu begründen. Dieſer große Apparat von unbewieſenen Hypotheſen bleibt jedoch ohne jede Einwirkung auf das Schlußreſultat, da man in Bezug auf den Druck der Gaſe bei völliger Vorausſetzungsloſigkeit genau zu derſelben Gleichung wie Clauſius gelangt — wie ſolches mir bereits gelungen iſt. Dieſe erweiſt ſich ſomit als richtig. Damit tritt aber die Gastheorie von Clauſius erſt recht in die Klaſſe der— jenigen Theorien, welche nach Thomſon als „gefährlich“ zu bezeichnen ſind, weil durch das ſchließliche günſtige Reſultat und durch den wiſſenſchaftlichen Namen von Clauſius unterſtützt, nur dazu beiträgt, die Naturforſcher in ihrem Aberglauben an die Atomiſtik zu beſtärken. Will man die metaphyſiſche Grundlage einer richtigen Naturtheorie erkennen, ſo darf man nicht von willkürlichen Vorausſetzun⸗ gen, ſondern nur von bereits feſtſtehenden Thatſachen ausgehen. Um dieſe zu finden, müſſen wir unſere Kenntniß der Welt— erſcheinung einer genauen Prüfung unter— werfen. Dieſe Kenntniß wird durch die ſinnlichen Wahrnehmungen und durch die Denkthätigkeit gebildet. Unterſuchen wir unſere fünf Sinne, ſo finden wir, daß ſie uns nur von Bewegungen Kunde geben. Das Sehen wird durch die transver— ſalen Vibrationen des Lichtes, das Hören durch die longitudinalen Vibrationen des Be) Dellingshauſen, Die metaphyſiſche Grundlage der mechanischen Wärmetheorie. Schalles vermittelt. Das Taſten iſt ein Druck, den wir ausüben, und der einen frei beweglichen Körper in Bewegung ver— ſetzt, bei einem feſtſtehenden Körper aber einen Widerſtand, d. h. eine entgegengeſetzte Bewegung hervorruft, durch welche die von uns mitgetheilte Bewegung aufgehoben wird. Die Empfindung der Wärme und der Kälte iſt nur eine Zufuhr oder Ableitung von Wärmevibrationen an der Oberfläche unſeres Körpers. Das Schmecken und Riechen ſind chemiſche Wirkungen, und von dieſen habe ich bereits in meinen „Rationellen Formeln der Chemie“ nach— gewieſen, daß ſie ebenfalls nur Bewegungs— erſcheinungen ſind. Auch alle Wechſelwirk— ungen der Körper unter einander laſſen ſich auf Bewegung zurückführen, die nur als Ortsveränderung, Schall, Licht, Wärme, Elektricität, Magnetismus die Form wechſelt, unter welcher ſie auftritt. Die chemiſchen Verbindungen und Scheidungen ſind nur Vereinigungen und Trennungen der inneren Bewegungen der Körper. Mit einem Worte, unſere ſämmtliche Erfahrung läßt uns in der Welt nur Bewegungen erkennen. Wenden wir uns an die Vernunft, To finden wir, daß trotz aller philoſophiſchen Syſteme nur zwei Begriffe unerſchütterlich in unſerer Erkenntniß feſtſtehen, die Be— griffe des Raumes und der Zeit. Wie ſie entſtanden ſind, ob angeboren oder durch Erfahrung, iſt an ſich gleichgültig und jede Unterſuchung darüber ſcholaſtiſche Specula— tion. Einmal aber vorhanden, laſſen ſie ſich nicht mehr vertilgen. Wir können an Allem zweifeln, wir können unſer eigenes Daſein — wie es für die Zeit vor der Geburt und nach dem Tode wirklich gilt — verneinen, einen Nichtraum und eine Nicht— zeit können wir uns nicht denken. Wollen wir den Verſuch machen, uns einen Nicht— 95 raum vorzuſtellen, laſſen wir die Grenzen eines beſtimmten Raumes ſich ſtetig ver— kleinern, ſo ſpringen ſie in dem Moment, wo ſie in einem Punkte zuſammenfließen, ſofort in die Unendlichkeit aus einander, und wir haben wieder den ganzen uner— meßlichen Weltraum vor uns. Von einem Mangel an Raum ſprechen wir nur dann, wenn er bereits eingenommen iſt. In einem Reiſekoffer iſt kein Platz mehr, wenn er über und über vollgepackt iſt. Wir haben keine Zeit, wenn wir ſo beſchäftigt ſind, daß eine erhöhte Thätigkeit nicht mehr möglich iſt. Die Negation des Raumes und der Zeit iſt daher zugleich ihre Affir— mation. Der Raum und die Zeit haben ihre Gegenſätze, den Punkt und den Mo ment, in ſich; ſie ſind unbedingt, ſie beſtehen durch eine innere Nothwendigkeit, ſie ſind uns a priori gegeben, oder wie die übrigen philoſophiſchen Ausdrücke in dieſer Bezieh— ung heißen mögen. Mit dem Raum und der Zeit iſt uns auch ihr Verhältniß, die Geſchwindigkeit, d. h. beſtimmte Bewegung, gegeben. Die Bewegungen können verſchie— den ſein; mit der Verſchiedenheit tritt die Möglichkeit der Unterſcheidung, und mit der Unterſcheidung die Welterſcheinung ein, die ſomit nichts anderes als die Ge— ſammtheit aller Bewegungen iſt. Vernunft und Erfahrung, Philoſophie und Natur— lehre ſind darin einig, daß es in der Welt Bewegungen und nur Bewegungen giebt. Mit der Bewegung erhalten wir auch die Brücke, welche den Eleaten zu dem Uebergange von der Einheit zur Vielheit fehlte. Als Verhältniß des durchlaufenen Weges zu der verfloſſenen Zeit iſt die Be— wegung die Einheit, nach welcher der menſch⸗ liche Geiſt bei ſeinem Erkenntnißbedürfniß ſtrebt, zugleich iſt ſie aber auch die Viel— heit und begründet durch ihre Verſchieden— 96 heit an Größe der Geſchwindigkeit, Richt— ung, Zuſammenſetzung und Form der Bahn die Mannigfaltigkeit der Naturerſcheinungen, welche ſie hervorbringt. Durch unſere ſinnlichen Wahrnehmun- gen ſind wir daran gewöhnt, bei den Gegenſtand zu erblicken. ungen der Körper auch ein Bewegtes ge— höre. Das Bewegte in den Körpern nennen wir Materie. Von dem, was die Materie an ſich iſt, wiſſen wir aber nichts, können auch — wie E. du Bois-Rey⸗ mond in ſeinen „Grenzen des Natur— erkennens“ ſo trefflich nachgewieſen hat — nichts wiſſen, und bedürfen als Natur— forſcher glücklicher Weiſe dieſes Wiſſens nicht, denn weil alle Naturerſcheinungen nur Bewegungen ſind, ſo finden ſie auch alle ihre Erklärung durch Bewegung. Wir können daher getroſt das Forſchen nach dem Weſen der Materie den Philoſophen über— laſſen. Nach dieſen iſt ſie dann: das Abſolute des Anaxagoras, das Ding an ſich von Kant, das reine Sein von Hegel, eine Vorſtellung nach Schopen— hauer und das Unbewußte von Hart— mann. Gut Kind hat viele Namen, was es nicht ſtört, ein unartiger Junge, oder, da hier von einer weiblichen Perſönlichkeit die Rede iſt, eine liederliche Dirne zu werden. Einer von den ſchlechten Streichen der Materie beſteht darin, daß ſie die Naturforſcher zu einem Verrath an der Wiſſenſchaft, d. h. zu der atomiſtiſchen Theorie verführt. Dieſe wird gewöhnlich durch folgende Worte eingeleitet. Da bei einer unendlichen Theilbarkeit der Körper das letzte Produkt ein Nichts wäre, aus dem Nichts aber nie wieder Etwas ent— ſtehen kann, ſo können die Körper nicht Dellingshauſen, Die metaphyſiſche Grundlage der mechaniſchen Wärmetheorie. unendlich theilbar ſein, ſondern ſie beſtehen aus zwar ſehr kleinen, aber nicht weiter theilbaren Atomen. Dabei erweiſen ſich die Naturforſcher als recht ſchlechte Logiker; denn das, was ſie im Vorderſatze zugeben, | nämlich den Uebergang von einem Etwas äußeren Bewegungen ſtets einen bewegten Wir ſetzen da⸗ her voraus, daß zu den inneren Beweg zum Nichts durch eine unendliche Theilung, wird in dem Nachſatze, d. h. der umge— kehrte Uebergang von dem Nichts zum Etwas durch eine unendliche Zuſammenſetzung ge— leugnet; daher der fehlerhafte Schluß. Ein— mal aber ſo weit, wird allen Hypotheſen und Hirngeſpinnſten Thür und Thor ge— öffnet. Die Atome vereinigen ſich paar— weiſe zu Molekülen und irren wie zwei Fliegen, die ſich begatten, im leeren Raume umher; in den Kohlenſtoffverbindungen hängen ſie wie Bienenſchwärme aneinander; ſie ſind polar mit poſitiver und negativer Elektricität beladen und trotz ihres gerin— gen, ein Zehnmilliontel Millimeter nicht überſteigenden Durchmeſſers mit mächtigen anziehenden und abſtoßenden Kräften be— gabt; dazwiſchen treiben ſich nicht weniger als ſechs Imponderabilien — Licht- und Wärmeäther, zwei elektriſche und zwei magne- tiſche Flüſſigkeiten — herum, die ihrerſeits wieder aus Atomen beſtehen und ebenfalls mit anziehenden und abſtoßenden Kräften verſehen ſind; Dämone beaufſichtigen nach Thomſon in den Gaſen die Bewegungen der Atome, das Verdampfen wird nach Clauſius zu einem Hinausſpringen der Atome aus der Flüſſigkeit; bei der Elektro— lyſe der Körper führen ſie nach Grott— hus einen förmlichen Rundtanz aus, und als ob es an dieſen Hypotheſen nicht genug wäre, gelangen wir endlich mit Zöllner in die mit Klopfgeiſtern bevölkerte vierte Raum— dimenſion, in welcher alle die Naturerſchein— ungen vor ſich gehen, die wir gegenwärtig noch nicht recht zu erklären verſtehen. - 4 gm — —— Dellingshauſen, Die metaphyſiſche Grundlage der mechanischen Wärmetheorie. Die Naturforſcher werden vielleicht böſe ſein, daß ich ſo aus der Schule plaudere, ſtatt die ſchmutzige Wäſche zu Hauſe zu waſchen. Dem iſt aber nicht abzuhelfen. Wer mit unmöglichen Dingen ſich abgiebt, muß darauf gefaßt ſein, daß ihm ſolches zum Vorwurfe gemacht werde, beſonders in unſerem Falle, wo es ſich um die erhabene Aufgabe handelt, die Naturerſcheinungen zu erklären und nichts Anderes erforderlich iſt, als die Bewegungen zu ermitteln, durch welche ſie hervorgebracht werden. Wozu alſo das viele Reden von Atomen, Mole— kularkräften und Imponderabilien, die doch nichts erklären, da ſie ſelbſt einer Erklär— ung bedürfen und nur ein von veralteten Theorien nachgebliebener Ballaſt ſind, werth— los genug, um über Bord geworfen zu werden. Da wir nun einmal von der Materie nichts wiſſen, nichts wiſſen können, und als Naturforſcher auch nichts zu wiſſen brauchen, ſo dürfen wir auch keine Hypo— theſen über dieſelbe machen, ſondern müſſen uns mit negativen Beſtimmungen begnügen. Die Materie iſt demnach: das Unbeſtimmte, Unbedingte, Unbegrenzte, Unendliche, Unent— ſtandene, Unvergängliche, Unterſchiedloſe, Unveränderliche, ſie wäre auch das Unbe— "SOON Kosmos, III. Jahrg. Heft 8. 97 wegliche, wenn ſie nicht gleich dem Ocean, der ruhend mächtige Wogen auf ſeiner Oberfläche rollt, die Trägerin der Beweg— ungen wäre, durch welche alle Verſchieden— heiten und Veränderungen in der Welt— erſcheinung hervorgebracht werden. Sie iſt ſchließlich das Unbenannte, denn trotz der vielen Namen fehlt doch das rechte Wort, um das zu bezeichnen, was man unter Materie zu verſtehen hat. Die Materie iſt unbegrenzt nach Außen und nach Innen. Sie beſteht daher nicht aus discreten Theilen, ſondern ſie iſt con— tinuirlich. Die Continuität der Materie braucht nicht bewieſen zu werden, ſie iſt keine Hypotheſe, ſondern die ſtrenge Con— ſequenz ihrer Beſtimmungsloſigkeit. Von den Atomiſtikern iſt man dagegen berechtigt zu verlangen, daß ſie ihre Hypotheſen be— weiſen, die Atome zeigen, den Ausdruck „Molekularkräfte“ erklären und die Impon— derabilien in den Retorten einfangen, wenn man ihren Worten Glauben ſchenken ſoll. Die metaphyſiſche Grundlage der Natur— theorie ergiebt ſich nunmehr von ſelbſt in folgendem Satze: Die Materie iſt continuirlich, und die alleinige Urſache aller Naturerſcheinungen iſt die Bewegung. A Ueber Abſterben und Tödtung der niedrigſten Lebensformen. Von Dr. M. Wernic, Univerſitäts-Docenten in Berlin. gradweiſe Unterſchiede in der endlichen Natur gelten ns zu laſſen, iſt für den Natur⸗ on forſcher eine logiſche Noth— } wendigkeit. Die Erfahrung zeigt uns, daß von den entwickeltſten Lebens- formen des Menſchen und der höheren Thier— welt zur Bewußtloſigkeit der niederen Thiere und Sinnpflanzen und zur Gefühlsloſigkeit der niederen Pflanzen eine allmähliche Abſtuf— ung ohne deutliche Grenze ſtattfindet, daß dieſe Abſtufung ſogar von dem Leben des thieriſchen Eies und der Pflanzenzelle durch mehr oder weniger belebte organiſirte Ele— mentargebilde (Theile oder Zellen) ſich weiter fortſetzt zu den chemiſchen Molekülen und Kryſtallen. Zwar hat das Beſtreben her— vorragender Forſcher, ſchon in den Atomen und Molekülen ſelbſt, wenn auch noch nicht Luſt und Schmerz, noch nicht Liebe und Haß, aber doch die erſten Keime dieſer Lebensäußerungen zu finden, bis jetzt ſtarken Widerſpruch erfahren. Jedoch empfindet man es, Angeſichts derartiger ernſtgemeinter Auf— — —ẽ — wasser eGr Ser" nenensgnenasuuEeEswen faſſungen als Nothwendigkeit, ſich über den Begriff der „niedrigſten Lebensformen“ vor— läufig zu einigen. Man hat geſagt: „Die kleinſten und zugleich die allereinfachſten und niedrigſten aller lebenden Weſen nennen wir Bakterien; jenſeits derſelben iſt nichts Lebendiges mehr vorhanden, ſie bilden die Grenzmark des Lebens.“ — Soviel Uneinigkeit nun aber hinſichtlich der Entſtehung, der Formen und der Bedeutung der Bakterien herrſcht, über einen Punkt werden ſich alle Erforſcher dieſes Gebietes leicht verſtändigen, über den nämlich, daß wir für die verſchiedenen Bakterienarten noch enorme Unterſchiede zu conſtatiren haben in Bezug ſowohl auf die Intenſität und die Nachweisbarkeit der Lebensäußerungen, als auch in Bezug auf die morphologiſche Erkennbarkeit. Für das Zugeſtändniß dieſer Unterſchiede iſt es zu— nächſt von wenig Belang, ob man nach Naegeli's Vorgang nur feſthält, daß Schimmelpilze, Sproßpilze und Spaltpilze für ſich geſonderte Abtheilungen bilden und 1 Wernich, Ueber Abſterben und Tödtung der niedrigſten Lebensformen. nicht in einander übergehen, oder ob man mit Cohn die Spaltpilze nach ihrer Funk— tion und Geſtalt noch in beſondere feſtſtehende Species eintheilt. Mögen dieſe conſtant oder variabel ſein, die Angehörigen der ein— zelnen Gruppen bieten trotz der Niedrigkeit der Lebensſtufe, auf welcher ſie alle ſtehen, ſehr prägnante Verſchiedenheiten dar. Mit großer Leichtigkeit unterſcheiden wir die Ge— ſtalt einer Spirochaete, eines Spirillum volutans, eines Bacillus subtilis; wir ſehen andere Bacillen ihre Geißeln lebhaft ge— brauchen und ſind faſt ungeduldig darüber, daß uns bei aller Sicherheit, mit der wir ſeine Eigenbewegung beobachteten, an dieſem und jenem Vibrio die mikroſkopiſche Demon— ſtration ſeiner Fortbewegungsorgane noch nicht gelungen iſt. nur bei dem Stillſtehen oder der Wieder— aufnahme ihrer ſelbſtſtändigen Bewegungen, ſondern auch dabei belauſcht, wie ſie unter dem Mikroſkop auf die von uns veran— ſtaltete Erwärmung des Objekttiſches, durch Spaltung, durch Treiben von Fortſätzen, durch Auswachſen von Fäden oder durch unzweifelhafte Sporenbildung reagirten. — Wie anders aber treten uns die viel tiefer ſtehenden Repräſentanten der Kugelbakterien, die Mikrokokken, entgegen! Selbſt wenn die oft unter ½900 Millimeter kleinen Körnchen noch annähernd gleiche Größe und kuglige oder ovale Geſtalt beſitzen, iſt die Entſcheidung über ihre Weſenheit unſicher: ſie können Spaltpilze, ſie können aber auch körnige unorganiſirte Ausſcheidungen oder Zerfallsprodukte von Blutkörperchen oder andern Gewebstheilen ſein. Keine Beweg— ung in geraden oder gebogenen Bahnen weiſt uns ferner bei ihnen auf eine Lebens— thätigkeit hin. Eine Strömung in der ſie umgebenden Flüſſigkeit, oft durch den Athem Viele Bakterien haben wir bei ſonſtigen Lebensäußerungen, nicht 99 des Beobachters, erzeugt zitternde Mole— cularbewegung, läßt die Körnchen durchein— ander tanzen und täuſcht eine lebendige Be— wegung vor, — aber bei genauerem Zu— ſehen rücken ſie nicht von der Stelle und die vergleichende Beobachtung lehrt, daß ſie dieſe Zitterbewegung mit unorganiſirten Körpern theilen. Auch ſind wir nicht im Stande, bei den Mikrokokken den Vorgang der Fort— pflanzung direkt zu beobachten. Zwar ſchließen wir auf denſelben, wenn wir unter den Körnchen zwei miteinander verbunden ſehen, und die Zwillinge bald größeren, bald geringeren Abſtand von einander neh— men, — aber ebenſowenig wie Form, Con— tour und Glanz haltbare Merkmale für ihre organiſche Herkunft darbieten, läßt ſich aus der Gruppirung der Beweis für ihren Fortpflanzungsakt führen; denn auch Zer— fallskörperchen kommen zu Paaren, in Grup— pen, kurzen Ketten, wie in Zoogloa-ähnlichen Haufen vor. — Auf keines unſrer Reiz— mittel endlich reagiren dieſe Mikrokokken. Während man lange geglaubt hat, in ihrem Widerſtande gegen Eſſigſäure, Kalilauge, Aether die Kriterien ihrer Bakteriennatur zu beſitzen, wiſſen wir jetzt aus verläßlichen Mittheilungen) und eigener Beobachtung, daß auch ein großer Theil der Zerfalls— körperchen durch Eſſigſäure nur ſtärker hervortritt, daß manche durch Kalilauge und Aether ebenſowenig angegriffen wurden, und daß ſelbſt die ausgeſprochene Neigung der Mikrokokken, Anilinfarben in ſich aufzu— nehmen, nicht immer zur Begründung einer unfehlbaren Unterſcheidung ausreicht. Mit einem Worte: Alle morphologi— ſchen Merkmale laſſen uns im Stich, keins unſrer optiſchen und chemiſchen Hilfs— *) L. Rieß, Ueber ſogenannte Mikro- kokken. Centralblatt f. d. med. Wiſſenſch. 1873. 530. — 4 55 100 mittel reicht aus, um an den niedrigſten Mikrokokkenformen, wenn ſie in geringer Anzahl vorhanden ſind, eine Spur von Irritabilität, eine ſinnfällige Lebens— äußerung zu demonſtriren, die ſie von Molekulardetritus ſicher unterſcheidet. Was alſo berechtigt uns, ſolchen Körper— chen noch die Eigenſchaft eines belebten Organismus zuzuſprechen? — Einzig und allein ihre Reproduktionsfähigkeit. Wir dürfen ſagen: die niedrigſten Lebens— formen werden durch diejenigen einzelligen Organismen dargeſtellt, deren Daſein und deren Lebensäußerungen weder durch einen unſerer Sinne, noch durch deren Zuſammen— wirken, noch auch unter Zuhilfenahme aller bis jetzt bekannten Schärfungs- und Unter— ſtützungsmittel offenbar und bewieſen werden. Ihre Lebensthätigkeit wird unſe— rer Erkenntniß vielmehr einzig dadurch zugänglich, daß ſie unter geeigneten Bedingungen eine un— geheure Menge gleich beſchaffener niederer Organismen hervor— bringen, aus deren Maſſenerſcheinung und vereinigter Wirkung wir auf die Exi— ſtenz und Lebensthätigkeit des Einzelweſens ſchließen. In unſerer Zeit arbeiten die Verſuche über die Urzeugung, Generatio aequivoca oder, wie man ſich auch ausdrückt, „Abio- genesis“, — deren Hoffnungsloſigkeit aus der von uns gegebenen Erklärung wohl zur Genüge erhellt, — mit der Vorausſetzung einer unbedingten Übiqität niederer Lebensformen, d. h. mit der Ueberzeugung, daß ſchlechthin überall, wo ſie nicht abſichtlich und gründlich vertilgt wurden, niedrigſte Organismen oder doch ganz gewiß ihre Keime vorhanden ſind. Nur vor einem Publikum harmloſeſter Dorfbewohner könnte heute Einer der ſelbſtbetrogenen Urzeuger (OR Wernich, Ueber Abſterben und Tödtung de r niedrigſten Lebensformen. des Mittelalters allerlei organiſche Stoffe in einen „reinen“ Behälter thun und ſich dann wegen der „Hervorbringung“ von Infuſorien, Vibrionen ꝛc. bewundern laſſen. Der halbwegs Unterrichtete ſchon weiß, daß in den benutzten Materien, in dem Gefäß und an feinem Verſchluß, an den zur Ver— wendung gekommenen Inſtrumenten, Bak— terien oder ihre Keime enthalten ſein konnten. Der im Fache der Bakterien arbeitende Naturforſcher aber muß noch viel ſerupulöſer zu Werke gehen; er muß überall Fehler— quellen annehmen, die gegen feine Ab- ſicht zur Entwickelung zahlreicher mikro— ſkopiſcher Organismen Veranlaſſung geben können. Alle Flüſſigkeiten, das reinſte Waſſer ſelbſt, iſt nach dieſer Richtung ver— dächtig, jede Retorte, jede Flaſche, jedes Reagenzglas muß als verunreinigt angeſehen werden, jede Zange und jeder Draht kann zum Träger der Bakterien werden, ſo lange fie nicht beſonders zubereitet, des inficirt ſind. Trotz dieſer Erkenntniß von dem Ueberallvorhandenſein der Bakterien, trotz des ſteten Hinweiſes auf Mittel zu ihrer Vertilgung zu denken, wurden und werden noch oft verhängnißvolle Irrthümer bei den Urzeugungsverſuchen begangen. Ein in dieſer Beziehung ſehr lehrreiches Beiſpiel hat vor wenigen Jahren die vermeintliche Urzeugung von Bacillus subtilis aus ge kochten Heuaufgüſſen dargeboten, auf welches wir uns gelegentlich der Hitzewirkungen noch zu beziehen haben werden. Jeder Angabe über gelungene Urzeugung iſt bis jetzt der Nachweis, daß in den be⸗ nutzten Subſtanzen die Tödtung der be— reits vorfindlichen Keime nicht vollſtändig erreicht war, auf dem Fuße gefolgt. Jede Erkenntniß von der Entſtehung der niedrigſten Lebensformen wurzelt alſo in der Sicherheit, mit welcher wir die Ab— Wernich, Ueber Abſterben und Tödtung der niedrigsten Lebensformen. . tödtung derſelben zu bewerkſtelligen im Stande ſind. Es waren jedoch nicht dieſe weittragenden Ueberlegungen, welche den Verfaſſer dieſer Arbeit vor längerer Zeit veranlaßten, der Frage nach dem Abſterben und der Tödtung der Bakterien näher zu treten, ſondern andere, mehr praktiſch wichtige Thatſachen. Zunächſt regte mich die wichtige Beobachtung von Ernſt Baumann“), daß die Fäul— nißbakterien bei ihrem Stoffwechſel das ihnen ſo verderbliche Phenol ſelbſt produciren, zu Unterſuchungen darüber an, ob es noch andere in gleicher Weiſe erzeugte Bakterien— gifte gäbe? ) — Eine zweite Verſuchs— reihe wurde veranlaßt durch den gelegentlich der diesjährigen Peſtepidemie in den Vorder— grund gerückten Zweifel an der Möglichkeit einer wirkſamen trockenen Desinfektion von Kleidern und Effekten, d. h. einer ſolchen Behandlungsmethode, durch welche in dieſen Stoffen verborgene Bakterien zweifellos getödtet werden könnten. *) — Die dritte Gruppe meiner eigenen Verſuche entſprang dem Wunſche, die Uebertragung lebens— kräftiger und ſtark anſteckender Bakterien von einem Gegenſtande zum andern ohne Verſuchsfehler möglichſt genau zu verfolgen und willkürlich einen ſolchen, der lebhafteſten Verbreitung fähigen Organismus in dieſer Verbreitung aufzuhalten, abzutödten, oder abſterben zu machen. Für dieſen letzteren Zweck diente mir der Mierococcus pro- digiosus (Monas prod. Ehbg.) zum Ob— jekt. ) Die Experimente mit dem letzteren ) Zeitſchrift für phyſiologiſche Chemie J, S. 64. ) ᷣVirchow's Archiv für pathol. Ana— tomie u. Phyſiologie Bd. LXXVIII. Oktbr.⸗Hft. h Centralblatt f. d. med. Wiſſenſchaft Jahrg. 1879, S. 227. ) Cohn's Beiträge zur Biologie der Pflanzen Bd. III, Hft. I, S. 105. eh führte ich in Breslau unter Leitung von Prof. F. Cohn aus, während die vorher genannten in dem chemiſchen Laboratorium des Berliner pathologiſchen Inſtituts (Prof. E. Salkowski) entſtanden find. In dieſen drei Verſuchsreihen beſteht bis jetzt der ſelbſtthätige Antheil, welchen ich an dem geſtellten Thema habe. Die Ergebniſſe in überſichtlicher Weiſe zuſammen— zufaſſen, fie durch die Reſultate anderer Ex— perimentatoren abzurunden, und das Ganze größeren Kreiſen zugänglich zu machen, erſchien um ſo mehr als eine dankbare Aufgabe, als die Populariſirung vereinzelter, beſonders auffälliger, aber oft durchaus nicht erwieſener Fakta aus der Bakterienlehre der ruhigen Erörterung zuſammenhängender Beobachtungen auf dieſem Gebiete längſt vorausgeeilt iſt. Vor Allem handelt es ſich um eine einwurfsfreie Methode, lebende und getöd— tete Bakterien niedrigſter Stufe von einander zu unterſcheiden. Nach unſerer Auffaſſung der niedrigſten Formen ergiebt es ſich von ſelbſt, daß wir kein anderes Kennzeichen des Lebens, als das der Erzeugung glei- cher Organismen beanſpruchen können — und kein anderes Kriterium des Todes als das Ausbleiben der Vermehr— ungsthätigkeit unter Bedingungen, welche dieſelbe ſonſt unter allen Umſtänden her— vorriefen. Wir gehen dabei von der Voraus— ſetzung aus, daß es ausführbar iſt 1) aus einer Bakterienkolonie lebende und fortpflanzungstüchtige Exemplare un— vermiſcht mit anderen Organismen zu entnehmen; 2) dieſe Exemplare unverſehrt in neue Verhältniſſe, in neue Medien zu über— tragen, in welchen fie ihre Lebens- sc. — 102 Wernich, Ueber Abfterben und Tödtung der niedrigſten Lebensformen. Vermehrungsfähigkeit entfalten müſſen (nicht blos können!); daß wir 3) die Beweiſe dieſer Lebensentfaltung abſolut klar und zweifellos unter— ſcheiden können von dem Ausbleiben derſelben, welches letztere mit dem Tode der verpflanzten Organismen identiſch iſt. Dieſe Methode, abſichtlich und willkür— lich übertragene Bakterien nach Maßgabe der eintretenden oder ausbleibenden Ver— mehrung auf die Frage, ob mit lebenden oder getödteten Organismen gearbeitet wurde, zu beurtheilen, wollen wir kurz als „bakte— rioſkopiſche“ bezeichnen. Die bakterio— ſkopiſche Methode wird dadurch zu einer ſicheren, daß einmal ausnahmslos da, wo ſie die Vermehrung der angeſiedelten Bak— terien anzeigte, auch das Mikroskop die un- geheure Zunahme derſelben erweiſt, daß wo die bakterioſkopiſchen Zeichen der Vermehr— ung ausblieben, auch die ſorgfältigſten mi— kroſkopiſchen Unterſuchungen keine Mikro- organismen erkennen laſſen; daß ferner eine Weiterübertragung der Cultur in neue Apparate im erſten Falle immer einen gleich poſitiven, im zweiten Falle einen gleich negativen Effekt hat. — Die chemiſche Unter— ſuchung der Nährſubſtanz vor und nach der Bakterienvermehrung in ihr bietet gleichfalls einen erwünſchten Mehrbeweis für das Vor— handenſein oder Fehlen derſelben; doch iſt dieſelbe noch zu umſtändlich und auch weitaus zu ſchwierig, um jedesmal in Anwendung gezogen zu werden. Die Vorausſetzungen der bakterioſkopi— ſchen Methode, ſowie die Techniken, aus welchen ſie beſteht, ſind in verſchiedener Weiſe leicht oder ſchwer erfüllbar, wie wir, als an ſehr geeigneten Beiſpielen, an der Uebertragung des Mierococcus prodigio- sus und an der Verpflanzung der in faulen Ss Flüſſigkeiten auftretenden Mikrobakterien zu zeigen verſuchen wollen. — Der erſtgenannte Organismus überzieht, auf die gelbliche Fläche einer friſchgekochten und abgekühlten Kartoffel übertragen, dieſelbe bekanntlich im Verlauf von 36 bis 48 Stunden mit einem blutrothen, continuirlichen Ueberzuge; das Bacterium termo ſeinerſeits zeigt ſich in Millionen von Exemplaren in (leicht alkaliſch gemachtem) Waſſer, in welches man einige Gramm gehackten Fleiſches zum Faulen hineingethan hat. Beide Bakterienformen kann man, wenn eine etwas erhöhte Tem— peratur (35“ .) ihre Entwickelung be— ſchleunigte, und die Gefäße bedeckt gehalten wurden, unvermiſcht und frei von Verun— reinigung durch andere Organismen erhalten. Sowohl zur Entnahme einer genügenden Zahl von Exemplaren aus beiden Colonien, wie zur ſchonenden, das Leben conſervirenden Ueberpflanzung auf einen neuen Nährboden bedarf es nur der allergeringſten Geſchick— lichkeit und Vorſicht. Ja, man kann un- umwunden ausſprechen, daß von beiden Eigenſchaften viel weniger dazu gehört, die Weiterübertragung auszuführen, als dieſelbe da, wo man ſie nicht wünſcht, zu vermeiden. Ein dünner Draht ſchabt von der mit dem Mikrokokkus bedeckten Kartoffelfläche das minimale Klümpchen ab, durch deſſen Ver— ſtreichen eine neue Fläche inficirt wird; — ein hundertſtel Tröpfchen der Fäulnißflüſſig⸗ keit reicht hin, um in eine neue, bis dahin bakterienfreie Flüſſigkeit die zur Vermehrung disponirten Organismen überzuführen. Doch muß der Draht desinficirt, das Tröpfchen in eine ausgeglühte Pipette aufgenommen ſein, da ohne dieſe Vorſicht beliebige Keime, die man ja an den Gegenſtänden ſtets ver— muthen muß, mit übertragen werden könnten. Eine relative Ausgleichung dieſes letzteren Verſuchsfehlers iſt nun allerdings in der Wernich, Ueber Abfterben und Tödtung der niedrigſten Lebensformen. Gewißheit gegeben, daß durchaus nicht jeder Keim auf jedem Boden ſich vermehrt, in jeder Nährflüſſigkeit ſeine Lebensthätigkeit entfaltet. Unzählig viele Bakterienverſuche, Impf- und Züchtungs-Experimente find an dem unberechtigten Vertrauen geſcheitert, welches man in die Tauglichkeit der zum Entwickelungsboden für die verimpften Keime gewählten Subſtanzen geſetzt hat. fit | einer Conſequenz, die im bewußten Thier- leben als Eigenſinn angeſprochen werden müßte, bevölkert dieſe oder jene Bakterien- form eine beſtimmte Nährflüſſigkeit mit zahlloſen Nachkommen, während ſie in einer vielleicht ganz ähnlichen regelmäßig zu die Beſprechung des Abſterbens uns auf die Auswahl der Nährſubſtanzen noch einmal | zurückführt. — Haben wir die richtigen Nährmittel gewählt, in unſeren Beiſpielen alſo für den Micrococeus prodigiosus die der Luft zugängliche Fläche eines gekochten“), unſere Fäulnißbakterien eine Flüſſigkeit, ſtoff-Verbindung, ſowie geringe Mengen von Phosphor, Schwefel, Kali und Magneſia enthalten muß, — ſo bedarf es nur noch leicht erfüllbarer Bedingungen, um die Keime, welche wir lebend übertrugen, zur kräftigen Aeußerung ihrer elementaren Lebensthätig— keit zu veranlaſſen. Wir ſtellen die Be— hälter mit den geimpften Kartoffelſtücken und die Gläſer, welche die mit Fäulniß— organismen beſchickte Nährflüſſigkeit ent— halten, in einen 350 C warmen Raum, ſchützen durch Verſchluß die einen vor Aus— trocknung, die anderen vor dem Zutritt ) Der Micrococcus prodigiosus greift als Saprophyt die lebende und lebensfähige Pflanzenzelle nicht an. 103 fremder Keime und ſehen in ca. 30 Stunden die Kartoffelflächen mit üppig wucherndem, blutrothem Mikrokokkusraſen bedeckt, die vorher kryſtallklare Flüſſigkeit der Gläſer bis zur milchigen Undurchſichtigkeit getrübt, und dieſe Trübung, wenn wir mikroſkopiſch zuſehen, veranlaßt durch Milliarden von Stäbchenbakterien. Jetzt wiſſen wir, — da jeder Zutritt anderer Keime ſorgfältig aus— geſchloſſen wurde, — daß wir lebende Weſen in den winzigen rothen Klümpchen überführten, daß Leben in dem Tröpfchen war, das kaum ſichtbar am Glasſtabe hing. Es war indeß für dieſes Reſultat gar nicht nöthig, daß wir ſo ſubtil mit Grunde geht. Wir müſſen uns hier damit begnügen, das Faktum betont zu haben, da den Keimen verführen, daß wir mit vor— ſichtigen und wohlberechneten Bewegungen Draht- und Glasſtab handhabten. Glühe den Draht nicht aus, der vielleicht nur ein einziges Mal zur Uebertragung der. Mikrokokkuskörnchen benutzt wurde, wähle einen Behälter oder einen Deckel, der ſchon früher, ſei es auch noch ſo vorübergehend, amylum⸗- und eiweißhaltigen Körpers, für als Culturapparat diente, erfaſſe, ſelbſt nach bedächtiger Reinigung beider, das eine welche eine organiſche Stickſtoff- und Kohlen- oder andere Geräth mit den ſauber ge— waſchenen, aber vorher mit den Keimen ver— unreinigten Fingern, — und du regſt Leben in und auf allen empfänglichen Subſtanzen an, die berührt zu haben du kaum ahnſt, erzeugſt Epidemien von blutrothen Pilz— überzügen auf allen Speiſereſten, läßt Pſeudo⸗ Blutstropfen auf profanen und heiligen Gegenſtänden entſtehen und thuſt Wunder durch die unſichtbaren, jeder Erkenntniß ver— borgenen, aber trotzdem lebenden und ver— mehrungstüchtigen Körnchen, von denen du das Gefäß, die Inſtrumente, die Finger nicht zu befreien verſtandeſt. — Ganz ähnlich ſteht es mit den Fäulnißbakterien. Ein Reagenzceylinder erſcheint abſolut rein, die zubereitete Nährflüſſigkeit kryſtallklar, der Er Wattepropf, der zum Verſchluß dienen foll, iſt ganz neu, der Experimentator will be— weiſen, daß er eine lebens loſe Miſchung hergeſtellt hat, — und anderen Tages wimmelt zu ſeinem Verdruß das Gefäß von Bakterien! — Dann nämlich, wenn er nicht ſelbſt den Cylinder unmittelbar vor dem Gebrauch ausglühte, wenn er nicht ſeine Flüſſigkeit vor dem Einfüllen eine halbe oder ganze Stunde kochte, wenn er nicht endlich den ſo unſchuldig erſcheinenden Watte— propf ebenſo lange einer ſtarken Erhitzung bei 130 — 150° unterwarf. — Ueberall konnten Keime in angetrocknetem Zuſtande ſich feſt— geſetzt haben, die der Halbheit der gegen ſie gerichteten Maßregeln durch eine trüge— riſche und ſo unerwünſchte Generatio aequi— voca zu ſpotten ſcheinen. Nur derjenige Experimentator alſo, der bei ſorgfältigſter, vielfacher Wiederholung aller jener Vorſichtsmaßregeln endlich dahin gelangte, ohne abſichtlich ausgeführte Bak— terienübertragung ſeine Apparate ſtets un— verändert, von allem Leben frei zu er— halten und lediglich durch vorbedachte Verimpfung lebender Keime die ihm wohl— bekannten Veränderungen ebenſo aus— nahmslos zu erzielen, kann daran denken, zu ermitteln, ob eine Colonie von Bakterien nach Einwirkung ſtarker Mittel noch am Leben oder durch die letzteren getödtet worden iſt. In das Siegesbewußtſein des Forſchers, dem ſoeben ein neues Urzeugungsexperiment anſcheinend geglückt iſt, wird ſich ſtets die bange Beſorgniß vor dem wahrſcheinlich vor— gekommenen und nur unentdeckt gebliebenen Fehler miſchen. Die Freude über einen Verſuch, in welchem ein zur Unfruchtbarkeit beſtimmter Culturapparat nun auch wirklich unverändert und unfruchtbar blieb, iſt kleiner, aber ſicherer und reiner. Wernich, Ueber Abſterben und Tödtung der niedrigſten Lebensformen. Wenn wir jetzt von der Erörterung der Methode, abgeſtorbene von lebenden Bakterien zu unterſcheiden, übergehen zu der Frage; „Wie tödtet man dieſe Weſen?“ — ſo ſei es uns geſtattet, mit kurzen Worten der enormen Bedeutung zu gedenken, welche dieſe Frage ſeit Kurzem für die geſammte wiſſen⸗ ſchaftliche und praktiſche Heilkunde gewonnen hat. „Gewonnen hat,“ — dürfen wir uns ausdrücken, nicht etwa nur: „gewonnen zu haben ſcheint.“ Denn wie weit auch noch bedächtige und mißtrauiſche, deshalb aber nicht weniger reſpektable Aerzte und Forſcher von dem Zugeſtändniße entfernt ſein mögen, daß durch das immer häufigere Auffinden der Bakterien bei Infektionskrankheiten, durch die Logik und durch die eminenten Erfolge der antiſeptiſchen Wundbehandlung der ſtrikte Beweis für die Erzeugung der anſteckenden Krankheiten durch Bakterien bereits geliefert ſei, — der Vorwurf, eine bloße Abſurdität, ein Phantasma zu ſein, iſt dieſer Lehre gegenüber allmählich verſtummt. Nur beſſere, zwingendere Beweiſe, Beſeitigung ſo vieler berechtigter Einwürfe verlangt man noch dafür. Auch die nicht fanatiſirten Anhänger der paraſitären Krankheitstheorie, und wir unter ihnen, behaupten nur, daß die zahlreichen Befunde von Mikroorganismen, beſonders bei Wundinfektionskrankheiten, und die damit im Zuſammenhange ſtehenden experimentellen Unterſuchungen die paraſitiſche Natur dieſer Affektionen im hohem Grade wahrſcheinlich gemacht haben. Der vollgültige Beweis für dieſelbe kann nur dann geſchafft werden, wenn es gelingt, die paraſitiſchen Mikro— organismen nicht nur in allen Fällen der betreffenden Krankheit zu entdecken, ſon— dern ſie auch in ſolcher Menge und Ver— theilung nachzuweiſen, daß alle Krankheits— erſcheinungen dadurch ihre Erklärung finden. Endlich kann mit Recht gefordert werden, 1 8 — ͤ — — Wernich, Ueber Abſterben und Tödtung der niedrigſten Lebensformen. daß für jede einzelne Infektionskrankheit ein morphologiſch oder wenigſtens biologiſch wohl— charakteriſirter Mikroorganismus als ihr Paraſit feſtgeſtellt werde. — Dieſen Poſtu- laten erſcheint nach der Auffaſſung der am weiteſten gehenden Vertreter der paraſitären Theorie bereits zum größeren Theile genügt; andere, nüchternere Forſcher erhalten jene Aufgaben in dauernder Spannung und bei langſam vorrückender, aber des Erfolges nicht entbehrender Arbeit. Von Seiten der Botaniker und Pflanzenphyſiologen iſt die Beibringung ſelbſt des ſchwierigſten (letzten) Theiles der Beweiſe als erfüllbar hingeſtellt worden, jedes Jahr bringt neue wichtige Bereicherungen an ſolchen Bakterienformen, welche wirklich charakteriſtiſch für die mikros— kopiſche Diagnoſe anſteckender Krankheiten ſind und ſich in ihnen conſtant und in be— ſtimmten Organen und Geweben vorfinden). Angeſichts ſolcher Erfolge und ſolchen, immer weitere Kreiſe beſchäftigenden, ernſten Stre— bens erſcheint es nicht nur wünſchenswerth, ſondern geboten, allen Mitteln nachzuſpüren, die geeignet ſein könnten, jene unſichtbaren und dadurch um ſo gefährlicheren Feinde zu vernichten. Mag immerhin die geläuterte und erweiterte Auffaſſung künftiger Jahr— hunderte in den Krankheitsorganismen nur eine nebenſächliche Erſcheinung, eine Zu— fälligkeit erblicken: nach dem Maße unſerer jetzigen Kenntniß ſind wir berechtigt, in derſicheren Abtödtung der Krank— heitsorganismen das einzig ſichere Mittel gegen die Krankheit ſelbſt zu erblicken. Die Möglichkeit einer ſolchen ſicheren N = von 110° anwenden. Je ſaurer jedoch die ) Klebs, Züchtung von Syphilispilzen. Arch. f. experimentelle Pathologie 1879. März- heft; und Koch, Unterſuchungen über die Aetiologie der Wundkrankheiten. Leipzig, 1875. — Siehe auch dieſes Heft S. 135. Abtödtung, einer Vernichtung ſowohl der niederen Lebensformen, unter denen ſich die Krankheitsgifte darſtellen (Contagium animatum), als auch der niedrigſten Lebens— formen im Allgemeinen wird von einzelnen com— petenten Forſchern ſehr ungünſtig beurtheilt. „Bis jetzt,“ ſagt Naegeli*) „hat man ganz allgemein die Antiſeptica in dem Grade angewendet, daß ſie die Zerſetzung (Gährung, Fäulniß) unterdrückten, und wenn dies ge— ſchehen, erklärte man die Pilzzellen als ge— tödtet. Es war dies ein Irrthum, und vielleicht erfolgte die wirkliche Tödtung in keinem einzigen Falle. Bei der mangel— haften Kenntniß, die wir über die Wirkung der Gifte haben, läßt ſich noch nicht an— geben, unter welchen Bedingungen ſie den Tod herbeiführen. Um das Leben der Spaltpilze zu vernichten, giebt es kein zu— verläſſigeres Mittel als die Hitze; wobei es allerdings ſehr zweckmäßig iſt, durch Zugabe von giftigen Subſtanzen die Wirkung der Hitze zu unterſtützen.“ Aber ſelbſt die Hitze kann, nach demſelben Autor, nicht ſtets als mit gleichbleibender Kraft wirkendes Vernichtungsmittel angeſehen werden. Man ſoll ſtrenge nach den beiden Zuſtänden, in welchen die Spaltpilze vorkommen, unter— ſcheiden, nach dem benetzten und trocknen nämlich. Sie übertreffen zwar in einem und dem anderen Zuſtande an Lebenszähigkeit alle anderen Organismen, ſind aber im benetzten Zuſtande den Hitzewirkungen weit zugänglicher. Die Siedhitze reicht in vollkommen neutral reagirenden Flüſſigkeiten nicht hin, um die Spaltpilze zu tödten. Für ſolche Löſungen muß man eine Temperatur bakterienbelebte Löſung reagirt, deſto geringere ) Die niederen Pilze in ihren Beziehungen zu den Infektionskrankheiten und der Geſund— heitspflege. S. 201. Vergl. Kosmos, III, S. 189. Kosmos, III. Jahrg. Heft 8. 14 105 9 — 106 Wärmegrade ſind zur Erreichung des Zweckes erforderlich. Ueber die Wärmedesinfektion auf trocknem Wege äußert ſich Naegeli ſehr abſprechend: ſie ſei eine reine Illuſion. „Der Temperaturgrad, welcher die Infek— tionspilze tödtet, liegt höher als 130 -C.“ Wenn die Ueberführung der Infektionsſtoffe in den naſſen Zuſtand nicht möglich iſt, muß ihre Zerſtörung überhaupt als unaus- führbar betrachtet werden. Wahrſcheinlich wird aber durch die Hitze, wenn ſie einige Zeit andauert, ihre Natur“ — die der nicht benetzten Bakterien — „verändert.“ Dieſen letzteren weitdentigen Ausdruck glaube ich durch Erwähnung eigener auf dieſen Gegenſtand gerichteter Verſuche dahin präci— ſiren zu ſollen, daß die Vermehrungsfähigkeit mancher Bakterien (alſo nach unſerer Auf— faſſung ihr Leben) durch trockne Hitze aller— dings zerſtört werden kann. Praktiſch handelt es ſich dabei beſonders um Conſervirung reſp. Vernichtung ſolcher Keime, welche in I} Kleiderſtoffe aufgenommen, darin feſtgehalten | und auf dieſe Weiſe verſchleppt werden. Stücke verſchiedener Stoffe, und zwar von Wolle, Leinwand und Watte wurden mit ſtark faulenden und nachweisbar bakterien— haltigen Flüſſigkeiten imprägnirt, dann lang— ſam getrocknet und in dieſem Zuſtande längere Zeit ohne Schutz vor etwa ſie treffenden äußeren Einflüſſen (Temperaturver— änderungen, mechaniſchen Erſchütterungen ꝛc.) aufbewahrt. Wurden nun kleine Theilchen davon, ohne daß etwas Weiteres mit ihnen Wernich, Ueber Abſterben und Tödtung der niedrigſten Lebensformen. ringem Maße hervor. Keine Trübung ent— ſtand ferner, wenn man in ganz gleichbe— ſchaffene Löſung verunreinigte Zeugſtücke that, nachdem dieſelben fünf Minuten oder länger einer trocknen Hitze von 125% — 150% . exponirt worden waren. Zuweilen hatte ein nur 1 — 2 Minuten langer Auf- enthalt des inficirten Materials in einer Hitze von 140 — 150 ſchon Abtödtung der Bakterien zur Folge. — Für den Mierococeus prodigiosus liegt die Vernicht— ungstemperatur zwiſchen 68“ und 80 C. trocken: Während mit dieſem Pilz über— wucherte Kartoffelſcheiben, welche dem erſteren Temperaturgrade 10 — 15 Minuten lang im Gasofen ausgeſetzt wurden, noch gutes Impf— material lieferten, waren die bis auf 78“ und 80 erhitzten nicht mehr anſteckungsfähig. In höchſt charakteriſtiſcher Weiſe zeigt ſich dabei gerade bei dieſem Organismus, wie ſchwierig Leben und Tod durch Kennzeichen des äußeren Anſehens zu unterſcheiden ſind: Kaum ſchien die Kruſte, welche beim Erhitzen ſich auf dem rothen Pilzraſen bildet, nach vollkom— mener Abtödtung und nach Einwirkung von 160 und 200 etwas glänzender und glatter als nach der Anwendung ſolcher Hitzegrade, welche die Fortpflanzungsfähigkeit noch nicht alterirt hatten. — Wie trügeriſch die Anwendung höherer Hitzegrade auch bei der Behandlung benetzter Bakterien ſich erweiſen kann, dafür bietet ſich in der ſchon kurz angedeuteten Geſchichte der Urzeugung in Heuaufgüſſen ein klaſſiſches Beiſpiel dar. vorgenommen wurde, in geeignete Nähr- löſungen gebracht, fo entwickelte ſich in'dieſen ausnahmslos ſtarke Trübung, das ſichere Anzeichen einer ſehr kräftigen Vermehrung der in den Stoffen trotz langen Aufbewahrens noch vorhandenen Bakterien. Fäulniß imprägnirte Zeugſtücke riefen dieſe Erſcheinung gar nicht oder nur in ſehr ge— Nicht mit Ungekochtes Heuinfus wird ſchon in kurzer Zeit trübe, und die Trübung bleibt ſo lange beſtehen, bis der Aufguß vollſtändig aus— gefault iſt. Bei mikroſkopiſcher Unterſuchung finden ſich in einer ſolchen Flüſſigkeit die verſchiedenſten Mikrokokken, auch Bacterium termo, Aſkokokkus, Bacillen c. Ganz anders verhält ſich Heuinfus, welches zwar an Wernich, Ueber Abſterben und Tödtung der niedrigſten Lebensformen. 107 gekocht wurde, aber nicht lange einen faſt unbeſiegbaren Widerſtand entgegen— genug, alfo nur etwa 10 — 15 Minuten. ſetzen.“) Wahrſcheinlich find die einzelnen In dieſem find alle anderen Bakterienformen getödtet; nur eine einzige überlebt und iſt im Stande, weitere Entwickelungs— formen durchzumachen, der Bacillus sub- tilis des Heu's. zu kurzen Stäbchen, dieſe in lange, locken— artig ſich an einander lagernde Fäden aus, in dieſen vollkommen auflöſen. Erſt wenn ein Heuinfus entweder 4 — 5 Male hinter einander oder ſtundenlang im Papin'ſchen Topf gekocht wurde, ſind auch die letzten | Bacillen und Sporen getödtet, iſt eine voll- kommene Steriliſirung erreicht. Die ge⸗ meinſame Eigenſchaft aller Bak terien, welche der Hitze gegenüber ſich als ſehr widerftandsfähig er- weiſen, iſt die, Sporen zu bilden. Dies trifft auch für Krankheitsbakterien zu: von dem Milzbrand-Bacillus wiſſen wir“), daß ſeine Entwickelung und Lebensfähigkeit bereits bei etwas mehr als 45 C, aufhören. Seine Sporen wachſen Sporen mit einer ſie vor Hitze ſchützenden öligen oder ſchleimigen Hülle umgeben, ſie beſitzen auch gegen ſehr niedrige Temperaturen eine große Reſiſtenz: — 871,06. waren nicht im Stande, die Sporen von Bacillus subtilis keimunfähig zu machen. Durch die zur Tödtung ungenügenden hohen und nie— welche nach weiteren 24 Stunden in Form von Häuten und Flocken an der Oberfläche erſcheinen, in ſich Sporen bilden und ſich Dagegen ſind die von ihm gebildeten Sporen ebenfalls höchſt widerſtandsfähig und zwar ſowohl im trocknen als im benetzten Zuſtande. Es ſcheinen uns daher die von Naegeli gegen die unfehlbare Wirkung der Hitze mit Recht erhobenen Bedenken einer Nevi- ſion zu bedürfen. Nicht ob die Hitze auf naſſe oder auf trockne Bakterien angewendet wird, begründet den Erfolg oder das Fehl— ſchlagen ihrer Anwendung, ſondern die Be— ſchaffenheit der Bakterien ſelbſt. Die der Sporenbildung entbehrenden Arten werden auch durch trockne Hitze mühelos getödtet, während die Sporen der Wärmeeinwirkung ) Koch, Aetiologie der Milzbrandkrank⸗ heit in Cohn's Beitr. z. Biol. d. Pfl. II, 293. drigen Temperaturen werden bei manchen Bakterien Formen eines eigenthümlichen Halblebens, ſogenannte „Dauerzuſtände“ erzeugt, deren gelegentlich der Aushungerung der Bakterien ſogleich zu gedenken ſein wird. Die eben beſprochene Reſiſtenz gegen die dem höheren Leben ſo feindlichen extremen Temperaturen in Verbindung mit der be— kannten Berechnung, nach welcher in wenigen Tagen der ganze Ocean mit Bakterien er— füllt ſein könnte, rechtfertigt anſcheinend die Beſorgniß ängſtlicher Gemüther, daß unter Umſtänden dieſe Weſen beſtimmt ſein dürften, alles übrige Leben von der Erde zu verdrängen. Doch hält vor allem ſchon die Concur— renz anderer niederer Weſen die Vermehrung jeder Bakterienart in Schranken. Naegeli hat das große Verdienſt, dem Kampfe um's Daſein die Bedeutung geſichert zu haben, welche ihm unter den Lebens- und Sterbedingungen der niederen Pilze ge— bührt.**) In neutral reagirenden zucker— haltigen Nährlöſungen, in denen Spalt-, Sproß⸗ und Schimmelpilze angeſiedelt werden, gedeihen nur die erſteren. Wird aber der gleichen Löſung ½ pCt. Weinſäure hinzu— geſetzt, fo gewinnen die Sproßpilze, wird der Weinſäuregehalt auf 4 — 5 PCt. ver— mehrt, ſo gewinnen die Schimmelpilze die Oberhand. Aber auch noch niedrigere Orga— * Vgl. Cohn, Beiträge zur Biologie der Bacillen. Ebenda II, 249. *) Naegeli, a. a. O. S. 31. ee. Wernich, Ueber Abſterben und Tödtung der niedrigſten Lebensformen. 108 nismen haben wir unter einander um den Nährboden kämpfen und ſiegen oder unter- Wird z. B. unſer Miero- liegen geſehen. coceusprodigiosus nicht ſpäteſtens am vierten Tage nach ſeiner Uebertragung auf der von ihm in Beſitz genommenen Kartoffelfläche durch Eintrocknen fixirt, ſo beginnt ein ſchleimig-klebriger hell wachsgelber Ueberzug von den nicht durch den Micrococeus be- ſetzten Stellen aus ſich über die ganze Fläche zu verbreiten. Derſelbe beſteht aus reinem Bacterium termo, welches in 48 — 60 Stunden ſo ſiegreich vordringt, daß es die rothen Stellen vollkommen unſichtbar macht; die ganze Oberfläche des Kartoffelſchnittes | wird nun von dieſer gelben, ſchmierigen Maſſe | bedeckt, in welcher die rothen Mikrokoffen- | feime ſchnell untergehen. Aber noch andere Concurrenten haben ſich inzwiſchen oder ſchon vorher eingefunden: Mierococcus can- didus und aurantiacus ueben der häufigſten Schimmelform, dem Penicillium glaucum, erobern ſich Stellen des Nährbodens und drängen den urſprünglichen Beſitzer von demſelben ab. So wird eine Species, welche bei ihrer rapiden Vermehrungsfähigkeit alle disponirten Flächen zu ergreifen und über— hand zu nehmen drohte, verdrängt und ver— tilgt von Nachfolgern, welche das bereits veränderte Nährmaterial noch beſſer für ſich zu verwerthen wiſſen. Ohne Bakterienernährung keine Bak— terienvermehrung. Zu den beſten Nähr— ſtoffen, welche das Wachsthum und die Ver— vielfältigung der Spaltpilze ermöglichen, gehört unter den ſtickſtoffloſen Subſtanzen der Zucker, unter den ſtickſtoffhaltigen die den Albuminaten am nächſten ſtehenden, durch Membranen durchgehenden Verbindungen, außerdem von Mineralſtoffen beſonders Kali, Phosphor, Magnefia und Schwefel. Iſt einer der Nährſtoffe, ſei es auch der in geringſter Menge erforderliche, verbraucht, oder iſt einer im unverhältniß mäßigen Ueberſchuſſe vorhanden, ſo treten Stillſtände in der Entwickelung — noch nicht Tödtung — der meiſten Bakterien ein. — Ganz ähn— lich wirkt die Entziehung des Waſſers. Ob— gleich es als Träger der Nährſtoffe und auch für die Bakterien als Vermittler aller chemiſchen Proceſſe anzuſehen iſt, hat Ein— trocknung doch ebenfalls nur das Ueber— gehen in „Dauerzuſtände“ zur Folge. Die— ſelben ſind aufzufaſſen als vollkommener Stillſtand des Stoffwechſels und der Ver— mehrungsthätigkeit, als ein Stillſtand, der unter weiteren ungünſtigen Umſtänden in wirklichen Tod, durch Zuführung von Waſſer oder von neuen Nährſtoffen dagegen in neues thätiges Leben übergehen kann. Ein Beiſpiel hierfür bieten unſere vorerwähnten Verſuche mit den in Zeugſtoffe aufgenommenen Bakterien. — Das Vermögen einzutrocknen und wieder aufzuleben, kommt den niederen Pilzen um fo mehr zu und confervirt fie um ſo länger, je kleiner und je niedriger organiſirt ſie ſind. Bei Einigen läßt ſich dieſer Zuſtand makroſkopiſch von dem aktiv belebten Zuſtande und mikroſkopiſch von un— organiſirtem Material unterſcheiden; Andere ſtellen ausgetrocknet und im Dauerzuſtande nur amorphe Kruſten dar, an denen man keine Spur der Lebensfähigkeit entdecken kann. — Daß für praktiſche Zwecke wir uns nur ſehr bedingt mit der bloßen Ein— trocknung und der dadurch bewirkten Ver— änderung der Bakterien begnügen dürfen, daß wir vielmehr principiell die Tödtung der Organismen als das wirkliche Ziel jedes Desinfektionsbeſtrebens aufrecht erhalten müſſen, beweiſen die Verſuche über Milz— brandbacillen. Dieſe ſelbſt können ſich zwar in dauernd trocknem Zuſtande nur kurze Zeit lebensfähig erhalten und vermögen weder * Wernich, Ueber Abſterben und Tödtung der niedrigſten Lebensformen. im Boden auszudauern, noch den wechſelnden Witterungsverhältniſſen Widerſtand zu lei— ſten; dagegen dauern die Sporen in kaum glaublicher Weiſe aus. Weder jahrelange Trockenheit, noch monatelanger Aufenthalt in fauler Flüſſigkeit, noch wiederholtes Ein— trocknen und Anfeuchten vermag ihre Keim— fähigkeit zu ſtören. Wenn ſich dieſe Sporen erſt einmal gebildet haben, iſt hinreichend dafür geſorgt, daß der Milzbrand auf lange Zeit in einer Gegend nicht erliſcht.“) Die ſehr trügeriſchen Effekte der Waſſer— entziehung werden bei weitem durch die 109 keit und tragen zur Verbreitung des Milz— brandes nur ausnahmsweiſe bei. Alle Bemühungen, Milzbrandbacillen in deſtillir— tem Waſſer oder Brunnenwaſſer zur Fort— entwickelung und Vermehrung zu bringen, ſchlagen conſtant fehl. Auch von den Peſt— keimen iſt in glaubwürdiger Weiſe behauptet worden, daß ſie im Waſſer zu Grunde gehen. Mangel an Licht beeinträchtigt die Bakterien, ſelbſt die Farbſtoffe bildenden Mikrokokken — in ihrer Lebensthätigkeit nicht; die Einwirkungen der Elektricität Wirkung des Waſſerüberſchuſſes über- troffen. Die ſehr ſtarke Verdünnung einer Nährlöſung oder reines Waſſer führt in kurzer Zeit den Untergang der Spaltpilze herbei und muß ſonach als vorzügliches Tödtungsmittel angeſehen werden. Legt man gut entwickelte, feuchte Culturen von Micrococeus prodigiosus 20—36 Stunden lang in kaltes Waſſer, ſo zeigen fie noch einen leichten pfirſichfarbenen Anflug, in welchem fortpflanzungsfähige Keime nicht mehr ent— halten ſind; die ſo behandelten Stücke blieben auch unter den günſtigſten Brutverhältniſſen ſteril und geſtatteten keine wirkſame Ver— impfung. Der im Waſſer zu Boden ge— ſunkene, leicht roſafarbene Schlamm enthält ebenfalls keine impffähigen Keime mehr. Die Auflöſung der Mikrokokkuskörnchen durch Waſſer läßt ſich auch unter dem Mi— kroſkop direkt beobachten. — Auch andere Pilzformen, beſonders, ſoweit dies bisher direkt ermittelt werden konnte, Krankheits— pilze, können nur ſehr kurze Zeit ihre eigen— artige Beſchaffenheit und Lebensthätigkeit im Waſſer bewahren. Mit Milzbrandba— cillen ſtark verunreinigte Maſſen, welche in Waſſer gelangen und dort ſtark verdünnt werden, verlieren ſehr bald ihre Wirkſam— 9 Koch, a. a. O. S. 303. | 0 ſind noch zu ſparſam erforſcht, um an dieſer Stelle erörtert zu werden. Welche Bedeutung die Entziehung der Luft für die Erhaltung oder Zerſtörung des Bakterienlebens habe, iſt nicht ohne Schwierigkeiten feſtzuſtellen. Schon gegen die Verſuche von Spallanzani und vom Grafen Appert hat man eingewendet, daß in den zugeſchmolzenen Kölbchen und Blech— büchſen nicht die Abhaltung der Bakterien der Grund des Ausbleibens der Fäulniß ſei, daß dieſelbe vielmehr da nicht zu Stande kommen könne, wo der Zutritt von Sauer— ſtoff unmöglich ſei. Man war hiernach geneigt, die Entziehung des Sauerſtoffs als ein ſehr wirkſames Mittel zur Bakterien— tödtung zu empfehlen. Dieſe Anſchauung erweiſt ſich nach neueren Ermittelungen als irrig. Der Sauerſtoff der Luft fördert zwar das Wachsthum der niederen Spalt— pilze ungemein, kann aber auch von ihnen ent— behrt werden. Der Zutritt der Luft als ſolcher hat wahrſcheinlich eine andere Be— deutung — die der Ventilation der Eultur- Apparate. In Stickſtoff, Waſſerſtoff, Kohlen— oxyd, Kohlenſäure, Stickoxydul und Leucht— gas ſollen Fäulnißbakterien ſich nicht ent— wickeln können!). ) Vgl. Paſchutin, Cbl. f. d. med. Wiffen- ſchaft 1874, 698. — Z 110 Die Erwähnung der noch nicht geſchloſſe— nen Discuſſion über die Frage, „ob die Luft vermöge ihres Sauerſtoffgehaltes als Nahrungsmittel der Bakterien aufzufaſſen ſei, oder ob ſie nur durch Aufnahme, Verdünnung und Fortführung der den Bakterien ſchädlichen Gaſe das Bakterien— leben begünſtige“ — führt uns zu dem wichtigen Thema von den Bakteriengiften. Conſtatiren wir zunächſt, daß es eine Reihe von Stoffen giebt, denen kein Bakterien— leben wiederſtehen kann. Die concentrirten Mineralſäuren (Salpeterſäure, beſonders rauchende, Salzſäure, Schwefelſäure und ſchweflige Säure, Borſäure), ferner Jod, Brom und Chlor, Kupfer- und Zinkvitriol, Sublimat, Benzoéſäure und ihre Salze, Salicylſäure und Methylſalicylſäure, Chinin und viele aromatiſche Subſtanzen (Thymol, Carvol, Eucalyptol, auch aromatiſche Oele) endlich der Alkohol und viele andere waren als bakterientödtende Mittel mehr oder weni— ger lange bekannt. Syſtematiſche Unter— ſuchungen über die desinficirende Kraft der einzelnen Subſtanzen haben allerdings gelehrt, daß dieſelbe eine ſehr verſchiedene iſt, daß beiſpielsweiſe die des Alkohols zu der das Sublimats ſich verhält wie 1:400. Allen anderen von Zeit zu Zeit empfohle— nen Subſtanzen gegenüber hatte aber das Phenol, die Carbolſäure, ihren hohen Rang als Antiſepticum und Desinficiens ſiegreich behauptet. Ihre Billigkeit, die Bequemlichkeit ihrer Anwendung, die un— zähligen Erfolge, die durch ſie bei der anti— ſeptiſchen Wundbehandlung erzielt wurden, ſcheinen ihr die Eigenſchaft des vorzüglich— ſten Bakteriengiftes zu ſichern. Es war alſo von nicht geringem Intereſſe für ge— wiſſe biologiſche Verhältniſſe der Bakterien, als dieſe nämliche Subſtanz, das Phenol, von E. Baumann unter den Produkten der Wernich, Ueber Abſterben und Tödtung der niedrigſten Lebensformen. Eiweißfäulniß entdeckt wurde, als ein Er— zeugniß deſſelben Bakterienlebens, zu deſſen Vernichtung ſie in ſo aus— gedehntem Maße und mit ſo einzig daſtehendem Erfolge benutzt worden war”). Zwar ſtand die Thatſache nicht ohne Parallele da. Als Produkt der Hefe— gährung iſt trotzdem der Alkohol friſchen Gährungspilzen enorm feindlich; von vorn— herein mit Alkohol verſetzte Zuckerlöſungen bleiben bei Zuſatz von Hefe nicht allein unverändert, ſondern es ſterben auch die Hefezellen ſchleunigſt darin ab. War aber trotzdem ſchon die Conſtatirung der ana— logen Thatſache bei der Fäulniß intereſſant genug, ſo ſchien ſie ganz beſonders geeignet, auf das ſpontane Abſterben der Bak— terien in ſtark faulenden Nährflüſſigkeiten, das ſogenannte „Ausfaulen“, ein neues Licht zu werfen. Das lebhafte Intereſſe, welches die phyſiologiſch-chemiſche Forſchung neuerdings dem Stoffwechſel der Bakterien zuwendet, hat inzwiſchen eine große Reihe wohlcharak— teriſirter Subſtanzen ermittelt, welche ſümmt— lich unter der Betheiligung der Bakterien als Produkte der Eiweißfäulniß entſtehen. Schon die aromatiſche Natur der Phenyl- propionſäure (Hydrozimmtſäure), der Phenyl eſſigſäure, des Indols, Scatols und Kre— ſols legte es nahe, dieſe Stoffe auf die Frage zu unterſuchen, ob ſie nicht anderen, früher erprobten aromatiſchen Bakteriengif— ten — der Benzosſäure, Salicylſäure, Zimmtſäure, Kreſotinſäure — an die Seite zu ſtellen wären. Wirkten ſie auch nur annähernd wie dieſe, ſo war das ſpontane Abſterben der Bakterien in noch nicht er— ſchöpften Nährlöſungen, wie man es von Alters her beobachtet hatte, dem Verſtänd— niß ſehr viel näher gerückt und außerdem ) Zeitſchr. f. phyſiol. Chemie I. S. 64. — m m m ——— mul > Wernich, Ueber Abſterben und Tödtung der niedrigſten Lebensformen. I die Zahl der Bakteriengifte nicht unweſent- in denen jene Gifte allein ihre Wirkſamkeit lich vermehrt. | entfalten. Das letztere Beſtreben ſchien allerdings Ein entſcheidender Beweis für die ſpe— einigermaßen entwerthet durch einige Aus- cifiſch bakterienwidrige Natur der aromati— ſprüche Naegeli's. Er meint*): „Die ſchen Fäulnißprodukte ſchien mir endlich im Waſſer löslichen Stoffe, die nicht als Nahrung dienen, ſpielen eine wichtige Rolle im Leben der niederen Pilze. Wahrſchein— lich können wir von allen — mit Aus nahme des Sauerſtoffs — ſagen, daß ſie das Wachsthum und die Hefewirkſamkeit der Pilze durch ihre Anweſenheit ſchwächen, alſo eigentlich wie Gifte wirken und zwar um ſo mehr, in je größerer Menge | fie vorhanden find.” — Jedoch ſcheint bei | dieſen Bemerkungen in keiner Weiſe zur Berückſichtigung gekommen zu fein, daß zu nächſt die Schwächung der normalen Lebens— Nahrungsſtoffe nur ſehr allmählich erfolgt. Setzt man z. B. Magnesia sulfurica, Na- tron carbonicum, Kali carbonieum, Chlor— calcium, Tannin und andere Subſtanzen den Nährlöſungen zu, ſo iſt eine nachtheilige Wirkung auf die darin befindlichen Bakterien erſt nach längerer Zeit zu conſtatiren, wäh— rend eine wirkliche Tödtung wohl über— haupt kaum erfolgt. Die eventuelle Ein— wirkung ſolcher Stoffe iſt eben gar nicht zu vergleichen mit dem Effekt wirklicher ſpeci— fiſcher Antiſeptica. Wir wiſſen ferner, daß bei der Fäulnißzerſetzung im Darm eine Unmaſſe von Bakterien ſich bis zur defini— tiven Beendigung des Verdauungsvorganges lebend erhält. Wäre die Anweſenheit frem— der Subſtanzen, die doch im Darm ſo maſſen— haft auftreten, ein mit den ſpecifiſchen Bak— teriengiften gleichwertiges Mittel zur Tödt— ung, fo müßte hier eine ſolche viel ſchneller als in ausfaulenden Flüſſigkeiten erfolgen, 5 ) Naegeli, a. a. O. S. 29. durch ihre ſyſtematiſche Durchprüfung er— bracht werden zu können. — Bon bafterien- tödtenden Mitteln verlangen wir (ſpeciell in Bezug auf die Fäulniß): 1) Daß Subſtanzen, welche zur Ent— wickelung von Fäulnißbakterien ſehr ge— eignet ſind, davon frei und unverändert bleiben, wenn man ihnen ein ſolches Bak— teriengift zuſetzt; 2) daß lebenskräftige Bakterien, welche in eine mit dem Bakteriengifte verſetzte Nährlöſung verpflanzt wurden, ſich nicht fortpflanzen und ſpurlos abſterben; thätigkeit der Bakterien durch beliebige lös— | liche Subſtanzen oder durch überſchüſſige 3) daß in einer größeren Bakterien- colonie (Fäulnißmiſchung) alle lebensfähigen Exemplare durch den Zuſatz des Bakterien— giftes getödtet werden. Die erwähnten aromatiſchen Subſtanzen entſprechen dieſen Anforderungen vollkommen. Zu einer bei 35% C. aufgeſtellten Miſch— ung von Waſſer und gehacktem Fleiſch ge— ſetzt, halten ſie die Fäulniß tage- und wochenlang auf; — einer erprobten Nähr— löſung hinzugefügt, machten ſie dieſe unfähig, Bakterien am Leben zu erhalten und zur Vermehrung anzuregen; — von Fäulniß— organismen wimmelnde Miſchungen endlich wurden durch Zuſatz der aromatiſchen Fäul— nißſubſtanzen in der Weiſe verändert, daß die daraus veranſtalteten Impfungen ſich bei bakterioſkopiſcher Prüfung vollkommen unwirkſam, alſo mit todten Bakterien an— geſtellt, erwieſen. Betreffs der Details auf unſere oben citirte Specialabhandlung verweiſend, geben wir nachſtehend die Anordnung der Sub— ſtanzen je nach der Stärke ihrer — nach ö 112 der einen oder anderen Seite entfalteten — Wirkſamkeit. Es wirkten fäulnißverhindernd: kreſol in einem Löſungsverhältniß v. 21000; Phenyleſſigſäure in einem Löſungsverhält— niß von 2,5:1000; zimmtſäure konnte dieſe Wirkung wegen ihrer beſchränkten Löſungsfähigkeit in Waſſer nur unvollkommen erreicht werden). Eine aſeptiſche Wirkung — Ab— tödtung der verpflanzten Organismen durch Vergiftung der Nährflüſſigkeit — erzielten: Scatol in einem Löſungsverhältniß von 0, 4.1000; Hydrozimmtſäure in einem Löſungsverhält— niß von 0,6:1000; Indol in einem Löſungsverhältniß von 0,6:1000; Kreſol in einem Löſungsverhältniß von 0,8:1000; Phenyleſſigſäure in einem Löſungsverhält— niß von 1,2:1000; Phenol in einem Löſungsverhältniß v. 5:1000. Eine direkt antiſeptiſche Wirkung — Abrödtung ganzer lebender Bakterien— colonien bis zur Vernichtung aller Exem— plare — übten aus: Scatol zu 0,5 auf 1000 Fäulnißmiſchung in 24 Stunden; Hydrozimmtſäure zu 0,8 auf 1000 Fäul- nißmiſchung in 24 Stunden; Phenyleſſigſäure in überſättigter Löſung (1400) ſofort; Indol in überſättigter Löſung (1: 900) in 24 Stunden; Kreſol zu 5 auf 1000 Fäulnißmiſchung in 24 Stunden; Phenol zu 20 auf 1000 Fäulnißmiſchung ſofort. RL Wernich, Ueber Abſterben und Tödtung der niedrigſten Lebensformen. In dieſer Ueberſicht fallen zwei Punkte auf. Einmal die Verſchiedenheit der Gift— mengen, welche zur Erzielung der aſeptiſchen Indol in einem Löſungsverhältniß v. 11000; und der antiſeptiſchen Wirkung erforderlich ſind; wir kommen auf dieſes intereſſante Verhältniß am Schluſſe unſerer Darſtellung zurück. Andererſeits erſcheint es befremdend, Phenol in einem Löſungsverhältniß v. 51000. (Seitens des Skatols und der Hydro- daß das Phenol, das beliebteſte unter den genannten Antiſepticis, das ſchwächſte zu ſein ſcheint. Es gleicht jedoch dieſe Schwäche durch ſeine ſtärkere Löslichkeit vollkommen aus; während einzelne der anderen Sub— ſtanzen die geringſten Grade von Löslichkeit in Waſſer beſitzen (Scatol löſt ſich, wenn es chemiſch rein iſt, kaum in 2000 Theilen Waſſer), iſt das Löſungsverhältniß des chemiſch reinen Phenols bekanntlich 1:20. Auch wenn zur Gährung aufgeſtellte Zuckerlöſungen mit unſeren Subſtanzen ver— miſcht wurden, zeigte ſich eine deutliche Be— einträchtigung des Gährungsvorganges und eine den vorſtehenden analoge Abſtufung der Wirkungsſtärke, nämlich die Reihenfolge: Scatol, Hydrozimmtſäure, Indol, Phe— nyleſſigſäure, Kreſol, Phenol. Vermöge dieſer Conſtanz in Wirkung und Anordnung erweiſen ſich die aromati— ſchen Fäulnißprodukte als Bakteriengifte im engeren Sinne und ſtellen ſich in die Reihe der ſpecifiſch bakterientödtenden Mittel — gegenüber den der Entwickelung ungünſtigen Subſtanzen Naegeli's. Sie gewinnen aber hinſichtlich ihrer Stellung zum Abſterbevor— gang der Organismen in älteren Fäulniß— miſchungen noch eine erhöhte Bedeutung durch ſehr ſorgfältige und überzeugende neuere Verſuche von Nencki über die Be— deutung des Luftzutritts zu ſolchen Miſch— ungen. Es gelang dieſem Forſcher, Bak— teriencolonien in Leben und Thätigkeit zu erhalten, ohne daß ſie Sauerſtoff empfingen, wenn nur dafür geſorgt wurde, daß eine — r Abfuhr der Stoffwechſelprodukte ſtattfand. Häuften dagegen dieſe ſich an, ſo war, ob mit, ob ohne Sauerſtoffzuführung, der Er— folg des baldigen Abſterbens der Organis⸗ men ſtets der gleiche.“) Es darf nach alle Dieſem die Thatſache, plötzlich mit ihnen in Berührung gebrachte daß die Fäulnißbakterien durch ihren eigenen Stoff wechſel wahre Bak— teriengifte von großer Wirkſam— keit erzeugen, wohl als bewieſen gelten. Der Gedanke, daß auch die Krankheits— bakterien durch Gifte, die ſie ſelbſt während ihres Wachsthums und ihrer Vermehrung erzeugen, in einem gewiſſen Zeitraum ihren Untergang finden, iſt von Seiten der Logik | geradezu eine Forderung, denn ohne ihn läßt ſich der cykliſche Verlauf mancher In- Mag fektionskrankheiten nicht begreifen. man immerhin für das Krankheitsbild im beſonderen Falle den Widerſtand, den die lebenden Zellen den eindringenden Krank— heitsbakterien entgegenſetzen, die verſchiedene Miſchung der Säfte, Eigenthümlichkeiten der Conſtitution ꝛc. zur Erklärung heran— ziehen und in den Vordergrund ſtellen: manche Infektionskrankheiten, ſo Scharlach, Maſern, das Rückfallfieber, die Blattern — kurz diejenigen, bei denen man grade am meiſten an Bakterienentſtehung zu denken berechtigt iſt, verlaufen ſo typiſch, in einem ſo beſtimmt der Zeit nach abgemeſſenen Zirkel, daß man im mer und immer wieder auf Beding— ungen, die im Krankheitsgifte ſelbſt liegen, hat zurückkommen müſſen. Welche wahrſcheinlicheren Bedingungen dieſer Art wären auch nur zu erſinnen, als die— jenigen, welche wir bei den der Erforſchung beſſer zugänglichen Bakterienarten als Ur— ſachen des Abſterbens conſtant und unzweifel— haft nachgewieſen haben? ) Journ. f. prakt. Chemie 1879. Mai-Heft. Wernich, Ueber Abſterben und Tödtung der niedrigſten Lebensformen. | 113 Ein letztes, nicht unintereſſantes Faktum bietet ſich dar in der bereits markirten Ver— ſchiedenheit, mit welcher die Bakteriengifte — nicht nur die von uns unterſuchten, ſondern wohl alle — ihre Wirkungen auf und auf längere Zeitan ſiegewöhnte Bakterien ausüben. Aeußerſt kleine Zuſätzs unſerer Gifte machen das Eindringen und die Vermehrung kräftiger Bakterien in neuen Nährflüſſigkeiten unmöglich. Dop— pelte, vierfache und oft noch größere Mengen ſind erforderlich, um den Bakterien auf dem Nährboden beizukommen, welchem ſie ſich bereits längere Zeit adaptirt haben. Zum Schaden jeder klaren Einſicht in wirk— lich bakterientödtende Vorgänge, hat man die Widerſtandskraft, welche die meiſten Bakterienarten durch Anpaſſung an ihren Nährboden ſich erwerben, bis jetzt ſehr vernachläſſigt. Ob es jemals gelingen wird, für dieſe erworbene Fähigkeit einen Ausdruck in der Geſtalt und Organiſation der Bakterien wirklich nachzuweiſen, ob der Gunſt oder dem Druck der Lebensver— hältniſſe folgend, jede Species der Spalt— pilze bald als Mierococcus, bald als Bac- terium oder Spirochaete auftreten kann — hat bis jetzt außer dem Bereich des exakten naturwiſſenſchaftlichen Beweiſes gelegen. Dagegen aber, daß die Fähigkeit dieſer niedrigſten Organismen, ihr Leben feſtzu— halten und ihre Lebensthätigkeit auszu— üben, mit der Accommodation an ihre äuße— ren Umgebungen bis zu einer gewiſſen Höhe wächſt, daß ſie in fremden und dürftigen Bedingungen einen großen Theil ihrer Lebenszähigkeit einbüßen und den auf ſie eindringenden Schädlichkeiten ſchnell unter— liegen, daß ſie alſo einer phyſiologiſchen Entwickelung fähig ſind, dagegen dürfte ein berechtigter Widerſpruch kaum erhoben werden. Kosmos, III. Jahrg. Heft 8. 15 Achühende Aehnlichkeit einheimiſcher Infehten. Unter Benutzung von Beobachtungen des Dr. A. Speyer in Rhoden Inſektenwelt den Stengel nach— ah menden Bactria- und Phasma- Arten der Tropen ebenbürtige Beiſpiele aufzuweiſen; indeſſen bietet unſere Nadelſcorpionwanze, Ranatra linearis, wenigſtens eine ſehr bemerkens— werthe niedere Ausbildungsſtufe derſelben ſchützenden Aehnlichkeit dar. Wenn ihr 30 — 40 mm langer, kaum 3 mm dicker, faſt cylindriſcher, ſchmutzig braungrauer Leib, mit dem etwa eben ſo langen dünnen Athem— rohre am Ende, von den wie dünne, ge— knickte Stäbchen ausſehenden langen Beinen langſam und ſteif über den Boden des Waſſers hin bewegt wird, ſo gleicht er eher einem vom Waſſer bewegten, mit dünnen Zweigen verſehenen Stengelſtück, als einem lebenden Weſen. Unſer Nadelſcorpion kann daher, ähnlich wie eine blattähnliche Fang— heuſchrecke (Mantis), die mein Bruder Fritz Müller mir aus Südbraſilien ſchickte, durch täuſchende Aehnlichkeit vor dem Erkennen ie von 4 Dr. Sermann Müller. (Schluß.) geſchützt, ungeſehen und ungefürchtet auch ſolche Opfer überfallen, die ſich ihm ſonſt leicht durch raſche Flucht entziehen würden. Eine vielleicht noch tiefere Stufe derſelben Art von ſchützender Nachahmung ſtellt unſer Waſſerſcorpion (Nepa einerea) dar, der in ſeinen langſamen, ſtarren Bewegungen dem Nadelſcorpion gleicht, in ſeiner Form aber einigermaßen einem ſchlammbedeckten Blatte ähnelt. Zu den vollendetſten Beiſpielen ſchützender Aehnlichkeit einheimiſcher Inſekten gehören unſtreitig die dürren Aſtſtücken glei— chenden Eulen und Spinnen und die lebenden Zweigen gleichenden Spanner- raupen. Weit über ein Jahrhundert, ehe noch von Naturausleſe die Rede war, wurde dieſe Aehnlichkeit und ihre biologiſche Be— deutung von unſerem ſcharfbeobachtenden Landsmanne, dem Miniaturmaler A. J. Röſel in Nürnberg), klar erkannt und fo =) Der monatlich herausgegebenen In— ſekten-Beluſtigung, Erſter Theil von Auguſt Johann Röſel, Miniatur-Mahlern. Nürnberg —— Müller, Schützende Aehnlichkeit einheimiſcher Inſekten. vortrefflich beſchrieben und abgebildet, daß ich es für meine Pflicht halte, auf dieſen faſt in Vergeſſenheit verſunkenen hervor— ragenden Forſcher als den erſten Entdecker der Mimicry nachdrücklich hinzuweiſen. Ich gebe zur Begründung dieſer Behauptung, ſo getreu als es mir ohne Anwendung von Farben möglich iſt, nur in etwas verän— derter, wie mir ſcheint, wirkſamer täuſchenden Stellung, ſeine Abbildung der Calocampa exoleta im Ruhezuſtande hier wieder und laſſe ſeine Beſchreibung in unverändertem Wortlaut folgen. Fig. 1. Calocampa exoleta. „Ich habe dieſe Figur verfertigt,“ ſagt Röſel 1746, „um dadurch die ungewöhn— liche Poſitur dieſer Papilions, wann ſie ruhig ſitzen, vorzuſtellen. Sie ziehen nemlich ihre Füße und Fühlhörner unter die Flügel. Ihre ſchmalen Oberflügel ſchlieſſen ſie der— maſſen knapp an den Hinterleib an, daß dieſer davon faſt um und um bedeckt wird. Die Unterflügel können ſie deswegen wol darunter verbergen, weil ſich dieſe, ſobald der Vogel die Oberflügel ſchlieſſen will, von ſelbſten in Falten legen, wie ein Sonnen— fächer, welche Eigenſchaft man an den Flügeln 1746. Tab. XXIV. Fig. 5. Beſchreibung der Mimicry. S. 152. § 8. 115 der meiſten Nachtvögel beobachtet. Die wunderliche Geſtalt unſeres gegenwärtigen Papilions verwahret ihn wider viele Nach— ſtellungen: Denn, wann er des Tages gleich frey an den Stämmen der Bäume hänget, ſo ſiehet man ihn zehenmal eher für ein Stücklein Baumrinde, als für eine lebendige Creatur, an. Er iſt auch bey Tage ſo un— empfindlich, daß er, wann man ihn ohngefähr von ſeiner Ruheſtatt herabwirft, als leblos zu Boden fällt, und ohne einige Bewegung liegen bleibet. Mag man ihn gleich in die Höhe werfen, oder hin und her kehren, ſo wird er ſelten ein Anzeigen des Lebens von ſich geben. Ich habe ihrer viele davon mit Nadeln angeſpiſſet, ohne das mindeſte Merk— mal einer Empfindlichkeit hierüber an ihnen zu ſpüren. Um ſo viel merkwürdiger aber iſt es, daß dieſe Vögel, nachdem ſie bey allen Plagen und Drangſalen, die man ihnen angethan hat, unempfindlich geſchienen haben, ſobald man ſie in Ruhe läſſt und ſie nichts widerwärtiges mehr zu befürchten haben, ſchnell nach einem finſtern Winkel kriechen und ſich wider künftige Anfälle zu verbergen ſuchen.“ Wer die heutigen entomologiſchen Bücher und Sammlungen durchmuſtert, in denen faſt durchgängig die Schmetterlinge mit gleichmäßig unnatürlich auseinandergebrei— teten Flügeln dargeſtellt werden und ihre natürliche Haltung und die biologiſche Be— deutung derſelben nicht die mindeſte Be— achtung findet, wird gewiß meiner Anſicht zuſtimmen, daß noch heute den meiſten Le— pidopterologen die mitgetheilte Beſchreibung Röſel's als Vorbild vorgehalten zu werden verdient. Eine kaum minder täuſchende Aehnlich— keit mit einem dürren Aſtſtücke bietet der bekannte Lindenſpinner dar, über welchen ſich Dr. Speyer in folgenden Worten äußert: 2 — 116 „Das ſchönſte Beifpiel von Mimiery — wenn man dieſen Ausdruck auf die Nach— ahmung lebloſer Dinge ausdehnen will — unter unſeren einheimiſchen Schmetterlingen bleibt mir immer Phalera Wenn er mit den eng um deu Körper ge— rollten Flügeln auf der Erde ſitzt, ſtellt er das Bild eines entſprechend dicken und langen, an beiden Enden abgebrochenen, dürren Eichen— äſtchens in unübertrefflicher Treue dar. Die beiden Bruchflächen werden durch die leb— haft holzgelben, dunkel gerandeten und ge— wölkten, beim Sitzen zuſammenſtoßenden Flügelſpitzen einerſeits und den ebenſo ge— färbten Kopf und Thorax andererſeits re— präſentirt, die Rinde dazwiſchen durch die ſilbergraue, dunklergrau ſchattirte, gewellte, etwas rauhſchuppige Fläche der Vorderflügel. bucephala. Da er die Rolle eines Aeſtchens zu ſpielen hat, ſo ruht er faſt immer auf der Erde, nicht an Stämmen und dgl. und ſtellt ſich todt; man kann ihn mit der Nadel durch— bohren, ohne daß er ſich rührt“. „Die Zahl der Spannerraupen, welche Zweigen ihrer Nahrungs— pflanzen täuſchend ähnlich ſehen, iſt Legion; man kann dies geradezu als die Regel anſehen. Vor Allem ſind hier die rindenfarbigen, mit allerlei Hautaus— wüchſen, Höckern, Warzen oder Spitzen be— ſetzten Baumraupen der Gattungen Eugonia, Selenia, Boarmia etc. zu nennen. Die Aehnlichkeit paßt ſich dabei gerade der Nahr- ungspflanze an, welche die Raupe bewohnt. So gleicht die Raupe von Eugonia erosaria auf's Täuſchendſte einem kleinen, gelb— braunen, unebenen Eichenäſtchen (ſie lebt nur auf Eichen); ſie hat, wie ſolche, ſtärkere Höcker als alle übrigen. Die auf Birken und Erlen lebende Eugonia alniaria L. (tiliaria Bkh.) iſt, den Zweigen ihrer Nahrungspflanzen entſprechend, ſchlanker und Müller, Schützende Aehnlichkeit einheimiſcher Inſekten. Fig. 2. Raupe eines Spanners, Eugonia alniaria, nach Röſel. glatter, ihre Höcker minder zahlreich und ſtark, die Farbe meiſt rothbraun, weißlich und grau gemiſcht. Ebenſo iſt die auf Buchen lebende Raupe von Eugonia quer- cinaria Hfn. (angularia W. V.) ſchlank und der Alniaria ähnlich, doch lichter ge— färbt, braun und grau gemiſcht, mit minder ſtarken Auswüchſen als Erosaria. Die Quereinaria- Raupe iſt übrigens (wie die der Bug. fuscantaria, nach Snellens Beob— achtungen) dimorph: neben der gewöhn— lichen braunen, höckerigen kommt ſelten eine ganz oder faſt ganz höckerloſe Form vor, von Farbe einfach gelbgrün, mit verloſchenen gelben Längslinien, alſo den Blattſtielen und jüngeren Zweigen der Buche angepaßt. So unähnlich dieſe beiden Raupenformen, ſo völlig gleich find deren Schmetterlinge. Mittelformen zwiſchen den Raupenvarietäten fehlen nicht ganz, ſind aber Ausnahmen. Die drei Selenia-Arten (Tetralunaria Hfn., Lunaria W. V. und Illunaria H.) find nicht minder gute Copien von kleinen Zweigen ihrer Nahrungspflanzen und großem Wechſel unterworfen, da ſie ſämmtlich polyphag ſind. E ˙ — wu ü -w ee ee I Müller, Schützende Aehnlichkeit einheimiſcher Inſekten. 117 9 Alle dieſe und, ſo viel ich mich erinnere, alle rindenfarbigen, mit Auswüchſen beſetzten Raupen überhaupt, leben ausſchließlich auf Bäumen und Sträuchern und ruhen an deren Aeſten und Stämmen nur mit den beiden Bauchfußpaaren angeklammert, den übrigen Körper ſteif und unbeweglich aus— geſtreckt und vom Zweige in einem ſolchen Winkel abſtehend, wie ihn die kleinen Aeſtchen annehmen.“ Kaum minder getreu als von den Laubhölzer und deren Zweige und Blattſtiele bewohnenden Spannerraupeu werden von einigen Nadelhölzer bewohnenden | Spannerraupen deren Nadeln in Form und Farbe darſtellt. „Eupi— thecia pusillata, deren Raupe an den Nadeln der Fichte und Eupithecia lariciata, die an denen der Lärche lebt, ſind dieſen eben— falls ſehr genau angepaßt, ſo daß es un— gemein ſchwierig iſt, ſie zwiſchen denſelben zu erkennen, ſelbſt im Zwinger. Pusillata zumal iſt ſo dünn und lang, wie eine Fichtennadel und hat ganz deren Farbe, die zwiſchen grün, gelblich und bräunlich wechſelt, wie die ältern und jüngern Nadeln; von Zeichnung findet ſich nichts als einige dunklere und hellere verloſchene Längsſtreifen. Wenn man ſie in den Schirm geklopft hat und fie ſteif ausgeſtreckt zwiſchen den mit abge— fallenen Nadeln daliegt, iſt ſie kaum von den letzteren zu unterſcheiden.“ Hier wäre es eine lohnende Aufgabe, von unſeren Raupen, nach den Abſtufungen ihres Anpaſſungsgrades geordnet, diejenigen Formen zuſammenzuſtellen, welche die ſchützen— den Eigenthümligkeiten der Spannerraupen in unvollkommnerem Grade beſitzen. Auch bei den in biologiſcher Hinſicht den Raupen fo ähnlichen Blattwespenlarven kommen Formen und Stellungen vor, die ſich dem charakte— | riſtiſchen Spannerraupen-Typus mehr oder weniger annähern. Bei Alexanderbad im Fichtelgebirge fand ich im Juli 1873 die Blätter eines Weidenbuſches von zahlreichen Blattwespenlarven in der Weiſe zerfreſſen, daß nur die Hauptrippen mit einem ſchmalen ihnen anhaftenden Saume übrig gelaſſen wurden. Die Blattwespenlarven aber ſaßen an den zerfreſſenen Blättern in ſolcher Form und Stellung, daß ſie aus geringer Entfernung ſtehengelaſſenen Seiten— rippen des Blattes einigermaßen glichen, Kopf und Bruſt der noch abzufreſſenden Blattfläche angedrückt und mit den Bruſt— beinen an dieſelbe angeklammert, mit dem übrigen cylindriſchen Leib unter demſelben Winkel, den die Seitenrippen mit der Mittel— rippe machen, ſtarr von derſelben abſtehend. Offenbar kommt es übrigens für das Erhaltenbleiben gewiſſer Abänderungen einer dem Aufgefreſſenwerden ausgeſetzten Thier— art nicht gerade darauf an, einem beſtimm— ten, dem Vertilger gleichgültigen Gegenſtand täuſchend ähnlich zu ſehen; ganz derſelbe Vortheil muß vielmehr erreicht werden, wenn Form, Farbe und ſtarre Haltung des wehrloſen Beutethieres von allem Leben— digen ſo auffallend abweicht, daß ſich die Blicke des auflauernden Feindes, ohne durch eine beſtimmte Nachahmung getäuſcht zu werden, von ihm abwenden. Obgleich dieſe Geſchütztheit durchbloße Unkennt— lichkeit in das Gebiet ſchützender Aehn— lichkeiten ſtreng genommen eigentlich nicht gehört, ſo hängt ſie doch ſo eng und un— trennbar mit demſelben zuſammen, daß wir nicht umhin können, auch ſie, wenigſtens an einem einzigen beſtimmten Falle, zu er— läutern. Die Raupe des Syrenen-Spanners, Pericallia Syringaria, iſt ein ganz unzwei— deutiges Beiſpiel dieſer Art. Schon Roeſel bildet ſie in ihren natürlichen Stellungen ab und beſchreibt ſie unter dem Titel: „Die dicke, beſonders ſchöne Spannen-Raupe, mit 1 r 118 Müller, Schützende Aehnlichkeit einheimiſcher Inſekten. zwey denen Gems-Hörnern ähnlichen Hacken, und anderen auf dem Rucken ſtehenden von einem Ort zu dem andern beweget, gehet ſolches ſehr langſam von ſtatten: dann ſie daumelt bey jedem Schritt, mit einer zitternden Bewegung, eine Zeitlang hin und nieder laſſen wollen, und dieſes geſchiehet alle— zeit, ſie mag jung oder alt ſeyn. Wann ſie aber, nach zu ſich genommener Speiſe, ruhig und ſtille ſizet: ſo hält ſie ihren Körper nicht ſteif und ausgeſtrecket, wie die meiſten Spannen-Raupen zu thun pflegen; ſondern ſie nimmt alsdann eine ſolche Stell— ung an, daß ſie derjenge, jo fie nicht ſchon kennet, ſchwerlich für eine Raupe an— ſehen wird. Die dritte Figur legt ſie in dieſer Stellung, auf einem Zweiglein ſizend, vor Augen: ihr Kopf ſtehet ganz nahe an dem erſten Paar derer hintern Füſſe, der Rücken aber iſt in die Höhe gekrümmet, und bekommt, durch ſeine Hacken und Zapfen, ein ganz beſonderes Ausſehen. In dieſer Stellung mag man ſie nun berühren wie man will, ſo wird ſie doch allezeit unbe— weglich bleiben, es ſeye dann, daß man ihr gar zu hart mitführe: dann da fället ſie ſo gleich zu Boden.“ Aus der Starrheit dieſer Raupe im Ruhezuſtande ergiebt ſich mit voller Sicherheit, daß ſie den Blicken der Vögel dadurch entgeht, daß ſie ihnen als etwas Lebloſes erſcheint; doch iſt ſie keinem beſtimmten lebloſen Gegenſtande auch nur ſo weit ähnlich, um, ſelbſt aus einiger Entfernung, mit demſelben verwechſelt wer— den zu können. Und wie im Ruhezuſtande ſie ſich ohne Zweifel durch ihre ſeltſame Haltung unkenntlich macht und den Blicken ihrer Feinde vielfach entgeht, ſo erreicht ſie eine ähnliche Wirkung im Zuſtande der Bewegung vielleicht durch die ganz un— „Zapfen“, mit folgenden Worten: „Wann | fi) dieſe beſonders ſchön gezierte Raupe gewöhnliche Ausführung derſelben. Und doch ſchließen ſich beide rettenden Sonder— barkeiten, die den Blick jedes Raupen— ſuchers, der andere Raupen tauſendfach ruhend und ſich bewegend geſehen hat, irre machen und ablenken müſſen, an beſtimmte wieder, ſie mag gleich den vorderen Theil ihres Körpers in die Höhe heben oder Momente der gewöhnlichen Haltung und Bewegung der Spanner-Raupen ſo un— mittelbar an — die bucklige Ruheſtellung an den Moment, wo die Raupe beim Fort- ſchreiten das hintere Leibesende dem feſt— geklammerten vorderen nähert, das zitternde Hin- und Hertaumeln dem taſtenden Um— herſuchen des ausgeſtreckten vorderen Leibes— endes — daß wir uns leicht vorſtellen können, wie die bloße individuelle Abänderung, bei dieſen ſonſt raſch durchlaufenen Akten länger zu verweilen, ihre Inhaber unkenntlich machen, erhalten und bei ihren Nachkommen ſich, bei eintretenden günſtigen Abänderun— gen, zu ſteigern vermochte. Daß aber auch der Schutz durch Un— kenntlichkeit mit ſchützender Aehnlichkeit durch allmähliche Abſtufungen untrennbar ver— bunden iſt, zeigen beſonders deutlich die Puppengehäuſe und Brutneſter verſchiedener Inſekten. Unſere Tagfalter— puppen macht offenbar ihre Eckigkeit, ihr ſtarres, lebloſes Ausſehen unkenntlich, und dieſe Unkenntlichkeit giebt ihnen hinreichen— den Schutz; ſonſt würden ſie nicht, auch wenn ſie genießbar ſind, in ziemlich offener Lage aufgehängt oder angegürtet werden. Sie bieten aber von einfacher Unkenntlich— keit bis zu einer, wenn auch nur allgemei— nen, doch unverkennbaren Mineral— Aehnlichkeit, die durch hervorragende Spitzen und goldigen Metallglanz be— wirkt wird, die mannigfachſten Zwiſchen—⸗ ſtufen dar. I_ Müller, Schützende Aehnlichkeit einheimiſcher Inſekten. Eine noch täuſchendere Aehnlichkeit von Puppengehäuſen mit fremden, und zwar in dieſem Falle mit in ihrer un— mittelbaren Umgebung befindlichen Gegen— Fig. 3. Dieſer nährt ſich im Larvenzuſtande von den Blättern der Serophularia no- dosa und ſpinnt ſich zur Verpuppung an den Blüthen- und Fruchtſtielen derſelben Pflanze in braune, länglich runde Cocons ein, die, zwiſchen den Samenkapſeln der Pflanze ſitzend, aus einiger Entfernung kaum von denſelben unterſchieden werden können, obgleich ſie weder die Zuſpitzung derſelben, noch den Spalt, der die Kapſel ſchon äußerlich in zwei Hälften theilt, beſitzen. Während Puppengehäuſe ihre Unkennt— lichkeit oder ſchützende Aehnlichkeit mit fremd— artigen Gegenſtänden nur der negativen Züchtung verdanken können, welche die nach Nahrung umherſpähenden Feinde bewirkt haben, ſind dagegen an der Unkenntlichkeit oder ſchützenden Aehnlichkeit offen angelegter 3 I) a Kapſeln der Scrophularia nodosa. 119 ſtänden, nämlich mit den Samenkap— ſeln der Wohnpflanze, treffen wir bei einem kleinen, häufigen Rüſſelkäfer, « Cionus Serophulariae, an. b Puppengehäuſe des Cionus Serophulariae. Bienenbrutneſter offenbar die negative Ein— wirkung feindlicher und die poſitive freund— licher, lebender und mit ſcharfen Blicken umher ſpähender Weſen gleichzeitig betheiligt. Die Mutterbiene ſucht ihre offen angeleg— ten Brutneſter ſo herzurichten, daß ſie trotz ihrer offenen Lage den Augen der Feinde entgehen; dieſe dagegen vernichten alle die— jenigen Exemplare, welche den Mutterbienen nicht ausreichend gelungen ſind. Gleich ihren Stammeltern, den Grab— wespen, ſuchen auch die Bienen ihre Brut in der Regel in tiefen Höhlen zu verbergen, die ſie meiſt ſelbſt erſt zu dieſem Zwecke angefertigt haben, und von denen fie, nach— dem die Nachkommenſchaft, mit dem nöthi— gen Larvenfutter verſehen, darin unterge— bracht iſt, jede Spur ſorgfältig verwiſchen. Manche Mauerbienen aber, Arten der Gattungen Osmia und Chalicodoma, bauen ihre Brutzellen aus Erde oder Steinchen, offen „und jedem Auge bloßgeſtellt, an einen Stein oder Felsblock, geben aber dem ganzen Neſte zuſammen gehäufter Brutzellen ſchließlich durch ſorgfältiges, oft mehrfach wieder— holtes Bearbeiten ein Anſehen, welches ſie der Aufmerkſamkeit jedes nicht beſonders auf ihre Aufſuchung eingeübten Auges ent— zieht. An dem alten Sandſteingemäuer der Wandersleber Gleiche in Thüringen kleben, dem Auge des Laien unſichtbar, zahlreiche Neſter der ſtattlichen Chalicodoma mura- ria, kaum mit flacher Wölbung hervor— tretend und durch einen Ueberzug von Körn— chen deſſelben Sandſteines ihrer durch Ver— witterung nicht minder uneben gewordenen Sandſtein-Umgebung faſt ununterſcheidbar gleich gemacht. Ich habe dort wiederholt halbe Stunden lang einem Chalicodoma- Weibchen mit Bewunderung zugeſehen, wie es nach Vollendung des Neſtes ſorgſam muſternd auf der Oberfläche deſſelben umherſchritt, des Gemäuers neue Sandkörnchen mit ſeinen Oberkiefern im Fluge herbeiſchleppend und zur Ausfüllung verrätheriſcher Lücken mit ihrem Speichel ankittend. Kaum eine Viertel— ſtunde davon entfernt, an den hohen, mit behauenen Sandſteinen umfaßten Fenſtern an der Südſeite der Kirche meines Geburts— ortes Mühlberg hatte dieſelbe Bienenart durch Abänderung ihres Bauſtyles in ge— ſchickteſter Weiſe ihre Neſter den veränder— der flach ausgebreiteten, dem Gemäuer in breiter Fläche anklebenden Neſter der Wan— dersleber Burgruine, die unregelmäßig neben und über einander liegende Brutzellen um— ſchloſſen, ſaßen hier die einzelnen Brutzellen \ bald eine verrätheriſche Hervorragung bes ſeitigend, bald von dem Boden am Fuße | ten Bedingungen anzupaſſen gewußt. Statt | Müller, Schützende Aehnlichkeit einheimiſcher Inſekten. in einfacher geradliniger Reihe regelmäßig N über einander, die tiefe Cannelirung eines behauenen Sandſteines genau ausfüllend, in dem einen wie in dem anderen Falle nur dem geübteren Auge des Bienenſammlers erkennbar. Von den am Fuße der Wandersleber Gleiche auf röthlichem Keupermergelboden umher liegenden Sandſteinblöcken erſcheinen manche mit einem Fleck des röthlichen Keuper— mergels behaftet, als wenn eine kleine Scholle des Bodens im regendurchweichten Zuſtande von einem Vorübergehenden daran geſchleu— dert und auch nach dem Austrocknen haften geblieben wäre. Manche dieſer Flecke haben wirklich dieſen Urſprung. Andere ſind die ſorgfältig angelegten Neſter einer Osmia- Art (O. eaementaria), von den erſteren äußerlich nicht zu unterſcheiden. Das merkwürdigſte Beiſpiel offen an— gelegter, aber durch täuſchende Aehn— lichkeit mit einem fremdartigen Gegen— ſtande, und zwar in dieſem Falle mit Schaflorbern, geſchützter Brutzellen, lieferte mir an derſelben Oertlichkeit eine kleine Wollbiene, Anthidium strigatum. Ich kannte bereits die Brutverſorgungsweiſe ihrer Geſchwiſterarten, A. manicatum u. puncta- tum, welche, wie es der deutſche Name der Gattung andeutet, ihre tief verſteckt ange— legten Bruthöhlen mit einer dicken Schicht wolliger Haare ſchützend zu umkleiden pflegen, die ſie von Pflanzenblättern und Stengeln entnommen haben. Ich hatte nicht nur wiederholt ſelbſt ihre Neſter gefunden, ſondern auch Anthidium manicatum ſelbſt beobachtet, wie ſie an Blättern und Stengeln der Vexirnelke (Lyehnis co— ronaria) die filzige Behaarung mit ihren Oberkiefern losarbeitete, ſie, dabei oft einige Schritte rückwärts gehend, zwiſchen die Beine ſchob und, wenn ſie ein kleines Flöckchen Wolle geſammelt hatte, es zwiſchen Ober— „ . kiefern und Vorderbeinen haltend, ein grö— ßeres dagegen mit allen ſechs Beinen um— faſſend, nach ihrem Neſte flog. Um ſo mehr war ich verwundert, als ich endlich auch die im Bau begriffenen Brutzellen des Anthi— dium strigatum auffand und ſah, daß es dieſelben, weit abweichend von ihren näch— ſten Verwandten, aus Harz anfertigt, in Form mit der Oeffnung nach unten ge— kehrter Töpfchen, die an die Seitenwand eines Steinblockes angekittet ſind und da— fallen können. Wie ſchon früher wieder— holt, ſo hatte ich auch am 13. Sept. 1871 bereits längere Zeit vergeblich nach fertigen Brutzellen geſucht und einen Sandſteinblock, an deſſen abſchüſſiger Seitenwand ich ſtatt der geſuchten Brutzellen nur eine an ihr kleben gebliebene Schaflorber gefunden hatte, eben mißmuthig verlaſſen, als mich auf ein— mal der Gedanke durchzuckte, die vermeint— ſofort angeſtellte Unterſuchung zu meiner großen Freude beſtätigte. Es gelang mir verwechſelt haben mußte, in größerer Zahl zu finden. Sie zeigten ſich auch bei äußer— daß ich nun leicht begriff, wie ich, trotz eifrigen Nachſuchens, ſie ſo lange hatte über— förmigen Harzblättchen, mit denen ich die Außenſeite der noch offenen Brutzellen in der Regel beſetzt fand, waren verſchwunden, die bräunliche Farbe war durch eine ſchwärz— liche erſetzt, das offene Ende war nicht nur geſchloſſen, ſondern auch in eine kurze Spitze un und die ganze Zelle ein wenig her jedem Feinde unmittelbar in die Augen liche Schaflorber könnte ja vielleicht ſelbſt eine fertige Brutzelle ſein, was denn die nun leicht, auch die fertigen Brutzellen, die ich offenbar bisher immer mit Schaflorbern Blicken der Feinde blos liegen, wird ihnen licher Betrachtung aus nächſter Nähe Schaf- lorbern ſo ähnlich und von den noch im Bau begriffenen Brutzellen ſo verſchieden, ſehen können. Die kleinen, weißen, ſchuppen- Müller, Schützende Aehnlichkeit einheimiſcher Inſekten. | wahrſcheinlich entgeht. 121 platt gedrückt, ſo daß ſie täuſchend einer Schaflorber glich, die friſch und noch etwas plaſtiſch herabfallend, an der Seitenwand des Sandſteinblockes hängen geblieben iſt. — tzellen des Anthidium strigatum. Fig. 4. Bru In der Abbildung habe ich, der Raum— erſparniß wegen, drei Brutzellen dicht neben einander dargeſtellt, in der Natur habe ich ſie immer nur einzeln ſitzend gefunden und glaube auch, daß ihre vereinzelte Lage für ihr Unerkanntbleiben nicht ganz unweſent— lich iſt. Denn wenn man die im Bau begriffenen Brutzellen neben den fertigen ſähe, würde man natürlich auch die letzteren leichter als das, was ſie ſind, erkennen. Daß die durch keine täuſchende Aehn— lichkeit geſchützten offenen Brutzellen den deshalb kaum Gefahr bringen, weil es nur in der Zeit des Ueberfluſſes, im Hochſommer, ſtattfindet, wo ein ſo verſtecktes, kaum erbſen— großes Klümpchen ſteifen Futterbreies und ein winziges, daran haftendes Ei, wie es die Brutzelle umſchließt, der weniger gründ— lichen Nachforſchung nach Genießbarem höchſt Im Winter würde die kleine, feiſte Made“) gewiß manchem Singvogel und mancher Maus ein will— kommener Leckerbiſſen ſein und in der Brut— *) Die Larve vollendet ihr Wachsthum in 2— 3 Wochen, verpuppt ſich aber erſt im nächſten Frühjahr. Kosmos, III. Jahrg. Heft 8. 16 122 zelle, wenn fie ihre im Bau begriffene Form hätte, von dieſen nun ſchärfer umher ſpähenden Feinden wohl auch aufgefunden werden; die täuſchende Verkleidung aber verleiht ihr nun hinreichenden Schutz. Ich hege keinen Zweifel, daß alle dieſe kleinen Baukünſtler (Chalicodoma, Osmia und Anthidium) in der bewußten oder durch tauſendfältige Uebung unbewußt gewordenen!) Abſicht, ihre Brutſtätten auflauernden Fein- den unauffindbar zu machen, ihre ganze Sorgfalt auf die angedeutete Herſtellung der- ſelben verwenden; und ihre oben nachgewie— ſene zweckmäßige Anbequemung in die je— desmal obwaltenden, oft ſehr verſchiedenen äußeren Umſtände zeigen deutlich, daß jeden— falls nicht blos ererbte Gewohnheit, ſondern auch ein gutes Theil eigener Ueberlegung bei Ausübung ihrer Baukunſt bethätigt wird. Ihre Bauten aber mußten die ſie ſchützende Aehnlichkeit in um jo höherem Grade erlangen, als außer der ſteten Sorg— falt der einſichtigen Baumeiſter, auch die ſtrenge Controle der alle ungenügenden Bau— werke nebſt ihren Inſaſſen rückſichtslos ver— nichtenden Feinde von Generation zu Ge— neration auf ihre Vervollkommnung hinwirkte. Wir haben bis jetzt ausſchließlich Bei— ſpiele ſchützender Aehnlichkeit einheimiſcher Inſekten mit lebloſen Gegenſtänden und mit gewiſſen Pflanzentheilen betrachtet, und dieſe ſind es auch, denen ich durch den vor— liegenden Aufſatz ganz beſonders die volle Aufmerkſamkeit unſerer Entomologen zuzu— wenden wünſchte. Die Mimicry im engeren Sinne des Wortes, d. h. die Anpaſſungs— ) Siehe H. Kühne, Ueber die Ver— breitung des Bewußtſeins in der organiſchen Subſtanz, Kosmos, III. Bd., S. 307 — 313, und Samuel Butler's „Gedanken über die Rolle der Gedächtniß-Uebung in der Entwickelungsgeſchichte“. V. Bd. S. 23—38. Müller, Schützende Aehnlichkeit einheimiſcher Inſekten. Aehnlichkeit gewiſſer Thiere mit anderen Thieren, hat ja bereits weit mehr das allgemeine Intereſſe erregt, und ich will nur deshalb auch ihrer mit einigen Worten gedenken, weil ich einen recht merkwürdigen, wie ich glaube, bisher überſehenen Fall derſelben mitzutheilen habe. Auch die Aehnlichkeit mit einer fremdartigen, lebenden Form kann ſowohl dem Verfolgten wie dem Verfolger Schutz bieten, dem erſteren, indem ſie ihn dem Feinde als zur Verfolgung ungeeignet, dem letzteren, indem ſie ihn dem Beutethiere als harmlos und zur Flucht keine Veran— laſſung gebend erſcheinen läßt. Als Beiſpiele der letzteren Art, als Wölfe in Schafskleidern, die ſich ungefürchtet und unbeachtet in die Heerden (der Blatt— läuſe) ſchleichen, um ſie zu erwürgen, wer— den wir die Nacktſchnecken ähnlichen Syr— phidenlarven betrachten dürfen. Als zur Verfolgung ungeeignet müſſen z. B. denjenigen Thieren, welche den Gift— ſtachel der Bienen und Wespen fürchten, wegen ihrer Hummelähnlichkeit die glas— flügligen Macrogloſſen (M. bombyliformis und fuciformis), wegen ihrer Wespenähn— lichkeit die Wespenböcke (Clytus axcuatus, arietis u. a.), noch mehr aber die Glas— flügler (Sesia), wegen ihrer Horniſſenähn— lichkeit die Horniſſenſchwärmer (Trochilium apiforme) erſcheinen. Die letzteren wird ſelbſt ein Menſch, der ſie nicht kennt, ſich wohl hüten anzufaſſen, aus Furcht, von einer Horniſſe geſtochen zu werden. Selbſt Knaben, die ſchon längere Zeit Schmetter— linge geſammelt hatten, habe ich mit dem Stocke nach dem Horniſſenſchwärmer ſchlagen ſehen, in der Abſicht, die böſe Horniſſe zu vernichten. Daß auch die großen Raupen gewiſſer Sphingiden (Porcellus u. a.) mit ihren ſchrecklich drohenden, Augen ähnlichen — — DR Flecken Vögel, die fie ſonſt freſſen würden, zurückſchrecken, hat Aug. Weismann nicht nur ſcharfſinnig erſchloſſen, ſondern auch durch Verſuche zur Gewißheit gemacht. Dieſer letzten Gruppe durch Aehnlich— keit mit anderen Lebeweſen geſchützter Thiere läßt ſich nun, wie ich glaube, auch die merkwürdige Raupe des Buchenſpinners (Stauropus fagi) anreihen, die ſchon ſeit Roeſel's Zeiten die Verwunderung der Schmetterlingsſammler erregt hat, aber bis jetzt ein Räthſel geblieben iſt. Fig. 5. Raupe des Buchenſpinners (Stauropus fagi). Wenn ſie nämlich in ihrer gewöhnlichen Ruheſtellung, mit feſtgeklammerten Bauch— beinen, aufgerichtetem vorderem und hinterem Leibesende und eingelegten langen Beinen des zweiten und dritten Bruſtringes ſtarr da ſitzt, ſo hat ſie, von vorn geſehen, durch Farbe und Geſtalt ein ſo ſpinnenähnliches | Aussehen, daß, wie uns Roeſel mitteilt, ſchon Aldrovandus fie die Spinnen Raupe (Erucaraneum) genannt hat. Noch geſteigert wird dieſe Spinnenähnlichkeit, ſo— bald man die Raupe beunruhigt; denn ſie hebt dann ihre vier langen Beine und macht damit allerlei haſtige Bewegungen, Müller, Schützende Aehnlichkeit einheimiſcher Inſekten. 123 In der vorſtehenden Abbildung habe ich die Raupe in dieſem Zuſtande darzuſtellen ver— ſucht; ſie hat ruhig dageſeſſen, die ſchild— förmig geſtaltete Unterſeite der letzten Leibes— ringe dem Beobachter zugekehrt, gerichteten Vorderleib von ihm abgewendet; ſie iſt darauf durch leichte Berührung der linken Bruſtſeite beunruhigt worden und hat nun, mit zurückgeworfenem Kopf, den Vorderleib etwas nach links gewendet und die Beine in Bewegung geſetzt. Es iſt mir im höchſten Grade wahrſcheinlich, daß dieſe Spinnenähnlichkeit die Raupe in wirk— ſamer Weiſe gegen Schlupfwespen ſchützt, die ſich ihrem vorderen Leibesende nähern. Die Erfahrung nämlich, daß ich von Spinnen wohl die mannigfachſten anderen Inſekten, aber niemals Schlupfwespen fangen und tödten ſah, auch zu Zeiten, wo aus meinem Raupenzwinger faſt täglich Schlupf— wespen auskamen, und Fliegen und Coc— cinellen in den Spinnengeweben meines Stubenfenſters fortwährend anzutreffen wa— ren, läßt mich ſchließen, daß die ja über— haupt ſehr vorſichtig umher fliegenden Schlupfwespen vor Spinnen beſonders ängſtlich und furchtſam find. Beſtätigt finde ich überdies meine Vermuthung, daß Spinnen— ähnlichkeit gegen Schlupfwespen ſchützen mag, durch die Angabe eines erfahrenen Raupenzüchters, des verſtorbenen Lehrers Fleddermann in Lotte bei Osnabrück, dem ich auch die Zuſendung lebender Raupen verdanke, daß weder er noch ihm bekannte Raupenzüchter Stauropus fagi je von Schlupfwespen befallen gefunden haben,“) während nach Treitſchke die nädjtver- wandte 1 Milhauseri oft von Ich— 5 Daß a Schutzmittel unſerer Raupe nicht abſolut wirkſam ſind, läßt ſich von vorn herein vermuthen und wird durch eine mir ähnlich einer ihr Opfer überfallenden Spinne. | nachträglich zugehende Mittheilung des Dr. . den auf- I 91125 neumoniden befallen werde, trotz ihres weit ſeltneren Vorkommens, welches vielleicht eben durch ihre Schutzloſigkeit gegen dieſe Feinde bewirkt ſein mag. Was hilft es aber nun unſerer Raupe, wenn ſie blos gegen diejenigen Schlupf— wespen geſchützt iſt, die ſich gerade von vorn ihr nahen? Bei ihrer Körperlänge iſt es doch die überwiegende Wahrſcheinlich— keit, daß ſie von ſolchen Schlupfwespen befallen wird, die ſie zuerſt in der Seiten— anſicht oder von hinten erblicken. Auch für jeden dieſer beiden Fälle ſcheint ſie durch ein beſonderes Schutzmittel geſichert zu ſein. Denn wer die von ſchwarzen Spitzen um— grenzte, mit zwei ſteif aus einander ſtehen— den Hörnern (den umgewandelten Nach— ſchiebern) gekrönte ſchildförmige Hinterfläche der Raupe ſenkrecht aufgerichtet vor ſich ſieht, kann in derſelben unmöglich eine Raupe vermuthen. Wenn aber endlich eine Schlupf— wespe von der Seite ſich nähert, was wohl der wahrſcheinlichſte Fall iſt, ſo erblickt ſie auf dem vierten und fünften Leibesringe, etwas unter den Stigmen, zwei kleine, ſchwarz gefärbte Vertiefungen, die Schlupf— ſie gewiß veranlaſſen werden, einer an— ſcheinend ſchon von Schlupfwespenlarven in Beſchlag genommenen Raupe nicht ihre Eier anzuvertrauen. Von welcher Seite alſo auch die Schlupfwespe kommen mag, ſo wird ſie getäuſcht: von vorn ſetzen ſie ſpinnen— ähnliche Geſtalt und Bewegung in Schrecken, hinten ſieht ſie nur ein ſteifes, gehörntes Schild, auf den Seiten endlich werden ihr ſtiche vorgeſchwindelt; in jedem Falle alſo Speyer beſtätigt, der die Raupe in jünge— rem Alter wiederholt von Microgaster, im erwachſenen aber auch ein- oder zweimal von einem größeren Ichneumoniden geſtochen fand. letztere iſt bei der Gabelſchwanzraupe der Fall. Müller, Schützende Aehnlichkeit einheimiſcher Inſekten. Raupe (Harpyia vinula). Bei der erſteren wespenſtichen täuſchend ähnlich ſehen und ringen ähnliche ſattelförmige Höcker, wie bei kagi alle ſechs, auch hält fie in der bereits ſchon vorhandene Schlupfwespen Spur und die Nachſchieber ſind noch nicht | >-290—< N wird fie unverrichteter Sache abziehen. Vögel aber werden vermuthlich durch die Unkenntlichkeit des geſammten Raupenkörpers getäuſcht, die durch eine bisher nicht er— wähnte Eigenthümlichkeit noch geſteigert wird. Jeder der ſechs mittleren Leibesringe trägt nämlich auf ſeiner Oberſeite einen fattel- förmigen Höcker, und jeder der drei erſten Höcker je rechts und links eine Spitze. Wenn hiermit nun auch, wie ich glaube, die biologiſche Bedeutung der ſeltſamen Form— eigenthümlichkeiten dieſer Raupe hinlänglich erklärt iſt, ſo bleibt doch die Hauptaufgabe ungelöſt, nämlich die, die mannigfachen Ab— ſtufungen nachzuweiſen, welche, jede für ſich nützlich und unter gewiſſen Bedingungen ausreichend, von einer gewöhnlichen Raupen— form aus zu der erſtaunlich abweichenden Geſtaltung der Buchenſpinner-Raupe ge— führt haben. Mir ſelbſt ſind nur zweierlei Raupen bekannt, welche zu einigen der ſchützenden Eigenthümlichkeiten der Buchen— ſpinner-Raupe eine entfernte Annäherung zeigen, nämlich die des Zickzackſpinners (Notodonta ziczac) und der Gabelſchwanz— tragen zwei von den ſechs mittleren Leibes— Ruhe das unterſeits lebhaft gefärbte hintere Leibesende aufrecht und den Kopf ſtets ſchwach gehoben und ſchlägt, wenn man ſie berührt, mit dem Kopfe nach der be— rührten Seite hin; ſie ſcheint daher, ähn— lich wie fagi, wenngleich in geringerem Grade, durch Unkenntlichkeit und, wenn ſie beunruhigt wird, durch haſtige Bewegung des vorderen Leibesendes geſchützt, doch zeigt daſſelbe von Spinnenähnlichkeit noch keine zu emporſtehenden Hörnern umgebildet. Das 85 — a a — Chriltian Conrad Sprengel geſchildert von er Begründer der neueren > Blumentheorie theilt mit ſehr vielen erſt von der Nachwelt gewürdigten Forſchern das A Schickſal, daß man über feine Lebensverhältniſſe ſo gut wie nichts weiß, und daß die biographiſchen und hiſtoriſchen Werke ſeiner nur mit wenigen Worten ge— denken, wenn ſie nicht ganz über ihn ſchweigen. wenn auch nur um eine Anregung zu weiteren Nachforſchungen zu geben. In der Regens— burger „Flora“ vom 21. September 1819 erſchien das nachfolgend wieder abgedruckte Charakterbild, auf welches mich Herr Dr. Hermann Müller freundlichſt auf— merkſam machte, und welches, mit H. B., Erfurt, unterzeichnet, angeblich von einem 1844 daſelbſt verſtorbenen Prof. Bern- hardi (alſo nicht dem berühmten Pflanzen— forſcher J. J. Bernhardi) herrührt. In dem 87 jährigen Herrn Apotheker A. Selle zu Berlin begegnete ich einem andern Schüler Sprengel's, der nach ſeinem ausgezeich— Es ſchien mir daher eine Pflicht dieſer Zeit- ſchrift, wenigſtens das Wenige, was ſich vor der Hand ermitteln ließ, zuſammenzuſtellen, zweien feiner Schüler. neten Gedächtniß manche Daten ergänzen konnte, und vielfache Erkundigungen ſowohl in Berlin als in Spandau, den ehemaligen Wirkungsorten Sprengel's, eingezogen hat, welche das Material zu den Zu— ſätzen ergaben. Auf deſſen Bitte hat auch Herr Gymnaſiallehrer Dr. Kuntze— müller in Spandau, der Verfaſſer einer kürzlich beendigten Spandauer Chronik, aus den ſtädtiſchen Akten einige bisher zweifel— haften Punkte feſtgeſtellt. Hiernach, wie aus Sprengel's Werk: „das entdeckte Ge— heimniß der Natur im Baue und der Be— fruchtung der Blumen“ (Berlin 1793) ergaben ſich die folgenden allgemeinen Lebensumriſſe. Chriſtian Conrad Sprengel, ein Oheim des bekannten Geſchichtsſchreibers der Botanik und Medicin, Kurt Sprengel, iſt im Jahre 1750 zu Brandenburg an der Havel geboren, und wurde nach Abſol— virung ſeiner Studien zuerſt in Berlin als Lehrer angeſtellt. Er unterrichtete in den Jahren 1774 bis 1780 an der großen Schule des Friedrichs-Hospitals und der Ecole militaire, von wo er 1780 als Rektor der großen Stadtſchule nach Spandau > 126 berufen wurde, welches Amt er am 25. April 1780 antrat. In die Jahre ſeines Spandauer Rek— torats fallen ſeine epochemachenden Entdeck— ungen auf dem Gebiete der Wechſelbezieh— ungen zwiſchen Blumen und Inſekten. Die unſcheinbaren Härchen, welche die Honig— drüſen im Blumenkelche des Waldſtorch— ſchnabels bedecken und vor Wegwaſchung durch den Regen beſchützen, führten ihn 1787 zu der Entdeckung, daß in der Honigproduk— tion der Pflanzen, — um in ſeinem Sinne zu ſprechen — Abſicht liege, weil ſonſt kein Grund wäre, ihn den Inſekten ſo ſorgfältig zur alleinigen Nutznießung zu bewahren. Der ſchöngelbe Ring im Blüthenteller des Ver— gißmeinnichts, welcher zu der zarten himmel— blauen Farbe der Blumenblätter einen ſo angenehmen Gegenſatz bildet, brachte ihn im darauf folgenden Sommer (1788) zu der Auffaſſung, daß beſonders gefärbte Zeichnungen der Blumen meiſt nur den „Zweck“ hätten, den Inſekten als Weg— weiſer zu der ihres eigenen Vortheils wegen meiſt verſteckten Honigquelle zu dienen. In— dem er dieſe Beobachtungen weiter ausdehnte, fand er im folgenden Jahre (1789), na— mentlich bei der Blüthenzergliederung einiger Schwertlilienarten, daß dieſe und viele andere Blüthen ſchlechterdings nicht anders als durch Vermittelung von Inſekten befruchtet werden können. In einer großen Zahl von Beob— achtungen, durch welche er mit bewunder— ungswürdigem Scharfſinn den zweckmäßigen Bau zahlreicher Blumen erörterte, kam er zu der Erkenntniß, daß „die Natur die Selbſtbefruchtung der Blumen nicht haben wolle“ und an der gelben Taglilie (He— meroeallis fulva) führte er den durch fo zahlreiche Verſuche Darwin's in unſern Tagen beſtätigten Nachweis, daß der eigene Blüthenſtaub zur Befruchtung vieler Pflanzen Chriſtian Conrad Sprengel. nichts taugt. Bei der Unterſuchung des Weidenröschens (Epilobium angustifolium) ging ihm, Sommer 1790, die heute als ſachlich vollkommen richtig erkannte Blumen— Theorie auf, nach welcher Blumen und In— ſekten einander in ſo vollkommener Weiſe an— gepaßt find, daß viele Blumen ohne die Ver— mittelung beſtimmter Inſekten niemals Frucht tragen würden, ſo daß beide wie für einander geſchaffen erſcheinen. Herr Dr. H. Müller, wohl der erfolgreichſte Bearbeiter des ge— waltigen, von Sprengel eröffneten Arbeits— feldes, hat erſt kürzlich in dieſer Zeitſchrift nachgewieſen ), daß Sprengel auf dieſem Gebiete wirklich als Reformator und Ori— ginaldenker gewirkt und ſeine Vorgänger weit übertroffen hat. Während der Ausarbeitung ſeines Haupt— werkes gerieth er mit den ſtädtiſchen und Schulbehörden Spandaus in Differenzen. Der Eifer, mit dem er an ſeinem grund— legenden Werke arbeitete, war wohl Urſache, daß er ſich in ſeinem Schulamte einige kleine Verſehen zu Schulden kommen ließ, und namentlich, da er nur des Sonntags weitere Excurſionen machen konnte, einigemale die Predigt verſäumte. Die letzteren Vernach— läſſigungen ſcheinen insbeſondere den Zorn der geiſtlichen Vorgeſetzten erregt zu haben, denn in ſeinem Buche ſelbſt konnte füglich kein Anſtoß gefunden werden, da es mit großer Gefühlswärme geſchrieben iſt. Im Gegentheil war daſſelbe nur geeignet, reli— giöſe Gefühle zu erwecken und zu nähren, und wenn auch von dem geläuterten Standpunkte unſerer Tage aus gefunden werden könnte, daß Sprengel's „Blumenſchöpfer“ manche Inconſequenzen und menſchliche Schwächen zeigt, ſo ſteht ſein Buch doch unter den phyſico-theologiſchen Werken des vorigen Jahrhunderts, vom religiöſen Standpunkte 00 Kosmos, Band V. S. 402. 7 aus, jo unantaſtbar da, daß es ſogar mit mehr Recht als Swammerdam's bekanntes Buch den Titel einer Biblia Naturae tragen könnte. Der Beweggrund der über ſein Verhalten an die Regierung gerichteten Beſchwerden war, wie auch Herr Selle und Herr Dr. Kuntzemüller beſtätigen, mehr perſönlicher Art. Sprengel war eine ſehr unbeug— ſame und unnachgiebige Natur. Er wußte, daß ſeine Schule im ausgezeichneten Zuſtande war, und daß man ihn höchſtens unbedeu— tender Fehler zeihen konnte, er trat daher wahrſcheinlich nicht den Behörden mit jener Unterwürfigkeit entgegen, die man verlangte. Es erfolgte eine Reviſion, bei welcher der vortreffliche Zuſtand des Unterrichts und der Disciplin in der Schule nachgewieſenwurde, und anſtandslos erkannte — wie Herr Dr. Kuntzemüller ermittelte — ſelbſt der ihm nicht günſtig geſtimmte Paſtor und Schulmann amtlich an. Die durch dieſen günſtigen Befund für den Augenblick nieder— geſchlagenen Klagen wiederholten ſich indeſſen, geben. Am 26. Auguſt 1794 wurde Sprengel durch Reſcript aus dem geiſt⸗ lichen Departement ſeines Amtes enthoben. zu erinnern, daß die Reviſion der Schule zu drei verſchiedenen Malen und mit ſtets gleich holt wurde, bis er, der Vexationen müde, ſelber ſeine Enthebung beantragte. Dieſelbe wurde ihm dann mit einer Penſion von 150 Thalern gewährt. gel nach Berlin und erwarb durch Privat— ſtunden in verſchiedenen Fächern ein Uebriges, f Schulinſpektor Schulze feine Tüchtigkeit als | Herr Selle glaubt ſich der Mittheilung Da dieſe Summe ſelbſt damals kaum 8 als Wille 0 2 . (1859 hinreichte, um davon zu leben, ſo zog Spren⸗ als Wille und Vorſtellung 2. Bd. (1859) Chriſtian Conrad Sprengel. und ſchließlich mußte die Regierung dem Drängen ſeiner Spandauer Gegner nach⸗ günſtigem Erfolge für Sprengel wieder- 127 ſo daß er bei ſeinen mäßigen Bedürfniſſen ſogar Erſparniſſe machen und dem Schind— ler'ſchen Waiſenhauſe zu Berlin, an wel— chem er ebenfalls Lehrer geweſen war, bei ſeinem am 7. April 1816 erfolgten Tode 5000 Thlr. hinterlaſſen konnte. Die letztere Angabe beruht auf genauer Erinnerung des Herrn Selle; eine ſpezielle Anfrage hin— ſichtlich dieſes Punktes bei dem genannten Inſtitute iſt ergebnißlos geblieben. Wir laſſen nunmehr den auf den Berliner Auf— enthalt bezüglichen Bericht Baernhardi)'s un— verändert mit den Selle 'ſchen Zuſätzen folgen. K. C. C. Sprengel, der Verfaſſer des Werkes: „Das entdeckte Geheimniß der Natur im Bau und in der Befruchtung der Blumen“ verdient ein ehrenvolles Denkmal in den Geſchichtsbüchern der Botanik. Zwar hat er in dieſer Wiſſenſchaft nichts weiter, als das genannte Werk geliefert,“) welches, wie es ſcheint, ſchon ganz vergeſſen iſt: “) aber dieſes eine ſchriftliche Zeugniß ſeiner botaniſchen Thätigkeit giebt ihm Anſpruch auf einen Platz unter den vorzüglichſten Botanikern aller Zeiten. Wer ein Werk ſchreiben kann, wie dieſes, in welchem faft jede Zeile Erfahrung, und faſt jede Er— fahrung neu iſt, in welchem eine Erfahrung ) Herr Selle meint, daß er noch eine Arbeit über Prunus serotina und deren Be— ziehung zur Bienenzucht veröffentlicht habe. ) 1819! In der That wurde des Buches lange Jahrzehnte hindurch nur gedacht, um den Verfaſſer zu diskreditiren, oder einzelne ſeiner Angaben anzugreifen. So von Decan— dolle in ſeiner Organographie végétale (1827), Schultz-Schultzenſtein (1828) und Andren. Robert Brown und Schopenhauer (Welt S. 384 — 386) gehören zu den erſten, die ſeinen Forſchungen Gerechtigkeit widerfahren ließen. 5 mit der andern durch den glücklichſten Scharf— ſinn zu einem neuen Ganzen verbunden iſt, worin die Pflanzenwelt in ihren ſchönſten und weſentlichſten Theilen anders als zuvor, mannigfaltiger, und doch deutlich und überall treu wie im Leben vor den Augen liegt — wer die Natur der Pflanzen ſo begreifen kann, daß ihm ihr verſchiedenartiger, ſchein— bar nur zum Vergnügen der Menſchen jo zierlich eingerichteter Blumenbau als durch— aus nothwendig und dadurch um ſo viel mehr bewundernswerth erſcheint, der iſt ein Botaniker ſo ſehr, als irgend ein Andrer. Das Leben dieſes Mannes, der ſich ſowohl durch ſeine Denkungsweiſe, als auch durch ſeinen lebhaften Geiſt, und durch einen großen Schatz von Kenntniſſen, vor vielen ſeiner Zeitgenoſſen auszeichnete, wäre einer ausführlichen Beſchreibung werth, und würde ein eben ſo nützliches, als anziehendes Leſe— buch darbieten. Durch beſondere Urſachen wurde er bei ſeinem Leben nach und nach ganz in die Verborgenheit zurückgedrängt: nach ſeinem Tode darf ſein Geiſt ohne Furcht und Anſtoß wieder unter den Sterblichen wandeln. Im Eifer für die Botanik vergaß er ſeines Amtes als Rektor in Spandau, und ward entſetzt. Was ihm hier an Ehre ver— loren ging, gebe ihm die Wiſſenſchaft, für die er ſie opferte, dankbar wieder zurück! Selbſt, was an ihm zu tadeln war, möge in Rück— ſicht ſeiner Umſtände, und als menſchliches Fehlen vor menſchlichen Richtern Entſchul- digung finden. Es wäre zu wünſchen, daß von den Gelehrten, die ihn gekannt haben, ſeine Lebensbeſchreibung Nachrichten von ihm ſammelte, jetzt, wo ſie noch zu erlangen ſind. Herr Geh. Rath Heim in Berlin, fein Lehrer in der Bo— tanik (Sprengel fing ſie erſt als Rektor Chriſtian Conrad Sprengel. in Spandau an), würde viel von ihm zu ſagen wiſſen.“) Unterdeſſen iſt hier Einiges aus ſeinen letzten Lebensjahren, wo ich ihn kennen lernte, Unterricht von ihm genoß und ge— nauer mit ihm bekannt wurde, aus den Jahren 1809 — 1813, nebſt einigen Be— merkungen über ihn im Allgemeinen. Er wohnte damals in Berlin am Haus— voigteyplatze in einem Hintergebäude, ſtreng genommen unter dem Dache. Hier fand ich ihn jedesmal in einem alten Schlafrocke mit der Nachtmütze und einer langen Pfeife, die Stube wie eine Rauchkammer mit Tabaks— wolken angefüllt.) Er ſaß gewöhnlich am Fenſter, bei einem Buche oder bei ſeinem ausgelegten Herbario. Ein Repoſitorium mit Büchern, ſeine Pflanzenſammlung und einiges alte Hausgeräthe machten den Inhalt des Zimmers aus, welches mit dieſer Aus— ſtattung gegen das Aeußere ſeines Bewohners gerade nicht abſtach. Von Geſtalt war Sprengel wohl— gebildet, mehr groß als klein, hager, doch noch zum Abnehmen, und ſtark von Knochen- bau. Sein Geſicht war ausdrucksvoll, die ) Der „alte Heim“ war, bevor er 1783 nach Berlin kam, Kreisphyſikus des Havellandes und hatte zu Spandau ſeinen Wohnſitz. Er war ein großer Pflanzenliebhaber und ſpeziell Mooskenner; man erzählte von ihm, daß er auf ſeinen Berufsreiſen nicht leicht an einem alten niedrigen bemoosten Bauerndache, oder an einem Waldſumpf vorbeifahren konnte, ohne anhalten zu laſſen und eine botaniſche Unter— ſuchung anzuſtellen. Da er auch ein eifriger einer übernähme und Inſektenbeobachter war, — er pflegte, wie Herr Selle aus perſönlicher Bekanntſchaft weiß, allerlei Spinnen, um ſie zu beobachten, — ſo iſt obige Angabe nicht unwahrſcheinlich. ) Er rauchte nur aus der alten Thon— pfeife, die er, wenn ſein Vorrath durch län— geren Gebrauch verſtopft war, in Maſſe zum Töpfer ſchickte und ausbrennen ließ. = Chriſtian Conrad Sprengel. Farbe friſch, das Auge lebhaft. Das vor Alter ins Graue gehende Haar trug er un— beſchnitten, frei um die Schultern hangend. Sein Gang war aufrecht und feſt, er ging ziemlich ſchnell und trotz ſeinem Alter, ohne auszuruhen, halbe Tage lang. Er war mäßig und einfach in ſeiner Koſt, mehr aus Sorge für feine Geſundheit, als aus wirklichem Mangel, der ihn, wie ſich nach ſeinem Tode gezeigt hat, mehr in ſeiner Bedenklichkeit wegen der Zukunft, als in der Gegenwart gedrückt haben mag. Er trank damals nichts als Waſſer. Verheirathet iſt er, ſo viel ich weiß, niemals geweſen. Einfach wie in der Lebensweiſe, war er auch im geſellſchaftlichen Betragen. Er wußte nichts von Schmeicheleien, und war ſelbſt mit den gewöhnlichen Höflichkeitsaus— drücken nicht freigebig. Er ſprach, was er dachte, ſchnell und offen heraus, und da ſeinen Zeitgenoſſen da. ſein Geiſt leicht in jedes Weſen eindrang, Wahrheit ihm aber über alles ging, ſo mußte das, was er ſprach, oft hart an die durch Täuſchung verwöhnte Welt anſtoßen. Er nahm keine Meinung unbedingt und nichts auf bloßen Glauben an; auf ſeine eigenen Anſichten verließ er ſich mehr, als auf jede fremde, ſie mochte ſein, von wem ſie wollte; was ihm einmal recht ſchien, behauptete er hartnäckig und bis zur Leiden— ſchaft. So geſchah es, daß er den Vorwurf der Grobheit und Halsſtarrigkeit auf ſich lud, und nach und nach von allen gelehrten Freunden verlaſſen wurde. Im Ueberdruß der Streitigkeiten und vielleicht auch aus verſtecktem Stolze vermied er nun ſelbſt allen Umgang mit der gelehrten Welt, und zog ſich in ſein finſteres Zimmer zu philo— ſophiſcher Ruhe zurück. Von der Zeit an lebte er unbemerkt und ungenannt, nur von Wenigen geſehen und von wenig Schülern benutzt. * Dieſe zu ſein eigenthümlicher Charakter in vieler Hin— geheime Luſt und Freude. treffen. N 129 Wenigen aber erinnern ſich ſeiner mit Liebe; denn ſie verdanken ihm viel. Sein mannig— faltiges Wiſſen war ihnen eine reiche Quelle, ſicht ihr Vorbild, wie auch oftmals ihre Er lebte in einer ſeltenen, liebenswürdigen Unſchuld des Herzens, ſeine Sitten waren aus einem vergangenen Jahrhunderte, ſein Geiſt gehörte für ein künftiges; bei dieſer Verfaſſung konnte ihn kein beſſeres Schickſal Er ſtand, anſtößig für die Welt, unleidlich für den Gelehrten, ohne Verbind— ung und Genuß, als Einſiedler unter Zu ſeinem Unterhalte gab er Stunden in Sprachen und in der Botanik. Auch Frauenzimmer haben botaniſchen Unterricht von ihm genoſſen. Er hatte die Tochter eines Rathes, deſſen Name mir entfallen, zur Schülerin, deren große Fortſchritte in der Botanik er mir oftmals rühmte. Ueber— haupt ſchien dieſes Haus das einzige zu ſein, dem er noch mit Wärme zugethan war, weil er eine liebreiche Aufnahme darin ge— funden hatte. Er erzählte mir einſt als ein Beiſpiel ſeltener Freundſchaft, daß dieſer Rath ihm Geld angeboten hätte, wofür er doch keine Sicherheit leiſten könnte, weshalb er es auch nicht angenommen hätte. Er ſtellte Sonntags früh gewöhnlich botaniſche Excurſionen an, woran Jedermann gegen 2 — 3 Gr. für die Stunde theilnehmen konnte. Keiner ſeiner Begleiter wird die dazu verwandte Zeit bereuen; ich zähle dieſe Stunden zu den lehrreichſten, die mir geworden ſind. Sprengel war auf dieſen Excurſionen nicht nur Botaniker, ſondern Lehrer in allem, was nur vorkommen mochte. Er war an ſolchen Tagen ſehr geſprächig, oft witzig in ſeinen Bemerkungen, und auch Anekdoten aufgelegt, die ihn hoch = Kosmos, III. Jahrg. Heft 8. a. | 130 freuen konnten, wenn ſie geiſtreich waren. Doch bis zum offnen Lachen habe ich es niemals bei ihm kommen ſehen; ſeine Ge— ſichtszüge waren zum Ernſt gebildet und bewegten ſich wenig hin und wieder. Alles, was er ſah und hörte, machte Eindruck auf ihn, die gleichgültigſte Rede nahm er ernſthaft auf, er ſuchte überall Belehrung für ſich oder Andere. Man hatte ſich ſehr in Acht zu nehmen, etwas Nichtiges oder gar Verkehrtes in ſeiner Gegenwart zu thun oder zu ſagen: er ließ nichts von der Art unbemerkt und un— geſtraft. Einen jungen Berliner, der großen Werth auf das Ausländiſche legte und da— bei den Ausdruck brauchte, was weit her wäre, fragte er: Wo ſind Sie denn her? Er erklärte bei Gelegenheit ebenſo gut die Schrift auf einem Leichenſteine, oder den Bau einer Windmühle, oder den Ster— nenlauf, als eine Pflanze. Doch am lieb— ſten ſprach er über Naturgegenſtände und Sprachangelegenheiten.“) Bei Excurſionen beſtimmte er Zeit und Ort zur Verſammlung, wo er pünktlich eintraf, aber auch nicht wartete, wenn die Stunde zum Aufbruche geſchlagen hatte. Da er die Gegend genau kannte, ſo führte er uns immer zu ſolchen Orten, wo ſeltne oder merkwürdige Pflanzen zu finden waren. Es gab wenig Plätze, wo er nicht ſelbſt etwas Neues entdeckt oder etwas Beſonderes bemerkt hatte, und er nahm gern Gelegenheit, uns darauf zu führen. So zeigte er uns im Auffalle vor dem Halliſchen Thore das getrennte Geſchlecht der Mentha aq., welches er da zuerſt ent— ) Sein Lehrdrang war jo groß, daß er die Marktweiber corrigirte, wenn er ſeine Lebensbedürfniſſe, wie er dies häufig that, ſelbſt einkaufte, und ſie dabei nicht richtig ſprachen. Chriſtian Conrad Sprengel. deckt und dann auch an andern Menthen gefunden hatte. Er war der Meinung, daß mehrere Arten dieſer Gattung eingehen würden, wenn man auf dieſen Umſtand Rückſicht nähme. Im Thiergarten gab ihm die Serophularia Veranlaſſung, feine Dichogamia gynandra auseinanderzuſetzen. Von der Befruchtung der meiſten Gewächſe durch Inſekten war er feſt überzeugt, und er wußte den Bau der Blumen ſo einleuchtend auf dieſen Zweck hin zu erklären, daß es eine Freude war, ihm zuzuſehen und zu— zuhören. Er hatte faſt alle um Berlin wild wachſende Pflanzen zergliedert, und kannte ihre Theile von allen Seiten bis ins kleinſte. Darin war er Meiſter, und Wenige werden ihm in dieſer Kenntniß gleichgekommen ſein. Die gemeinſte Pflanze wurde neu durch das, was er davon zu ſagen wußte; ein Haar, ein Punkt gab ihm Veranlaſſung zu Fragen, Vermuthungen, Forſchungen. Vieles war ihm noch räthſel— haft; am meiſten beſchäftigte ihn der Bau der Parnassia. Hier konnte er die Natur nicht auf der That ertappen. Sprachbemerkungen machte er bei jeder Gelegenheit, beſonders über die Namen der Pflanzen und die botaniſche Terminologie. Er ſagte oft, Linns hätte kein Griechiſch verſtanden und darum viele Irrthümer be— gangen und in die Nomenclatur gebracht!.) Von Willdenow urtheilte er in dieſer Hin— ſicht nicht viel beſſer. Z. B. tadelte er ſcharf, daß derſelbe das unrichtige, lange Wort Pelargonium eingeführt hätte, welches Pelargium heißen müßte, gleichwie es Geranium und nicht Geranonium heiße.“ ) Unter den Klaſſen des Linne'ſchen Syſtems tadelte er die Benennung der Poly- gamia frustranea ſehr eifrig. „Was hat ſich Linné dabei gedacht?“ ſagte er einſt zu Herrn Selle, „in der Natur iſt nichts vergeblich da, alles hat ſeinen Nutzen.“ 4 — — . Chriſtian Conrad Sprengel. 131 Auch mit deſſen Ueberſetzung feines Saft— males durch macula indicans war er nicht zufrieden.“) Daß einſt Willdenow den Junecus squarrosus IL. ihm zu Ehren als eine noch unbeſchriebene Art mit dem Namen J. Sprengeli in den Prodromus flor. ber. auf— genommen hatte, wußte er ihm keinen Dank.“) Die Pflanze fand ſich bei Linné unter der Abtheilung eulmis nudis, wohin fie aus Verſehen, ſtatt in die andre gekommen war. Als er mit der Unterſuchung der Men— then beſchäftigt war, wünſchte er einen Band von Ehrhart's Beiträgen nachſchlagen zu können, um das Vaterland der Mentha eitrata zu erfahren, über die er in feinen ü eignen botaniſchen Büchern keinen Aufſchluß finden konnte. Ich verſchaffte ihm denſelben, und er ſchlug in meiner Gegenwart voll Er— wartung die citirte Stelle auf. Mentha eitrata, hieß es, habitat — in Europa. Wie dumm, brach er los, das iſt gar nichts geſagt, in Europa! das iſt nachgeſchrieben, ich glaube, kein Menſch kennt dieſe Mentha eitrata, und es giebt keine! Ausländiſche Pflanzen kannte er wenig, die wildwachſenden um Berlin größtentheils um deſto beſſer, nur in den Gräſern war er ſehr zweifelhaft; denn, was mit der Be— ſchreibung nicht genau übereintraf, nahm er nicht an. Es fehlte ihm auch an guten ) Im botaniſchen Unterrichte hielt er ſehr viel auf die richtige Ausſprache der aus dem Lateiniſchen oder Griechiſchen ſtammen— den Namen. Sprach Jemand in ſeiner Ge— genwart, wie das ſehr häufig geſchieht, das a in Sinapis kurz oder das u in Arbutus lang, ſo hatte er ſofort einen lateiniſchen He— rameter aus Virgil oder Ovid bei der Hand, um dem Gedächtniſſe einzuprägen, daß man Sinäpis und Arbütus zu jagen habe. Profeſſor Link hatte ebendaſſelbe ausgezeichnete Mittel iu Gebrauch, und hatte ebenfalls immer eine | cine Epakriden-Gattung Sprengelia getauft. und neuen Büchern. Unter den ältern ſchätzte er vorzüglich Pollich. Mit den Kryptogamen war er auch wenig vertraut. Ich fragte ihn, warum er den zweiten Theil ſeines Werkes über die Befruchtung der Blumen nicht herausgegeben hätte. Er antwortete mir, es hätte ihm an Unter— ſtützung und Aufmunterung gefehlt; ſein Buchhändler hätte ihm nicht einmal ein Exemplar ſeines Werkes zu Gute gelaſſen. Ueber ſeine Abſetzung von Spandau ließ ſich natürlich nicht mit ihm ſprechen, auch vermied er ſelbſt jede Hinleitung auf dieſen ihm verhaßten Ort; doch ſagte er einmal, als wir ein Geranium vor uns hatten: „Hierüber habe ich einmal eine Predigt ver— ſäumt, es hat mich aber nie gereuet.“ Wegen Mangel an Unterſtützung und Beifall hatte er gegen das Ende ſeines Lebens die Botanik ziemlich ganz bei Seite geſetzt; er trieb nun wieder die alten Sprachen und engliſch. Von den Vorzügen dieſer letz— teren Sprache war er ganz erfüllt. Zu den alten Claſſikern wollte er, wie er ſich aus— drückte, den Schlüſſel gefunden haben. Einſt fand ich ihn über einem griechiſchen Autor. Da, ſagte er, da har Ramler auch einmal dummes Zeug gemacht und ganz falſch überſetzt; es muß anders heißen. Es war eine Ode der Sappho. Daß er bei dieſen Arbeiten dennoch gereimte Genus- oder Betonungsregel im Vorrath, wenn ſeine Zuhörer das Geſchlecht oder die Ausſprache der Pflanzennamen ver— hunzten. Sagte Jemand, wie dies meiſtens geſchieht, Erica ſo bekam er das Verschen: Das Weib des Spechts heißt Pica Die Heide heißt Erica, mit auf den Weg und vergaß es ſo leicht nicht wieder. * Batſch ( 1802) hat — wohl beiden Sprengel zum gleichmäßigen Gedächtniß — . ſeine Aufmerkſamkeit nicht ganz von der Natur abgezogen hat, beweiſt ſeine um dieſe Zeit geſchriebene Darſtellung der Nützlichkeit der Bienen von einer neuen Seite,“) eine Schrift, die alle Würdigung verdient und den beſonderen Mann mit ſeinen vielfachen guten und ſeltſamen Eigen— Sein letztes Werk, die Frucht ſeiner Sprachſtudien, „neue Kritik der klaſſiſchen römiſchen Dichter,“ hat wenig Beifall gefun— ausdrückt, nur durch ſeine unbegreifliche Verkehrtheit merkwürdig geworden. Hier habe ich nichts darüber zu ſagen, denn mir iſt Sprengel hier nur als Menſch und als Chriſtian Conrad Sprengel. der deshalb mit einer faſt kindlichen Unbe— fangenheit die Natur von ſich gab, wie fie auf ihn wirkte, daß ein ſolcher in den un— begreiflichen Schöpfungen der Phantaſie und auf den ſchlüpfrigen Pfaden der Liebes— dichter zu einer ſeltſamen, ja unförmlichen | Erſcheinung hat werden müſſen. ſchaften zugleich recht deutlich erkennen läßt. Es wird aus dieſem Wenigen hervor— gehen, daß Sprengel als Menſch ſehr achtungswerth, als Gelehrter etwas einſeitig, aber doch ſelbſtändig, als Botaniker aber den und iſt vielmehr, wie ein Recenſent ſich vorzüglich darum von großen Verdienſten war, weil er alle ſeine Kenntniſſe unmittel— bar aus der Natur geſchöpft, und ſeine Botaniker merkwürdig; was er als Gelehr⸗ ter ſonſt noch geweſen, müſſen Andere be urtheilen. Ich kann mir indeſſen ſehr wohl denken, daß ein Mann, der Alles mit dem Verſtande bezwingen wollte, was nicht durch die Sinne zu begreifen war, der Alles ver— warf, was wider ſeinen Verſtand lief, weil er nur dieſen für den rechten hielt, und Nothwendigkeit der Bienenzucht von einer neuen Seite dargeſtellt. Berlin 1811. Wahr— ſcheinlich iſt dies das vorhin von Herrn Selle erwähnte Werk. richtigen Beobachtungen durch Nachdenken in wohlgefällige Einheit gebracht hatte. Ich wüßte nicht, mit wem ſich Sprengel beſſer vergleichen ließe, als mit Ehrhart. Als ich im Jahre 1816 wieder nach Berlin kam und meinen alten Lehrer auf— ſuchte, fand ich ihn nicht mehr unter den Lebenden. Er war kurz zuvor geſtorben, und hatte ſeine Habe einem alten Freund in Berlin vermacht. Dieſer wird alſo auch N . fein Herbarium beſitzen, welches viel Merk— ) Die Nützlichkeit der Bienen und die würdiges an Pflanzen und Bemerkungen enthalten mag, und für die Wiſſenſchaft erhalten werden ſollte. Erfurt. H. B. ns RE Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Gletſcher- oder Drift-Theorie für Norddeutſchland? ir haben kürzlich im Kosmos (Bd. V, S. 375) der Schwierigkeiten ge— Des dacht, die ſich der Erklärung der O Eiszeitſpuren in Norddeutſchland entgegenſtellen, ſowohl wenn man von der reinen Gletſchertheorie, wie ſie Torell und Helland vertreten, als wenn man von der Drifttheorie ausgeht, die bisher den deutſchen? Gelehrten die beſte Erklär— ung für die erratiſchen Erſcheinungen zu geben ſchien. Gegen die Gletſchertheorie, welche ganz Nordeuropa bis an die mittel— deutſchen Gebirge und jenſeits derſelben im weiten Umkreiſe der Alpen vergletſchert denkt, ſpricht die regelmäßige Schichtung ausge— dehnter Strecken des norddeutſchen Dilu— viums, welche ſich nur als Meeresbildung verſtehen läßt, während wiederum die vielfach nachweisbare Wechſellagerung mit echten Gletſchergeſchieben, die in neuerer Zeit mehrfach, z. B. bei Leipzig, beob— achteten Eisſchliffe, und viele ähnliche Vorkommniſſe auf echte Gletſcherwirkungen hinweiſen. Um nun dieſe doppelten und ſich an— ſcheinend widerſprechenden Erſcheinungen zu erklären, hat der gründlichſte Kenner des norddeutſchen Diluviums, Prof. G. Be— rendt in Berlin, eine Combination beider Theorien erſonnen, die, wie es ſcheint, allen vorkommenden Erſcheinungen gerecht zu wer— den vermag (Zeitſchrift der deutſchen geo— logiſchen Geſellſchaft, Bd. XXXI, S. 1). Er geht davon aus, daß Skandinavien, woran Niemand zweifelt, ehemals völlig vergletſchert und durch einen mehr oder weniger breiten Meeresarm von dem übrigen Europa getrennt war. Die Gletſcherſtröme welche den Meeresarm erreichten, ſchoben ſich in denſelben hinein und erzeugten an— fangs Drifterſcheinungen. Stellenweiſe aber füllten ſie das ſeichte Meeresbecken vollſtän— dig aus und veranlaßten eine Grundmoräne, deren eckige und geſchrammte Geſchiebe ſich durch Aufwühlung des ehemaligen Meeres— grundes mit den bei der reinen Gletſcher— theorie ſo unerklärlichen marinen Schalthier— reſten miſchten. Indem das trennende Meer ein Vorrücken der gewaltigen Gletſcherſtröme in jeder Beziehung begünſtigte, ſei es, daß das Eisfeld noch vom Waſſer getragen wurde oder ein tiefes Bett fand, erklärt ſich ſo ein verhältnißmäßig leichtes Erreichen der ſüdlichen Küſten. Vorauszuſetzende un— gleiche Tiefen des Meeres würden dabei ſehr leicht das Nebeneinandervorkommen verſchiedenartiger Bildungen erklären, näm— lich die regelloſe Anordnung der theilweiſe Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 134 von den nordiſchen Gebirgen ſtammenden Geſchiebe, wenn das Eis den Grund er reichte, und die mehr regelmäßige Ablager— ung, wenn es ſchwamm und die eingefro— renen Schutt- und Steinmaſſen langſam abſchmolzen. Dabei mußte wechſelsweiſe eine Sonderung und Ausſchlemmung der feineren Beſtandtheile und darüber erfolgende Ebenſo geſchichtete Ablagerung ſtattfinden. mußten die jenſeits des Meeresarmes ſich ausbreitenden Gletſcher gelegentlich Süß— waſſerbecken überbrücken und ausfüllen, und ſo würde ſich auch die gelegentliche Miſch— ung der Eiszeitgebilde mit Süßwaſſer— Mollusken verſtehen laſſen. Den Umſtand, daß die eigentlichen Gletſcherbildungen, die ſogenannten Dilu— vialmergel, ſich in einen oberen und unteren Horizont trennen, zwiſchen denen ſandige Meeresbildungen liegen, erklärt Berendt durch die in Skandinavien ſicher nachweis— bare ſäculare Senkung, welche inmitten der Eiszeit im Norden ſtattfand und das ſeichte Meer in ein Tiefmeer verwandelte, auf welchem das Eisfeld wieder zum vollſtän— digen Schwimmen kam. In dieſer Zeit fanden nun feingeſchichtete, anſehnliche Tief— waſſerbildungen ſtatt, indem Meeresſtröm— ungen ganze Züge von Sandbänken und hügelartigen Anſchwellungen erzeugten, welche den unteren Diluvialmergel von dem oberen trennen. Der letztere wurde erſt abgelagert, als die heute noch fortdauernde Erhebung Nordeuropas bereits begonnen hatte und ſo weit fortgeſchritten war, daß das Eis von Neuem den Boden erreichte und dabei deſſen wellige und hügelige Form mit gröberen Bildungen bedeckte. Natürlich mußten ſich auch den darunter liegenden Meeresabſatz— bildungen ſtellenweiſe Schichten herabſinkender Gletſchergeſchiebe einlagern. Die jüngſten Bildungen entſprechen der Zeit des ſich zurückziehenden Meeres und des ſchmelzenden Eiſes, wodurch Buchten und Thalbecken mit zartem Gletſcherſchlamm (Löß), der Süßwaſſer- und Land-Conchylien mit ſich führte, ausgefüllt wurden. Gletſcher— ſtröme gruben damals ſpäteren Flüſſen das Bett. Die um dieſe Zeit erfolgende Aus— tiefung des Oſtſeebeckens und die damit in Verbindung ſtehende Erhebung Norddeutſch— lands bereitete die jetzigen Landſchaftsformen vor. Den Rückzug des Eiſes bezeichnen wellige Erhebungen des Bodens, die ſich hier überall finden, z. B. in dem mecklen— burgiſch-pommeriſch-preußiſchen Höhenzuge und in zweiter Reihe durch die Lüneburger Heide und Fläming bezeichnet werden. Wo nämlich längere Stillſtände im Rückgange des Eiſes ſtattfanden, da mußten ſich An— häufungen von Schlamm und Geſchiebe, mit einem Worte vollſtändige Endmoränen bilden. Als ſolche haben wir die Geſchiebe— Anhäufungen des mecklenburgiſch-pommeriſch— preußiſchen Höhenzuges aufzufaſſen. Alle dieſe Geſchiebezüge haben in der Hauptſache natürlich eine dem Gletſchereisrande paral— lele Richtung, und löſen ſich an Ort und Stelle, ſowohl in der Längen- wie in der Breitenerſtreckung, in eine Menge meiſt kegelförmiger Hügel verſchiedenſter Höhe auf, welche ganz oder zum Theil aus dichteſter Steinpackung beſtehen. Dieſe Geſchiebezüge ſind meiſt ſenkrecht von Querriſſen, den Rinnſalen der ab— fließenden Schmelzwäſſer, durchſchnitten, in deren Senkungen ſich heute zahlreiche kleinere und ganz kleine Landſeen befinden, weshalb jener Höhenzug auch die Seeplatte genannt wird. Es entſteht dadurch eine merk— würdige Aehnlichkeit mit den auf gleiche Weiſe gebildeten Ufern der Seen am Fuße der ſkandinaviſchen Gebirge und der Alpen, mit ihren von Deſor und Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 135 Zittel als „Moränenlandſchaft“ charak- ung der Krankheits-Urſachen, als rationeller teriſirten Umgebungen. Heilmethoden zu verzeichnen. Im Anſchluß Aus den Rinnſalen jener Schluchten an die intereſſanten Mittheilungen des Herrn bildeten ſich größere Gletſcherſtröme, die Dr. Wernich (S. 98) wollen wir hier in den von den Höhenzügen eingeſchloſſenen kurz Notiz nehmen von den neueren Unter— Thälern dahinfloſſen und ein oſtweſtliches ſuchungen über die Urſache der Wechſelfieber Flußſyſtem bildeten, dem von Süden her und die Heilbarkeit der Tuberkuloſe. die obere Elbe, obere Oder und obere Man weiß ſeit lange, daß das Wechſel— Weichſel zufloſſen, während von Norden fieber an gewiſſe Gegenden gebunden iſt, die kleineren Gletſcherflüſſe dazu kamen. Die deren Boden unter beſtimmten Feuchtigkeits— Spuren dieſes ehemaligen oſt-weſtlichen und Wärmeverhältniſſen nach dem Aus— Stromſyſtems, der vereinigten Weichſel- trocknen die Luft verpeſtet, namentlich die Oder-Spree-Nuthe-Gewäſſer mit ihrem tiefere, dicht über dem Boden ſich aus— Ausfluſſe durch das jetzige untere Elbthal, breitende Schicht. Die beſonderen Umſtände ſind von Berendt anderweitig unzweifel- der Fieberanſteckung durch die „Malaria“ haft nachgewieſen worden und auch leicht Italiens hatten früher die Meinung her— auf Terrainkarten verfolgbar. In Folge vorgerufen, daß es ſich dabei um gas— der Bildung des Oſtſeebeckens und der förmige Beimengungen handele, und in norddeutſchen Erhebung verlegte ſich die dieſem Sinne hatte Rouget de Lisle ſtark weſtliche Richtung dieſer Ströme mit ſchon im vorigen Jahrhundert Unterſuchun— Benutzung der Gletſcherwaſſer-Einſchnitte gen mit der über den pontiniſchen Sümpfen ruckweiſe nach Norden, und es erfolgte eine angeſammelten Luft angeſtellt. In der vollſtändige Umſetzung des nördlichen Theils Neuzeit hatte indeß die Ueberzeugung, daß der vorddeutſchen Flußläufe, die ſich noch es ſich um in der Malaria enthaltene Keime jetzt ſehr auffallend in der analogen Um- eines ſpecifiſchen Organismus handele, die biegung jedes einzelnen derſelben ausſpricht. Oberhand gewonnen. Um dieſe Frage zur Entſcheidung zu bringen, haben E. Klebs MIETEN? und C. Tommaſi-Crudeli im Früh— Bakterien und Mikrokokken jahr 1879 Unterſuchungen auf dem Agro als Urſachen der Wech ſelſteber damen angeſtellt und ſehr bemerkenswerthe und Tuberkulofe. Reſultate erhalten. Da een e eine höhere Lufttemperatur (30 — 40% C.) Trotz der nachdrücklichen Zweifel, welche die günſtigſte für die Entwickelung der Ma— Prof. Virchow noch auf der Münchener laria iſt, ſo haben ſie förmliche Kulturen Naturforſcher-Verſammlung gegen die me- des Anſteckungsſtoffes bei dieſer Tempera— diciniſche Richtung erhob, welche eine An- tur in feuchter Erde aus inficirten Gegen— zahl der gefährlichſten Krankheiten auf die den eingeleitet und damit Flüſſigkeiten ge— Einführung niederer Urweſen in den Or- wonnen, welche, Kaninchen unter die Haut ganismus höherer Thiere und deren Fort- eingeſpritzt, alle Symptome der Malaria— wuchern in denſelben zurückführt, Hat Vergiftung erzeugten, nämlich Fieberanfälle dieſe Richtung von Tag zu Tag glän- von regelmäßig typiſchem Verlauf mit Zwi— zendere Reſultate, ſowohl in der Ermittel- ſchenzeiten bis zu 60 Stunden und mit Kleinere Mittheilungen Temperaturſteigerungen über 2“ C,, ſowie die charakteriſtiſchen Milzanſchwellungen der ſchwereren Erkrankungen, wobei ſich in der Milz mehrfach das ſchwarze Pigment vor— fand, welches beim Menſchen die das Ma— laria-Fieber nicht ſelten begleitenden Fälle von Schwarzſucht (Melanämie) erzeugt. Wir geben die wichtigſten Reſultate, wie ſie am Schluß der im Archiv für experi— mentelle Pathologie (Bd. XI, S. 122) er⸗ ſchienenen Originalabhandlung zuſammen— geſtellt ſind, hier kurz wieder: 1) Das Malariagift befindet ſich in großer Verbreitung und Menge in dem Boden der Malaria-Gegenden ſchon zu einer Jahreszeit, in welcher Erkrankungen von Menſchen noch nicht ſtattgefunden haben. 2) Es kann auch zu dieſen Zeiten an beſonders günſtig gelegenen Orten aus den der Bodenoberfläche zunächſt gelegenen Luft— ſchichten gewonnen werden. Zu dieſem Zwecke wurden vermittelſt eines Ventilators je 300 Liter Luft mit großer Kraft und Geſchwindigkeit bei geringem Querſchnitt des Luftſtromes gegen eine mit Leimlöſung bedeckte Glasplatte getrieben, auf welche ſich die feſten, in der Luft befindlichen Partikel fixiren. 3) Das in Malaria-Gegenden ſtagni— rende Waſſer ſcheint das Krankheitsgift nicht zu enthalten, obwohl daſſelbe, wie z. B. das Waſſer des Sees von Capro— lace, außerordentlich reich an niederen Or— ganismen ſein kann, und es ſprechen unſere Verſuche entſchieden dafür, daß eine große Menge Waſſer überhaupt die Entwickelung des Malariagiftes verhindert. 5) Filtrate der (theils dem Boden ent— nommenen, theils durch Kulturen vorbe— reiteten) Flüſſigkeiten ergaben nur geringe Temperaturſteigerungen, auch bei Anwend— ung einer fünffach größeren Menge, ent— weder von intermittirendem Charakter, oder auch nur einem einmaligen, unmittelbar nach der Injektion eintretenden Fieberanfall. Schon eine Filtration durch doppeltes Papier be— freite die Flüſſigkeiten von den Krankheits— keimen, während die Abſonderung anderer Infektionskeime viel weniger leicht zu er— reichen iſt. 9 7. Die Organismen, welche wir auf Grund unſerer Unterſuchungen als die wahre Urſache der Malariafieber anſehen müſſen, indem ſie ſich ſowohl in den wirkſamen Subſtanzen, die aus dem Boden und der Luft gewonnen wurden, wie in unſeren Kulturen, wie auch in den Körpern der erkrank— ten Thiere vorfanden, gehören dem Genus Bacillus an. Im Boden von Malaria— Gegenden ſind ſie in Geſtalt zahlreicher, beweglicher, glänzender Sporen von läng— lich ovaler Form mit einem größeren Durch— meſſer von 0,95 Mikromillimeter“) vor— handen; dieſelben wachſen ſowohl im Thier— körper, wie in Kulturapparaten zu langen Fäden heran, welche anfänglich homogen ſind, ſpäter ſich theilen und in dem Innern der Glieder wieder neu entwickeln. Die erſte Bildung dieſer Sporen geſchieht wand— ſtändig, ſchließlich aber wird das ganze Innere der Glieder von ſolchen Körperchen erfüllt. Wegen dieſer beſonderen morpho— logiſchen Verhältniſſe glauben wir dieſelben als eine beſondere Art der Bacillen an— ſprechen zu müſſen, welche wir, da wir ſie auch im Körper der inficirten Thiere ſich entwickeln ſahen, als Bacillus Malariae zu bezeichnen vorſchlagen. 8) Von den biologiſchen Verhältniſſen dieſer Pflanze (?) wollen wir hier noch her— vorheben, daß dieſelbe bei Ausſchluß freien Luftſauerſtoffes ſich nicht weiter entwickelt, *) Ein Mikromillimeter iſt gleich 0,001 und Journalſchau. Millimeter. — — 8 — ee — er & Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 137 daher zu der Klaſſe der Aerobii gehört; Nachdem die armen Thiere gründlichſt her— ferner, daß ſie ſich nicht im Waſſer, wohl untergekommen, zum hinfälligen Skelett ab— aber in Flüſſigkeiten entwickelt, welche ſtick— ſtoffreich ſind, wie Leimlöſung, Eiweiß, Harn und Körperflüſſigkeiten. lichſte Entwickelung derſelben im Körper Die reich- inficirter Thiere findet in der Milz und im Knochenmark ſtatt, welche in einigen unſerer Fälle lange homogene Fäden von 0,06 — 0,084 Millimeter bei einer Dicke von 0,6 Mikromillimeter enthielten. In demſelben Bande (XI) des Archivs für experimentelle Pathologie befindet ſich der Abdruck eines Vortrages, den der Privatdocent unb Aſſiſtent der Greifs— walder Klinik, Dr. Max Schüller, am 9. Februar 1879 im Greifswalder medi— einiſchen Verein gehalten hat, und welcher nicht mehr und nicht minder als die bis— her für unmöglich gehaltene radikale Heil— ung der Lungentuberkuloſe zum Gegenſtande hat. Prof. Klebs, Herausgeber des ge— nannten Archivs, hatte nämlich beobachtet, daß in den Tuberkeln eine Art runder Bakterien (Mikrokokken) enthalten ſeien, und darauf gründete Dr. Schüller einen Ver⸗ ſuch, die Tuberkuloſe durch eine bakterien— tödtende Behandlungsmethode zu heilen. Er wählte zu dieſem Zwecke Kaninchen und impfte denſelben die Tuberkuloſe erzeugen— den Bakterien durch Injicirung ein. Als— dann behandelte er ſie mit antiſeptiſchen Mitteln, Kreoſot und benzoeſaurem Natron, und zwar indem er dieſe Bakterien tödten— den Mittel theils inhaliren ließ, theils in— jicirte. Dabei zeigte das Inhalationsver— fahren auffallend günſtige Erfolge. gleicher Geſundheit aus, und machte die— ſelben in angedeuteter Weiſe tuberkulös. ergaben. gemagert waren und die Freßluſt und den Pelz verloren hatten, überließ er das eine der Thiere, welches er in ſeinem Berichte das Kontrol-Thier nennt, unter gewöhn— licher Pflege und Fütterung ſich ſelbſt. Das andere ließ er täglich etwa drei Stun— gen lang in einem hierzu eingerichteten Kaſten inhaliren. Das Kontrol Thier ver— endete regelmäßig nach fünfzig bis ſechzig Tagen. In ſeiner Lunge und in ſeinen übrigen Eingeweiden war die vollſtändig ausgebildete Tuberkuloſe nicht blos mikro— ſkopiſch, ſondern ſelbſt mit bloßem Auge erkennbar. Das Inhalations-Thier begann anfangs langſam, ſpäter raſch ſich zu er— holen, bekam Freßluſt, wurde binnen einigen Wochen wieder dick und fett, ſetzte einen neuen, üppigen Pelz an und konnte ſchließ— lich als „vollkommen geſund“ entlaſſen wer— den. Dieſe ſeit anderthalb Jahren von Dr. Schüller wiederholten Verſuche, bei denen auch andere, zum Theil noch günſtiger wirkende Stoffe inhalirt wurden, veran— laßten Profeſſor Procop von Roki— tansky in Innsbruck vor einigen Monaten in ſeiner Klinik Verſuche auch mit Menſchen anzuſtellen, bei denen die Tuberkuloſe be— reits weit vorgeſchritten war, und die einen theilweiſe ebenfalls ſehr günſtigen Erfolg Einige Mittheilungen darüber, die der Aſſiſtent deſſelben, Dr. Kroczak, in die Oeffentlichkeit gelangen ließ, erregten begreiflich ein ungeheures Aufſehen, und die Nachfrage nach benzoeſaurem Natron war in Wien plötzlich ſo groß, daß die Dr. | Schüller ſuchte ſich immer je zwei Thiere | von gleichem Alter, gleicher Stärke und Apotheker nicht im Stande waren, dieſelbe zu befriedigen. Natürlich iſt es ſehr frag— lich, ob die Selbſtbehandlung mit dieſem Mittel nicht unter Umſtänden mehr Schaden als Nutzen anſtiften wird. In der Roli— Kosmos, III. Jahrg. Heft 8. 18 138 tansky'ſchen Anſtalt läßt man nach einer Mittheilung des Dr. Kroczak täglich ein zehntel Procent des Körpergewichts benzoe— ſaures Natron in fünfprocentiger Löſung mittelſt eines gut ziehenden Siegle'ſchen Pulveriſators auf zwei Mal (früh und brechung einathmen. Dazu reichliche Be— friedigung des ſich bald regenden Appetits aller ſchwächenden Einflüſſe. Der Mammuth-Baum und feine Verbreitung in der Vorwelt. Der Mammuth- oder Rieſenbaum (Big- tree der Nordamerikaner) wurde 1852 in Californien entdeckt und 1853 von Lindley beſchrieben, der ihm, zu Ehren des Herzogs von Wellington, Arthur Wellesley, vormaligem Generaliſſimus der britiſchen Armee, den Namen Wellingtonia gigantea gab, unter welchem Namen er auch die Runde durch beinahe ganz Europa gemacht, nachdem Samen vom Vaterlande hierherge— kommen waren. Einzelne Schmuckbäume, die ſich durch ihren regelrecht pyramidalen Wuchs und ihr friſches Grün vor allen anderen Bäumen auszeichnen, finden ſich in allen beſſern Gärten bis ins mittlere Schweden, ein Pracht-Exemplar z. B. im Garten des Garten-Vereins zu Gothenburg (57 40° u. Br.), während an andern Orten auch Verſuche gemacht wurden, ſie als Waldbäume zu verwenden, wie zu Harefield bei Southampton, wo ein Herr Grand auf ſeinem Gute Bittern 700 Stück derſelben anpflanzte, eine Pflanzung, die wohl die vollkommenſte in Europa ſein dürfte. Sie findet ſich auf einem kieſigen Ackerboden mit thonigem Untergrunde, den Weſt- und mit Fleiſchkoſt, friſcher Luft und Verhütung kalten Winde einigermaßen geſchützt. Abends) ſieben Wochen lang ohne Unter Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Südweſt-Winden ausgeſetzt, aber gegen die Der älteſte der Bäume iſt 22 Jahre alt und und 11 Meter hoch; die jüngſten wurden im Jahre 1864 erzogen und ſind durch— ſchnittlich 8 Meter hoch; alle zeigen einen prächtigen geſunden Wuchs. Auch in Ober— Italien und am Genfer See ſehen wir hohe Bäume, wogegen ſie bei Zürich nicht mehr gedeihen wollen. — Der ſchöne Baum hält unſere gewöhnlichen Winter im Freien ohne weiteren Schutz aus, als einiges trockenes Laub auf den Wurzeln und um— gehängtes Tannenreiſig auf dem oberen Theile. In ſeinem Vaterlande Californien, wo dieſer Baum einen einſamen Diſtrikt auf erhabenen Abhängen der Sierra Nevada, etwa 1600 Meter über dem Meere be— wohnt, iſt er wegen ſeiner außergewöhnlichen Dimenſionen der König des Waldes und das Reiſeziel vieler wißbegierigen Wanderer, die den hervorragendſten Bäumen beſondere Namen gegeben haben. „Herkules“, der 1862 von einem Sturm umgeworfen wurde, war 72 Meter hoch und hatte einen Durchmeſſer von 4,5 Meter, 8 Meter über dem Wurzelhalſe gemeſſen; der „Levi— athan“, der vor Kurzem gefällt wurde, war 100 Meter lang, hatte einen Durch— meſſer von ungefähr 7 Metern und, nach J. G. Lemnon's Unterſuchungen, ungefähr 1500 Jahresringe, wonach ſein Alter auf etwa 1500 Jahre zu ſchätzen wäre, wenn man nicht nach eingehenden Beobachtungen gefunden hätte, daß in heißen, trockenen Ländern dikotyledoniſche Bäume oft zwei Ringe in einem Jahre bilden. — An anderen Bäumen, die Lemnon unterſuchte, fand er 1258, 1260 und 1361 Jahresringe, mit 8 Meter Durchmeſſer beziehungsweiſe 25 Meter Umfang. Die Rinde mancher Bäume "a iſt 40 Cm. dick, von der Farbe des Cedernholzes und ſehr leicht. Wenn wir oben ſagten, daß der Baum als Wellingtonia gigantea überall bekannt ſei, ſo iſt ihm dieſer Name doch nicht un— beſtritten geblieben. Decaisne und Dr. Torrey ſuchten nämlich 1853 nachzuweiſen, daß derſelbe eine Sequoja ſei, welche Gatt— war. Es erinnert dieſer Name an den Indianer Sequo ah vom Stamme der in einem Vortrage in der botaniſchen Sektion der Schweizer naturforſchenden Geſellſchaft erzählte, daß er ganz aus ſich und ohne mit der Kulturwelt in Verbindung zu ſtehen, ein Alphabet erfunden und ſeine Stammge— noſſen mit der von ihm erfundenen, auf Baumblätter geſchriebenen Schrift vertraut keſen in Gebrauch, ehe die Weißen irgend welche Kunde davon hatten; ſpäter haben die Miſſionäre ſie angenommen und 1828 wurde eine Zeitſchrift in dieſer Schrift gedruckt. — Sequo Yah wurde mit ſeinen Stammesgenoſſen aus ſeiner Heimath in Alabama vertrieben und ſiedelte ſich in Neu⸗Mexiko an, wo er 1843 ſtarb. Als Endlicher im Jahre 1846 ſeine Synopſis der Coniferen bearbeitete und eine Anzahl neuer Genera gründete, machte ihn Dr. Jak. v. Tſchudi, der jetzige Schweizer Geſandte in Wien, der damals bei Endlicher wohnte, indem er den Rothholzbaum (Red wood der Amerikaner) dieſem ausgezeichneten Sprachgenie der Rothhäute widmete und ung der Buchſtaben uns mundgerecht machte: ung von Endlicher aufgeſtellt worden Cherokeſen, von dem Profeſſor. O. Heer gantea genannt werden muß, iſt nur noch gemacht habe. Dieſelbe kam bei den Chero- | auf dieſen merkwürdigen Mann aufmerkſam und bat ihn, demſelben ein Andenken zu ftiften, was Endlicher denn auch that, den Namen nur durch eine kleine Veränder⸗ Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. er nannte die Gattung Sequoja und ihr 139 wurde auch unſer Baum als S. gigantea beigeſellt. Der Volksſtamm der Cherokeſen iſt im Ausſterben begriffen und damit auch ſeine Schriftſprache; doch wird Sequo Jah's Name länger als die Rieſenbäume ſeines Landes fortleben, denn auch dieſe ſcheinen im Ausſterben begriffen zu fein; aber ſie haben Vorfahren, die wohl, und mit ihnen der Name Sequo ah, niemals vergeſſen werden können. Unſere Wellingtonia, die nach De— caisne und Torrey auch Sequoja gi- auf einzelne Baumgruppen beſchränkt, und wenn die andere Art, Sequoja semper— virens Endl., trotz der Zerſtörungswuth amerikaniſcher Holzhändler, an der Küſte noch große Wälder bis nach Oregon hinauf bildet, ſo iſt doch der Nachwuchs auch dieſer Art nur unbedeutend. Dieſe letztere Art hat durch die zweizeilig geordneten, abſtehen— den Blätter die Tracht unſerer Eibenbäume (Taxus) und kleine kugelige Zapfen, während die andere, S. gigantea, ſchmälere, an die Zweige angedrückte Blätter hat, welche ihr mehr die Tracht der Cypreſſe geben. Die Gattung hat, nach O. Heer, eine intereſſante Geſchichte; wir begegnen ihr ſchon in der Tertiär-Zeit in einer ganzen Reihe von Arten. Zwei von ihnen ent— ſprechen den beiden lebenden, die Sequoja Langsdorfii der S. sempervirens, die S. Sternbergi aber der 8. gigantea. Während aber die beiden lebenden Arten auf Californien beſchränkt ſind, waren die tertiären über mehrere Welttheile verbreitet. S. Langsdorfii wurde zuerſt in den Braunkohlen der Wetterau endeckt, Heer fand ſie auch am hohen Rhonen und in Monod mit Zweigen und einem Zapfenaft, ebenſo in Grönland (bei 70% u. Br.) ſehr häufig, von wo ihm hunderte von beblätterten 7 140 Zweigen, aber auch Blätter und zahl reiche Es fand ſich der Fruchtzapfen zukamen. Baum aber auch in Spitzbergen bei faſt 78° n. Br., wo Nordenſkiöld am Kap Lyell prachtvoll erhaltene Zweige geſammelt dieſen hochnordiſchen Breiten hat. Von hat Heer die Art durch ganz Europa bis nach Mittel-Italien hinab (Senegaglia, | Golf von Spezia) verfolgt, ebenſo konnte er ſie in Aſien, in der Kirghiſen-Steppe, in Pooſiet, an der Küſte des japaniſchen Meeres und andererſeits in Alaska und Sitka nachweiſen, alſo vom 43. bis zum 78 n. B.; andere, der 8. Langsdorfi nahe verwandte Arten ſind in Grönland, Spitzbergen und den Vereinigten Staaten von Nord-Amerika aufgefunden worden. Wenn oben genannte „Arten der jetzt noch lebenden Sequoja sempervirens ent— ſprechen, fo kann auch der 8. gigantea ein tertiäres (miocenes) Ebenbild zur Seite geſtellt werden, nämlich die 8. Sternbergi (Araucarites Sternbergi Goepp.), deren ſteife, vorn zugeſpitzte Blätter in gleicher Weiſe dicht um die Zweige geſtellt ſind und deren eiförmige Zapfen dieſelbe Größe haben. Dieſe Art wurde zuerſt in Oeſterreich auf— gefunden, Profeſſor Heer erhielt ſie aber auch aus Oeningen, Island und Grönland, konnte ſie von Mittel-Italien bis nach und traf ſie vom unterſten Miocen bis an den Schluß dieſer Periode. — Wenn 8. Langs dorfii und die beiden extremen Formen der Gattung Se— quoja, entſprechend den noch lebenden 8. sempervirens und 8. (Wellingtonia) gi- gantea darſtellen, jo füllen weitere ſechs im Miocen gefundene Arten die Lücke aus. Wir übergehen ſie hier. Aber die Gattung läßt ſich noch weiter nach rückwärts verfolgen, denn im Zeit— Sternbergi Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. alter der Kreidebildung erſcheint ſie in zehn verſchiedenen Arten, von denen wir nur Sequoja Reichenbachi nennen, die in Frank— reich, Belgien, Böhmen, Sachſen, Grönland und Spitzbergen gefunden worden iſt. Wenn in die jetzige Schöpfung nur zwei Arten, und zwar die beiden Flügel der Gattung übergegangen ſind, ſo hat dieſe doch ſchon in der Kreidezeit eine große, in der Tertiärzeit aber die größte Verbreit— ung gehabt. Blicken wir noch weiter rückwärts, auf die Jurazeit, ſo findet ſich dort wohl eine große Zahl Nadelhölzer, in der Gattung Pinus ein noch lebender, arten— reicher Typus, aber von einer Sequoja oder Wellingtonia, die ſich doch ſchon in der Kreideperiode ſo reich entfaltet hatte, iſt bis jetzt nichts endeckt worden. Die Grundform und Abſtammung der Korallen. In der Jenaiſchen Zeitſchrift für Natur— wiſſenſchaften (Bd. XIII, Heft 2, 1879) hat Dr. Wilh. Haacke in Jena eine Arbeit „Zur Blaſtologie der Korallen“ veröffent— licht, welche in mehrfacher Beziehung neues Licht wirft auf die Morphologie und Phylo— Nord-Grönland (bei 70% u. Br.) verfolgen | genie der Korallen. Bei einem oberflächlichen Anblick der Korallenthiere wird der durch die ſtockloſen, ſolitären Seeroſen, Seeanemonen und andere Aktinien verſtärkte Eindruck er— weckt, daß die Korallenthiere durchweg regel— mäßig ſternförmig (aktinot) gebaut ſeien, und ſich alſo der durch mannigfache Beiſpiele illuſtrirten Theorie Haeckel's einfügen, nach welcher die regelmäßig fternfürmige Grund— form mancher Thiere ſich durch frühe An- paſſung an eine feſtſitzende Lebensweiſe erklären läßt, während die meiſten Thiere, — durch Anpaſſung an eine in beſtimmter Richtung kriechende Lebensweiſe, die ſo— genannte „bilateral ſymmetriſche“, richtiger „dipleure Grundform“ angenommen haben. Indeſſen konnte Dr. Haacke, die ſchon früher von einigen Beobachtern hinſichtlich einzelner Korallenthiere ausgeſprochene Er— kenntniß, daß dieſelben nicht aktinot, ſondern „bilateral-ſymmetriſch“ gebaut ſeien, zu einem allgemeinen Geſetze hinſichtlich der ſtockbilden— den Korallen erweitern; der Korallenmund iſt nicht rund, ſondern oval und zwar ſo, daß die Längsachſe des Ovals ſtets durch zwei Mundarme (Tentakeln) geht. Es ver— bindet ſich damit eine Unregelmäßigkeit, die ſich auch im innern Körperbau, und nament— lich in der Vertheilung der Geſchlechtsdrüſen und in andern Eigenthümlichkeiten ausſpricht, ſo daß man deutlich Rücken- und Bauchſeite unterſcheidet, die den Polen des langgezogenen Mundes entſprechen. Haacke bezeichnet dieſe Form als die amphipleure. Bekanntlich zeigen viele Phanerogamen— blüthen z. B. Labiaten, Perſonaten, Orchi— deen, Papilionaceen u. A. die gleiche am— phipleure Grundform, wie die meiſten Korallen-Perſonen; man kann auch bei ihnen Rücken und Bauch, rechte und linke Seite unterſcheiden. Nun iſt bei dieſen Phanero— gamenblüthen die Rückenſeite immer der Blüthenachſe der Pflanzen zugewendet, (außer wenn eine Drehung ſtattgefunden hat, wie z. B. bei vielen Orchideen), woraus unzweifel— haft hervorgeht, daß dieſe Stellung und die amphipleure Grundform der Blüthe in urſächlichem Zuſammenhange ſtehen. In der That ſind bei vielen Pflanzen nur die Seitenblüthen amphipleuriſch, die endſtän— digen oder Mittelblüthen aber aktinot gebaut, wie z. B. namentlich bei den Compoſiten, aber auch in vielen andern Fällen, z. B. bei Ruta, wo die Mittelblüthe fünftheilig, Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 141 die Seitenblüthen viertheilig, und bei den Umbelliferen, wo z. B. bei der wilden Möhre (Daueus) eine einzelne, regelmäßige, purpurſchwarze Blüthe inmitten der Schaar weißer amphipleuren Blüthen ſteht, wie das einzelne Purpurhaar auf dem ſchwarzen Haupte des Niſus. Offenbar ſind es Wachsthums— verhältuniſſe, zuſammenhängend mit der ſo— genannten Epi- oder Hyponaſtie der Seiten— äſte, welche dieſe unregelmäßige Ausbildung der Seitenblüthen bedingen. Eine inter— eſſante Beſtätigung dafür bilden die Pelorien, welche man namentlich bei Perſonaten findet, bei denen die Mittelblume durch einen Ge— waltakt (Ausbildung von fünf Spornen bei Linaria) zur aktinoten Form zurückkehrt. Ganz ähnlich dieſen verſchiedenen Seiten— blumen verhalten ſich nun die ſeitlich an ihren Stöcken ſitzenden Korallenthiere, die ja in ſo vieler Beziehung den Blumen vergleichbar ſind und früher auch als ſolche galten. Sie kehren ebenfalls ihren Rücken dem Stammcentrum zu, und bei Madre- pora beobachtete Haacke den Terminal— blüthen entſprechende, endſtändige, aktinote Polypen, während die ſeitenſtändigen durch— weg amphipleur gebaut waren. Es iſt hiernach wohl kein Zweifel, daß die Stock— bildung die Urſache jener regelmäßigen Ab— weichung von der aktinoten Grundform iſt, und daß die Stammform der Korallen, der obenerwähnten Theorie Haeckel's ent— ſprechend, wirklich regelmäßig ſternförmig (aktinot) gebaut geweſen ſein wird. Einen nur ſcheinbaren Einwand gegen dieſe Theorie bilden gewiſſe ſolitäre, d. h. nicht ſtockbildende Korallen, die ebenfalls amphipleuren Bau beſitzen, z. B. Cerean- thus. Es iſt aber höchſt wahrſcheinlich, daß ſolche ſolitäre Arten dennoch von ſtock— bildenden Arten abſtammen, wenn dies auch in Folge abgekürzter Vererbung in — 3 142 Entwickelungsgeſchichte nicht mehr erkennbar ſein ſollte, ebenſo wie wir nicht zweifeln, daß auch diejenigen Meduſen von ſtockbildenden I Hydroidpolypen abſtammen, bei denen die Entwickelungsgeſchichte davon keine Andeut— ung giebt. Auf Grund dieſer Betrachtungen ent— wirft Dr. Haacke folgende Skizze von dem Stammbaum der Korallen: „Ich betrachte“, ſagt er, „als die Stammform ſämmtlicher Korallen eine regulär pyramidale d. h. aktinote, ſolitäre Form mit vier Theilſtücken (Parameren), welche ihrerſeits aus einer der Hydra naheſtehenden Hydro— idenform abzuleiten wäre. Aus dieſer ſoli— tären Stammform gingen wahrſcheinlich ſchon ſehr frühzeitig ftodbildende Formen hervor, und die Stockbildung war die Ur— ſache, daß die Perſonen dieſer Arten die aktinote Grundform verloren und die am— phipleuriſche annahmen. Dieſe Abänderung der Grundform bei den entwickelten Per— ſonen übertrug ſich auch auf die Ontogenie, und zwar ſo, daß die zuerſt entſtehenden Fleiſchwände (Sarcoſepten), die den Körper fächerförmig theilen, nicht mehr in der Zahl der Parameren (4), ſondern immer nur paar— weiſe zum Vorſchein kommen. Ein Zweig der Descendenten dieſer vierzähligen ſtockbildenden Korallen mit ab— geänderter Perſonenform und cenogenetiſirter Keimgeſchichte behielt auch fernerhin den vier— zähligen Bau der Perſonen bei; es iſt dies der (in den älteſten Zeiten am ſtärkſten vertretene) Zweig der Tetrakorallen. Bei der Stammform eines anderen Zweiges, der Oktokorallen nämlich, wurde die Paramerenzahl verdoppelt; die Stammform dieſes Zweiges beſaß acht Ten— takeln, acht Fleiſchwände u. |. w. und ver- erbte dieſe einfache Achtzahl auf ſämmtliche Descendenten. Ob dieſelbe noch ſtrahlig Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. (aftinot) oder bereits amphipleur gebaut war, müſſen genauere vergleichende Studien der Entwickelungsgeſchichte zeigen. Die Stammform der Hexakorallen dagegen ging jedenfalls aus einer bereits durch Stockbildung abgeänderten Tetra— korallen-Form durch Einſchiebung zweier neuen Parameren vor ſich. Denn die paar— weiſe Bildung der Theilſtücke läßt ſich nur aus einer bereits amphipleur gewordenen Grundform verſtehen. Dr. Haacke ver⸗ muthet, daß die Entſtehung ſechszähliger Meduſen auf ähnliche Weiſe zu erklären ſein möchte. Neben dieſen drei formenreichſten Gruppen kommt noch eine kleinere vierte Familie (Hyanthidae Gosse) vor, zu denen als be— kannteſte Gattung Cereanthus gehört. Wegen ihrer vielfachen Abweichungen nennt fie Haacke Heterocoralla. In einem Anhange zu dieſer Abhandlung, der im „Zoologiſchen Anzeiger“ erſchienen iſt, giebt Dr. Haacke noch folgenden Stammbaum der Korallen, mit Eintheilung in zwei Hauptgruppen, Zygoseptigera mit paar⸗ weiſe zuſammengehörigen Nachbar-Sarco— ſepten, und Diaseptigera, wo eine ſolche paarweiſe Gleichheit ſich nicht ausgebildet hat: Stammbaum der Korallen. Diaseptigera Zygoseptigera Heterocoralla Octocoralla Hexacoralla | Tetraseptata Tetracoralla | Tetractinida | | Protocoralla Corallarcha Archydra - - g neuern Arbeit eine definitive Erklärung über die Entſtehung dieſer merkwürdigen Anſätze des Kamelrückens geben zu können, nach— dem ſchon Buffon an die erblichen Schwie— len des Kamels eine Discuſſion über die Erblichkeit erworbener Abänderungen ge— knüpft hat. Schon früher war Profeſſor Lombroſo der Meinung, die Höcker ſeien in Folge des Laſttragens beim Kamel ent— ſtauden, welches ja hauptſächlich nur durch jene eigenthümlichen Auswüchſe (von der Statur abgeſehen) ſich vom Lama unter— ſcheidet. Im Fanfulla della Domenica Nr. 7 (Rom 7. Sept. 1879) erzählt Profeſſor Lombroſo, wie er einſt bei Unterſuchung eines kranken Laſtträgers zu Genua auf deſſen Rücken, ungefähr in Mitte des— ſelben, gerade an der Stelle, wo der Mann den Schwerpunkt ſeiner Laſten ſtützte, ein Fettpolſter von Fauſtdicke vorfand, welches ſeinem Beſitzer nach deſſen eigner Angabe bei ſeinem Handwerke von großem Nutzen war. Mit Hülfe der Doktoren Gras, Cougnet, Fenoglio und des Herrn de Paoli in Genua wurden im Laufe von zwei Jahren 72 andere Laſtträger unterſucht, von denen vier jene Fettgeſchwulſt eben— falls aufwieſen, während mehr als die Hälfte von ihnen, ohne ein wirkliches Fettpolſter zu beſitzen, eine größere Entwickelung des Dorn— fortſatzes zeigten, der rings umher verdickt und im ſubcutanen Gewebe erhärtet war, ſo daß allerdings eine Geſchwulſt, aber ohne genaue Abgrenzung, gebildet wurde; dieſes Merkmal hat ſogar unter den Laſtträgern einen beſonderen Namen (tuazz). Bei zwei im Handwerk alt gewordenen Männern war der Rücken ſo eingebogen, daß ſie wirk— Die Enkſtehung des Kamelhöckers. Profeſſor Lombroſo glaubt in einer Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 143 liche Höcker beſaßen, während der Thorax aufgeblaſen erſchien, wie ein Fäßchen. Wenn nun wenige Jahre des Laſttragens ſchon derart den Rücken unſerer Mitmenſchen modificiren, wäre es da nicht anzunehmen, daß ein Gleiches im Laufe der Jahrhunderte in größerem Maßſtabe bei den Kamelen ſtattgefunden, bei denen ſich zur direkten mecha— niſchen Aktion noch die Einflüſſe der Erb— lichkeit und der Selektion geſellten? Denn ihre Herren werden es bequemer gefunden haben, ſich dieſer Thiere zu bedienen, die ſchon einen fertigen natürlichen Sattel für die Laſt beſaßen, als des glatten, mehr oder weniger ſchiefen und abſchüſſigen Rückens des Lamas oder der ihm zunächſt ſtehenden Kamele. Die neueren Studien von Chau veau, Cope, Gaudry und jüngſt von Lom— bardini (Ricerche dei Camelli) haben nun dargethan, daß das Kamel durch ſeine ana— tomiſchen Charaktere zu den älteſten gewiſſen foſſilen Gattungen nächſtſtehenden Thieren gehört, und doch kommt daſſelbe in der Ge— genwart nur als gezähmtes Thier und in großer Individuen-Zahl vor (zwei Beding— ungen welche, wie Darwin bewies, die Umwandlungen der Arten begünſtigen); und zwar in jenen warmen Regionen (Indien, Africa), wo andere Thiere, Schafe, Zebu, und ſelbſt die Menſchen häufig Fettaus— wüchſe aufweiſen. Während wir keine un— mittelbare wilde Verwandten dieſer Thierart kennen (wenigſtens nicht beſtimmt), findet ſich ihr foſſiler Stammvater hauptſächlich da, wo nicht nur das Lama exiſtirt, ſondern auch, was wichtiger iſt, deſſen wilde Mit— Gattung, das Guanaco, ſodaß wir über des Kamels Abſtammung nicht mehr ſehr im Unklaren bleiben. Der Höcker nun, welcher, wie bei den Geſchwulſten der Laſtträger, von einem = SI — — — — — 144 leichten Auswuchs des Dornfortſatzes und einer Anhäufung von Fett gebildet wird, fehlt faſt vollſtändig bei jener Art gezähmter Kamele, welche zum Laufen beſtimmt iſt, dem Mahari der Araber (was eben Kamel ohne Höcker bedeutet). Wie Lombardini zuerſt beobachtete, findet man denſelben auch bei dem weit entwickelten Embryo kaum an— gedeutet; ſogar beim ausgewachſenen Kamel verſchwindet der Höcker nach längerem Faſten faſt ganz, und nicht nur dies: jüngſt fand man in Mittelaſien Kamele, die man für wild hielt, die aber wohl eher verwildert waren, und welche faſt ganz ihren Höcker, ſo wie auch die Knieſchwielen verloren hatten. Wie iſt es aber nun zu erklären, daß es Kamele mit zwei und ſolche mit nur einem Höcker giebt? Lombardini giebt uns eine Antwort hierauf, welche die Lombroſo'ſche Hypotheſe beſtätigt. Er entdeckte, daß der eine Höcker gewiſſermaßen nur eine Diſſimulation des doppelten Höckers iſt, welcher auch bei dem einhöckrigen Kamele exiſtirt, aber nur in embryonalem Zuſtande. Und dies erklärt ſich nun wie folgt. Die Laſtver— theilung vermittelſt der urſprünglichen Satt— lung hatte auf jenes Lama, welches Kamel wurde, durch einen doppelten Widerſtands— punkt eine doppelte Fettanhäufung hervor gebracht; in ſpäteren Zeiträumen, aber als die Sattlungsweiſe ſich änderte, modificirte ſich der zweite Höcker, bis er faſt ganz ver— ſchwand. Und wie die Kunſtgriffe des Men— ſchen dazu beigetragen haben, zeigt die be— kannte Thatſache, daß heute noch die Turco— manen den neugeborenen kleinen Kamelen einen der Höcker amputiren, gerade um ſie zum Transport tauglicher zu machen. Es iſt nun um ſo wahrſcheinlicher, daß ſie zur Fort— pflanzung ſolche Individuen vorzogen, deren zweiter Höcker geringere Dimenſionen auf— Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 1 wies, indem ihnen ſo eine nicht immer glück— liche Operation erſpart blieb; und auf dieſe Weiſe wurde durch einen doppelten Selek— tionsproceß dieſe wahre, vom Menſchen ge— ſchaffene Anomalie wiederum vom Menſchen modificirt. Bedenkt man nun, daß auf den älteſten Monumenten vor 2000 Jahren das Kamel ſchon mit vollſtändigen Höckern dargeſtellt wird, ſo bekommen wir einen neuen Beweis für das große Alter des Menſchengeſchlechts, und es wird wahrſchein— lich, daß das Kamel das erſte gezähmte Laſtthier war. Da nun ſchließlich der Aus— gangspunkt der Kamelſpecies mit größter Wahrſcheinlichkeit in America (nach Cope) zu ſuchen ift*), fo beſtätigt dies wiederum die neue Theorie, welche von America nicht nur verſchiedene Hausthiere, ſondern auch einige unſerer Raſſen (Armengo) herleitet. Das arabiſche Wort hamel, zu deutſch „tragen“, gab gleicherweiſe Urſprung dem Namen Kamel und dem Genueſiſchen ca— mallo (Laſtträger), ſo daß Beide nicht nur jenes merkwürdige Abzeichen, ſondern auch den gleichen Namen in Anbetracht ihres ähnlichen Handwerks tragen. Jene Fettgeſchwulſt ſcheint aber auch noch eine andere anthropologiſche Frage zu erledigen. Bekanntlich beſitzen die weiblichen Hottentotten eine Art Fettkiſſen am untern Rücken und an den Seiten, welches Fritſch auch bei den Frauen verſchiedener anderer angrenzenden Tribus vorfand. Lombroſo hatte bereits in feinem „Uomo bianco e uomo di colore“ die Hy— potheſe geäußert, es ſei jener Fettanſatz eine Wirkung der bekannten Sitte, die Säug— linge während der Haus- und Feldarbeit auf dem Rücken zu tragen, wo jenes natür— liche Kiſſen dann als tragbare Wiege oder Kiepe diente. Dieſe Annahme wurde noch 55 Siehe Kosmos, Band II, S. 435. die Menſchen, wie das Kamel für die Wiederkäuer, eine Art lebenden Foſſils oder beſſer Ueberreſt der prähiſtoriſchen Welt iſt und daher während ſeiner langen Exiſtenz ſich durchgehender modificiren konnte. Nach Beobachtung des Fettpolſters bei den Laſt⸗ trägern nimmt dieſe Hypotheſe um ſo größere Conſiſtenz an, als Fritſch jüngſt bei den Hottentotten entdeckte, daß dieſelben eine außergewöhnliche Fett- und ſubcutane Mus— kel⸗Entwickelung im ganzen Körper beſitzen, ein Fett jedoch, welches bei dem erſten Faſten verſchwindet, unter Zurücklaſſung von vielen Hautfalten und Runzeln die ſelbſt dem Nichterwachſenen das Ausſehen eines vor— gerückten Alters geben. Es iſt ganz natür— lich, daß bei einer Raſſe, wo das Fett ſich ſchneller am ganzen Körper bildet, der fort— geſetzte Druck auf einen beſtimmten Körper- theil hier eine größere Fettanhäufung be— wirkt, ſodaß ſich ſozuſagen ein neues Organ bilden muß, welches bei den Vortheilen, die es den armen Müttern zur Verrichtung ihrer Arbeit bietet, alle Chancen zur Ver— erbung hat. So geſchieht es denn in der Natur, daß ein kleiner chirurgiſcher Auswuchs uns Aufſchluß über einen anatomiſchen Thier Charakter geben kann, während dieſer ſeiner— ſeits uns eine Anomalie in einer Menſchen— Raſſe erklärt. Florenz, September 1879. J. E. Zilliken. Das Alter des Menſchengeſchlechts. In einem Vortrage über dieſe Frage, welchen Prof. Boyd Dawkins bei der Sheffield-Sitzung der britiſchen Natur— forſcherverſammlung hielt, machte derſelbe Kosmos, III. Jahrg. Heft 8. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 145 dadurch unterſtützt, daß der Hottentotte für folgende nicht unwichtige, allgemeine Be— merkungen. Wenn man die großen Ab— theilungen der Tertiärperiode betrachtet, fo drängen ſich in Betreff der höchſten Wirbel— thierklaſſe, der placentalen Säuger, einige wichtige Thatſachen anf. In der Eocän— Zeit hat man keine Spur, noch Anzeichen von dem Daſein irgend einer Gattung noch lebender Placenta-Thiere gefunden. Es wäre deshalb abſolut unmöglich anzunehmen, daß der Menſch ſchon in der Eocän-Zeit er— ſchienen wäre, obwohl in Betreff des Klimas und der Vegetation kein Grund gegeben wäre, aus welchem er nicht hätte da ſein können. Auch aus der Miocänzeit hat man nicht ein einziges, wohl beglaubigtes Exem— plar irgend einer jetzt in irgend einem Theile der Welt lebenden Art von Pla— centa-Thieren aufgefunden, noch Anzeichen eines ſolchen. In Frankreich bewahrt man bekanntlich eine Anzahl roh zugeſplitterter Kieſelſtein-Werkzeuge, welche der Abbe Bourgeois im miocänen Kalk von The— nay (Loir und Cher) eingebettet fand und welche eine Anzahl namhafter franzöſiſcher Archäologen und Anthropologen (3. B. de Quatrefages, Hamy, Vibray, de Mortillet u. A.) überzeugt haben, daß der Menſch ſchon in der mittleren Miocänzeit gelebt haben müſſe. Gaudry, der Fundorte und Stücke ſelbſt unterſucht hat, ſagt, man könne kaum eine Grenze ziehen zwiſchen den angeblich von Menſchen— hand bearbeiteten Stücken und den rohen Rollkieſeln, die ſich daneben finden. Da der miocäne Charakter der Fundſtelle nicht bezweifelt wird, jo würde Gau dry bei dem hohen Alter der Schicht lieber glauben, daß der Waldaffe (Dryopithecus) die Stücke zurecht geſchlagen habe, als ein fo früh erſchienener Menſch, d. h. alſo wenn man die Bearbeitung überhaupt zugeben r 19 146 müßte.“) Auch Boyd Dawkins hält es für weniger ſchwierig zu glauben, daß dieſe Kieſelſtücke das Werk höherer, aus— geſtorbener Affenarten wären, als das Werk von Menſchen. In der Pliocänzeit ſah man dann eine oder zwei Arten der lebenden Placenta— Thiere auftreten. Prof. Capellini in Bologna hat die Aufmerkſamkeit der An— thropologen auf die Thatſache gerichtet, daß gewiſſe bearbeitete Knochen, von denen ver— ſichert wird, daß ſie aus pliocänen Schichten ſtammen, Spuren der Menſchenhand zeigten. Es ſind Knochen von Walen (Balaenotus), die zur Pliocänzeit lebten, aber ausgeſtorben ſind, und die im Jahre 1876 im Thone von Monte-Aperto bei Siena und noch an drei anderen Stellen gefunden wurden. Die an einem dieſer Knochen befindlichen Ein— ſchnitte ſind ſicherlich künſtlich, aber die ung der Hausthiere, des Hundes, Schafes, Schwierigkeit, die ſich ſeinem Verſtande dar— bot, war folgende. Es war erſtens in keiner Weiſe gewiß, ob die Pliocän-Schichten, aus denen die Knochen ſtammen ſollten, ſich in einem völlig ungeſtörten Zuſtand befunden haben. Außerdem iſt es ſehr ſchwierig feſtzuſtellen, ob die betreffenden Ein— ſchnitte in den friſchen oder in den foſſilen Knochen gemacht ſind, und die Ausſplitter— ungen an dem einen dieſer Einſchnitte würden eher für die letztere Annahme ſprechen. In der That hat auch Magitot die Beweis— kraft dieſer Knochen geläugnet, während A. de Quatrefages dieſelbe zuzugeben geneigt iſt.““) ) Gaudry, Mammiferes tertiaires. Paris, 1878, p. 238. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. — — 00 — Be Boyd Dawkins ging nun in ſeiner Betrachtung zur Pleiſtocänzeit über, welche von Einzelnen kurz als Eiszeit bezeichnet wird. Damals waren die noch lebenden Arten ſehr zahlreich, von aus— geſtorbenen dagegen nur ſehr wenige vor— handen, und in den Schichten dieſes Zeitalters iſt es, wo man zahlreichen und über ein weites Gebiet zerſtreuten Menſchenſpuren begegnet. Aber dieſer Menſch war nur ein Jäger ohne Acker— bau und ohne Beſitz von gezähmten Thieren, obwohl der letztere Punkt in den letzten Jahren verſchiedentlich beſtritten worden iſt. Die prähiſtoriſche Zeit im engeren Sinne, welche dem Pleiſtocän folgte, iſt durch das Fehlen ausgeſtorbener Thierarten charakteriſirt, mit Ausnahme des iriſchen Elen, das ihr noch angehörte. Der Hauptcharakter aber beſteht in der Zähm— Pferdes, Schweines und Rindes, die der Menſch über Europa verbreitete und mit denen er das Feld bebaute. Die prä— hiſtoriſche Zeit wird demnach in die neo— lithiſche, Bronce- und Eiſenzeit getheilt, und deshalb von der hiſtoriſchen geſchieden, weil eben aus ihr keine hiſtoriſchen Erin— nerungen vorhanden ſind. Das Alter des Menſchengeſchlechts in Jahren auszudrücken, ob letzteres nämlich erſt ſeit etlichen Jahr— tauſenden oder ſchon ſeit Hunderttauſenden von Jahren auf der Erde vorhanden ſei, dazu fehlt es an irgend welchen ſicheren Anhaltspunkten. N *) Das Menſchengeſchlecht. Leipzig, 1878. I. S. 177. Literatur und Kritik. Die Erkenntnißlehre des Ariſtote— les und Kant's in Vergleichung ihrer Grundprincipien hiſtoriſch— kritiſch dargeſtellt von Dr. Rein- . f se mancher Anlaß, auf Kant näher einzu- hold Bieſe, Gymnaſiallehrer in Bar— men. Berlin, Verlag von W. Weber, 1877. 74 S. ü er Ziele, welche ſich dieſe kleine, hat, ſind es drei, jedes von den beiden anderen weſentlich verſchieden und doch in innerer Verbindung mit ein— ander ſtehend. Der Verfaſſer, welcher offenbar durch Studien auf dem Ge— biete der Geſchichte der Philoſophie zur Abfaſſung jener Schrift angeregt ward, will uns in Ariſtoteles den erſten Begründer eines erkenntniß⸗-theoretiſchen Lehrgebäudes vorführen, er will dann weiter die Reform der Erkenntnißlehre durch Kant ſchildern und endlich noch andeuten, in welchen Punk— ten eine Verbeſſerung der von Letzterem erhaltenen Ergebniſſe erforderlich ſei, um volle Befriedigung zu erlangen. Demzu— folge zerfällt die Abhandlung in drei räum— lich ſehr ungleiche Beſtandtheile. Beſondere Ausführlichkeit war bei der Schilderung des ariſtoteliſchen Syſtems nothwendig, bei | Kant konnte eine größere Kürze um des— Jaber ſehr inhaltreiche Schrift gelebt | willen Platz greifen, weil deſſen Anſichten im Allgemeinen uns näher liegen und weil durch die vorhergehende Kritik der Fehler, in welche Ariſtoteles verfallen, gehen, weggefallen war; der dritte Abſchnitt endlich, welcher die ſelbſtſtändigen Anſchau— ungen des Verf. zum Ausdruck bringen ſoll, iſt vorläufig nur eine Skizze, auf deren detaillirtere Ausführung er wohl aus dem Grunde nicht mehr Zeit und Raum verwandt hat, weil er nachträglich eine der ſeinigen ganz ähnliche Auffaſſung in A. Lange's „Geſchichte des Materialismus“ kennen lernte. Immerhin iſt auch das einft- weilen Gebotene von Werth, und in einer Zeit, in welcher die hohe Bedeutung des erkenntniß⸗theoretiſchen Problems allſeitig betont wird, können ſolche Schriften, welche, wie die vorliegende, die Orientirung auf einem ſo coupirten Terrain weſentlich er— leichtern, nur aufs Nachdrücklichſte empfoh— len werden. Insbeſondere gönnen wir es auch dem wackeren Altmeiſter der Philo— ſophie, daß ihm von Vielen eine gerechtere und vernünftigere Beurtheilung zu Theil werde. Wenn man ſo häufig von peri— patetiſchem Unſinn reden hört, ſo muß man ſich doch wahrlich fragen, ob der in dieſer Weiſe Abſprechende denn in der That von der großartigen, wie aus einem Guß erwachſe— 148 nen Weltanſchauung des Stagiriten einen Begriff habe; in der Regel iſt ihm dann dieſelbe völlig fremd, und was er allenfalls von ihr weiß, hat er aus dem corrumpir- ten Ariſtoteles einer weit ſpäteren Zeit geſchöpft, und zwar pflegt es auch dann; gewöhnlich nicht die in ihrer Art groß— ſtiſchen Klaſſiker, Thomas u. ſ. w., die ariſtoteliſche Lehre gebracht haben, mit Be— zug auf welche abgeurtheilt wird, ſondern | höchſtens die Schulphiloſophie des aus— gehenden Mittelalters, dieſe allerdings nach Prantl's Ausdruck ein „Geiſt und Herz vergiftender Quark“. Wer Hrn. Bieſe's Schrift ſtudirt hat, wird aus derſelben ein objektiveres Urtheil ſchöpfen und einräumen, daß unter den gegebenen Umſtänden A ri— ſtoteles das Menſchenmögliche geleiſtet hat. In gedrängter Darſtellung zeigt der Verf., wie aus den ausſchließlich auf die Naturerkenntniß gerichteten erſten philoſo— phiſchen Beſtrebungen der Jonier erſt unter der Einwirkung der ſkeptiſchen Sophiſtik eine wirkliche Philoſophie ſich entwickelte, wie Sokrates — allerdings nur für das engere Gebiet der Sittenlehre — und keit einer vollkommenen Erkenntniß durch Begriffe betonten und wie endlich der Letz— tere ſeine Lehre von den Ideen zu einer Der nüchterne Geiſt des Ariſtoteles mußte bald wahrnehmen, daß zwiſchen der Idee als ſolcher und deren ſinnlicher Er— ſcheinung eine weite Lücke klaffe, und daß eine einheitliche Begreifung der Welt nach anderen Grundſätzen ſich werde zu richten haben. Er ſuchte nach ſolchen und glaubte ſie auch gefunden zu haben. Eine Erkennt— nißtheorie in dem Sinne freilich, welchen wir mit dieſem Worte verbinden, ſchuf er en kenntniß⸗theoretiſche Moment Literatur und Kritik. | nicht und konnte er gar nicht ſchaffen wol len, da ihm die Nothwendigkeit einer ſolchen Wiſſenſchaft abſolut nicht hätte einleuchten können, wäre ihm auch etwa von Außen her ein Anſtoß in dieſer Richtung gekom— men. Die Frage, ob denn überhaupt eine Erkenntniß möglich und in welche Grenzen artige Form zu ſein, in welche die jchola- dieſelbe eingeſchränkt ſei, lag völlig außer— halb des griechiſchen Gedankenkreiſes. Dem helleniſchen Denker, welcher im Kosmos ein äſthetiſch wohlgeordnetes Ganzes und in ſich ſelbſt deſſen Mittelpunkt erblickte, hätte es Niemand begreiflich machen können, daß zwi— ſchen dem Weſen der Dinge und Dem, was unſere Sinne — dieſelben als normal fun— girend vorausgeſetzt — von dieſen Dingen erzählen, eine Differenz beſtehen könne; für ihn war Gegenſtand und Sinnenbild abſolut identiſch, und einzig die Frage heiſchte Be— antwortung, wieſo denn der reflektirende Geiſt die Sinneseindrücke, alſo etwas von Hauſe aus Disparates, ſich dienſtbar machen könne? So mußte denn offenbar das er— nothwendig zurücktreten, und das, was wir heute die Erkenntnißlehre des Ariſtoteles nennen, iſt in Wirklichkeit ein Gemiſch von wahrer Plato die Möglichkeit und Nothwendig— | | | Erkenntnißtheorie, Pſychologie, Logik und philoſophiſcher Methodologie, durch welches man nur an der Hand eines ſicheren Füh— | vers den richtigen Weg zu finden vermag. Art von ſelbſtſtändigem Syſtem ausgeſtaltete. geordnete Rolle zurückgetreten. | Bei Plato war die Sinneswahrnehm— ung, wie es ſich von dem Idealiſten nicht anders erwarten ließ, in eine ſehr unter— Ariſto⸗ teles, der von der Wichtigkeit der Er— fahrung ein klares Verſtändniß beſaß, wies ihr beim Zuſtandekommen irgend welcher Erkenntniß die erſte Stelle zu. Die em— pfindende Seele iſt im Stande, die Formen der Dinge, alſo das von der Subſtanz Unabhängige, auf ſich wirken zu laſſen und Literatur und Kritik. 149 ſich dieſe dadurch vollſtändig zu aſſimiliren. Zunächſt wird allerdings nur jeder einzelne Sinn für ſich zur aktuellen Mitwirkung wieder in einem Gemeinſinn, „dem Urver— mögen der einheitlichen Wahrnehmung“. Dieſer Sinn, welcher nach übereinſtimmen-⸗ der Meinung der alten Phyſiologen im Herzen localiſirt iſt, ermöglicht es, daß die iſolirten Wahrnehmungen zu generellen Ein- drücken, wie Bewegung, Zahl, Größe ꝛc. ſich verbinden. Dieſe Eindrücke ſind an dies erſt, indem ſie von einem neuen Seelen— vermögen, der Einbildungskraft, ergriffen und feſtgehalten werden. Dieſe Eigenſchaft der Seele iſt das Bindeglied zwiſchen deren rein geiſtigen und den der äußeren Wahr— nehmung zugewandten Eigenſchaften. der Seele werde, muß das Erinnerungs— vermögen hinzutreten; daſſelbe gehört, in— ſofern es „die letzte Erkenntnißform der empfindenden Seele“ iſt, allerdings noch der niederen Sphäre der Sinnlichkeit an, eröffnet aber zugleich den Zugang zur höheren des reinen Denkens, indem ja ohne ihr ſtetiges Eingreifen es dem deavosioseı, dem reflektirenden Nachdenken, an dem nö— thigen Subſtrat gebrechen würde. Man erſieht hieraus, daß A riſtoteles ein über— zeugter Empiriſt war, daß er irgend ein Wiſſen ohne den Untergrund ſinnlicher Er— fahrung ſich nicht denken konnte. Freilich kommt hinzu, wie ſchon erwähnt, daß die Erfahrung uns mit der Form der Dinge, durch welche dieſe aus der An heraus in— dividualiſirt ſind, auch dieſe Dinge ſelbſt überliefert, ſo daß nunmehr lediglich der Logik die Pflicht erwächſt, den von den empfindenden Seelenpotenzen überlieferten Da: | mit nämlich das, was die Phantaſie mo— | mentan erfaßt, auch bleibendes Eigenthum muß zu ihr, damit man ſo weit gelange, ſich noch keine Vorſtellungen; ſie werden nicht an ſich, ſondern nur aus einem ſo— Stoff entſprechend zu verarbeiten. Dieſen Punkt hatten wir vornehmlich im Auge, wenn wir oben von der Verquickung des angeregt, allein ſie alle concentriren ſich erkenntniß-theoretiſchen Elements mit dem logiſchen ſprachen. Die Thätigkeit des Geiſtes als ſolchen beginnt ſich dann fühlbar zu machen, wenn es ſich darum handelt, aus den Erfahrun— gen auf induktoriſchem Wege Begriffe zu bilden. Die Induktion ſelber gewährt noch keine wiſſenſchaftliche Gewißheit, vielmehr die Deduktion, die arrodsırrıny (vEyvn) hinzutreten. Letztere entfließt aus dem ſeiner ſelbſt bewußten Geiſt, dem vos. Nach Ariſtoteles iſt die induktive Methode zuſagen pädagogiſchen Grunde, die beſte und naturgemäßeſte, und indem er dieſes aus— ſpricht, giebt er ſeiner eigenen Methodik ein Dementi, welches uns zu denken giebt. Denn wenn es wahr iſt, daß das Herab— ſteigen vom Allgemeinen zum Beſonderen nicht nur der wiſſenſchaftlich höher ſtehende Forſchungsgang, ſondern auch der klarere und principiell einfachere iſt, ſo kann es doch nur einer gewiſſen Unvollkommenheit des menſchlichen Erkennungsvermögens zu— geſchrieben werden, daß wir uns ſtets in der umgekehrten Richtung bewegen. Von einem derartigen Mangel will aber ſonſt die ſelbſtbewußte ariſtoteliſche Philoſophie nichts wiſſen. Verfolgen wir nun die Aktion des Geiſtes bei der Begriffsbildung. Vier Punkte ſind bei jeder Entwickelung zu ſon— dern: die Form als das urſprünglich Be— ſtimmende, die einer Differentiirung durch die einzelnen Formen fähige Materie, eine bewegende Urſache und der Endzwed, um deswillen der ganze Vorgang eben einge— leitet worden iſt. Nachdem wir alſo wiſſen, — — ͤ̃—e —ᷓĩ— 150 daß etwas iſt, ftellen wir die Frage, was es iſt und warum es ſo iſt. Sobald es uns gelungen iſt, von irgend einem Dinge uns den richtigen logiſchen Begriff zu ver— ſchaffen, haben wir das Ding auch erkannt als das, was es iſt, und es ſpitzt ſich ſo— mit die erkenntniß⸗-theoretiſche Frage, die in Wahrheit eben eine logiſche iſt, dahin zu, die richtigen und — wie wir mathematiſch uns ausdrücken würden — eindeutig be— ſtimmenden Elemente einer Realdefinition ausfindig zu machen. Eine correkte De— finition iſt in der richtigen Anordnung ihrer einzelnen Beſtandtheile einem ſtrengen Syl— logismus vergleichbar. Wir ſind alſo jetzt ſo weit zu wiſſen, daß aus den von den Sinnen gelieferten, zu Eindrücken verdich— teten und durch die Erinnerungskraft dem Geiſte ſtets gegenwärtigen Wahrnehmungen von letzterem induktoriſch Definitionen ge— bildet werden, aus welchen ſich ſodann de— duktiv die Geſammtwiſſenſchaft conſtruiren laſſen muß. Wie aber hierbei die Seele eigentlich operirt, das iſt uns vorläufig noch unbekannt, und um dies feſtzuſtellen, lenkt die Betrachtung vom rein logiſchen wieder auf das Gebiet der Erkenntnißlehre zurück, welch' letztere in dieſem Falle ſich allerdings bei näherem Zuſehen als ein Stück Pſychologie erweiſt. Die Ideen ſind durchaus nicht ange— boren, allein der Verſtand iſt an und für ſich eine unbeſchriebene Tafel, die jedoch die Fähigkeit in ſich trägt, jeden Inhalt in ſich aufzunehmen. Die ſinnlichen Wahr— nehmungen löſen dieſe Fähigkeit gewiſſer— maßen aus der Ruhelage aus, und nun fängt der menſchliche Geiſt an zu arbeiten unter der Beeinfluſſung des oberſten Ge— dankenprincips. Hierdurch iſt auch wieder für die ſpecifiſch geiſtigen und vom Sinn— lichen unabhängigen Funktionen eine Zwei— Literatur und Kritik. theilung gegeben, und dieſer Gegenſatz des vo TTadMTIRog und des voss 7rowm- 20g durchzieht ebenſo die ganze ariſtote— liſche Philoſophie, wie er auch von jeher einen Zankapfel für die Commentatoren darſtellte. Unſer Verfaſſer betheiligt ſich ſeinerſeits energiſch bei der Löſung dieſer Streitfrage; wir können hier ſeiner Pole— mik nicht im Einzelnen folgen, ſondern be— gnügen uns, zu ſagen, daß er, im Gegen— ſatz zu Trendelenburg und Brentano, etwa folgendermaßen den Charakter des vodg rromtınösg definirt. Er ift das reine, abſtrakt-geiſtige Princip, das der Gottheit Ebenbildliche oder vielmehr ſelbſt Göttliche im Menſchen, und damit die Quinteſſenz des theoretiſchen Wiſſens. „Das Form— Princip, welches pſychologiſch als vovs zromtınog gefaßt wird, iſt die Vermittel— ung zwiſchen Denken und Sein, auf deren Uebereinſtimmung die Wahrheit des objek— tiven Denkens beruht.“ Wir glauben, daß des Verf. umſichtig begründete Interpreta— tion viel für ſich hat. Freilich entgeht Ariſtoteles auf dieſe Weiſe dem Vor— wurf, der menſchliche Geiſt habe ſich für die Erklärung des Weltproblems zu ſchwach erwieſen, denn der vods höheren Ranges, wenn uns dieſer Ausdruck geſtattet iſt, tritt erſt dann in Kraft, wenn derjenige von niederem Range das Werk der induktori— ſchen Begriffsconſtruktion bereits vollbracht hat, allein die Löſung der Antimonie ge— ſchieht nicht organiſch, ſondern in des Wortes wahrſter Bedeutung durch einen ad hoc zu Hülfe gerufenen deus ex machina. Der Verf. faßt ſein Urtheil über die ſtagiritiſche Erkenntnißlehre dahin zuſammen, daß fie — von anderen Einwendungen ab- geſehen — dogmatiſch ſei und deshalb un— mittelbar die Kritik Kant's herausfordern mußte. Jeder, der auch nur einigerpiaßen F mit dem Weſen des Kriticismus vertraut iſt, wird dieſem Ausſpruch zuſtimmen. Denn Ariſtoteles ſtellt es als a priori gewiß hin, daß der Seele gewiſſe Eigen— ſchaften des empfindenden Recipirens und des denkenden Verarbeitens zukommen; die Sinne münden in das Reſervoir des Ge meinſinnes, von hier gehen Leitungsröhren zum nächſten Aufnahme-Raum und ſo fort; in jeder dieſer Stationen wird das Ueber— lieferte umgeformt, und da trotz dieſes geiſtvoll ausgedachten Deſtillirapparats der Dualismus eben doch nicht zu überwinden iſt, jo greift ſchließlich das übermenſchliche Abſolute, jenes gefährliche Reſiduum ſo vieler philoſophiſchen Syſteme — ſelbſt das Kant'ſche nicht ausgenommen — in den Proceß ein. Welch' ſchweren Bedenken dieſe Conſtruktion der geiſtigen Thätigkeit unter— liegt, das ſieht heutzutage freilich Jedermann ein, aber nur Der hätte ein Recht, den großen Philoſophen zu tadeln, der ſich an— heiſchig machen könnte, ausſchließlich von der ſchmalen empiriſchen Baſis, auf welche Ariſtoteles angewieſen war, ausgehend, Beſſeres und in ſich Abgerundeteres liefern zu wollen. Wir können uns bei unſerer Analyfe des zweiten Theiles von Bieſe's Schrift ganz ebenſo, wie er ſelbſt es that, weit kürzer faſſen, inſofern wir uns hier auf bekannterem Boden bewegen. Die Dar— legung gewinnt übrigens dadurch ein höheres Intereſſe, daß allenthalben die Kant'ſche Neuerung dem ariſtoteliſchen Urbild gegen— über geſtellt wird. Als das punctum saliens darf wohl folgender Satz gelten: „Während bei Ariſtoteles der Mittel— begriff als der ſchöpferiſche Weſensbegriff den Realgrund zum Vorſchein bringt, ent— hält nach Kant der logiſche Begriff kein ontologiſches Correlat, da nach ihm die Literatur und Kritik. 151 Cauſalität kein Erfahrungsbegriff, ſondern Bedingung aller Erfahrung, d. h. eine aprioriſche Form iſt.“ Mit Außerachtlaſſ— ung dieſer Wahrheit begannen die onto— logiſchen Identitätsphiloſophen der Schel— ling-Hegel'ſchen Schulen die für ihre Zeit berechtigten Irrthümer des Ariſtoteles aufs Neue zum Daſein zu erwecken. Als— dann ſtellt der Verf. feſt, was der große Kriticiſt unter analytiſchen und ſynthetiſchen Urtheilen verſteht, und läßt ſich durch die hieran ſich anreihende Frage, wie die Ur— theile der zweiten Art in der Mathematik zu Stande kommen, zu Raum und Zeit als dem äußeren und inneren Sinn der anſchauenden Erkenntniß, weiter führen. Er zollt Kant's Methode den vollſten Beifall, ſo lange dieſe blos darauf ausgeht, das erfahrungsmäßige Moment aus irgend einem Erkenntnißprodukt auszuſondern, tritt aber in Gegenſatz zu ihr, wenn ſie Raum und Zeit als die aprioriſtiſchen Grundlagen ſetzen will. Von ſeinen Einwürfen erſcheint uns einer beſonders ſchwerwiegend, aus dem Grunde vielleicht, weil wir ſelbſt bei einer früheren Veranlaſſung auf denſelben auf— merkſam machen, reſp. ihm Bedeutung zu— ſchreiben mußten. Die Behauptung Kant's, man vermöge ſich wohl einen Raum ohne Körper, nicht aber umgekehrt einen Körper ohne umſchließenden Raum zu denken, iſt falſch: wenn wir von uns aus entſcheiden dürfen, ſo iſt der Menſchheit das eine eben ſo unmöglich als das andere; der eine Körper (Alpha), auf den ſich allenfalls alle übrigen zuſammengedrängt haben mögen, bleibt immer übrig, denn in ihn verlegen wir, wie Schmitz-Dumont ſehr richtig bemerkt, unſere eigene Individualität. Die Raum- vorſtellung iſt vom ſtofflichen Subſtrat nicht gänzlich loszulöſen, und weil ſie es nicht iſt, kann auch, ſo argumentirt der Verf., 152 die Raumvorſtellung unmöglich in dem reinen a priori wurzeln. ſonach die Aufforderung heran, dieſem Schlußſtein der Kant'ſchen Theorie einen anderen zu ſubſtituiren, und wir haben ihn bei ſeinem Beginnen zu begleiten. Die Leſer des „Kosmos“ erinnern ſich des Berichtes, welchen wir in einem der früheren Hefte über Helmholtz's „That— ſachen der Wahrnehmung“ erſtattet haben. Mit den dort entwickelten Anſichten ſtimmen Literatur und Kritik. An ihn tritt diejenigen unſeres Verf., welche übrigens, Thätigkeit der ſenſiblen und motoriſchen Nerven, und zwar ſind es die letzteren, nunft anregen, den Grund für die Beein— fluſſung des motoriſchen Nervenſyſtems außer— halb des Körpers ſelbſt, d. h. im Raum, zu ſuchen. Dieſe „erzeugende Thätigkeit der Denkkraft“ hat Helmholtz ſchlechtweg mit dem Cauſalgeſetz identificirt. In dieſer auch auf die Zeit ausgedehnten Weiſe glaubt der Verf. der transſcendentalen Aeſthetik Kant's Genüge gethan zu haben. Daſſelbe aber, was ſich gegen deſſen Stipulirung der aprio— riſtiſchen Erkenntnißformen einwenden läßt, gilt auch ſeiner Fixirung der Kategorien gegenüber. Eine abſolute, reine Intelligenz, welche bei Kant dieſen letzteren Akt voll— zieht, erkennt der Verf. nicht an, vielmehr iſt ihm die höchſte geiſtige Potenz nichts anderes, als die ſpecifiſche Energie der Ge— hirnſubſtanz. Wir halten dieſe Erklärung für eine ſo einfache und einleuchtende, daß uns des Verf. allerdings nur ganz bei— läufiger Recurs auf das myſteriöſe „Ding an ſich“ ganz unnöthig vorkommt. Sehr aber müſſen wir es billigen, daß der Verf. es ehrlich eingeſteht, daß ſeine Löſung bis PFF was nicht zu überſehen, um ein Jahr eher niedergeſchrieben ſind, nahe überein. Für ihn iſt die Raumvorſtellung ein Produkt der zur letzten Endurſache nicht durchdringe und auch nicht durchdringen wolle, denn eben wer nicht dogmatiſch, ſondern im Geiſte der phänomenalen Denkweiſe an dieſes Problem ſich macht, der kann unſeres Erachtens die Forderung gar nicht ſtellen, er müſſe Alles erklären. Unſere Aufgabe kann es nur ſein, die Grenze des Unerkannten ſtets weiter und weiter hinaus zu rücken und uns ſo der Erkenntniß voller Wahrheit aſympto— tiſch zu nähern. — Der Verf. ſchließt da— mit, nachdem er zu Kant's transſcenden— taler Aeſthetik und transſcendentaler Logik in Gegenſatz getreten, ſich hinwiederum in entſchiedenem Einverſtändniß mit deſſen transcendentaler Dialektik zu erklären. In Wirklichkeit aber geht er doch um ein Be— welche die Denkthätigkeit der reinen Ver- trächtliches über ihn hinaus, indem er die Vermuthung aufftellt, durch die Setzung des erzeugenden Denkens, des dem Menſchen immanenten Cauſalitätsgeſetzes, werde wohl das „Ding an ſich“ ganz überflüſſig. Wir glauben, daß er hierin Recht hat. Wir haben das Schriftchen, deſſen In— halt wir im Vorſtehenden im Umriß wieder— zugeben verſuchten, mit Vergnügen geleſen, und glauben, daß es auch Leuten ſo gehen werde, welche ſich einer gründlicheren philo— ſophiſchen Bildung rühmen dürfen, als wir ſelbſt. Die Sprache des Autors iſt ge⸗ wandt, der Periodenbau nur ab und zu ein etwas verwickelter. Daß die termini techniei der altgriechiſchen Denker in der Regel erläutert werden, iſt mit Dank im Intereſſe unſeres unphiloſophiſchen Zeitalters anzuerkennen. Wer da wünſchen ſollte, es ſei an manchen Stellen noch etwas mehr des Guten geſchehen, den verweiſen wir auf Eucken's treffliche „Geſchichte der phi— loſophiſchen Terminologie“ (Jena 1879). Er findet da (S. 21 flgde.) gerade den Ariſtoteles als Vater der wirklich exakten Kunſtſprache mit erklärlicher Vorliebe und vorzüglicher Sachkenntniß abgehandelt. Ansbach. Prof. S. Günther. Cypern, ſeine alten Städte, Gräber und Tempel von Louis Palma di Ces— nola; deutſche Bearbeitung von Ludwig Stern. Jena, H. Coſtenoble 1879. 80, Keine Periode der Neuzeit iſt wohl fo reich an Entdeckungen geweſen auf dem Ge— biete der Archäologie als die jetzige. Es reiht ſich eigentlich Fund an Fund, Gewicht an Gewicht, Glied an Glied. wir Olympia's Marmorſtatuen, da die heroiſchen Schichten von Hiſſarlik, da ſehen wir die Goldſchätze von Mykenae und die wunderbaren Gefäße von Santorin, da liefert der Dnjepr und Dyjeſtr feine Beute heraus, und giebt der Tiberſtrom und der Euphrat ſeine Kinder an den Tag. Auch in dieſem vorliegenden Werke begrüßen wir eine epochemachende Erſcheinung, welche eine neue Etappe klar legt auf dem großen Kultur— wege vom Orient zum Weſten, welche ein neues Glied fügt zu der großen Kette, welche die Urgeſchichte der Menſchheit mit der klaſ— ſiſchen Kunſtperiode in Verbindung ſetzt. Kein anderer als der Aegyptologe Georg Ebers leitet das mit werthvollen Illuſtra— tionen und 110 Tafeln verſehene Werk dem deutſchen Publikum gegenüber ein. Mit vollem Recht kann dieſer Kenner der orienta— liſchen Kultur daran rühmen: „Was Layard für Babylon und Ninive, was Mariette für Aegypten, was Schliemann für Ilion und Mykene, das hat . für Cypern gethan“. Als nordamerikaniſcher Conſul weilte General Cesnola, von Geburt ein Italiener, zehn Jahre lang, von 1865 — 1875, auf dieſer einſt von Aphrodite und allen Literatur und Kritik. Da haben Grazien bewohnten Inſel und hat während dieſer Zeit ſich die archäologiſche und topo— graphiſche Durchforſchung der alten Kypros, der „Kupferinſel“, angelegen ſein laſſen. Auf eigene Koſten, gleich ſeinem Collegen Schliemann, beutete er die aus griechiſcher und cypriſcher Zeit ſtammenden großen Grab— felder bei Larnaka, Citium, Idalium, Agios, Photios, Leucoſia, Salamis, Paphos, Soli, Lapxethos, Amathus, Curium und anderen alten Orten Cyperns aus und führte von den gewonnenen Schätzen ganze Schiffslad— ungen voll an das Muſeum zu Neu-Pork. Ein Schiff mit Alterthümern ging leider dabei zu Grunde. In engliſcher Sprache erſchien der erſte Bericht Cesnola's zu London 1873 unter dem Titel: Antiquities of Cyprus. Die deutſche Bearbeitung kann ſich nach Inhalt und Form eine verbeſſerte nennen. Am Ori— ginaltexte iſt von dem Herausgeber, Lu d— wig Stern, einem Schüler von Ebers, nichts geändert, wohl aber ſind die Haupt— abbildungen auf Tafeln geſammelt, zur Erklärung der cypriſchen und phöniziſchen Inſchriften iſt manches Material dazu gekom— men und das Regiſter reichhaltiger geworden. Ein durchgehender, dem Archäologen em— pfindlicher Mangel iſt der des betreffenden Maßſtabes auf den Tafeln und neben den Zeichnungen; auch das Verzeichniß zu den Tafeln S. 401 — 433 leiſtet hierin nur Ungenügendes. Die ſonſtige Ausſtattung des Werkes, in Papier, Druck, ornamentalen Ver— zierungen, iſt eine vorzügliche, dem ſparſamen Deutſchen faſt verſchwenderiſch erſcheinende zu nennen. Die Beigabe von zwei topogra— phiſchen Karten, die eine von H. Kiepert, iſt als eine ſehr dankenswerthe anzuerkennen. Was die Vertheilung des ſtofflichen Materials betrifft, ſo füllt den größten Theil des Werkes, 258 Seiten, der Bericht von Kos mos, III. Jahrg. Heft 8. 154 Literatur und Kritik. Cesnola aus. In der Einleitung giebt er einen orientirenden Ueberblick über die Ge— ſchichte von Cypern, das Kittim des alten Teſtamentes, das Aſebi der Hieroglyphen- ſchrift, das Kypros der Griechen. An der Hand guter Quellen (Luynes, Lang, Smith, Birch, Brandis, Halh macht Cesnola ferner Angaben über das cypriſche Alphabet, ſowie die Ureinwohner der Inſel, wahrſcheinlich lykiſchen Urſprungs, und geht dann auf den Coloniſationseinfluß der Völker über, die ſich Jahrhunderte lang um den Beſitz von Aphrodite's Heimath be— mühten, der Phönizier und der Griechen. In der Religion vereinten ſich hier Semiten und Indoeuropäer; Aſtarte und Aphrodite verehrten hier beide. Während die An— ſiedelung der Phönizier ſich naturgemäß auf den Süden der Inſel beſchränkte und hier die Handelsplätze Paphos, Amathus und Citium gründete, nahmen die Griechen ver— ſchiedenen Stammes den Weſten und Norden ein und gründeten als Pflanzſtätten helleniſcher Kultur: Salamis und Soli, Lapethus und Cerynia, Curium und Golgi. Schon in der Odyſſee iſt Cyperns Kupferreichthum berühmt, weshalb dieſes Metall ſpäterhin ey- prium (bei Plinius,) cuprum (ſpätlateiniſch), „Kupfer“ genannt! ward. Vom achten bis ſechſten Jahrhundert ward die reiche Inſel der Zankapfel zwiſchen Aſſyrern und Aegyp— tern, Später: zwiſchen Perſern und Griechen, dann zwiſchen den Diodochen, bis den Schutz— ſtaat der Ptolemäer der unerſättliche Römer annektirte. In der Byzantinerzeit ſtand dieſe wichtige Trinakria, die nach Aegypten, Syrien und Kleinaſien mit ihren Vorgebirgen ſieht, unter einem eigenen Dux und erſt „Harün al Raſchid“ gelang es 803, dieſen Stützpunkt der Araber in ſeine Gewalt zu bringen. Noch lange zwiſchen Chriſten und Muha— medanern der Kampfplatz, kam ſie endlich durch Kauf an die Tempelherren. Die Kö— nigin Caterina brachte die Perle des Oſtens an die Republik Venedig, und der General Bragadino übergab die letzte venetianiſche Feſtung Famagoſta den Türken. An die Einleitung ſchließt ſich der Ausgrabungsbericht von Cesnola an, untermiſcht mit topographiſchen und ethno— graphiſchen Schilderungen, mit Erzählungen ſeines Widerſtandes gegen die Fineſſen der türkiſchen Grundbeſitzer und Beamten, mit Bemerkungen über ſeine Ausgrabungsmethode und ſeine Ergebniſſe. Den wichtigſten Theil des Werkes bilden die Anhänge. Einige rektificirende und motivirende Anmerkungen archäologiſcher und hiſtoriſcher Natur gibt zuerſt der Herausgeber Lud— wig Stern, von Wichtigkeit iſt darunter S. 203 — 205 der Excurs über die noch immer räthſelhafte cypriſche Schrift. Hier weiſt er die Behauptung Schliemann's zurück, zu Hiſſarlik auf Terrakotten cypriſche Inſchriften entdeckt zu haben. Die Be— merkungen Stern's find kurz und bündig. . Es folgt ein Excurs ans der Feder des engliſchen Archäologen W. King über die Ringe und Gemmen im Schatze von Curium. Unter den Kunſtſtilen, welche auf dieſen Objekten vertreten ſind und welche alle aus einem unterirdiſchen Schutz— gewölbe eines Tempels zu Curium her— rühren, unterſcheidet King den aſſpriſchen, ägyptiſchen, phöniziſchen, griechiſchen. Die Entdeckung des Schatzes von Curium (S. 260 — 277) nennt King eine Offenbarung der glyptiſchen Künſte. Beſondere Wichtigkeit neh— men die phöniziſcher Arbeit entſtammenden Ringe und Gemmen für ſich in Anſpruch, weil man mit Sicherheit die Eigenthümlichkeiten dieſes Stiles bis jetzt noch nicht nachge— wieſen hat. Die Scarabäen der Phönizier ſind demnach in harten Steinen ausge— Ben: Literatur und Kritik. führt. Bezüglich der Ausführung lehnt ſich die phöniziſche Arbeit in der Darſtell— ung der Thiergeſtalten, beſonders von Greifen und Sphinxen, ſtreng an die Natur an, während die ägyptiſchen Steinſchneider das religiöſe Schema beobachten. Nach des Engländers Beobachtung waren die phöni— ziſchen Arbeiten die Muſter der griechiſchen Verſuche. Bald gingen ſie und die Etrus— ker jedoch weiter, zur Darſtellung der menſch— lichen Figur, an welcher ſich jene Semiten nicht verſucht haben. Der Anknüpfungspunkt zwiſchen phöni— ziſcher und griechiſcher Kunſt iſt gefunden auf der Inſel Cypern; zwei orginelle Gemmen: „die drei cypriſchen Krieger“ und „die beiden Kämpfer“ Taf. 83,10 und Taf. 79,8 geben hiefür ausgezeichnete Specimina. Die Darſtellung des menſch— lichen Lebens und der menſchlichen Natur iſt der Cardinalpunkt, in dem ſich phöniziſche und altgriechiſche Kunſt ſcheidet. Auch die erzgeſchickten Tyrrhener oder Etrusker ver— folgen dieſen Kunſtgang. Die Griechen ſind auch die Erfinder des Fingerringes, q ανοννꝓig, während die Orientalen ſich der Siegel, oyoeyis, bedienten, die am Halſe, am Handgelenke oder am Finger getragen wurden. Die verſchiedenen Stücke der Sammlung Cesnola's ſind leider nur zum Theil ausführlich beſchrieben. Eine zweite Auflage ergänzt vielleicht dieſen dem Specialiſten fühlbaren Mangel. Eine weitere, principiell ſehr wichtige Abhandlung bietet der Conſervator am Britiſchen Muſeum, A. S. Murray, mit einer Abhandlung über die cypriſchen Thon— gefäße. ja ſtets, und beſonders hier, für die Höhe der jeweiligen Cultur den Gradmeſſer, und ſchwierig iſt nur zu unterſcheiden, was eigener Erfindungsgeiſt der Cyprioten und was 155 fremder Einfluß geleiſtet hat. Murray geht von einer Patera aus, welche eine Zeichnung von zwei aufrecht ſtehenden Ziegen mit einem Verzierungsmuſter darbietet, welches halb geometriſche, halb organiſche Formen aufweift. Er findet darin ein unter aſſyriſchem Einfluſſe ſtehendes — darauf deuten das Ornament „heiliger Baum“ und die Roſetten auf den Ziegen — Er— zeugniß phöniziſcher Kunſt. Auf drei anderen bemalten Vaſen findet Murray die Figuren von ägyptiſchem Typus, die Deko— ration aber neben denſelben hat den Cha— rakter, welchen Conze wohl zu beſchränkt indoeuropäiſch nennt, der aber, mit ſeinen concentriſchen Kreiſen, als ein Produkt des Verfahreus bei Metallarbeiten bezeichnet werden muß und ſich deshalb noch ebenſo gut zur römiſchen Zeit vorfindet. Es hat dieſer Ornamentationstypus keinen ethnologiſchen, wohl aber einen technologiſchen Urſprung, und findet ſich überall dort, wo man in Bronze und Eiſen zu ciſeliren begann, während vorher die gerade oder die winklig gebrochene Linie die Baſis der Ornamentbildung be— zeichnet. Auch den verſchlungenen Flechten— muſtern, wie auf Vaſe Taf. 86,4, iſt kein ethnologiſcher Urſprung zu geben, ſondern dieſes Ornament geht aus einem hand— werksmäßigen Verfahren hervor. Einer älteren Kunſtperiode gehören ohne Zweifel die auf Taf. 15 verzeichneten Gefäße in Thierform an. Dieſelben ſtellen Vier— füßler, als Pferde, Kühe, dann Vägel und Fiſche vor. Verziert ſind ſie mit einfachen Linienmuſtern. Erinnern wir uns, daß Gefäße der Art auch in den tieferen Schichten Die erhaltenen Thongefäße bilden von Hiſſarlik und Mykenae vorkommen, daß ſie ferner in nordiſchen und oſtgermaniſchen Gräbern gefunden werden, ſo ſtehen wir nicht an, aus techniſchen und völkerpſycho— logiſchen Gründen Gefäße in Thierge— ii 156 | ftalt, wozu noch die ſonderbaren, wahrſchein— lich phöniziſchen Geſichtsurnen in Oſtdeutſch— land kommen, auf eine primitive Stufe der keramiſchen Entwickelung zu ſtellen. Blos iſt damit nur ein relatives, kein abſtraktes Alter der betreffenden Gefäßformen ausge— drückt. Auch in Mexiko und Peru finden wir zahlreiche Vertreter dieſer eigenthümlichen Gattung von Geſtaltgefäßen, welche ohne organiſchen Zuſammenhang mit der Kunſt der alten Welt ſich wohl entwickelt haben. Im Allgemeinen ſchließt Murray aus der Sammlung der cypriſchen Vaſen, daß ſie die Arbeit eines Volkes bilden, in deſſen Töpferkunſt kein wirklich lebendiger Fortſchritt ſtattfand. In dieſem Volke will der Eng— länder nach den Unterſuchungen Helbig's auf dem keramiſchen Gebiete die Phönizier wieder erkennen. Eine Reihe von Gefäßen auf Cyprus trägt nun in Winkellinien, Rauten und Schachbrettern eine einfache Dekoration, dann find die aber auch mit horizontalen und ver- tikalen Punktſtreifen verziert. Auch dieſe Ornamentation will Murray wegen einer vereinzelt damit gefundenen phöniziſchen Inſchrift für ſpecifiſch phöniziſch erklären. Allein abgeſehen davon, daß dieſe gerad linigen Muſter gerade den alten Vaſen von Athen und andern Orten von Hellas eigen— thümlich find, in welchen Conze die Re— präſentanten der Anfänge der griechiſchen Kunſt erblickt, können doch einem Volke unmöglich zwei Dekorationstypen zu ziemlich derſelben Zeit zugeſchrieben werden: orga— niſche und geometriſche Motive. Aus allen übrigen Funden prähiſtoriſcher ſchließen Einige im Gegentheil, daß die ein— fachen linearen und geometriſchen Streifen, Bänder, Zeichnungen, wozu insbeſondere Literatur und Kritik. angehören. Erſt auf einer höheren Stufe tritt Kreis und Spirale mit ihren Varia— tionen ein, denen nachher die Ornamentdar— ſtellungen von Pflanzen, Thieren, Menſchen folgen. Zwei hierher gehörige Vaſen mit der Darſtellung concentriſcher Kreiſe und Dreiecke erwähnt Murray ſelbſt als Ver— treter eines Fortſchrittes. Dem Verfaſſer ſcheint es bei feinen Schwanken zwiſchen den Reſultaten Helbig's und Conze's an der nöthigen, natürlichen Klarheit für die Entwickelung der keramiſchen Ornamen— tation zu fehlen. Seine ſtupende Gelehr— ſamkeit verwirrt ihm dabei mehr den Faden, als ſie ihm denſelben zu entwirren hilft. Den Schluß des reichen Werkes bildet eine ſachgemäße Darſtellung der griechiſchen, cypriſchen und phöniziſchen Inſchriften. Die cypriſchen Inſcriptionen, meiſt Weihin— ſchriften, haben ihre kritiſche Publikation ſchon durch Männer wie Hall, M. Schmit, R. Neubauer, J. Voigt erhalten; es ſind 62 Stück verzeichnet. Die phöniziſchen Inſchriften reichen nach Schröder bis in das vierte Jahrhundert vor Chr., einige ſind noch jünger. Publicirt und erklärt wurden die meiſten ſchon von Rödiger und Schröder. Der phöniziſchen Inſchriften ſind es 30, während von griechiſchen 105 verzeichnet ſind, letztere nach dem engliſchen Original— werk. — Der Schrift iſt übrigens ein recht gutes Regiſter beigegeben, welches wir z. B. bei den Werken von Schliemann vermiſſen. Dem Charakter dieſes Journals gemäß konnten wir nur ein kurzes Reſume über die Kultur das Zickzack-, das Tannenzweig - das Dreieck-, das Rautenmuſter u. A. gehören, einem primitiven Stand der Ornamentation 1 verſchiedenen Seiten dieſer neuen Publikation geben. Die Bedeutung derſelben mag dem Leſer aus dem Vorworte von Ebers und dem reichen Menu des Werkes hervorgehen. Betonen wollen wir ſchließlich, daß für die Charakteriſirung aſſyriſcher, phöniziſcher, egyptiſcher und altgriechiſcher Kunſtwerke P Pr Literatur und Kritik. 157 und die Verbindung dieſer verſchiedenen ſie aus dem Mittelpunkt des Alls ſtamme, Stilarten wohl kein Boden wichtiger geweſen | daß der Dichter eins wird mit dem kos— iſt, als der Altcyperns. Vis jetzt hat aber keine Publikation mit — im Ganzen — ſolcher Treue und Auſchaulichkeit die kultur— hiſtoriſchen und kunſtarchäologiſchen Reſte ſolch' engen Connexes ans Licht gezogen, wie die vorliegende Arbeit. Kein Archäo— loge und Kunſtkenner kann in Zukunft an die Enträthſelung des Kulturganges im Orient und in Europa, keiner an den Zuſammenhang ſemitiſcher mit indogerma— niſcher Kunſtentwickelung herangehen oder gar darüber ein Urtheil fällen, der nicht die Nachrichten und die Typen in Ces— nola's Werk gründlich ſtudirt hat. Der Gewinn für die allgemeine Be— trachtung der Kulturgeſchichte ergiebt ſich daraus von ſelbſt: Die Phraſe von dem Connexe zwiſchen Phöniziern und Griechen erhält durch die Funde des nordamerikaniſchen Konſuls eine thatſächliche Baſis, welche den Ausgangspunkt weiter ervergleichender Beob— achtungen bilden muß. Cesnola's Werk erhält damit eine epochemachende und ein— ſchneidende Bedeutung für Kultur und Kunſt. Dürkheim, Okt. 1879. Dr. C. Meh lis. Pſychologie der Lyrik. Beiträge zur Analyſe der dichteriſchen Phantaſie von Dr. Carl du Prel. Leipzig, Ernſt Günther's Verlag, 1880. 185 S. in 80. Der Feinſinnigſten Einer unter den in Proſa ſchreibenden Dichtern unſerer Zeit hat es in dieſem Buche unternommen, der dichteriſchen Phantaſie bis in die dunkle Grotte zu folgen, in welcher der kaſtaliſche Quell emporſprudelt, uns zu zeigen, woher und aus welchen Tiefen die Welle hervor— dringt, welche wir Poeſie nennen. Er maß die Temperatur derſelben und fand, daß miſchen Ganzen, und daß der Geiſt des Alls in ihm Worte findet und ſpricht. Wie Lichtenberg vorſchlug, zu ſagen, „es denkt“ ſtatt „ich denke“, ſo müßte man alſo etwa ſagen: das gährende Chaos beginnt im Menſchen ſich zu klären und dichtet in uns. Das Dichten ſei ein unbewußter Akt und am nächſten der Traumphantaſie ver— wandt, beide vertrügen des Gedankens Bläſſe nicht, die Reflexion vernichte die wahre Poeſie, darum ſei die Volkspoeſie, der kunſt— und namenloſe Erguß des Stammesgefühls, die eigentlichſte, wahrſte Poeſie. Es berührt ſich hier Carl du Prel's Anſchauung mit der Meinung Friedrich von Hellwald's, daß die Poeſie (und die Kunſt im Allgemeinen) das Eigen— thum der Kindheitsvölker ſei, daß jedem in der Verſtandesbildung fortgeſchrittenen Volke die Poeſie ebenſo abhanden kommen müſſe, wie etwa die Werthſchätzung gewiſſer, dem Traumleben entſtammender Vorſtell— ungskreiſe, daß Poeſie und Kunſt für uns um ſo mehr überwundene Standpunkte ſeien, je mehr wir in die Region der reinen Vernunft gelangen, je mehr wir erkennen und über die Dinge nachdenken; wie vor einem Winde, ſo flöhen die luftigen Nebel— gebilde des ſchönen Scheins vor dem ſchar— fen Hauche der nüchternen Forſchung und Kritik. Es iſt ſicherlich alles Andere, nur nicht ein Mangel an herzlicher Zuneigung und Verehrung für den Verfaſſer, wenn der Unterzeichnete hier eine diametral entgegen— geſetzte Anſicht zu vertreten verſucht. Da jeder Autor ein Monologiſt iſt, ſo ſoll die wahre Kritik, wenn ſie kann, Einwürfe machen, damit ein Dialog, eine Wechſel— wirkung entſtehe, aus der ein Dritter, der 7 - F ya 158 Literatur und Kritik. Buch und Kritik geleſen, den bleibenden Erſtere hält mit einem Worte die Offen— Gewinn zu erkennen vermöge. barungen der Traumphantaſie für getrübt Gehen wir der du Prel'ſchen Auf- durch die Gedanken des wachen Lebens; faſſung auf den Grund, ſo finden wir, wie der Letztere umgekehrt die wache Reflexion er ſelbſt andeutet, daß bereits Hegel die des Menſchen getrübt durch die Erfahrungen Idee von dem bewußtloſen, inſtinktartigen des Traumlebens. An früherer Stelle, Schaffen der Phantaſie in Künſtlerſeelen auch in dieſer Zeitſchrift,“) habe ich die philoſophiſch ausgebeutet hat, daß dieſe un- Ueberzeugung ausgeſprochen, daß ich die ge— bewußte Idee dann in Hartmann zum ſammte ältere Weltanſchauung für weſentlich triumphirenden Bewußtſein gelangte, und mit bedingt und erzeugt halte durch die Er— nun hier durch die Leiſtungen der Traum- fahrungen des Traumlebens, und inſofern phantaſie bewieſen werden ſoll. ſehe auch ich die dichteriſche Phantaſie für nahe „Der Traum,“ ſagt du Prel (S. zuſammenhängend mit der Traumphantaſie 23), „iſt ohne Zweifel ein potenzirtes an, aber nicht mit der in Träumen ſich Seelenleben, in welchem Fähigkeiten er- | offenbarenden, ſondern mit der aus ihnen wachen, die wir ſonſt nicht beſitzen. Der nachträglich abſtrahirten. Ueber den Traum Traum iſt nicht nur reproduktiv, wie in ſelbſt darf ich mir wohl ein Urtheil er— den Aſſociationsträumen, oder in jenen, die lauben, denn nachdem ich vor langen Jahren durch körperliche Zuſtände hervorgerufen in meiner „Naturgeſchichte der Geſpenſter“““) werden, ſondern auch produktiv in den Traumleben und Traumphantaſie ſorgſam eigentlichen Phantaſieträumen; dieſes würden zergliedert hatte, gewann ich das Intereſſe, wir ohne Zweifel weit mehr gewahr wer- weitaus das Meiſte, was in alter und den, als es in der That geſchieht, wenn neuer Zeit über das Träumen geſchrieben nicht eben in die letztgenannten Träume die worden iſt, aufmerkſam zu ſtudiren, und habe erſteren ſich immer ſtörend eindrängten. durchaus keine Urſache gefunden, meine Auf— Wenn wir aus dem bewußten Leben gar faſſung, daß das Traumleben weſentlich ein nichts in den Traum herübernehmen wür- | Aufleben von Erinnerungsbildern und Ver— den, ſondern im Schlafe ganz dem vege- knüpfung durch längſt gemachte Reflexionen tativen Leben anheimfielen, ganz Natur ſei, irgendwie zu ändern. Träume kommen würden, ſo würde ſich das Unbewußte in uns meiſt nur ſo lange geiſtreich vor, uns in ungeſtörter Thätigkeit weit klarer als wir weiter träumen, z. B. wenn wir, offenbaren, und der dem menſchlichen Forſchen was nach meiner eigenen Erfahrung ſehr ſo unzugängliche Kern der Natur würde häufig geſchehen muß, von der überraſchen— vielleicht von unſerem Bewußtſein ergriffen den Löſung lange umworbener Probleme werden können: dann wäre der Traum in träumen, deren Traumlöſung aber, wenn Hinſicht auf die Räthſel der Metaphyſik wir uns derſelben — was mir einigemale weit lehrreicher, als das wache Leben.“ geglückt iſt — nach dem Erwachen wieder Es war nöthig, dieſe Worte in aus- erinnern, ſich als baarer Unſinn ergiebt. führlicher Weiſe wiederzugeben, weil ſich in | Sofern nun unſer waches Denken, wie ich ihnen der Unterſchied der Auffaſſung des früher zu zeigen bemüht war, von Schlüſſen Autors von derjenigen feines gegenwärtigen! h Kosmos, Bd. III, S. 69. Recenſenten am auffallendſten darſtellt. Der a) Weimar, 1863. d Literatur und Kritik. aus den Träumen durchſättigt iſt, ſo ſind wir auch heute noch fortwährend in der Lage, den Traum überhaupt aus Traum Gedanken, d. h. weitaus zu günſtig zu be— urtheilen, namentlich auch wenn wir das vom poetiſchen Standpunkte, von dem eines wachen Träumens, aus thun. Du Prel geht ſo weit, mit den älteren Schriftſtellern über Phantasmen (Brew— ſter, Hibbert, Johannes Mülleru. A.) zu glauben, die Macht der Traumvorſtell— ungen ſei ſo groß, daß ſie vom Centrum der Vorſtellungen aus, ſich bis zu den peri- pheriſchen Nervenendungen verbreite, wirk— lich den Seh-, Hör- und die Gefühlsnerven errege (S. 21). Ich habe in dem oben erwähnten, freilich ſehr wenig bekannt ge— wordenen Buche eingehend gezeigt,“) wie unzu— läſſig eine ſolche Auffaſſung iſt. Denn da alle Sinneseindrücke nur als Vorgänge in cen— tralen Organen bewußt werden, ſo wäre es völlig überflüſſig, fie erſt nach der Körper— Peripherie ausſtrahlen, dann zurückkehren und nun von Neuem empfinden zu laſſen, ganz abgeſehen davon, daß den Sinnes— nerven wahrſcheinlich die Fähigkeit ganz abgeſprochen werden muß, Sinnesenergien nach außen zu leiten. Wenn wir, was ja ſogar im wachen Zuſtande geſchieht, Ge— hirnerregungen fälſchlich nach außen proji- ciren, jo iſt das eben ein pfychiſcher Irrthum, dem keine Realität entſpricht, noch entſprechen kann. Ich wollte dies neben— bei erwähnen, weil ich dieſen fundamentalen Irrthum noch in ganz neuen Schriften über den Traum ſpuken ſah. Von dem Traume, über den ja noch ſehr viel zur Sache Gehöriges zu fagen wäre, wenn man ſtatt der Kritik eine Ab— handlung liefern dürfte, wenden wir uns zu dem zweiten, ſehr beſtechenden Argument | ) A. a. O. S. 353 — 394. 1 | des Verfaſſers, der hohen Schönheit der „unbewußten“ Volkspoeſie. Ich bin hier völlig mit dem Verfaſſer einverſtanden, in— dem ich ebenfalls dieſe Poeſie über alle andere ſetze und mich gern ihrem Zauber hingebe, aber ich bin durchaus nicht geneigt zuzugeſtehen, daß ſie wirklich „naturwüchſig“ im Du Prel'ſchen Sinne ſei. Wir müſſen hierbei, dünkt mich, zwei Seiten unterſchei— den, die den Inhalt der Volkspoeſie be— treffende und die formale. Der vorzüg— lichſte Inhalt der Volkspoeſie iſt Natur— belebung, Animismus, oder mit anderen Worten, die Volkspoeſie iſt die „Philoſophie des Volkes“, und die „Philoſophie der Ge— lehrten“ iſt Verſtandespoeſie. Je weniger Naturkenntniß, deſto mehr Volksphiloſophie, fortwährend verengt die vorwärts ſchreitende Forſchung das aus dem Traumleben er— wachſene mythologiſche Gebiet, und hier liegt der Grund, weshalb, wie Hellwald ſehr richtig bemerkt hat, die Poeſie in den Kindheitsjahren der Menſchheit mächtiger war als heute, ſowohl an ſich, als in ihrer Wirkung über die Meuge. Inſofern iſt die Philoſophie die eigentliche Erbin jener Seite der Volkspoeſie, die man Mythologie oder Religion nennt, und nicht nur in ihren ſich ſtürzenden Luftgebilden, ſondern auch in ihrer Ueberhebung, Unduldſamkeit und ihren Zerknirſchungsperioden hat ſie die denkbar größte Aehnlichkeit mit jenen. Wenn es ſich lohnte, die „Kritik der reinen Ver— nunft“ — ich wähle ſie, um keinen Lebenden zu beleidigen — in Rhythmen und Reime zu bringen, ſo würden wir darin die unſeren Kriticiſten adäquateſte Poeſie haben, denn die eigentliche Sphäre der Poeſie bleibt immer das Unbegreifliche in und außer dem Menſchen, der nicht aufgehende Reſt des Weltexempels. Dieſer Reſt iſt noch fo an— ſehnlich, daß wir gar keine Sorge zu haben 160 brauchen, ſchon vor dem jüngften Tage der gereimten oder ungereimten Poeſie den Boden zu entziehen, ſie wird hoffentlich ihre Ge⸗ ſtalten, aber nicht ihre Gefühlswärme wechſeln. Die zweite, formale Seite der Volks— poeſie betreffend, muß ich ſagen, daß ich darin noch weniger Unbewußtes finden kann, denn es laſſen ſich zahlreiche Gründe an— führen, aus welchen ſich beweiſen läßt, daß der Naturmenſch hierin dem Kulturmenſchen nothwendig überlegen ſein mußte. Schil— ler's Gedicht von der Weltentheilung, bei welcher der Dichter vergeſſen wurde, ſchildert nicht die erſte Theilung der Güter; erſt in unſerer Zeit und ſelbſt heute nicht immer, iſt die Dichtkunſt das uneinträgliche Amt „verfehlten Berufs“ geworden; bei allen Naturvölkern war fie ein hochwichtiges Amt, denn ſie erſetzte die Schrift, indem ſie Ge— ſetze und Geſchichte, ja das geſammte Glauben und Wiſſen in eine überlieferbare Form brachte, die das Gedächtniß der Maſſen feſthalten konnte. Niemand, der z. B. die polyneſiſchen Stammes- und Einwanderungs- geſänge geleſen, wird dieſe mnemoniſche Be— deutung der gebundenen Redeform unter— ſchätzen. Damit erwuchs aber eine nicht geringe formale Schulung auch des gewöhn— lichen Mannes, eine Schulung, die unſer Declamiren und Chorleſen in der Schule, die ſelbſt die Geſangſtunde und das Theater kaum von Weitem zu erreichen vermögen, und wir dürfen daher in der alten Volks— poeſie höchſtens inſofern ein „Unbewußtes“ als ſchöpferiſchen Trieb ſuchen, als jene formale Schulung durch alltägliche Wieder— holung zu einer unbewußten Geiſtesfähigkeit geworden war. Freilich giebt es auch eine neuere, aus anderen Grundlagen erwachſende Volkspoeſie, — aber ſie iſt auch darnach. Und dann müſſen wir noch wohl er— Literatur und Kritik. wägen, ob jene Lieder nicht am Ende auch darum ſo volksthümlich wurden, weil wirk— lich an ihnen, wie der Name ſo treffend andeutet, das ganze Volk mitgedichtet hat. Von tauſend Seiten her amendirt und verbeſſert, konnte ein anfänglich mäßi— ges Produkt zu dem wirklichen Ausdruck der „Volksſeele“ werden, und von unzähli— gen umlaufenden Varianten, wie ſie ja in vielen Fällen nachgewieſen worden ſind, erhielt ſich die beſte Form kraft ihres höhern Werthes. Sogar in der Volkspoeſie müſ— ſen wir das Wirken Darwin'ſcher Geſetze anerkennen. Wir ſehen etwas Aehnliches an unſerm Citatenſchatz, deſſen Goldmünzen, wie Büchmann nachweiſen konnte, trotz— dem, daß ſie ſchon einer Ausleſe ihre Ein— führung verdanken, immer wieder weiter umgeprägt werden, ſo daß der Sammler mitunter nicht weniger Mühe hat, ihren Urſprung nachzuweiſen, wie der Literar— hiſtoriker, der dem Urheber eines Volksliedes nachſpürt. Betrachten wir z. B. das Motto, welches du Prel auf den Titel ſeines Buches geſtellt hat: „The art itself is nature.“ Die Worte befinden ſich aller— dings genau, wie ſie citirt wurden, in Sha— keſpeare's Winter's Tale (A. IV. Se. III) aber fie find dennoch umgeprägt zu einem ganz andern Satze ſowohl, als zu einer andern Bedeutung. Bei Shake— ſpeare muß nämlich das Wörtchen „the“ betont werden, und Tieck überſetzte daher beſſer: „dieſe Kunſt iſt ſelbſt Natur!“ näm— lich nur die beſondre Kunſt, Blumen durch in der Natur ſelbſt gegebne Bedingungen zu veredeln, wie ja auch die Natur gefüllte Blumen und Hybriden hervorbringt. Natur und Kunſt bleiben trotz du Prel's Deduk— tionen die alten Gegenſätze, die man immer in ihnen geſehen hatte, und Dürer fand unſers Erachtens das richtigere Wort zur Literatur und Kritik. Bezeichnung des obwaltenden Verhältniſſes, indem er ſagte: „die Kunſt liegt wahr— haftig in der Natur, wer ſie heraus kann reißen, hat fie.” Der Strom der Poeſie entſpringt aus der Berührung der menſch— lichen Reflexion mit der Natur, wie der elektriſche Strom aus der Berührung he— terogener Elemente; bei Völkern, die ganz in der Natur leben, fließt er daher am ſtärkſten und ſtolzeſten. Verſiegen wird er niemals, wenn die modernen Dichter nur bedenken, daß der Quell friſch ſein muß, wenn er munden ſoll, daß es nicht darauf ankommt, die dahingegangenen Poeſiegeſtal— ten durch künſtliche Athmung am Leben zu erhalten, ſondern durch neue Berührung eines neuen Menſchen mit der ewigen Natur neue Ströme hervorzuzaubern. Nach Darlegung dieſer ſtarken Gegen— ſätze in der Auffaſſung, wird mir um ſo gewiſſer geglaubt werden, wenn ich ſage, daß mir die Lektüre des kleinen Buches den höchſten Genuß bereitet hat, und, wie ich glaube, jedem denkenden Leſer bereiten muß. Die Gedanken des Verfaſſers reihen ſich wie die Perlen eines Geſchmeides an— einander, und das Ganze läßt ſich am beſten einem Juwelenkäſtchen vergleichen, das voll der köſtlichſten Sachen iſt. Die Leſer dieſer Zeitſchrift kennen bereits einen Theil des Buches, der unter dem Titel „die Ly— rik als paläontologiſche Weltanſchauung“ in knapperer Faſſung daſelbſt zum Ab— drucke kam. In der hier vorliegenden, er— weiterten Geſtalt haben dieſe Gedanken noch bedeutend an Schliff und Rundung gewonnen, und ein ihnen vorausgehendes Kapitel: „Die äſthetiſche Anſchauung der Linie“, rechne ich unbedingt zu dem Beſten, was in deutſcher Sprache nach der Richt— ung der Schönheits-Analyſe geſagt worden iſt. Jedem, der ſich über das Weſen der | 161 poetischen Schönheit klar zu werden ſucht, wird die Lektüre dieſer gedankenſprühenden Schrift zum höchſten Genuße werden. K. Das Pflanzenleben der Schweiz von H. Chriſt. Mit vier Vegetations- bildern in Tondruck nach Original-Auf— nahmen von C. Janslin, in Holzjchnitt ausgeführt von Buri und Jeker, vier Pflanzenzonenkarten in Farbendruck und einer Tafel der Höhengrenzen ver— ſchiedener Gewächſe. Zürich, Friedr. Schultheß 1879. Lief. 1. und 2. Mit 2 Tafeln und 2 Karten. Man hat mit einem glücklichen Worte die Schweiz den „Garten Europas“ genannt, und in der That wir Europäer benutzen ihn fleißig als ſolchen, zum Spazierengehen, zur geiſtigen wie körperlichen Erholung, und brauchen die Nordamerikaner um ihren National-Park nicht zu beneiden. Aber nicht nur ein großartiger Naturpark mit überwältigend ſchönen Landſchaften iſt die Schweiz, ſondern auch ein Blumengarten mit zierlichen und farbenprächtigen Schmuck— beeten, wie ſie die üppige Tropennatur nicht ſchöner bieten kann. Wer zum erſten Male mit einigem Sinn für Naturſchönheit in die höhere Alpenregion hinaufgeſtiegen und den Blick von den ewigen Schneehäuptern zu ſeinen Füßen hin gewendet hat, und dieſe Schaar tiefindigoblauer Gentianen, violetter Primeln und Bergveilchen, carminrother Silenen und die meiſt weißen Sterne der Steinbreche betrachtete, die, wie angeſäet, dichte, ſchwellende Polſter bilden, wem iſt da nicht das Herz aufgegangen mit jener tiefen Empfindung, die eine unſtillbare Sehnſucht im Herzen zurückläßt? Zahlreiche Blumen dieſer Naturparke haben wir herabgeholt in unſere Zimmer und Gärten, wie z. B. Kosmos, III. Jahrg. Heft 8. 21 F 162 die Alpenveilchen, Primeln und Aurikeln, Feuerlilien, Steinbreche, Eiſenhut, Akelei u. ſ. w., aber die ſchönſten halten es unten vor Sehnſucht nach der reinen Alpenluft nicht lange aus, beſuchen, wenn man ſie in ihrer natürlichen Schönheit ſehen will. Wer ſich aber einmal näher mit ihnen eingelaſſen, dem bieten ſie ein unerſchöpfliches Erntefeld der Freuden und Studien, denn die Schweiz gleicht in vieler Beziehung jenem Paradiesberge Lin— né's, an welchem auf ſeinen verſchiedenen Höhenregionen die Gewächſe aller Zonen gediehen, und wirklich ſcheint ſich hier ein großer Theil der in Europa von Spitzbergen bis nach Italien vertheilten Pflanzen ein Rendezvous gegeben zu haben. Es iſt nun merkwürdig, daß wir über all dieſe Wunder in unſrer Zeit der populären Allerweltsbücher noch kein entſprechendes Buch beſitzen. Wir haben ausgezeichnete populäre Werke über die Gletſcher, über die Geologie und Urgeſchichte der Schweiz, und über das Thier- und Menſchenleben derſelben, aber keines über die ſo höchſt anziehende Alpen— flora. Allerdings haben wir Floren und Abbildungswerke der Alpenpflanzen, werth— voll für den Botaniker und Liebhaber, keines aber, was an Gediegenheit und Reichthum der Darſtellung den Werken Tyndall's, Tſchudi's, und Heer's auf den andern Ge— bieten gleichzuſtellen wäre. Dieſe Literatur— lücke gedenkt das obengenannte Werk aus⸗ zufüllen, und die vorliegenden Lieferungen zeigen, daß der Verfaſſer mit einer ebenſo man muß fie oben | Thälern Gäſte aus aller Herren Ländern Literatur und Kritik. genauen Kenntniß ſeines Terrains, als mit geſchickter Darſtellungsgabe an ſeine Aufgabe herangetreten iſt. Da die Alpen eine Grenzſcheide zwiſchen Nord- und Süd— Europa bilden und in ihren abgeſchloſſenen beherbergen, auch manche Eingeborne Flora's aufweiſen, die wie die Menſchen einzelner Striche nie über die nächſten Berge hinaus— gekommen zu ſein ſcheinen, ſo ergab ſich eine pflanzengeographiſche Gliederung von ſelbſt, deren Hauptabtheilungen nach Höhen— regionen und deren Unterabtheilungen nach den natürlichen und politiſchen Grenzen ein— getheilt ſind. Die erſten Hefte enthalten nach einigen einleitenden Kapiteln die Schilder— ung der untern Region, die von dem italiſchen Seegebiete aus beginnt, deſſen Alpenabhänge ihr ſüdliches Pflanzenkleid wie am Spalier der warmen Sonne und den feuchten Winden darbieten. Der Verfaſſer weiß mit Wärme und Gefühl den mitunter ſpröden Stoff zu beleben und ſeine Schilderung des Teſ— ſin's z. B. iſt von klaſſiſchem Schwunge der Sprache. Wenn der Verfaſſer zur Geſchichte der Pflanzenwelt der Schweiz gekommen ſein wird, werden wir Veranlaſſ— ung finden, noch näher auf das Werk zurückzukommen, vorläufig begnügen wir uns auf daſſelbe als auf eine werthvolle Be— reicherung der Schweiz-Literatur hinzuweiſen. Die Tafeln bilden einen künſtleriſchen Schmuck, die Karten ein dankenswerthes Veranſchau⸗ lichungs-Mittel der Verbreitung vieler Kultur⸗ gewächſe und ſonſt intereſſanter Pflanzen. —ä—ů — e —— Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig. Darwinismus und Philoſophie mit Rückſicht auf die gleichnamige Schrift von guſtab Teichmüller in Dorpat. Von Prof. Dr. Otto Caspari. (Schluß.) 4. Profeſſor Ceichmüller's falſche Anſchauung über das Weſen von Zeit und Ewigkeit. = VL ir haben geſehen, in welcher Weiſe Prof. Teichmüller ſuchte. Im Weſen deſſelben lag ihm eine abſolute Stabilität, im Typus war nach unſerm Forſcher der ewig feſte Grundriß anzuſchauen, der unabänderlich und ewig war, hier coincidirten Idee und Geſetz, in ihm war der Träger alles Wechſels aufgefunden, deſſen Schultern an ſich ſo feſt wären wie die Schultern des Herkules. Man wird unſchwierig überſehen, wie weit ſich mit ſolchen Vorausſetzungen der Anhänger dieſer Lehren von aller Erfahrung abwenden muß. Den Eleaten, welche die unabänderliche Feſtigkeit und den abſoluten Subſtanzbegriff in die Philoſophie einführten, traten mit Recht die Heraklitiker entgegen. Wo in aller Welt befindet ſich eine Art von Un— abänderlichkeit und ſtarrer Feſtigkeit, welche ſich bei näherem Zuſehen nicht ſofort em— ßpiriſch an den Dingen auflöſt, in eine Un— zahl von Schwingungen der kleinſten Theil- chen, unter deren Einfluſſe beſtändige Lage— vertheilungen und innere Wechſelungen vor ſich gehen, welche nur durch eleatiſche Macht— | ſprüche und überempiriſche Dogmen zu ſog. ewig bleibenden, feſten und „abſoluten Ato— men“ geſtempelt werden können? Der Schreiber dieſer Zeilen hat in ſeinen „Grund— problemen der Erkenntnißthätigkeit“ darauf hingewieſen, daß durch den philoſophiſchen Abſolutismus und durch das Verabſolutiren der Theile und Dinge eine über alle Er— fahrung hinausgehende Verſteineruug der— ſelben geſetzt wird. Der empiriſche Forſcher hat daher, will er vorſichtig verfahren, jedes— mal ein philoſophiſches Poſtulat zu prüfen durch die beiden Reagentien des Abſoluten und des Relativen. Nehmen wir Begriffe wie die der „Form“, des „Atoms“, des „Typus“ Kosmos, III. Jahrg, Heft 9. 22 “ 164 u. ſ. w., ſo muß man zuſehen, in welcher Weiſe der Philoſoph dieſelben anzuſetzen verſucht. Will er ſie hinſtellen unter der an ſich ewig ſteinernen Form des Abſoluten, ſo iſt ihm allemal zu bedeuten, daß dieſe Art der Verſteinerung rein metaphyſiſch und widerempiriſch iſt. Formen, Theilchen, Typen, Geſetze und Atome darf man daher nur gelten laſſen unter Rückſicht ihres nur relativ beſtändigen (d. h. empiriſch theils blei- benden und theils wechſelnden) Charakters. Wer darüber hinausgeht, verläßt das Gebiet der Erfahrung und ſtellt Einbildungen ſchlechthin als Thatſachen hin, begeht alſo, wie alle Dogmatiker, einen wiſſenſchaftlichen Betrug oder einen unbewußten Selbſtbetrug. Alle einzelnen Ausführungen Teichmüller's laſſen deutlich erkennen, wie tief ſich unſer Forſcher verblenden ließ durch die Dogmen der Ideenlehre Platon's und des elea— tiſirenden Ariſtotelismus. Am deutlichſten erkennt man das aus der eigenthümlichen Auffaſſung, welche uns über das Phänomen der „Zeit“ gegeben wird. Die Zeit beſteht nach Teichmüller nicht für das große Welt- geſetzte Auffaſſung Heraklit's, dem im ganze d. h. für die Totalität der Dinge, ſondern nur für die einzelnen Theile und Glieder des Syſtems. Nur indem dieſe Glieder ſich gegeneinander ändern und zus | gleich hierbei vergleichen und meſſen, tritt ſie als Erſcheinung hervor — das Ganze aber hebt die Zeit in ſich auf, d. h. vor dem unendlichen Weltganzen und dem All | Gegentheil das Ewige nach Heraklit der ſchwindet dieſelbe und erhebt ſich zu dem Begriffe einer an ſich zeitloſen Ewig— keit. Der Leſer wird mit Rückſicht auf Caspari, Darwinismus und Philoſophie. unſere früheren Erörterungen leicht erkennen, welcher Pſeudobegriff hier mit unterläuft, ſolutiren, im Gebiete der Erfahrung zu um zu falſchen Anſchauungen hinzuführen. Es iſt das der Begriff des Ganzen, das als zeitloſe Zeit, d. h. als ſog. Ewigkeit, nicht mehr innerhalb der Zeit, ſondern ne) Siehe a. a. O. ©. 44. über und außerhalb oder vielmehr vor aller und jeder Zeit gedacht wird. Das Bild der Zeit, ſagt Profeſſor Teich- müller, „verhält ſich wie ein Kreis“. Allein der Kreis läuft in ſich ſelbſt zurück, in ihm liegt nicht der Gang des realen Fortſchritts und der thatſächlichen zeit— lichen Veränderung. „Die Welt als das abſolute Ganze,“ ſagt unſer Autor, „muß nothwendig zeitlos ſein, ſodaß nichts früher, nichts ſpäter iſt, nichts zukünftig und nichts vergangen, und nichts geſchehen im Gegenſatz zum Ungeſchehenen. Die Geſetze, die wir vom partikulären Standpunkte aus feſthalten und auf die ganze Welt anwenden, erſcheinen daher von dieſen apodiktiſchen Ver⸗ nunftſchlüſſen aus betrachtet als Regeln,. für welche maßgebend iſt die logiſche Ord— nung in dem zeitloſen Syſtem der Welt." *) Gegenüber dieſen Betrachtungen, die ange— ſtellt ſind vom Geſichtspunkte der Eleaten, welche von dem Begriff des ewig an ſich fertigen Weltganzen, des in ſich ewig ab— ſolut Ruhenden und Starren ausgingen, erinnern wir den Leſer an die völlig entgegen- Gegentheil das Ganze als ſolches niemals in ſich völlig beſchloſſen und in ſolchem Sinne an ſich fertig war, ſondern nach ihm ein ruhelos ſich ewig Bewegendes, ein immer Werdendes und Unerſchöpfliches darſtellt. Iſt dem Eleaten alſo das ſog. Ewige ein nicht von der Stelle Kommendes, ſo iſt im wechſelnde Fluß der Zeit ſelbſt. Mit den Anſchauungen des Heraklit vermag man, ſobald man ihnen eine richtige Wendung verleiht und ſich davor hütet, ſie zu verab— verbleiben, während der Eleatismus über alle wirkliche Zeit, über allen Raum und W metaphyſiſches Jenſeits ſteuert. Es giebt keine Erfahrungen, die dem Eleatismus und der in ihm begründeten abſoluten Stabilitätslehre zum Anhalt dienen könnten. Im Hinblick auf die Annahme eines ewigen und unabänderlichen Grundgeſetzes an ſich haben wir im vorigen Artikel dargethan, nicht perſonificirt werden darf), ſondern gilt als eine befolgte Regel und Gewohnheit im Verhalten der Theilchen gegenüber von feineren oder gröberen Störungen und Aus— nahmen, welche der Eleate im Welterempel vergißt mitzuzählen. Reale Formen, or— ſomit über alle Erfahrung hinaus in ein daß ein Geſetz als ſolches nicht iſt (daher | und aller Lebeweſen nur mittelbar kennen, ganiſche Geſtaltungen, typiſch concrete Bild- ungen aber, wie ſie ſich darſtellen in den chemiſchen Körpern und in den phyſikaliſchen Beobachtungen, oder wie ſie ſich zeigen in den ſogenannten Gattungen und Arten der lebendigen Weſen, ſind noch viel weniger ſtabil als die ſogenannte Regel, die wir als Durchſchnittsmittel oft beobachteter Wieder— holungen und ſehr ähnlich wiederkehrender Erſcheinungen feſtſtellen konnten. Wenn als eine Thatſache hinſtellen. uns Herr Teich müller als platoniſirender Eleate zuruft: Alles ſteht im Grunde feſt, nur ein bloßer Schein, veranlaßt durch Denke man doch an die complicirten chemiſchen Verbindungen und deren fortwährende Um— formungen unter den Bewegungen des Stoff— wechſels bei allem Lebendigen! Wie taufend- fältig verſchieben ſich unter ſeinem Einfluß unſere Vorſtellungen und Gedanken, wie leicht ändern ſich unſere Anſchauungen! Und unter dem Einfluß dieſer tiefeingreifenden Veränderungen, die ſich im Fluſſe des Zeit— des Dichters: alle Vibrationen und Undulationen ſind die Perſpektive unſeres partikulären, befhränf- ten Standpunktes, ſo dürfen wir mit dem gleichen Recht ihm zurufen: daß vielmehr alle Ruhe und Stabilität bloßer Schein ſei. Caspari, Darwinismus und Philoſophie. Thatſache hinſtellen! Wir dürfen als Philo— bar erlebten wechſelnden Gefühle, im erlebten 165 wechſels abſpielen im innerſten, bekannteſten Theile unſeres Lebens, d. h. im unmittel⸗ veränderlichen Wollen und Vorſtellen, will uns der Eleat das ewige Bleiben und Ver— harren der Außen- und Innenwelt als eine ſophen zugleich niemals vergeſſen, daß wir unſeren Körper ſowie die unſerer Mitmenſchen als Bild in unſerem Geiſte. Was uns an dieſen Bildern feſt und ſtabil erſcheint, jteht an ſich offenbar zunächſt nur relativ feſt. Schreiten wir in unſerem Geiſte von Bekanntem zum Unbekanntem, ſo müſſen wir hier zunächſt den Zeitwechſel und das Veränderliche unſeres Vorſtellungslebens Nun kommt wohl in unſeren Anſchauungen auch ein Stück relativer Stabilität hinzu, das wir nicht vergeſſen wollen; wenn aber die Eleaten und mit ihnen Herr Teichmüller dieſen Theil relativer Feſtigkeit unſeres Vorſtellens dazu benutzen, die Thatſachen umzukehren und auf den Kopf zu ſtellen, ſo muß ihm der Philoſoph entgegentreten mit dem Ausſpruch „Heute ſtößt dich, was dich geſtern zog Kannſt du der Welt noch Neigung tragen, Die ſo viel Male dich betrog?“ Der Eleatismus hat die Welt auf den Kopf geſtellt und eine Reihe von äußeren Erſcheinungen, die ſeiner Deutung günſtig waren, dazu benutzt, die menſchliche Anſchau— ung in Feſſeln zu ſchlagen. Die tieferen Gründe hiſtoriſch rückwärts in unſerm Geiſte aufzuſuchen, welche den Eleatismus herbei— führten, iſt hier nicht der Ort, wir müſſen uns hier begnügen mit dem Nachweis, daß das abſolute Stabilitätsbild der Außen- welt, das uns der Eleatismus hinſtellt, ein Trugbild iſt. Auch die Körper der Ani— 5 — — . nt N 166 malien, bis in die kleinſten Faſern vom Stoff— wechſel beeinflußt, fließen ebenſo im Strome der Zeit wie unſer Planet und unſer Sonnen— ſyſtem, ſammt ſeinen ſog. Elementen, inner— halb des wogenden Aethermeeres und aller ſeiner unſichtbaren Ströme, die als Vibra— tionen elekro-magnetiſcher Natur alle Körper und unſer Inneres durchſtrömen, und uns untertauchen in den unerſchöpflichen Zeit— ſtrom des ewigen Werdens. Wenn Herr Teichmüller als conſe— quenter Eleate ſich daher zu dem Satze erhebt: „die Zeit iſt die perſpektiviſche Erſcheinung der zeitloſen Weltordnung)“, fo ſagt er im Grunde nichts anderes, als: aller Wechſel ift Schein eines an ſich Wechſelloſen. Hier verwickelt ſich der Philoſoph aber nicht blos in Vernunftwiderſprüche (Antinomieen), fon- dern verſtößt, wie oben dargethan, gegen die unmittelbar erlebten Thatſachen unſeres Inneren, das uns den relativen Wechſel neben dem nur relativen Verharren (Conſtanz) der Anſchau ungen und Vorſtellungen darthut. Die Zeit iſt daher niemals eine bloße Schein— maßnahme und gleichſam perſpek— tiviſche Projektion am zeitlofen Hintergrund der ewig ſtabilen Ordnung, ſondern ſie iſt vielmehr thatſächlich die empfundene und unmittelbar erlebte Differenz zwiſchen einem Bleiben und einem Wechſel der Erſcheinungen. Wird eines dieſer beiden zuletzt genannten Requi— ſiten zum bloßen Schein, ſo hebt ſich die Zeit ſelbſt zum reinen Scheinerlebnis, zum ſubjektiven Traume auf, im Gegenſatze zu den objektiven Formen des Zeitbewußtſeins, wie wir daſſelbe beim wachen Zuſtande und unter gemeinſchaftlichen Erlebniſſen Vieler erkennen und empfinden. Wir ſehen ) Siehe a. a. O. S. 49. — — Caspari, Darwinismus und Philoſophie. —— am Beiſpiele der Zeit, wie ſehr ſich die Eleaten bemühen, über alle und jede Zeit, d. h. über alle in ihr begründeten That— ſachen hinauszukommen zu einem rein Metaphyſiſchen, das nur ein Hirnge— ſpinſt darſtellt, das ſich widerſpruchsvoll in ſich ſelbſt aufhebt. Der metaphyſiſche Pſeudobegriff, der hier zu Grunde gelegt wird, iſt die ſog. zeitloſe Ewigkeit, das iſt eine Zeit ohne Zeit. Wer die Ewigkeit denkt, darf ſich dieſelbe daher nicht wie die Eleaten als Kreis vorſtellen; denn das Unendliche der gleichartigen Wie— derholung alles damit Geſetzten hebt ſich darin auf in die gähnende Langeweile und in erlebnißloſe Zeitleere. Die Zeit iſt dem— gegenüber, wie Schreiber dieſes anderswo dargethan hat, niemals die periodiſche Wie— derholung des Gleichen und des wieder— kehrend Identiſchen.“) Ihr Schema verläuft daher weder als in ſich zurückkehrender Kreis, noch als gerade Linie, auf welcher ſich die genaue Wiederholung des ſich bewegenden Punktes und ſeiner Abſchnitte vollzieht, ſondern ſie kann ſchematiſch nur als die Wiederholung des nur Aehnlichen und rela— tiv Veränderlichen gedacht werden, ihr Bild iſt daher die nicht in ſich zurücklaufende, fortſchreitende Curve. richtig gedachte Begriff der Ewigkeit darf alſo nicht die an ſich zeitloſe Zeit, ſondern muß vielmehr die real fortſtrebende ewige Zeit, und die damit im Zuſammen— hang ſtehende ewig fortſchreitende Cauſalität der Weſen und Dinge bedeuten. ) Siehe Caſpari „Grundprobleme der Erkenntnißthätigkeit“. Bd. II. S. 280 ff. N — Der kritiſch Caspari, Darwinismus und Philoſophie. 5. Die fünf geſchichtlichen Löfungs- | verſuche der Frage über die Ent— ſtehung der Formen und Arten. der Zeit auseinandergeſetzt, zu der richtigen Frage über die Entfaltung der Formen im meine Einheit des materiellen Stoffes vor— Allgemeinen und die Entſtehung der Species im Beſondern über. gegebenen Typen der Thiere und Pflanzen aus, ſo iſt die Frage zu ſtellen, wie die— ſelben geworden ſind. Hierauf ſind bisher fünf verſchiedene Antworten erfolgt. Als erſter Verſuch, dieſe Grundfrage zu löſen, verweiſt Teichmüller auf die Weltan— ſchauung des Empedokles. Derſelbe ließ die Elemente der Natur alle möglichen Com- „Gehen wir von den binationen verſuchen, ſodaß ſie zu ver⸗ ſchiedenſten Zeiten die verſchiedenſten Mofait- | 167 ſcheinen neuer Typen erſcheint nach dieſer Anſicht wunderbar und nebelhaft, und man erkennt, daß dieſe Anſicht rein mytho— logiſch iſt. Unſer Autor geht nun, nachdem er ſeine | wunderliche eleatiſche Anſicht über das Weſen riſtiſch vor, Origenes im Ernſt. Die dritte Löſungsweiſe ſtammt von Origenes. Plato trug dieſelbe humo— Es wird nach dieſer Anſchauung eine allge— ausgeſetzt, aus welchem alle wirklichen Formen der Welt werden könnten. Die Unterſchiede dieſer Formen werden aus den Stufen der moraliſchen Vollkommenheit abgeleitet, ſodaß alſo ſämmtliche Organismen eine moraliſche Entwickelungsreihe darſtellen, indem eine Form durch Metamorphoſe in die andere Form übergeht, je nachdem die zugehörige Seele an Tugend und Schlechtigkeit ſich verändert. Nach Origenes giebt es urſprünglich eine Welt, in welcher alle bilder darboten. Die letzte Umwürfelung hat Weſen vollkommen mit Gott geeinigte Geiſter nach ihm zufällig ſolche Formen geliefert, die in ihren Theilen ſo zuſammenpaßten, daß ſie ſich forterhalten und fortpflanzen konnten, und ſo ſeien die gegenwärtigen | Typen die Permutations- und Combinationg= verſuche der Natur. Die Zweckmäßigkeit der Form iſt darnach das zufällige Er Unveränderlichkeit der Welt, da ſie über— gebniß einer fortwährenden Selektion). Eine zweite Löſung, der empedokleiſchen gegenüber, iſt die myſtiſche. Darnach bedarf ſcheinung bringen müſſe und keine Zeit die Natur gar keiner cauſal-mechaniſchen Zu— ſammenhänge, wodurch ein ſpäterer Zuſtand der Welt mit einem früheren nothwendig anderen. Deshalb mußten die gegenwärtigen als mit ſeiuer Bedingung verknüpft wäre, ſondern die Natur der Gottheit erzeugt ganz beliebig nach Gutdünken zu rechter Zeit diejenigen Typen als fix und fertig, die ſie erzeugen will. Das plötzliche Er— ) Siehe a. a. O. S. 50, und vergl. K. E. von Bär's Studien aus dem Gebiete der Naturwiſſenſchaften. 1876. S. 254. ſind. Durch Abfall ſinken dieſe dann und verwandeln ſich durch Dämonen, Menſchen und Thiere hindurch bis zur niedrigſten materiellen Geſtalt und ebenſo umgekehrt. Der vierte Verſuch wurde von Plato und Ariſtoteles unternommen. Dieſe beiden großen Philoſophen glaubten an die zeugt waren, daß der göttliche Grund der Welt ſich auch immer vollkommen zur Er— gedacht werden könne, in welcher die ganze Welt weniger vollkommen war als in der Typen des Lebens auch ewige, und zugleich die einzig möglichen ſein, ſie konnten weder jemals entſtehen, noch jemals aufhören. Sie leugneten daher ſchlechtweg die Entſtehung der Thiere und Menſchen. Ein Menſch er— zeugt einen Menſchen, und dieſes Geſetz der ſynonymen Erzeugung gilt nicht bloß jetzt, a) f | Zufunft in infinitum gelten. folge vom Unvollkommnen zum Vollkommnen, aber nicht ſo, daß der eine Typus aus dem anderen hervorgeht, ſondern ſo, daß die ganze Fülle der zur Vollkommenheit der Welt nothwendigen und möglichen Formen immer nebeneinander exiſtirt und ſich neben— einander in verſchiednen Erzeugungsweiſen fortpflanzt, aber ohne allen Ueber— gang ineinander“). und zwar mit Recht, dieſe Löſung als un— genügend. Er nennt ſie ungeſchichtlich und inconſequent. Denn ſagt er, Lehre kommt doch mindeſtens die Annahme einer Metamorphoſe nothwendig vor, näm— lich die durch Geſchlechtsdifferenz gegebene. Da nicht ein Mann einen Mann erzeugt und ein Weib ein Weib, ſondern beide zu— ſammen beide, ſo fragt ſich, warum jetzt löſte Ariſtoteles durch die zufällige Differenz der Lebensbedingungen bei der Erzeugung. Bei unvollkommenen Lebens— bedingungen des Fötus kann der eine und gleiche menſchliche Typus ſich nicht vollkommen entfalten, und es entſteht ein unvollkommener Mann, d. h. ein Weib. Dadurch war ge— Lebensformen der beiden Geſchlechter aus dem gleichen Arttypus hervorgehen können, und mit dieſer Inconſequenz im Syſtem war der Forſchung die Aufgabe geſtellt, ob nicht vielleicht auch die verſchiedenen Species aus— einander hervorgehen könnten. An dieſe aufgeführten Löſungsverſuche ) Siehe a. a. O. S. 51, 52 und 53, und vergl. Teichmüller, Studium zur Geſchichte der Begriffe. Weidmann, Berlin. der Lebensformen iſt daher zwar eine Reihen- mehr denn zwei Jahrtauſenden wieder er— Prof. Teichmüller bezeichnet nun, in dieſer Caspari, Darwinismus und Philoſophie. ſondern muß für die Vergangenheit und die der fünfte nach Teich müller derjenige an, Die Reihe welchen er den Anaximander-Darwiniſtiſchen nennt. Ganz mit Recht weiſt unſer Autor auf Anaximander hin, den man hiſtoriſch ohne Zweifel als den erſten Deſcendenzlehrer hinzuſtellen hat. Zwar find die Kenntniſſe Anaximander's, ſagt der Verfaſſer, noch ſehr dürftig, aber dennoch iſt ſeine Er— klärung vom Urſprunge des Menſchen und der Thiere ſo natürlich und probabel, daß es nicht Wunder nimmt, wie ſie nach neuert werden konnte. Anaximander glaubte, die Menſchen und Thiere hätten ihren Urſprung durch Erzeuger, die einer anderen Gattung angehörten, denn ein Keim könne nicht ohne Eltern, ohne Säugung aufwachſen. Darum läßt er die Landthiere aus dem Waſſer hervorgehen, wo ſie erſt in einer ganz anderen Geſtalt fiſchartig lebten, ein Mann und jetzt ein Weib entſteht. Dies zeigt, daß die äußerlich ſehr verſchiedenen und Darwin nur der Unterſchied des über die Art-Entſtehung reiht ſich nun als ungen einmiſchen, ſo wäre ſie ſicherlich | | | und fi) dann, wenn fie ausgewachſen, meta— morphoſiren, ihre Formenhülle zurücklaſſen auf dem Lande weiter leben, indem ſie ſich den neuen Bedingungen anpaſſen. Man muß alſo zugeben, daß Anaximander der erſte Deſcendenztheoretiker und Adaptionslehrer war, der zugleich auch auf die Transmuta⸗ tionslehre hinwies. Aber wie ſehr weit ab lag das Weſen dieſer Lehre von den Concep— tionen Darwin's! Teichmüller meint, daß zwiſchen Anaximander, Lamarck Grades der Kenntniſſe und des Umfangs von Naturſtudien beſtände. Wäre die Lamarck— Darwin'ſche Lehre indeſſen nur ein vielfach verbeſſerter Verſuch der Anaximander'ſchen Veränderungs-Evolutions- und Anpaſſungs⸗ lehre, in welche ſich empedokleiſche Auffaſſ— (wie ich ſchon anderwärts ausgeführt) nicht in ſo ſehr weiten Kreiſen zur Geltung gekommen. Wir wiſſen heute, daß die eigenthüm— | 1 Caspari, Philoſophie und Darwinismus. 169 liche Conception Darwin's an eine That- 6. Prof. Teichmüller's eigene Lehre ſache der Nationalökonomie und an Aus— führungen anknüpft, wie ſie bekanntlich Malthus in ſeinem berühmten Werk über die Bevölkerung niedergelegt hatte.“) Aus den hier gezogenen Conſequenzen erkennt Darwin bekanntlich, daß ein thatſächlicher Kampf von Individuen um die Exiſtenz— bedingungen beſteht, der Reibungen und damit nothwendig wechſelſeitige Veränder— ungen herbeiführte, wie ſie in abgeblaßterer | | über die Transmutation. Nachdem die Lehren des Empedokles ſammt alledem, was der Selektions- und Adaptionslehrer Darwin mit Hinblick auf Anaximander dargethan hatte, abgewieſen worden, nachdem Teichmüller zu zeigen verſucht, daß ſich die Abänderung der Formen Form der künſtlich arbeitende Thierzüchter thatſächlich darthut. Nicht der pure Zufall vollführt daher die Variationen, ſondern die unaufhörlichen Reibungeu der Individuen und Gruppen gegeneinander, ein Proceß, in welchen allerdings mehr oder weniger der Zufall eingehen kann, ohne aber allein darin eine Rolle zu ſpielen. Wir wünſchten, es wäre uns weder myſtiſch, noch ſprungweis, noch ſo erklären ließe, wie die Platoniker und Ariſto— teliker es fordern, geht unſer Forſcher zu folgender eigenen Betrachtung über: Nehmen wir ein gleichſeitiges Dreieck als gegeben an, ſagt er, und betrachten wir ſeine Elemente, wie bei den natürlichen Dingen, als variabel. Denken wir uns nun durch irgend eine Urſache einen rechten Winkel hier mehr Raum geſtattet, um bis in's Einzelne hinein genauer darzulegen, wie grundfalſch und wie oberflächlich Herr Teich- wird der Summe der Quadrate der beiden müller verfuhr, und wie ungeheuer die Mißverſtändniſſe waren, die ſich ihm in hiſtoriſcher Beziehung hier bei Beurtheilung der Darwiniſtiſchen Lehre ergaben. Sehr weſentlich war, wie ſchon im vorigen Artikel angedeutet wurde, die falſche Conception über das Weſen und die Bedeutung des ſog. Zufalls daran ſchuld. Bevor wir mit wenigen Worten hierauf zurückkommen, ſei der Löſungsverſuch angeführt, den Herr Prof. Teichmüller ſelbſt hinſtellt, um mit ihm die oben genannten, nebſt der Darwin’- ſchen Lehre, zu überbieten und zu widerlegen. Wir werden dabei erkennen, wie viel von der platoniſch-ariſtoteliſchen Metaphyſik (die eine rein eleatiſche war) mitgewirkt hat, um unſeren Forſcher zu beeinfluſſen. ) Vergl. zugleich Haeckel's Schöpfungs— geſchichte. Aufl. 2. S. 120. darin entſtanden, ſo muß ſofort das ganze Syſtem der Figur (d. h. alle Theile gleich— mäßig in ihrer Gegenſeitigkeit) geändert werden. Eine Seite wird nothwendig länger als die beiden anderen, aber ihr Quadrat andern gleich u. ſ. w. Kurz, man ſieht, wie von einem Punkte aus, der den Typus beſtimmt, ſofort eine geſetzmäßige Neuordnung des ganzen gegebenen Syſtem's geſetzmäßig wechſelſeitig erfolgt, indem darin alles Einzelne durch Beziehung auf die Differenz des Typus gleichzeitig mit differenzirt wird.“) Die Wahl einer rein mathematiſchen Figur iſt nun höchſt charakteriſtiſch für die Teichmüller'ſche Grundanſchauung. Sie läßt den Kritiker deutlich erkennen, wie er ſich das Fundament des Weltgebäudes angelegt denkt. Der Typus dieſes Funda— ments iſt eine bewegliche Architektonik, welche ſich auf die eine, ſich ſelbſt gleiche, abſolute ) A. a. O. S. 81. 1 9 - a 170 ſtreng in den Grenzen zu halten. Wie ſich daher auch die einzelnen Theile des Gebäudes gegeneinander ändern mögen, Typus, Grund— riß und Ebene bleiben ſtets dieſelben. Wie aber, wenn die Verſchiedenheiten und Ver— änderungen bis auf den vollen Grund des Fundamentes ſelbſt hinabreichten, und die Unebenheit der Grundebene ſelbſt in den Veränderungsproceß hineingezogen, ihre Sichſelbſtgleichheit geſtört würde? Geſchähe das, ſo könnte offenbar das Beiſpiel über den Variationsproceß mathematiſcher Typen— verſchiebungen nicht mehr auf die Trans— mutation empiriſcher Formen, wie Orga— nismen, Individuen, Arten u. |. w. übertragen werden. Teichmüller gelangt daher auch bei ſeiner Erklärung der Umbildungsmöglichkeit nicht zu der völligen Einſicht realer empi— riſcher Transmutation, ſondern er geräth auf den Begriff der ſog. Metamorphoſe, die er ſich als eine Wandelung und Umform— ung denkt, auf Grund von äußeren Ver— ſchiebungen eines an ſich typiſchen unab— änderlichen Princips, das ſich bis in die Unabänderlichkeit der Gattungs- und Artentypen ausgeſprochen findet. Forſcher ſtellt im Hinblick auf ſeine Grund— anſchauung daher eine ganz eigenartige philo— ſophiſche Metamorphoſenlehre und Deſcen— denzlehre auf. Den Grundzug derſelben bildet der feſte Typus des metaphyſiſchen Weltbaues, die Urform (Uridee) an ſich. Auf ihr, wie auf der ſtarren und feſten Ebene des Euklid, finden ſich alle Bildungen Hund Formen architektoniſch aufgetragen. Alle Geſtaltungen vollziehen ſich mit Hülfe einer organiſirenden Thätigkeit (Lebens— | kraft), die ſtreng teleologiſch im Dienſte des Ganzen arbeitet. Neben der Differenzirung durch typiſch bevormundete und teleologiſch geleitete (geplante) Metamorphoſe, verweiſt Caspari, Darwinismus und Philoſophie. Ebene des Euklid aufgeführt findet, um ſich Unſer Herr Teichmüller aber noch auf einen zweiten Entwickelungs- nnd Veränderungs⸗ vorgang, er nennt ihn die „ſpermatiſche Differenz“. Da jede Differenzirung nach unſerem Forſcher nur auf dem gemein- ſchaftlichen Boden der Gattung möglich iſt, ſo muß auch dieſes Umformungsprincip im Dienſte dieſer höheren unveränderlichen Idee wirken. Dieſe Wirkſamkeit geſchieht durch das, was man die Entwickelung der Zeug- ungsſtoffe nennt. Dieſe ſind an ſich den Individuen nicht organiſch einverleibt, ihnen daher relativ fremd; die Spermatozoiden ſind oder werden im Körper Fremdlinge und müſſen als Coloniſten ausgeſtoßen werden. Sie ſind daher, wie die herangewachſenen Kinder eines Hauſes, ſelbſtſtändige Mittel⸗ punkte eines neuen Lebens und werden nur vorläufig im Organismus erhalten und erzogen, um ſie dem organiſirenden Princip der Gattung ähnlich zu machen. Unſer Autor erkennt daher zwei Umbildungsfaktoren au. Der eine beſteht in der geſetzmäßigen, correlativen Verſchiebung der Theile auf Grund des bauenden (organifirenden) Prin- cips, — das iſt die oben erwähnte Meta— morphoſe, — und der andere Faktor iſt die durch Organiſirung, Dreſſur und Coloni- ſirung des Samens herbeigeführte ſper— matiſche Differenzirung. Kurz, wer ſich alle Veränderungen der Welt vor ſich gehend denkt auf Grund einer omnipotenten organiſirenden Kraft, mit Hin- blick auf eine Idee oder einen Plan (Typus), um fo eine abſolute Zweckmäßigkeit (Teleo- logie) zu proklamiren, den möchten wir nachdrücklich auf ein genaues Studium der Teichmüller'ſchen Ausführungen verweiſen. — 6 0 Caspari, Darwinismus und Philoſophie. 7. Der relative Zufall als thatſäch— licher Faktor jeder empiriſchen Indi- viduations- und Werdelehre. Es ſind in der Literatur ſeit zwanzig Jahren neben der Darwin'ſchen Trans— mutations- und Selektionslehre ſehr viele Umbildungslehren aufgetaucht, die der von Teichmüller aufgeſtellten mehr oder weniger ähnlich ſind; dennoch muß zuge— ſtanden werden, daß eine conſequentere Lehre über Umformung auf Grund von einigen Urtypen und auf Grund einer ewig herrſchenden und planmäßig lenkenden Uridee nicht erfunden werden konnte. Man ſieht dieſe teleologiſch ſchaffende Uridee förm— lich leibhaftig vor ſich, wie einen Teich kneten— den Bäckermeiſter, der planmäßig ſeine Faſtenbrezeln durch Metamorphoſe regelrecht ſich verſchiebender Fingerbewegungen und durch geſchicktes Abtheilen hervorruft. Aber das conſequent gedachte teleologiſche Syſtem unſeres Autors beweiſt gegen die Thatſachen zuviel, und damit bricht es zu— ſammen. Wenn der organiſirende Formen— bildner, wie angenommen wird, unendlich geübt iſt, und der bildſame Teig zugleich unendlich gut bereiket wurde und gut geht, woher kommen denn die tauſende von kleinen Mißbildungen und das übergroße Heer von Uebeln? Wir ſtehen mit dem Autor vor der uralten Frage: woher Irrthum, Zufall, Uebel und die negirenden Mächte überhaupt? Man erkläre die negative Macht, den Zufall; den— ſelben als Macht fortdisputiren, um ihn für einen bloßen ſubjektiven Schein zu erklären — das freilich erſcheint leicht. Wenn der ſoeben erwähnte Bäckermeiſter die ihm zufällig liegen bleibenden Brötchen wieder in den neuen Teich knetet, um ſie aber— mals zu verwerthen, ſo ſpielt hier der Zufall des Liegenbleibens nur den Ab Ethik überzutreten. 171 nehmern und Käufern gegenüber; vor den Augen des weitſichtigen Bäckermeiſters hebt ſich derſelbe auf, weil er in ſeinem öko— nomiſchen Betriebe darauf Rückſicht zu nehmen weiß. Aber die Vorausſetzung ſolcher Erklärung iſt die unfehlbare Weit— ſichtigkeit und Berechenbarkeit aller Vor— kommniſſe von Seiten des Meiſters. Wir wollen hier nicht in Fragen einlenken, die wir in dieſer Zeitſchrift ſchon früher einmal behandelten, um zu ſagen, daß der unfehlbare große Meiſter des Weltalls doch mit ſeiner Allbarmherzigkeit und ſeiner All— weisheit zu ſehr im Conflikt komme, wenn er eine Reihe der furchtbarſten Weltpeſti— lenzen und ihrer Folgen für die Geſchöpfe nur als Erſcheinungen hinſtellt, die im Be— triebe des Ganzen als Zufälle ausgeglichen werden, um ſich ſchließlich für das Ge— ſammt-All nützlich zu erweiſen. Ein Plan— macher oder Typenſchöpfer, der Weſen Exiſtenz verleiht, die durch grauſame Qualen wieder vernichtet werden, nur um das Ganze hinterher im ſchönſten Gange zu erhalten, iſt in ſich nicht planvoll, nicht allweiſe im höchſten Sinne.) Wenn der Schöpfer das Licht nicht ohne ſolche Schatten ſchaffen konnte, die unter Umſtänden ſo anwachſen, daß ſie für unzählige Geſchöpfe das Licht erſticken, ſo (hier geben wir den Peſſimiſten recht) hätte er dieſe Art von Lichtſchöpfung bleiben laſſen ſollen. Doch iſt es an dieſem Orte nicht unſere Abſicht, in Probleme der Für uns handelt es ſich hier in der großen Welttragödie nur um den Teufel Zufall, mit dem, als nega— tive Macht, die ſo ſchön angelegte Teleologie und planmäßige Entwickelungslehre des Herrn Teich müller einigermaßen in's Gedränge kommt. Wenn ſich alles planmäßig ver— Vergleiche dieſe Zeitſchrift Band. 1. S. 282 flgd. m Kosmos, III. Jahrg. Heft 9. 23 ſchiebt, wie ein auf euklidiſcher Ebene ge- ordnetes mathematiſches Coordinatennetz, jo giebt es für den Typus dieſer an ſich glatten Ebene im Grunde gar keinen Zufall — nicht einmal den relativen. Dieſer letztere aber ſpielt immerhin im Weltproceß doch ſeine Rolle. Iſt er bei Empedokles die außer aller Welt ſtehende Macht, die wie ein launiſcher deus ex machina Alles herbeiführt, fo iſt es bei den eleatiſchen Teleologen, Platoniſten u. ſ. w. wiederum nur der Schein und als ſolcher eine Illuſion, welche ſich erzeugt, wenn man in's Einzelne blickt, und welcher ſich verliert, wenn man das Ganze überſchaut. Wie aber, wenn das feſt ge— geſchloſſene abſolute Ganze, worauf wir früher hinwieſen, gar nicht in einer ſo abſoluten Form an ſich exiſtirt? Dann kann ſich durch den Hinblick auf's Ganze der Zufall auch nicht völlig und abſolut in reinen Schein auflöſen. Eben weil das ſog. Ganze niemals völlig abgeſchloſſen und abſolut ganz iſt, ſondern nach rückwärts und vorwärts durch den langen Einfluß der Zeit hinſichtlich der in Vergeſſenheit ſinkenden Vergangenheit und einer unver— änderlichen Zukunft beſtändig durchbrochen und bis zum gewiſſen Grade in werdender Fluktuation erhalten wird, liegt in ihm nicht die zufälligkeitsloſe Unfehlbarkeit, ſondern nur die Wahrſcheinlichkeit mit ihren Abſtufungen für die reale Zufallsgeltung unter den Ereigniſſen. Zufall nennen wir den Zuſammenfall von bekannten und un— bekannten Bedingungen, die in ihrem Zu— ſammenkommen von keinem Punkte alle vor— auszuſehen waren. Man denke ſich eine Summe von Individuen, die ſich alle gegen— ſeitig jo durchſchauen wie klare Waſſer— gläſer, wenn ſie Augen hätten und lebendige Weſen wären. In welche Conſtellationen Caspari, Darwinismus und Philoſophie. dieſe gegenſeitig ſich auch brächten, ſie würden ſich untereinander überall völlig durchſchauen und allen Zufall unter ihren Bewegungen bei Vorſicht gegenſeitig vermeiden können; aber freilich das Spiel, das ſie mit einander voll— führten, könnte ihnen kein Streben als Auf— gabe d. h. keine Adaption ſein und kein Intereſſe bieten. Wie in früheren Artikeln dar— gethan), wären dieſe Individuen intreſſeloſe Spieler mit offenen Karten. Solche Spieler aber ſind keine wirklichen Spieler; denn noch ehe ſie anfangen, haben ſie das Spiel ſchon durchſchaut und geendet. Wir nennen eben nur ſolche Weſen Indi— viduen, d. h. empiriſche reale Fak— toren, die dadurch ſich reiben und in ſpie— lender Wechſelwirkung Liebe, Leid und Luſt erzeugen, daß ſie ſich gegenſeitig nicht ab— ſolut durchdringen und durchſchauen, ſondern einander relativ fremd und entfernt ſtehen, ſodaß man ſie nicht wie gleichartige Zahlen addiren kann, und ſie ſelbſt ihre gegenſeitigen Umformungen und Bewegungen nicht untereinander vorausberechnen können, ſondern ſich erſt anpaſſen müſſen. Wenn die Welt eine Thatſache iſt, ſo iſt die Exi— ſtenz der Individualitäten ebenfalls eine ſolche; die abſolute All-Einheit als das ſtreng einheitliche Ganze dieſer Exiſtenzen iſt aber nur Annahme und bloße Hypotheſe. Wir haben es daher in der Welt ſtets mit relativ incommenſurablen Faktoren zu thun, deren Wirkungen ſich nicht in ein abſolutes Rechen— exempel auflöſen laſſen. Die darwiniſtiſche Lehre iſt nun vor allem empiriſch, fie nimmt daher die Faktoren nicht wie ſie ſein könnten, ſondern ſo, wie ſie ſind. Sie findet den Kampf und die Reibung aller Faktoren und Individuen, und unter ihrem Einfluß ſieht ſie, wie oft Bedingungen ſich eine Gelt— ung verſchaffen, die als relativer Zuſtand *) Vergl. dieſe Zeitſchrift 1. Jahrg. 1877. _ ee Caspari, Darwinismus und Philoſophie. nicht zu beſeitigen ſind. Es geht auch hier wie beim Spiele, die Einzelnen helfen oder durchkreuzen ſich je nach Maßgabe ihrer Uebung, Gewohnheit, Kenntniß oder Un— kenntniß, Verwandtſchaft oder Fremdheit. Alle abſolute Zwecklehre (Teleologie) iſt da— her dem empiriſchen Darwiniſten mit Recht verhaßt. Nicht der abſolute Zufall herrſcht ſelbſtverſtändlich unter der Wechſelwirkung der Individuen und ſo vieler gegenſeitig ſich verwandter und fremder Bedingungen, wohl aber der relative; denn er iſt mit jeder Individuationslehre ebenſo gegeben, wie der Schatten im Lichte, in welchem jener an— wachſen und wieder relativ ſchwinden kann, ſobald die einander lichtbringenden Faktoren das in ihrem gegenſeitigen Verhalten geſtatten. Der relative Zufall iſt daher ſelbſtverſtänd— lich nicht das Cauſalitätsloſe, wohl aber das für die Weſen Regelloſe, Neue und Fremde das ſie nur erſt allmählich untereinander lernen durch Gewohnheit und Anpaffung. Die Philoſophie des Darwinismus legt den Nachdruck ihrer empiriſchen Betrachtung auf die Unterſuchung und das gegen— ſeitige modificatoriſche Verhalten der Bedingungen und Faktoren unter— einander. Unter dem Einfluß dieſes em— piriſchen Verhaltens organiſcher, unorganiſcher und kosmiſcher Bedingungen werden die ver— ſchiedenſten Veränderungen und Umformungs— grade conſtatirt. Hier ſehen wir Umform— ungen in continuirlichen, conſtanten Reihen verlaufen, dort entſtehen unter eigenthüm— m u ——— lichen Bedingungen in ſcheinbar ſehr raſcher Entwickelung Monſtroſitäten und Formen, deren Zuſammenhang mit den übrigen ſich ſchwieriger verfolgen läßt; endlich ſehen wir, wie in gewiſſen Perioden unſerer Planeten— entwickelung eine eigenthümliche Stagnation der Artenbildung und Umformung eintritt: die bildſamen Kräfte haben ſich hinſichtlich der Reibung mit den entgegengeſetzten in ein relatives Gleichgewicht geſetzt. Alle dieſe Verhältniſſe, reſp. das Verhalten der Glie— der und der Individuen zu erforſchen, iſt Sache des empiriſchen Naturforſchers. Der kritiſche Philoſoph hat den Thatſachen und ihren Deutungen gegenüber nichts weiter zu thun, als den Blick zu befreien von allen jenen Scheuklappen, welche eine herrſchende dogmatiſche Richtung jedesmal dem forſchen— den Menſchengeiſte anlegt. Keine dogmatiſche Richtung hat aber länger ihre Herrſchaft in der menſchlichen Geiſtesentwickelung aus— gebreitet, wie der ſog. Eleatismus, dem, wie wir darlegten, auch gern Teichmüller huldigt. Erſt durch die Anſtöße Darwin's und aller der Rückwirkungen, welche er nach allen Seiten und ſo auch nach Seiten der Philoſophie hin ausgeübt hat, ſcheint ſeine Macht gebrochen. Mehr und mehr lernen wir allmählich wieder einſehen, daß auch die Werde- und Veränderungslehre die ihren Anſtoß durch Heraklit erhielt, ihre relative Berechtigung hat hinſichtlich der Deutung der Thatſachen. 113 SR ontologie ein Objekt geben, ID über welches mehr und bis auf dieſen Tag fruchtloſer umhergeſtritten worden wäre, als die knolligen Bildungen der Urgneis— formation Kanadas, welche von der einen Partei als älteſte Ueberbleibſel des Lebens auf der Erde, von der andern als ein bloßes Mineralgemenge angeſehen werden. Auch jetzt, nach den neueſten Unterſuchungen von Möbius und Hahn, ift dieſe Streitfrage ihrer Entſcheidung kaum näher gerückt, aber ſie hat ſo viel Staub aufgewirbelt und ſo viele Federn in Bewegung geſetzt, daß wir unſern Leſern einen Bericht darüber ſchuldig zu ſein glauben. Früher war es die allgemeine Annahme der Paläontologen, daß die ſogen. cambriſche oder Urſchieferformation, in der man ſpär— liche Reſte von Algen, Ringelwürmern und Strahlthieren findet, die älteſte und unterſte Verſteinerungen führende Schicht ſei, da man in der unter derſelben liegenden, ge— Der gegenwärtige Stand der Eozoon-Trage Möbius, Dawſon, Carpenter u. R. waltig ausgedehnten, laurentiſchen oder Ur— gneisformation bisher keine Ueberreſte von Lebeweſen angetroffen hatte. Die Gegner der Entwickelungstheorie ſahen in dieſem urſprünglichen Mangel aller Lebensſpuren und in dem unvermittelten Auftreten ver— gleichsweiſe hochentwickelter Formen in den oberen cambriſchen Schichten, den Beweis eines übernatürlichen Eingriffs, einer ur— plötzlichen Schöpfung der Organismen aus dem todten Material. Vorſichtigere Forſcher dagegen erkannten ſchon lange, daß der Mangel erkennbarer Verſteinerungen kein Beweis für das abſolute Fehlen einer noch älteren Lebewelt ſei, daß ſich im Gegentheil mehr als ein Grund darbiete, aus welchem ſich das Fehlen organiſcher Reſte in jenen Schichten erklären laſſe. Einmal nämlich müſſe man annehmen, daß die älteſten Lebe— weſen meiſtens mikroſkopiſch klein und ohne Gerüſttheile geweſen ſeien, die ſich zur Ver— ſteinerung eigneten, zweitens zeigten jene Schichten einen ſolchen Grad von Veränder— ung aller Theile, daß eine nachträgliche JJ... mn nun . Der gegenwärtige Stand der Eozoon-Frage. Zerſtörung von organiſchen Reſten in ſolcher Vollſtändigkeit wahrſcheinlich ſei, um höch— ſtens noch Spuren von Kohle und kryſtalli— niſchem Kalke von ihnen zu erwarten, und drittens iſt es nach den neueren Forſchungen wahrſcheinlich geworden, daß die Anfänge des Lebens lange Zeiten ſich nicht weit über die Pole hinaus verbreitet haben werden, weil nur dieſe damals eine dem Leben günſtige Temperatur beſaßen. Die Ver— ſteinerungsloſigkeit der ſtellenweiſe über 10000 Meter mächtigen, möglicherweiſe in „ einem heißen Meere gebildeten Urgneis— formation ließ ſich ſo aufs Beſte verſtehen, ohne daß dadurch etwas für oder wider die Alternative „Schöpfung oder Entwickelung“ bewieſen wurde. Im Jahre 1859 überraſchte indeſſen Sir William L ogan die wiſſenſchaftliche Welt mit der Mittheilung, daß Mac Culloch im Urgneis unweit des Ottawa-Fluſſes in Kanada fauſt- bis menſchenkopf-große Knollen endeckt habe, die entſchieden eine an organiſche Bildungen erinnernde Struktur zeigten. Fig. 1. Die dunklen Bänder ſtellen die Serpentinſtreifen, die helleren die Kalkmaſſe dar. Er vertheilte Probeſtücke davon und im Jahre 1864 veröffentlichte der kanadiſche Geologe J. W. Dawſon zu Montreal die Reſultate ſorgfältiger Unterſuchungen, nach denen dieſe meiſt unregelmäßig geſtalteten, vor— wiegend planconvexen Knollen im Innern dem Bau rieſiger Wurzelfüßler (Rhizopoden) ähn— lich wären. Er fand dieſelben nämlich im Quer— ſchnitt aus abwechſelnden, parallel verlaufen— den Streifen von grünem Serpentin und weißem Kalkſpath zuſammengeſetzt (Fig. 1), die eine ſehr eigenthümliche mikroſkopiſche Bildung zeigten. An beſonders gut erhal— tenen Stücken ließen die Serpentinſtreifen viele Einſchnürungen erkennen, ſo daß ſie manchmal dem Längsſchnitt eines Roſen— Querſchnitt von Eozoon canadense, 4: 1. kranzes glichen, weshalb Dawſon darin das Kammerſyſtem von Rhizopoden zu er— kennen glaubte, in welcher Anſicht ihm der ausgezeichnete Rhizopodenkenner Prof. Wil— liam B. Carpenter in London nach ge— naueſter Selbſtprüfung alsbald beiſtimmte.“) Dieſe Kammern wären dann bei der Ver— ſteinerung mit Serpentin ausgefüllt worden, ähnlich wie man jetzt viele jüngere Fora— miniferen-Gehäuſe mit dem ähnlich zu— ) Dieſe älteren Unterſuchungen findet man im Quarterly Journal Geol. Soc. London 1864. Vol. XXI. S. 45, 51, 59, 67, und 1865 Vol. XXII. S. 185 und 219. — Nachher hat Dawſon ſeine Studien über Eozoon ausführlich in dem Buche: The Dawn of Life London 1875 niedergelegt. | 176 Der gegenwärtige Stand der Eozvon- Frage. ſammengeſetzten, grünen Glaukonit ausgefüllt findet. Bei Anwendung ſtärkerer Vergrößer— ungen ſieht man an Dünnſchliffen die Ser⸗ pentinſtreifen von einem lichten Saum aus mit ganz feinen Serpentinfaſern durchzogenen Kalk umgeben. Dieſen Saum hielt er für die mit dem genannten Mineral injicirte poröſe Kammerwand des Wurzelfüßlers. Bekanntlich iſt bei einer großen Klaſſe der Kammerrhizopoden die Kalkſchale rings wie ein überaus feines Sieb durchlöchert, näm— lich bei den ſogenannten Perforaten, von denen Fig. 2 ein Beiſpiel zeigt. Durch dieſe feinen Poren werden im Leben des Thieres die Schleimfüße hervorgeſtreckt, welche der Klaſſe den Namen gaben. Fig. 2. Polystomella venusta. Der Umſtand, daß die jetzt lebenden Foraminiferen meiſtens mikroſkopiſch kleine Fig. 3. Parkeria, etwa dreimal vergrößert. Weſen ſind, konnte keinen ernſtlichen Ein— wurf gegen obige Deutung begründen; kennt man doch längſt thalergroße Nummuliten und hat in neuerer Zeit in den Par— kerien, Cycloclypeen und Loftuſien Rhizo— poden-Gattungen bis zu zehn Centimeter Durchmeſſer und theilweiſe compakter Geſtalt kennen gelernt (ſ. Fig. 3), ja wenn die von Salter hierhergerechneten Receptakuliten, die ebenfalls in ſehr alten (paläozoiſchen) Schichten vorkommen, wirklich hierher gehören, ſo haben wir in ihnen Foraminiferen von mehreren Zollen im Durchmeſſer, die alſo dieſelbe Größe erreichen, wie die meiſten der er fraglichen Bildungen, welche ſomit nicht ohne gewichtige Gründe von Dawſon Eozoon canadense, d. h. kanadiſches Morgenweſen (von og die Morgenröthe und 8 das belebte Weſen) genannt wurden. Prof. Carpenter glaubte deutliche Analogien mit dem Schalenbau der Gatt— ungen Nummulina, Tinoporus und Cal— carina, und zwar ganz beſonders der letz— teren zu bemerken, obwohl eine vollſtändige Uebereinſtimmung nicht erkennbar war und auch nicht erwartet werden konnte, da ſelbſt die lebenden Foraminiferen hierin ſehr weit von einander abweichen. Der abweichendſte Charakter des Eozoon würde in den langen perlſchnurartig nebeneinander verlaufenden Kammerreihen zu finden ſeien. Er verſuchte nach dieſen Analogien aus den ſtark meta— morphoſirten Reſten ein idealiſirtes Bild der morphologiſchen Verhältniſſe zu geben, deſſen Kopie hier folgt. Der abgebildete Durchſchnitt ſtellt ein kleines Stück mit zwei nebeneinander verlaufenden Serpentin⸗ Der gegenwärtige Stand der Eozoon-Frage. 177 ſtreifen, nebſt der zwiſchen ihnen liegenden Schicht Kalkſpath dar. Fig. 4. Idealiſirtes Bild des Eozoon von Carpenter. In den erſteren ſind je drei nebeneinander liegende Kammern (K) gezeichnet, die durch ſchmalere und zuweilen (wie bei g) durch eingelagerte Plättchen noch mehr verengte Einſchnürungen miteinander communiciren. Fig. 5 Querſchnitt aus einer Nummulina. 9 220 : 1. Daneben (b) Porenkanäle in 500maliger Vergrößerung. —— —— Bu 2 we. 178 Mit p find die von feinen Röhr— chen durchbohrten Seitenwände der Kam— mern bezeichnet, und 2 ſtellt das aus porenloſem kohlenſauren Kalk beſtehende Zwiſchen- oder Ausfüllungsſkelet dar, welches ſich in ähnlicher Weiſe bei vielen lebenden Foraminiferen findet. Durch dieſes Zwiſchen— ſkelet ſenden die Kammern in gewiſſen Ent— fernungen Verbindungsröhren (g) nach der nächſten Kammerreihe, oder es verlaufen darin baumförmig veräſtelte Kanälchen (St), die im lebenden Zuſtande mit Proto— plasma gefüllt waren, jetzt aber mit Ser— pentinmaſſe ausgefüllt ſind und deshalb im Dünnſchliff noch ſtärker hervortreten. Zur Vergleichung mag der Querſchliff einer tertiären Nummulina (Fig. 5) dienen, bei welcher die Buchſtaben genau die gleiche Be— deutung wie in der vorigen Figur haben. Eben ſolche baumförmige Bildungen wie Nummulina zeigen auch die obenerwähnten Gattungen Calcarina und Tinoporus. Die Carpenter'ſche Anerkennung des Eozoon als Foraminifere erregte bei dem Rufe dieſes Forſchers als genaueſter Kenner der betreffenden Organismen-Klaſſe das größte Aufſehen, und die meiſten Geologen bequemten ſich, die Anfänge des Lebens hiernach um unermeßliche Zeiträume rück— wärts zu verlegen. Natürlich wurde dieſe Auffindung und Deutung eines ebenſo uralten als ureinfachen Organismus auch von den Anhängern der Entwickelungslehre mit großem Enthuſiasmus begrüßt, denn es ſchien ſich dadurch eine unverhoffte Be— ſtätigung ihrer Anſichten zu bieten, nach denen die höheren Thiere und Pflanzen von niederſten Protoplasma-Weſen abſtammen müſſen. Selbſtverſtändlich durchſuchte man nun auch die europäiſchen Schichten von gleich hohem Alter und bald konnte Prof. K. Fritſch in Der gegenwärtige Stand der Eozoon-Frage. Prag und v. Hochſtetter“) in Wien ähn— liche Bildungen im böhmiſchen Gneisgebiet, Oberbergrath Güm bel“! in München vom bairiſchen Wald nachweiſen, und man unter— ſchied darnach auch wohl ein Eozoon bohe- micum, bavaricum. u. ſ. w. Von Pyfu- rewsky wurde daſſelbe in Finnland nachge— wieſen, von andern Forſchern in Schleſien und in den Pyrenäen. Da dieſe Erdgeſchichts— Forſcher in keiner Weiſe den organiſchen Ur— ſprung des Eozoon bezweifelten, ſo haben einige von ihnen vorgeſchlagen, die ganze Formation darnach zu benennen und der paläozoiſchen Formation noch eine eozoiſche oder eozo— nale vorausgehen zu laſſen. Dieſer Vor— ſchlag hat ſchon deshalb Widerſpruch erfahren müſſen, als man ähnliche Bildungen auch in ſpäteren Formationen gefunden haben will, ſo z. B. im Silur von Irland und im Zechſtein von Sunderland. Während ſich nicht nur eine Reihe an— geſehener Geologen, ſondern auch die be— währteſten Rhizopodenforſcher, nämlich außer Carpenter auch Parker, Jones, Brady u. A. entſchieden für die Rhizopoden-Natur des Eozoon ausgeſprochen hatten, erhoben ſich in den Paläontologen W. King und Th. Rowney, denen ſich ſpäter Zirkel und andere Mineralogen anſchloſſen, ebenſo entſchiedene Vorkämpfer der Meinung, daß das ſogenannte Eozoon eine rein mineraliſche Bildung ſei. Die Erſtgenannten veröffent— lichten im Jahre 1870 in den Schriften der Dubliner Akademie #**) eine Arbeit, worin fie einundzwanzig Einwürfe, die durch den Foraminiferen-Forſcher Carter noch um ) v. Hochſtetter, Sitzungsberichte der Wie— ner Akademie 1866. Bd. LIII. **) Gümbel, Sitzungsberichte der bairiſchen Akademie 1866. ö eek) King und Rowney, Proceedings Irish Acad. V. X ff. Der gegenwärtige Stand der Eozoon-Frage. 179 einige weitere vermehrt wurden, gegen die veröffentlicht hat, in welchem der Beweis Foraminiferen-Natur des Eozoon geltend zu führen verſucht wird, das Cozoon fei machten. Die Verfechter des mineraliſchen zwar kein Protiſt, aber noch weniger ein Urſprungs behaupteten namentlich, es ſei Mineral, vielmehr eine Pflanzenverſteinerung, eine Eigenthümlichkeit in Kalk gebetteter eine Kalkalge, die er Eophyllum nennt. Serpentinbildungen, ſolche dendritenartige Dieſe Behauptung iſt nur inſofern intereſſant, Formen anzunehmen, und die Ophicalcite als ſie gegenüber den Mineralogen, die im aller Formationen, namentlich der von Skye, Eozoon nur dendritenartige Bildungen oder ſeien reich an ähnlichen Bildungen. Ausfüllung entſprechender Hohlräume ſehen Gegen dieſe Behauptungen traten indeſſen wollen, wieder den organiſchen Charakter der die namhafteſten engliſchen Foramineren- Form, das lebend Gewachſene von Neuem Forſcherk“) (mit Ausnahme Carter's) in betont. Ob Foraminifere oder „Kalkalge“, aller Entſchiedenheit auf, und als dann auch iſt bei undeutlichen Foſſilen oft ſo ſchwer Prof. Max Schultze in Bonn, deſſen Vor- unterſcheidbar, daß erſt kürzlich Munier ſicht und gediegene Forſchungsmethode bekannt Chalmas eine Anzahl foſſiler Weſen, die waren, ſein Urtheil zu Gunſten der Fora- man bisher zu den Foraminiferen rechnete, miniferen⸗Natur abgab, *) mußte wohl der zu den quirläſtigen Kalt-Siphoneen (Dasy- Entfernterſtehende annehmen, die Zweifel cladeae) verwieſen hat. gegen dieſe Deutung ſeien unbegründet ge Im Herbſt 1875 wurde Prof. Dr. weſen und der organiſche Urſprung des Karl Möbius in Kiel durch den Bau Eozoon nicht mehr in Frage zu ſtellen. eines Rhizopoden, den er 1874 auf Korallen— Zwar hat Dr. O. Hahn in Reutlingen noch riffen bei Mauritius gefunden und das 1876 einen Verſuch gemacht, den rein mine- Nadelbäumchen (Carpenteria Raphido— raliſchen Charakter des Eozoon darzuthun, dendron) genannt hatte, zum Studium des aber wie wenig tiefgehend das Selbſtver- Eozoon geführt. Dieſer in Fig. 6 abge— trauen und die Ueberzeugung deſſelben ge- bildete Protiſt beſteht aus baumförmigen weſen ſein müſſen, wird lebhaft durch den Um- Individuen, welche oft raſenförmige Stöcke ſtand illuſtrirt, daß er kürzlich ein Buch?? *) von mehreren Centimetern Länge, Breite Die Streitſchriften von Carter, und Höhe bilden. Schliffflächen ſolcher Stöcke Carpenter, King und Rowney, Parker, (Fig. 7) überraſchten Möbius durch ihre Jones unb Brady findet man größtentheils Aehnlichkeit mit den Abbildungen von Eozoon— in Annals and Magazine nat. hist. 1874. | ſchliffen, wie fie Dawſon, Gümbel, VVV Fritſch ihren Beſchreibungen beigefügt 456. Vol. XIV p. 64, 138, 274, 305, 371. ec) M. Schultze, Verhandlungen des haben. Er beſchloß deshalb von Neuem naturhiſtoriſchen Vereins für Rheinland und eingehende Unterſuchungen des Eozoon vor— Weſtphalen. 1873. Bd. XXX. S. 164. zunehmen, und daſſelbe mit der neuen Art, ) Dr. Otto Hahn, Die Urzelle, nebſt wie mit anderen Foraminiferen zu vergleichen, dem Beweis, daß Granit, Gneis, Serpentin, um zu einer endlichen Entſcheidung des Talk, gewiſſe Sandſteine, auch Baſalt, endlich ie R N Meteorſtein und Meteoreiſen aus Pflanzen CVVT beſtehen. Tübingen, Laupp, 1879. Wir hoffen an Dawſon und Carpenter und erhielt auf dieſes Buch an anderer Stelle zurückzu- von ihnen wie aus anderen Sammlungen kommen. N nahe an hundert verſchiedene Eozoonſchliffe, Kos mos, III. Jahrg. Heft 9. 24 180 Der gegenwärtige Stand der Eozoon-Frage. N, 170 7 N % . Fig. 6. Carpenteria Raphidodendron Moebius. Fig. 7. Querſchliff derſelben. — nn —— — Fig. 8. Durch Salzſäurc entfalftes Eozoon-Präparat. 40: 1. Der gegenwärtige Stand der Eozoon - Frage. 18 1m | an denen ev feine vergleichenden Forſchungen vornehmen konnte. Er benutzte dabei eine Methode, die ſchon früher von Carpenter und anderen Forschern angewendet worden war, bei welcher durch Behandlung mit Salzſäure der kohlenſaure Kalk aufgelöſt wird, ſo daß die Ausfüllung mit Kieſelmaſſe dadurch um ſo deutlicher zu Tage tritt. Auf dieſe Weiſe erhielt er verſchiedene Präparate, von denen wir eins der lehrreichſten (Fig. 8) näher betrachten, um zu ſehen, wie ſich Eozoon bei vierzigmaliger Vergrößerung im auf— fallenden Lichte darſtellt.“) Zwiſchen bandartigen, eingekerbten Ser— pentinmaſſen (8 8) blickt man in Ver— tiefungen, welche vorher mit Kalk ausgefüllt waren. Von dem Boden dieſer Vertiefungen, der ebenfalls aus Serpentin beſteht, ſteigen Stengel und Plättchen von verſchiedener Form und Größe in verſchiedenen Richtungen in die Höhe. Sie beſtehen wie der Serpentin hauptſächlich aus kieſelſaurer Magneſia. Nicht in allen dieſen Präparaten blieb ein ſolcher Reichthum von Stengeln (Kanal— ſyſtemen) bei der Behandlung mit Salzſäure erhalten wie in dem abgebildeten; bei anderen blieb nur eine darmförmig gewundene Ser— pentinmaſſe mit ſehr wenigen Stengeln übrig, die alſo das muthmaßliche Kammerſyſtem für ſich zeigen würde (Fig. 9). Man könnte dieſe Präparate ſo erklären, daß hier die Ausfüllung der Kanalſyſteme in der Kalk— zwiſchenmaſſe überhaupt nicht, oder aber mit einer der auflöſenden Kraft der Salzſäure nicht widerſtehenden Subſtanz ſtattgefunden habe. Wie dem auch ſein mag, jedenfalls iſt der Anblick auch dieſer Präparate ſehr dem eines gewachſenen organiſchen Körpers ähnlich. Fig. 9. Eozoon-Präparat ohne Stengel. 40: 1. Um ſchließlich die Natur und Geſtalt der Stengel noch genauer zu ergründen, ) Die Orginalabhandlung iſt im 25. Bande der Zeitſchrift Palaeontographica erſchienen, uud mit 17 Farbendrucktafeln verſehen. Die hier verwandten Holzſchnitte entnahmen wir dem von dem Verfaſſer ſelbſt veranſtalteten wurden Eozoonplatten ſo dünn geſchliffen, daß ſie durchſcheinend wurden, ſo daß ſie Auszuge, der unter dem Titel: „Iſt das Eozoon ein verſteinerter Wurzelfüßler oder ein bloßes Mineralgemenge?“ im laufenden Jahrgange der „Natur“ und dann als beſonderen Abdruck (Halle, Gebauer-Schwetſchke) erſchienen iſt. | 182 unter ſtärker vergrößernden Mikroſkopen bei durchfallendem Lichte noch genauer unter— ſucht werden konnten, als dies im auffallenden Lichte möglich iſt. Die meiſten Stengel erſchienen nunmehr deutlich als einfache oder verzweigte gebogene Platten mit concav- NS NN N + 7 Fig. 10. Stark vergrößerte ſo lange mit verdünnter Salzſäure behandelte, bis dieſelben vollkommen freigelegt waren, konnte er fie einzeln im Waſſertropfen unter dem Mikroſkope hin und her wenden, und er— kannte nun bei bedeutend ſtärkerer Vergrö— ßerung, daß die meiſten derſelben eine band— förmige Geſtalt haben, theilweiſe mit auf— gebogenen Rändern, ſo daß der Querſchnitt A I IR N Stengel im Eozoon. Der gegenwärtige Stand der Eozoon-Frage. convexen, ſeltener mit biconvexen oder ei— runden Querſchnitten. Die folgende Figur (Fig. 10) zeigt die Anordnung eines ſolchen Stengelſyſtems, bei dem viele Streifen ge— wunden erſcheinen. Indem Möbius die Dünnſchliffe, welche ſolche Stengel enthielten, 10 1. mondſichelförmig erſcheint, oder auch mit ab— wechſelnden parallelen Verdickungen und Ver⸗ dännnngen, die den Stengeln ein welliges Anſehen geben (Fig. 11). Am Rande der größeren Platte erkennt man bei F eine Art Band, welches das Kalkſtück mit den Stengeln umſäumt und gegen den Serpentin (8) ab- grenzt. Dieſes Band ſtellt ſich bei ſtarker = dünnen Chryfotilfafern gebildet dar, welche Möbius bei 500maliger Vergrößerung als wirkliche Kryſtalle (vierſeitige Prismen) dieſes ebenfalls aus Kieſelſäure und Mag— neſia beſtehenden Minerals zu erkennen glaubte. Fig. 11. Stengel noch ſtärker vergrößert. 380 2R Damit der Leſer der Vergleichung der oben Eozoon mit dem Bau der Foraminiferen— bius den abgebildeten Durchſchnitt von Tinoporus baculatus (Fig. 12) als Beifpiel. großen Ozean auf den Korallenriffen der Samoainſeln ſehr häufig iſt, beſteht aus einem biconvexen Mitteltheile, von welchem vier oder fünf Spitzen ausgehen, die alle Bei e find zwei Tinoporus-Schalen in drei— maliger Vergrößerung gezeichnet. Im Cen— trum des 150 mal vergrößerten Bildes ſieht man die kugelförmige Keimkammer des Pro— tiſten (K a), um welche ſich die zunächſt nachfolgenden Kammern in einer Spirale herumlegen. Seiten hin gebogene Reihenſyſteme von | Kammern (K), welche durch Zwiſchenkammer— beſchriebenen Bildungseigenthümlichkeiten des in der Hauptebene des Schalenkörpers liegen. Der gegenwärtige Stand der Eozoon-Frage. Vergrößerung als aus ſehr feinen, haar- maſſe (2) getrennt find. Porenkanäle der äußeren Kammerreihen kann Stellen find ausgeſtreckte körnige Sarkode— faden (8 8), ſogenannte Pſeudopodien, ge- zeichnet. Fig. 12 p ſtellt chitinöſe Kammer⸗ auskleidungen mit anhängenden Porenaus— Gehäuſe ſpezieller folgen könne, wählt Mö Die Schale dieſer Foraminifere, welche im dar, in Fig. 12 d ſieht man Chitinſchläuche Seeigeln, Muſcheln und Ammoniten die inneren Höhlungen der Schalen dieſer Thiere ſo verſchieden, daß die Längsaxen der größten Darauf entſtehen nach vier J 183 Die Kammern ſtehen theils durch runde Kammergänge (G), theils durch Porenkanäle (P) mit ein— ander in Verbindung. Durch die Zwiſchen— kammermaſſe verbreitet ſich ein Kanalſyſtem, welches ſich in den langen Fortſätzen der Schale in viele feine, an der Oberfläche mündende Kanälchen (K 1) auflöſt. Sowohl durch die Poren dieſer Kanälchen, wie auch durch die Oeffnungen der peripheriſchen die Sarkode ins Freie treten. An einigen kleidungen in 350maliger Vergrößerung aus dem Kanalſyſteme der Zwiſchenkammer— maſſe, bei gleicher Vergrößerung, durch Be— handlung mit ſchwacher Chromſäure von dem Kalke befreit. Bei der Vergleichung der entſprechenden Theile von Eozoonpräparaten mit den in Fig. 12 und Fig. 13 abgebildeten Quer- ſchnitten recenter Foraminiferen-Durchſchnitte ergaben ſich nun ſehr tiefgehende Unterſchiedeq, die wir in ſtark abgekürzter Form, aber möglichſt mit den eigenen Worten von Mö— bius andeuten: 1. Wenn die Serpentinkörper die Aus— füllungsmaſſen der Eozoonkammern ſind, ſo müſſen ſie die Hohlräume derſelben plaſtiſch darſtellen, wie die Steinkerne von zur Anſchauung bringen. Nun ſind die relativen Größen der Serpentinkörper aber beinahe dreißigmal größer ſind, als die der kleinſten. Zu dieſer Unähnlichkeit in der Größe geſellt ſich der Mangel einer regelmäßigen — „„ Fig. 12. Längsdurchſchnitt von Tinoporus baculatus 150 1. 3 Wiederkehr derſelben Kammergrundform. Zwar leugnet Möbius eine gewiſſe Regel— mäßigkeit in ihrer Form und Anordnung nicht, auch fand er die Größenzunahme in Der gegenwärtige Stand der Eozoon-Frage. 185 derſelben Richtung der Reihe mitunter aus— gedrückt, aber er hatte nicht den Eindruck einer genetiſchen Reihenfolge der Kammern. Vor Allem fehle die Centralkammer ſtets. Fig. 13. Dünnſchliff von Carpenteria Raphidodendron. 120 : 1. K K Kammern. 2. Die Faſern, welche zwiſchen Serpentin und Kalk bandartige Säume bilden und die kieſelhaltigen Ausfüllungen der feinen Poren— kanäle der Eozoon-Schalen ſein ſollen, liegen unmittelbar aneinander, während die cylin— driſchen Porenkanäle der Foraminiferen durch kalkige Zwiſchenmaſſe geſondert ſind. Die PP Porenkanäle. Faſerbänder erſcheinen im unpolariſirten und polariſirten Lichte aus gleichartiger Subſtanz ohne Zwiſchenmittel zu beſtehen. Ferner durchſetzen die Porenkanäle die Kammer— wände in einer ſolchen Richtung, daß ſie den Sarkodeſträngen, welche als Pſeudo— podien aus den Kammern in's Freie treten, © h einen möglichſt kurzen Weg darbieten. Sie der äußeren und der inneren Fläche ihrer lagerung regelmäßiger Schichten gleichförmig dicker wird. Erfolgt die Verdickung der zu gelangen. Dieſes Geſetz herrſcht ſchon bei den einfachſten Foraminiferen, deren Kam— mern noch keine regelmäßige Form veranſchaulicht, welche einen Dünnſchliff der oben (Fig. 6) in der Anſicht dargeſtellten Faſern der Eozoon-Präparate ſind zwar in vielen Fällen ebenfalls ſenkrecht gegen die Wandung, aber in anderen von Möbius abgebildeten Fällen zeigten ſie ſich ringsum einander parallel, wie die Schraffirungsſtriche der Kartographen ausfallen würden, wenn ſie die Serpentinkörper als im Kalkmeere ſchwimmende Inſelreihen charakteriſiren ſollten. Ein ſolcher Parallelismus weiſt auf eine unorganiſche Bildungseigenthümlichkeit. 3. Die Stengel im Kalke des Eozoon, welche die kieſelhaltigen Ausfüllungen ver— zweigter Kanäle in der Zwiſchenkammer— maſſe der Eozoonſchale ſein ſollen, erweiſen ſich nach Form, Größe, Richtung und Menge ſo außerordentlich verſchieden, daß von irgend einer charakteriſtiſchen Gleichartig— nicht die Rede ſein kann. Ihre Querſchnitte ſind gewöhnlich ſcharfkantig; kreisrund oder elliptiſch, wie die Querſchnitte der verzweig— ten Kanäle der Foraminiferen, ſind ſie ſel— ten. Sie erſcheinen als die Ausfüllungen were und Anordnung beſitzen, wie Fig. 13 keit unter den verſchiedenen Eozoonſtücken ſtehen daher in der Regel rechtwinklig auf Kammerwand, ſo lange dieſe durch die Ab- | Kammerwände nicht in regelmäßiger Weiſe, fo geſchieht es nicht ſelten, daß ſich die Poren- kanäle krümmen, aber auch hierbei macht ſich noch das Streben der Sarkode geltend, aus | ihrer Kammer durch die neuen Verdickungs— | ſchichten auf dem kürzeſten Wege nach außen Der gegenwärtige Stand der Eozoon-Frage. flacher Zwiſchenräume von ſehr verſchiede— ner Geſtalt, denen jede organiſche Regel— mäßigkeit abgeht. So laſſen ſich alſo auch, jagt Möbius,, ſie zuletzt betrachteten Beſtand— theile des Eozoon, die Stengelgruppen, nicht als Beweiſe für den organiſchen Ur— ſprung derſelben verwenden, obgleich ſie gerade es find, welche guten Eozoonſchliffen auf den erſten Blick täuſchend das Anſehen organiſcher Produkte verleihen können. Zum Schluſſe entnimmt Möbius noch dem allgemeinen Bau der Foraminiferen einige Argumente, die den Mangel eines wirklich organiſchen Baues und genetiſcher Bildungsgeſetze betreffen und welcher ihm ſo groß zu ſein ſcheint, daß er den bedenk— lichen Schluß daraus zieht: Wenn trotz alle- dem der organiſche Urſprung des Eozoons Carpenteria Raphidodendron zeigt. Die nachgewieſen werden ſollte, ſo müſſe man zwei Gruppen organiſcher Weſen aufſtellen: a. Protoplasmaweſen. (Pflanzen u. Thiere.) b. Eozonale Weſen. (Eozoon.) „In dem Stammbaume, in welchem die Abſtammungslehre alle Pflanzen und Thiere als Protoplasmaweſen genetiſch ver— einigt, giebt es für das Eozoon keine Stelle.“ Dieſer Sprung in den Schlußfolger— ungen iſt ein wenig kühn, um ſo kühner, als uns Möbius in Fig. 13 ſoeben eine jetzt lebende Foraminifere vorgeführt hat, welche durchaus nicht die regelmäßige An— ordnung der Kammern der meiſten Fora— miniferen zeigt, und von welcher der Schritt zum Eozoon ſchon bedeutend kleiner wäre. Doch bevor wir zur Kritik der Möbius“ ſchen Unterſuchungen übergehen, wollen wir ſeine Schlußreſultate wörtlich anführen: „Wer alle bekannten Eigenſchaften des Eozoon“, ſagt Möbius, „mit der Natur organiſcher und unorganiſcher Körper vor— urtheilsfrei vergleicht, wird dahin geführt werden, es als ein Mineralgemenge aufzu— Der gegenwärtige Stand der Eozoon-Frage. 187 faſſen, zuſammengeſetzt aus Serpentin und Chryſotil, die aus Olivin hervorgingen, und aus Kalk, in welchem Kieſelſalze, als ſie erſtarrten, verſchiedene ſtengel- und platten— artige Formen annahme nn... Meine Ich ging an die Löſung derſelben mit der organiſchen Urſprung des Eozoon außer Zweifel zu ſetzen. Allein die Thatſachen führten mich zum Gegentheile. Als mir die erſten ſchönen Stengelſyſteme in ausge— zeichneten Carpenter'ſchen Dünnſchliffen zu Geſicht kamen, wurde ich ſofort für die Anſicht von Dawſon und Carpenter ein— genommen; je mehr gute Dünnſchliffe und iſolirte Stengel ich aber unterſuchte, deſto zweifelhafter wurde mir der organiſche Ur ſprung des Eozoon, bis mir endlich die prachtvollſten Kanalſyſteme“, alle zuſammen— genommen und eingehend mit Foraminiferen— ſchliffen verglichen, nichts anderes als den unorganiſchen Charakter des Eozoon immer Wieder predigtesn „Wenn die eozonalen Bildungen der laurentiſchen oder Urgneisformation wirk— lich unzweifelhafte Foraminiferen-Reſte wä— ren, ſo hätten wir in ihnen ſichere Beweiſe gefunden, daß ſchon während der Bildung der älteſten Schichten der Erdrinde lebende Weſen auftraten, und daß die erſten Orga— nismen zu den niederſten Thieren gehörten, womit die Biologie und die Geologie zwei ſehr wichtige Thatſachen gewonnen hätten. Durch die wiſſenſchaftlich begründete Aus— ſcheidung des Eozoon aus dem Reiche der organiſchen Weſen wird indeſſen nicht be— wieſen, daß in der Laurenzperiode noch keine lebenden Weſen exiſtirten. Vielleicht rührt der Graphit der Urgneisformation von Organismen her.“ Kosmos, III. Jahrg. Heft 9 | I | | „Durch den Nachweis, daß das Eozoon kein verſteinerter Rhizopode iſt, wird viel— leicht Manchem ein wichtiges Glied aus dem ſchönen Bilde genommen, das er ſich von der Entwicklung des organiſchen Lebens Aufgabe beſtand darin, das Eozoon vom biologiſchen Standpunkte aus zu unterſuchen. | auf der Erde entworfen hat. Aber das Ziel der Naturforſchung beſteht nicht darin, Gründe für anziehende Vorſtellungen über Erwartung, es werde mir gelingen, den die Natur aufzuſuchen, ſondern ſie will die Natur ſo kennen lernen, wie ſie ſich wirk— lich verhält. Denn nur die Einſicht in die wirklichen Verhältniſſe der Natur befriedigt auf die Dauer den wiſſenſchaftlichen Geiſt, der die anziehendſten Hypotheſen über das Sein und Wirken der Natur als Irrthü— mer aufgiebt, wenn ſie vor neu entdeckten unzweifelhaften Thatſachen nicht mehr be— ſtehen können, mögen dieſe irrigen Hypo— theſen vorher auch lange Zeit ausnahmslos geherrſcht haben und von den angeſehenſten Autoritäten für die beſte Auffaſſung der Natur gehalten worden ſein.“ Jeder wirkliche Naturforſcher und jeder aufrichtige Freund der Wahrheit wird den Schlußſatz des Möbius'ſchen Berichtes be— dingungslos unterſchreiben; ob er aber von den Reſultaten ſeiner Forſchungen einen ebenſo abſchließenden, überzeugenden Eindruck erhält, das iſt eine andere Frage. Möbius verſichert uns, daß er mit der Hoffnung, den organiſchen Urſprung des Eozoon be— weiſen zu können, an die Arbeit gegangen ſei und keine vorgefaßte Meinung gegen daſſelbe gehabt habe, und wir müſſen ihm das glauben. Allein von einer einſchneidenden Beſorgniß wird uns Möbius nicht befreien, der nämlich, daß jene „Hoffnung“, den organiſchen Urſprung des Eozoon anerkennen zu müſſen, vielmehr eine „Befürchtung“ geweſen und daß in ſeinem innerſten Herzen, ihm vielleicht ſelbſt unbewußt, der Wunſch rege geblieben iſt, das Gegentheil beweiſen er zu können. Seit Möbius auf der Ham— burger Naturforſcherverſammlung (1876) mit ebenſogroßer Siegesgewißheit, aber mit völlig unzureichenden Gründen!), die or— ganiſche Natur des Bathybius geleugnet hat, muß er uns ſchon den Argwohn zu Gute halten, daß er in den die Entwickel— ungstheorie betreffenden Fragen nicht ganz ſo unparteiiſch urtheilt, wie er vielleicht ſelbſt glaubt. Wir werden daher zum mindeſten auf unſerer Hut ſein““) und die Vertheidigung der Väter des als Wechſel— balg verdächtigten Kindes hören müſſen, denn in einer ſo überaus ſchwierigen Frage wie der des Eozoon's iſt die Parteibrille ein gefährliches Forſchungswerkzeug. Und dieſe Vertheidigung hat nicht auf ſich warten laſſen. In der „Nature“ vom 31. Juli 1879 (S. 328) bittet Prof. Carpenter das Urtheil über Eozoon zu verſchieben, bis ſeine neue, mit Dawſon begonnene Arbeit erſchienen ſei, die viel mehr in's Detail gehe, als die Mö bius'ſche. Er tadelt an derſelben, daß fie in Betreff des Kanal— ſyſtems nur einfache Querſchnitte zu Grunde lege, während er ſelbſt bereits 1874 ge— *) Vergl. Kosmos I. S. 302. ) Wie heftig augenblicklich das Beſtreben hervortritt, alle Foſſilien, denen die Vorſilbe Eo beigelegt wurde, nicht als „frühe“, ſonden als „verfrühte“ Vorgänger anderer Lebeweſen auszumerzen, beweiſt ein ſoeben in Frankreich au sgebrochener, beinahe komiſcher Streit. Vor einigen Jahren entdeckte Profeſſor Morieère zu Caen, in unterſiluriſchen Dachſchiefern von Angers, den Abdruck eines der Gattung Cy— elopteris ähnlichen Farnkrautes, welches als älteſte bisher bekannte Landpflanze von dem Grafen Saporta Eopteris Morieri getauft wurde (Kosmos II. S. 263). Obwohl nun ſeit— dem von Eric in den Schieferbrüchen derſelben Formation bei Trelazé eine zweite Art der— ſelben Pflanzengattung (Eopteris Criei) aufge- Der gegenwärtige Stand der Eozoon-Frage. zeigt habe, daß man, um den echt baum— artigen („genetiſchen“) Wuchs der Kanal— ſyſteme zu verſtehen, ſeinen Studien körper— liche Präparate, wie ſie durch Einwirkung von Säuren erhalten werden, zu Grunde legen müſſe, nicht aber bloße Querſchnitte, wie Möbius gethan habe. Wir müſſen dieſen Vorwurf als völlig be— rechtigt anerkennen und ich möchte ein analoges Beiſpiel, was vielen Leſern aus der Er⸗ innerung bekannt ſein dürfte, zur Erläuter— ung heranziehen. Im Innern der Walhalla bei Regensburg ſieht man eine Anzahl ſchönpolirter Marmorſäulen, deren roth— braune Grundmaſſe wie das Gefieder eines Perlhuhns mit weißen Flecken überſäet iſt. Unterſucht man dieſen Marmor näher, ſo erkennt man bald, daß er aus Korallenkalk entſtanden iſt, deſſen baumartig verzweigte Stöcke im Querſchnitt die weißen Flecke in der dunkelrothen Ausfüllungsmaſſe her— vorbringen. Obwohl es ſich nun hierbei an den vielen Säulen um viele tauſend Durchſchnitte durch ebenſoviele baumartig verzweigte Korallenſtöcke handelt, kommt doch an keiner Stelle ein wirkliches Gezweig— bild auf der polirten Fläche zum Vorſcheine, und man darf nur darüber nachdenken, um funden worden ift, behauptete Prof. Hermite vor einigen Wochen, dies ſeien alles mineraliſche Bildungen (Filtrates pyriteuses). Wenn man die minutiöſe Abbildung dieſes Farnes mit ſeinen zerriſſenen, aber deutlich geaderten, abge— rundeten Fiedern, wie fie Saporta als Titel- blatt ſeines neuen Werkes über die foſſilen Pflanzen (Paris 1879) dargeſtellt hat, mit dieſer Behauptung vergleicht, ſo geräth man thatſächlich in Sorge, daß demnächſt auch Eohippus, Eopithecus und Eosander vielleicht als Kalkinkruſtationen und Berliner Tropf— ſteinbildungen entlarvt werden möchten. Daß man den Letzteren mit Unrecht zu einem Vor— läufer der Familie Göthe gemacht hat, iſt ja bereits nachgewieſen worden. — zu finden, daß das einfach unmöglich ift, denn wenn wir ein ſolches Aſtwerk zeichnen, ſo zeichnen wir eine Projektion auf eine Fläche, die in der Natur nicht vorkommt. Der Meinung, daß jene Verzweigungs— art der „Stengel“ einfach eine Eigenthüm— Kieſelverbindungen ſei, entgegnet Carpenter parenten Durchſchnitten, als in durch Ent— kalkung erhaltenen und dieſe letzteren, theilweiſe dolomitiſirten Eozoon-Exemplare zeigen folgende, von Prof. Möbius nicht beobachteten Eigenthümlich— keiten. Wenn ein Dolomitband durch die ſyſteme in ihrer Nachbarſchaft ſehr gewöhn— gefüllt; 2) ſind in demſelben Kanalſyſteme oftmals einzelne Zweige mit Dolomit andere mit Serpentin gefüllt, während 3) einzelne Zweige ſogar theilweiſe mit dem einen und theilweiſe mit dem andern Mineral gefüllt ſind. „Wie können“, fragt Carpenter, dieſe Thatſachen anders erklärt werden, als durch die Präexiſtenz eines Kanalſyſtems in den Kalkſchichten, in welche dieſe Mineralſtoffe eingedrungen ſind? Ich wenigſtens muß mich unfähig bekennen, das zu begreifen, und daß ſie einen greifbaren Beweis einer nicht anders als organiſch zu denkenden Struktur ergeben, iſt nicht blos meine Mein— ung, ſondern auch die ſo erfahrener Ge— ſteinsforſcher, wie Prof. Geikie, welcher ſich jahrelang mit den mikroſkopiſchen Unterſuchun— gen der metamorphiſchen Felſen Schottland's beſchäftigt hat, und des Prof. Bonney's, welcher ähnliche Studien an den Serpentinen von Cornwall angeftellt hat.“ Ueber die Verſteinerungsfrage hat ſich ausführlicher Dawſon ausgeſprochen in Kalcitſchichten läuft, fo find 1) die Kanal- lich mit Dolomit, anſtatt mit Serpentin aus- lichkeit der im Kalke ſich ausbreitenden Folgendes: „Mein Kabinet enthält jetzt hunderte von Exemplaren, ſowohl in trans körperlichen Modellen, vorkommen, die ihre gleichzeitige Bildung beweiſen und ſolchen, die durch Waſſer— dem Eozoon verhängnißvoll geworden, ſagt ſſelbſt mit erdigem Kalkſtein verſteinert vor— kommt, wenn auch die Serpentin-Stücke wegen ihrer Schönheit und Häufigkeit an ſind, wie das bei den meiſten Eozoonſtücken Der gegenwärtige Stand der Eozoon-Frage. 189 einer Kritik der Möbius'ſchen Arbeit, die er vor Kurzem veröffentlicht hat.“) Es iſt Dawſon, daß er mit dem proteusartigen und viel disputirten Mineral Serpentin verbunden iſt, welches Einige als eruptiv, Andere als metamorphiſch und noch Andere als pſeudomorphiſch anſehen, während nur Wenige genug Erfahrung beſitzen, um im Stande zu ſein, die Verſchiedenheit zwiſchen ſolchen Serpentinen zu würdigen, die in Kalkſchichten und in derartigen Beziehungen aufnahme des Olivin und andere Vorgänge entſtanden ſein mögen. Nur Wenigen ſcheint bekannt zu ſein, daß Eozoon blos mitunter mit Serpentin verſteinert iſt, während es auch mit Loganit, Pyroxen, Dolomit, manchen Orten die größte Aufmerkſamkeit auf ſich gezogen haben. Die Biologen anderentheils, ſelbſt diejenigen, welche einiger— maßen mit dem Foraminiferen-Organismus bekannt find, zeigen ſich oft wenig ver | traut mit dem Ausſehen derſelben, wenn ſie durch Silikate verſteinert, von Mine— raladern durchzogen, gequetſcht und entſtellt der Fall iſt. Noch Wenigere wollen ein— ſehen, daß dieſe alten Organismen einen viel allgemeineren und weniger ſpecialiſirten Bau gehabt haben könnten, als ihre jüngeren Nachfolger.“ Ueber dieſen Punkt verbreitet ſich Car— penter ausführlicher und beklagt, daß Möbius das Kanalſyſtem nicht mit dem— jenigen von Calcarina verglichen habe, mit ) American Journal of Science (Ser. III) Vol. XVII. p. 196. March 1879. ® 90 | | dem es, wie er immer betont habe, die größte Aehnlichkeit beſitze, während er ſtets jede unmittelbare Vergleichbarkeit mit irgend einer lebenden Foraminifere in Abrede ge— ſtellt habe. Aber wenn Möbius behaupte, daß Eozoon, als lebendes Weſen gedacht, überhaupt in keine Thier- oder Pflanzen— klaſſe unterzubringen ſei, ſo wolle er ihn nur daran erinnern, daß die Petrefaktenkunde noch manche andere allgemein für organiſch gehaltene Bildung kenne, die man nirgends unterzubringen wiſſe, ſo z. B. die alte Gattung Stromatopora, welche Einige zu den Korallen, Andere zu den Schwämmen und noch Andere zu den Foraminiferen rechnen, und von der Logan von Anfang an be— hauptet hat, daß ſie dem Eozoon am ähnlichſten ſei. So gut wie Möbius ein eozonales Reich verlange, könnte ein Anderer wohl auch ein ſtromatoporiſches u. ſ. w. bean— ſpruchen. Uralte Protoplasma-Weſen können eben Formen gehabt haben, die uns kaum verſtändlich ſind. Mit Recht beklagt ſich Carpenter ferner darüber, daß Möbius ſeine Kritik gegen ein altes Diagramm (Fig. 4) gerichtet habe, während er doch wiſſen müſſe, daß er (Carpenter) daſſelbe längſt durch beſſere erſetzt habe; ſchließlich hält er durch die Möbius'ſche Unterſuchung nicht einmal die bisherigen Anſichten erſchüttert, geſchweige denn die Frage entſchieden. Noch härter geht Dawſon mit der Mö— bius'ſchen Arbeit ins Gericht. Wir können indeſſen hier nur einige Hauptpunkte hervor— heben. Nachdem er ihm verſchiedene Irr— thümer nachgewieſen, ſagt er: „In Hinſicht der feinröhrigen Schale des Eozoon iſt Mö— bius in einen, bei einem Beobachter von ſeiner Erfahrung kaum entſchuldbaren Irr— gel an guten Exemplaren. die Eozoonſchale mit Chryſotiladern, wie ſie Der gegenwärtige Stand der Eozoon-Frage. | neralien bewirkt iſt. 5 vielfach dieſe Stücke durchziehen, und welche offenbar jünger ſind, als die Maſſen, deren Spalten ſie erfüllen.“ Die Poren der Kalk— ſchale und ihre Serpentin-Ausfüllungen ſind ſehr ſchwer zu erkennen, und ſelbſt bei tertiären Nummuliten von Kempten in Bayern, wo ſie mit Glaukonit ausgefüllt ſind, nicht immer wahrnehmbar. Sie wurden erſt durch Car— penter in einigen vorzüglichen Eozoon-Prä— paraten erkannt. Möbius ſcheint alſo hier mit Windmühlen gekämpft zu haben. Als ferneren Fehler wirft Dawſon ihm vor, jede Einzelheit des Baues für ſich betrachtet zu haben, ohne ihre ſich gegenſeitig ſtützende Geſammtbeweiskraft in Erwägung zu ziehen. Es ſind dies nach Dawſon etwa folgende einander ergänzenden Geſichtspunkte: 1) Das Eozoon findet ſich in gewiſſen Lagen weit verbreiteter Kalkfelſen offenbar wäſſrigen und wahrſcheinlich organiſchen Ur— ſprungs vor. 2) Seine allgemeine Form, Fächerung und Kammerbildung erinnert an diejenige der ſiluriſchen Gattung Stromato- pora und ihre Verwandten (Coenostroma und Cannopora) und an diejenige einiger modernen feſtſitzenden Foraminiferen-Gatt— ungen, als Carpenteria und Polytrema. 3) Es zeigt unter dem Mikroſkope eine durchbohrte Schale, ähnlich derjenigen der Nummuliten, jedoch von feinerer Textur. 4) Es zeigt ferner in den dickeren Schichten ein ſekundäres oder Zwiſchenſkelet mit Ca— nälen. 5) Dieſe Bildungen erſcheinen mehr oder weniger vollkommen in Proben, deren Verſteinerung durch ſehr verſchiedene Mi— 6) Der Aufbau des Eozoon erſcheint von ſo verallgemeinertem Charakter, wie er bei einem ſo frühen Pro⸗ tiſten erwartet werden muß. 7) Es iſt in thum verfallen, wahrſcheinlich durch den Man- Er verwechsle verſchiedenen Theilen der Welt in ſehr ähn— lichen Formen und in Schichten von an— nähernd demſelben geologiſchen Horizont ge— | funden worden. 8) Es mag, wenn auch nicht als Argument, hinzugefügt werden, daß die Entdeckung des Eozoon einen rationellen Modus, die immenſen Kalklager der lau— rentiſchen Epoche zu erklären, liefert, und daß auf der anderen Seite die verſchiedenen Anläufe, welche gemacht worden ſind, die Formen des Eozoon durch andere Hypo— theſen als die eines organiſchen Urſprungs zu erklären, weder den Mineralogen, noch den Chemikern genügend erſcheinen, wie dies Dr. Hunt ſehr gut gezeigt hat.“ Wie man erſieht, ſind Dawſon und Carpenter ſehr weit entfernt, der Mö— bius'ſchen Arbeit diejenige Tragweite zu— zuerkennen, welche er ihr ſelbſt zuweiſt. Es handelt ji eben um eine mehr als gewöhn- | lich ſchwierige Frage, die ohne alle Vorein- genommenheit ſtudirt fein will. Man darf | nicht vergeſſen, daß wenn es ſich hier wirk— lich um das älteſte aller bekannten organiſchen Der gegenwärtige Stand der Eozoon-Frage. Weſen handeln ſoll, deſſen Reſte auch in einem mehr als gewöhnlich umgewandelten Zuſtande erwartet werden müſſen. Wenn man ſich ver— gegenwärtigt, daß unter den vielen tauſend Korallenzweigen, die in dem rothen Marmor der obenerwähnten Walhalla-Säulen vor— kommen, auch nicht ein einziger iſt, der ſeine 191 man die Kühnheit begreifen, die von den Eozoon-Exemplaren ſcharfe Umriſſe und Klar— heit des Aufbaues verlangt. Hinſichtlich der einfachen Centralkammern, die Mö— bius vermißt, hatte Dawſon ſchon früher gezeigt, daß fie bei der Loftusia, die man allgemein hierher rechnet und bei den Stro- matoporae, die wahrſcheinlich hierher ge— hören, ebenfalls nicht vorhanden, oder durch eine andere Bildung vertreten ſind. Möbius hat eine Entgegnung ver— öffentlicht“), in welcher er namentlich betont, daß ſeine Stücke meiſtens von Dawſon und Carpenter ſelbſt herrührende Original— ſtücke ſeien, weitere Unterſuchungen verſpricht, wenn Dawſon ihm beſſere Proben liefern wolle, und verſchiedenen Behauptungen Da w ſon's widerſpricht, während es ihm nicht gelingt, das Argument der verſchiedenartigen Verſteinerungsmateriale zu entkräften, oder uns zu überzeugen, daß er nicht Chryſotil— Adern mit Kammerwänden verwechſelt habe. Nach alledem iſt die Eozoon-Frage noch eine offene, und wir müſſen uns beſcheiden, das Reſultat der neuen großen Arbeit von Daw— Geſtalt und Umriſſe einigermaßen ſcharf und kenntlich bewahrt hat, während es ſich doch in dieſem Beiſpiele um ein ebenſo feſtes, aber viel jüngeres Skelet handelt, ſo wird ſon und Carpenter abzuwarten. Von ihrem wiſſenſchaftlichen Charakter dürfen wir erwarten, daß ſie es nicht verſchweigen werden, falls ſie wider Erwartung die Möbius'ſche Kritik beſtätigt finden ſollten. 0 American Journal of Science (Ser III), Vol. XVIII, p. 177 (September 1879). 1 — Die darwiniſtiſchen Achlußergebniſſe meiner Ammoniten-Atudien.“) Von Leopold Würtenberger. Der Specialbegriff in der Paläontologie. — Geſetzmäßige Abänderungen der Schaleuſkulpturen. — Vererbungs⸗ und Aupaſſungsgeſetze. — Ueber den ſpeciellen Nutzen einiger Abänderungen bei den Ammoniten. — Die aummonitiſchen Nebeuformen. — Monophyletiſcher und polyphyletiſcher Urſprung. ZN en für mehrere größere Ammoniten— 1 gruppen die Stammesgeſchichte NOS darzuſtellen, mußten wir für AN) jede derſelben als Stammformen planulatenartige Ammoniten anerkennen, deren Rippen theils ungetheilt, zum größten Theil aber in zwei, zuweilen auch in drei, Aeſte geſpalten erſcheinen. Soviel mir bekannt geworden iſt, machen ſich ſolche planulatenartige Biplexformen in der Stufen- folge der juraſſiſchen Ablagerungen zum erſtenmal im mittleren und oberen Lias ) Anmerk. d. Red. Mit freundlicher Erlaubniß des Herrn Verfaſſers theilen wir im Vorſtehenden das in ſeinen allgemeinen Folgerungen an ſich verſtändliche Schlußkapitel des demnächſt erſcheinenden Werkes: „Studien über die Stammesgeſchichte der Ammoniten. Ein | geologiſcher Beweis für die Darwin'ſche fanden wir den Verſuch machten, bemerklich; wir haben ſomit den ganzen großen Formenreichthum, der ſoeben an un— ſeren Augen vorüberzog, als die vielfach veränderte Nachkommenſchaft jener verhält— nißmäßig einfach gebildeten Liasplanulaten anzuſehen. Es ſind, wie wir geſehen haben, dieſe vielerlei Formen unter einander und mit der Biplex-Stammform durch Zwiſchen— glieder ſo innig verknüpft, daß es zur Un— möglichkeit wird, für eine beliebig heraus— gegriffene Art zu beſtimmen, wo ſie eigentlich anfängt oder wo ſie aufhört. Von mehreren Paläontologen wurde ſchon die eine oder Theorie“ (Leipzig 1880. Ernſt Günther's Verlag) mit. Der in demſelben gegebene Rück— blick läßt leicht erkennen, welche bedeutende Tragweite den umfaſſenden Forſchungen des Herrn Verfaſſers für die paläontologiſche Be— ſtätigung verſchiedener Grundgeſetze der Ent— wickelungslehre beizumeſſen iſt. Au Würtemberger, Die darwiniſtiſchen Schlußergebniſſe meiner Ammoniten - Studien. die andere von den beſprochenen Ammoniten— reihen, eben weil ihre Glieder durch Ueber— gangsformen zuſammenhängen, zu je einer variablen Art zuſammengefaßt. Aber wenn man in dieſer Weiſe conſequent verfahren wollte, müßte man wohl ſämmtliche Ammo- niten, für die wir beſondere Namen kennen gelernt haben, zu einer einzigen großen Art vereinigen. Ich glaube jedoch nicht, daß ſich zu dieſer Conſequenz auch nur ein einziger Naturforſcher im Ernſte verſtehen würde, auch wenn er noch ſo ſehr gegen die Entwickelungs— lehre eingenommen wäre. Zudem wird ja von mehreren hervorragenden Paläontologen die Anſicht vertreten, daß die Ammoniten, mit welchen wir uns hier näher bekannt gemacht haben, nicht allein einer größeren Zahl von Arten angehören, ſondern ſich ſogar auch in der naturgemäßeſten Weiſe zu einer Anzahl verſchiedener Gattungen gruppiren, wie wir ſchon mehrfach anzudeuten Gelegenheit fanden. Und in der That ſind auch dieſe Gattungen auf keine geringeren oder etwa für die Syſtematik weniger werthvollen Unter— ſcheidungsmerkmale gegründet, als die Gatt— ungen einer beliebigen andern Organismen— gruppe. Man kann blos etwa ſagen, es ſeien dieſe Gattungen nicht beſtimmt gegen einander abgegrenzt; aber das iſt für uns gerade wieder das Intereſſante, denn ſo ſehen wir bei den Cephalopoden nicht allein die ver— ſchiedenen Arten, ſondern auch die Gatt— ungen unmerklich in einanderüber— gehen. Bei Gruppen foſſiler Organismen, wo man, wie in unſerem Falle bei den Ammo— niten, zwiſchen den extremen Formen fo zahlreiche Verbindungsglieder vor ſich hat, daß der Uebergang ganz ſtetig vermittelt wird, kommt man überhaupt noch in viel größere Verlegenheit, wenn man die Varietät, 193 den organiſchen Formen der Jetztwelt. Denn bei den letzteren bezeichnen doch die Arten gewiſſermaßen die Spitzen oder die heutigen Grenzen der divergirenden Zweige des großen Stammbaumes der organiſchen Welt, und ſind ſomit mehr oder weniger gegen einander abgegrenzt. Beim Studium der foſſilen Organismen jedoch hat man es nicht blos Art oder Gattung definiren ſoll, als bei mit einem ſolchen durch die Zweige und Aeſte des Stammbaumes gehenden Schnitt, der einem beſtimmten Zeitpunkte entſpricht, zu thun, ſondern vielmehr mit der Längen— ausdehnung der Zweige und Aeſte ſelbſt, d. h. mit den zeitlich durch allmähliche Ent— wickelung aus einander hervorgegangenen Formen, die ſich deſto mehr zu ununter— brochenen Reihen aneinanderfügen, je mehr die Schichten in ununterbrochener Folge ab— gelagert und fortwährend mit den zu jedem Zeitpunkte exiſtirenden organiſchen Formen angefüllt wurden. In dieſem Falle befinden wir uns alſo mit unſeren Ammoniten, und darum iſt hier der Species jeder natürliche Boden entzogen. Es iſt dies ein Begriff, der bei der Unterſuchung der lebenden or— ganiſchen Welt gewonnen und dann erſt nach— träglich in die Paläontologie eingeführt wurde, ſich hier aber in dem Maße als unnatürlich erweiſt, als unſere Kenntniß von den Ent— wickelungsreihen der Organismen wächſt. Dies hat faſt Jeder empfunden, der ſich ein— gehender mit dem Studium der Ammoniten oder irgend einer anderen Gruppe foſſiler Organismen beſchäftigt hat, deren Reſte in den Schichten der Erdrinde ebenſo zahl— reich erhalten blieben. Das was hier der Syſtematiker als Species bezeichnet, ſind gewiſſermaßen nur Ruhepunkte, die ſich der menſchliche Verſtand beim Ueberblicken des Formengebietes zurecht gemacht hat, die aber in der Natur keine weitere Begründung finden. Daß man ſolche Species, und zwar recht 7 194 Würtenberger, Die darwiniſtiſchen Schlußergebniſſe meiner Ammoniten-Studien. viele d. h. möglichſt eng gefaßte, unterſcheidet Abſtammungslehre alle die verſchiedenen und mit beſonderen Namen belegt, hat üb— rigens ſeine große praktiſche Bedeutung für die Entwickelungslehre ſowohl als für die Geognoſie. womöglich jede bemerkbare Abweichung durch Abbildung und Beſchreibung ſorgfältig fixirt, zontes der betreffenden Form, wird man in Stand geſetzt, die Entwickelungsgeſchichte der bezüglichen Gruppen genauer kennen zu lernen, ſowie andrerſeits die Formationen verſchiedener Länder richtig mit einander zu | die weit entfernteften Varietäten gelegentlich wieder zurückſpringen könnten. Hier verhält parelleliſiren. Wenn man blos die organiſchen Reſte — in unſerem Falle alſo die Ammoniten — einer wenig mächtigen Schichtengruppe oder Zone unter einander vergleicht, ſo erſcheinen die Species dann ebenfalls in ähnlicher Weiſe, wie bei den Organismen der Jetztwelt gegen einander abgegrenzt, indem wir auf dieſe Art ja gleichſam auch einen Schnitt durch die Zweige und Aeſte des Stammbaumes erhalten. Das Gleiche gilt dann auch für die Gattungen. So erſcheinen z. B. die Gattungen Aspidoceras (Armaten) und Perisphinctes (Planulaten) ganz vortrefflich gegen einander abgegrenzt, wenn man nur die Vertreter derſelben aus der Zone des Amm. tenuilobatus mit einander vergleicht. Höchſtens das Studium der individuellen Entwickelungsſtadien würde dann zeigen, daß beide Gattungen bis zu einem gewiſſen Grade mit einander verwandt ſind, und man könnte noch vermuthen, daß beide aus gemeinſamer Wurzel entſpringen. Wie nun aber dieſe beiden Gattungen mit einander verſchwimmen, wenn man die Vorläufer der Vorkommniſſe der Tenuilobatus-Schichten durch die Oxford— und Kelloway-Schichten hinab verfolgt, haben wir früher geſehen. 1 Wenn nun aber auch ein Gegner der | Ammonitenformen, welche wir in den vor— ſtehenden Kapiteln näher betrachteten, eben weil ſie durch zahlreiche Zwiſchenglieder mit Denn nur dadurch, daß man einander verknüpft erſcheinen, als eine einzige große, aber ſehr variable Species zuſammen— faſſen wollte, jo hätte er damit für ſich mit genauer Angabe des geognoſtiſchen Hori- eigentlich doch nichts gewonnen; denn hier könnte nicht etwa behauptet werden, man habe es blos mit einem begrenzten, zwar etwas weit gezogenen Varietätenkreis einer beſtimmten Species zu thun, zu welcher auch es ſich ganz anders. Wir haben geſehen, wie aus gewiſſen Formen im Laufe langer geologiſcher Zeiträume divergirende Formenreihen ent— ſproſſen, deren Glieder ſich immer weiter von den mittlerweile er— löſchenden Stammformen entfernen und nie wieder zu denſelben zu⸗ rückkehren. Man mag die Sache drehen und wenden wie man will; man mag blos von Varietäten oder von Arten und Gatt— ungen ſprechen: dieſe Thatſachen bleiben dieſelben, und ſomit liefern uns die Ammoniten einen der ſchwerwie— gendſten Beweiſe für die Wahrheit der Descendenztheorie. Im Verlaufe unſerer Betrachtungen haben wir geſehen, daß die Formenmannig— faltigkeit der Nachkommenſchaft der biplex— artigen Stammformen dadurch entſtand, daß im Laufe geologiſcher Zeiträume ſowohl die allgemeine Form der Windungen und die Verzweigung der Loben, als auch ganz beſonders die ſogenannten Schalenſkulpturen ſich im Zuſtande einer fortwährenden Um— änderung befanden. Namentlich die Schalen— skulpturen find wegen ihrer ſtreng geſetzmäßigen Abänderungsfähigkeit im vorgeſchrittenen Be 7 Lebensalter, ebenſo aber auch wegen ihrer zähen Vererbungsfähigkeit in den jugendlichen Lebensſtufen der Ammoniten von der aller— größten Wichtigkeit für die Erkenntniß der genetiſchen Beziehungen dieſer Cephalopoden— Gruppe, weshalb wir hier die weſentlichſten der verſchiedenen Abänderungsrichtungen, welche ſich bei den primitiven Biplexrippen bemerklich machen und aus deren Zuſammen— wirken hauptſächlich der in dieſer Abhandlung betrachtete Formenreichthum entſtand, noch kurz zuſammenfaſſen wollen. Erſtens kann bei den Biplexformen, wie wir an vielen Beiſpielen geſehen haben, eine Vermehrung in der Theilung der Rippen eintreten, ſo daß die urſprünglich zweitheiligen Rippen in den Formenreihen allmählich zu vieltheiligen werden. Zweitens kann bei den Biplexrippen, wie auch bei den daraus hervorgegangenen vieltheiligen Rippen, eine tiefer gegen die Mitte der Seiten oder ſelbſt bis in die Nahtgegend reichende Spaltung eintreten, ſo daß die primären auf Koſten der ſekun— dären oder Theilungsrippen mehr oder weniger verkürzt werden. Beiſpiele, wo ſich mit ſtarker Zertheilung der Rippen auch eine tiefere Spaltung kombinirt, bieten etwa die Gruppen des Ammonites polyplocus, Lo- thari, involutus etc. Drittens. Die Spaltung geht in einzelnen Fällen, namentlich bei Biplexrippen, ſo tief, daß dieſelben in der Nahtgegend ausſchlitzen, den Zuſammenhang völlig ver— lieren, und alſo aus jeder Sekundärrippe gewiſſermaßen wieder eine ſelbſtſtändige un— getheilte Primärrippe entſteht. Beiſpiele dieſer Art bieten Amm. caprinus, Arduen- nensis, Toucasianus, Constanti. Viertens kann ſich bei ganz verſchie— denen Planulaten eine Verſchwächung oder Unterbrechung der Rippen auf dem Rücken | Kosmos, III. Jahrg. Heft 9. 195 entwickeln, ſo daß im letzteren Falle über die Siphonalgegend ein glattes Band ver— läuft, gegen welches die von den Seiten kommenden Rippen entweder ſcharf abſchneiden oder allmählich in daſſelbe verlaufen. Hierher gehörige Beiſpiele liefert namentlich die Mutabilis-Gruppe und ihre Vorläufer. Fünftens können auf den Ammoniten der Planulaten-Gruppe Knötchen oder Stacheln zur Ausbildung kommen. Dieſelben ent— ſtehen aber nicht etwa an beliebigen Punkten der Schale; ſie entwickeln ſich vielmehr aus— ſchließlich nur auf den Rippen, und hier auch vorzüglich wieder nur an den Grenzen der zweierlei Arten derſelben, nämlich auf der Grenze zwiſchen den Primärrippen und den Sekundärrippen, d. h. auf der Gabel— ungsſtelle der erſteren; dann ferner an der Grenze der Primärrippen in der Naht— gegend; ſowie endlich an der Begrenzung der Sekundärrippen gegen die Rückenfurche hin. Der Umſtand, daß dann die Stacheln, ebenſo aber auch die Rippen, bald gröber bald feiner, bald dichter, bald ſparſamer auf der Schale erſcheinen, trägt dann eben— falls wieder viel zur Vergrößerung der Formenmannigfaltigkeit bei. Wir können zu— nächſt drei Arten von Stacheln unterſcheiden: a) Den Stacheln oder Knötchen in der Gabelungsſtelle der Rippen begegnet man am häufigſten, es ſcheint dies der günſtigſte Ort für die Entwickelung derſelben geweſen zu fein. Solche Gabelſtacheln entſtanden ſchon bei den Liasplanulaten und ſind dann ſehr verbreitet bei den Coronaten und Armaten. b) Die Nahtſtacheln, welche ſich an der Grenze der Primärrippen gegen die Naht hin entwickeln, ſind vorzüglich bei den Armaten vertreten; ſie bilden dort die inneren Stachelreihen, während die äußere | Reihe den Gabelſtacheln entſpricht. e) Rückenſtacheln entſtehen wieder— — — Würtenberger, Die darwiniſtiſchen Schlußergebniſſe meiner Ammoniten-Studien. 3 26 holt in einzelnen Fällen an den Enden der Sekundärrippen zu beiden Seiten einer über dem Sipho verlaufenden glatten Furche, ſo z. B. bei Amm. Jason. Sechſtens. Es läßt ſich in ver— ſchiedenen Entwickelungsreihen ein entweder nur theilweiſes oder zuweilen auch faſt voll— ſtändiges Verſchwinden der Planu— latenrippen beobachteten. So iſt nament— lich das Auftreten der Stacheln bei dem Uebergange von den Planulaten zu den Armaten größtentheils, wie wir im erſten Kapitel geſehen haben, von einem Ver— ſchwinden der Rippen begleitet. Sowie zu den Gabelſtacheln die Nahtſtacheln hin— zutraten, wurden da, wo ſich beide dann kräftiger entwickelten, die Rippen rudimentär und verſchwanden endlich ganz. Dieſelben waren offenbar da nicht mehr nothwendig, wo ſich die Schale mit zwei Reihen kräftiger Stacheln bewaffnete, und es iſt ſomit möglich daß beide, Rippen und Stacheln, die gleiche Funktion hatten, daß aber die Stacheln ihrem Zwecke beſſer entſprachen als die Rippen. Auch bei den eigentlichen Planu— laten ohne Stacheln begegnet man zuweilen einem Verſchwinden der Rippen; namentlich die großen Formen verlieren manchmal in höherem Alter die über den Rücken ver— laufenden Sekundär⸗Rippen. Auch bei ge— wiſſen Formen jener Gruppe, welche wir im ſechſten Kapitel von Ammonites annularis abgeleitet haben, gehen die Rippen zuweilen verloren, aber hier trifft es zuerſt die Primär-Rippen auf den Seiten, denen dann in einzelnen Fällen auch die Sekundär-Rippen der Rückengegend nachfolgen, ſo daß ganz glatte Formen entſtehen, während bei den ächten Planulaten oder der Gattung Peri- sphinetes meiſtens auf den Seiten der Windungen wulſtige Erhöhungen ſtehen bleiben, die den Primär-Rippen entſprechen. 196 Würtenberger, Die darwiniſtiſchen Schlußergebniſſe meiner Ammoniten - Studien. Siebentens können endlich auch, wie wir bei den Armaten geſehen haben, die die Rippen verdrängenden Stacheln ſelbſt wieder verloren gehen und zwar verſchwinden hier die zuerſtentſtehenden Gabelſtacheln auch wieder zuerſt. Dieſes Verſchwinden der Stacheln, ſowie auch das Verlorengehen der Rippen in der Planulatengruppe iſt dann als paracmaſtiſche Degeneration zu be— trachten, die dem Erlöſchen der betreffenden Entwickelungsreihen vorangeht. Dies wären die weſentlichſten der ge— ſetzmäßigen Abänderungen, denen die Skulp— turen der Ammoniten unterliegen und aus deren Combination der große Formenreichthum hauptſächlich entſteht. Wir haben an zahlreichen Beiſpielen zu zeigen verſucht, daß die Veränderungen an den Skulpturen, ſo wie an den übrigen Charak— teren der Ammoniten-Schalen ſich zuerſt auf dem letzten (äußeren) Umgange derſelben bemerklich machen und daß dann eine ſolche Veränderung bei den nachfolgenden Generationen ſich nach und nach immer weiter gegen den Anfang des ſpiralen Gehäuſes fort ſchiebt, bis ſie den größten Theil der Wind— ungen beherrſcht; dieſer können ſich alsdann ſpäter in derſelben Weiſe noch andere Abänder— ungen zugeſellen oder ſie kann auch durch eine ſolche ſelbſt auf die gleiche Art wieder bis zu den innerſten Windungen verdrängt werden?). Mit andern Worten: die Ammo— niten erhalten hauptſächlich erſt in einem die Beobachtung, worauf bereits Neumayr ſchon aufmerkſam machte, daß eine ſolche auf der letzten Windung auftretende Abänderung ſich nicht gleich anfangs ſchon bis zur Münd— ung des betreffenden Ammoniten erſtreckt. So ſieht man z. B. bei den Uebergangsformen von den Biſpinoſen zu den Circumſpinoſen die äußeren Stacheln zuweilen etwas rückwärts vorgeſchritteneren oder reiferen Lebensalter — erſt wenn ſie den von ihren Eltern er— erbten Entwickelungsgang möglichſt in der— ſelben Weiſe wie dieſe durchgemacht haben — die Fähigkeit, ſich nach einer neuen Richt— ung abzuändern, d. h. ſich neuen Verhältniſſen anzupaſſen, jedoch kann ſich dann eine ſolche Veränderung in der Weiſe auf die Nachkommen forterben, daß ſie bei der folgenden Generation immer wieder ein klein wenig früher auf⸗ tritt, bis dieſe letzte Entwickelungsſtufe ſelbſt wieder den größten Theil der Wachsthums— periode charakteriſirt. Eine ſolche letzte und längſte Entwickelungsſtufe läßt ſich dann aber durch neuere, ſich auf gleiche Weife | ausbildende, kaum jemals wieder ganz ver⸗ drängen: Die Vererbung wirkt ſo mächtig, Würtenberger, Die darwiniſtiſchen Schlußergebniffe meiner Ammoniten - Studien. daß eine ſolche einmal vorherrſchende Periode der Entwickelung ſich im jugendlichen Alter der Ammoniten immer wieder, wenn auch kaum angedeutet, wiederholt. An den Ammo— niten aus jüngeren Schichten müſſen dann alſo dieſe zurück- oder zuſammengedrängten Entwickelungsperioden auf den innerſten Umgängen in derſelben Reihenfolge auftreten, wie ſie im Laufe geologiſcher Zeiträume einander die Herrſchaft abrangen. So haben wir z. B. erkannt, daß bei der Entwickelung der Armaten aus den Planulaten ſich zuerſt die äußere oder Gabel— ſtachelreihe bemerklich machte, daß dann erſt im Laufe der Zeiten die inneren oder Naht— ſtacheln hinzutraten und die Rippen größten- theils verdrängten. Als dann fpäter die von der Mündung zuerſt verſchwinden, während dann auf der kurzen Strecke bis zum Mund— ſaume hin die Stacheln wieder auftreten. Es finden alſo hier bis zur vollſtändigen Be- feſtigung der neuen Variationsrichtung auf dem letzten Umfange bisweilen noch Rückſch läge ſtatt. In ähnlicher Weiſe verhält ſich zu⸗ weilen auch die Ausbildung der Rückenfurche bei den Planulaten. 197 Stacheln wieder verſchwanden, ging zuerſt die äußere Reihe verloren und das Ver— ſchwinden der inneren folgte erſt ſpäter nach. Und wenn wir uns an die individuelle Entwickelung der geologiſch jüngſten Armaten erinnern, ſo hatten wir dort während der kurzen Lebensdauer des Einzelweſens eine genaue Wiederholung dieſer Reihenfolge von Entwickelungsſtadien, welche der Armaten— ſtamm während langer Zeiträume durd- laufen hat. Wenn man etwa, um ein hier- her gehöriges Beiſpiel ins Gedächtniß zurück⸗ zurufen, an Armaten des oberen weißen Jura, die ſich zu Ammonites liparus und sesquinodosus ſtellen und alſo im reiferen Lebensalter nur noch eine, nämlich die Naht— ſtachelreihe wahrnehmen laſſen, von außen her Windung für Windung behutſam ab⸗ ſprengt, um ſo den Entwickelungsgang des Individuums ſtudiren zu können, ſo bemerkt man nach innen zu auf einer Strecke immer noch zwei Stachelreihen; weiter gegen das Centrum hin fehlen dann die Nahtſtacheln noch, und wieder etwas weiter gegen innen ſind auch die Gabelſtacheln noch nicht vor— handen, ſo daß der Kern von einigen Millimeter Durchmeſſer dann auf etwa einem halben Umgange als Planulat mit deutlichen Rippchen, aber ohne Stacheln er— ſcheint. Alſo ſelbſt die Planulaten-Rippen welche bei den liaſiſchen Ureltern dieſer Armatenformen die Windungen beherrſchten, im oberen braunen Jura aber ſchon von den Stacheln verdrängt wurden, bezeichnen noch in den jüngeren Schichten des weißen Jura bei dieſen ſpäten und weſentlich ver— änderten Nachkommen eine kurze Periode des jugendlichen Alters. I Die Ammoniten, wie auch gewiſſe andere Schalthiere, ſind ſomit derart günſtig organi— ſirt, daß wir an ihren fertigen Gehäuſen mancherlei wichtige Studien über die Onto— =: 198 Würtenberger, Die darwiniſtiſchen Schlußergebniſſe meiner Ammoniten Studien. genie oder die Entwickelungsgeſchichte | der Individuen machen können, wozu die feſten oder verſteinerungsfähigen Theile mancher anderer wichtiger Thierklaſſen nur dann Gelegeuheit geben, wenn wir Indi— viduen von verſchiedenen Lebensaltern zur Unterſuchung herbeiziehen können. Damit ver— einigen ſich dann noch andere, nicht minder günſtige Verhältniſſe. Die Ammoniten ver- änderten ſich nämlich im Laufe geologiſcher Zeiträume weit raſcher und in ſtärkerem Maße, als verſchiedene andere Thiergruppen, von deren Foſſilreſten dieſelben begleitet werden, und der günſtige Umſtand, daß während lauge andauernder geologiſcher Zeit— räume ununterbrochen große Mengen von Ammonitenſchalen in den kalkigen Schlamm auf dem Grunde der Jurameere eingehüllt wurden und in ihren Formen bis heute genau erhalten blieben, macht es uns mög— lich, die paläontologiſche Entwickel— ungsgeſchichte dieſer Cephalopodengruppe, oder ihre Phylogenie, bis ins Einzelne durch direkte Beobachtungen genau feſtzuſtellen. Indem wir alſo hier die Phylogenie und Ontogenie bis ins ſchärfſte Detail, bis zum Urſprunge dieſer Erſcheinungsreihen, gemeinſchaftlich an denſelben ver— ſteinerten Organismenreſten ver— folgen können, tritt uns der urſächliche Zuſammenhang dieſer beiden Erſcheinungs— reihen ſo klar und deutlich vor die Augen, wie vielleicht kaum anderswo, denn kaum werden wir bis jetzt den ſchärfſten Nach— weis für das biogenetiſche Grund— geſetz ſo kurz und überſichtlich beiſammen haben, wie hier — für das „hüchſt wichtige biogenetiſche Grundgeſetz“, welches Haeckel in ſeinen bekannten Werken in folgender Weiſe formulirt: „Die Ontogenie, oder die Entwickelung des Individuums, iſt eine kurze und ſchnelle, durch die Geſetze der Vererbung und Anpaſſung bedingte Wieder— holung (Recapitulation) der Phylogenie oder der Entwickelung des zugehörigen Stammes d. h. der Vorfahren, welche die Ahnenkette des betreffenden Individuums bilden“. Es iſt leicht begreiflich, daß im Ver— laufe geologiſcher Zeiträume in den Exiſtenz— bedingungen der Ammoniten bald in dieſer, bald in jener Richtung kleine Aenderungen eintreten mußten; die verſchiedenen Formen hatten ſich dann den veränderten Verhält— niſſen immer wieder anzupaſſen; der An— paſſung aber wirkte die mächtige Funktion der Vererbung der früher ebenfalls durch Anpaſſung errungenen Charaktere entgegen. In dem jüngeren Lebensalter wirkte vor— züglich nur die Vererbung, während in weiter vorgeſchrittenem, ſelbſtändigerem Alter des Individuums ſich zunächſt die Aupaſſ— ung bemerklich machte. Deshalb ergibt ſich bei den Ammoniten oftmals zwiſchen den äußeren und inneren Windungen eines Individuums eine weit größere Verſchieden— heit zu erkennen, als zwiſchen den Wind— ungen zweier Individuen, die man zwei „guten Species“ oder ſelbſt verſchiedenen Ammonitengattungen zuzählt. Der Kampf um's Daſein wird über— haupt die Ammoniten auch ohne weiteres ſchon beſtändig dazu angetrieben haben, ge— wiſſermaßen neue Exiſtenzen aufzuſuchen oder neue Stellungen im Haushalte der Natur zu erſtreben. Dieſer Kampf wird aber im reiferen Lebensalter, wo die Bedürfniſſeam größten waren, wohlauchamſtärkſten geweſenſein, und zufällige Abänderungen, die ſich dem Thiere im Kampfe um's Daſein nützlich erwieſen, mögen ſich deshalb auch in dieſem vorge ſchrittenen Lebensalter am leich— teſten und ſchnellſten befeſtigt haben. a Würtenberger, Die darwiniſtiſchen Schlußergebniſſe meiner Ammoniten-Studien. Eine einfache und befriedigende Erklär— ung der ſoeben beſprochenen Erſcheinungen erhalten wir überhaupt nur durch die Dar— win'ſche Selektionstheorie. Wenn näm— lich im vorgeſchrittenen Lebensalter bei einer Ammonitenform eine Veränderung beginnt und ſich wieder auf die Nachkommen ver— erbt, ſo wird bei den letzteren zwar nach dem Geſetze der gleichzeitigen Vererbung dieſe Veränderung ſich ebenfalls wieder in demſelben Lebensalter bemerklich machen; da jedoch kein organiſches Individuum dem andern abſolut gleicht, ſo kann auch bei dieſer Nachkommenſchaft an dem einen Individuum dieſe Abweichung ein klein wenig früher, bei einem andern vielleicht ein wenig ſpäter auftreten. Iſt nun die Veränderung eine Verbeſſerung, eine An— paſſung an neue Lebensbedingungen, ſo wer— den diejenigen Individuen, bei denen ſie am früheſten auftritt, einen kleinen Vortheil beim Kampfe ums Daſein gewinnen, und indem ſich dieſe kleinen zeitlichen Schwank— ungen der Aupaſſungsveränderung bei den folgenden Generationen immer in dieſer Richtung ſummiren, ſo werden immer jugend— lichere Lebensſtufen ſchon Antheil an den Vorzügen dieſer Veränderung nehmen, bis | dieſelbe endlich den größten Theil der Wachs— | thumsperiode charakteriſirt. Einer Grenze jedoch begegnet dieſe Aenderung auf den innerſten Windungen, wo ſich die während langer Zeit fortgeerbten früheren Entwickel— ungszuſtände zuſammengedrängt haben, und wo die Vererbung dieſer früheren Zuſtände der Anpaſſung gewiſſermaßen das Gleich— gewicht hält. Da Vererbung und Anpaſſung einander entgegenwirken, indem erſtere beſtrebt iſt, die organiſchen Formen zu erhalten, wäh- rend letztere dieſelben abzuändern trachtet, ſo ſehen wir bei den Ammoniten die Funk⸗ 199 tion der Anp aſſung erſt dann den freieſten Spielraum gewinnen, wenn die Funktion der Vererb— ung erſchöpft ift, was dann ein— tritt, wenn die Reihe der elter— lichen Entwickelungszuſtände mög— lichſt genau in der gleichen Weiſe wiederholt iſt. Die Anpaſſungsfähig— keit iſt bei den Ammoniten im reiferen Lebensalter am größten und im jugendlichen Alter am kleinſten. Die durch den Kampf ums Daſein bedingte natürliche Züchtung iſt es nun, welche eine im reiferen Lebens— alter ſich zuerſt befeſtigte nützliche Abänder— ung nach und nach in immer frühere Lebens— ſtufen ſchon einführt und dadurch die Ver— erbung eines früher ebenfalls auf dieſelbe Weiſe allmählich befeſtigten Charakters be— ſchränkt: die natürliche Züchtung regulirt und verſchiebt alſo fortwährend die Grenze zwiſchen der Macht der Vererbung und jener der Anpaſſung und ſchafft ſo das ewig wechſelnde Formenſpiel der organiſchen Welt. Zwei wichtige Geſetze, ein Anpaſſungs— und ein Vererbungsgeſetz, treten ſomit bei bei der Entwickelung der Ammoniten beſon⸗ ders ſcharf hervor und ich habe bereits früher vorgeſchlagen, das eine derſelben als „das Geſetz der Anpaſſung im veiferen Lebensalter“, das andere als „das Ge— ſetzderfrühzeitigeren Vererbung zu bezeichnen. Dieſe beiden Geſetze ſind es nun insbeſondere, welche den Parallelis— mus zwiſchen der Ontogenie und der Phy⸗ logenie der Ammoniten, oder zwiſchen der individuellen und der paläontologiſchen oder hiſtoriſchen Entwickelung derſelben bedingen. Es dürften bei der Entwickelung der orga— niſchen Welt ſomit dieſe Geſetze überhaupt eine nicht geringe Rolle geſpielt haben, ſondern ganz beſonders da wirkſam geweſen =) Ausland, 1873 ©. 26. — mr wur u 200 Würtenberger, Die darwiniſtiſchen Schlußergebniſſe meiner Ammoniten - Studien. ſein, wo die in der Stammesgeſchichte auf einander folgenden Entwickelungsperioden ſich im Leben des Individuums ganz in derſelben Reihenfolge wiederholen. Darwin und Haeckel haben bereits eine Anzahl Vererbungs- und Anpaſſungs— geſetze näher beſprochen und ausführlich be— gründet; und der letztere formulirt in der Reihe der Anpaſſungsgeſetze dasjenige der „unbeſchränkten Anpaſſung“ in fol— gender Weiſe: „Alle Organismen können zeitlebens, zu jeder Zeit ihrer Entwickelung und an jedem Theile ihres Körpers, neue Anpaſſungen erleiden; und dieſe Abänder— ungsfähigkeit iſt unbeſchränkt, entſprechend der unbeſchränkten Mannigfaltigkeit und be— ſtändigen Veränderungen der auf den Or— ganismus einwirkenden Exiſtenzbedingungen.“ Unſer Geſetz der Anpaſſung im reiferen Lebensalter, welches vorzüglich für die Am— moniten gilt, iſt daher nur ein ſpecieller, ein- geſchränkter Fall dieſes allgemeinen Anpaſſ— ungsgeſetzes; dasſelbe läßt ſich etwa in folgen— der Weiſe formuliren: Manche Organis— men erhalten die Fähigkeit zu neuen Veränderungenoder Anpaffungenerft in einem vorgeſchrittenen oder rei— feren Lebensalter, erſt dann, wenn nahezu gleich oder doch ähnlich ſind. Das ſie den von ihren Eltern ererbten Entwickelungsgang möglichſt in der— ſelben Weiſe oder eben erſt dann, wenn der Kampf ums Daſein im reiferen Lebensalter mit den größten Bedürfniſſen des Individuums den Höhepunkt er— reicht hat, und ſich ſomit nützliche Abänderungen am leichteſten erhal— ten und befeſtigen können. Das zweite Geſetz, welches ſich aus einem vergleichenden Studium der Ammo— ) Haeckel, Generelle Morphologie, 2. Bd. S. 218. durchgemacht haben, niten ableiten läßt, ſtellt ſich in die Reihe der Vererbungsgeſetze und zwar ſpeciell in jene Abtheilung, welche Haeckel“) als „Geſetze der progreſſiven Vererbung“ bezeichnet. Wir können dieſes Geſetz der frühzeitigeren Vererbung etwa in folgender Weiſe kurz zuſammenfaſſen: Die in einem vorge— ſchrittenen Lebensalter von manchen Organismen erworbenen Veränder— ungen können ſich, wenn es nütz— lich iſt, in der Weiſe bei ihren Nach— kommen forterben, daß ſie bei den nachfolgenden Generationen immer ein klein wenig früher auftreten als bei den vorhergehenden. Die höchſt intereſſante und wichtige Er— ſcheinung des Parallelismus zwiſchen der Ontogenie und Phylogenie entſpringt alſo bei den Ammoniten aus dem Zuſammen— wirken dreier einfacher Vererbungs- und An— paſſungsgeſetze. Das erſte dieſer Geſetze iſt das ſchon längſt allgemein bekannte „Ge— ſetz der ununterbrochenen oder con— tinuirlichen Vererbung“, welches aus— ſagt, daß bei den meiſten Organismen alle unmittelbar auf einander folgenden Gene— rationen einander in allen morphologiſchen und phyſiologiſchen Charakteren entweder zweite in Betracht kommende Geſetz iſt dann dasjenige der Anpaſſung im reiferen Lebensalter, und das dritte endlich das Geſetz der frühzeitigeren Vererb— ung. Schon hieraus geht hervor, daß dieſe beiden letzteren Geſetze nicht blos für die Ammoniten gelten, ſondern eine viel allgemeinere Bedeutung haben müſſen. Haeckel hat unter ſeinen Vererbungs— geſetzen ein „Geſetz der abgekürzten oder ver- einfachten Vererbung“, welches in folgender 9 Gen. Morph. 2. Bd. S. 176. Würtenberger, Die darwiniſtiſchen Schlußergebniſſe meiner Ammoniten Studien. 201 Weiſe definirt wird: „Die Kette von er— erbten Charakteren, welche in einer beſtimmten Reihenfolge fucceffiv während der indivi— duellen Entwickelung vererbt werden und nach einander auftreten, wird im Laufe der Zeit abgekürzt, indem einzelne Glieder Dieſes Geſetz der abge ausfallen.“ *) kürzten Vererbung iſt eine nothwendige Folge von dem Geſetze der frühzeitigeren Vererbung. Denn es iſt leicht einzuſehen, daß die fort geſetzte Wirkung der frühzeitigen Vererbung der fortwährend im reiferen Lebensalter auf— tretenden Abänderungen dahin führen muß, die früheren Entwickelungsſtadien näher zu— ſammenzudrängen, zu verwiſchen oder zum Theil ausfallen zu laſſen, wenn die Zeit der eigentlichen Entwickelung der Organismen nicht über alle Maßen hinaus verlängert werden ſoll. Was nun endlich das Verhältniß des Geſetzes der frühzeitigen Vererb— ung zu dem Geſetze der gleichzeitigen Vererbung betrifft, ſo iſt zu beachteu, daß das erſtere eigentlich in dem letzteren wurzelt, oder daß, wie wir bereits an— deuteten, die frühzeitigere Vererbung aus dem Zuſammenwirken der gleichzeitigen Ver— erbung und der natürlichen Züchtung ent— ſpringt, nur darf man die Erſcheinung der gleichzeitigen Vererbung nicht buchſtäblich eng auffaſſen. Haeckel“) definirt dieſes Geſetz, welches bereits von Darwin in ſeinem be— rühmten Buche über die Entſtehung der Arten als das „Geſetz der Vererbung in correſpon— direndem Lebensalter“ begründet wurde, in folgender Weiſe: „Alle Organismen können die beſtimmten Veränderungen, welche ſie zu irgend einer Zeit ihrer individuellen Exiſtenz durch Anpaſſung erworben haben, und welche ihre Vorfahren nicht beſaßen, genau in der— ) Gen. Morph. 2. Bd. S. 184. , Gen. Morph. 2. Bd. S. 190. ſelben Lebenszeit auf ihre Nachkommen ver— erben.“ Hier macht ſich jedoch ein gewiſſer Spielraum geltend, ſo daß man ſtatt „ge— nau in derſelben Lebenszeit“, beſſer ſagen würde „mehr oder weniger genau in derſelben Lebenszeit.“ Wenn wir in den einzelnen Fällen nach dem ſpeciellen Nutzen oder Vortheil fragen, welchen dieſe oder jene Abänderung den Ammoniten im Kampfe ums Daſein gebracht habe, ſo können wir hier umſoweniger eine beſtimmte Antwort erwarten, als uns die Lebensweiſe dieſer ausgeſtorbenen Weſen zu wenig bekannt geworden iſt. Es ſind mehr nur Vermuthungen, die ſich hier ausſprechen laſſen. Beim Studium der Entwickelungsge— ſchichte der Ammoniten wird es uns klar, daß mit Stacheln verſehene Schalen mehr— mals verſchiedenen Gruppen derſelben nütz— licher ſein mußten, als blos berippte Ge— häuſe; ſo haben wir z. B. bei der Ent— wickelung der Armaten erkannt, daß die Rippen nach und nach vollſtändig gegen Stacheln ausgetauſcht wurden. Worin je— doch dieſer größere Nutzen der Stacheln gegenüber den Rippen eigentlich beſtand, läßt ſich nicht ausfindig machen, ſo lange wir überhaupt die Funktion der Rippen und Stacheln nicht kennen. Man könnte vielleicht vermuthen, die Stacheln hätten den Ammoniten zum Schutze gegen äußere An— griffe gedient. Neum ayr hat beſonders hervorgehoben, wie man oft bei den verſchiedenſten Planulaten— typen in den verſchiedenſten Zonen des Jura immer von neuem wieder die Ausbildung einer glatten Rückenfurche beobachten könne, und hat dann auch verſucht, eine Erklärung dieſer Erſcheinung zu geben. Er ſagt darüber: „Daß das Auftreten eines glatten Bandes 9 Acanthicus⸗Schichten S. 172. — 6 | 202 Würtenberger, Die darwiniſtiſchen Schlußergebniffe meiner Ammoniten - Studien. auf der Externſeite (Rückenſeite) für das | denen aber die geſchloſſene Spiralwindung Thier von Nutzen war, läßt ſich aus der außerordentlichen Feinheit und Zerbrechlich— keit des Sipho bei den Periſphinkten ab leiten. Derſelbe mußte alſo bei einem Stoße auf die Externſeite der Gefahr des Zerbrechens ganz beſonders ausgeſetzt ſein; tritt ein glattes Band in der Medianlinie der Externſeite, alſo gerade über dem Sipho, auf und bre⸗ chen neben dieſem Bande die Rippen, wie es die Regel iſt, nicht allmählich, ſondern plötzlich ab, ſo ragen deren Enden etwas über das glatte Band hervor. Ein die Externſeite treffender Stoß oder Druck wird daher zunächſt die hervorragenden Enden der Rippen, nicht das glatte Medianband treffen; erſtere bilden alſo ein Schutzmittel für letzteres und alſo mittelbar auch für den dicht unter demſelben liegenden Sipho.“ Ein weiterer Fall, wobei man in den Stand geſetzt iſt, ſich eine beſtimmtere An— ſicht zu bilden über den Nutzen, den eine ſpecielle Abänderung den Ammoniten ge— währte, bietet uns, wie ich bereits früher ge— zeigt habe, die Entwickelung der ſogenannten „ammonitiſchen Nebenformen.“ Die— jenigen Cephalopodengehäuſe, welche man bis vor einigen Jahren allgemein mit dem Gattungsnamen „Ammonites“ bezeichnete, ſind bekanntlich durch eine „geſchloſſene“, ebene Spiralwindung charakteriſirt, d. h. jeder folgende (jüngere) Umgang der ſpiralförmig aufgerollten Gehäuſe legt ſich feſt auf den vorhergehenden, oder umhüllt denſelben meift ſogar noch theilweiſe. Schon in der Jura⸗, insbeſondere aber in der Kreideformation trifft man nun aber auch noch Cephalopoden— gehäuſe, welche durch die Entwickelung der Kammerſcheidewände und der Schalenſculp— turen zwar in einem innigen Verwandtſchafts— verhältniſſe zu den echten Ammoniten ſtehen, *) Ausland, 1873, S. 27. theilweiſe oder ganz fehlt. Bei dieſen „ammonitiſchen Nebenformen“, wenn ſie überhaupt die ebene Spirale noch bei— behalten haben, legen ſich die Windungen nicht mehr aufeinander: es bleiben Zwiſchen— räume, zwiſchen denen man hindurch— ſehen kann (Crioceras d'Orbigny). Oder der Verlauf der Schalenröhren folgt ganz anderen Curven (Toxoceras, Ancycloceras, Hamites, Ptychoceras), ſelbſt koniſche Spiralwindungen treten auf (Turrilites), ähnlich wie bei den Gaſteropoden. Im braunen Jura liegen ſolche ammonitiſche Nebenformen, die von einigen Autoren zu Hamites geſtellt, von andern als Toxoceras Ancycloceras 2c. bezeichnet werden, die mit echten Ammoniten des braunen Jura ſonſt genau übereinſtimmen, und nur durch das Fehlen einer geſchloſſenen Spiralwindung von denſelben abweichen, ſo daß man ſie geradezu nur für losgewickelte, geſtreckte Ammonitengehäuſe anſehen möchte. Unter den Ammoniten gibt es mehrere Gruppen, welche auf dem Rücken der Wind— ungen mit Knötchen oder ſelbſt längeren Stacheln verſehen ſind. Dieſe Stacheln ſtehen in zwei Reihen gewöhnlich zu beiden Seiten einer glatten Furche, welche ſich dem Sipho entlang fortſetzt. Wie wir nachgewieſen haben, daß die Seitenſtacheln bei den Ammo— niten ſich zuerſt auf dem äußeren Umgange entwickelten und ſich dann von da erſt auf die inneren Windungen verbreiteten, ſo läßt | ſich auch zeigen, daß die Stacheln auf dem Rücken ſich ebenfalls zuerſt auf dem letzten Umgange ausbildeten. So lange ſich nun dieſe Rückenſtacheln blos auf dem äußeren Umgange befanden, mögen ſie ihren Zweck fortwährend recht gut erfüllt haben und nie läſtig geworden fein. Ein ganz anderes Ber- hältniß jedoch wird eingetreten ſein, ſobald —̃ — Würtenberger, Die darwiniſtiſchen Schlußergebniſſe meiner Ammoniten - Studien. fi) dieſe Stacheln, dem Geſetze der früh— zeitigeren Vererbung gemäß, auch auf die inneren Windungen ausgebreitet hatten. Wenn ſich jetzt beim Weiterwachſen des Ammonitengehäuſes die ſpäteren Windungen feſt auf den Rücken der früheren auflegen wollten, ſo mußten die Stacheln bis zu einer bedeutenden Tiefe in die ſpäteren Um⸗ gänge eindringen. Als Beiſpiel ſei etwa Ammonites ornatus erwähnt: „das Thier ſaß hier mit ſeinem Fleiſch wie auf einer Hechel, ein vortreffliches Befeſtigungsmittel!“ be— merkt Quenſtedt. Auf einer Hechel zu ſitzen wird übrigens nicht gerade die ange— nehmſte Situation ſein, und es iſt leicht begreiflich, daß dies dem Thiere, nament— lich bei gewiſſen Bewegungen, z. B. beim Zurückziehen in die Schale oder beim Hinausgehen aus derſelben, recht unbequem werden mußte; ein ſchneller Rückzug in ſein Haus, wie es dem Thiere bei augenblick— licher Gefahr unter Umſtänden von großem Vortheil ſein mochte, war unter dieſen Ver— hältniſſen wohl gar nicht möglich. Dieſem Hinderniß war jedoch einfach dadurch abzu— helfen, daß die ſpäteren Windungen die Rückendornen der vorhergehenden nicht mehr in ſich aufnahmen. Dasjenige Individuum, welches zuerſt die Stacheln etwas weniger tief eindringen ließ, hatte alſo jedenfalls einen Vortheil über die anderen; dadurch mußte aber ein kleiner leerer Zwiſchenraum zwiſchen den Windungen entſtehen. Je weniger nach und nach die Stacheln in die ſpäteren Um— gänge eindrangen, d. h. je mehr ſich dieſe neue Veränderung durch die natürliche Züch— tung nach den Geſetzen der Vererbung und Anpaſſung befeſtigte und weiter ausbildete, deſto größer wurde dieſer Zwiſchenraum, bis zuletzt die Windungen höchſtens noch auf den Spitzen der Stacheln aufſtanden oder auch gar nicht mehr mit den vorhergehenden 203 Umgängen in Berührung kamen, und alſo ſchon diejenigen Formen erreicht waren, welche man als Crioceras bezeichnet. Der feſte Halt, den die Windungen durch das ſolide Auf— einanderliegen gewannen, war alſo jetzt aufgegeben, und die Krümmungsrichtung der ſpäteren Windungen war ſomit keine beſtimmt vorgeſchriebene mehr. Die Neigung zur Krümmung des röhrenförmigen Ge— häuſes erbte ſich zwar immer noch fort, aber ſie erging ſich in verſchiedenen, jetzt ganz freien Richtungen, wodurch die vieler— lei ſonderbaren Geſtalten der „ammonitiſchen Nebenformen“ entſtanden, welche in eine ganze Anzahl von Gattungen und Arten eingetheilt wurden Selbſt die gerade ge— ſtreckte, urſprüngliche Form des Cephalo— podengehäuſes wurde jetzt zum Theil wieder erreicht. Wie ſehr übrigens dieſe Röhren daran gewöhnt waren, oder wie noth- wendig es ihnen war, einen ſicheren Halt dadurch zu gewinnen, daß ſich der jüngere Theil derſelben eng an den älteren anſchmiegte, davon geben uns die Ptychoceras- Formen ein intereſſantes Beiſpiel; nachdem das Gehäuſe hier eine Zeit lang in gerader Richtung fortgewachſen iſt, biegt es ſich plötzlich um, und indem es jetzt nach entgegengeſetzter Richtung fort— wächſt, legt es ſich feſt auf die Bauchſeite des älteren Theiles an. Wieder andere Formen fanden dadurch Gelegenheit, dem Verlaufe ihrer röhrenförmigen Schalen eine ſolidere Geſtalt zu geben, daß ſie dieſelben in ſpitzen koniſchen Spiralen zuſammenrollen lernten; ſo die Turriliten; hier, wo blos die berippten Seiten der Windungen aufeinander zu liegen kommen, alſo der Rücken ganz frei bleibt, werden die auf dem letzteren ſtehenden Knoten und Stacheln niemals unbequem. Die Bewaffnung mit Stacheln war alſo für die Ammoniten mehrfach von ſo großer Kosmos, III. Jahrg. Heft 9. iten - Studien. | 0 Würtenberger, Die darwiniſtifchen Schlußergebniſſe meiner Ammon Wichtigkeit, daß fie ſelbſt die dieſe Gruppe ſonſt weitaus charakteriſirende, geſchloſſene, ebene Spiralwindung ganz verließen, nur um die Stacheln auf dem Rücken ungehindert entwickeln zu können. Es gibt nun freilich auch mehrere „ammonitiſche Nebenformen“, welche keine Rückenſtacheln wahrnehmen laſſen; für einen Theil derſelben läßt ſich jedoch nachweiſen, daß ihre Stacheln erſt ſpäter, als die Windungen bereits abgewickelt waren, durch Degeneration, ähnlich wie bei den Ar— maten, wieder verloren gegangen ſind. Zu— dem bleibt aber auch der Fall nicht aus— geſchloſſen, daß bei der Abwickelung der Ammonitenwindungen außerdem noch andere Urſachen, als die Ausbildung der Rücken— ſtacheln mitgewirkt haben können. Vielleicht fällt ein Theil dieſer Erſcheinung in das Gebiet der paracmaſtiſchen Degeneration, von welchem Zuſtande wohl noch ein größerer Theil der Ammoniten im Zeitalter der Kreide vor dem jähen und gänzlichen Untergange dieſer großen Cephalopodengruppe ergriffen wurde. Bemerkenswerth bleibt es jedoch immerhin, daß wohl der größte Theil der „ammonitiſchen Nebenformen“ thatſächlich zahlreiche Stacheln oder Knoten auf dem Rücken wahrnehmen läßt. Es iſt ferner auch zu beachten, daß echte Ammoniten, welche auf den inneren Windungen mit ſtärker her— vorragenden Rücken-Stacheln verſehen waren, in Wirklichkeit zu den Seltenheiten gehören; dieſe Formen mußten im Kampfe ums Daſein mit den übrigen Ammoniten, insbeſondere mit jenen ihnen nahe verwandten Formen, welche durch das Aufgeben der geſchloſſenen Spirale nach und nach einen weſentlichen Vor— theil über ſie gewannen, ſehr bald unterliegen. Zum Schluße mag hier noch eine kurze Erörterung der Frage nach dem einſtämmigen (monophyletiſchen) oder vielſtämmigen (poly— phyletiſchen Urſprunge der Ammoniten— gruppen Platz finden. Aus den Betracht— ungen, welche wir bisher über die Stammes— geſchichte der Ammoniten angeſtellt haben, dürfte wohl ohne Weiteres ſchon hervor— gehen, daß der Urſprung der meiſten der hier berückſichtigten Gruppen ſich als mono— phyletiſch zu erkennen giebt; denn faſt immer ſehen wir eine beſtimmte Form oder enger begrenzte Formengruppe nur als das Glied einer einzigen Entwickelungsreihe auftreten; nur einzelne wenige Fälle machten ſich be— merklich, wo aus verſchiedenen Formenreihen einander ſehr ähnliche Endglieder hervor— gingen. Es ſei z. B. an die Mutabilis- gruppe erinnert; hier wurden dieſe End— glieder einander ſelbſt ſo ähnlich, daß ſogar ſchon mehrere derſelben zu einer einzigen Art vereinigt wurden und wir demnach hier ſo— gar von einem polyphyletiſchen Urſprunge der Species ſprechen könnten. Wenn nun aber auch die äußeren Umgänge ſolcher Mutabilisformen einander noch ſo ähnlich werden, ſo ſind dann die inneren Wind— ungen um ſo verſchiedener und verrathen den verſchiedenartigen Urſprung der allen— falls zu einer Species zuſammengefaßten Individuen nur zu deutlich, ſo daß eine ſolche polyphyletiſche Species dann eben blos noch als eine naturwidrige Zuſammenſtellung verſchiedenartiger Dinge erſcheint, die in dem auf den genetiſchen Zuſammenhang der Yor- men gegründeten Syſtem ſich von ſelbſt auflöſt. Es können ſolche Formen dann überhaupt nicht als ſelbſtſtändige, natürliche Gruppen, ſei es in engerer oder weiterer Faſſung, mit einander vereinigt werden; ſie bleiben vielmehr einfach als Glieder ihrer Entwickelungsreihen im Stammbaume ſtehen, wenn auch noch ſo weit von einander ent— fernt, ſo daß ſich dann in ſolchen Fällen von einem polyphyletiſchen Urſprunge eigent⸗ lich gar nicht mehr reden läßt. Würtenberger, Die darwiniſtiſchen Schlußergebniſſe meiner Ammoniten - Studien. Solche Fälle wie bei der Mutabilis- | Gruppe, wo zu verſchiedenen Zeiten ver— ſchiedene Formen, ähnlichen Exiſtenzbeding— ungen ſich anpaſſend, derart ſich abänderten, daß ſie einander ſehr ähnlich wurden, trifft man bei den Ammoniten noch mehrfach. Wenn man z. B. die Gruppe der Armaten etwas weiter faßt und jene Formen mit zwei ſeitlichen Stachelreihen, welche ſchon im Lias liegen, noch beizieht, ſo erhält man für die Armaten auch wenigſtens einen diphyletiſchen Urſprung. Denn jene Lias— Armaten, ſo ähnlich auch gewiſſe Formen, wie z. B. Ammonites Birchi, den Perarmaten werden mögen, haben doch eine ganz andere Entwickelungsgeſchichte als die letzteren. Manche der neuerdings unterſchiedenen Ammonitengattungen erweiſen ſich, ſo wie ſie jetzt noch gefaßt werden, auch als poly— phyletiſch; aber gerade z. Th. ſchon aus dieſem Grunde erſcheinen ſie uns nicht recht naturgemäß, denn hier ſind noch vielfach verſchiedene Dinge als natürliche Gruppen zuſammengefaßt, die bei konſequenter Ver— folgung des genetiſchen Principes ſich weſentlich anders gruppiren, weshalb ich es bei dieſer Arbeit auch vorziehen mußte, bei dem alten umfaſſenden Gattungsnamen „Ammonites“ ſtehen zu bleiben. Ich bin davon überzeugt, daß bis zur einigermaßen genügenden Feſt— ſtellung der genetiſchen Beziehungen der Am— moniten manche Form derſelben noch von der einen dieſer Gattungen zur andern ziehen wird und hierbei, wie es bereits vorgekommen iſt, ſogar mehrere Gattungen durchwandern muß, bis der richtige Platz gefunden iſt. Wohl wird ſich vielleicht auch die Zahl dieſer Gattungen noch bedeutend vermehren, und zuletzt werden dann dieſelben vorausſichtlich derart gefaßt werden müſſen, daß ſie als monophyletiſche Gruppen erſcheinen. Ob es nun aber ſehr zweckmäßig oder überhaupt 205 nothwendig iſt, dieſe Gruppen mit beſon— derem Gattungsnamen in das Syſtem ein— zuführen, oder ob es ſich mehr empfiehlt, bei dem bisher allgemein gebräuchlichen Gatt— ungsnamen „Ammonites“ ſtehen zu bleiben, und dieſelben dann nur als Unterabtheilungen innerhalb der großen Ammonitengattung gelten zu laſſen: dies ſind Fragen, die zur Zeit noch ganz verſchieden beantwortet werden, die uns hier aber eigentlich auch weiter nicht berühren. Wenn wir den Urſprung der einzelnen Theile der Ammonitengehäuſe für ſich allein etwas näher verfolgen, ſo machen wir indeß die Beobachtung, daß z. B. die Stacheln, Rippen, Rückenfurchen ꝛc. ſich mehrmals bei ganz verſchiedenen Ammonitengruppen und ganz unabhängig von einander in gleicher Weiſe entwickelten. Dieſe einzelnen Theile der ſog. „Schalenſkulpturen“ haben alſo einen polyphyletiſchen Urſprung, und man kann dieſelben mit Haeckel“) als aſemiſche Organe bezeichnen, zum Unterſchiede von den ſemantiſchen Organen, welche nur ein— mal entſtanden ſind, alſo einen monophy— letiſchen Urſprung haben. Als einen ſolchen aſemiſchen Theil der Ammonitengehäuſe haben wir bereits die Rückenfurche erkannt, welche ſich beſonders bei den Planulaten und Coronaten mehrmals ganz unabhängig ent— wickelte. Auch dafür, daß die Stacheln aſemiſche Organe ſind, wollen wir noch einige Beiſpiele anführen. Im mittleren Lias iſt bereits eine Ammonitengruppe vorhanden, welche Formen mit einer oder zwei Stachel— reihen enthält, die gewiſſen Armaten des weißen Jura zuweilen ſehr ähnlich werden, ohne daß ſich jedoch ein genetiſcher Zuſam— menhang dieſer Liasarmaten mit jenen des oberen Jura nachweiſen ließe. Die Armaten ) Haeckel, einſtämmiger und vielſtäm— miger Urſprung. Kosmos Bd. IV, S. 373. 206 Würtenberger, Die darwiniſtiſchen Schlußergebniſſe meiner Ammoniten-Studien. des Lias wurden von Quenſtedt und d' Orbigny in den oben vielfach citirten Werken in ihren verſchiedenen Abänder— ungen mehrfach abgebildet. Um noch einige weitere Beiſpiele von ſtacheltragenden Ammoniten hier anzuführen, zwiſchen welchen keine näheren verwandtſchaftlichen Bezieh— ungen ſtattfinden, die vielmehr im Stamm— baum oft recht weit auseinanderſtehen, ſo ‚ 7 7 7 4 daß an einen gemeinſamen einmaligen Urs | ſprung ihrer Stacheln nicht im Entfernteſten gedacht werden kann, mag nur etwa noch an die folgenden Formen erinnert werden: Amm. amaltheus oder margaritatus, Amm. Sowerbyi, Amm. tubereulatus, | Amm. Sogar bei Nautilus treten zuweilen zwei Knotenreihen nach Art der Perarmaten auf, wie uns die Abbildungen Mojſiſovics zeigen. Wenn wir in den erſten Kapiteln dieſer Schrift gezeigt haben, daß die Armaten des oberen Jura ihren Urſprung von den Planu— laten genommen haben, ſo mag hier zum Schluſſe noch darauf hingewieſen werden, daß dagegen die Armaten des Lias zunächſt mit der Grnppe der Capricornier in gene— tiſcher Beziehung ſtehen. Aber auch die Planulaten laſſen ſich wahrſcheinlich ſelbſt wieder von ungeſtachelten Capricorniern ableiten, während die letzteren dann durch die Gruppe des Ammonites torus d'O r- bigny oder Amm. Johnstonji Sowerby vielleicht wiederum mit der an der Baſis der juraſſiſchen Formation liegenden ganz glatten Gruppe des Amm. planorbis Sowerby oder Amm. psilonotus laevis Quenſtedt verbunden ſind. Es ſteht damit auch das vollſtändige Glattwerden der innerſten Windungen bei verſchiedenen Amm. mammillaris, 79 Abhandl. d. k. k. geolog. Reichsanſtalt. Band 6. rusticus. Ammonitengruppen des Jura, namentlich auch der Planulaten und Armaten, im Einklange. Wir hätten ſomit hier den Fall, daß fi) von zwei ganz verſchiedenen Entwickel— ungsſtufen deſſelben Stammes, der ſich von den älteſten bis zu den jüngſten juraſſiſchen Ablagerungen verfolgen läßt, ganz unab— hängig in zwei verſchiedenen Zeitaltern Gruppen mit zwei Stachelreihen ab— zweigen, deren Formen auch bei zuweilen vorhandener äußerer Aehnlichkeit doch ihren verſchiedenartigen Urſprung genügend zu erkennen geben und in keiner Weiſe einen direkten genetiſchen Zuſammenhang andeuten. Die Armaten des Lias wurden bis jetzt nicht höher als in den mittleren Lagen dieſer Hauptabtheilung der Juraformation gefunden und waren längſt ausgeſtorben, als ſich die Armaten oder Aſpidoceraspruppe des oberen Jura in den Kelloway-Schichten auszubilden begannen. Was nun endlich noch Ammo- nites pettos Quenſtedt und Amm. Grenouillouxi d'Orbigny betrifft, fo ſind dies allerdings Coronaten- oder Planu— laten-ähnliche Ammoniten mit einer Stachel— oder Knotenreihe, die bereits tiefer als die geſtachelten Planulaten des Lias liegen. Aber es iſt möglich, daß dieſe Pettos-Gruppe ihren Urſprung bereits von Capricorniern nahm, bei welchen die Knötchen ſchon an— gedeutet waren, während die Planulaten von ungeſtachelten Capricorniern ausgingen; jedenfalls haben ſich im oberen Lias, wie wir im erſten Kapitel zeigten, geſtachelte Planulaten wieder direkt aus ungeſtachelten und unabhängig von der Pettos-Gruppe entwickelt. Ob aber die Coronaten des braunen Jura in dieſen beiden Gruppen zu— gleich oder nur in einer derſelben wurzeln, dies werden weitere Unterſuchungen zu ent— ſcheiden haben. Ueber die Natur der plychiſchen Chätinkeit. Von Prof. Dr. K. Herzen.“) j n meiner jüngſten Kritik einer iger jener Verfaſſer der Phyſio— —pſschiſchen Erſcheinungen zu be— ſchäftigen, deutete ich an, die Phyſiologie beſitze entſcheidende Beweiſe dafür, daß die pſychiſche Thätigkeit nichts anderes als eine eigenartige Form von Molekularbewegung ſei, was ich im Nachſtehenden ausführen will. Zufolge der Hypotheſe, welche beim heutigen Stande unſerer Kenntniſſe mehr denn jede andere den Erſcheinungen ent— ſpricht, und der die Thatſachen am meiſten entſprechen, laſſen fi die Naturphännmene in letzter Analyſis auf verſchiedene Beweg— ungsarten zurückführen. Schließt dieſe Verallgemeinerung nun auch die pſychiſchen Erſcheinungen in ſich? Meiner Ueberzeugung nach beſitzt die poſitive Wiſſenſchaft genügende Daten, um entſchieden bejahend auf dieſe Frage zu ant— worten und dies hoffe ich heute meinen ) Vgl. Archivio per l’Antropologia Bd. XI. Heft 1 (1879). | *) Siehe Kosmos Bd. V. S. 83. Egger'ſchen Arbeit, **) in wel— | Leſern zu beweiſen. Schon im Voraus will ich bemerken, daß in dieſer Hinſicht der ex— perimentale und der logiſche Beweisgang logie das Recht beſtritt, ſich mit gleichmäßig vollendet ſind und vollſtändig übereinſtimmen. Wir gehen in der That von einer im— poſanten Reihe experimenteller Erſcheinungen aus, welche mit aller in ſolchen Unterſuch— ungen erforderter Genauigkeit beobachtet wurden. Von dieſen Erſcheinungen gelangen wir durch Induktion zu einem allgemeinen Schluß. Aus dieſem ziehen wir durch Deduktion eine Folgerung, oder ein Corollar, das der experimentellen Prüfung unter— worfen, durch eine andere Reihe von That— ſachen vollſtändig beſtätigt wird. — Kann man vernünftiger Weiſe eine vollſtändigere Beweisführung verlangen? Gehen wir nun dieſen Beweisgang durch, indem wir bei ſeiner induktiven Phaſe be— ginnen; der Weg iſt uns von vielen be— deutenden Männern der Wiſſenſchaft geebnet worden, welche manche Jahre ſich abgemüht haben, bevor ſie ihr Ziel erreichten. Im Jahre 1795 bemerkte Maske— lyne, der Aſtronom von Greenwich, daß ) 208 fein Gehilfe den Durchgang der Sterne durch den Fernrohr-Meridian immer mit einer Verſpätung von 0,5 oder 0,8 Sec. verzeichnete, in Folge deſſen jener Mann, der Nachläſſigkeit beſchuldigt, entlaſſen wurde. Im Jahre 1820 beobachtete Beſſel die— ſelbe Erſcheinung, unterſuchte die Sache näher und fand, daß dieſer Zeitverluſt bei verſchiedenen Individuen verſchieden war, daß Uebung und Gewohnheit denſelben auf ein Minimum reduziren, welches ſich nicht mehr beſeitigen läßt, und für jedes Individuum conſtant bleibt; dieſe conſtante Verzögerung wurde die perſönliche Aequation oder die phyſiologiſche Zeit genannt. In Betracht der durch die Nothwendig— keit des Zuſammenwirkens zweier Sinne in die aſtronomiſche Beobachtungen einge— führten Complication wollte ſpäter Hirſch unterſuchen, ob beim Gebrauche nur eines Sinnes auch noch eine perſönliche Diffe— renz in der Schnelligkeit ſich zeige, mit der verſchiedene Individuen den Moment des empfangenen Eindrucks angeben. Er fand, daß ſolche individuelle Differenzen vorkommen und daß die verbrauchte Zeit im ſelben Individuum variirt, je nachdem man das Geſicht, das Gehör oder das Gefühl reizt. Die Reaktionen auf Gehörs-Eindrücke treten am ſchnellſten auf; die auf optiſche Eindrücke am langſamſten; die auf Gefühlseindrücke ſind langſamer als die erſten und ſchneller als die zweiten. Nach Hirſch wurden dieſe Erſcheinungen mit vervollkommneter Methode von Wolf erforſcht; ihm zufolge hat die Gewohnheit einen großen Einfluß auf die Verzögerung der Reaktion. Es gelang ihm, ſeinen perſön— lichen Fehler von / auf ½¼10 Sekunde zu reduziren. Den Hirſch und Wolf’- ſchen Verſuchen ſehr ähnlich ſind die von Donders mit ſeinen Schülern zu Herzen, Ueber die Natur der pſychiſchen Thätigkeit. Utrecht ausgeführten. Auf eine Erregung des Gehörs durch einen Vokal-nachahmenden Ton ließ er zuweilen durch Ausſprechen deſſelben Vokals antworten. Ihm zufolge iſt die Zeit bis zur Reaktionserſcheinung ½ Secunde fürs Gefühl, ¼ fürs Gehör und ½ fürs Geſicht; ½ Secunde iſt das von ihm fürs Gefühl bezeichnete Minimum. Aber alle dieſe Verſuche konnten keinen Auf- ſchluß über die Dauer der pſychiſchen Vor— gänge geben, welche zwiſchen der Erregung des Sinnes und der Erzeugung der als Zeichen der Wahrnehmung angenommenen Bewegung ſtattfinden; dieſe Dauer ver— liert ſich unter den vielfältigen ſecundären Vorgängen, die vielleicht die ganze gemeſſene Zeit einnehmen. In der That muß der Reiz zuerſt auf die äußerſten Nerven-Aus⸗ läufer einwirken, er muß jenen Intenſitätsgrad erreichen, der zur Anregung der Nerven⸗ thätigkeit nothwendig iſt; dieſe muß ſich bis zum Rückenmark fortpflanzen und durch das— ſelbe zum Gehirn; im Gehirn muß ſie ſich auf dem vielleicht ſehr langen Wege von interzellulären Refleren in eine Wahr- nehmung umwandeln; dieſe muß dem Gedächtniß die verabredete Bewegung zu— rückrufen; die Vorſtellung der zu machen⸗ den Bewegung, im Verein mit der gegenwärtigen Wahrnehmung, muß den Willensimpuls hervorrufen; dieſer muß einen hinreichenden Intenſitätsgrad erlangen, um auf die motoriſchen Nerven zurück— geworfen und von dieſen bis zu den Mus⸗ keln übertragen zu werden; ſchließlich laſſen auch die Muskeln einen gewiſſen Zeittheil vorübergehen, ehe ſie ſich zuſammenziehen. Deſſenungeachtet bieten dieſe Verſuche die Baſis einer chronometriſchen Beſtimmung der pſychiſchen Vorgänge. Wenn wir nämlich — nachdem wir dieſe Experimente öfter wieder⸗ holt und uns überzeugt haben, daß die * Reſultate ziemlich conſtant ſind und die Feſt— ſtellung einer Durchſchnittsziffer erlauben — die Bedingungen des Verſuchs nur bezüglich des damit verbundenen pſychiſchen Vorganges ändern, ohne die anderen Bedingungen der Nerven-Transmiſſionen u. ſ. w. zu vermehren oder zu verwickeln, und wenn wir bei Wiederholung der Verſuche beſtändig finden, daß die erforderliche Zeit zur Erſcheinung der Reaktion zugenommen hat, ſo iſt es klar, daß dieſe Zunahme die Dauer des in der letzten Reihe veränderten pſychiſchen Aktes ausdrückt. Wir haben dann ein Mehr Herzen, Ueber die Natur der pſychiſchen Thätigkeit. Folge von den durch Experimente anf der linken Seite erlangten Ziffern abgezogen werden.“) In der zweiten Verſuchsreihe wußte der Aſſiſtent nicht, welcher der beiden Füße irritirt werden ſollte, und mußte daher zwiſchen den beiden Reizungen unterſcheiden und die zum Zeichengeben beſtimmte Hand wählen; alle anderen Verſuchsbedingungen blieben identiſch, die Irritation und mit ihr alle Elemente der Urtheilskraft gelangten zum Bewußtſein wie in der erſten Serie; die centrifugale Leit— von Zeit, welches zur Quantität der phy- ſiologiſchen Zeit hinzukommt und das wir mit allem Rechte pſychologiſche Zeit zugenommen hatte, und dieſe Zeitvermehrung nennen dürfen. Donders machte ſehr viele ſolcher Verſuche. Er brachte z. B. an den Füßen eines Aſſiſtenten Kupferdrähte an, vermittelſt deren er willkürlich auf einen der Füße theilweiſe einen Induktionsſtrom entladen konnte; dieſer Strom paſſirte zuvor durch den Cylinder des Chronographen und ver- zeichnete dort den Moment ſeines eigenen Durchgangs. Die Reizung des rechten Fußes mußte mit einer Bewegung der rechten Hand, die Reizung des linken Fußes durch eine Bewegung der linken Hand, angekündigt werden, was ſofort auf dem chronoſkopiſchen Apparate verzeichnet wurde. In einer erſten Reihe von Experimenten dieſer Art war der Gehilfe zuvor unter- richtet worden, auf welchen Fuß die Reizung geſchehen ſollte und folglich, mit welcher Hand er zu reagiren hätte; dieſe Serie iſt mit der ſchon beſchriebenen iden- beſaßen. Idee, in ihnen eine viel kürzere phyſiologiſche tiſch und dient zur Beſtimmung der per— ſönlichen Aequation; doch ergab ſie ein neues Reſultat, nämlich, daß die linke Hand fait um "oo Secunde ſpäter als die rechte reagirt; dieſe Zunahme mußte dann in der ung war ebenfalls dieſelbe, der Unter— ſchied war alſo einzig und allein pſychiſcher Natur. Es ergab ſich, daß die phyſiolo— giſche Zeit um 0,1 Secunde durchſchnittlich drückte gerade die pſychologiſche, d. h. alſo die zur Vollführung des pſychiſchen Vor— gangs erforderliche Zeit aus. Aehnliche Verſuche wurden mit optiſchen Reizmitteln gemacht. Man beſtimmte die phyſiologiſche Zeit, die dazu nöthig war, um die Wahrnehmung eines Induktionsfunkens, *) Man ſieht, daß Donders es mit einem Individuum zu thun hatte, bei welchem eine conſtante Differenz in der phyſiologiſchen Zeit der beiden Seiten des Körpers exiſtirte. Bei meinen ziemlich zahlreichen Experimenten ſind mir einige ähnliche Fälle vorgekommen; dieſelben bilden aber, aller Vorausſetzung entgegen, nicht eine Regel, ſondern eine Aus— nahme; die größere Uebung der rechten Hand ſcheint nicht die nöthige Zeit, um ſie in Be— wegung zu ſetzen, abzukürzen. Ich machte ver— ſchiedene Verſuche mit zwei japaneſiſchen Män— nern und einer japaneſiſchen Frau, die, zu einer Künſtler-Geſellſchaft gehörend, eine außergewöhnliche Hand- und Beinfertigkeit Obgleich ich mit der vorgefaßten Zeit zu finden, zu Werke ging, ſo mußte ich doch im Gegentheil conftatiren, daß ſie lang- ſamer, als das Mittel erwachſener Europäer reagirten. 209 \ } = 210 der ſich ſelbſt auf dem Chronographen Cylinder regiſtrirte, mit der Hand anzu- zeigen. Bei der zweiten Serie mußte zwiſchen zwei Farben unterſchieden und für die eine die rechte, für die andere die linke Hand bewegt werden. Dieſe zweite, mit fünf Per- ſonen ausgeführte Verſuchsreihe ergab eine Zeitzunahme von 0,15 Secunden im Durch— ſchnitt, indem 0,12 das Minimum und 0,18 das Maximum war. Es giebt Geis— ler'ſche Röhren, in denen der elektriſche Funken in Buchſtabenform gebogene Glas— röhrchen durchläuft. Don der stellte zweier— lei weitere Verſuche, an indem er in dieſer Weiſe die Erſcheinung zweier Vokale erzeugte. Der Gehilfe ſtand vor einem Phonographen. Die Schwingungen, welche ſeine Stimme der Membran dieſes Apparates eindrückte, wurden auf eine elaſtiſche Feder übertragen, die auf den Chronographen-Cylinder ſchrieb. Bei der erſten Verſuchsreihe wußte der Aſſiſtent, welcher der beiden Vokale erſcheinen und mithin ausgeſprochen werden ſollte, bei der zweiten wußte er es nicht; die Zeit— Zunahme in letzterer war 0,16 Secunden durchſchnittlich. Bei der dritten Reihe, wo zwiſchen fünf Vokalen gewählt werden mußte, war die Vermehrung 0,17; das Minimal-Mittel 0,12 in der zweiten, und 0,16 in der dritten Serie. Um auch die Gehörs-Eindrücke zu unter— ſuchen, machte Donders weitere Experi— mente, bei denen der Gehilfe den von ihm ausgeſprochenen Vokal zu wiederholen hatte. Zuerſt kündigte Donders dem Gehilfen vorher an, welchen Vokal er ausſprechen würde, dann wählte er denſelben willkürlich, ohne Wiſſen des Aſſiſtenten; die erſte Serie von Experimenten ergab eine phyſiologiſche Zeit von 0,18 Secunden, die zweite zeigte eine Dauer-Zunahme von etwas weniger . 0,1 Secunde; dieſer Unterſchied wurde Herzen, Ueber die Natur der pſychiſchen Thätigkeit. a aber durch Uebung oder Gewohnheit um ein Drittel vermindert. Obwohl nun bei allen dieſen vergleichenden Verſuchen keine andere Differenz exiſtirte, als die des pſychiſchen Aktes, der in der Unter— ſcheidung des Eindruckes und in der Wahl der Bewegung beſtand, ſo waren dieſelben doch dem gewichtigen Einwurfe ausgeſetzt, daß die längere Dauer von der Einſtellung des Stimmapparates herrühre und eben ver— ſchieden ſei, je nach dem auszuſtoßenden Tone. Dieſer Einwurf entging Don ders nicht; er ſtellte weitere Verſuche an, um jene muskulare Einſtellung vom rein pſpychiſchen, mit dem Experiment verbundenen Akte zu trennen. Er ſprach verſchiedene Vokale aus, der Gehilfe durfte aber nur einen, und zwar immer denſelben wiederholen, ſo oft er vorkam, die anderen blieben unbeant— wortet; der Mann hatte ſonach, ohne zu wiſſen, welcher Buchſtabe ausgeſprochen werden würde, ſtets die Stimmorgane zur Ausſprache des ihm beſtimmten Vokales be— reit. Es wurden abwechſelnd drei Reihen vergleichender Verſuche angeſtellt. Bei der erſten ſprach der Experimentator einen einzigen Vokal aus, den der Gehilfe wiederholen mußte; es ergab ſich im Durch— ſchnitt 0,201. Bei der zweiten Reihe ſprach er verſchiedene aus, und der Gehilfe mußte diejenigen wiederholen, welche er hörte; es re— ſultirte durchſchnittlich 0,284. Bei der dritten ſprach er ebenfalls verſchiedene Vokale aus, aber der Aſſiſtent durfte nur einen einzigen wiederholen; es ergab ſich ein Mittel von 0,237. Man ſieht, daß auch die Beſtimmung einer unerwarteten Bewegung wirklich eine gewiſſe Zeit erfordert; die Differenz zwiſchen der zweiten und dritten Reihe iſt 0,047 Secunden; doch weiß man nicht, ob dieſe Zunahme dem pſychiſchen Vorgang oder der Muskel-Eiuſtellung zuzuſchreiben iſt; | Herzen, Ueber die Natur der pfychiſchen Thätigkeit. dagegen kann die Differenz zwiſchen der erſten und dritten Reihe, 0,036, nur von dem rein pſychiſchen Vorgange der Unter— ſcheidung zweier Eindrücke herrühren. Auch Prof. Schiff machte einige Ver— | ſuche dieſer Art; ich will hier nicht die Einzelheiten ſeines Apparates beſchreiben. Er bediente ſich, um die Wahrnehmungen zu zeigen, eines Telegraphenknopfes, mit dem er einen Strom ſchloß, der vermittelſt ein— geführter Nadeln einen beſonders präparirten Froſchmuskel irritirte; die Muskel-Contrak— tion wurde auf dem Chronographen ver— zeichnet. verloren, weil der gereizte Muskel direkt die Contraktion erſt zehn bis dreizehn Tau— ſendſtel Sekunden nach Schluß des Stromes zeigt; da aber dieſe Verzögerung conſtant, d. h. dieſelbe in beiden Vergleichungs-Reihen iſt, ſo konnte ſie in keiner Weiſe deren Unterſchied, der das Ziel der Unter— ſuchungen war, beeinfluſſen. Bei der erſten Reihe ließ er eine Kette ſchließen; der Strom durchlief den Froſch— muskel und verzeichnete den eigenen Durchgang auf dem Chronographen vermittelſt der Mus— kelcontraktion. Eine Abzweigung dieſes Stromes führte in ein anderes Zimmer und bewegte dort den Spiegel eines höchſt empfind— lichen Galvanometers, den der Profeſſor mit einem Opernglaſe beobachtete. Er hielt die Hand immer auf dem Telegraphenknopfe, den er in dem Momente niederdrücken mußte, wo die Abweichung des Spiegels begann; indem er nun den Knopf niederdrückte, ſchloß er eine zweite Kette, der erſten gleich, und mit gleichem Umlaufs-Widerſtande; die Drähte dieſer zweiten Kette führten den Strom zur Irritation des anderen Muskels deſſelben Froſches, welcher, durch Zuſammenziehung, den Moment des Niederdrückens des Knopfes neben dem Zeichen des erſten Muskels an— Kosmos, III. Jahrg. Heft 9. Auf dieſe Art wird etwas Zeit gab. Die Entfernung zwiſchen dem erſten und zweiten Zeichen gab die zwiſchen dem Eindrucke und der Reaktion verlaufene Zeit an. Bei der erſten Reihe wurde die phyſio— logiſche Zeit gemeſſen, die nothwendig war, um die Abweichung des Spiegels in einem vorher beſtimmten Dinne durch den Druck der Hand anzuzeigen; es reſultirte ein Mittel von 0,27 Sekunden. Dieſe Zeit war aber bedeutend vermehrt in der zweiten Verſuchsreihe, in welcher der Gehülfe ohne Wiſſen des Prof. die Richtung des Abweich— ungsſtromes umwenden konnte, während der Profeſſor nur reagiren durfte, wenn die Ab— weichung nach rechts ſtattfand. Die Diffe— renz war im Durchſchnitt ca. 0,10 Secunde.“) Dieſe Thatſachen genügen, um den all— gemeinen Schluß zu ziehen, — den einfachen Ausdruck der Thatſachen ſelbſt — daß ein ) Die von Profeſſor Schiff angegebene phyſiologiſche Zeit iſt viel länger, als die von den meiſten Autoren aufgeführte; dies gereicht mir einigermaßen zur Genugthuung, denn in meinen Unterſuchungen über die phyſiologiſche Zeit und Beziehung zum Alter und zum Ge— ſchlecht, fand ich als mittlere phyſiologiſche Zeit für nicht automatiſche Reaktionen (bei ca. 20 erwachſenen Individuen beider Geſchlechter) 0,359 für den Fuß und 0,324 für die Hand; da aber die beiden Geſchlechter bedeutend in der Schnelligkeit der Reaktion differiren, ſo bemerke ich, daß das Mittel bei den männlichen Individuen 0,318 für den Fuß und 0,283 für die Hand iſt, während bei den weiblichen dieſelben für die Hand 0,365 und 0,400 für den Fuß ſind. Das Mittel für die Hand der erwachſenen männlichen Perſonen — welches ich aus 150 Beobachtungen zog — nähert ſich ſehr dem von Schiff bei Operationen auf ſich ſelbſt gefundenen. Es iſt ſogar etwas länger; aber dies hängt jedenfalls davon ab, daß, da ich die Erforſchung der Coordi— nations-Schnelligkeit zweier Bewegungen zum Zweck hatte, ich die Reaction mit dem Fuße und der Hand gleichzeitig ausführen ließ, 212 pſychiſcher Vorgang, von allen ſecundären phyſiologiſchen Prozeſſen der Uebertragung u. ſ. w. abgeſehen, eine gewiſſe Zeit zu ſeiner Ausführung erheiſcht; und daß auch für die einfachſten, elementarſten Verſtandespro— zeſſe, wie die Unterſcheidung zwiſchen zwei mehr oder weniger verſchiedenen Empfind— ungen, dieſe Zeit ſehr lang iſt, wenn wir ſie mit der für den größeren Theil der phyſiſchen Vorgänge erforderlichen Dauer vergleichen. Dies iſt das experimentelle Ergebniß, welches uns als Ausgangspunkt für unſere induktive Folgerung dienen muß. Dieſe und der daraus entſpringende induktive Schluß können, wie folgt, ausgedrückt werden. Die unmittelbare Wirkung eines Cauſalcomplexes darf von ihrer Urſache durch keine Zwiſchenzeit getrennt ſein, denn eine Jedoch beeinflußt dieſer Umſtand viel weniger, als man glauben ſollte, die Reaktionsſchnellig— keit; in der That, auch wenn ich dieſelben Individuen ſeparat mit dem Fuße oder der Hand reagiren ließ, erhielt ich faſt dieſelbe Ziffer, und bei den Kindern bringt die Aſſocia— tion zweier Bewegungen, die noch nicht auto— matiſch verbunden ſind, eine beträchtliche Ver— mehrung der phyſiologiſchen Zeit mit ſich. Hierauf werde ich ſpäter einmal zurückkommen; heute möchte ich die Aufmerkſamkeit der Phy— ſiologen der verſchiedenen Länder auf folgende Frage lenken: ob die perſönliche Aequation wirklich länger iſt in Italien als in Deutchland, wie aus dem Vergleich obiger Reſultate mit dem von deutſchen Phyſiologen erlangten her— vorgeht? Darf man annehmen, daß dies eine unbekannte Beziehung zwiſchen der Raſſe oder vielleicht zwiſchen dem Klima und der Schnel— ligkeit der nervöſen Vorgänge andeutet? Dies würde mit der Thatſache überein— ſtimmen, daß in meinen Unterſuchungen die Minimalziffern von in Florenz nicht an— ſäſſigen Deutſchen und Engländern geliefert wurden, und dagegen die Maximalzahlen von Süditalienern. Herzen, Ueber die Natur der pſychiſchen Thätigkeit. ſolche würde jedes Band zwiſchen Urſache und Wirkung nicht nur unterbrechen, ſondern auch für immer und wirklich ver— nichten. Wenn ſcheinbar die Wirkung nicht im ſelben Moment ſtattfindet, in dem die Urſache auftritt, ſo hängt dies entweder davon ab, daß wir irrthümlich jenen Cauſalcomplex als genügend zur Hervor— bringung der Wirkung betrachten — was alſo implizirt, daß zu ihrer Erzeugung eine Intenſitätsvermehrung derſelben Umſtände oder die Zufügung eines neuen Umſtandes erforderlich iſt, — oder aber davon, daß wir jene Wirkung irrthümlich als die Wirk— ung der gegebenen Urſache anſehen — woraus folgt, daß ſie die Final-Wirkung einer Reihe von Veränderungen iſt, von welcher jene Urſache nur der Ausgangspunkt war. In dieſem Falle wird die anſcheinend träge (unbewußte) Zeit zwiſchen dem erſten Impuls und der End-Wirkung dazu gebraucht, um von einem Punkte zum anderen eines aus— gedehnten, Widerſtand leiſtenden, und daher (aus homogenen und heterogenen Theilen) zu— ſammengeſetzten Subſtrates, eine unſerer Beobachtung zuweilen entgehende Wirkung zu übertragen, die aber ihrerſeits wieder zur Urſache wird und ſich wieder erzeugt, bis in einem gegebenen Punkte ſich alle Be— dingungen der erwarteten End-Wirkung ver— einen; dann erſcheint dieſe Wirkung uns mittelbar. Da nun die Erzeugung eines pſychiſchen Aktes eine relativ lange Zeit gebraucht, welche eine ſcheinbar träge Zwiſchenzeit zwiſchen der Urſache und der Wirkung bildet, ſo müſſen wir in erſter Linie ſchließen, daß der pſychiſche Akt in einem ausgedehnten, Widerſtand leiſtenden und zuſammengeſetzten Subſtrat ſtattfindet. Da nun jede Zwiſchenzeit zwiſchen dem erſten Anſtoß und der ſchließ— lichen Wirkung zur Uebertragung des ur— 213 bis zu einem ſolchen Grad von Vollkommen— heit zu bringen, um ſich derſelben auch für —— Herzen, Ueber die Natur der pſychiſchen Thätigkeit. ſprünglichen, eventuell modifizirten Impulſes dient, und da ſchließlich jede Uebertragung oder Modification eines Impulſes nichts anderes ſein kann, als eine Bewegungsform, ſo müſſen wir in zweiter Linie ſchließen, daß ein pſychiſcher Akt eine Form von Bewegung iſt. Damit haben wir die eingangs erwähnte induktive Phaſe des logiſchen und experimentellen Beweisganges erledigt; gehen wir nun zur deduktiven Phaſe über. Iſt unſer Schluß wahr, ſo muß jener pſychiſche Akt mit der Erzeugung einer ge— wiſſen Quantität von Wärme verbunden ſein, — denn wir wiſſen, daß irgend welche Art von Bewegung mit der Erzeugung jener ſpeciellen Form, Wärme genannt, verbunden iſt. Die Thatſachen allein können hier ent— ſcheiden, ob es wirklich ſo iſt. Wie es nöthig war, die Schnelligkeit der Nerven-Uebertragung zu kennen, um die von den pſychiſchen Vorgängen gebrauchte Zeit zu erforſchen, ſo Wärmeentſtehung in den Nerven kennen, um beſtimmen zu-fönnen, welcher Theil davon der einfachen Thatſache der Nerven-Uebertrag⸗ ung im Innern des Gehirnes zukommt. Schon ſeit 1848 hatte ſich Helm— holtz mit dieſen Erſcheinungen beſchäftigt, jedoch ſind ſeine Reſultate keine entſcheidenden, ſtändig die Valentin's. | | weil die Mittel, welche damals der Wiſſen- ſchaft zu Gebote ſtanden, nicht genügend waren, um die Frage zu löſen; ſpäter be— faßte ſich Valentin damit und bediente ſich bei feinen Unterſuchungen der empfind- lichſten Apparate der heutigen Thermometrie. Faſt gleichzeitig experimentirte auch Prof. Schiff in Florenz über die Wärmeerzeugung der Nerven. Sein Hauptzweck dabei war und jenſeits des Nullpunktes. mußte man, bevor man an thermometriſche Unterſuchungen des Gehirnes gehen konnte, die die Forſchungen über das Gehirn bedienen zu können. Seine Ergebniſſe beſtätigen voll— Die Unterſuch— ungen dieſer beiden großen Phyſiologen be— weiſen, daß der Nerv ſich erwärmt, im Augenblick, wo er in Thätig— keit kritt. Jetzt wollen wir ſehen, was Schiff bei ſeiner Unterſuchung des Gehirnes erreichte. Er begann mit einer Reihe von Ver— ſuchen an mit Curare oder Alkohol nar— kotiſirten Thieren, indem er den Schädel zu beiden Seiten, gleichweit von der Mittel— linie, durchlöcherte und in das Gehirn, mit der größtmöglichen Symmetrie, die zwei Ele— mente der thermo⸗elektriſchen Säule einführte. Beim Schließen des thermogalvano— metriſchen Stromes entſteht eine ſtarke Ab— weichung, gefolgt von langen und ausge— dehnten Bewegungen des Spiegels diesſeits Man iſt gezwungen, eine, zuweilen auch zwei Stunden zu warten, bevor man eine neue Irritation mit der Hoffnung, ihre Wirkung zu erkennen, wagen darf. Vergebens würde man auf die vollſtändige Unbeweglichkeit des Spiegels warten, man muß ſich mit langſamen und regelmäßigen Schwingungen um den Null— punkt begnügen. Dabei angelangt, warten wir das Ende einer dieſer Schwingungen ab, d. h. den Moment, in welchem der Spiegel ſeine Bewegung verlangſamt und im Begriffe iſt, einzuhalten, um zurückzu— kehren: in dieſem Augenblick rufen wir eine Irritation hervor, indem wir eine Extremität des Thieres leicht berühren. Es entſteht ſofort eine der folgenden Wirkungen: 1) Der Spiegel hält ein und geht zurück, bevor er ans Ende ſeiner Schwingungen jedoch, die betreffende Experimentalmethode gelangt iſt; 214 Herzen, Ueber die Natur der pſychiſchen Thätigkeit. 2) der Spiegel, anſtatt einzuhalten, be— ſchleunigt ſeine eigene Bewegung und überſchreitet die Grenze ſeiner Schwing— ungen. Die eine und die andere Wirkung werden durch eine Wärme-Ungleichheit hervorgerufen, welche die Ankunft des peripheriſchen Ein— druckes zwiſchen den beiden in Contakt mit den thermoelektriſchen Elementen befind— lichen Punkten im Gehirn erzeugt. Der Spiegel hält ein, wenn der durch den neuen Strom hervorgerufene Impuls ihn im ent— gegengeſetzten Sinne der von ihm vollführten ſpontanen Schwingung ſtößt; wenn dagegen dieſer Impuls ihn im ſel ben Sinne treibt, jo fährt er in der faſt beendeten Schwingung mit größerer Energie und Schnelligkeit fort. Nachdem nun Prof. Schiff gezeigt, daß eine ſolche Wirkung nicht von der die Irri— tation erzeugenden Manipulation herrühren kann, fragt er ſich, ob dieſelbe durch die Erwärmung des einen der thermoelek— triſchen Pole oder durch das Erkalten des anderen erzeugt wird? Sofern die thermo⸗ elektriſche Säule nichts anderes iſt, als ein reines Differential- Thermometer, iſt es klar, daß derſelbe Unterſchied vom Erwärmen des einen Poles oder vom Erkalten des anderen herrühren kann. Die oben angedeuteten Experimente über die Nerven machten es nun höchſtwahr— ſcheinlich und faſt ſicher, daß es ſich auch hier um die Erwärmung eines der Ele— mente oder vielleicht beider handelte, aber im letzteren Falle dann mehr des einen, als des anderen. Schiff wollte aber die Thatſache un— bedingt klar ſtellen. Nachdem er dieſe Erſcheinung verſchiedenemale bei verſchie-⸗ denen Thieren beobachtet hatte, führte er die thermoelektriſchen Nadeln ins kleine er, „die Erſcheinung mit der ganzen ge— wünſchten Deutlichkeit zu fehen, . Gehirn derſelben Thiere ein (indem er Bei acht dieſer elf Beobachtungen ge— | vermied, bis zu den Vierhügeln und dem ver— längerten Mark einzudringen) und conſtatirte, daß man keine Abweichung mehr in Folge der mechaniſchen oder elektriſchen Reizungen der Extremitäten erlangte. Dieſe Thatſache beweiſt, daß das kleine Gehirn der Leitung der von den Extremitäten herrührenden Eindrücke fremd bleibt. Es war alſo ſozuſagen ein Neu- tralpunkt erworben, der bezüglich des Gehirnes denſelben Dienſt leiſten konnte, wie bei den Verſuchen mit Nervenbündeln jenes Nervendrittel, welches man durch Unterbindung außer Communication mit den andern beiden Dritteln ſetzt. Die Experimente wurden dann wieder— holt, indem die eine der Nadeln im kleinen Gehirn, deſſen Temperatur unveränderlich iſt, und die zweite in eine der Gehirnhälften fixirt wurden; die von den darauffolgenden Reizungen erzeugten Abweichungen waren alle im Sinne einer Erhöhung der Ge— hirntemperatur. Es iſt daraus zu ſchließen, daß bei Operationen auf beiden Gehirnhemi— ſphären die Abweichung die größere Wärme— entwickelung in einer der Hemiſphären an— zeigt; ſie iſt der Ausdruck der Differenz in Erwärmungsgrade, dem die Ankunft des Gefühls-Eindruckes in beiden Gehirnhälften hervorruft. Schiff wollte dann die Wärme-Wirkung der Reizung auf höhere Sinne unterſuchen; er operirte auf das Gehör, vermittelſt eines ſcharfen Pfiffes, und beobachtete wieder- holt eine deutliche Abweichung des Spiegels. „Es iſt mir nur elf mal gelungen“, ſagt RS wahrſcheinlich ein beſtimmter Grad von Narcoſis dazu nöthig, damit das Gehör zum Gelingen des Verſuchs hinreichend er— regbar bleibt“ — Herzen, Ueber die Natur der pſych iſchen Thätigkeit. ſchah die Abweichung für die Gehör- und Hautreizung in demſelben Sinne, bei den anderu drei in entgegengeſetztem Sinne; in dieſen drei Fällen befanden ſich die Nadeln in den hinteren Gehirnlappen. Die Erzeugung von Wärme in Folge der Reizung eines der höheren Sinne war erwieſen; jedoch konnte man aus dieſen Verſuchen nicht ſchließen, ob dieſelbe der Conſtruktion des Eindruckes, oder aber einem Central-Reflexions-Vorgange, d. i. einem pſychiſchen Akte, durch die Ankunft des Eindruckes ſelbſt hervorgerufen, zuzu— ſchreiben ſei. Der Profeſſor wollte nicht mit nicht⸗narcotiſirten Thieren operiren, in— dem er befürchtete, die Bewegungen und be— ſonders die inneren Emotionen der Thiere würden unaufhörliche Temperaturveränder— ungen in ihrem Gehirn erzeugen und ſo die Beobachtung der Wirkung einer experimen- tellen Reizung unmöglich machen. Glück— licher Weiſe war dieſe Befürchtung nicht begründet. Bei einem ohne Hoffnung auf Erfolg gemachten Verſuche mit einem Hunde fiel ihm die relative Unbeweglichkeit des Spiegels auf, in Abweſenheit von künſtlichen Reizungen des Thieres, welches ſich in einem Zuſtande von Schlummer zu befinden ſchien. Dieſe Erſcheinung war der Ausgangspunkt für eine neue, höchſt wichtige Reihe von Verſuchen, die mit nicht-narcotiſirten Hunden und Hühnern angeſtellt wurden. Es wird der Schädel der durch Aether unempfindlich gemachten Thiere an zwei Stellen durch— bohrt, die den beiden Punkten der He— miſphäre entſprechen, deren Temperatur ver— glichen werden ſoll. Durch dieſe Löcher werden die thermoelektriſchen Nadeln ein— geführt, deren oberer Theil, weil dicker, durch Reibung gegen die Knochenränder der Löcher ſelbſt fixirt wird. Man überläßt dann das | Thier einige Tage ſich ſelbſt, damit es ſich 215 ſoviel wie möglich wieder erholt. Nach dem zweiten Tage meiſtens begannen die Hunde wieder zu freſſen. In den günſtigen Fällen, wo alſo die Nadeln vom Knochen ſtark fixirt und unbeweglich gehalten wurden, konnte man alsdann die Verſuche beginnen. Der Hund wurde auf den mit einer weichen Decke belegten Obſervationstiſch ge— bracht. Man gab ihm ein wenig Milch, einige Stückchen Fleiſch und ſtreichelte ihn lange, eine halbe, oft eine ganze Stunde, bis er, an dieſer Behandlung Gefallen findend, auf dem Tiſche zuſammenkauerte und den— ſelben als ſein Lager betrachtete. Alsdann brachte man mit der größten Sorgfalt die feinen und biegſamen Drähte der thermo— elektriſchen Nadeln mit denen des Commu— tators in Verbindung, durch welchen die Kette des Galvanometer geſchloſſen wurde. Es folgte natürlich eine plötzliche Abweich— ung des Spiegels, der jedoch viel ſchneller als bei den Experimenten auf narcotiſirten Thieren zu einer relativen Ruhe in der Nähe des Nullpunktes zurückkehrte; er ſtand ſogar zuweilen auf einige Zeit wirklich un— beweglich, was den Verſuchen einen höheren Grad von Klarheit und Genauigkeit verlieh. Hier folgt nun ein Ueberblick über die in dieſer Weiſe erzielten Reſultate, je nach den verſchiedenen, gereizten Sinnen. Reizungen der allgemeinen Senſi— bilität. In einem gegebenen Moment berührte man ſtark irgend eine Stelle der Haut des Thieres, indem man ſorgfältig ver— mied, Schmerz hervorzurufen, der ſeinerſeits Bewegungen erzeugt und alles geſtört hätte. Man bemerkte ſofort eine ſchnelle Schwing— ung des Spiegels von 4—12 Grad diesſeits oder jenſeits des Nullpunktes der Scala, die Richtung dieſer Abweichung ſchien von der re— lativen Lage der beiden Nadeln abzuhängen, welche niemals ganz ſymmetriſch war. p!!! ³·¹mꝛ ˙ m 216 Reizungen des Geruchs. Sobald alles fertig war, zeigte man dem Thiere eine leere Rolle Papier; es roch daran und man beobachtete einige kleine Abweich— ungen des Spiegels, die bei jedem Verſuche kleiner wurden und ſchließlich ganz auf— hörten. Dann zeigte man dem Hunde eine der erſten ganz ähnliche Rolle, aber ein Stückchen Fleiſch enthaltend. Der Hund beroch es mit größerer Energie und gleich— zeitig entſtand eine plötzliche Abweichung des Spiegels von 5— 8. Der Spiegel kehrte dann nicht auf ſeinen urſprünglichen Punkt zurück, ſondern nahm nach einem kurzen Rückſchlag wieder den Weg der erſten Schwingung und ging über die Grenze der— ſelben hinaus; dies geſchah oft, bis dreimal hintereinander. Dieſe Erſcheinung wurde auch conſtatirt, wenn man auf Thiere ein— wirkte, welche noch nicht ſoweit herge— ſtellt waren, um freſſen zu können, und die nach dem Verſuche den Biſſen Fleiſch oder Käſe zurückwieſen, der doch während des Experimentes ihren Geruchsſinn ſo lebhaft gereizt hatte. Zu bemerken iſt, daß wenn während der Beobachtung die Rolle plötzlich vom Maule des Thieres zurückgezogen wurde, das Beriechen auf Intenſität zunahm, und dann bald aufhörte, während die Abweichung des Spiegels noch einige Zeit lang zunahm. Reizungen des Gehörs. Die Verfuche | wurden wie bei den narcotiſirten Thieren gemacht, indem man ſich eines grellen Pfiffes bediente. Die Ergebniſſe waren viel con— ſtanter und deutlicher. Beim Operiren mit denſelben Thieren, die für die allgemeine Senſibilität und den Geruchsſinn gedient einen Augenblick an Herzen, Ueber die Natur der pſychiſchen Thätigkeit. ſich die Abweichung jedes Mal und reducirte ſich ſchließlich auf eine leichte Bewegung des Spiegels von ca. 2 Grad Einige Male bewegten ſich die Ohren und auch der ganze Kopf des Thieres; doch ſchien dies keinen Einfluß auf den Gang der Erſcheinungen zu haben. Reizungen des Geſichtsſinnes. Dieſe wurden in zwei Abtheilungen getheilt; in der erſten richtete man im erſten günſtigen Moment die Strahlen eines Helioſtaten auf die Augen des Thieres; der Spiegel wich ſofort ab, aber nur um 4 — 8°. „Ich bekenne,“ ſagt Schiff, „daß ich eine ſtärkere Abweichung erwartet hätte; die Schnelligkeit jedoch, mit der ſie bei jedem Lichtſchlag hervor gerufen wird, läßt keinen Zweifel über ihre Urſache, welche der ſtarke Geſichtseindruck war.“ Die ganze zweite Abtheilung wurde bei einem und demſelben Hund ausgeführt, dem einzigen unter vielen, der den Verſuch aus— hielt, ohne ſich zu rühren, oder der höchſtens die Augen und Augenlider bewegte. Man wartete mit einem geſchloſſenen und nach den Augen des Thieres gerichteten Regenſchirm den Stillſtand des Spiegels ab. Stand der Spiegel ſtill, ſo öffnete man plötzlich den Schirm; der Spiegel machte ſofort eine Schwingung von 16“; der Schirm wurde geſchloſſen und nach 8— 10 Minuten, nach⸗ dem der Spiegel wieder faſt unbeweglich war, öffnete man ihn nochmals; es erfolgte eine Abweichung gleich der erſten, oder ein wenig geringer. Nachdem man die Reizung verſchiedene Male wiederholte, wurde die hatten, geſchah die Abweichung ſtets im ſelben Sinne; wiederholte man verſchiedene Male, in Zwiſchenräumen von 5 oder 10 Minuten denſelben Pfiff, ſo verminderte Abweichung jedesmal ſchwächer und reduzirte ſich ſchließlich auf ein Minimum, welches ſich conſtant erhielt, wenn man auch die Reizung 8 oder 10 mal wiederholte. Wir ſehen alſo, daß alle Verſuche mit Hunden das Reſultat geliefert haben, daß = Herzen, Ueber die Natur die Ankunft eines ſenſitiven Eindruckes im Gehirn dort eine Wärmevermehrung her— vorruft, deren Ungleichheit wir vermittelſt der Abweichung des Spiegels beobachten können. holt wird, die erſten Abweichungen die ſtärkſten ſind, und die letzten ſich bei einem conſtanten Minimum erhalten. Es iſt hierzu nur eine Erklärung möglich: Die erſten Reiz— ungen riefen eine moraliſche Erregung, einen pſychiſchen Act hervor, wie z. B. den Wunſch, das Stück Fleiſch, welches das Thier beroch, zu freſſen, oder es nochmals zu beriechen, als es zurückgezogen wurde; oder aber — durch die erſten Pfiffe oder das erſte Oeffnen des Schirmes — die Furcht, in Folge deſſen die ſtarken Ab— weichungen des Spiegels beobachtet wurden. Alsdann legte ſich die Erregung, das Thier überzeugte ſich z. B., daß der Schirm ihm nichts zu Leide that, die Furcht hörte auf und die Abweichungen des Spiegels reduzirten ſich auf jenes Minimum, das der Erwärm— ung entſpricht, welche vom einfachen Durch- gang des Eindruckes durch die leitenden Theile des Gehirns erzeugt wird. Aehnliche Verſuche, mit Hühnern gemacht, gaben ein identiſches, in vielen Fällen ſo— gar weit deutlicheres Reſultat. Die beſonders der Erforſchung der pſychiſchen Erwärmung gewidmeten Experimente wurden ſo ausge— geführt, daß man einmal ſcharfe Töne, welche die Thiere erſchreckten, von ſich gab, ein anderes Mal mit der Hand eine ſtarke Be— wegung machte, gleichſam als ob man ihren Kopf ergreifen wolle, dann Hunde oder Katzen in ihre Nähe brachte, ihre Gefräßig— keit mit Lieblingsſpeiſen reizte u. ſ. w. Es ergab ſich immer eine Abweichung bis zu 18° beim erſten Male, die dann abnahm und ein unveränderliches Minimum erreichte. Ferner zeigen ſie uns, daß wenn dieſelbe Reizung verſchiedene Male wieder- ı 217 N Hier folgt ein Beiſpiel dieſer zraduellen Ver— minderung der thermopſychiſchen Zunahme: der pſychiſchen Thätigkeit. 1. Reizung 14 Abweichung 25 7 120 7 Sad, 90 4. ” 82 ” Bis zur 11. Reizung ſtets 8“ Abweichung Aus dieſer langen, Geduld erprobenden Forſchung über die Gehirn-Thermogeneſis ergiebt ſich nun: 1) daß in einem Thiere mit Nerven— Centren in gutem Zuſtande alle Empfind— ungseindrücke bis zu den Gehirnhemiſphären geführt werden, und dort durch das Faktum ihrer Transmiſſion ſelbſt eine Exhöhung der Temperatur erzeugen; 2) daß auch die pſpychiſche Thätigkeit, unabhängig von den ſie hervorrufenden Eindrücken, von einer proportionellen Tem— peratur-Erhöhung im Gehirn begleitet iſt. Es iſt alſo erwieſen, daß jene ver— bundenen Reihen von Reflex-Empfindungen, welche die äußeren Eindrücke in der grauen Gehirnſubſtanz erwecken und die pſpchiſche Thätigkeit bilden, nichts anderes ſind, als die interzelluläre Ausſtrahlung einer von äußeren Eindrücken inducirten Bewegung. Und hiermit haben wir auch die de— duktive Phaſe des logiſchen und experimen— tellen Beweisgangs vollendet. Wir dürfen nun nicht mehr als proviſoriſche Hypotheſe, ſondern als definitive, den wahren Sachverhalt aus— drückende Formel erklären, daß die pſy— chiſchen Erſcheinungen in der uni— verſellen Naturharmonie auf- gehen, indem ſie ſich, wie jedes andere Phänomen, auf eineſpecielle Form der Bewegung zurückführen laſſen, die dem beſonderen Subſtrat, in welchem ſie ſtattfindet, d. h. der Subſtanz der centralen Nerven-Elemente charakteriſtiſch iſt. Nichtsdeſtoweniger, und um Mißver— 9 218 ſtändniße zu vermeiden, bemerke ich mit Prof. Schiff, daß ich nicht hiermit ſagen will, der Verſtand ſei Materie, weil mit dieſem Wort kein klarer und beſtimmter Begriff gegeben iſt. Die Materie iſt eine Vernunftsabſtraktion, ſie iſt das nothwendige, aber unbekannte Subſtrat ihrer Eigenſchaften oder Erſcheinungen, die wir allein kennen; ſie iſt das unerreichbare Numen, welches ſich im Phänomen unſeren Sinnen und unſeren Erforſchungsmitteln offenbart. Der Verſtand iſt materiell in dem Sinne, daß er die Manifeſtation eines materiellen Sub- ſtrats iſt, von dem er unzertrennlich iſt, genau ſo wie die Wärme, das Licht, die Elektrizität unzertrennlich von ihren mate— riellen Subſtraten ſind; er iſt, wiederhole ich, eine eigenartige Kundgebung, weil, und Herzen, Ueber die Natur der pſychiſchen Thätigkeit. nur weil er von einem eigenartigen Sub— ſtrat hervorgerufen wird, d. h. von einem normal organiſirten, normal ernährten und in dem Zuſtand normaler Thätigkeit befind— lichen Gehirn. „Zwiſchen dem Weſen und ſeinen Eigen— ſchaften,“ ſagt ſehr richtig Herr Bons in der Revue Positive (1878), „beſteht immer und überall ein ſo enges, ein ſo abſolutes und nothwendiges Band, daß das eine nie ohne das andere gedacht werden kann; und wenn uns zuweilen auch der Kunſtgriff erlaubt iſt, dieſe beiden Seiten eines jeden Weſens getrennt zu betrachten, ſo iſt es doch unſere Pflicht, dieſelben vor Allem in ihrer wirklichen Einheit, anſtatt in ihrem Schein-Dualis mus zu erforſchen. eee Ueuẽere Derfucdje über die ufammen- ſetung der Elemente. | forman Lockyer hat in neueſter Zeit | Verſuche angeſtellt, um ſeine Hypo— sches von der zuſammengeſetzten Natur der meiſten chemiſchen Ele— mente?) direkt zu erweiſen. Er hat ſich dabei einer Methode bedient, welche er in den Schriften der Royal Society (XXIX. p. 266) beſchrieben hat, und welche auf eine ſtarke Erhitzung der zu unterſuchenden Stoffe im Vacuum hinausläuft. Die Reſultate waren kurzgefaßt derartig, daß ſie einen Waſſerſtoffgehalt zahlreicher Ele— mente, entſprechend ſeiner früheren Anſicht, daß Waſſerſtoff das Grundelement ſei, bis zu einem gewiſſen Punkte wahrſcheinlich machen. 1) Sorgfältig deſtillirtes und in einer Capillarröhre condenſirtes metalliſches Na— trium ergab in einer Retorte, im Sprengel’- ſchen Vacuum erhitzt, ſein zwanzigfaches Volum an Waſſerſtoff, 2) Sorgfältig getrockneter Phosphor ergab, in derſelben Weiſe behandelt, ſiebzig Volumina eines Gaſes, welches vorzugs— weiſe aus Waſſerſtoff zu beſtehen ſchien, das jedenfalls nicht Phosphorwaſſerſtoff . ) Kosmos Bd. IV. S. 475. Kleinere Mittheilungen und Journal ſchau. (PH?) war, denn es wirkte nicht auf Ku— pfervitriollöſung. 3) Ein Stück durch Matthey und Johnſon ſorgfältig gereinigtes Magneſium ergab prachtvolle Farbenerſcheinungen. Zu— erſt erſchienen die Waſſerſtofflinien, dann die Linie D, aber nicht die Natriumlinie, denn die grüne Linie fehlte, dann die grünen Magneſiumlinien, die blaue Linie b, endlich verſchiedene Miſchungen aller dieſer Strahlen bei Erhöhung der Temperatur, wobei be— ſonders die D-Linie immer brillanter wurde, während aber nur zwei Volumina Waſſerſtoff geſammelt werden konnten. 4) Aus Gallium und Arſenik wurde kein Gas erhalten. 5) Aus Indium entwich gleich beim Beginn des Verſuches in heftiger Weiſe Waſſerſtoff. 6) Schwefel und ſeine Zuſammenſetz— ungen ergaben nur ſchweflige Säure. 7) Lithium gab hundert Volumina Waſſerſtoff. Die Bedingungen der Verſuche ſind immer dieſelben geweſen, nur die Subſtanzen haben gewechſelt, aber die angegebenen Vo— lumina Waſſerſtoff wurden bei jeder Wie— derholung erhalten. Beinahe alle Experi— mente endigten mit dem Bruch der Röhre. Auch der Berliner Akademie der Wiſſen— Kosmos, Jahrg. III. Heft 9. 220 ſchaft iſt unter dem 15. Auguſt dieſes Jahres von Theod. Groſs eine Arbeit vorgelegt worden, aus welcher Zweifel gegen die elementare Natur einiger Elemente, namentlich des Schwefels, hergeleitet werden. Dieſelben gründen ſich darauf, daß Schwefel, mit Leinöl erhitzt, unter ſtarkem Aufblaſen eine verkohlte, unbrennbare Maſſe ergiebt, die in kochender Schwefelſäure zum Theil löslich iſt und daraus durch Schwefelwaſſer— ſtoff gefällt werden kann, wie eine metalliſche Schwefelverbindung, und ferner analog einer ſolchen in Schwefelammonium und Kalilauge löslich ift. Beim Erhitzen dieſes Niederſchlages verbrennt der in ihm ent— haltene Schwefel und es bleibt eine ſchwarze Maſſe, die ſelbſt, wenn im Sauerſtoff ge— glüht, nicht verbrannte und ſich gegen die ſtärkſten Agentien unveränderlich erwies. Aus dieſen und einigen anderen vorläufigen Verſuchen iſt es dem Experimentator zwei— felhaft geworden, ob der Schwefel ein Ele— ment ſei, ja er glaubt ſeine Zweifel auch auf den Phosphor ausdehnen zu müſſen, den auch Lockyer ſeinerſeits, wenn auch aus ganz verſchiedenen Gründen, mit argwöhni— ſchen Blicken betrachtet. Ueber das Anpaſſungs- und Nach— Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. ahmungs- Vermögen der Strudel würmer hat Paul Hallez an der medieiniſchen Fakultät von Lille kürzlich in einer Dok— torats-Arbeit (Contribution A Thistoire naturelle des Turbellariés) eine Reihe intereſſanter Bemerkungen veröffentlicht, welche wir nach einem in der Revue in- ternationale des Sciences, Octobre 1879 veröffentlichten Auszuge hier wiedergeben. „Das aufmerkſame Studium zahlreicher Formen, die mir vorgekommen ſind“, ſagt Hallez, „hat mich davon überzeugt, daß unter den Strudelwürmern vielleicht nicht eine einzige Art exiſtirt, welche nicht wahr— haft bemerkenswerthe ſchützende Anpaſſungen hinſichtlich der Farbe darböte. Die Lepto- plana tremellaris iſt oft äußerſt ſchwierig zu erlangen, ſo leicht verſchmilzt ihr Anblick mit den Körpern, auf denen ſie ſich aufhält. Es iſt ſozuſagen nöthig, daß das Auge eine gewiſſe Erziehung erhält, um dahin zu gelangen, ſie zu unterſcheiden. Ich er— innere mich eines Tages in ungefähr einer Stunde zwanzig Tremellarien gefiſcht zu haben, während einige meiner Freunde, die gleichfalls mit mir ſuchten, viel Mühe ge— habt haben, zwei bis drei einzuſammeln. Es iſt ſicher, daß dieſe Thiere keinenfalls ſichtbar ſein würden, wenn ſie ſich nicht in dem Moment, wo man den Stein umdreht und aus dem Waſſer hebt, leicht zuſam— menzögen. Hypostomum viride, deſſen Körperbe— deckungen Chlorophyll einschließen “), bewohnt ausſchließlich die Conferven des ſüßen Waſ— ſers. Das beſte Mittel ſich dieſe Art zu verſchaffen, beſteht darin, Conferven einzu— ſammeln und ſie inmitten der gekreuzten Fäden dieſer Algen zu ſuchen. Typhloplana viridata und Vortex Graffi, gleichfalls durch Chlorophyllkörner gefärbte Arten, welche ich weiter unten beſchreibe, ſinden ſich gleichfalls inmitten von Conferven. Es giebt zu Wimereux zwei Vorticeros- Arten, V. pulchellum O. Schm. var. luteum, welche ſchön canariengelb iſt, und Vorticeros Schmidtii nov. spec., welche roth gefärbt iſt. Die erſte Art trifft man nur inmitten der Bugula, oder in den Raſen der Campanularien, die zweite lebt im Gegentheil ſtets inmitten rother Algen. ) Vergl. Kosmos Bd. V. S. 127. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Dieſe Thatſache iſt ſehr frappirend; ich habe viele Male in verſchiedenen Aquarien Bü— ſchel von Bugula und Campanularien ge— habt, und in andern rothe Algen, und immer fand ich die gelbe Art in den erſteren und die rothe in den zweiten. Ebenſo habe ich in rothe Algen enthaltenden Aquarien Pro— stomum Steenstruppii, Vortex vittata, Dinophilus metameroides nov. sp. und Enterostomum fingalianum, deren Färb— ung gleichfalls roth ift, angetroffen. Die Arten, welche Gräben bewohnen, deren Grund thonig, aber mit Steinen be— deckt iſt, bieten eine dem Thon ähnliche Farbe dar, es genüge Planaria fusca, vi- ganensis, gonocephala, Dendrocoelum angarense, Derostomum galizianum zu nennen. Planaria nigra, obwohl ſie häufig die vorigen Arten begleitet, iſt dennoch viel häufiger in Gräben, deren Wandung ſchwarz und faulig iſt. Naturforſcher, welche ver— ſchiedene Species von Planarien in Aqua- rien gehalten haben, werden im Allgemeinen bemerkt haben, daß man, wenn das Waſſer verdirbt, nacheinander verſchwinden ſieht: erſt Dendrocoelum lacteum, dann Pla- naria fusca, während Planaria nigra ſelbſt in ſehr ſtark verdorbenem Waſſer vollkom— men ausdauert. In Anbetracht der Pla- naria nigra möchte ich noch auf die erſtaunliche Aehnlichkeit aufmerkſam machen, welche ſie mit Limax parvulus darbietet, beſonders, wenn dieſe kleine Schnecke an der Oberfläche des Waſſers kriecht. Mesostomum personatum, welches gleich— falls ſchwarz iſt, findet ſich ſtets in den Gräben, wo Planaria nigra ebenfalls häufig iſt. Endlich muß ich hier noch auf die gelb— gefleckte, blaue Planaria aufmerkſam machen, welche paraſitiſch auf Botryllus violaceu $ 221 | lebt, und auf Planaria Schlosseri, Die Prof. A. Giard beobachtet hat.“) Man kann alſo ganz allgemein ſagen, daß die Strudelwürmer alle die Farbe der Gegenſtände annehmen, auf denen ſie leben. Die mehr oder weniger durchſcheinenden Arten, wie Mesostomum Ehrenbergii, M. tetragonum, Dendrocoelum lacteum u. ſ. w., erweiſen ſich als gleichfalls ge— ſchützt, welches auch der Körper ſei, auf dem ſie ruhen, weil die Färbung des Steines oder der Pflanze durch die Körper— Wandungen dieſer Thiere ſichtbar bleibt. Es iſt bemerkenswerth, daß die durchſichti— gen, graddärmigen Strudelwürmer (Rhab— docölen) viel lieber als die gefärbten Arten inmitten der Gräben und Flüſſe ſchwimmen. Ich habe den Beweis hierfür nicht nur bei den Beobachtungen in meinen Aquarien er— halten, ſondern noch beſſer durch die Manier, nach welcher man ſich am beſten die ver— ſchiedenen Rhabdocölen-Arten verſchafft. Wäh— rend ich mir die größeren Arten immer am leichteſten verſchafft habe, indem ich ſie in— mitten grüner Algen ſuchte, habe ich im Gegentheil die größte Menge von Meso- stomum Ehrenbergii, tetragonum und rostratum erhalten, wenn ich mit einem feinen Netze fiſchte. Dieſe Unterſchiede in den Gewohnheiten der gefärbten und der durch— ſichtigen Rhabdocölen erklären ſich am leich— teſten, wenn man ſie in Beziehung zur Mimicry betrachtet. Es iſt klar, daß die grünen Arten zum Beiſpiel keineswegs ſicher wären, wenn fie in der Mitte des Waſſers ſchwämmen, während unter dieſen Bedingungen die transparenten Arten eben— ſowohl verſteckt find, als auf irgend wel— chem Körper. Ich muß noch darauf hinweiſen, daß 9 Recherches du les Synascidies pag. 58. pl. XXVII. Fig. 9. 222 Dendrocoelum laeteum, wenn es unbe— weglich bleibt, in erſtaunlicher Weiſe einem todten und getrennten Blatte der Waſſerlinſe (Lemna trisulea) gleicht; dieſe Aehnlichkeit iſt derartig, daß ſie mich oft irre geführt hat. Dieſe Thatſache kann, wie ich glaube, erklären, warum dieſe Art die Gräben zu lieben ſcheint, in denen dieſe Pflanze wuchert. Alle die Thatſachen, welche ich ſoeben aufgeführt habe, ſind ganz gewiß das Er— gebniß ſpecieller Anpaſſungen, das Reſultat des Mimetismus, und werden der von Wal— lace ſo vollſtändig entwickelten Theorie der Schutzfarben eine Stütze mehr geben können. Sie können uns auch die Farben-Abänderun— gen erklären, welche mitunter eine und dieſelbe Art an verſchiedenen Lokalitäten darbietet. So iſt Vorticeros pulchellum in der Nordſee, wo fie Oskar Schmidt beobachtete, und zu Meſſina, wo ſie L. Graff unter— ſuchte, roth, zu Wimereux iſt dieſelbe Art gelb. Es iſt wahrſcheinlich, daß an den erſten beiden Orten dieſe Vorticeros-Art auf rothen Algen lebt, und ich mache darauf aufmerkſam, daß die beiden ebengenannten ausgezeichneten Beobachter nur eine einzige, dieſem Genus angehörige Species aufgefun— den haben. Zu Wimereux hingegen giebt es zwei Vorticeros-Arten; es iſt daher wahr— ſcheinlich, daß ein Kampf um's Daſein zwiſchen dieſen beiden ſo naheſtehenden Arten eintreten mußte, infolge deſſen die eine ſich angeſchickt hat, die Mooskorallen und die Campanularien zu bewohnen und ſich auf dem Wege der Ausleſe an das Mittel, auf welchem ſie lebte, angepaßt hat, während die andere auf rothen Algen blieb und ihre ſchützende Livree bewahrte. Sehr gewöhnlich iſt der Farbenwechſel, abhängt, von andern die Form des Körpers betreffenden Abänderungen begleitet, derart, \ 5 i von Corfu und Cephalonia. wenn er von einem Wechſel des Mittels f 5 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. daß man aus dieſen beiden verſchiedenen Varietäten zwei verſchiedene Arten gemacht hat. Das Beiſpiel der Vorticeros-Arten kann dafür als Probe dienen. Die Gegen— wart zweier langen Tentakeln bei Vorti— ceros pulchellum ſteht ohne Zweifel mit dem Wohnort dieſer Art in Beziehung. In der That, wie ich erwähnt habe, findet ſich dieſes Thier in derſelben Zone mit Bugula, d. h. in einer tieferen Zone als diejenige, in der man die neue Art Vorticeros Schmidtii antrifft. Nun werde ich weiterhin zeigen, daß die Mehrzahl der pelagiſchen Arten mit Tentakeln verſehen iſt, während die Küſtenarten derſelben ermangeln. Ich citire als ferneres Beiſpiel Planaria viganensis. Dieſe hübſche Art, welche durch Dugeè s zu Vigan, einem kleinen Städtchen am Fuße der Cevennen, aufgefunden wurde, lebt in den Ouellen mit ſehr reinem Waſſer. Herr Profeſſor Giard hatte mir davon Exemplare verſchafft, die er in ſehr klaren Bächen bei Bas-Meudon und Wime— reux gefunden hatte. Die Planaria viga- nensis ſcheint mir jedoch, nach den Exem— plaren, die ich unterſuchen konnte, der Planaria nigra äußerſt nahe zu ſtehen, und unterſcheidet ſich faſt nur durch ihre Farbe und die Form ihres Kopfes. Sie iſt oben ſchokoladenbraun und unten grau, und ihr Kopf iſt breiter als derjenige der Planaria nigra, und geöhrt. Man kann alſo die Planaria viganensis als eine beſondere NR ugös (Ann. Sc. nat. I. Ser. T. XXI, 1830. pl. II. Fig. 22. und O. Schmidt, die dendrocölen Strudelwürmer aus den Um— gebungen von Graz (Zeitſchrift für wiſſen— ſchaftliche Zoologie X. 1860 Taf. IV. Fig. 4 und 6. und Unterſuchungen über Turbellarien Taf. II. Fig. Hallez hält Planaria sagitta 0. für identiſch mit PI. gonocephala „ % Schm. Dugés. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 223 Form der Pl. nigra betrachten, die ſich den fließenden und klaren Waſſern angepaßt hat. Das ſchwarze Pigment, welches ſie auf dem ſchwarzen Boden gewiſſer Gräben ge— Ich habe ein wenig weiter oben geſagt, daß die Tentakeln ſich im Allgemeinen nur bei den Arten fänden, die im fließenden Waſſer leben. Ich habe ſchon zwei Bei— ſchützt hat und ihr auf dem kieſigen Grunde citirt; ich muß noch darauf hinweiſen, daß ſchädlich war, iſt in eine hellere, von Neuem ſchützende Färbung übergegangen. die Oehrchen betrifft, ſo werde ich ſogleich zeigen, daß ſie ebenfalls das Reſultat einer beſonderen Anpaſſung ſind; denn man trifft ſie nur bei den Arten, welche fließende Wäſſer und das hohe Meer bewohnen. Planaria fusca bietet ebenfalls, wie Pl. nigra, eine ſpecielle, den klaren und fließenden Wäſſern angepaßte Varietät dar: Pl. gonocephala Dugès“). Ich bin derſelben zu Montigny-ſur-Roch bei Valen— ciennes in Süßwaſſerbächen, welche am Fuße des Caillou-qui-Bique fließen, und deren Boden mit Kieſelſteinen bedeckt iſt, begegnet. Oskar Schmidt hat ſie eben— falls in klaren und fließenden Gewäſſern der Umgegend von Graz beobachtet. Nach allen Einzelnheiten ihrer Organiſation und be— ſonders nach der Bildung ihrer Geſchlechts— organe iſt dieſe Art mit der Planaria fusca identiſch und unterſcheidet ſich von ihr nur durch ihre lebendigere Bewegung und durch die Form ihres Kopfes. Dieſer iſt in Wirklichkeit deutlich dreieckig; er beſitzt zwei kleine, rechts und links von dem Triangel belegene, fühlerartige Verlängerungen und ſeine Oberſeite iſt in der Mittellinie mit einem Kiel verſehen. Die Färbung dieſer Art iſt die nämliche wie bei Pl. fusca; man begreift in der That, daß hier das Pigment ſich nicht verändert hat, denn dieſe letztere Planaria, welche hauptſächlich in ruhenden Gewäſſern, deren Grund mit Steinen beſetzt iſt, lebt, bietet genau eine den Kieſeln, unter den man ſie gewöhnlich findet, ähnliche Färbung dar. Was ſpiele von Planarien des ſüßen Waſſers die mit Tentakeln verſehenen marinen Pla— narien (Stylochus, Thysanozoon, Bro- ceros, Eurylepta u. ſ. w.) nur zufällig an den Küſten vorkommen; man muß im Allgemeinen, um ſie zu erlangen, von der großen Ebbe und Fluth (grandes marées) profitiren, und einige bewohnen das hohe Meer, wie z. B. gewiſſe Arten von Stylochus und Thysanozoon. Im Gegen— theil zeigen die weſentlich litoralen und unter den Steinen verſteckten Arten, wie z. B. Leptoplana tremellaris, keinen ten— takelförmigen Anhang. Das Vorhandenſein von Tentakeln bei einer Art ſtellt für dieſes Thier einen un— beſtreitbaren Vortheil dar, denn dieſe An— hängſel ſind oft höchſt empfindliche Fühler, und um ſo werthvoller, je mehr ſie ent— wickelt ſind. Man könnte beinahe ſagen, daß die Dienſte, welche ſie leiſten, in direktem Verhältniß zu ihrer Länge ſtehen; ſie ſind thatſächlich um ſo nützlicher, auf eine je größere Entfernung ſie dem Thiere erlauben, Gegenſtände, ſeien ſie Hinderniſſe, Feinde oder Beute, zu erkennen. Ruhenden Thieren können fie weniger nützlich ſein. . . . Eine andere Art von Mimetismus, welche gleichfalls bei einer gewiſſen Zahl von Arten eine wichtige Rolle als Schutz— mittel ſpielt, wird durch die Lebensweiſe des Thieres veranlaßt. Die weißen oder durch— ſichtigen Arten bieten, nachdem ſie gefreſſen haben, die Färbung der Körper dar, mit denen ſie ihren Magen gefüllt haben. Ich würde dieſe ganz beſondere Schutzurſache nicht einmal erwähnt haben, wenn ich ihr 554 nicht einen Antheil an der Färbung der Hautſchichten gewiſſer Arten zuſchriebe. Ich glaube in der That, daß wenigſtens in einigen Fällen die Nahrung ebenſowohl als Faktor bei der Bildung der Farbenvarie— täten auftritt, wie die natürliche Zuchtwahl. Dieſe Behauptung beruht nicht auf einer bloßen Anſicht, ſondern auf Beobachtungs— thatſachen. Um dahin zu gelangen, mir Eikapſeln zu verſchaffen, deren Alter mir genau be— kannt war, habe ich Dendrocoelum lacteum in meinen Aquarien erzogen. Die Nahrung, welche ich ihnen bot, beſtand zum großen Theile in Chironomen-Larven. Wenn eine Planarie eine oder mehrere dieſer Larven daß ihre Ernährung weſentlich von Pflanzen— verſpeiſt hat, ſieht man die baumförmigen Verzweigungen ihres Magens mit vother Farbe injicirt, und wenn man ſie mit Sorgfalt unterſucht, bemerkt man, daß das Gewebe (retieulum) ſelbſt nach einiger Zeit eine roſige Färbung annimmt. Es iſt nicht zu bezweifeln, daß in dieſem Falle wenigſtens ein Theil der rothfärbenden Subſtanz durch die Wand der Leibeshöhle aufgeſogen wurde und durch Diffuſion bis in das Binde— gewebe eindrang. Ein anderes ſehr bemerkenswerthes Bei— ſpiel bietet uns Dinophilus vorticoides. Dieſe intereſſante Art iſt lebhaft roth gefärbt, und wenn man fie unter dem Mikroſkope unterſucht, bemerkt man, daß die färbende Maſſe nicht regelmäßig vertheilt iſt, ſondern daß ihre Intenſität viel größer im Magen iſt, als in den übrigen Theilen. Mu reſch⸗ kowsky hat uns mit den Elementen be— kannt gemacht, welche ſeine Färbung be— dingen*): Es find Tröpfchen von fettigem Ausſehen, welche in kleinen Kugeln ver— einigt ſind und Nichts mit gewöhnlichen ) Ueber einige Turbellarien des Weißen Meeres (Archiv für Naturgeſch. 1879. S. 52). Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Pigmentkörpern gemein haben. „Die Magen— wände,“ ſagt er, „ſind mit rundlichen Zellen tapeziert, die mit orangerothen Körperchen und Oeltröpfchen erfüllt ſind. Die Färbung des Körpers muß dieſen orangerothen Kör— perchen zugeſchrieben werden, welche von abgerundeten Zellen des Magens ausgehen und ſich durch den ganzen Körper verbreiten.“ Ich glaube gleichfalls, daß man ſich von dem Urſprung der färbenden Materie im Eingeweide Rechenſchaft ablegen kann, wenn man die Ernährungsweiſe des Dinophilus in Betracht zieht; die einzigen ernährenden Subſtanzen, denen ich in ihrem Verdauungs— apparate begegnet bin, ſind Diatomeen und Trümmer rother Algen. Ich denke alſo, koſt geſchieht, und daß demgemäß ihr Rüſſel ihnen nur dazu dient, die Oberfläche der Gewächſe nach Diatomeen und Pflanzen— trümmern abzuſuchen, und nicht um lebende Thiere damit zu ergreifen, wie der Rüſſel der Proſtomen und anderer rüſſeltragender Arten. Ueberhaupt weicht die Schlund— bildung der Dinophilen weſentlich von der— jenigen der carnivoren Rhabdocölen ab. Die Diatomeen und rothen Algen enthalten nun, wie die ſchönen Unterſuchungen von Mil- lardet und Kraus!) und auch diejenigen von Roſanoff gezeigt haben, beſondere färbende Materien und unter anderen di— chroitiſche Subſtanzen, welche die erſteren Phycocyamin, der Letztere Phycoerythrin genannt haben. Ich glaube nach dem eben Geſagten, daß es anzunehmen erlaubt iſt, daß die roth färbende Materie der Dyno— philier keine andere iſt, als diejenige der Algen, ſei es modificirt oder nicht; vielleicht gelöſt in einer beſonderen fettigen Subſtanz, jedenfalls in einer ſtark lichtbrechenden Maſſe. Der Fall beim Dinophilus iſt gewiß *) Comptes rendus. LXVI. das ſchönſte Beiſpiel, was man bei dem gegenwärtigen Zuſtande der Wiſſenſchaft von dem Einfluſſe der Nahrung auf die Färbung der Thiere, und demnächſt von der Rolle, welche die Nahrung als mimetiſcher Faktor ſpielen kann, zu citiren vermag. Ich weiß nicht, ob bisher die Aufmerkſamkeit der Naturforſcher auf dieſe Klaſſe von That— ſachen ſich gerichtet hat; ich freue mich deſto mehr, es gethan zu haben, je mehr ich überzeugt bin, daß hier ein weites Forſchungs— gebiet ſich öffnet, und daß die Wichligkeit der | Nahrungsmittel, von dieſem Geſichtspunkte betrachtet, viel beträchtlicher ſein kann, als man heutzutage annimmt. In Blumen gefangene Falter. — Fleiſchfreſſende Honigbienen. Alle Asclepiadeen ſind bekanntlich Klemm— Blüthen eigenthümliche feſte, hornige Klemm— klemmen und von dieſen, ſobald ſie ſich gefangen fühlen, gewaltſam losgeriſſen werden. Indem nun an jedem Klemmkörper zwei Pollenplatten körpers auch dieſe dem Beſucher angeheftet und von demſelben in weiter beſuchten Blüthen unbewußt und ungewollt in eine Narben— höhle geſchoben, wo ſie nun ihrerſeits ſich feſtklemmen und von dem abermals gewalt— ſam ſich losreißenden Inſekte wieder getrennt, auf der Narbe zurückbleiben und Befruchtung bewirken. Man kann ſich nun von vorn— herein leicht den Fall als möglich vorſtellen, daß in ſolche Klemmfallen auch Inſekten gerathen, die zu ſchwach ſind, um den Klemm— körper nebſt den beiden ihm anhaftenden ) Vergl. Kosmos Bd. III, S. 330. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 225 Pollenplatten aus der Blüthe loszureißen und die daher gefangen bleiben und ver— hungern müſſen. So habe ich bereits in meinem Buche über Befruchtung der Blumen durch Inſekten (S. 337) mitgetheilt, daß ich in Thüringen an Aselepias syriaca verſchiedene Ameiſen ſich mit den Krallen in den Klemmkörpern fangen ſah, die nicht im Stande waren, das gefangene Bein wieder loszuziehen und daher gefangen blieben. Einen noch weit intereſſanteren Fall ähnlicher Art theilt mir jetzt Profeſſor S. A. Packard jun. von der Bronn University in Providence mit. „Ich finde“, ſchreibt derſelbe am 20. Okt. 1879, „daß die Blumen von Phy- sianthus albens ſehr zahlreich von Plusia precationis beſucht werden, und daß dieſe Falter ſich mit ihren Rüſſeln in den die Pollenplatten tragenden Klemmkörpern fan— f 1 gen und ſpäter an ihren Rüſſeln aufgehängt allenblumen “) d. h. fie beſitzen in ihren todt gefunden werden. Heute aber bekomme ich einen Brief von einem Herrn, der mir körper, welche ſich an den Rüſſeln, Borſten oder Krallen der beſuchenden Inſekten feſt⸗ Folgendes ſchreibt: „Eine Anzahl dieſer Nachtfalter (Plusia) waren in oder an einer Pflanze (der Name derſelben iſt nicht an— gegeben) gefangen, ſodaß ſie nicht entwiſchen | konnten. befeſtigt find, werden mittelſt des Klemm- Als ich ihre Bemühungen ſich loszumachen überwachte, ſah ich deutlich mehrere Honigbienen auf ſie niederſchießen, ſie immer von Neuem ſtechen bis ſie todt waren, und dann die Körper der Falter aufreißen und die weichen inneren Theile verzehren“. Wenn ich auch dieſe letztere Beobachtung nur mit demjenigen Vorbehalte hier mit— theile, den mir die Unbekanntheit des Beob— achters zur Pflicht macht, ſo ſcheint mir doch ſchon das häufige Gefangenwerden und Gefangenbleiben eines Nachtfalters in den der Kreuzungsvermittlung durch Hummel— rüſſel angepaßten Klemmfallenblumen von — 226 Physianthus (Arauja) albens an ſich merk— würdig genug, um zur allgemeinen Kenntniß gebracht zu werden. Es bildet ein treffliches Seitenſtück zu der von meinem Bruder Fritz“) mitgetheilten Beobachtung in Hedychium- Blumen gefangener Schwärmer und ver— dient, wie dieſes, allen Teleologen und Anhängern des nie irrenden „Unbewußten“ zu beſonderer Beachtung empfohlen zu werden. Hermann Müller. Archaeopteryx maeroura, ein Mittelglied zwiſchen den Vögeln und Reptilien. Im Jahre 1861 beſchrieb der aus— gezeichnete Paläontologe Hermann von Meyer in Bronn und Leonhard's Jahrbuch eine in den lithographiſchen Schie— fern von Solenhofen in Baiern, die zu den obern juraſſiſchen Bildungen gehören, ge— fundene Vogelfeder. Er gab dem durch dieſe Feder verrathenen Urvogel den Namen Archaeopteryx lithographica. Bald dar— auf, im Sommer 1862, bot der Arzt und Petrefaktenſammler Häberlein zu Pappen— heim eine ebendort gefundene Platte zum Verkauf, welche mit großer Deutlichkeit das Hintertheil eines Vogels zeigte, von welchem ohne Zweifel die von Meyer beſchriebene Feder herrührt. Das Becken, die Hinterfüße, ein langer, mit Federn zweireihig beſetzter Schwanz, waren prächtig erhalten, aber mit Ausnahme der in Unordnung befindlichen Flügelfedern und einiger aus ihrer Lage gerathenen Knöchelchen fehlten alle übrigen Skelettheile vollſtändig. Der Fund eines Vogels in den juraſſiſchen Schichten war damals ſo überraſchend, kam aber für die eben ans Licht getretene Da r— ) Kosmos Bd. III, S. 178. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. win'ſche Theorie ſo erwünſcht, daß man von vielen Seiten die Befürchtung, ja die Anklage vernahm, es handele ſich um ein Artefakt; der als Sammler von Verſteiner— ungen bekannte Arzt habe einzelnen Knochen— ſtücken einer Flugeidechſe Federn durch Natur- ſelbſtdruck angeätzt! Unter Denen, welche ſich durch Autopſie von der Echtheit der Platte überzeugt hatten, brach darauf ein ziemlich erbitterter Streit aus, ob es ſich um ein befiedertes Reptil oder um einen reptil— ähnlichen Vogel, ein wirkliches Uebergangs— glied zwiſchen Vogel und Reptil handele, wie es die Darwin'ſche Theorie nothwendig gebrauchte. Man empfand den Fund im antidarwiniſtiſchen Lager daher als eine ſolche Niederlage, daß man ſich mit allen Kräften dagegen ſträubte, ſeine Bedeutung anzu— erkennen. Der vor kurzem verſtorbene Prof. Bernhard von Cotta erzählt darüber: „Prof. Andreas Wagner, der da— malige Conſervator des paläontologiſchen Muſeums zu München, ein ſehr reſpektabler Mann, der aber, von ſeinen fixen theologiſchen Anſichten beherrſcht, mit einem leidenſchaft— lichen, orthodoxen Eifer jede Deutung von naturwiſſenſchaftlichen Thatſachen bekämpfte, welche mit der Naturauffaſſung des jüdiſchen Geſetzgebers nicht im Einklang war, gab die erſte Beſchreibung des neuen paläontologiſchen Fundes von Solenhofen. Er wollte in dieſem Thiere, welches er Gryphosaurus (d. h. den Räthſel-Saurier) nannte, nur einen mit Federn bedeckten Saurier erkennen, nicht einmal eine ſehr ausgeſprochene Ueber— gangsform zu den Vögeln. Auch vergaß er dabei nicht, gegen alle Diejenigen zu eifern, welche die Entdeckung dieſes Thieres zu Gunſten der Darwin'ſchen Theorie aus— beuten würden. A. Oppel, nach deſſen Zeichnung Andreas Wagner der Mün— chener Akademie den erſten Bericht über J Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 4 8 dieſe wichtige Endeckung machte, hielt dagegen das Thier ſogleich für das, was es war: das älteſte bekannte Urbild eines Vogels der Jurazeit, dem aber ein langer Reptilien— ſchwanz als rudimentäres Erbtheil von der Thierklaſſe, dem es entſtammte, geblieben, und dem damit der Stempel der Umwand— lung in unverkennbarſter Weiſe aufgeprägt war. . . . In dem immer kleiner werdenden Heerlager der ſehr ehrenwerthen „frommen“ Naturforſcher, fährt Cotta fort, war der Schrecken über die Entdeckung dieſes höchſt auffallenden Bindegliedes zwiſchen zwei in der jetzigen Schöpfung ſo ganz iſolirten Thierklaſſen nicht gering . . . Das un— bequeme Geſchöpf ganz todtzuſchweigen, es lautlos in einer Schublade der Münchener Petrefaktenſammlung einzuſargen, — wie man es hier einſtmals mit einem foſſilen Menſchenſchädel gemacht hatte, welcher, viel— leicht aus den Muggendorfer Höhlen ſtam— mend, ſich nach Andreas Wagner's Tod ohne Etiquette vorfand, war diesmal nicht möglich. Zu Viele hatten bereits das neu entdeckte Wunderthier geſehen. . . .“ Der unbequeme Finder hatte noch oben— drein die Unverſchämtheit, einen beträchtlichen Preis für ſeinen „Stein des Anſtoßes“ zu verlangen. Auch noch Geld für einen fo unangenehmen Zeugen für die Wahrheit einer verhaßten Lehre aufzuwenden, davon konnte natürlich keine Rede ſein. Das britiſche Muſeum benützte die Apathie und Antipathie der deutſchen Gelehrten und ſandte ſeinen Direktor Waterhouſe in eigner Perſon nach Pappenheim, der das Exemplar für die beträchtliche, aber, wie wir ſogleich ſehen werden, noch immer billige Summe von 600 Pfund Sterling erwarb. Als nun— mehr Prof. Owen in den Philosophical Transactions von 1863 den Fund nach ſeinem Werthe würdigte und die Zweifel, die noch hier und da ſpukten, zerſtreute, mag doch wohl einige Reue wegen des entflohenen ſeltenen Vogels eingetreten ſein. Seinen Namen änderte Owen in Archaeo- pteryx maeroura (der langſchwänzige Ur— flieger) um, wohl um den ominöſen Beiſatz lithographica, der an die bei dem lithogra— phiſchen Schiefer nahe genug liegenden litho— graphiſchen Verdächtigungen erinnerte, aus der Welt zu ſchaffen. Faſt ſcheint es übrigens, als ſollte ſich das Trauerſpiel mit der Auswanderung ſo ſel— tener Verſteinerungen nochmals wiederholen. Der Sohn des inzwiſchen verſtorbenen Dr. Häberlein fand nämlich vor drei oder vier Jahren wiederum eine Platte, in welcher er beim Anblick eines hervor— ſchauenden Beinknochens ein zweites Exemplar des inzwiſchen lange vergeblich geſuchten Archaeopteryx vermuthete. Es gelang ihm, die Platte in der Weiſe zu ſpalten, daß er auf der einen Hälfte das ganze Thier, auf der andern den Abdruck behielt. Sehr erfahren in derartigen Arbeiten, gelang es ihm ferner, das Skelet größtentheils aus dem tauben Geſtein herauszuarbeiten, und bot es im vergangenen Jahre, in Verbindung mit einer gewählten Sammlung ſolenhofer Verſteinerungen, deren Hauptzierde es natür— lich bildet, zum Verkaufe aus. Freilich verlangte er ſtatt des bereits für übertrieben gehaltenen Preiſes von ca. 12000 Mark, wie die Dame mit den ſibylliniſchen Büchern, nunmehr 36000 Mark, wobei aber zu beachten iſt, daß das neue Exemplar bei weitem beſſer erhalten iſt, als das erſte. Volger, der Begründer und Leiter des freien deutſchen Hochſtiftes zu Frankfurt am Main, ſchloß einen Kaufvertrag mit dem Beſitzer, in der Hoffnung, ſeitens der Regierung oder reicher Privatperſonen die Mittel zum Ankaufe zuſammenzubringen, Kosmos, III. Jahrg. Heft 9. N 228 aber er täuſchte ſich, und mußte nach mehrmaligem Aufſchube das Exemplar mit der Sammlung dem Beſitzer zurückgeben. Dieſer trat nunmehr in Verhandlungen mit Prof. Carl Vogt in Genf, in der Hof— nung, daß das naturhiſtoriſche Muſeum von Genf den Ankauf machen würde. Aber obwohl es ihm für den erheblich reducirten Preis von 26000 Mark ange— boten wurde, mußte auch dieſes Inſtitut aus Geldmangel darauf verzichten. Welcher reiche Privatmann ſollte auch etwa ſo un— fromme Stiftungen machen? Vielleicht findet ſich in Amerika ein reicher Mann, der dieſe Summe übrig hat, und Deutſchland hat nochmals das Nachſehen. Wenigſtens aber haben die Verhandel— ungen mit Carl Vogt den Vortheil ge— bracht, daß dieſer Naturforſcher im März des laufenden Jahres das Exemplar einer kurzen Unterſuchung unterworfen, und hier— nach, ſowie nach einer ſeiner Diskretion anvertrauten Photographie von natürlicher Größe, auf der diesjährigen Verſammlung Schweizer Naturforſcher zu Sankt Gallen eine Schilderung ſeiner Eindrücke und An— ſichten gegeben hat. Wir theilen die nach— folgenden Einzelheiten nach dem in der Revue scientifique vom 13. September 1879 erſchienenen Originalbericht mit: „Das auf der Platte enthaltene Exem— plar hat die Größe einer Ringeltaube. Die von Owen beſchriebenen Reſte gehörten einem um ein Fünftel größeren Individuum derſelben Art an. Das neue Exemplar iſt vollſtändig; Kopf, Hals, Rumpf und Hinter- | | theil find in Profilſtellung; der Kopf nach hinten ſoweit zurückgebogen, daß der Scheitel Halſes einer Taube von gleicher Größe. beinahe den Rücken berührt. Die am Schultergürtel befeſtigten Flügel ſind wie zum Fluge ausgebreitet. Der vordere Theil Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. theilweiſe in der Geſteinsmaſſe. Das linke Bein iſt nur zur Hälfte frei, der Schenkel— knochen und die obere Hälfte des linken Schienbeines werden von der befiederten Hoſe des rechten Beines verdeckt. Der Kopf iſt klein, von pyramidaler Form, der Scheitel beinahe eben, das Hinterhaupt ſchief abgeſtumpft. Er iſt ſtark zuſammengedrückt, ſeine vordere Extremität nicht völlig frei— gelegt. Die Augenhöhle iſt groß, das Naſenloch nach vorn gerückt. Mit der Lupe erblickt man zwei kleine, kegelförmige und an der Spitze zugeſchärfte Zähne in der oberen Kinnlade. Auf der untern Seite ſieht man einen nach hinten verzweigten Knochen. Ich wage nicht zu ſagen, ob es die untere Kinnlade iſt, welche in dieſem Falle ſehr klein und ſchwach ſein würde, oder ob es das wie bei den Spechten entwickelte Zungenbein iſt. Die einzelnen Kopfknochen verdienten ein genaueres Stu— dium, aber was man zunächſt ſieht, beweiſt zur Evidenz, daß es ein wahrer Reptilkopf iſt. Hinter dem Hinterhaupt glaubt man auf dem erſten Halswirbel einen langen, nach hinten gerichteten Dornfortſatz zu ſehen. Er war vielleicht beſtimmt, einen Kamm, ähnlich demjenigen der Leguane, von dem man Spuren zu bemerken glaubt, zu ſtützen. Ich zähle, in freilich unſicherer Weiſe, acht cylin driſche Halswirbel. Sie find mit ſehr feinen, aber leicht erkennbaren, nach hinten gerichteten Rippen verſehen. Der Hals in ſeinem Enſemble muß ſehr beweg— lich geweſen ſein. Er iſt in unſerm Exem— plar hufeiſenförmig gebogen, wobei die Convexität durch die Bauchſeite gebildet wird. Seine Länge gleicht derjenigen des Die Rückenwirbel ſcheinen zehn au der Zahl zu ſein. Sie ſind dick, kurz, ebenſo des Kopfes und das Becken liegen noch breit als hoch und tragen keine Dornfort— Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. ſätze. ſehr zart, ſchlank gebogen und am Ende zugeſpitzt; ſie gleichen feinen chirurgiſchen Nadeln und zeigen weder Abplattung, noch hakenförmige Knochenanſätze wie bei den Vögeln. Es ſind ſehr dünne Bruſtbein— rippen vorhanden, welche an einem linearen Bauch Sternum befeſtigt zu ſein ſcheinen. | Das bei dem Londoner Exemplar feinem größten Theile nach erhaltene Becken iſt bei dem unſrigen noch im Geſtein verhüllt. Der in ſeiner ganzen Länge erhaltene Schwanz iſt ſehr lang. Er zeigt indeſſen nur in ſeiner hintern Hälfte die Wirbel vollkommen erhalten. Der Bruch der Platte durchſchneidet die Endfedern des Schwanzes im Drittel ihrer Länge. Profeſſor Owen hat ſehr ſchön nach— gewieſen, daß das Becken, wie auch die hintere Extremität, vollkommen das Gepräge des Vogelbaues zeigen, und zwar in der Reduktion des Wadenbeins, in der Ver— ſchmelzung der Fußwurzel- und Mittelfuß— Knochen zu einem einzigen, und durch die Bildung des vierzehigen Fußes, deſſen eine Zehe nach hinten gerichtet iſt; dieſe Theile find in der Londolter Platte viel beſſer erhalten; in unſerem Exemplar ſind einige Zehen ſogar gänzlich verſteckt. Das— ſelbe würde alſo zu unſerer bereits erwor— benen Kenntniß dieſer Theile nichts weiter beitragen, wenn es nicht die volle Gewißheit gäbe, daß das Schienbein dem Wadenbein völlig verbunden iſt, und ſich nur durch eine wenig ausgeſprochene Längsfurche davon abgrenzt. Bildung vergewiſſern, da das Schienbein des rechten Beines ſich von ſeiner äußern, dasjenige des linken von ſeiner innern An— ſicht zeigt. Das die Schwungfedern tragende Vor— Man kann ſich dieſer | Dinoſauriern, Ref.) vorhanden war. derglied iſt ohne Zweifel das intereſſanteſte. 229 Die daran befeſtigten Rippen find Die beiden Flügel find in Flugſtellung glatt ausgebreitet, die Gelenke derart gebogen, daß die Ellenbeinſeite auf welcher die Flug— federn befeſtigt ſind, nach hinten gewendet iſt. Die beiden Glieder, der Schultergürtel einbegriffen, zeigen ſich von der Rückenan— ſicht; der Körper iſt aus dem Gürtel heraus— gegangen, um ſich mit Kopf und Hals nach hinten zurückzubiegen. (Wir übergehen die nähere Schilderung des Schultergürtels, weil Profeſſor Vogt ſelbſt geſteht, darüber zu keiner Sicherheit gekommen zu ſein. Es handelt ſich um einige Theile, die Profeſſor Owen anders gedeutet hat, und über welche erſt genaue Vergleichungen Klarheit geben können.) „Ich komme zu dem Schluſſe,“ ſagt Vogt am Ende dieſes Theiles ſeiner Unterſuchung, „daß der Schultergürtel des Archäopteryx derjenige eines Reptils iſt, daß das Gabelbein und das ſchildförmige, mit einem Kamme verſehene Bruſtbein, welche für alle Vögel mit Ausnahme der Straußartigen, ſo charakteriſtiſch ſind, ihm vollſtändig fehlen, und daß die anderen Knochen durch ihre Zuſammenſetzung, wie durch ihre Formen, Charaktere darbieten, welche ſich bei den Haliſauriern, Pteroſauriern und Krokodilen finden.“ Auch die Beſchreibung der vorderen Extre— mitäten reſumiren wir kurz. Oberarmbein, Speichen- und Ellenbein, ſind bereits ſehr gut durch Owen beſchrieben; das Oberarmbein hat Aehnlichkeit mit demjenigen der Krokodile; man findet im Uebrigen keine Andeutung von Pneumaticität der Knochen, wie ſie doch bei den Flugeidechſen (ja ſogar bei manchen Die Knochen des Vorderarms ſind in ihrer ganzen Länge getrennt, und bieten nichts Charakte— riſtiſches. Die Flügelbildung war von Owen aus Mangel ausreichenden Materials falſch gedeutet worden. Er hielt ſie für völlig = | 230 Kleinere Mittheilungen vogelartig. „Nunmehr, wo unſer Exemplar alle Stücken der vorderen Gliedmaßen in ihren natürlichen Beziehungen, ſo wohl unter einander als zu den Federn, zeigt, können wir verſichern, daß die Hand des Archäopteryxr weder mit der eines Vogels, noch mit der einer Flugeidechſe verglichen werden kann, ſondern allein mit der einer dreizehigen Eidechſe.“ „Unſer Exemplar beſitzt in der That | an jeder Hand drei lange, ſchlanke, mit ge⸗ bogenen und ſcharfen Krallen beſetzte Finger. Der Daumen iſt der kürzeſte, die beiden andern ſind beinahe von gleicher Länge, doch der Zweite (der Mittelſte) am längſten. Dieſe beiden Finger waren deutlich durch eine ſehnige Haut mit einander verbunden. . .. Die Schwungfedern waren am Ellenbein— rande des Vorderarms und der Hand befeſtigt, ohne daß man im Skelet eine beſondere Anpaſſung zu dieſem Zwecke bemerken kann. Der Daumen war frei, wie die beiden andern Finger, und trug keinen Afterflügel. Man nehme in Gedanken alle Federn fort, und man wird eine dreifingerige Reptilienhand vor Augen haben, fo wie fie der Compso- gnathus und viele andere Dinoſaurier ge— habt zu haben ſcheinen, nach ihren Gang— ſpuren zu urtheilen. Ich behaupte, daß kein Gelehrter, dem man das Skelet des Archäopteryx für ſich und ohne Federn zeigen würde, vermuthen könnte, daß dieſes Weſen während ſeines Lebens mit Federn bekleidet war.“ . . . „Die Hand des Archäo— pteryx läßt ſich nicht der eines Vogels ver— gleichen. Bei dieſer iſt der (mitunter z. B. bei Eudytes fehlende) Daumen an der Baſis der Mittelhand und unmittelbar auf die Handwurzel geſtellt, fein einziges Knochen- ſtück trägt mitunter einen Sporn oder einen Nagel, der Mittelhandknochen iſt aus zwei an ihren beiden Enden verſchmolzenen win und Journalſchau. (mitunter, wie bei Eudytes noch freien) Knochen gebildet. Dieſer charakteriſtiſche Mittelhandknochen trägt zwei Finger, einen längeren mit zwei Phalangen, einen andern oft rudimentären mit einem Phalangen. Alle dieſe Finger ſind abgeplattet, nagellos und unter ſich durch Bänder bewegungslos verbunden. Die Hand des Vogels iſt der Schwinge angepaßt, diejenige des Archäo— pteryx in keiner Weiſe.“ „Wir können jetzt die über das Skelet gegebenen Daten zuſammenfaſſen. Der Kopf, der Hals, der Bruſtkaſten mit den Rippen, der Schwanz, der Bruſtgürtel und das ganze Vorderglied ſind entſchieden gebaut wie bei den Reptilien, das Becken hat wahrſcheinlich mehr Aehnlichkeit mit dem der Reptilien als mit dem der Vögel, der Hinterfuß iſt der eines Vogels. Die reptiliſchen Homo— logien wiegen alſo im Skelet nach allen Richtungen vor. Es bleiben die Federn: Hier kein Zweifel, es ſind Vogelfedern mit centralem Schaft und mit vollkommen ausgebildeten Bärtchen. Die hornartige Subſtanz der Federn iſt verſchwunden, aber die Abformung in dem feinen Teig des lithographiſchen Steines iſt ſo vollkommen, daß man die geringſten Details mit der Lupe ſtudiren kann. Die neue Platte zeigt alle Federn an ihrem Platze. Die Schwungfedern der Flügel ſind am Ellenbogenrande des Armes und der Hand befeſtigt, ſie ſind bis faſt zur Hälfte ihrer Länge mit einem feinen und faden— förmigen Flaum bedeckt, der Flügel iſt in ſeinen Umriſſen abgerundet, wie derjenige der Hühner. Es iſt möglich, daß am Grunde des Halſes ein Kragen vorhanden war, gleich demjenigen des Condors. Man ſieht vielleicht Anzeichen davon. Das Schienbein war in ſeiner ganzen Länge mit Federn bedeckt, der Archäopteryx trug alſo Holen, wie unſere Falken, mit denen auch ſeine Beine nach Owen die meiſte Aehnlichkeit haben. Jeder Schwanzwirbel trug ein Paar ſeitlicher Federn. Der ganze Ueberreſt des Körpers, Kopf, Hals, Körper, waren entſchieden nackt und federfrei. Man ſieht dort keine Spuren weder von Flaum noch von Federn, welche man gewiß auf einer Platte gefunden haben würde, welche bis zu den geringſten Details einen feinen Flaum erhalten hat. Es geht daraus hervor, daß die bisher verſuchten Reſtaurationen des Thieres gänzlich irrig ſind. Es würde vollkommen überflüſſig ſein, nach dem, was wir ſoeben auseinandergeſetzt haben, die Frage zu discutiren, ob der Archäopteryx zu den Reptilien oder zu den Vögeln gerechnet werden muß. Er iſt weder das eine noch das andere; er ſtellt einen der beſtcharakteriſirten Zwiſchentypen dar, und beſtätigt auf eine eklatante Weiſe die Anſichten Huxley's, welcher unter dem Namen der Sauropſiden die Reptilien und Vögel vereinigt hat, um daraus eine einzige große Säugethier-Abtheilung zu bilden. Der Arhäopterye iſt ohne Zweifel ein höchſt wichtiger Richtſtab auf dem Wege, welchen die Vogelklaſſe zurückgelegt hat, um ſich mehr und mehr von den Reptilien zu ent— fernen, von denen ſie ihren Urſprung ge— nommen. Vogel nach der Bedeckung und den Hinterfüßen, iſt der Archäopteryx nach ſeiner geſammten übrigen Organiſation Reptil und ſeine Körperbildung kann nur begriffen werden, wenn man dieſes Hervorgehen der Vögel als eine fortſchreitende Entwickelung gewiſſer Reptiltypen annimmt. Die durch Marſh ſo wohl beſchriebenen Kreidevögel ſtellen einen weitern Richtpfahl auf dieſem Wege dar, indem ſie noch die Zähne be— wahrten, während bereits der geſammte Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 231 übrige Organismus mit dem Typus der Vögel übereinſtimmt. Jedoch, es iſt wichtig, auf eine etwas genauere Art die Etappen dieſer fortſchrei— tenden Entwickelung zu beſprechen. Es iſt außerdem wichtig, ſich von der Art Rechen— ſchaft zu geben, in welcher die Anpaſſung für den Flug auf die übrigen Körpertheile gewirkt hat. Außer der Flugfertigkeit unterſcheiden ſich die Vögel noch von der Mehrzahl der Reptilien, die Dinoſaurier ausgenommen, durch die ſenkrechte Stellung auf den beiden Hinterfüßen. In einer ſchon vor einiger Zeit veröffentlichten Abhandlung (Weſter— mann's illuſtrirte deutſche Monatshefte Band 45) habe ich mich bemüht zu beweiſen, daß die Anpaſſung der Wirbelthiere an den Flug nicht nothwendig mit derjenigen der aufrechten Haltung verbunden iſt; daß die Umbildung der hintern Gliedmaßen, um die einzigen Stützen des Körpers beim Gange auszumachen, ganz unabhängig iſt von der Umbildung der Vorderglieder zu dem Zwecke, Flügel herzuſtellen. Die Befreiung der Vorderglieder von ihrer Funktion als Stützen während des Stehens und Gehens kann ſich in Wirklichkeit auf zwei ganz ent— gegengeſetzte Arten vollziehen; in dem erſten Falle verkürzen ſie ſich, um unnütz zu wer— den oder als Greiforgane zu dienen, in dem andern verlängern ſie ſich, um Flugorgane zu werden. Unter den Wirbelthieren ſehen wir die Tendenz zur aufrechten Stellung ſich bei den Dinoſauriern und den Vögeln, die zu den Sauropſiden gehören, entwickeln, und unter den Säugethieren bei den Känguruhs, Springhaſen, Rohrrüßlern und den Anthro— pomorphen, den Menſchen darunter einbe— griffen. Es iſt zu bemerken, daß dieſe Tendenz ohne Zweifel ſehr alt iſt; die f 1 Dinoſaurier erſcheinen ſchon in den triaſi— ſchen Schichten, und die zu den Beutelthieren gehörigen Känguruhs können uns zu der Annahme verführen, daß einige, den Kän— guruhratten (Hypsiprimnus) in der Be— zahnung ähnliche, juraſſiſche Beutelthiere, bereits die den Springern eigene Bildung zeigten. In allen Fällen offenbart ſich die Tendenz durch eine größere Feſtigkeit und Solidität des Beckens, welches eine beträcht— lichere Anzahl von Kreuzbein Wirbeln ein— ſchließt, durch die Längen- und Dicken— Zunahme der Oberſchenkel und Beinknochen und endlich, mit Ausnahme der Anthro— pomorphen, durch eine fortſchreitende Ver— minderung der Zehenzahl, welche dafür kräftiger und länger werden. Die Anthro— pomorphen allein machen in dieſer letzteren Rückſicht eine Ausnahme, und da die Zehen— verminderung ein allgemeines Geſetz für die abgeleiteten Typen iſt, kann man ſagen, daß fie in Bezug auf ihre Gliedmaßen Con- Bei allen ſervative par excellence ſind. andern tritt dieſe Verminderung der Zehen— zahl, welche von ſelbſt diejenige der Fuß— wurzel- und Mittelfuß-Knochen nach ſich zieht, in conſtanter Weiſe auf. Die Anpaſſung an den Flug iſt gänz— lich von derjenigen der aufrechten Stellung unabhängig. Die Flugſaurier und Fleder— mäuſe beweiſen das als im Uebrigen ganz ausgezeichnete Flieger unwiderſprechlich. Alle beide haben ſehr ſchwache, kurze Hin— terbeine, mit kleinen, wohlgetrennten und mit Krallen bewaffnete Zehen. Man braucht nur den mühſeligen Gang einer Fledermaus zu beobachten, um ſich ſofort zu überzeugen, daß dieſelbe ſich niemals auf den Hinter— beinen aufrecht zu halten im Stande wäre, und bei Vergleichung des Skelets eines niederſitzen, auf dem Wege, ſich dem Flug Pterodaetylus oder eines Rhamphorhyn- chus mit demjenigen einer Fledermaus 32 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. wird man ſich unmittelbar überzeugen, daß die Flugſaurier ſich wohl mit ihren Hinter— füßen feſtklammern, aber niemals aufrecht halten konnten. Die Bildung der Hinter— füße, wie ſie ſich bei Dinoſauriern, Archä— opteryx und Vögeln darſtellt, iſt alſo von der Flugfähigkeit unabhängig und bezieht ſich nur auf die Möglichkeit, den Körper auf den Hinterbeinen allein zu tragen. Nun, ich glaube in dem erwähnten Aufſatze gezeigt zu haben, daß alle Charac— tere, auf die man ſich ſtützte, um die Dinoſaurier als Ahnen der Vögel zu be— trachten, ſich nur auf die Entwickelung der Fähigkeit, ſich auf den Hinterbeinen aufrecht zu halten, beziehen. Dank den Arbeiten beſonders der amerikaniſchen Naturforſcher, wiſſen wir nunmehr, daß die Dinoſaurier— beine nur drei Zehen, zuweilen mit An— deutung der vierten, beſaßen; daß dieſe Thiere aufrecht gingen, wie die zahlreichen, ehemals Vögeln zugeſchriebenen Spuren ihrer Füße beweiſen, und daß ihr Becken ſich dem der Vögel näherte. In dieſen Hauptpunkten iſt alſo Annäherung an die Vögel und den Archäopteryr vorhanden, aber das bekannte Skelet des Compsognathus und andere be— kannte Thatſachen beweiſen uns, daß dieſe Entwickelung der Hinterfüße, wie bei den Springſäugern, mit einer mehr oder weni— ger beträchtlichen Verkürzung der Vorder— glieder verbunden war, was im direkten Widerſpruch mit der Anpaſſung an den Flug ſteht, welche eine Verlängerung der Vorderglieder verlangt. Gewiſſe Dinoſau— rier ſetzten ſich vielleicht wie der Archäopteryx und die Vögel, aber ſie waren nicht mehr als die kletternden Känguruhs (Dendrolagus) der Wälder Neu-Guinea's, welche ebenfalls, troß ihrer dem Sprung angepaßten Füße anzupaſſen. Was die Fluganpaſſung betrifft, fo glauben wir ſie in zwei völlig verſchiedenen Richtungen vor ſich gehend zu ſehen, je nachdem die der Luft darzubietende Fläche durch eine geſpannte Haut oder durch Federn hergeſtellt wird. Die Hände der Flugſau— rier und Fledermäuſe folgen den mechani— ſchen Bedingungen der geſpannten Membrane, die Vogelhand bildet ſich den Schwungfedern gemäß aus. Es ſind vor Allem die Hände, welche in Folge dieſer verſchiedenen mechani— ſchen Bedingungen fündamentale Unterſchiede zeigen. Der Bruſtgürtel zeigt bei allen fliegenden Thieren eigene Conſtruktionen, um eine mit einer beträchtlichen, nur in Anbetracht der Schwingungsweite beſchränkten Beweglichkeit, große Feſtigkeit zu vereinen. Dieſe Feſtigkeit iſt in erſter Linie der Entwickelung des Rabenbeines, in zweiter derjenigen der Schulterblätter und Schlüſſelbeine zuzuſchrei— ben; das Bruſtbein nimmt daran einen wichtigen Antheil, indem es anſehnliche Oberflächen zur Anheftung der Muskeln darbietet. Es iſt bald ein gerundeter Schild Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. wie bei dem Ramphorhynchus, bald ein Kamm, wie bei den Fledermäuſen, oder die Verbindung beider, wie bei den Vögeln, ung mittelſt geſpannter Haut. Bei den Flug— bei denen die Verbindung der drei Knochen, Schulterblatt, Raben- und Gabelbein, eine unerſchütterliche Pyramide bildet, die an ihrem Gipfel das Gelenk des Armes trägt. Das Oberarmbein verlängert ſich wenig, aber es wird ſehr maſſiv und bietet den Muskeln kräftige Vorſprünge. Der Vorder- arm verlängert ſich mehr. Wenn einer der Vorderarmknochen rudimentär wird, wie es bei den Fledermäuſen eintritt, gewinnt der andere dafür an Länge und Dicke. Im Allgemeinen verlängert ſich die vordere Ex— tremität bei den Fliegern in ihrem Enſemble, was im direkten Gegenſatze mit der Bildung 233 bei den Springern ſteht, wo ſie ſich ver— kürzt. Wenn die Vogelflügel uns kurz er— ſcheinen, ſo rührt das von der ſtarken Zick— zackbiegung der Gelenktheile her, und man kann ſich leicht, ſei es durch Meſſen oder Entfalten, überzeugen, daß beinahe bei allen Vögeln, außer bei den auf hohen Beinen ſtehenden Stelzvögeln, die entfalteten Flügel den Boden berühren, wenn man ſie in die Stellung eines Vierfüßlers bringt. Wenn alle dieſe Bildungen den fliegen— den Thieren gemeinſam ſind, ſo ſtellen ſich die Verſchiedenheiten dar, ſobald man über die Handwurzel hinausgeht. Die mit Hilfe einer geſpannten Membran fliegenden Thiere bewahren die urſprüngliche Fünfzahl der Finger, indem ſie dieſelben alle verlängern und dünn ausſtrecken, während die gefieder— ten Flieger die Fingerzahl vermindern, in— dem ſie dieſelben durch Knochenverwachſungen oder ſehr ſtarke Bänder verſchmelzen, und Handwurzel- und Mittelhandknochen dieſen Anpaſſungen der Finger folgen. Dieſe bei— den ſo verſchiedenartigen und ſogar entgegen— geſetzten Anpaſſungsarten hängen alſo von der Natur der Hautbedeckungen auf der der Luft dargebotenen Fläche ab. Unterſuchen wir zunächſt die Fluganpaſſ— hörnchen (Pteromys), Pelzflatterern (Galeo— pithecus) und Flugbeutlern (Petaurista) ſehen wir alle Finger frei und mit Krallen bewaffnet. Die mit Haaren bedeckte und ſich in einer Falte zwiſchen den vordern und hinteren Gliedmaßen erſtreckende Haut dient nur als Fallſchirm, aber nicht als thätige Flugmembran. Wir wiſſen jetzt durch die zu Solen— hofen gemachte Entdeckung einiger vollkommen erhaltenen Pteroſaurier-Flügel, daß dieſer Flügel durch einen häutigen, ſtraffen, fein gefalteten und ziemlich ſchmalen Saum ge— 2 234 bildet wurde, der längs des unmäßig ver— längerten fünften Fingers befeſtigt war und ſich dem hintern Theil des Körpers verband, ohne die Hinterfüße zu erreichen. Ich habe eine in natürlicher Größe gefertigte Photographie des Flügels von Rhampho— rhynchus Gemmingkii vor mir, welche dieſe Bildung bis zur höchſten Gewißheit beweiſt. Man kann nach dieſen Endeckungen ſagen, daß alle in den Büchern verbreiteten Ptero— ſaurier-Reſtaurationen irrig ſind. Die andern vier Finger ſind klein, frei und mit ſcharfen Krallen bewaffnet, während der fünfte, ſo ſtarke und verlängerte Finger, an welchen die Membran befeſtigt war, ohne Nagel ift. | Bei den Fledermäuſen ſind vier Finger dünn verlängert, am Ende zugeſpitzt und wie die Fiſchbeine eines Regenſchirms an— geordnet, während der fünfte, der Daumen, frei, kurz und allein mit einer Kralle be— wehrt iſt. bei Fledermaus-Embryonen Schritt für Schritt verfolgt. Im Anfange iſt die Hand dieſer Thiere abſolut ſo wie diejenige aller fünffingrigen Säuger gebildet, und dem Fuße ſo ähnlich, daß es mitunter ſchwer iſt, die beiden von dem Rumpfe getrennten Glied— maßen von einander zu unterſcheiden. Das embryonale Gewebe hüllt die nirgends her— austretenden Finger völlig ein. Später differenziiren ſich die Theile, aber während an der vordern Extremität die verbindende Membran den Fingern in ihrer fort— ſchreitenden Verlängerung folgt, bleibt ſie an den Füßen, wo die Finger frei werden und über die Membran hinauswachſen, zurück. Die Flughaut der Fledermäuſe iſt alſo keine neue Bildung, ſondern nur die urſprüngliche Verbindungshaut, die ſich mit den Fingern gleichmäßig entwickelt hat. Wir haben alſo bei der Fluganpaſſung mittelſt einer Membran drei Stufen: die Ich habe die Flügelentwickelung j — Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. erſte repräſentiren die Flughörnchen und Flugbeutler, bei denen die Haut allein in— tereſſirt iſt, das Skelet keinen Antheil nimmt, und das Flugorgan noch paſſiv iſt. So— bald das Organ aktiv wird, bedarf es einerſeits knochiger Theile als Stützen, andrer— ſeits Muskeln, um die Hebel in Bewegung zu ſetzen; es ſind außerdem Einrichtungen zum Spannen und Entſpannen der Flughaut erforderlich. Wir ſehen alſo einerſeits die entſprechende Umbildung des Bruſtgürtels, wo ſich der Stützpunkt, um welchen die Mus— keln angeordnet ſind, befindet, anderſeits die Anpaſſung der Finger. Bei den Flugſauriern welche ohne Zweifel ſchwache Flieger waren, iſt nur ein einziger Finger hineingezogen, bei den Fledermäuſen ſind vier Finger an— kgepaſſt und es bleibt nur ein einziger, der Daumen, welcher ſeine urſprüngliche Natur bewahrt. Die Stufenfolge der fortſchreitenden An— paſſung für den Flug mit Hilfe des Ge— fieders iſt weniger vollſtändig. Ein Jeder kennt das Knochengerüſt des Vogelflügels. Man weiß, daß das Bruſtbein ſehr breit und gewöhnlich mit einem Kamm verſehen iſt, daß das Rabenbein ſehr ſtark, das Schlüſſelbein dem der andern Seite ver— bunden iſt, um das Gabelbein zu bilden, daß das Oberarmbein meiſtens und der Unterarm immer verlängert iſt, daß die Handwurzel nur aus zwei unbedeutenden Knochen beſteht, daß die beiden einzigen Mittelhandknochen zuſammen verſchmolzen find und daß ein langer, ſtarrer Finger allein entwickelt iſt, während die beiden andern Finger rudimentär ſind und ſogar gänzlich fehlen können. Die Verlängerung, um Platz zur Einfügung der Federn zu erlangen, die Verminderung in der Zahl der ſtarren Finger, die ſehr große Feſtig— keit des Armgelenks und die Bildung be— [ Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. trächtlicher Oberflächen, um die Muskeln anzuheften, charakteriſiren dieſe bei den guten Fliegern zum höchſten Grade getriebene Anpaſſung. Die Etappe, auf welcher ſich der Archä— opteryr einreiht, läßt fi einigermaßen der von den Pelzflatterern (Galeopithecus) in der vorigen Reihe eingenommenen ver— gleichen. Er hat indeſſen einen Schritt weiter vorwärts auf dem Anpaſſungswege gethan. Die Zahl der Finger und der einzige Hand— wurzelknochen treten aus der normalen Bild— ung der Reptile heraus. Die Finger ſind ohne Zweifel am meiſten reptilienartig in ihrer Bildung, aber ſie ſind auf die normale Zahl der Vogelfinger vermindert, und der mittelſte iſt auch der längſte von ihnen. Die Anpaſſung beginnt alſo, ſich im Skelet fühlbar zu machen; ſie beſchränkt ſich nicht einzig auf die Haut, wie bei den Flughörnchen, aber dieſer Anfang iſt ſo ſchwach und ſo unbedeutend, daß man an ihm zweifeln könnte, wenn die Federn nicht übermittelt wären. Der Archäopteryxerfreute ſich ohne Zweifel der Fähigkeit des aktiven Fluges, aber nach der Schwäche ſeines Bruſtgürtels, der Kleinheit des Bruſtbeins und den ſchwachen Vor— ſprüngen des Oberarmbeins zu urtheilen, dürfte er nur ein ſchlechter Flieger geweſen ſein. Sein ſo langer und ſchwacher Schwanz mußte eher ein Hinderniß, als ein Steuer geweſen ſein und ſeine kurzen Flügel mit abgerundeten Umriſſen konnten wohl hinreichen, kleine Entfernungen zu durchfliegen, aber erlaubten keine beträcht— lichen Ausflüge. Zweifel ein Verbindungsglied zwiſchen den Reptilien und den gezähnten Vögeln (Odont- ornithes) der amerikaniſchen Kreideſchichten, ſchrieben hat. Aber man darf nicht ver— 235 geſſen, daß zwiſchen dieſen beiden Typen noch eine beträchtliche Lücke vorhanden iſt, und daß eine Reihe allmählich ſich umbildender Formen nöthig iſt, um von dem Archäopteryx mit vorherrſchenden Reptilien-Charakteren zu den Odontornithes zu gelangen, bei denen, abgeſehen von einigen ſekundären Punkten in der Struktur der Wirbel, der einzige Reptiliencharakter in der Gegenwart der Zähne in den beiden Kinnladen beſteht. In Summa, der Archäopteryx kann als ein mittelſt Gefieder fliegendes und auf Vogelbeinen ſitzendes Reptil betrachtet werden, während die Odontornithen wahre Vögel ſind, die in ihrem Skelet noch einige an ihren reptiliſchen Urſprung erinnernde Züge bewahren. Es wäre ohne Zweifel verwegen, dieſe Mittelformen durch die Phantaſie wieder herſtellen zu wollen, um ſo verwegner, als die Odonthorniten ſelbſt, wie Marſh be— wieſen hat, verſchiedene Formen darbieten, die verſchiedene Grundſtöcke darſtellen. Man kann in noch ſtärkere Verwirrung gerathen, wenn es ſich darum handelt, die direkten Ahnen des Archäopteryx aufzuſuchen. Man hat in ihm einen direkten Abkömmling des in denſelben ſolenhofer Schichten gefun— denen Compsognathus ſehen wollen, und hat vergeſſen, daß der Ahne und der Abkömm— keine Zeitgenoſſen ſein können. Gegen— baur vereinigt in ſeinem Handbuch der vergleichenden Anatomie Compsognathus und Archaeopteryx in einer einzigen Unter— klaſſe der Sauropſiden, der er den Namen Saururi beilegt. Es iſt wahr, daß alle Beide den langen Schwanz der Saurier Der juraſſiſche Archäopteryx bildet ohne beſaßen; aber kann man ein Reptil, welches keine Spur von Federn beſaß, welches mit ſehr verkürzten Vorderfüßen, und mit rep— tilienartigen, nur einige Annäherungen an welche Mar ſh fo bewunderungswürdig be | die Vögel darbietenden Hinterbeinen verſehen war, mit einem Worte ein känguruhartig 9 Kosmos, III. Jahrg. Heft 9. = 55 236 ſpringendes Reptil, mit dem eben unterſuchten Archäopteryx zuſammenſtellen?“) Ich kann mich eben ſowenig befreunden mit der Auffaſſung Huxley's, welcher in den Dinoſauriern im Allgemeinen die Ahnen der Vögel ſieht. Ich habe ſchon darauf aufmerkſam gemacht, daß die Verlängerung der vorderen Extremitäten eine unausweichliche Bedingung der Flugfähigkeit iſt, und daß die Dinoſaurier im Gegentheil eine Ver— kürzung dieſer Vorderglieder zeigen, ſo wie wir ſie bei den ſpringenden Thieren be— obachten.““ ) Es iſt wahr, daß die Dinoſaurier in der Bildung ihres Beckens, der Fußwurzeln und der Zehen zahlreiche Annäherungen an die Vögel zeigen. Es iſt ferner wahr, daß der Vogelembryo beweiſt, daß der einzige Mittelfußknochen aus der Verſchmelzung der urſprünglich, wie bei den Reptilien, ge— ſonderten Fußwurzel- und Mittelfußknochen hervorgeht. Wir erkennen alſo hier eine durch die Phylogenie, wie durch die Onto— genie bewieſene Linie, und zögern nicht zu ſagen, daß das Bein der Dinoſaurier das Verbindungsglied zwiſchen demjenigen der eigentlichen Reptilien und dem der Vögel bildet. Aber darauf beſchränkt ſich die genetiſche Linie, und wenn wir die Vorderfüße be— trachten, ſehen wir keine Annäherung. Mit einem Stummel zu fliegen, iſt unmöglich. Nach meiner Meinung könnte eine von den *) Anm. d. Red. Wenn das ein Tadel Gegenbaur’3 fein ſoll, jo muß man jagen, daß es dem durch jo ausnehmend glückliche Funde geförderten Forſcher am wenigſten an— ſteht, die ehemalige dürftigere Erkenntnißſtufe zu kritiſiren. *) Da es auch Dinoſaurier mit unver- kürzten Vordergliedmaßen giebt, ſo iſt die hier gegen Huxley geübte Kritik mindeſtens verfrüht, und ein großer Theil der im Fol— genden gemachten Schlüſſe unbegründet. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Dinoſauriern ausgehende Linie nur zu den Ratiten (Straußvögeln) gelangen. Nun haben wir mehrere Anzeichen, daß die Strauß— vögel eine ſehr alte Gruppe darſtellen. Eine Menge von Punkten in ihrer Anatomie nähert ſie den Reptilien mehr als irgend eine andere bekannte Gruppe lebender Vögel. Der Heſperornis der amerikaniſchen Kreide iſt nach Marſh ein Waſſer-Strauß, da er ein Bruſtbein ohne Kamm und die rudi— mentären Flügel eines Ratiten beſitzt. Dieſe Auffaſſungsweiſe, deren Gründe ich ſoeben in ſehr ſummariſcher Weiſe angegeben habe, würde die den gegenwärtig angenommenen Anſichten entgegengeſetzten Folgerungen nach ſich ziehen. Wenn man ſie annimmt, dürfte man in dem Straußflügel nicht einen durch Nichtgebrauch rudimentär gewordenen Flügel, ſondern im Gegentheil ein Organ ſehen, welches ſeinem Urſprung nach kein voll— kommner Flügel hat werden können; man müßte darin einen Dinoſaurier-Vorderfuß ſehen, der ſich in der Richtung der Vogelorgani— ſation entwickelt hat, aber mit dem urſprüng— lichen Fehler der Verkürzung und Verminder— ung behaftet, welcher ihn hindert, ein wirkſames Flugorgan zu werden. Die Ratiten, weit entfernt, eine von den Flugvögeln herab— geſunkene Gruppe zu ſein, würden im Gegen— theil eine urſprüngliche Gruppe ſein, welche zu dem wirklichen Flug nicht hat gelangen können. Eine zweite Conſequenz dieſer Auffaſſungs— weiſe würde der polyphyletiſche Urſprung der Vogelklaſſe ſein. Die Dinoſaurier würden zu den Ratiten führen, der Archäopteryx zu den Flugvögeln. Ungeachtet der Gleich— förmigkeit in der Bildung der Vögel — die indeſſen in den Ratiten unterbrochen iſt, — würde dieſe Gruppe zum Mindeſten zwei Grundſtöcke in zwei verſchiedenen alten Reptil— gruppen gehabt haben. Beim erſten Anblick erſcheint dieſer Schluß anſtößig, aber da jo viele andere Thatſachen uns zu analogen Fol— gerungen führen, können wir fie nicht a priori zurückweiſen. Nachdem die genealogiſchen Beziehungen zwiſchen Dinoſauriern und Archäopteryr — ihre Möglichkeit für die Ratiten zugegeben, — zurückgewieſen ſind, kann man ſich fragen, ob wir unter den foſſilen Reptilien, die älter ſind, als der obere Jura, Formen finden, welche ſich mit dem Archäopteryr und durch Ich ihn mit den Flugvögeln verbinden? muß geſtehen, daß es mir ſchwer ſein würde, | und zur Bewahrung zarter Eindrücke un— auf dieſe Frage eine Antwort zu geben, ich glaube ſogar, daß man dieſelbe noch lange wird ſchuldig bleiben müſſen. Wir kennen nur ſehr wenig vollſtändige Skelette von dieſen alten Reptilien; die Gliedmaßenknochen und vor allem diejenigen der Zehen ſind ſehr ſelten und beinahe immer auseinandergelöſt. Zu dieſer Schwierigkeit geſellt ſich noch eine andere. Wie ich ſchon bemerkt habe, würde es Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 237 Beine ſtützte, würde ſchnell durch die aus den Vorderfüßen gezogenen Schlüſſe wider— legt worden ſein. Aber Dank der ausnehmenden Feinheit des Teiges der lithographiſchen Steine, ſind Federn gefunden worden, befeſtigt an einer Hand, einem Reptilſchwanz und einem Vogel— bein. Wer würde darnach die Exiſtenz mehr oder weniger entwickelter, mehr oder weniger rudimentärer Federn leugnen können auf den Körpern vieler alten Reptile, von denen man nur die Skelette oder einzelne Knochen gefunden hat, eingebettet in einem groben geeigneten Geſtein? Ich glaube durch das Vorhergehende bewieſen zu haben, daß die Anpaſſung an den Flug von außen nach innen, von der Haut zum Skelet fort— ſchreitet, und daß das letztere noch völlig — ich wage mich ſo auszudrücken — rein (indemne) ſein kann, wenn die Haut bereits dahin gelangt iſt, Federn zu entwickeln. unmöglich fein, nach der bloßen Unterſuchung Entwickelung von Federn ſo minimale Um— des Skelets zu vermuthen, daß der Archä— opteryr Federn trug. Die Anpaſſungen nach der Richtung der Befiederung ſind ſo wenig ſichtbar, daß man ſie nicht als ſolche würde annehmen können, wenn nicht der Solenhofen-Kalkſtein durch ſein ſo feines Korn die zarteſten Eindrücke bewahrt hätte. Nehmen Muß man nicht annehmen, daß dem Archä— opteryx, deſſen Skelet gegenüber einer üppigen wandlungen erlitten hat, Geſtalten von Erd— Reptilien vorausgegangen ſind, deren Skelet keine Veränderung erlitten hat, und bei welchen anſtatt vollkommner Federn blos Stumpfe wir einen Augenblick an, daß man das Skelet des Archäopteryx für ſich und ohne Spur von Befiederung gefunden hätte. Würde man darin ein fliegendes Thier haben er— kennen können? Auf keine Weiſe. Man würde darin im Gegentheil ein auf hohen Beinen laufendes Reptil wie das Chamäleon geſehen haben. Der Anatom, welcher wage— | halſig genug geweſen wäre, zu behaupten, daß dieſes Thier mit Flugvermögen begabt geweſen ſei, indem er ſich auf den Bau der | rudimentärer Federn vorhanden waren, fo wie ſie heute der Embryo der Vögel im Ei zeigt“)? Wenn die Hautbildungen durch die Verſteinerung inmitten eines groben Materials zerſtört ſind, wird uns da ein Mittel bleiben, um an einer Landeidechſe mit normalem Skelet die Spuren eines rudimentären und in Entwickelung befind— lichen Gefieders zu entdecken? Ich habe nicht nöthig, hier, um dieſe Betrachtungen zu ſtützen, daran zu erinnern, *) Diefelbe Anſicht hat auch Studer auf- geſtellt. Siehe Kosmos, Band III. S. 180. a 8 55 daß die Homologie zwiſchen den Schuppen, ungen der Reptilien auf der einen Seite und der Vogelfedern auf der andern, ſeit lange anerkannt iſt (Siehe Gegenbaur, Handbuch der vergleichenden Anatomie S. 550); daß alle dieſe reptiliſchen Bild— ungen ſich in nichts von den in Geſtalt von Warzen bei dem Embryo der Vögel, als erſte Spuren des Gefieders, erſcheinenden ſogenannten Federkeimen unterſcheiden, daß die Vogelfeder nichts als eine weiter ent— wickelte Reptilſchuppe, und die Reptilſchuppe nur eine im embryonalen Zuſtande ver— bliebene Vogelfeder iſt. Es kann alſo nicht ausgebildeten Federn des Archäopteryx auf anderen älteren Reptilen Hautgebilde voraus— gegangen ſind, die in ausdauernder Weiſe den verſchiedenen embryonalen Entwickelungs— ſtadien der Federn entſprachen. Wir müſſen uns folgerichtig die Ahnen des Archäopteryx als eidechſenartige Landreptile vorſtellen, deren Füße fünf freie und gekrümmte Zehen hatten, und die keine Modifikationen in ihrem Skelet zeigten, aber deren Haut an verſchiedenen Stellen mit langen Warzen, mit Flaum und rudimentären Federn, ungeeignet zum Fluge, aber im Laufe der Generationen eine weitere Entwickelung zulaſſend, verſehen war. Ich halte hier ein. Da ich nur eine ſehr unvollkommne Studie der Original- Platte, welche eine ſehr ſorgfältige Unter— ſuchung verlangt, vorgenommen habe, konnte ich nur auf die Betrachtung der Photographie begründete Apereus geben. Aber ich hoffe bezweifelt werden, daß den ſo vollkommen Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Ihnen bewieſen zu haben, daß unſer in ſeiner Kämmen, ſtechenden und anderen Hautbild- Art einziges Foſſil des ernſthafteſten Stu— diums würdig iſt, wobei man eine Menge Fragen von dem höchſten wiſſenſchaftlichen Intereſſe wird entſcheiden können. Sie werden den Wunſch, welchen ich hege, ſehr gerechtfertigt finden, nämlich, daß dieſes Stück aus den Händen des gegenwärtigen Eigen— thümers übergehen möge in den Beſitz einer Anſtalt oder eines Muſeums, woſelbſt es allen Denen zugänglich ſei, die es zum Gegen— ſtande eines eingehenden Studiums machen wollen.“ Ueber die Prädispofition und Immunität gewiſſer Thiere gegen Milzbrand-Anſteckung legte Dr. Chauveau der Pariſer Akademie der Wiſſenſchaften in ihrer Sitzung vom 8. September 1879 eine Arbeit vor, in welcher er auf Grund von Experimenten nachweiſt, daß nicht allein Thiere verſchie— dener Arten ungleich empfänglich für die Milzbrand-Anſteckung find, ſondern daß auch die verſchiedenen Raſſen einer und derſelben Art nicht im gleichen Maße der Anſteckung ausgeſetzt ſind, und mehr oder weniger ſogar der direkten Einimpfung widerſtehen. Aus Algier gekommene Schafe, die jetzt auf dem Markt von Lyon ſehr viel vorkommen und unter der Bezeichnung Race barbarine be- kannt ſind, haben ſich ganz beſonders rebelliſch gegen die Einimpfung des Milzbrandes erwieſen. Fiteratur und Kritik. Für das ſalzfreie Urmeer. Im Kosmos (Bd. IV S. 430 u. fgde.) J ſind von Prof. Dr. Hörnes eine An— zahl anſcheinend gewichtiger Einwend— ungen gegen meine Hypotheſe vom ſalzfreien Urmeer gemacht worden, und auch Dr. Ernſt Krauſe hat an meine „Antwort“ im Kosmos (Bd. IV. S. 250) einige Bedenken angeknüpft. Inzwiſchen habe ich in der botanischen Zeitſchrift es erg, S 102 u fgde.) in meiner Abhandlung „Ueber die Verwandt— ſchaft von Algen mit Phanerogamen“ gezeigt, daß die Farne und angioſpermen Dicoty- ledonen polyphyletiſch von zahlreichen ma— rinen Algenformen abzuleiten find*) und wir faft keine Anhaltpunkte für den üblicheren monophyletiſchen Stammbaum des Pflanzen— reiches, der auf continentale Algen baſirt, beſitzen. In dieſer Abhandlung ſind ſchon eine Anzahl obiger Bedenken gehoben. Gegen die Baſis meiner Hypotheſe, daß das Meer anfangs ſalzfrei, d. h. fo ſalzfrei wie unſer ſogenanntes Süßwaſſer, war, hat Hörnes keine einzige poſitive Thatſache anführen können. Ich habe inzwiſchen auch in meinem Aufſatz: „Wie bildeten ſich die ) Anm. d. Red. Soll wohl heißen: „möglicher Weiſe abgeleitet werden können?“ Urgeſteine?“ (Kosmos, Bd. V S. 172 u. f.) dargethan, wie haltlos die Vermuthungen über ein durch Auslaugung der Urgeſteine entſtandenes ſalziges Urmeer ſind. Das älteſte Vorkommen von Salz, zugleich das einzig bekannte im (oberen) Silur, iſt bei Gode— rich, Ontario, und dieſe Salinagruppe documentirt ſich als eine zwiſchen einer ein— maligen Hebung und Senkung entſtandene reine Continentalſeebildung, weil ſie petre— faktenfrei iſt, trotzdem ſie, nur 879“ mächtig, zu 86% aus zur Petrefaktion geeignetem Mergel und Dolomit beſteht; unter und über derſelben lagern petrefaktenführende Schichten. Wenn es nun auch zweifellos iſt, daß die Oceane zur Carbonzeit ſchon ſchwach ſalzig waren, obwohl, wie ich ſpäter zeigen werde, die intenſivere Verſalzung der Oceane erſt nachher eintrat, ſo iſt damit noch nicht be— wieſen, daß darin die Vegetation nicht üppig grünend exiſtiren konnte. Ich habe ſtets ein allmähliches Verſalzen angenommen, und die Grenze ſür die Exiſtenzfähigkeit der meiſten carboniſchen marinen Wald- und Wieſenpflanzen iſt eben zu Ende der Car- bonzeit eingetreten; indeß auch nicht für alle Pflanzen, und heutzutage exiſtirt in Acrostichum aureum ſogar noch ein Brack— waſſerfarn. Iſt aber der älteſte Ocean ſalzarm ge— weſen, ſo reſultirt daraus eine logiſche und 240 mit anderen Thatſachen übereinſtimmende Aufeinanderfolge der Entwickelung des Pflanzenreiches, wie ich es zu zeigen ver— ſuchte. Dagegen mache ich es den gegne— riſchen Hypotheſen zum Vorwurf, daß ſie zur Erklärung der Steinkohlenlagerbildung gleich mit einer genetiſch unerklärten und neben einem ſalzigen Urmeer unmöglichen, üppigen Litoralſumpfflora der carboniſchen Periode beginnen. Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß die Conti— nente urſprünglich nackt, ohne Vegetation und folglich auch ohne Humus waren; daraus reſultirt, daß es anfangs nur periodiſche Flüſſe gegeben hat, denn Flüſſe mit jahraus jahrein conſtantem Waſſer ſind erſt dann möglich, wenn vorhandener Humus ſeine Waſſer aufſaugende und retardirende Eigen— ſchaft ausüben kann. Doch kennen wir außerdem noch einige in meinem früheren Aufſatze unerwähnt gebliebene Thatſachen, welche beweiſen, daß zur Carbonzeit die Continente faſt vegetationslos und die Oceane mit reicher Vegetation bewachſen waren: Von bewachſenen Continenten wird gar kein waſſerlösliches Kalkbicarbonat in die Oceane geführt; Oceanwaſſer enthält davon 0,00 —0,02—0,11 in 100 000 Theilen, und rein marine Kalkablagerungen finden heut zutage nicht mehr ſtatt; nur mechaniſch fort- geriſſene Kalktheilchen, alſo einfach kohlen— ſauren Kalk lagern die Flüſſe heutzutage allenfalls vor ihren Mündungen ab. Pflanzen zerſetzen alles gelöſte Kalkbicarbonat bereits auf dem Continente, indem ſie Kohlen— ſäure abſorbiren und einfach kohlenſauren Kalk ausfällen, ſodaß faſt kein gelöſter Kalk in das hohe Meer gelangt. Anders war es zur Carbonzeit; da finden wir rein oce— aniſche Kalkablagerungen von enormer Mäch— tigkeit und Ausdehnung, die, als von einer ſchwimmenden, üppigen Ocean-Vegetation Die | Literatur und Kritik. ausgefällt, ſich leicht erklären laſſen, aber unmöglich wären, wenn die Kontinente da— mals ſchon ein größeres Pflanzenwachsthum gehabt hätten. Genau ſo verhält es ſich mit der Entſtehung des Kohleneiſenſteins, des Blackbandes. Wenn nun die oceaniſche Vegetation in der Strandnähe ſchwamm, ſo wurden außer ihren niederſinkenden, abſterbenden Reſten auch zugeſchwemmte feine Sedimente zeitweiſe von den periodiſchen Flüſſen abgelagert, während die gröberen Sinkſtoffe als Uferfacies ſich minder regelmäßig ausbildeten. Da über— haupt in den paraliſchen Kohlenlagerungen, von denen Hörnes ſogar eine mit 370 Schichten, und zwar z. Th. ſo dünnen Schichten, daß deren 253 nicht abbau— würdig ſind, anführte, meiſt ſehr feine Sedi— mente zwiſchenlagern, ſo iſt deren vorherr— ſchende Entſtehung nur weit draußen vor den Flußmündungen denkbar. Andererſeits er— klärt es ſich leicht, daß im hohen Ocean, wohin keine Sedimentablagerungen gelangen, auch keine Kohlenlager erhalten wurden, trotzdem dort eine ebenſo üppige Vegetation geherrſcht hat; denn wo keine thonigen Sedi— mente früher oder ſpäter die untergeſunkenen Pflanzenreſte bedeckteu, blieb die werdende Kohle überhaupt nicht erhalten. Nur wenn Kalkſedimente thonig ſind, erhalten ſich allen— falls Kohle oder Bitumen, gleichviel ob von Pflanzen oder Thieren, wie uus die bitumen— freien, Kalkthierreſte führenden, reinen Kalke und die bituminöſen thonigen Kalke beweiſen. Ferner werden bei Kohlenbildung durch freiwerdende Kohlenſäure alle Kalkthierreſte aufgelöſt, was z. B. auch aus den ſtets an Kalkthierreſten freien Braunkohlen, zwiſchen denen doch zweifelsohne auch Schneckengehäuſe eingebettet waren, hervorgeht. Es iſt daraus leicht erklärlich, 1) daß in reinem marinen Kalk keine Kohle, aber reichliche Kalkthierreſte, 2) in Kohlenſchichten dagegen keine Kalkthier— reſte ſich finden ſowie 3) daß Bergkalk und Kohlenlager gleichzeitige Bildungen find. Hörnes hat gewiß Recht, indem er jagt, daß ſeit dem erſten tropfbar'flüſſigen Waſſer, das auf die Erde fiel, alſo etwa ſeit Anfang der cambriſchen Periode bis zum Beginn der Kohlenformation, eine viel längere Zeit verfloſſen ſei, als nachher; aber die daran geknüpfte Folgerung, daß das Meer deshalb ſchon damals ſo ſalzig geweſen ſei, wie heute, iſt nicht zutreffend: Zunächſt findet die Verſalzung der Oceane ununter— brochen ſtatt, wogegen es keinen conſtanten Salzverluſt der Oceane giebt. Da wir ferner, wie ich ſchon früher (Bd. VS. 172 u. f.) zeigte, von einer durch Auslaugung der Urge— ſteine entſtandenen Verſalzung der erſten Oceane abſehen müſſen, ſo kommt nur die chemiſche Zerſetzung der Urgeſteinsmineralien in Be— tracht. Aus dem mikroſkopiſch eingeſchloſ— ſenen Apatit wird aber durch mechaniſche Zerreibung kein Chlor frei und die Chlo— ride der Mikrofluida in den Quarzen ſind mechaniſch wenig befreit worden, weil die ſind. Eine intenſivere chemiſche Zerſtörung der Geſteine erfolgte erſt nach Entwickelung Periode, indem erſt die Wurzeln und die die chemiſche Zerſetzung der Geſteine beſchleu— nigten; die Verſalzung der Oceane war mit— hin bis zu Ende der Kohlenperiode relativ Uebrigens wäre es fehlerhaft, die Mäch— gleichen Zeitmeſſer in Vergleich mit poſt— erſtere ſind jedenfalls zum großen Theil aus der Landflora, d. h. nach der carboniſchen pflanzlichen Verweſungsprodukte, der waſſer- retardirende Humus mit ſeinen Humusſäuren, gering und nahm erſt ſpäter potenzirt zu. carboniſchen Schichten anzuwenden, denn Literatur und Kritik. älteſten Geſteine im Allgemeinen weniger zer- rieben, ſondern vorherrſchend kryſtalliniſch tigkeit der älteſten neptuniſchen Schichten als 241 loſen, noch nicht zuſammengeſinterten Kry— ſtallen, die der erkalteten Erdkruſte auflagerten, zuſammengeſchwemmt worden. Noch weniger finde ich es richtig, wenn Hörnes das Zeitmaß der Veränderungen der Organis- men als Argument gegen meine Ausführ— ungen benutzt. Haben wir denn überhaupt die geringſte Erfahrung darüber, wie ſchnell eine Species zur anderen ſich umgeſtaltet? Es ſprechen ſogar manche Thatſachen dafür, daß einige Species derſelben Gattung ſchnell, andere langſamer entſtehen, und dieſe zeitliche Bildung iſt zweifelsohne für jede Art und in allen Gattungen verſchieden. Dieſes geo— logiſche Zeitmaß iſt unendlich viel trügeriſcher, als das der Eroſion und Temperaturabnahme, denn es beruht auf einer Größe x, die noch dazu variabel iſt. Für das Ausſterben der Lepidodendren und Sigillarien ſoll nach Hörnes Tem— peraturabnahme genügt haben; viele Geo— logen aber nehmen an, daß es heute in den wärmſten Erdſtrichen noch ebenſo warm ſei, als zur Kohlenzeit, und andererſeits muß man fragen, weshalb haben ſich denn blos die Farne und Coniferen erhalten? Meine Erklärung iſt dagegen zufriedenſtellend: nur kleine Pflanzen konnten dem ſalziger wer— denden Meere entrinnen und ſich auf dem Continent zu größeren entwickeln. Inſofern verſtehe ich auch die Behauptung von Dr. Krauſe nicht, daß, weil kleine Waſſerfarne ſelten terreſtriſch wurden, dies auch großen Kohlenbäumen möglich geweſen fein ſoll;“) *) Derartiges habe ich nirgends behaup— tet, ſondern nur darauf hingewieſen, daß die heute in mehreren tauſend Arten lebenden und faſt durchweg terreſtriſchen eigentlichen Farne und Lycopodiaceen den erhaltenen Steinkohlenpflanzen ähnlicher organiſirt ſeien, als die von Kuntze denſelben angenäherten Waſſerfarne, die übrigens trotz ihrer ſpeciellen Anpaſſung für das Waſſerleben leicht und in 242 Große, ſchutzmittelreiche Pflanzen ſterben wohl unter Umſtänden aus, verlieren aber ihre Schutzmittel nicht und verändern ſich faſt nie; das Verändern iſt nur kleineren, ſchutzmittelarmen Pflanzen möglich. Noch weniger iſt, wie Krauſe andeutet, das petrefaktiſche Fehlen von kleinen Waſſer— farnen ein Beweis, daß ſie zur Carbonzeit fehlten;?) Azolla iſt z. B. abſolut unfähig zur Petrefaktion, und von Marsilea iſt überhaupt nur ein einziges Sporocarp bisher gefunden worden; auch könnte man manche carboniſche Carpolithen zarteren Waſſerfarnenzuſchreiben. Ferner iſt es ein Irrthum von Krauſe, daß ich Windſtille zur Carbonzeit behauptet habe; nur ruhigere See in Folge mangelnder kalter Zonenwinde befürwortete ich. Meine Angaben über die heutige relativ arme Oceanfauna und das Sargaſſomeer halte ich aufrecht, da ich meinen nüchternen Beobachtungen mehr traue, als den nicht ſelten phantaſtiſchen Reiſeberichten. Die Angaben über die Meeresfauna und das Sargaſſomeer ſind ſehr verſchieden; Gelehrte, die letzteres nie ſahen, haben oft ſolchen Angaben am liebſten geglaubt, die zu ihren Hypotheſen paſſen; dagegen conſtatire ich, daß ich im nordpacifiſchen Sargaſſomeer, obwohl ich es der ganzen Länge nach mitten durchfuhr, i. J. 1874 gar kein Sargaſſum fand und im atlantiſchen Ocean auf meiner Fahrt nach Weſtindien nur vereinzelte, abgeſtorbene, verbleichte Reſte ſah.“*) Lebende ſchwimmende einem hohen Procentſatz auf Gartenland verpflanzt werden können. — Wenn Herr Kuntze glaubt, das plötzliche Ausſterben der Steinkohlenbäume nur durch Verſalzung des Meeres erklären zu können, ſo iſt das eine bloße Petitio prineipii, die doch nicht als Beweismittel gebraucht werden ſollte. K. ) Aber doch noch viel weniger ein Be— weis dafür, daß ſie vorhanden waren. K. ) Vergleiche dagegen J. J. Wild in Literatur und Kritik. Algen und Conchylien giebt es jetzt nicht im eigentlichen Ocean; ſie ſind eine Uferfacies und allenfalls in ſeichten Meeren häufig. Der rein oceaniſche Kohlenkalk zeigt uns dagegen „einen unübertroffenen Reichthum von echten Crinoiden, Blaſtoideen, rugoſen, nicht angewachſenen Korallen und Brachio— poden.““) Daß eine reiche Fauna be— reits im Silur herrſchte, dafür ſpricht, daß außer den Fiſchen, deren ausgeprägten Süß— waſſercharakter — eine Behauptung, die ich dem Handbuch der Zoologie von Carus entnahm — Hörnes nicht direkt wider— legt, bereits über 10 200 anderer Thier- ſpecies bekannt ſind; wie viele mögen außer— dem überhaupt nicht petrefaktionsfähig ge— weſen ſein, — und dieſe enorme oceaniſche Fauna bedingt eine reiche ſchwimmende Flora. In meiner Antwort (Kosmos Bd. IV S. 250 Zeile 4) hat ſich ohne mein Verſchulden ein ſinnſtörender Fehler eingeſchlichen; es muß dort heißen „kalkärmeren“ anſtatt „ärmeren“; dieſe Correktur iſt wichtig, weil Hörnes mir vorwirft, daß ich nicht zu erklären ver- möchte, warum keine Koralle (dies gilt nur für kalkige), keine kalkſchalige Foraminifere, kein Cephalopode und Brachiopode in die Fluß— mündungen hinaufſtieg. Das Meer als Sammelpunkt des waſſerlöslichen Kalkbicar— bonats, ſolange keine Landvegetation exiſtirte, war für kalkbedürftige Thiere eine Lebens— bedingung; die kalkärmeren Flüße waren für dieſe Thiere nicht zur Einwanderung geeignet. — Es exiſtiren für die meiſten Meeresthierfamilien Süßwaſſervertreter, und für die fehlenden, mit Ausnahme der Cepha— lopoden genügte, wie Hörnes zugeſteht, deren geringere Beweglichkeit als Grund der der engliſchen Zeitſchrift Nature vom 16. Ok— tober 1879, S. 578. K. ) H. Credner, Elemente der Geologie, 4. Aufl. S. 462. } E \) — Nichteinwanderung. Aber gerade Cephalo— poden ſind ſtark kalkbedürftige Thiere und außerdem meiſt Raubthiere, die ſich nicht in nahrungsloſe periodiſche Flüſſe verſtiegen haben werden. Daß überhaupt ſo wenig Meeresthiere einwanderten, erklärt ſich dar— aus, daß zur Zeit, als die Flüſſe durch poſt— carboniſche Landvegetation conſtanter wurden, zahlreiche Oceanthiere infolge Verſalzung bereits ausgeſtorben und die Ueberlebenden Salzthiere geworden waren, alſo nicht mehr in Süßwaſſer einwanderten. Wenn Hörnes die carboniſchen Rep— tilien und Amphibien als Landfauna hin— ſtellt, ſo wird er wohl Wenige finden, die ihm zuſtimmen; viel natürlicher iſt es, daß ſie, aus Waſſerthieren entſtanden, ſich noch im carboniſchen Oceanwald aufhielten und auch die neben einem ſalzarmen Ocean mög— liche Litoralflora beſuchten. Eine ſolche Ueber— ſtürzung in den Angriffen von Hörnes gegen meine Hypotheſe läßt ſich noch öfter erkennen. Sein Angriff iſt übrigens zum großen Theil durch ſeine Aufſtellung einer den, nachdem er mir zugeſtanden, daß ich die ältere Flötz- und die H. Credner'ſche legt habe. Nun, ſeine Theorie iſt ebenfalls leicht widerlegbar. Hörnes behauptet die Entſtehung pa— raliſcher Kohlenſchichten mit Meeresthier— zwiſchenlagerung auf folgende Art: Fort— dauernde, ſehr langſame Senkungen, welche flache, überaus reichlich bewachſene und Meeresniveau brachten, worauf durch ſtarke Sedimentbildung mächtiger Ströme die Küſtenſtriche wieder über Waſſer erhöht wurden, und ſich aufs Neue mit Pflanzen koloniſirten; bei dauernder Senkung wieder- holte ſich der Vorgang. Literatur und Kritik. 243 neuen Kohlenbildungstheorie veranlaßt wor- Oscillations-Kohlentheorie genügend wider- Kohlenlager producirende Küſtenſtriche unter {9} Dagegen ift z. B. einzuwenden: 1) daß neben ſalzigen Meeren überhaupt keine aus— gebreitete Litoralſüßſumpfflora möglich iſt; heutzutage exiſtiren ſolche Floren (aber mit Brackwaſſerpflanzen) nur in beſcheidenem Maße an Flußmündungen. Bei perio— diſchen Flüſſen, wie ſie früher nur exiſtirt haben, find die Aeſtuarien zeitweiſe ebenſo ſalzig, wie das Meer, dieſe Süßwaſſer— ſumpfflora iſt alſo abſolut nicht möglich. In den Vereinigten Staaten z. B. ſind die Kohlenfelder über 8000 geographiſche Meilen ausgedehnt, wenn auch nicht überall gleich— mäßig. Entweder war nun das Meer außerhalb dieſer Flora, dann müſſen die zeitweiſen Ueberſchwemmungen des Meeres (wegen der Seethierreſte) kataſtrophenartig geweſen ſein, oder aber das Meer durch— ſchnitt die Sumpfwälder in einzelnen Armen, dann waren ſie inſelartig, alſo ohne ver— ſüßende, größere Flüſſe, mithin bei ſalzigem Meer unmöglich. Die regelmäßigen, para— liſchen Kohlenlager mit oft dünnen Schichten ſchließen überhaupt jede Kataſtrophe aus. 2) Nach G. R. Credner's neueſten Unterſuchungen!) vermindern ſich ſogar bei Senkungen die vorher exiſtirenden Delta, und zwar ſelbſt ſolcher Flüſſe, die reich an Sinkſtoffen ſind; Deltabildung iſt aber blos bei ſich hebenden Ufern erklärbar. 3) Sind die paraliſchen Kohlenſchichten mit meiſt ſehr feinen Sedimenten zwiſchen— lagert, die ſich ſtets nur langſam, des— halb vom Waſſer mit fortgeſchleppt, erſt weiter draußen im Meer ablagern; dabei ſind dieſe Sedimentſchichten oft ſehr dünn und trotzdem ſollten ſie ſich bei Senkung über Waſſer erhoben haben? — Eine Ablager— ung weit von den Flußmündungen muß ſehr dick ſein, um ſich über Waſſer zu erheben. 4) Auf ſehr dünnen Sedimentſchichten *) Kosmos Bd. IV S. 478. Kosmos, III. Jahrg. Heft 9. 2 1 — N 244 kann ſich keine neue, noch dazu oft üppige Flora anſiedeln, ohne dieſe früheren Schichten zu zerſtören. 5) In den Kohlen- und zugeſchwemmten Sedimentſchichten finden ſich nicht ſelten auf— rechte Bäume in ungleichem Niveau, welche dadurch, daß ſie dem urſprünglichen Ver— kohlungsproceß nicht unterlagen, ſondern erſt ſpäter verweſten und ausgefüllt wurden, be— weiſen, daß ſie erſt ſpäter in die noch weichen ſubmarinen Sedimentſchichten aufrecht ein— ſanken, wobei jede Kataſtrophe ausgeſchloſſen iſt. Hörnes und Krauſe!) verſuchen zwar die Sache wie folgt zu erklären: Die Stigmarienrhizome ſtecken in merkwürdiger Regelmäßigkeit in tauben Mergelſchiefern, während die zugehörigen Stämme in die darüber befindliche Kohlenſchicht und theil— weiſe darüber hinausragen; nun ſollen die Pflanzen an Ort und Stelle gewachſen und ſpäter beim Verſinken der Küſte ins Meer von Schlamm eingebettet worden ſein. Aber es iſt unerklärlich, warum nur dieſe Stämme allein dem Verkohlungsproceß entgangen ſein ſollten, und ferner, wie dieſe die Kohlenſchicht oft weit überragenden Stämme beim Verſinken der Küſte ins Meer trotz Brandung und Ueberfluthungen (infolge der Sedimentbildung) ſich hätten auf— recht erhalten können. Noch weniger würde es den biologiſchen Erfahrungen entſprechen, daß lebende Bäume im Sumpf an ihren Standorten aufrecht verſinken oder neben— einander in ungleicher Bodentiefe, anſtatt an der Bodenoberfläche wachſen. Schließlich aber haben Hörnes und Krauſe auch einige Thatſachen überſehen, die ihre Voraus— ſetzung vernichten: Die aufrechten Stämme mit Rhizomen befinden ſich erſtens meiſt in Literatur und Kritik. Sedimentſchichten über einer Kohlenſchicht, alſo keineswegs immer auf den vermeint— lichen urſprünglichen Standorten. Ich könnte noch viele von einander un— abhängige Beweiſe gegen Hörnes' Kohlen— theorie anführen, doch wird dies genügen. Dieſer z. Th. polemiſche Artikel iſt ohnehin länger geworden, als mir lieb iſt. Wie einfach erklärt dagegen meine Hypo— theſe alle die Kohlenbildung betreffenden Thatſachen und wie einfach ſtellt ſie über— haupt die Entwickelung des Pflanzenreiches in Harmonie mit der marin entwickelten älteſten Fauna dar. Dabei erklärt ſie viele Thatſachen genetiſch zum erſten Male. Mögen die Gegner ſich von der althergebrachten Anſicht des ſalzigen Urmeers, das durch keine einzige Thatſache poſitiv bewieſen iſt, befreien und ſich mit der vielleicht befremdlichen, aber biologiſch möglichen, paläozoiſchen, oceaniſchen Wald- und Wieſenflora befreunden, dann werden auch ſie finden, daß durch jeden unvorhergeſehenen Einwand dieſe Lehre nur gekräftigt wird. Dr. Otto Kuntze. Zur Volkskunde. Alte und neue Aufſätze von Felix Liebrecht. Heil bronn, Gebrüder Henniger, 1879. 522 Seiten in 8°. Dieſes Buch enthält eine Sammlung zahlreicher, in vielen Zeitſchriften zerſtreuter Aufſätze über vergleichende Mythologie, Kulturgeſchichte und Volkskunde, für die man dem Verfaſſer aufrichtig dankbar ſein muß. Eine ſolche Sammlung iſt nicht in Parallele zu ſtellen mit den jetzt Mode werdenden Sammlungen von Feuilleton— Artikeln, Plaudereien, Kritiken und anderer ſehr ungleichem Niveau und zweitens nicht leichter Tageswaare, die nichts Beſſeres ver— ſelten nur in den oft mächtigen ſubmarinen diente, als höchſtens einmal geleſen und ) Werden und Vergehen, 2. Aufl. S. 59. dann zu den übrigen gelegt zu werden. —. N N N nn et —— Liebrecht's Aufſätze dagegen beruhen durchweg auf gediegener Quellenforſchung; jeder einzelne enthält eigene Ideen, oftmals Reſultate mühſamer Unterſuchungen. Seine Stärke beſteht in der Verfolgung der My- | then, Sagen, Erzählungen, Gebräuche, Sitten u. ſ. w., auf ihrem Wege von einem Volke zum anderen, aus einer Literatur in die andere. Der Uebergang der „wandern— den Ideen“ aus dem einen Gedanken- und Empfindungskreiſe in den anderen iſt aber niemals ein bloßer paſſiver Waarentransport, ſondern in jedem neuen Mittel wird der Literatur und Kritik. Strahl anders gebrochen, modificirt oder total umgewandelt; Idee und Gefühl, Auf— faſſung und Dichtung erſcheinen als wachſende, entwickelungsfähige, lebendige Weſen, die zu Individualitäten werden, es iſt eine voll- kommene Seelenwanderung, die wir da vor— überziehen ſehen, oder bei tieferer Verſenk— ung ſelbſt mit durchmachen. So theilt ſich das Buch in einzelne große Abſchnitte, deren Artikel über Sagenkunde, vergleichende My— thologie, Religionsgeſchichte, Volksglauben, Sitten, Rechtsalterthümer, Allgemeine Li- teraturgeſchichte, Sprachliches u. |. w. han- deln, aber alle Einzelnheiten durchweht jener darwiniſtiſche Geiſt, das Wachſen und Werden derſelben zu erforſchen und zu ver— folgen. Wir können unſeren Leſern daher dieſes Buch als eine ebenſo anregende Lektüre wie auch als Fundgrube der unerwartetſten Nachweiſe und Ideen-Verknüpfungen, wobei ein ausgiebiges Regiſter den Gebrauch er— leichtert, auf das Wärmſte empfehlen. Auf Einzelnes einzugehen, verbietet der Reich— thum des Ganzen, nur das möchten wir bemerken, daß der einfache Titel viel we— niger verſpricht, als das Buch bringt, eine ſeltene Ausnahme in unſerer, auch was die Bücher betrifft, titelſüchtigen Zeit. 245 Ueber den Einfluß des Darwinis— mus auf unſer ſtaatliches Leben von Dr. Friedrich Pfaff, o. Pro— feſſor an der Univerſität Erlangen. Hei— delberg, Carl Winter's Univerſitäts— Buchhandlung, 1879. Kraft und Stoff, von demſelben. Eben— daſelbſt. Dieſe beiden Heftchen von je ca. 30 Sei ten bilden die erſte und dritte Lieferung eines Unternehmens, welches offenbar den Virchow-Holtzendorff'ſchen Vorträgen nach— gebildet iſt und Concurrenz machen ſoll. Wie ausdrücklich im Proſpekt betont wird, ſoll das liberale Gift durch ein chriſtliches Gegengift unſchädlich gemacht werden, und dieſem Zwecke zu entſprechen, koſtet das Heft zehn Pfennige weniger. Leider müſſen wir erleben, daß der „chriſtliche Standpunkt“ damit inaugurirt wird, daß den Leſern gleich in den erſten Heften von einem der Herausgeber der Sammlung (!) grobe Un— wahrheiten aufgetiſcht und zum Ausgangs— punkte abgeſchmackter Betrachtungen gewählt werden. Auf der dritten Seite des erſt— erwähnten Heftes werden uns als „allgemein bekannte Ausſagen Darwin's“ folgende Sätze vorgeführt: „Alle lebenden Weſen der Jetztzeit wie der Vergangenheit ſtammen in direkter Linie von einem einzigen Weſen ab, das wir uns auf der allerniedrigſten Stufe der Organiſation ſtehend, zu denken haben. Dieſes erſte Lebeweſen ift nicht ge— ſchaffen worden, ſondern nur durch zu fälliges Zuſammentreffen verſchiedener Atome kraft deren Eigenſchaften entſtanden.“ An dieſe angebliche Ausſage Dar— win's wird nun eine höchſt kindiſche Polemik geknüpft, auf die wir kein Intereſſe haben, näher einzugehen. Allein wo ſteht dieſe Ausſage Darwin's? Referent kennt nur eine Stelle der ihm genau bekannten Werke —— 246 Darwin's, die der Verfaſſer hier gemeint haben kann, nämlich die Schlußworte ſeines Literatur und Kritik. auf dieſe Darſtellung eines Anhängers der Werkes über die Entſtehung der Arten, und dieſe Stelle ſagt das gerade Gegen— theil von dem, was der chriſtliche Pro⸗ feſſor daraus macht. Darwin ſagt (Ent ſtehung der Arten, fünfte deutſche Auflage, Schluß:) „Es iſt wahrlich eine großartige Anſicht, daß der Schöpfer den Keim alles Lebens, das uns umgiebt, nur wenigen oder nur einer einzigen Art eingehaucht hat, und daß, während unſer Planet den ſtrengen Geſetzen der Schwerkraft folgend, ſich im Kreiſe ſchwingt, aus ſo einfachem Anfange ſich eine endloſe Reihe der ſchönſten und wundervollſten Formen entwickelt hat und noch entwickelt.“ Die Redaktion, die mit ſolchen Fälſchungen debütirt, erſcheint mir nicht ſehr chriſtlich. K. Die Entwickelung der modernen Chemie. Ein Anſchluß an die Schrift: „Grundlage der modernen Chemie“ von Albert Rau, Braunſchweig, Friedrich Vieweg u. Sohn, 1879. 170 Seiten in 8°, Dieſes Buch knüpft eine ſo herbe Kritik der modernen Chemie an die Darlegung ihrer hiſtoriſchen Entwickelung, daß man glauben könnte, Prof. Kolbe in Leipzig habe ſie geſchrieben. Wir machen unſere Leſer, ohne für oder wider Partei zu nehmen, „klaſſiſchen“ Chemie aufmerkſam; ſie iſt allgemein verſtändlich gehalten und an wei— tere Kreiſe gerichtet. Ueber die Entwickelung der Er— kenntniß. Rede an die Studirenden beim Antritte des Rektorates, gehalten von Dr. Carl von Voit, Profeſſor der Phyſiologie. — München 1879, M. Rieger'ſche Univerſitätsbuchhandlung (Guſtav Himmer). Die Rede ſucht die natürlichen Mittel und Schranken der Erkenntniß darzulegen, ſelbſtverſtändlich ohne auf die ſubtilen Pro— bleme einzugehen, welche das philoſophiſche Fachpublicum heute mehr als je in Athem halten. Das Thema iſt offenbar für eine Rektoratsrede ſehr gut gewählt, aber Re— ferent iſt nicht ganz ſicher, ob er nicht be— reits gedankenreichere Behandlungen deſſelben anderswo geleſen hat. Indem der Red— ner die Erkenntnißbegierde als den aus— zeichnendſten Charakter des Menſchen dar— ſtellt und die religiöſe, erhebende und ſitt— lichende Kraft der hingebenden Forſchung hervorhebt, gewinnen ſeine Darlegungen gegen den Schluß einen wärmeren Puls— ſchlag, und würden ſich zu einer zünden— den Wirkung ſteigern, wenn er nicht mit einem ziemlich matten Spruche Platon's das Katheder verließe. Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig. Eutſtehungsgeſchichte der Vorkellung ‚Seele. Von Prof. Dr. Fritz Schulte. Zie Geſchichte der Pſychologie iſt die Geſchichte der Vor— welche ſich die Menſchen über das „Seeliſche“ zu verſchiedenen Zeiten gebil— det haben. In den herkömmlichen Lehr— büchern der Pſychologie beginnt dieſe Ge— | ſchichte gewöhnlich mit den Speculationen der griechiſchen Philoſophen. Aber offen— bar war vor dem Auftreten dieſer Denker ſchon eine ungeheuere Entwickelungsperiode verlaufen, in der die Menſchheit bereits eine Fülle von eigenthümlichen Vorſtellun— gen über die Seele beſaß; der auf ge— ſchriebene Documente ſich ſtützenden Ge— ſchichte ging auch hier ſchon eine „Vor— geſchichte“ voran, und es iſt ohne Zweifel eine Pflicht der „vergleichenden Psychologie“, gerade dieſer Vorgeſchichte des Seeliſchen ihr beſonderes Augenmerk zuzuwenden, da ſich vermuthen läßt, daß genau wie auf dem morphologiſchen Gebiet, ſo auch hier auf dem pfychologiſchen aus der Erkenntniß ſich das Verſtändniß der ſpäteren, compli— cirteren wird gewinnen laſſen. Die paläo— pſychologiſchen Schichten, aus denen wir die „Vorgeſchichte der Vorſtellungen von der Seele“ herausgraben, ſind vorzugsweiſe die Anſchauungen des Naturmenſchen, dann die als „Ueberlebſel“ zu betrachtenden aber— gläubiſchen Vorſtellungen, die wir noch bei Kulturnationen vorfinden, und endlich die im Lichte des „biogenetiſchen“, oder wie wir es hier nennen wollen, des „pſychogenetiſchen“ Grundgeſetzes zu betrachtenden und zum Vergleich herbeizuziehenden Erſcheinungen in der pſychiſchen Entwickelung des Kindes. Höchſt anerkennenswerthe Vorarbeiten ſind auf dieſem Gebiete beſonders von Baſtian, Lubbock und Tylor geliefert worden, in— ſofern dieſelben ein reiches Material zu— ſammengetragen haben; doch glaube ich (allerdings durchaus auf den Schultern dieſer Vorgänger ſtehend) in der Bearbeit— ung und Erklärung dieſes Materials einige Schritte weiter gethan zu haben. Ich muß mich an dieſer Stelle allerdings nur auf | der urſprünglichen, einfachſten Erſcheinungen Kosmos, III. Jahrg. Heft 10. 25 die Darſtellung des allgemeinen Entwidel- | ungsganges beſchränken; alles zur Sache gehörige Material hoffe ich in nicht allzu langer Friſt in einer beſonderen Schrift über den Gegenſtand mittheilen zu können. Wenn wir betrachten, wie viel ent— wickelter unſere wiſſenſchaftlichen Vorſtellun— gen über das Seeliſche ſind, als z. B. die platoniſchen oder ariſtoteliſchen, und wie, je weiter wir geſchichtlich rückwärts ſchreiten, die pſychologiſchen Vorſtellungen immer un— wiſſenſchaftlicher, unvollkommener und dürf— tiger ſich geſtalten — ſollten wir da nicht auf die Vermuthung kommen dürfen, daß es eine Zeit gegeben, wo die Vorſtellungen des Menſchen über fein Seeliſches — 0 geweſen ſeien, d. h. wo er, natürlich wohl im Beſitz ſeiner pſychiſchen Kräfte, doch über das Weſen derſelben, ihre Eigenthüm— lichkeiten und ihre Unterſchiede von anderen Naturerſcheinungen ſich noch keine Gedanken gemacht, ſeinen Beſitz ſich noch nicht zum Bewußtſein gebracht habe, gerade wie ja auch die Kinder und Thiere im vollen Beſitz und Genuß ihrer ſeeliſchen Fähigkeiten wohl mit ihnen die Dinge, nicht aber dieſe Fähig— keiten ſelbſt zum Objekt ihres Reflektirens machen? Sollten wir alſo nicht auf eine Zeit ſchließen dürfen, wo der Menſch die Vorſtellung „Seele“, alſo auch alles, was mit ihr zuſammenhängt, noch nicht in ſeinem primitiven Denken gebildet habe? Die Frage muß entſchieden mit Ja beantwortet werden. Auf das Engſte find alle religiöſen Vorſtellungen mit der Vorſtellung „Seele“ verknüpft; ja, die urſprüngliche Mythologie | entwickelt ſich ſogar faſt in allen ihren Be⸗ ſtandtheilen aus dieſer Vorſtellung oder gruppirt ſich wenigſtens um dieſelbe als um ihren Mittelpunkt. Wo ſich alſo bei einem Menſchencomplex ſchon Religion vor— findet, kann man faſt mit mathematiſcher Theologen Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Vorſtellung „Seele“. Gewißheit darauf rechnen, daß ſich bei ihm auch bereits irgend eine Vorſtellung über das Seeliſche gebildet habe; — umgekehrt, wo ſich bei einem Menſchencomplex Religion noch nicht vorfindet, kann man mit höchſter Wahrſcheinlichkeit auch darauf ſchließen, daß ſich die Vorſtellung „Seele“ noch nicht in ſeinem Beſitz befinde. Dogmatiker behaup— ten zwar, die religiöſen Vorſtellungen ſeien „angeborene Ideen“, alſo a priori in jedem Menſchen; indeſſen es iſt heute ſchon nicht mehr nöthig, über dieſe Theſe viel Worte zu verlieren. Daß die höheren Schichtun— gen der Religion, nämlich Polytheismus, Monotheismus und Pantheismus ſich auf niedrigſten Entwickelungsſtufen bei wilden Stämmen thatſächlich nicht vorgefunden ha— ben, iſt bekannt; aber ſelbſt die Keimformen aller Religion, Fetiſchismus und Animis— mus, haben eifrige Beobachter, Miſſionare, die mit bewußter Abſicht auf die Entdeck— ung religiöſer Grundvorſtellungen bei wil— den Stämmen ausgingen, vielfach nach ihrem eigenen Eingeſtändniß zu ihrem großen Er— ſtaunen nicht conſtatiren können. Auch der Unſterblichkeitsglaube fehlte häufig genug, woraus man am eheſten (wenn auch nicht immer) auf die Abweſenheit der Vorſtell— ung „Seele“ ſchließen kann; ja daß dieſe letztere bei einem Stamme wirklich noch nicht vorhanden war, wird uns von einem lange Jahre hindurch beobachtenden Miſſio— nar ausdrücklich beſtätigt. Aus der reichen Fülle von Berichten hinſichtlich dieſes noch religionsloſen Urzuſtandes, wie beſonders Lubbock ſie geſammelt hat, wollen wir hier nur einige charakteriſtiſche mittheilen. Der Pater Dobritzhoffer ſagt: „Die leugnen einſtimmig, daß ein Menſch bei geſunder Vernunft auf die Dauer ohne Kenntniß von Gott bleiben könne ohne verbrecheriſche Abſicht. Mit Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Vorſtellung „Seele“. der Univerſität Cordoba, wo ich den zu Gratz in Steiermark begonnenen vierjähri— gen Curſus der Theologie beendigte. Aber wie groß war mein Erſtaunen, als ich nach einer Abiponen-Colonie abging und nun fand, daß die geſammte Sprache dieſer Wilden nicht ein einziges Wort enthält, welches Gott oder Gottheit bedeutet. nöthig, das ſpaniſche Wort für Gott zu entleihen und in den Katechismus zu ſchrei— ben: Dios eenam caogerik Gott der Schöpfer der Dinge.“ Capitän Roß er— zählt von den Eskimos: „Ervick war das Haupt der erſten Rotte, die an Bord kam. Wir hielten ihn für die geeignetſte Perſon, ihn hinſichtlich der Religion zu befragen. Ich veranlaßte Sacheuſe, ihn zu fragen, ob er irgend eine Kenntniß von einem höchſten Eskimoſprache gebräuchliche Wort verſucht was er meinte. Es wurde beſtimmt feſt— geſtellt, daß er weder Sonne, Mond und lebendes Weſen verehrte. Als er gefragt wurde, was Sonne und Mond wären, ſagte er, ‚Licht zu geben“. Ahnung davon, wie er ins Daſein gekom— ſagte, wenn er ſtürbe, würde er in die Erde gelegt. Als wir uns völlig über— einem wohlthätigen höchſten Weſen hatte, an ein böſes Weſen glaube; aber es konnte ihm nicht verſtändlich gemacht werden, was das heißen ſollte.“ Bik, *) „daß die Arafuras durchaus keine tion, p. 140. . Wärme vertheidigte ich dieſe Meinung auf Religion beſitzen. Um ſie in der Religion zu unterrichten, war es Weſen hätte; aber nachdem er jedes in der hatte, konnte er ihm nicht verſtändlich machen, Sterne, noch irgend ein Bild oder ein Er hatte keine men, oder von einem zukünftigen Leben; er zeugt hatten, daß er keine Ahnung von ließ ich durch Sacheuſe unterſuchen, ob er „Es iſt klar,“ ſagt *) S. Lubbock, Origin of civilisa- | 249 Von der Unſterblichkeit der Seele haben ſie nicht die geringſte Vor— ſtellung. Auf alle meine Erkundigungen über dieſen Gegenſtand antworteten ſie: Kein Arafura iſt nach ſeinem Tode jemals zu uns zurückgekehrt, daher wiſſen wir nichts von einem zukünftigen Daſein, und dies iſt das erſte Mal, daß wir davon gehört haben. Ihr Gedanke war: Mati, mati, sudah d. i. wenn Du todt biſt, iſt es aus mit Dir.“ Um ſich völlig zu überzeugen, ob ſie wirklich keine Gottesvorſtellung hätten, fragte Bik ſie, wen ſie in Gefahr und Noth um Hilfe anriefen. Der Aelteſte von ihnen fragte die Anderen und antwortete dann, ſie wüßten nicht, wen ſie anrufen ſollten, aber ſie bäten ihn, es ihnen mit— zutheilen, wenn er es wüßte. Der ehr— würdige Miſſionar Baegert berichtet von den californiſchen Stämmen, unter denen er jahrelang lebte: „Ich ſtellte fleißige Nach— forſchungen bei den Stämmen an, unter welchen ich lebte, um mich zu vergewiſſern, ob ſie irgend eine Vorſtellung von Gott, dem zukünftigen Leben und von ihren Seelen hätten, aber ich konnte nicht die geringſte Spur einer ſolchen Kenntniß ent— decken. Ihre Sprache hatte kein Wort für Gott und Seele.“ In der That hat es alſo einen Ent— wickelungszuſtand gegeben, wo die Vorſtell— ung „Seele“ noch nicht gebildet war, und es erhebt ſich demnach die Frage: Wie iſt dieſe Vorſtellung urſprüng⸗ lich bei dem Naturmenſchen ent— ſtanden? Hier iſt nun dreierlei hinſichtlich des intellektuellen Zuſtandes des Naturmenſchen zum Verſtändniß der folgenden Entwickel— ung vorauszuſchicken. Erſtens muß man im Auge behalten, daß der „Wilde“ noch nicht „Denkmenſch“, ſondern „Sinnenmenſch“ | | — Re 250 iſt. Begriffliche Abſtraktionen und meta— phyſiſche Speculationen ſind noch nicht ſeine Sache. So wird auch die Vorſtellung „Seele“ nicht auf Grund begrifflich-abſtrakter Ueberlegungen ihm entſtanden, vielmehr aus ganz äußerlichen, ſinnlichen Beobachtungen und Erfahrungen hervorgewachſen ſein. Zweitens und abermals auf Grund feines ganz rohen und concret-anſchaulichen Auffaſſens wird, wenn er die Vorſtellung „Seele“ gebildet hat, dieſelbe bei ihm noch nicht den Charakter eines ganz ſublimirten, ſpiritualiſtiſchen, immateriellen Weſens be— ſitzen, ſie wird vielmehr ganz roh, naiv ſinnlich und grob materiell ſich geſtalten müſſen. Und drittens iſt nicht zu ver— geſſen, daß ſeine Naturauffaſſung wie die des Kindes die ſogen. anthropopa— thiſche iſt, d. h. daß, da er die ſpecifiſchen Qualitäten und Unterſchiede der einzelnen Naturdinge nicht genau kennt, er unwill- kürlich feine eigenen, ihm vor allen bekann- ten inneren Qualitäten (Empfinden, Fühlen, Vorſtellen, Wollen) auf alle übrigen Objekte überträgt und ſie ſomit „belebt wie er ſelber“ vorſtellt. als die rein äußerliche Geſtaltung ſeiner (äußeren und inneren) Theile, und was dieſelben ganz oberflächlich an ſinnlich wahr— nehmbaren Erſcheinungen zeigen. Der ana— tomiſche oder gar phyſiologiſche Zuſammen— hang aller dieſer Theile, ihre Funktion und Beziehung unter einander ſind ihm ſelbſt— verſtändlich ſo gut wie gänzlich unbekannt. Denn wenn auch beim Verzehren eines Thieres oder unter Umſtänden eines er- ſchlagenen Feindes die inneren Theile des Körpers in ſeine Wahrnehmung eintreten, ſo iſt doch zweifellos dabei ſein Intereſſe | auf alles mehr als auf anatomiſch-phyſio- und Klopfen. Der Naturmenſch kennt von dem menſch⸗ lichen reſp. thieriſchen Körper weiter nichts, Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Vorſtellung „Seele“. logiſche Unterſuchungen gerichtet. So lange der Leib unverletzt und ſchmerzlos iſt, be— merkt er (abgeſehen von den inneren Em— pfindungen wie Hunger und Durſt ꝛc.) eben nichts anderes an ihm, als was ſeine un— bewaffneten Sinne wahrnehmen können. Da iſt zunächſt die Wärme auffällig, welche den ganzen Körper durchdringt und als warmer Hauch aus Mund und Naſe (manchmal ſogar ſichtbar) ausſtrömt. Aber die Oberfläche des Körpers zeigt noch einige Erſcheinungen, die auch dem ganz äußer— lich beobachtenden, mit der Hand über die Haut hinfahrenden Betrachter auffallen müſſen. Bewegungserſcheinungen, die ohne den Willen des Menſchen, ohne abſichtliche Muskelcontraktionen zu Tage träten, zeigt die Haut über ihre ganze Fläche hin für gewöhnlich nicht. Um ſo mehr muß es aber gerade deshalb auffallen, daß an einzelnen beſtimmten Punkten eine ganz eigenthümliche, vom Willen unabhän— gige, alſo ſcheinbar ſelbſtſtändige Bewegung vorhanden iſt, ein ſonderbares Hüpfen und Springen, ein fühl- und hörbares Pochen Das ſind alle die Stellen, wo die Pulſe ſchlagen, am Arme, an den Schläfen, am Hals und beſonders und am ſtärkſten am Herzen. Iſt der Naturmenſch in ſtarker Bewegung geweſen, wie auf der Jagd, nach dem Verfolgen des flüchtigen Wildes im raſchen Lauf, ſo fühlt der Athemloſe dieſe Klopfgeiſter um ſo lauter und gewaltſamer ihr Geſchäft betreiben. Uns ſind dieſe Erſcheinungen des Pul— ſirens nicht beſonders auffällig, da wir das Geheimniß des Blutumlaufes von Har— vey, freilich auch erſt vor verhältnißmäßig kurzer Zeit, erfahren haben, aber der Wilde weiß nicht, wodurch das Pulſiren bewirkt wird. Nun ſtellt er aber alles, deſſen wirkliches Weſen er nicht kennt, unwillkür— lich anthropopatiſch lebendig vor. Die be- weglich hüpfenden Pulſe, die an beſonderen Stellen ſitzen, die offenbar auch nur fo weit reichen, als man ſie fühlen kann, ſind alſo für den ganz dem ſinnlichen Augen— ſchein folgenden Wilden begrenzte Weſen, ſelbſtſtändige Weſen, lebendige Weſen, die im Körper ihren Sitz haben. Nun ſterbe der Menſch! Der Tod, kann man ſagen, hat die Seelen in die Welt gebracht. Welche Erſcheinungen zeigt der Todte? Was für innere organiſche Veränderungen ſtattgefunden haben, danach wird hier nicht gefragt; es wird nur be— merkt, was ganz äußerlich, ſinnlich in die Augen ſpringt. Des Todten Leib iſt der äußeren Form nach faſt ganz unverändert, ſeine Geſtalt iſt dieſelbe geblieben. Aber er bewegt ſich nicht mehr, er ſieht und hört und ſpricht nicht, er ißt nicht und läuft nicht. Aber er war ſonſt warm, jetzt iſt er eiſig kalt. Sonſt hüpften ſeine Pulſe; ſie ſind jetzt verſchwunden. noch ein drittes, das jetzt erſt recht auf— fällig wird: ſonſt kam ein warmer Hauch aus Mund und Naſe — auch der iſt fort. Dem Todten fehlen Pulſe, Wärme und Athem; ſchroff unterſcheidet ſich da— durch der Geſtorbene von dem Lebenden. Es fehlen Pulſe, Athem und Wärme, | zugleich fehlen alle Lebens- und TIhätigfeits- | erſcheinungen, die man ehemals an dem Lebenden bemerkte. Wo Pulsſchlag und warmer Athem iſt, iſt Leben und Beweg— lichkeit; wenn Pulsſchlag und warmer Athem verſchwinden, verſchwindet auch Leben und Beweglichkeit. Alſo ſind offenbar Pulsſchlag und warmer Athem dasjenige, wovon alle Lebenserſcheinungen unmittelbar abhängen; fie find, da mit ihnen das Leben kommt. und geht, das Leben ſelbſt; ſie ſind die eigentlichen belebenden, alſo ſelbſt lebendigen Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Vorſtellung „Seele“. Und 251 Weſen im Körper; ſie bewirkten das Em— pfinden und Wollen, ſie ſind alſo die eigent— lichen empfindenden, wollenden, handelnden Weſen im Leibe, ſie ſind — Seelen. Die Seele iſt hier zum erſten Male wirklich — entdeckt. In dieſer ganz erfahrungsmä— ßigen ſinnlichen Erſcheinung, daß dem Todten Puls und Athem fehlt, daß demzufolge dieſe beiden als die den Körper belebenden Weſen angeſehen werden, in ihr liegt der erſte Urſprung der Seelenvorſtellung, und alle weiteren verfeinerten Auffaſſungen bis hin zur immateriellen Seele und zum vodg ſind nichts weiter als Fortbildungen dieſer urſprünglichen Anſchauung, welcher dieſer hüpfende Puls, dieſer fühlbare, ſichtbare, ſtoffliche Athen in feiner ganz concreten Er— ſcheinung und nicht etwa blos in ſymboli— ſirender Deutung die Seelen ſind. Hier iſt der Punkt blosgelegt, wo aus der ſinnlichen Erſcheinungswelt auf Grund rein erfahr— ungsmäßiger Wahrnehmungen und Beob— achtungen der große Fehlſchluß gemacht wird, aus dem dann die ganze fernere, große Mythologie des Pſychiſchen herausgeſponnen wird, von ihren erſten grobſinnlichen For— men an, bis hin zu ihren feinſten über— ſmnlichen Geſtaltungen. Erſt dem kritiſirenden Bewußtſein wird das rowrov Wevdos klar, welches von dem kindlichen Bewußtſeinszuſtand des Na— turmenſchen ohne Weiteres erzeugt und für richtig befunden wird. Der Fehlſchluß liegt darin, daß dasjenige, welches nur ein Symptom unter anderen, eine äußerlich in die Augen fallende Wirkung iſt, für die einzige innere Urſache gehalten, daß pars pro toto genommen, daß Bedingung und wirkender Grund, daß Erkenntnißgrund und Sachgrund verwechſelt werden. Nicht aber, als ob das Bewußtſein des Natur- menſchen nicht ſo vorzuſtellen brauchte, als 252 ob ihm noch viele andere Erklärungsweiſen zu Gebote ſtänden — nein, es muß ſo vorſtellen, es muß mit Nothwendigkeit zu dieſem Fehlſchluß kommen, denn es kann natür— lich nur diejenigen Vorſtellungen in urſäch— lichen Zuſammenhang bringen, welche es hat. Es beſitzt aber noch nicht die leiſeſte Ahnung von den Verrichtungen und Wechſelbezieh— ungen der inneren Organe und Prozeſſe; es treibt ja weder Anatomie noch Phyſio— logie noch Pathologie. Es kennt einerſeits den lebendigen Menſchen nur in ſeiner ganz äußerlichen Erſcheinung mit Pulſen und warmem Athem, andererſeits den lebloſen Menſchen ohne Pulſe und Athem. Nur dieſe Unterſcheidungszeichen zwiſchen Tod und Leben kennt es; nur dieſe kann es alſo in urſächliche Beziehung ſetzen. Hier Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Vorſtellung „Seele“. aus getrennt ſind; daher die Gleichmäßig— keit auch der religiöſen Anſchauungen z. B. der Vorſtellung von Göttern, welche Vor— | „ ‚ . ſtellung nur eine Weiterentwickelung der urſprünglichen Seelenvorſtellung iſt, wie wir ſpäter näher ausführen werden. Dieſer Gleich— mäßigkeit liegen weder angeborne Ideen zu Grunde, noch iſt es nöthig, eine allmähliche geſchichtliche Ueberlieferung von einem Volke — zum anderen anzunehmen. Da die Natur in ihren großen Zügen auf Erden durch— ſchnittlich allenthalben dieſelbe iſt und ebenſo das Grundweſen des Menſchen allenthalben daſſelbe iſt, jo müſſen auch die verſchiede— nen und durch Raum und Zeit geſchiedenen Menſchen, dieſelben Erſcheinungen mit dem— ſelben Bewußtſein und Willen betrachtend, liegt der Fehler, den es begeht, aber es be geht ihn mit Nothwendigkeit, geſtützt auf ſeine fünf Sinne und die deutlich vorliegen— den Erfahrungsthatſachen. Daher wird auch die Seelenvorſtellung ſich bei den Menſchen ſehr bald und ſehr früh haben bilden müſſen, denn die Erſcheinung des Todes und des im Tode fehlenden Athems und Pulſes tritt einerſeits bei allen gleichmäßig ein, andererſeits fällt aber auch kein Ereigniß mehr auf und zwingt mehr zu ſtaunender Betrachtung als gerade der Tod, weil er den ſtärkſten Trieb des Menſchen, den Da— ſeinsdrang, am ſtärkſten beeinträchtigt und den Menſchen am empfindlichſten anpackt. Gleich vergewaltigend wirkt dies Ereigniß bei Allen, gleich anregend zur Betrachtung iſt es mithin bei Allen; auch die Erſcheinung ſelbſt iſt die gleiche bei Allen; bei Allen muß mithin die Betrachtung auch das gleiche Er— gebniß liefern, da ja auch die Betrachten— den von gleichem Weſen ſind. Daher alſo die Gleichmäßigkeit dieſer Vorſtellung bei Menſchen, die räumlich und zeitlich durch— im Großen und Ganzen dieſelben Grund— vorſtellungen nothwendig entwickeln. Steine, Feuer, Waſſer, Wolken, Mond, Sonne, Sterne, Tod giebt es überall, wo Menſchen ſind. Daher giebt es auch bei allen Men— ſchen die dem Weſen nach gleichen, in Be— ziehung zu jenen Naturphänomenen ſtehenden religiöſen Anſchauungen, denn dieſe ſind eben nichts anderes, als das Ergebniß, welches das unentwickelte Bewußtſein des Naturmenſchen aus der unkritiſchen Auf— faſſung ſeiner Erfahrungswelt gewinnt. Abweichend ſind dieſe religiöſen Vorſtell— ungen nur ihrer äußeren Einkleidung nach, ſoweit nämlich, als unter verſchiedenen Brei— tengraden die Natur eine verſchiedene iſt. Weil der Eskimo im Eiſe wohnt, der Hindu in der zauberiſchen Pracht ſeines Tropenlandes, beide alſo aus ihrer Erfahr— ungswelt, der äußeren Form nach, ver— ſchiedene Vorſtellungen einſaugen, ſo iſt bei beiden der Seelenort ſehr verſchieden aus— geputzt; einen Seelenort aber haben Beide, weil Beide Menſchen ſind und ſterben. Pulſe und Athem werden zuerſt als Seelen gefaßt. Wir werden jetzt zeigen, wie die Vorſtellung von der Pulsſeele ſich pſychologiſch ſo weiter entwickelt, daß zuletzt nur noch der Athem als Seele gefaßt wird, der Puls dagegen ſeine Bedeutung als Seele verliert. Selbſtverſtändlich bildet der Wilde dieſe ſeine urſprüngliche Vorſtellung nur auf Grund rein ſinnlicher Wahrnehmungen und erfahrungsmäßig fort; metaphyſiſche Spe— culationen kommen dabei gar nicht in Betracht. Unter den Pulſen zeichnet ſich vor allen der Herzpuls aus, ſowohl durch ſein ſtärkeres Schlagen, als auch durch ſeine Lage im Mittelpunkte des Körpers. Er wird deshalb auch, wie z. B. bei den Kariben, bereits unter den Pulsſeelen als die bedeu— tendſte derſelben angeſehen. Wenn jetzt der Wilde ſeine Aufmerkſamkeit auch den inne— ren Organen des Leibes zuwendet, etwa dann, wenn er ſeinen Feind erſchlagen hat und ihn zum Mahle zuzubereiten beginnt, ſo findet er an den Stellen, wo er die Pulſe klopfen fühlte, im Innern keine ent— ſprechenden abgegrenzten Körpertheile, auf die er das Klopfen zurückführen könnte; aber da, wo er den Herzpuls fühlte, findet er im Innern in der That ein ſolches ſelbſt— ſtändiges Organ, das Herz ſelbſt, ja er ſieht es noch eine Zeit lang zucken und ſchlagen, ſelbſt wenn er es der Bruſthöhle entriſſen hat, und der übrige Körper ſchon regungslos daliegt. Was iſt ſelbſtverſtänd— licher, als daß er gerade dieſem Pulſe, dem Herzen ſelbſt, d. h. dieſem materiellen Fleiſch— muskel, die Beſchaffenheit, das Belebende, die Seele zu ſein, zuſchreibt. So findet ſich denn, daß alle die Redewendungen, in denen bei uns das Herz nur noch ſymboliſch eine Rolle ſpielt, urſprünglich in Wahrheit vom fleiſchlichen Herzen als dem Sitze der Ge— fühle, ja des Denkens (wie bei den Aegyp— 1 d. h. von dem Herzen als Seele 53 Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Vorſtellung „Seele“. 27 DD gemeint waren, und nicht blos californiſchen Indianern war das Herz die Seele, ſondern ſogar noch die Stoiker und Alexander von Aphrodiſias betrachteten das Herz als Sitz der Vernunft. Aber es wird noch eine weitere und etwas tiefer gehende Entdeckung gemacht. Das Herz, wenn es nicht gewaltſam aus dem Körper herausgeriſſen iſt, beginnt matter und matter zu ſchlagen und ſtockt endlich ganz, und alle Lebenserſcheinungen verſchwinden in dem Maße, als nach und nach das Blut aus der dem Körper geſchlagenen Wunde ausſtrömt. Nicht alſo das Herz iſt der letzte Grund des Lebens, ſondern das Blut — das Blut in ſeiner rein ſinnlichen ſtofflichen Erſcheinung — iſt Seele. Urſprünglich war es durchaus nicht bildlich gemeint, wenn das vergoſſene Blut „nach Rache ſchrie“; nicht blos den Papuas gilt die Seele als Blut, ſondern auch Moſes befiehlt (5. Moſ. 12, 23.): „Allein merke, daß du das Blut nicht eſſeſt, denn das Blut iſt die Seele, darum ſollſt du die Seele nicht mit dem Fleiſche eſſen.“ Nicht nur dem Empedokles iſt das r rreginaodıov, das Blut in der Nähe des Herzens, TO vonue, der Sitz des Denkens, ſondern auch Ariſtoteles berichtet: „70 ale Yaoi rıves eivaı nv iᷓπ].ᷓ. (De anima. 2. 405 b. 4. ed. Berol.) Ja, ſogar Harvey ſagt noch: Habet sanguis profeeto in se animam primo et prin- eipaliter non vegetativam, sed et sen- sitivam etiam et motivam, permanet quo- quoversum et ubique praesens est, eodem- que ablato, anima quoque ipsa statim tollitur, adeo ut sanguis ab anima nihil diserepare videatur vel saltem substantia, eujus actus sit, anima aestimari debeat.“ Neben den Pulſen, dem Herzen, dem Blut, gilt dem Naturmenſchen natürlich auch 254 ſtets der Athem noch als Seele, da, wie wir ſpäter genauer zeigen werden, die ur— ſprüngliche Vorſtellung keineswegs die iſt, daß der Menſch nur eine, ſondern daß er mehrere Seelen habe. Gerade die Vergleichung des Blutes mit dem Athem aber führt dahin, endlich allein dieſen letzteren als Seele zu betrachten. Die Athemſeele iſt warmer Hauch. Wenn der warme, durch Naſe und Mund aus— und eingehende Hauch den Körper verläßt, wird dieſer ſtarr und kalt. Aber auch das Blut erſtarrt und gerinnt, wenn der warme, ſichtbar davon aufſteigende Hauch daraus ent— weicht. Alſo die Wärme, welche das Blut und mit ihm den ganzen Körper durchdringt, iſt das Belebende. Wie aber kommt die Wärme in den Körper? Offen— bar in der Form des aus- und einwandeln— den warmen Athems, denn iſt dieſer ent— flohen, tritt Erſtarrung und Tod ein. Der Athem alſo, d. h. dieſer ganz ſtoffliche, deut— lich fühlbare, ja manchmal auch ſichtbare „Vogel Luft“, wie indiſche Sprüche die Seele nennen, iſt — die Seele. Dieſes letztere iſt bekannt genug, als daß ich hier die Unmaſſe von Belegen dafür zu geben brauchte; es genügt daran zu erinnern, daß im Sanskrit, Griechiſchen, Lateiniſchen, Go— thiſchen und all deren Tochterſprachen, ebenſo in den ſlaviſchen Idiomen wie im Hebräiſchen die Wörter für Seele ſämmtlich urſprüng— lich die Bedeutung „Hauch“, „Athem“, „Luft“, „wehendes Element“ haben. Die primitive Seelenvorſtellung durch— läuft alſo folgende Entwickelungsſtufen: Seelen ſind 1) Baer] 2) Herz (und Athen 3) Blut | 4) der Athem allein. Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Vorſtellung „Seele“. Wenn man das ganze, ſehr umfängliche empiriſche Material überſchaut, welches der gegebenen Entwickelung zu Grunde liegt, hier aber bei Seite gelaſſen werden muß, ſo könnte man ſelbſt zu der Meinung ge— führt werden, daß uranfänglich Pulſe, Herz und Blut ſogar allein für ſich ohne den Athem als Seelen gefaßt wurden, und daß dann erſt der Athem in ſeine Geltung als Seele eintrat. Denn bei der Vergleichung der Belege findet ſich der Athem zwar ſchon zuſammen mit dem Blut als Seele bezeich— net, doch nicht zuſammen mit der Puls- und Herzſeele. Man könnte ferner meinen, daß jener vorgeführte Entwidelungsgang vom Puls zum Herz, zum Blut, zum Athem nicht nothwendig von allen Naturmenſchen durch— laufen ſei, ſondern daß des Einen Auf— merkſamkeit durch irgend einen Zufall mehr auf das Blut, des Anderen mehr auf das Herz, des Dritten gleich auf den Athem hin— gelenkt wäre. Doch bleibt ſowohl auf Grund des Geſetzes, daß alle Vorſtellungs— entwickelung vom Einfachen allmählich zum Zuſammengeſetzten fortſchreitet, als auch auf Grund des für unſere Frage vorliegenden reichen empiriſchen Materials ſoviel feſtſtehen, daß die Menſchheit in ihrer Geſammtheit den ſkizzirten Entwickelungsgang durchlaufen hat. Denn ich glaube auch bei genauer Durchforſchung des Materials zu finden, daß im Durchſchnitt die Völker, die den Athem allein als Seelen betrachten, ihrer Bildung nach ſchon bei weitem höher ſtehen (weshalb ſie auch bald zur Spiritualiſirung des urſprünglich materiell gefaßten spiritus übergehen), als die, welche in dem Blut die Seele ſehen, dieſe aber wiederum höher als jene, welche Herz und Puls für Seelen halten. Zu den vier bisher entwickelten Ur— vorſtellungen von der Seele tritt nun end— Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Vorſtellung „Seele“. lich als fünfte noch eine hüchſt eigenthümliche hinzu, nämlich die, daß bei einer großen Zahl von Völkern bis in die neuere Zeit hinein der Schatten des Menſchen als Seele gilt. Erklärlich wird dies, wenn man ſich überlegt, daß für den Naturmenſchen wie für das Kind der Schatten in der That eine ganz andere Bedeutung hat als für uns, da ſeine Entſtehung ihm anfangs ohne Zweifel ſehr räthſelhaft erſcheinen muß. Denn die Entdeckung des Zuſammenhanges zwiſchen Licht und Schatten, ſo nahe ſie uns zu liegen ſcheint, erfordert doch ſchon einen Induktionsſchluß, der, ſo ſehr er uns auf der Hand zu liegen ſcheint, von dem unentwickelten Bewußtſein, wie man bei Kindern beobachten kann, nicht ſo leicht voll— zogen wird, zumal da er ſchon jenſeit der Grenze des bloßen leiblichen Bedürfniſſes und Nutzens liegt. Der Körperſchatten zeigt ſich. Was iſt das? Bei keiner anderen Frage liegt eine anthropopathiſche Löſung ſo nahe wie bei dieſer. Denn wenn wir uns nun erinnern wollen, wie unheimlich in ſtiller Mondnacht unſer eigener Schatten neben uns an den Häuſern entlang durch die einſamen Straßen glitt, wie wir über unſern eignen Schatten manchmal erſchraken, ja darüber ſtolperten; wenn man ſich ins Gedächtniß zurückruft, mit welchem Erſtaunen Kinder zum erſten Male ihren Schatten gewahren, wie ſie ſich mit ihm unterhalten, ihn zu haſchen und darauf zu treten ſuchen und dann nicht begreifen können, daß es ihnen nicht gelingt — ſo wird uns das Verſtändniß dafür aufgehen, daß für das naive Bewußtſein der Körperſchatten eine höchſt auffällige Erſcheinung ſein muß. Was iſt dies geheimnißvolle, weſenloſe Weſen, das ſichtbar bald, bald unſichtbar iſt? das dem Menſchen zur Seite ſteht, und das er doch nicht mit Händen faſſen 255 kann? welches das Bild des Menſchen bald getreu copirt, bald daſſelbe carikirt, indem es ſeine Dimenſionen, wie es ſcheint, nach Belieben wechſelt? das menſchliche Geſtalt und doch weder Fleiſch noch Bein hat? das, mit dem Menſchen verbunden, ein Stück Menſch iſt und doch nicht ſtofflich wie der Menſch iſt? das von dem Men— ſchen abhängig iſt, inſofern dieſer Schatten nur zu dieſem Menſchen gehört, und über das der Menſch doch keine Gewalt hat, da der Schatten ohne des Menſchen Zuthun nach Belieben zu kommen und zu gehen ſcheint? In der That, es iſt ganz im Sinne dieſer urſprünglichen Betrachtung ge— halten, wenn Theodor Fechner (als Dr. Miſes) in dem erſten der vier geiſtvollen Paradoxen „der Schatten iſt lebendig“ nur „Gründe für ſein Leben, aber keine gegen ſein Leben“ finden zu können behauptet. Dem Naturmenſchen erſcheint der Schatten in Wirklichkeit als ein lebendiges und ſelbſt— ſtändiges Weſen, als ein bedeutungsvoller und wichtiger Schatz für ſeinen Beſitzer, als ein weſentliches Stück Sein und Leben wie Puls und Athem — kurz wirklich als eine ſeiner Seelen. Dieſe uralte Anſchauung liegt auch den Schattenmärchen dreier neueren Dichter zu Grunde, für die man erſt von hier aus ein volles Verſtändniß gewinnt. Der Schatten iſt ein Hauptbeſtandtheil des menſch— lichen Weſens, er iſt ſelbſt, ſo unkörperlich er erſcheint, mit körperlicher Kraft begabt, ja er iſt allein der Kraftträger am Men— ſchen. Der Schatten des Rieſen iſt es, der in einem Märchen Goethe's die Rieſenkraft beſitzt und deſſen ungeheure Schattenarme im Sonnenſchein weit über den Fluß hin⸗ überreichen, um die auserſehene Beute zu ergreifen. Der Schatten iſt ein weſentliches Stück vom Menſchen, ohne welches der Kosmos, III. Jahrg. Heft 10. 34 — 0 Menſch ſeinen Mitmenſchen unheimlich wie einer, den ſeine Seele ſchon verlaſſen hat, wie ein umwandelnder Todter erſcheint; das er daher nicht verkaufen darf, ohne von der beſeelten Menſchheit ausgeſtoßen zu werden und ſich ſelbſt namenlos elend zu fühlen. So bekommt Chamiſſo's wunder- bares Märchen Peter Schlemihl ſeinen uralten, mythologiſchen Hintergrund. Der Schatten iſt für ſich ein ſelbſtſtändiges Weſen, das an den Leib nur gebunden iſt, ihm zu dienen; ein Weſen, das ſich deshalb in dieſer ſeiner Knechtſchaft unglücklich fühlt, ſich von ſeinem Beſitzer freibittet und nun auf eigene Fauſt ſein Glück verſucht, ſeinen ſchattenloſen Herrn aber dadurch ins Ver— derben ſtürzt. Das iſt der Grundgedanke, welcher durch eines der tiefſinnigſten Mär— chen von Anderſen, „der Schatten“, ſich hindurchzieht. Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Vorſtellung „Seele“. Die Anſchauung, daß der Schatten Seele ſei, findet ſich über die ganze Erde verbreitet, bis in unſere Tage hinein. Allein ich muß mir hier verſagen, auf all die intereſſanten Einzelheiten, die ſich gerade hier darbieten und von denen Rochholz viele zuſammengeſtellt hat, auf die Erzeugung von Aberglauben gerade durch dieſe Vor— ſtellung, auf das Hineinſpielen derſelben ſogar in die mediciniſche wie juriſtiſche Praxis eben erſt vergangener Jahrhunderte einzugehen. Die primitiven Urvorſtellungen über die Seele ſind damit entwickelt — unſer nächſter Aufſatz wird es mit dem Ausbau und der Fortführung dieſer Grundelemente d. h. mit der Darſtellung der geſammten urſprünglichen Dogmatik der Pſyche zu thun haben. Ueber den Urſprung der Europäiſchen Alpenflora.”) Von Jolin Hall. Rz 5 x J hat ſich eine wiſſenſchaftliche Revolution vollzogen, deren Wirkungen vielleicht nachhaltiger 8 ſein werden, als jene der großen, im ſeben Zeitraume ſtattgehabten politiſchen Ereigniſſe. Die gegenwärtige Naturordnung ſteht nicht mehr iſolirt und wie im Kosmos verloren da, ſondern erſcheint uns als noth— wendige continuirliche Entwickelung aus der Vergangenheit. — Die Geſchichte unſerer Erde und der ſie bewohnenden Lebens⸗ formen erkennen wir nunmehr als eine un— unterbrochene Kette von Ereigniſſen, welche ) Anm. d. Red. Der Herr Verfaſſer ſtellt in dieſer Arbeit, welche zuerſt in den Proceedings of the Royal Geographical Society, September 1879 erſchienen iſt, eine neue Theorie auf, die, wenn ſie zu beweiſen wäre, außer— ordentlich wichtig ſein würde. Aehnlich der Buffon'ſchen Theorie, nach welcher das or— ganiſche Leben an den Polen begonnen haben ſoll, wird hier die höhere Pflanzenwelt von den Gebirgen hergeleitet, deren Gipfel zuerſt die Bedingungen zur Exiſtenz höherer Pflanzen dargeboten haben ſollen. Bedenklich iſt nur, m verfloſſnen Vierteljahrhundert unermeßliche Zeiträume hindurch ſich unter beſtimmten Geſetzen entrollten. Und wenn uns letztere auch nur theilweiſe und unvoll— kommen bekannt ſind, ſo dürfen wir doch nicht verzagen, der nimmer endenden Serie von Naturerſcheinungen dereinſt bis in die Nacht des Urſprungs folgen zu können, und Männer der Wiſſenſchaft ſind auf manchen verſchiedenen Wegen und mit wechſelndem Erfolge bemüht geweſen, den innigen Zu— ſammenhang der heutigen Verhältniſſe unſres Planeten mit denen längſt vergangener Zeiten zu erforſchen und klar zu legen. Seit früher Jugend mächtig von der daß die Beweisfähigkeit dieſer Theorie in Abrede geſtellt werden mußte, weil dort oben niemals die Bedingungen zur Petrefaktion exi— ſtirt haben ſollen, obwohl es doch auch früher Hochgebirgsſeen gegeben haben wird. Es iſt fraglich, ob eine Theorie, die ihre Beweis— fähigkeit leugnet und ſich von vornherein als Glaubensſache hinſtellt, discutirbar iſt; indeſſen wollen wir, da die Arbeit im Aus— lande ein gewiſſes Aufſehen erregt und einer ſtreng wiſſenſchaftlichen Grundlage nicht ent— behrt, ſie unſern Leſern nicht vorenthalten. Ne 258 Erhabenheit der Gebirgslandſchaft angezogen, brachte ich lange Zeit in den Alpen, Kar— pathen, Pyrenäen und in den ſüdſpaniſchen Bergen zu. — Ueberall Pflanzen ſammelnd, mußten natürlicher Weiſe die Aehnlichkeiten und Gegenſätze zwiſchen den verſchiedenen Floren meine Aufmerkſamkeit erregen und mir die Frage nahe legen, wie ſolche zu erklären ſeien. Schon vor mehr als zwanzig Jahren begann ich eine Zuſammenſtellung der Gebirgspflanzen nach ihrer geographiſchen Vertheilung in den Alpen und den übrigen Höhenzügen Europas. Da die Südſeite der Hauptkette die reichſte und mannigfaltigſte, zu der Zeit aber am wenigſten bekannte Flora beſaß, ſo gruppirte ich dieſe in 50 Abtheilungen, alſo fünfzig Localfloren darſtellend, wofür ich Material aus bereits erſchienenen Werken, aus öffentlichen und privaten Herbarien, meiſtens aber auf meinen eigenen wieder— holten Exkurſionen ſammelte. Obwohl nun die botaniſche Erforſchung jener Gegenden noch lange nicht als vollſtändig betrachtet werden darf, ſo erlaubt uns dennoch das zuſammengetragene bedeutende Beobachtungs— material, aus dem Studium deſſelben einige allgemeinere Schlußfolgerungen zu ziehen. Lange habe ich in meinen Mußeſtunden über den Urſprung der Alpen- und anderer Gebirgsfloren nachgedacht, ohne je eine be— friedigende Löſung des Problems zu finden, und wenn es mir heute gelingen ſollte, theilweiſe wenigſtens einige der mir früher als unüberwindlich erſchienenen Hinderniſſe zur Löſung der Frage aus dem Wege zu räumen, ſo iſt dies allein dem Umſtand zuzuſchreiben, daß meine Forſchungen in eine Zeit fielen, in welcher die Natur— wiſſenſchaft durch die Darwin'ſche Theorie eine neue Richtung und einen friſchen Im— puls empfing. Meinem heute zu behandelnden Gegen— ſtande nah ekommend, waren die zwei meiſter— haften, epochemachenden Arbeiten Hooker's „Ueber den Urſprung, die Verwandtſchaften und Vertheilung der Auſtraliſchen Flora“ ſowie „Umriſſe der Vertheilung von ark— tiſchen Pflanzen“ — Arbeiten, welche meine Studien in die richtige Bahn einlenkten und zur bedeutenden Erweiterung meines Geſichtskreiſes beitrugen. Wenn unſere großen Meiſter in ihren Schriften auch nicht direkt das ſchwierige Problem des Urſprungs der Alpenflora be— ſprochen haben, und wenn mir auch ver- ſchiedene Anſichten Hooker's ſowohl als Darwin's über die uns heute beſchäf⸗ tigende Frage nicht unangreifbar erſcheinen, ſo glaube ich mich dennoch nicht weniger ihr getreuer Jünger nennen zu dürfen, eben weil ich nicht blindlings ihrer Autorität in Fällen gefolgt bin, wo die Thatſachen eine andere als die von ihnen gegebene Inter— pretation zu erheiſchen ſcheinen. Wenn ich von der Alpenflora ſpreche, ſo verſtehe ich darunter die Flora jener ganzen Gebirgsregion, welche ſich von der Dauphiné und Provence bis zu den Grenzen Ungarns erſtreckt und im Südoſten im Plateau von Karſt ihren Abſchluß findet. Die ſich von Kroatien nach Bosnien und Dalmatien hinziehenden Bergketten bezeichnet man häufig als dinoriſche Alpen, jedoch ge— hören ſie ſowohl in orographiſcher Beziehung, als wegen ihrer Naturprodukte zum Ge— birgsſyſtem der europäiſchen Türkei. Nicht ebenſo leicht iſt es, die Grenzen der Alpen auf der nördlichen und ſüdlichen Seite zu beſtimmen, wo die Berge allmählich zur Ebene hin ſich abdachen. i Auf der Südſeite insbeſondere haben ſich manche aus dem Flachlande ſtammende Pflanzen bis in die Thäler verbreitet und Ball, Ueber den Urſprung der Europäiſchen Alpenflora. \ Ball, Ueber den Urſprung der Europäiſchen Alpenflora. erſcheinen hie und da als Einwanderer, während andererſeits zahlreiche Eingeborene der wärmeren Abhänge nicht zur höheren Bergzone hinaufſteigen, aber auch nicht vom Studium der Alpenflora ausgeſchloſſen werden können. In der Regel habe ich in meinen Liſten die Pflanzen der Ebene, welche in den Alpen nur gelegentlich als vereinzelte Wanderer vorkommen, ausgelaſſen, dagegen ſind alle anderen einheimiſchen Species auf— aufgeführt, wenn auch manche davon nicht über 2 - 3000 Fuß Meereshöhe hinaus— kommen. Erſteigen wir die Alpen von den Oliven- und Weingärten her zur Region des ewigen Schnees, ſo zeigt ſich uns die Vegetation in ſtets wechſelnder Geſtalt, was die Botaniker veranlaßte, dieſen Aenderungen entſprechend, mehrere aufeinanderfolgende Zonen zu unterſcheiden. Wir brauchen uns nur drei ſcharf beſtimmte Abtheilungen zu merken: eine niedere Zone bis zur Grenze der alljährlich ſich entblätternden Bäume; eine obere mit den höheren Nadelholzwäldern und den Alpenweiden; und eine Eiszone, wo große Schneeflecken den Sommer über liegen bleiben und die Oberfläche nur theil— weiſe während zwei oder drei Monaten frei wird; und ſelbſt dann häufig ſcharfe nächt— liche Fröſte vorkommen. An den äußeren Abhängen hinauf ver— ſchwinden nacheinander Eſche, Eiche und Bergulme, während Birke, Erle, Buche und Ahorn die letzten Vertreter der gewöhnlichen Baum ⸗Vegetation bilden; an einigen Stellen der Alpen ſtellt die Buche allein das Wald— contingent. Gleichzeitig mit dieſem Bäumen hört eine große Anzahl von Sträuchern und krautartigen Pflanzen auf, und eine faſt ebenſo große Menge von vorher nicht geſehenen Gattungen tritt in die Erſchein— ung. Die von mir gebrauchte Bezeichnung der Grenze von alljährlich entblätternden Bäumen iſt eigentlich nicht ganz correkt. Birke, grüne Erle und einige Weiden er— reichen häufig den Wohnort der am höchſten vorkommenden Fichten; und die Buche ge— langt in Geſtalt eines geſtutzten Buſches zu— weilen bis in dieſelbe Region. In der oberen Alpenzone bilden die Coniferen einen breiten Gürtel zwiſchen dem ſchneeigen Kamme und den niederen Abhängen; an gar manchen Stellen ſind ſie jedoch gänzlich durch Menſchenhand ausgerottet worden und an ihrer Statt erſtrecken ſich Alpenwieſen und Weiden, im frühen Sommer mit Hunderten von bunten, freundlichen Blumen geſchmückt — hinauf bis zur Eis— region. Die in Skandinavien bis zum Nordcap, 300 Meilen über dem Polarkreis hinausreichende Kiefer (Pinus silvestris) bleibt in den Alpen tief unter der Fichte (Abies excelsa), welche in Norwegen kaum den Polarkreis paſſirt. In den Alpen kommt die Abies gewöhnlich bis nahezu 6000 Fuß über dem Meere vor und auf der Südſeite noch 600 — 700 Fuß höher, während die Lärche und ſibiriſche Föhre häufig auf 7000 Fuß aufſteigen. Ich will nun in kurzen und allgemeinen Zügen die Pflanzenſtatiſtik der Alpen an— deuten. — In der ganzen Region finde ich 2010 Arten auf 523 Gattungen, und 96 natürliche Ordnungen vertheilt. Von dieſen natürlichen Ordnungen ſind jedoch nicht weniger als 36 gar nicht in der höheren Zone und in der niederen nur durch einige weit ausgebreitete Gattungen und Arten vertreten. Dieſe 36 Ordnungen enthalten 53 Gattungen und 76 Arten — im Durch— ſchnitt alſo nur ungefähr zwei Arten von jeder Ordnung — uud gehören jedenfalls zu Gruppen, deren natürliche Heimath anderswo zu ſuchen iſt. (Siehe Tabelle Jam Schluß.) 259 260 Zu den 2010 Arten rechne ich nicht weniger als 335 Unterarten — Formen, welche mit anerkannten Arten nahe ver— wandt ſind, ſich aber wieder von denſelben durch permanentere und beſſer markirte Unterſchiede als die gewöhnlichen Varietäten unterſcheiden. Die meiſten dieſer Unterarten und viele meiner bloßen Varietäten werden von franzöſiſchen und deutſchen Botanikern als getrennte Arten aufgezählt. (Tab. II.) Die größte Anzahl meiner verzeichneten Species gehören zu drei über den ganzen Erdboden verbreiteten natürlichen Ordnungen. Zuerſt kommen die Compoſiten mit vielen kleinen, auf einer Scheibe wachſenden Blüth— chen, wozu die bekannten Formen des Gänſe— blümchens, der Aſter, der Ringelblume, der Diſtel und des Löwenzahns gehören. Davon haben wir in den Alpen nicht weniger als 62 verſchiedene Gattungen mit 250 Arten und 60 Unterarten. Dann kommen die Leguminoſen, ſehr zahlreich in den wärmeren Gegenden der Erde, aber auch durch ver— ſchiedene Arten ſogar in der Polarregion vertreten — und die Gräſer, nicht weniger weit über alle Regionen verbreitet; — jede dieſer Familien beſitzt in den Alpen 134 Arten. Zunächſt dieſen faſt überall vor— herrſchenden großen Ordnungen, finden wir in den Alpen ſolche Pflanzenfamilien am meiſten vertreten, welche ſich weit in die kälteren Regionen ausdehnen und allerorten für die Berge charakteriſtiſch, wenn auch nicht auf dieſelben beſchränkt ſind. Die größere Anzahl von Arten und Individuen beſitzen darunter die Coniferen, die Cype- raceen, die Caryophylleen mit den Nelken, Stellarien, Arenarien u. drgl. und die Umbelliferen. Zu dieſen ſieben Ordnungen gehört faſt die Hälfte der ganzen Alpenflora, 936 von 2010 Arten. Ohne auf weitere Details einzugehen, muß ich einige natür— Ball, Ueber den Urſprung der Europäiſchen Alpenflora. liche Gruppen beſonders erwähnen, welche der Gebirgsvegetation in der ganzen Welt ſpeciell charakteriſtiſch ſind und zwar die nach der Roſe, der Ranunkel, dem Stein- brech, der Primel, der Campanula und dem Enzian benannten ſechs Familien. Dieſe ſchmücken faſt überall auf der Erde die höheren Gebirgsgegenden und nehmen an Anzahl ihrer Arten und an Schönheit ihrer Blumen zu, jemehr wir uns der Schnee— region nähern. Von der ganzen Alpenflora bilden dieſe ſechs Familien ungefähr 15 Procent; in der höheren Zone machen ſie faſt 20 Procent aus, und in der aller höchſten, gegen die ewige Schneegrenze hin, gehören gewöhnlich faſt / der Arten dazu. In der höheren Alpenflora fand ich im Ganzen 1117 verſchiedene Arten, welche auf 279 Gattungen und 60 natürliche Ordnungen vertheilt ſind. (Tab. III.) Das Verhältniß der letzteren zu einander iſt hier dem in der allgemeinen Alpenflora ziemlich gleich. Die Compoſiten bilden noch ein Achtel des Ganzen; die Leguminoſen, die Gräſer und die Caryophylleen find jedoch verhältniß⸗ mäßig zahlreicher, ſowie auch die obenge— nannten, den Bergfloren beſonders charakte- riſtiſchen ſechs Stämme. Für die Eisregion kann ich keine genaue Zahlen angeben, da noch kein genügendes Material geſammelt iſt. Ich habe ſchon lange conſtatirt, daß die Ausdehnung vieler Arten in die höchſte Alpenzone nicht durch das Klima verhindert wird, ſondern vielmehr durch den Mangel an Boden und der den Pflanzen paſſenden Lage; denn wo dieſe Bedingungen ſich durch zufällige Umſtände vorfinden, ſieht man ſo— fort, daß die Eisregion nicht ſo ungaſtlich iſt, wie man gewöhnlich zu glauben geneigt iſt. So war es mir ſelbſt vor zwanzig Jahren vergönnt, auf einem ſchneefreien Schuttabhang über dem ungeheuren Schnee— Ball, Ueber den Urſprung der Europäiſchen Alpenflora. felde des Aletſch-Gletſchers, in einer Höhe von ca. 10,700 Fuß über dem Meere, nahezu 2000 Fuß über dem ſoviel genannten Candolle gedenken, welcher die Methoden Jardin bei Chamouny, mehr als 40 Arten zu ſammeln, darunter den gewöhnlichen Thymian und eine Varietät des noch ge— wöhnlicheren Löwenzahns. Bevor ſolche Stellen nicht in der ganzen Alpenkette ge— hörig erforſcht worden ſind, kann von keiner Aufſtellung der Eisflora die Rede ſein; ich glaube, daß die Zahl der in den höchſten Regionen zum Wachsthum und zur Fort— pflanzung fähigen Pflanzen viel größer iſt, als man bisher angenommen hat. Hierbei darf nicht außer Acht gelaſſen werden, daß einige, vielleicht viele Pflanzen- arten zur Erzeugung von Raſſen Anlaß geben, welche wirkliche phyſiologiſche Varie— täten bilden, indem ſie ſich durch gewiſſe vererbte Tendenzen, wenn auch nicht durch äußere Formdifferenzen erkennbar unter- ſcheiden. So hat man in Norwegen durch | künſtliche Zuchtwahl eine Varietät Gerſte er- zeugt, welche ihre Samen in weniger als zwei Monaten reift, während die gewöhnlich erfor— derliche Zeit drei bis vier Monate iſt; mehrere verſchiedene Maisvarietäten in Amerika und Norditalien zeigen bekanntlich noch größere Unterſchiede in der zur Reifung erforderlichen Zeit oder in der nöthigen bez. erträglichen Menge Sommerhitze. In vielen dieſer Fälle, wie z. B. bei dem über dem Aletſch-Gletſcher vorgefundenen Thymian, wo Pflanzen in den Alpen unter ganz anderen phyſikaliſchen Verhältniſſen blühen, als an ihren gewöhn— lichen Wohnſtätten, gehören ſolche Indivi— duen wahrſcheinlich zu phyſiologiſchen Varie— täten, die eine erbliche Anpaſſungsfähigkeit für die neuen Lebensbedingungen erworben oder wiedererlangt haben. Ohne hier weitere derartige Beiſpiele zu geben, muß ich doch bezüglich der Alpen— 1 vegetation noch der mit großer Mühe voll— zogenen Forſchungen bedeutender Männer, beſonders derjenigen von Alphonſe de ſeiner Vorgänger in dieſer Richtung weiter entwickelte und verbeſſerte und gleichzeitig einige, wenn auch nicht alle Mängel der ſelben erkannte. Von der Annahme ausgehend, jede Pflanzenart verlange zur Vollziehung ihrer verſchiedenen Entwickelungsphaſen eine gewiſſe Minimaltemperatur über dem Nullpunkt, behauptet man ferner, es ſei eine beſtimmte Temperatur-Menge dazu nöthig, damit der Kreis von Veränderungen, auf denen das Leben der Pflanze und die Fortpflanzung der Art beruht, vollendet werden könne. Durch ſorgfältige Erforſchung der polaren Wachsthumsgrenzen gewiſſer weit verbreiteter Arten und durch einen Vergleich der Vege— tationsperioden einer jeden mit den Ergeb— niſſen der monatlichen Mitteltemperatur an verſchiedenen Orten hat man die für jede Art erforderliche und ihre Exiſtenz in wildem Zuſtande bedingende Temperaturſumme zu entdecken geſucht. N Wenn dieſe Unterſuchung auch bei einigen Pflanzen zu irgend einem Reſultate geführt haben, ſo ſcheinen doch in andern Fällen die Ergebniſſe nicht mit der Annahme überein zu ſtimmen, daß die mit dem Thermometer im Schatten conſtatirten Wärmegrade viel Aufſchluß über die zum Pflanzenwachsthum erforderlichen Bedingungen geben. Wie weit dieſen Temperaturproportionen auch die Flachlands-Vegetation unterworfen ſein mag, ſoviel iſt ſicher, daß dieſe Beſtimmungs— methode bei der Hochgebirgsflora ganz und gar unanwendbar iſt. Die Schwierigkeit, den Unterſchied zwiſchen den Wirkungen der Lufttemperatur im Schatten und denen der Sonne richtig zu ſchätzen, entging der 262 Einſicht Humboldt's, des eigentlichen Gründers dieſes Wiſſenszweiges nicht, auch de Candolle berückſichtigte ſie. Er giebt zu, daß für Mitteleuropa im Sommer der Unterſchied zwiſchen der Temperatur eines im Schatten befindlichen Thermometers und der eines der Sonne ausgeſetzten 50 bis 80 Fahrenheit fein kann; doch führt er ver- Pflanzen erzeugte Wirkung weniger be— | trächtlich fein follte, und ſchätzt ſchließlich den wirklichen Temperatur-Unterſchied zwiſchen Wachsthum in der Sonne und im Schatten auf 19 Celſius. Hiergegen muß ich be— Ball, Ueber den Urſprung der Europäiſchen Alpenflora. richt erwähnten Beobachtungen über die Tem— peratur des der Sonne ausgeſetzten Bodens. Auf dem Abhange über dem Aletſch-Gletſcher, in einer Höhe von 10,300 Fuß, fand ich einen Zoll unter der Oberfläche eine Tem— peratur von 83“ Fahrenheit; und bei fünf Zoll, der größten Tiefe, die gewöhnlich die Wurzeln der Alpenpflanzen erreichen, ver- ſchiedene Gründe an, weshalb die auf zeichnete das Thermometer 75% Fahrenheit. Bei einer anderen Gelegenheit, in einer Höhe von ca. 8400 Fuß, in den Pyrenäen, zeigte ein in der Nähe von großen Schneeflecken merken, daß Niemand, der keine eigene Er⸗ fahrung davon beſitzt, eine richtige Idee von der immenſen Wirkung der Sonnenſtrahlen in den höheren Regionen der Atmoſphäre haben kann, und ſcheinen meine wenigen 1862 der British Association mitgetheilten Beobachtungen kaum von den Naturforſchern beachtet worden zu ſein. Der mittlere Unterſchied, wie er aus 15 Jahre lang zu Chiswick im Sommer gemachten Beohacht— | ungen erhellt zwiſchen der Schattentempe— ratur und der eines der Sonne ausgeſetzten Thermometers mit ſchwarzer Kugel, war ein Bruchtheil weniger als 7“ Fahrenheit. Wir beſitzen keine Parallelreihen von Be— obachtungen auf hohen Bergen; doch giebt uns das Faktum eine Idee von den Wirk— ungen der Sonnenausſtrahlung, daß bei vierzehn Beobachtungen auf Höhen von 4000 14,000 Fuß über dem Meere ein kleines Thermometer mit ſchwarzer Kugel, während drei Minuten der Sonne ausgeſetzt, im Durchſchnitt ſich 40“ über die im Schatten gezeigte Temperatur erhob; bei fünf auf einer mittleren Höhe von 12,000 Fuß gemachten Beobachtungen ergab ſich ein | Unterſchied von 46° Fahrenheit im Mittel. Noch wichtiger ſind die in demſelben Be— am Boden liegendes gewöhnliches Thermo— meter 107“, und in der Tiefe von 1 Fuß beſtändig 99“ Fahrenheit. Wir ſind noch lange nicht im Stande, die Wirkungen dieſer hohen Wärmegrade und den Anreiz intenſiver Beleuchtung für das Wachsthum der Alpenpflanzen zu be— ſtimmen; aber ſo viel iſt ſicher, daß die mit einem Thermometer im Schatten gemachten Beobachtungen wenig zur Erklärung ihrer wirklichen Lebensbedingungen beitragen. Wir wollen nun die Flora der Alpen mit denen anderer Regionen vergleichen und ſehen, welches Licht dadurch auf ihre Ge— ſchichte und ihren Urſprung geworfen wird. Vor Allem muß uns beim Durchſehen der Liſte das ſtarke Verhältniß von Pflanzen auffallen, — mehr als zwei Fünftel der ganzen Anzahl — welche in allen Floren des gemäßigten Europas vorkommen, indem viele von ihnen ſich ſogar bis nach Sibirien, und eine beträcht— liche Anzahl bis Nordamerika ausdehnen. Es ſind dies augenſcheinlich Pflanzen von bedeutendem Anpaſſungsvermögen an ver änderte phyſikaliſche Verhältniſſe, deren Fräf- tige Organiſation ſie im Kampfe ums Daſein ſiegreich gemacht hat. — Von 792 in den Alpen vorkommenden Arten dieſer Klaſſe ſind nicht weniger als 215 bis nach Nord— amerika verbreitet, und manche davon (be⸗ Ball, Ueber den Urſprung der Europäischen Alpenflora. 263 \ ſonders Waſſerbewohner) haben die äußerſten Pyrenäen gemein, gerade zwei Drittel haben Landſpitzen in Südamerika, Südafrika, Auſtralien und Neu-Seeland erreicht. Be— merkenswerth iſt, daß von dieſer großen Menge von Arten nicht der zwölfte Theil (nur 65 auf 792) als der höheren Gebirgs— region angehörig betrachtet werden kann. Die meiſten kommen in der niederen Zone der Alpen häufig genug vor, ſie wachſen aber auch ebenſo leicht in den Wäldern und Heiden Mitteleuropas, von wo nicht wenige ſich nordwärts bis zum Polarkreis aus— breiten. Sehen wir ab von den 727 Arten, Alpen und Karpathen, und mehr als ein Sechstel Alpen und der Norden von Europa und Aſien gemeinſam. Die große Mehrzahl der letzteren erſtreckt ſich nur in Scandinavien über den Polarkreis hinaus, aus Gründen, die wir ſpäter andeuten werden. Beachtens— werth iſt das Faktum, daß von den Pflanzen, welche gleichzeitig in den Alpen und dem welche kein ſpecielles Element der Alpenflora | bilden, ſowie von ca. 50 Eindringlingen aus dem Süden, ſo bleiben 1157 Species in unſrer Liſte, mit denen wir uns jetzt näher beſchäftigen wollen. Norden des alten Continents vorkommen, der größere Theil ſich nicht auf alle drei Hauptbergketten Central-Europas ausdehnt; die Pyrenäen beſitzen nur ungefähr ein Drittel davon, während die Karpathen ge— rade zwei Drittel haben, und ferner ſind ca. 40 Species den Alpen und Nordeuropa gemeinſam, welche weder in den Pyrenäen, Unter dieſen ſind 172 endemiſch d. h. dieſer beſonderen Region eigen; davon haben ſich jedoch 42 von den Alpen aus längs der Apeninnen-Kette und nach Kroatien oder Dalmatien ausgebreitet, ſodaß die Anzahl der lediglich auf die Alpen beſchränkten endemiſchen Arten auf 130 reducirt erſcheint. Dazu würden manche Botaniker noch 10 oder 11 wohl unter- ſchiedene Unterarten hinzufügen, während Andere meine Abſchätzung verdoppeln würden, indem ſie viele meiner Varietäten als wirk— liche Species betrachten. — Beſchäftigen wir uns nun mit den übrigen, nicht auf die Alpen beſchränkten Arten, die aber wirkliche Bergpflanzen ſind (da nur die bis nach den arktiſchen Regionen verbreiteten dort in Niederungen wachſen). Wie zu erwarten ſtand, finden wir bei einem Vergleich der Alpenflora mit der— jenigen andrer Bergregionen, daß die Alpen manche Elemente mit den Pyrenäen und den Karpathen gemeinſam haben. Von 1157 Arten ſind mehr als ein Siebentel endemiſch, mehr als die Hälfte den Alpen und den und nur 30— 40 endemiſche Arten. noch in den Karpathen gefunden werden. Heute ſind die Alpen von den höheren Spitzen der Karpathen und den Pyrenäen durch einen mäßigen Zwiſchenraum von ca. 200 Meilen verhältnißmäßiger Niederung getrennt; aber während der mittleren Tertiär— Periode, und vielleicht auch noch ſpäter, waren ſie durch Arme jenes Meeres ge— ſchieden, welches damals Europa in einen Archipelagus umwandelte. Wir finden jedoch einen größeren Unterſchied zwiſchen den Alpen und den Pyrenäen, als zwiſchen den Alpen und den Karpathen. Betrachten wir die Aſturiſche Kette als einen Theil der Pyrenäen, ſo hat jede Region etwa die Hälfte ihrer Flora mit der andern gemein; die Alpen beſitzen 172 endemiſche Arten und wenigſtens 15 Gattungen, welche in den Pyrenäen nicht gefunden werden, während in letzteren ca. 100 endemiſche Species in verſchiedenen Gattungen (6 oder 7) vorkommen, welche die Alpen nicht aufweiſen. Mit den Karpathen iſt die Verbindung eine viel engere; dieſe Kette beſitzt zwei Drittel der Alpenflora Doch Kosmos, III. Jahrg. Heft 10. 264 haben die Karpathen wieder mit dem Kau— kaſus und der Balkan-Halbinſel viele Species gemein, welche ſich nicht bis auf die Alpen erſtrecken. Ein Blick auf die Weltkarte zeigt uns, daß der alte Continent, von der Nordweſt— Ecke Spaniens bis nach Kamſchatka von faſt continuirlichen Bergketten durchzogen iſt, ohne irgendwo auf mehr denn 300 Meilen, bei einer Ausdehnung von 8500 engl. Meilen, unterbrochen zu ſein. Verfolgen wir die Linie von den Pyrenäen über die Alpen, die Karpathen und den Kaukaſus bis Nord— perſien, ſo kommen wir zu dem weſtlichen Ende der großen Hochlandsregion von Central-Aſien. Hier finden wir, anftatt eines einzelnen weitergehenden Zuges, faſt den halben aſiatiſchen Continent von Gebirgs— ketten eingenommen, die eine allgemeine Richtung von Weſten nach Oſten haben, mit zwiſchenliegenden Plateaux, meiſtens von großer Höhe, aber auch zuweilen ins Tiefland ſich abdachend. Von dieſer großen Region kennen wir wiſſenſchaftlich ſehr wenig, mit Ausnahme des großen Himalaiſchen Ge— birgszuges im Süden und der nördlichen, Sibirien begrenzenden Kette, welche wir als Altai bezeichnen wollen, obgleich dieſer Name eigentlich nur einem kleinen Theile der Geſammtmaſſe zukommt. Es iſt ſonderbar, daß, wenn wir die Alpenflora mit denen anderer, nicht unmittelbar an— grenzender Bergregionen vergleichen, wir die nächſte Verwandtſchaft gerade mit dieſen nord— aſiatiſchen Gebirgen conſtatiren, ungeachtet des ungeheuren fie trennenden Zwiſchen— raums und der großen Unterſchiede in ihren klimatiſchen Verhältniſſen. Ein volles Viertel der Alpen-Arten ſind in der Altairegion vorhanden, ſowie auch etwa fünf Sechstel der Gattungen. Dies iſt um ſo bemerkenswerther, als wir im Kaukaſus, bei einem Drittel Ball, Ueber den Urſprung der Europäiſchen Alpenflora. der die Alpen vom Altai trennenden Ent— fernung, eine große Gebirgsmaſſe mit reicher Alpenflora und einem viel günſtigeren Klima haben, wo aber das Verhältniß der mit den Alpen gemeinſamen Species bedeutend kleiner iſt. Man kann annehmen, daß von je 12 alpinen Arten 3 im Altai und nur 2 im Kaukaſus gefunden werden. Im Himalaya ift die alpine Flora durch eine große Anzahl derſelben Gattungen, aber in verhältnißmäßig nur wenigen Arten, ver— treten, und dabei muß ich noch hervor— heben, daß viele der den Alpen und dem Altai oder dem Himalaya gemeinſamen Arten ſich auch bis zu den Polargegenden der alten Welt ausdehnen. Doch iſt nicht zu überſehen, daß dies nur für einige der in Frage ſtehenden Arten gilt und daß viele in der Polarflora gar nicht vertretene Genera den Alpen und den aſiatiſchen Gebirgen gemeinſam ſind. Nun wage ich, nicht ohne Scheu, aus den Beziehungen zwiſchen Alpen- und Polar— flora Schlüſſe zu ziehen, in denen ich der Autorität meiner großen Lehrer in den Naturwiſſenſchaften nicht folgen kann. In den ſchon erwähnten Schriften vereinte Sir John Hooker alle damals zugänglichen Nachweiſe über die Zuſammenſetzung der arktiſchen Flora und die Ausbreitung der ſie bildenden Arten über die andren Erd— regionen. Nachdem er gezeigt, ein wie großer Theil derſelben über ganz Europa, einſchließlich der Alpen, ausgebreitet iſt, indem nicht wenige ſogar in der ſüdlichen gemäßigten Zone vorkommen, faßt er die Be— urtheilung aller Erſcheinungen in dem Schluſſe zuſammen, daß die am vollſtändigſten in Skandinavien entwickelte Polarflora dort vor der Eisperiode blühte, dann ſüdwärts durch die alte und neue Welt getrieben wurde und darauf theilweiſe wieder nach Norden En ET —— nn — — — — — — — Ball, Ueber den Urſprung der Europäiſchen Alpenflora. 265 iſt, der aber mit ſeinen ſpeciellen klimato— logiſchen Verhältniſſen zur kühleren ge— mäßigten Zone gehört. Laſſen wir alle die in Mittel-Europa der Gebirgsvegetation gehörenden Arten bei Seite, ſo haben wir in Hooker's Katalog 217 Arten, die nirgends, außer in Skandinavien, den Polar— kreis erreichen, ſich dagegen faſt alle bis zurückkehrte, theilweiſe auch die Gebirge beider Continente erklomm, als ein gemäßigteres Klima die nöthigen Exiſtenzbedingungen dar bot. In ihren allgemeinen Umriſſen war dieſe ſo gezogene Schlußfolgerung ſchon in Darwin's „Urſprung der Arten“ angedeutet und von Lyell in ihrem ganzen Umfang angenommen. Wir haben alſo hier gegen höchſt gewichtige Autoritäten zu kämpfen. Vor allem muß ich bemerken, daß unter vorkommenden Pflanzen nahezu die Hälfte jene weltbürgerlichen (ubiquiſtiſchen) Arten bildet, welche, Dank ihrem Anpaſſungs— vermögen an ſehr verſchiedene äußere Ver— hältniſſe, ſich über die gemäßigte Zone der alten Welt, viele auch über das ganze gemäßigte Amerika verbreiteten. Welche Wichtigkeit man nun auch der Gegenwart dieſer Pflanzen in der Polarflora bei— meſſen mag, ſo iſt doch kein Grund zur An— nahme vorhanden, dieſelben ſeien in jener Region entſtanden. Heute ſind ſie viel häuſiger in der gemäßigten Zone als anderswo; und wenn wir von den Regionen, in welchen die von ihnen gebildeten Pflanzen— gruppen vorherrſchen, auf ihren Urſprung ſchließen ſollten, ſo müßten wir nicht wenige auf die Mittelmeer-Region, ſtatt auf ein nördlicheres Heim verweiſen. Ferner wird, wie Hooker mit Recht angedeutet hat, das Klima Nord-Skandinaviens ganz bedeutend durch den Golfſtrom — vielleicht auch durch die Südweſtwinde vom atlantiſchen Ocean — beeinflußt und bildet eine ganz exceptionelle Abtheilung der Polarflora. Dort, und dort allein, erſtrecken ſich Wald— bäume und ſogar der Gerſtenbau weit nörd— lich über den Polarkreis hinaus, und als natürliche Folge davon haben ſich eine Menge anderer Pflanzen in einen Bereich ausge- breitet, der in der That geographiſch arktiſch den nach Hooker bis über den Polarkreis zur Mittelmeerregion erſtrecken; zu dieſen füge ich noch 131 mehr ubiquiftische Arten hinzu, die zwar wirklich der arktiſchen, aber auch nicht weniger wirklich der ge— mäßigten Zone angehören, da ſie alle über die ganze nördliche Halbkugel aus— gebreitet ſind. So müßte alſo die Liſte der charakteriſtiſchen oder nicht-gemäßigten arktiſchen Pflanzen um wenigſtens 358 Arten gekürzt werden. Zwar fehlen wenige der— ſelben in der niederen Alpenzone; aber es iſt eigenthümlich, daß der größte Theil — volle vier Fünftel, obwohl ſie die Strenge des arktiſchen Klimas aushalten — in den Alpen nicht zu den höheren Zonen gelangen, und nur ſehr wenige ſich der Linie des ewigen Schnees nähern. Dr. Ch riſt (Baſel) fiel es auf, daß alle von mir in den alpinen und arktiſchen Liſten ausgeſtrichenen übiquiſtiſchen Pflanzen in Nordaſien vor— kommen, ſowie daß eine engere Verbindung der Flora der Alpen mit der der ſibi— riſchen Gebirge, als mit der irgend eines andern entfernten Gebirgszugs beſteht, und da die von mir als wirklich arktiſch bezeichnete Flora in jener Region viel mehr vertreten iſt, als auf den mitteleuropäiſchen Gebirgen, ſo ſchließt Dr. Chriſt daraus, daß Nord— aſien die urſprüngliche Heimath ſowohl der arktiſchen Flora, als jenes aus der Ferne ſtammenden Theiles der Alpenflora geweſen ſei. Ohne uns hier weiter über dieſe Hypotheſe auszuſprechen, wollen wir nur im Auge behalten, daß von den zur Alpen— Ball, Ueber den Urſprung der Europäiſchen Alpenflora. — ͤ—Ü —— ͤ ——-— —— . —̃ — — 266 flora gehörigen Arten 17 Proc. in der ark— tiſchen und 25 Proc. in der Altai-Flora vor— kommen, während die arktiſche Flora 40 Proc. mit den Alpen und 50 Proc. mit dem Altai gemeinſam hat. Wenn wir nun mit unſern großen Autoritäten annehmen wollen, daß eine jede der den Alpen ge meinſamen arktiſchen Species urſprünglich durch Auswanderung aus dem Norden die Gebirge Mittel-Europas erreichte, ſo wirft ſich uns die Frage auf, in wie fern dies den Urſprung der Alpenflora wirklich erklärte. Es gelte obige Erklärung für 17 Proc. der Arten, — was aber mit den übrigen 83 Proc. anfangen, zu denen wenigſtens vier generiſche, den Alpen eigene Typen und eine große Anzahl in den Polarregionen nicht vorkommender gehören (da doch von den in der höheren Alpenzone vorhandenen Gattungen nur die Hälfte arktiſch ſind)? Iſt es glaublich, daß in dem verhältnißmäßig kurzen Zeitraume ſeit Abſchluß der Eis— periode hunderte von ganz verſchiedenen Species und diverſen Gattungen ſich in den Alpen entwickelt haben und, was nicht weniger ſchwer zu begreifen iſt, daß ver— ſchiedene dieſer nicht arktiſchen Arten und Gattungen in noch jüngerer Zeit auf weite Zwiſchenräume hin durch eine unterbrochene Bergkette von einigen 1500 Meilen Länge von den Pyrenäen zu den öſtlichen Kar— pathen ſich ausgebreitet haben? Und das ſind nicht alle Schwierigkeiten. das Faktum immer noch unerklärt bleiben, daß viele dieſer nicht arktiſchen Typen, die in den Alpen vorkommen, in den Bergen entfernter Regionen nicht durch dieſelbe, ſondern durch verwandte Arten vertreten ſind, welche von einem gemeinſamen Stammvater herrühren müſſen; daß z. B. eine Art von Wulfenia eine kleine Ecke der Alpen bewohnt, eine andere in Nord-Syrien vorkommt, und Es würde eine dritte verwandte Species ihre Heimath im Himalaya hat. Keine beſſere Illuſtration des generellen Problems kann uns geboten werden, als durch die Saxifragen, welche von allen generiſchen Gruppen die charakteriſtiſchſte für hohe Bergvegetation iſt, umſomehr als deren Vertheilung ſehr ſorgfältig von Eng— ler erforſcht wurde. (Tab. IV.) Mit verhältnißmäßig geringen Unter— ſchieden in der Blumen- und Fruchtſtruktur zeigen die Saxifragen die außerordentlichſten Verſchiedenheiten in Blattform und Wachs— thum, und zwar ſo große, daß wenn die Pflanzen in foſſilem Zuſtande ohne die Blüthenorgane erhalten blieben, es nie einem noch ſo erfahrenen Botaniker einfallen würde, ſie zu derſelben Gattung, ja ſogar kaum zu der nämlichen natürlichen Ordnung zu zählen. Engler, meiſtens früheren Autoren folgend, gruppirt die 166 von ihm beſchriebenen Arten in 15 Abtheilungen. Nicht weniger als 11 dieſer Abtheilungen, eben ſo vielen verſchiedenen Vegetationstypen entſprechend, ſind in den Alpen vertreten, die eine größere Mannigfaltigkeit davon als irgend eine andere Bergregion aufweiſen. Davon kommen zehn in den Pyrenäen vor, neun in den Karpathen und acht in den arktiſchen Gegenden. Suchen wir noch weiter, ſo finden wir Saxifragen faſt überall auf den hohen Bergen der Erde, mit Ausnahme von Neuſeeland und Südauſtralien. In den Rocky Mountais ſind ſechs unſerer Alpengruppen vertreten, außer zwei anderen, die nicht in der alten Welt vorkommen. In den Anden finden wir fünf endemiſche Arten, alle zu einer Gruppe gehörig, die zahlreiche Vertreter in den Alpen und Pyre— näen hat, während zwei andere nahe ver- wandt ſind mit einer arktiſchen Art aus jener ſich nicht bis zu den Alpen erſtreckenden Ball, Ueber den Urſprung der Europäiſchen Alpenflora. 2 Gruppe. alpinen Gruppen vertreten, aber meiſtens durch verſchiedene Arten, indem drei Viertel der ganzen Anzahl endemiſch ſind. Schließ— lich iſt eine einzige endemiſche Art in Abeſ— ſinien gefunden worden, zu einer Gruppe gehörend, die ſich bis in den Südoſt von Europa und von dort durch Kleinaſien zum Himalaya ausdehnt. Engler nimmt an, daß beim Schluſſe der Tertiärperiode ſechs Saxifragen-Typen bereits exiſtirten, aus denen, wenn ich ihn recht verſtehe, er die heu— tigen Arten ſich entwickeln läßt. Ohne in weitere Details einzugehen, erwähne ich nur, daß er zu einem dieſer Typen jo äußerſt verſchiedene Pflanzen zählt, wie die Saxi— fraga umbrosa der Gärten Londons, die gelbe Saxifraga aizoides der Alpen und der Hügel im engliſchen Seengebiete; die purpurne Saxifraga oppositifolia in der alpinen Schneeregion und auf den Spitzen der ſchottiſchen Hochlandsberge, und die in den Alpen ſo gewöhnliche Saxifraga aizoon mit dicken, knorpelartigen Blättern und porigem Saume, aus dem kohlenſaurer Kalk ausgeſchieden wird. Niemand, der die Beweiſe für den wahrſcheinlichen Gang der Umwandlung von ſpecifiſchen Typen mit den Thatſachen der geographiſchen Pflanzenver— theilung zuſammenſtellt, wird für einen Augenblick annehmen können, daß Vege— tationstypen von ſo weit verſchiedenem Bau im Ganzen 56 meiſt ſehr ſcharf unter— ſchiedene Species — ſich aus derſelben Stammpflanze in einem ſo kurzen Zeitraum entwickelt haben könnten. Es ſcheint mir kein triftiger Grund zur Annahme vorhanden zu ſein, daß ſelbſt un— bedingt zur ſelben Gruppe gehörige Species ſeit einer ſo jungen Periode differenzirt worden ſeien. Selbſt wenn die Saxifraga oppositifolia während der Eisperiode aus den Im Himalaya ſind ſechs der DD 67 arktiſchen Regionen nach den Bergen Mittel- europas ausgewandert wäre, ſo erklärt dies nicht das Vorkommen einer ſehr verſchiedenen Art aus derſelben Gruppe (Saxifraga retusa) auf weite Zwiſchenräume hin in den Alpen, Karpathen und Pyrenäen, die nirgends ſonſt bekannt zu ſein ſcheint. Betrachten wir nun das Problem von einem andern Geſichts— punkte aus. Iſt die arktiſche Flora oder ein beträchtlicher Theil derſelben über alle Gebirge der nördlichen Halbkugel ſeit Be— ginn der Eisperiode verbreitet worden, fo haben wir uns neuerdings zu fragen, wo dieſe Flora exiſtirte, bevor ſie in den Polar— gegenden erſchien? Wir beſitzen jetzt hin— reichende Beweiſe dafür, daß zu einer geo— logiſch jüngeren Zeit, in der mittleren Tertiärepoche, wahrſcheinlich ſogar in der neueren Tertiärperiode, die Flora des äußer— ſten Nordens eine weſentlich tropiſche war, und daß das Klima ganz und gar unpaſſend für die jetzt dort wachſenden Pflanzen ge— weſen ſein muß. Ich brauche nicht näher auf die Beweiſe einzugehen, denn das Faktum wird von Allen zugegeben. Meines Wiſſens iſt auf die ſoeben von mir geſtellte Frage niemals eine Antwort verſucht worden; ich lege daher meine Anſichten über dieſen Gegenſtand dar, ohne mich durch das Gegen— gewicht irgend einer Autorität beengt zu fühlen. Bevor ich jedoch weiter gehe, muß ich einige Worte über die Bedeutung einiger neueren Entdeckungen in der Paläontologie für unſeren Gegenſtand beizufügen. Unter die vielen Verdienſte Darwin's um die Wiſſenſchaft müſſen wir auch an dieſer Stelle die Erweckung jenes lebendigen, nun von faſt allen Botanikern genährten Bewußt— ſeins von der Unvollkommenheit der geolo— giſchen Entwickelungsgeſchichte rechnen, welche vor der Erſcheinung des „Urſprungs der 2 sr 268 Arten“ nicht allgemein anerkannt wurde. Für die ältere Geſchichte der Bergvegetation iſt dies jedoch mehr denn anderswo der Fall, und mit wenigen und unbedeutenden Ausnahmen ſind uns die Documente, aus denen wir irgend welche direkte Kenntniß über die Bergvegetation der Vergangenheit hätten ſchöpfen können, unwiderbringlich ver— loren gegangen. Foſſile Pflanzen werden unter günſtigen Verhältniſſen in ſeichten Seen und Fluß— mündungen aufbewahrt; aber nur durch den ſeltenſten Zufall kann eine Pflanze von der höheren Bergregion in ſolchen Ablager— ungen erhalten bleiben. Wenn wir alſo über die alte Vegetation der Berggegenden ſprechen, ſo fehlt uns jeder direkte Beweis und unſere Schlußfolgerungen müſſen größ— tentheils ſpeculativ bleiben. Die blüthetragenden Pflanzen werden bekanntlich in zwei große Klaſſen getheilt, die nach der Entwickelungsweiſe ihres Sten— gels oder Stammes als Endogene und Exogene bezeichnet werden.“) Verſchieden in einigen wichtigen Beziehungen von beiden Klaſſen ſind die Gymnoſpermen, zu denen zwei wichtige natürliche Familien gehören, deren Typen Nadelhölzer und Cycadeen ſind. In der Art ihrer Entwickelung ſtimmen die Gymnoſpermen mit den Exogenen überein, und unterſcheiden ſich nur durch die eigenthüm— liche Struktur ihres Holzes; in der Unvoll— kommenheit ihrer Blüthenorgane nähern ſie ſich jedoch mehr, denn jeder andere Stamm * Anm. d. Red. Der Herr Verfaſſer ſtützt ſich hier auf die von nicht ganz richtigen Vorausſetzungen ausgehende Eintheilung der Blüthenpflanzen durch den älteren de Can— dolle. Für den in der Geſchichte der bota- aiſchen Syſtematik nicht bewanderten Leſer wollen wir bemerken, daß die Endogenen den Monocotylen, und die Exogenen den Dicotylen entſprechen. Ball, Ueber den Urſprung der Europäiſchen Alpenflora. u blüthetragender Pflanzen den höheren Kry— ptogamen. Neuere Forſchungen, beſonders die von Prof. Williamſon (Owens— College, Mancheſter), haben viel zur Be— ſtärkung der Anſicht beigetragen, daß die GymnoſpermenKlaſſe ſich urſprünglich aus einem Kryptogamen-Typus, der heute durch die Lycopodien vertreten iſt, entwickelte. So viel iſt ſicher, daß die gefundenen foſſilen Ueberreſte die Exiſtenz von vielen und ma— nigfaltigen Gymnoſpermen-Typen während der ungeheuren Periode der Kohlen- und oceaniſchen Schichten beſtätigen, in welchen keine anderen blüthetragenden Pflanzen, mit der möglichen Ausnahme einer einzigen endo— genen Art, entdeckt worden ſind. Während der Secundärzeit findet man Endogenen in foſſilen Ablagerungen in geringer Anzahl und von zweifelhafter Herkunft; der höhere Typus von exogenen Pflanzen erſcheint uns in direkter Evidenz erſt gegen Mitte der Kreideperiode. Da finden wir auf einmal in Ablagerungen, weit über die nördliche Hemiſphäre ausgebreitet, eine Menge von Arten, welche ganz verſchiedenen Typen an— gehören, aber meiſtens lebenden Pflanzen ſo ſehr gleichen, daß Paläontologen ſie ohne Zögern exiſtirenden Gattungen zurechnen. Was immer auch für Zweifel über gewiſſe Arten aufkommen mögen, ſo iſt doch be— wieſen, daß in der Mitte der Kreidezeit in Europa, Nordamerika und weit nördlich vom Polarkreiſe in Grönland zahlreiche Bäume vegetirten, die zu vielen verſchiede— nen natürlichen Ordnungen gehörten und mit lebenden Pflanzen der warmen, gemäßigten und ſubtropiſchen Zonen nahe verwandt waren. Von jener Zeit bis heute kann die Geſchichte der Baumvegetation in den Nie— derungen der nördlichen Halbkugel ununter— brochen verfolgt werden, wenn auch zweifels— ohne in vielen Theilen noch ſehr unvoll— Ball, Ueber den Urſprung der Europäischen Alpenflora. ſtändig. Sehr wenige Typen ſind ver— ſchwunden, viele ſind nach den wärmeren Theilen der Erde ausgewandert, während andere noch ihre Stelle in der nördlichen gemäßigten Zone behaupten. In vielen Fällen können wir eine Reihe von verbindenden Formen zwiſchen den früheſten bekannten Arten und den heutigen wickelung der Haupttypen von blüthetragen— verfolgen. Es iſt alſo daraus zu ſchließen, daß trotz großartiger Veränderungen in den phyſikaliſchen Bedingungen und trotz der noch in der Erde bewahrt bleiben konnte. Vor größeren ſeither verfloſſenen Zeitdauer, die Umwandlung in dem uns ſo offengelegten Theile der Erdvegetation eine verhältniß⸗ mäßig geringe geweſen iſt. Wenn aber zu Anfang des früheſten, uns zugänglichen Erd-Geſchichtskapitels, die Evolution der blüthetragenden und beſonders der exogenen Pflanzen ſchon ſoweit vorgeſchritten war, — wo, frage ich, müſſen wir dann die früheren Formen ſuchen, jene Stammtypen, von denen unfre heutigen Gruppen herrühren? und wo wiederum jene viel entfernteren Formen, welche die ſo viel Kopfzerbrechen erzeugende Lücke zwiſchen Endogenen und Exogenen ausfüllen ſollen? Von der gänzlichen Abweſenheit exogener Bäume in den frühen Foſſil-Ablagerungen betroffen, ſtellte de Saporta — eine der beſten Autoritäten über dieſen Gegenſtand — Vermuthungen an, von denen, meiner An— ſicht nach, die eine unwahrſcheinlicher iſt als die andere. Er meint, dieſer Vegetationstypus hätte ſich in irgend einer iſolirten, mit den uns jetzt bekannten Regionen früher nicht ver- bundenen Ecke der Erde allmählich entwickelt, oder aber es wäre, unter dem Einfluß einer uns unbekannten Urſache, der Evolutions- prozeß zu jener Zeit ein außerordentlich ſchneller geweſen. Es bleibt uns hier keine andere Alternative übrig, als entweder auf | er den früheren 269 die Evolutionstheorie Verzicht zu leiſten, oder zuzugeben, daß der Urſprung der vor— handenen Typen von blüthetragenden Pflan— zen viel weiter entfernt liegt, als die Zeit, aus der wir direkte Beweiſe von ihrer Exiſtenz beſitzen. Ich will nun auszuführen ſuchen, wie wahrſcheinlich es war, daß die erſte Ent— den Pflanzen unter ſolchen Bedingungen ftattfand, daß uns keine Erinnerung davon Allem muß ich bemerken, daß die alten Vegetationsformen, den Kohlenſchichten und paläozoiſchen Formationen angehörend, unter ganz anderen phyſikaliſchen Verhältniſſen als den heutigen blühten, während gleichzeitig Erdtheile exiſtirten, wo wieder ſehr verſchiedene Bedingungen vor— herrſchten und die Evolution des Pflanzen— lebens einen ganz anderen Verlauf nehmen mußte. In der Geſchichte der Erde — als Feld des organiſchen Lebens — iſt ein Ereigniß, welches gewöhnlich nicht genug beachtet wird, von übergroßer Wichtigkeit. Ich meine die Ablagerung der Kohlen— ſchichten. Es iſt nicht zu viel, wenn man das Gewicht der uns bekannten Kohlenab— lagerungen auf 101, Billionen Tonnen ſchätzt und annimmt, daß ein gleiches Quan— tum in noch unentdeckten Ablagerungen, oder durch neuere Schichten verdeckt, oder unter dem Meere begraben exiſtirt. Das gäbe 21 Billionen Tonnen, welche, wie ausge— rechnet worden, 17 Billionen Tonnen Koh— lenſtoff enthalten, der faſt ganz aus der Atmoſphäre hergenommen werden mußte, wo er vorher in Verbindung mit Sauer— ſtoff als Kohlenſäuregas vorhanden war. Zur Bildung eines ſolchen Quantums Kohle mußten die Pflanzen jener Zeit mehr als 45 Billionen Tonnen Sauerſtoff c 270 ausſcheiden, und auf dieſe Weiſe die vorher in der Atmoſphäre exiſtirende Menge um ungefähr 4 Procent vermehren. Andere Urſachen, welche das Verhältniß der Koh— lenſäure in der Luft ſeit der paläozoiſchen Periode bedeutend verminderten, will ich ganz unberückſichtigt laſſen und nur daran erinnern, daß die ganze, jetzt in der Luft vorhandene Menge Kohleuſtoff auf 3 Billio— nen, 818,000 Millionen Tonnen enthaltend, geſchätzt wird. Der daraus zu ziehende Schluß, den ich für eine Unterſchätzung der Wirklichkeit halte, iſt, daß während der alten paläozoiſchen Zeiten, vor der Ablagerung der Kohlenſchichten, die Atmoſphäre zwanzig Mal ſoviel Kohlenſäure-Gas und bedeutend weniger Sauerſtoff als heute enthielt. Leider erlaubt mir der Raum und die Zeit nicht, an dieſer Stelle alle die Einwürfe zu be— ſprechen, welche Lyell in den ſpäteren Aus— gaben ſeines großen Werkes „Principles of Geology“ gegen dieſe Annahme macht. Jedenfalls iſt er mit denſelben bei competen— ten Autoritäten nicht durchgedrungen. Bekanntlich iſt die Kohlenſäure viel ſchwerer als die anderen, in der Luft ent— haltenen Gaſe, indem die Gewichtspropor— tion für ein gleiches Volum ungefähr wie drei zu zwei iſt. Befände ſich die Luft im Ruhezuſtand, und wären die Gasverhält— niſſe nicht durch Pflanzen und Thiere ge— ſtört, ſo würde der Procentſatz von Kohlen— ſäure in dem Maße abnehmen, wie wir uns über den Meeresſpiegel erheben. Aber die Quantität dieſes Gaſes in der Luft, wie wir ſie kennen, iſt ſo klein, daß ſie be— ſtändiger Störung unterworfen iſt. Pflan— zen verbrauchen Kohlenſäure, Thiere geben ſie der Luft zurück. Wo Vegetation über thieriſches Leben und den Verbrauch als Brennmaterial für Menſchen vorherrſcht, wie dies in den meiſten Gebirgsländern und Ball, Ueber den Urſprung der Europäischen Alpenflora. den Tropen der Fall iſt, ſollte die Pro— portion geringer, bei entgegengeſetzten Ver— hältniſſen größer ſein, während in beiden Fällen Luftſtrömungen die Wirkung auszu— gleichen ſtreben. Thatſächlich ſind die we— nigen, zu dieſem Gegenſtand benutzbaren Beobachtungen nicht übereinſtimmend und zu ungenügend, um daraus irgend einen allgemeinen Schluß betreffs des heutigen Standes der Dinge zu ziehen. In einer zwanzig Mal ſoviel vom ſchwereren Gaſe enthaltenden Atmoſphäre mußte jedoch die Gas Vertheilung in einer verticalen Richt— ung ſich wenigſtens der Gleichgewichts-Be— dingung nähern. Ein ausgezeichneter Mathe— matiker, mein Freund Graf St. Robert in Turin, hat das Problem ſtudirt und mir die Proportion von Kohlenſäure-Gas aus— gerechnet, welche auf ſucceſſiven Höhen in einer ruhenden Atmoſphäre gefunden würde, wenn dieſelbe am Meeresſpiegel zwanzig mal ſoviel Gas enthalte, als heute. Bruchtheile auslaſſend, will ich hier in runden Zahlen die ungefähren Ergebniſſe andeuten. Die heutige Proportion wird als 5 in 10,000 Gewichtstheilen angenommen. In den älteren paläozoiſchen Zeiten war ſie am Meeresſpiegel 100 Theile bei 3000 Meter ü. d. M. 82 n „ e 1 74 5 5000 5 67 8 „ 10000 12 Das Verhältniß, welches noch ſehr groß bis zur Höhe von 5000 Meter iſt, be— ginnt dann ſchnell abzunehmen und in der doppelten Höhe wird es verhältnißmäßig ſehr gering, wenig mehr, als zuweilen in der freien Luft beobachtet worden iſt. Aber nicht nur in Bezug auf die Pro— portion von Kohlenſäure-Gas muß das Klima der alten Gebirge von dem der Niederungen verſchieden geweſen ſein. In Ball, Ueber den Urſprung der Europäischen Alpenflora. Folge der hohen und gleichmäßigen Tem— peratur über dem ganzen Erdboden, mußte die Luft nahezu bis zur Sättigung mit Waſſerdampf geſchwängert ſein, und dieſe beiden Beſtandtheile dienten dazu, die con- ſtante hohe Temperatur der niederen Re— gion zu erhalten, indem ſie die Lichtwärme, nicht aber, wie uns Tyndall's Forſchun— gen gezeigt, die nicht-leuchtenden Strahlen frei durchließen. Wie wir geſehen, herrſch— ten jedoch auf den alten Gebirgen, und be— ſonders in den höchſten, jetzt kaum noch von organiſchem Leben bewohnbaren Regionen andere Bedingungen vor. Die Schneeregionen auf den paläozoiſchen Gebirgen waren wahrſcheinlich viel höher als ſie jetzt ſelbſt unter dem Aequator iſt; in der höheren Zone müſſen die täglichen Temperaturwechſel und der Einfluß der Jahreszeit faſt ebenſo fühlbar wie heute geweſen ſein. Hier waren alſo Exiſtenzbedingungen vorhanden, welche die Organiſation der Kryptogamen und Gymnoſpermen der niederen Gegenden nicht ertragen konnten und dieſelben Anpaſſungen des Organismus an ſeine Umgebung er— fordern, wie wir ſie in den Gebirgsfloren unſerer eigenen Periode beobachten. Ich be— haupte daher, daß wir auf den Hochge— birgen der antiken Welt den Urſprung jener höheren Vegetationstypen ſuchen müſſen, welche ſchließlich fortdauern ſollten, als die Erde in ihren neueren Zuſtand überging. In der unendlichen Reihe von Jahren, vom Anbeginn des irdiſchen Pflanzenlebens bis zur Ablagerung der Kohlenſchichten, diffe— renzirten ſich allmählich in verſchiedenen Welttheilen die verſchiedenen Typen der hauptſächlichen natürlichen Ordnungen und breiteten ſich dann allmählich aus, in dem Maße, wie Veränderungen auf der Erd— oberfläche dies erleichterten oder durch Hin— derniſſe erſchwerten. 271 Bedenkt man, daß, je enger irgend eine Art ſich an das kältere Klima der höheren Berge anpaßte, ſie in ihrer folgenden Lauf— bahn umſoweniger veränderten phyſicaliſchen Bedingungen ausgeſetzt geweſen ſein mußte, ſo wären alſo die meiſten Gattungen und viel— leicht eine gute Anzahl Arten unſerer heuti— gen Gebirgsflora vor dem Ende der Koh— lenzeit ins Leben gerufen worden, und ich bin überzeugt, daß die Facta der geogra— phiſchen Pflanzen-Vertheilung dies ſchließlich beſtätigen werden. Die an ſich ſelbſt ungeheure, in Ver— gleich mit den vorher verfloſſenen Aeonen aber nur kurze Periode zwiſchen dem Ende der Kohlenzeit und der letzteren Secundär— periode, als die höher organiſirten Pflan— zen in Foſſilablagerungen erſchienen, wäre ſonach zur allmählichen Differenziirung ſolcher Stämme verwendet worden, welche ſich für die Lebensbedingungen in niedrigeren Ni— veaux als ihre urſprüngliche Heimat eigneten. Auf dieſe Periode möchte ich den wahrſchein— lichen Urſprung vieler nun auf tropiſche und ſubtropiſche Regionen beſchränkten natürlichen Gruppen zurückführen, welche, für die da— maligen Verhältniſſe paſſend, ſchließlich in die Niederungen hinabſtiegen, zuſammen mit einigen Gliedern früherer Ordnungen, die ihre Entwickelung veränderten Bedingungen anpaſſen konnten. Es ſollten die ſich am früheſten den Lebensbedingungen in der niederen Region angepaſſten natürlichen Gruppen weiter über die Erde verbreitet ſein, als ſolche, deren Entwickelung in dieſer Richtung verzögert wurde; nicht nur weil die längere Zeit— dauer die Ausſichten zu ihren Gunſten vermehrte, ſondern weil ſie im Stande war, Veränderungen in der Vertheilung von Land und Meer zu benutzen, was Alles den ſpäteren Nachzüglern abgegangen. So Kosmos, III. Jahrg. Heft 10. 36 Zu: = — —— @ 272 iſt es wahrſcheinlich, daß Braſilien, einſt eine große Gebirgsregion, ſpäter durch Denudation abgetragen, während der frühe— ren ſecundären Periode durch einen ſich über den äquatorialen atlantiſchen Ocean ausdehnenden Archipel mit dem afrikaniſchen Continent in Verbindung ſtand. Gewiſſe Ordnungen und Gattungen wären auf dieſe Art im Stande geweſen, von einem Con— tinent auf den anderen hinüberzuwandern, während andere Gruppen, damals nicht für die Reiſe ausgerüſtet, nach dem Verſchwin— den des Archipels in dem Ocean ein un— überſteigbares Hinderniß finden mußten. Während der Tertiär-Periode ging in der nördlichen Hemiſphäre ein bedeutender Klima— wechſel vor ſich, und der Breitegrad-Ein— fluß auf's Klima ſcheint in den Niederungen viel bemerkbarer geworden zu ſein, als während vorhergehender Zeiträume. Gleich— zeitig mit dieſen Veränderungen wäre eine zunehmende Anzahl von urſprünglich nur den Gebirgen angepaßten Pflanzen zu den Ebenen hinabgeſtiegen, indem diejenigen, welche die geſchmeidigſte Organiſation be- ſaßen, ſich am weiteſten verbreiteten. Als | das Klima der Polarregionen ſich allmäh- lich dem heute vorherrſchenden näherte, wäre alſo eine gewiſſe Anzahl der weit verbreiteten Alpenpflanzen, die auf ſo nahe— liegenden Bergen wuchſen, daß ſie die ihnen gebotenen Transportmittel benutzen konnten, in die arktiſchen Gegenden geführt und mehr oder weniger weit innerhalb jenes Gebietes verbreitet worden; während viele andere zurückblieben, weil ſie ſich entweder weniger gut zum Transport eigneten, oder weniger den arktiſchen Bedingungen ange— paßt waren, welche, nicht zu vergeſſen, in vielen wichtigen Beziehungen von denen der Gebirge in niederen Breiten differiren. Als letztes Kapitel in der langen geo— Ball, Ueber den Urſprung der Europäiſchen Alpenflora. logiſchen Geſchichte kommt die Eisperiode. Ich leugne hier ſelbſtverſtändlich nicht ganz und gar die Wahrſcheinlichkeit der Darwin— Hooker-Lyell'ſchen, noch der von Chriſt und Griſebach aufgeſtellten Theorien. Ich könnte einige wenige Pflanzen nennen, deren gegenwärtiges Vorkommen auf den Gebirgen Central⸗Europa's wahrſcheinlich erſt von der Eisperiode herrührt, und außerdem wenige andere, welche vielleicht in neueren Zeiten von den Gebirgen Nordaſiens herübergekommen ſind; aber ich wage zu behaupten, daß die Einflüſſe der Eisperiode ſowohl auf die Pflanzenvertheilung, als auf das Klima Europas bedeutend überſchätzt worden ſind. Sogar während der Maximalkälte-Periode waren die höchſten Kämme der Alpen nicht vollſtändig mit Eis und Schnee bedeckt, denn wir erkennen noch an der Oberfläche die Grenze, über welche hinaus das damalige Eis nicht reichte, während in der mittleren Zone die Abhänge über den alten Gletſchern ein vom heutigen nicht ſehr differirendes Som— merklima beſaßen. Meiner Anſicht nach wirkte die Eisperiode inſofern auf das Pflanzenwachsthum in den Alpen, als ſie die Verticalhöhe der Vegetationszonen um ein- bis zweitauſend Fuß herabſetzte. Ohne hier auf weitere Details eingehen zu können, muß ich jedoch als direkte Be— ſtätigung dieſer anſcheinend kühnen Behaup— tung eine intereſſante Entdeckung des bekann— ten Italieniſchen Geologen Stoppani er— wähnen. In Erwägung, daß zur Zeit ihrer Maximal-Ausdehnung als die Gletſcher die Hauptthäler der Alpen ausfüllten, kleine Seen durch die Abdämmung der aus Sei— tenthälern kommenden Flüſſe gebildet wurden, und daß ſolche Seen wahrſcheinlich organiſche Ueberreſte von Thieren und Pflanzen jener Periode enthalten mußten, ſtellte Stop— pani an paſſenden Localitäten Forſchungen Ball, Ueber den Urſprung der Europäischen Alpenflora. an und fand in der That verſchiedene Beweiſe für dieſe Annahme in den Thälern der Lom— bardiſchen Alpen. In einem derſelben wurden mit thieriſchen Reſten auch ſolche von Ahorn, Buchs, Berg-Ulme und Eibe (Taxus), gleich— zeitig mit mehreren Blättern, die man einer unbeſtimmten Art von Magnolie zuſchreibt, entdeckt. Eine andere Ablagerung derſelben Pe— riode brachte Ueberreſte vom Kaſtanienbaum, der Tanne, der Haſelnuß, der Trapa na- tans, einer Waſſerpflanze, die jetzt in den Italieniſchen Seen ſelten, aber auf der Nord— ſeite der Alpen gewöhnlicher iſt, zum Vor— ſchein; ebenſo vom Wallnußbaum, welchen ich nur für eine Varietät des gewöhnlichen Kulturbaumes halte, der nicht mehr wild in Europa wächſt. Man muß in der That zugeben, daß während der Eisperiode die Ausnahme-Bedingungen, welche den briti— ſchen Inſeln und Skandinavien ein unna— türlich mildes Klima gaben, nicht mehr vorherrſchten, und daß vermehrter Regenfall, mit einer mäßigen Abnahme der Mittel— temperatur, eine große Ausdehnung der Gletſcher auf allen Gebirgen Nordeuropas verurſachte; daß aber das Klima von Mitteleuropa derartig geweſen ſein ſoll, daß die Pflanzen der hohen Alpen ſich über die Ebenen ausbreiten konnten, ſcheint mir eine unzuläſſige Annahme. Wenn die gegenwärtigen Gattungen und natürlichen Pflanzen-Ordnungen erſt in modernen geologiſchen Zeiten, während wel— cher offenbar nur ein bedeutender Wechſel in der Vertheilung von Waſſer und Land auf der Erdoberfläche ſtattfand, differenzirt worden ſind, ſo ſollte doch die Art und Weiſe ihrer Verbreitung in der Welt ziem— lich uniform ſein, da ähnliche Urſachen während des größeren Theiles ihrer Exiſtenz— periode gewirkt haben müſſen. Jedoch iſt das Gegentheil der Fall. Ein von keiner Theorie voreingenommener Botaniker, der die Vertheilung der weitverbreiteten Vege— tationstypen zu ſtudiren hätte, würde auf die verſchiedenſten Beziehungen zwiſchen den Hauptcontinentalmaſſen ſchließen. Nimmt man an, daß einige Typen in gewiſſen Gebieten größtentheils ausgeſtorben ſeien, ſo deuten die Thatſachen auf die Wahrſcheinlichkeit hin, daß große Zeiträume mit entſprechen— den Veränderungen auf der Erdoberfläche zwiſchen jene Perioden einzuſchieben ſind, in denen verſchiedene Ordnungen und wichtige Gattungen ſich über die Welt verbreiteten. Die Gegenſätze, welche die Vegetation nachbarlicher Berggruppen und ſogar ver— ſchiedener Theile derſelben Gruppe aufweiſt, zeigen, daß ein großer Theil der Alpenflora nicht leicht durch die vorhandenen Trans— portmittel verbreitet wird, während die Er— ſcheinung derſelben Art an weit von ein— ander entfernten Stellen darauf hindeutet, daß ihre Verbreitung aus den früheſten geologiſchen Epochen herrührt. Alle Hinder— niſſe, welche heute die Pflanzenvertheilung in den verſchiedenen genannten Gebirgs— gruppen beſtimmen, müſſen während der vorhergehenden geologiſchen Perioden um ſo größer geweſen ſein, da der heutige Con— tinent von tiefen Meeresbuſen durchfurcht oder in einen Archipel aufgebrochen war. Und doch finden wir merkwürdige Beiſpiele von der Gegenwart derſelben Art an ſehr entlegenen Stellen, wie z. B. ein beſonderer und typiſch ſcharf abgegrenzter Alpen-Enzian der nur in den öſtlichen Pyrenäen, den nordöſtlichen Karpathen und in Kleinaſien gefunden wird, ſowie viele Arten, die den Pyrenäen und den öſtlichen Alpen gemein ſind, aber in der Zwiſchenregion fehlen. Ebenſo merkwürdig iſt das Vorkommen verſchiedener Arten der Gattung Ramon— 274 dia in den Pyrenäen, in Serbien und Theſſalien, ſowie einer verwandten Gattung, die durch eine einzige Art in den Rhodope— Bergen vertreten iſt. Es ſind dies die ein— zigen europäiſchen Vertreter einer natürlichen Ordnung, von der ein Stamm, Hauptjäd- | lich tropiſch-amerikaniſch, ſtark in den Anden ausgebildet iſt, während der andere, zu dem unſere europäiſchen Arten gehören, ſich um die ganze Welt hauptſächlich innerhalb der Tropen, verbreitet, indem ſeine Bergtypen meiſtens im Himalaya gefunden werden. Wahrſcheinlich wurde die Verbreitung ſolcher Arten und Gattungen wie dieſe, urſprüng— lich durch die gleichzeitige oder ſucceſſive Er— hebung von angrenzenden Theilen jener großen Hochlandsachſe bewirkt, welche die nördliche Hemiſphäre der alten Welt durch— ſchnitt, und iſt ſeither ein großer Zeitraum, während deſſen die Verbindungsformen ver— nichtet wurden, verfloſſen. Iſt das, was ich geſagt habe, irgendwie begründet, ſo müſſen wir die reichſten Floren, diejenigen, welche die größte Mannigfaltigkeit und die größte Anzahl beſonderer Arten auf— weiſen, auf jenen Bergmaſſen finden, welche ſeit einer entlegenen geologiſchen Periode wenigſtens theilweiſe über dem Meeres— ſpiegel erhoben geblieben ſind. Natürlich würden Striche, die an der Seite von ſinkenden allmählich erhoben wurden, von den letzteren einen Theil ihrer pflanzlichen Bewohner empfangen haben. Als allge— meine Regel gilt jedoch, daß eine bedeutende Flora-Migration faſt ſicher die Vernichtung vieler Arten mit ſich bringt und die Ein— wanderungsflora ärmer als die ihrer Heimat iſt. — Aus andern von Darwin hinreichend erklärten Gründen ſollten wir auch die größte Mannigfaltigkeit in einer Gegend finden, wo nachbarliche Gebirgs— maſſen auf lange Zeit iſolirt geweſen ſind Ball, Ueber den Urſprung der Europäiſchen Alpenflora. und etwa eine Gruppe von Inſeln gebildet haben, wo die ſie umgebenden Meerengen weit genug waren, um eine gegenſeitige Uebertragung zu verhindern. Wie groß auch die Niveau-Veränder— ungen in den Alpen geweſen ſein mögen, ſo viel iſt ziemlich ſicher, daß ein Theil der öſtlichen Alpen ſeit paläozoiſchen Zeiten über dem Waſſer geblieben iſt, und ſehr wahrſcheinlich gilt dasſelbe auch vom ſüd— weſtlichen Theil der Kette, welche bekannt lich eine viel reichere Flora beſitzt als der mittlere Theil der Alpen. Prof. Ramſey hat ſehr richtig angedeutet, daß, obwol ein Theil der Alpen während der mittleren Tertiär-Epoche um 4000 Fuß erhoben wurde, die Höhe der Kette vor dem Ereigniß wahrſcheinlich ebenſo groß war, wie ſie heute iſt; und Aehnliches kann man mehr oder weniger auch betreffs andrer Erhebungs— bewegungen in Hochgebirgsketten ſagen. Mit ſehr wenigen ſcheinbaren Ausnah— men ſind alle Gebirge, die eine reiche und mannigfaltige Flora mit vielen endemiſchen Arten beſitzen, Theile alter Continental— maſſen, die in verſchiedenen Perioden iſolirt, aber nie ganz untergegangen waren. Dies gilt für die Pyrenäen, die Karpathen, die Gebirge der Balkanhalbinſel und Griechen— lands, ſowie auch für den Kaukaſus, während die beiden Regionen, welche bekanntlich die reichſten Bergfloren beſitzen, Spanien und Kleinaſien, lange Zeiträume hindurch Archipele bildeten, auf denen die antike Flora bewahrt aber auf getrennten Inſeln vielen ſpezifiſchen Modificationen unter— worfen wurde. Andererſeits können wir die verhältnißmäßige Armuth andrer Re— gionen durch die Thatſache erklären, daß dieſelben innerhalb verhältnißmäßig mo— derner Zeiten aus dem O Ocean erhoben wurden. Davon geben Italien und va —— Sicilien merkwürdige Beiſpiele. Es iſt bemerkenswerth, daß die verhältnißmäßig wenigen endemiſchen Bergpflanzen Italiens in den Apenniniſchen Alpen werden, die, als die Halbinſel noch nicht aus der See erhoben war, ſeit der früheſten Secundärperiode eine kleine Inſel bildeten, ferner in einigen Theilen des ſüdlichen Apennins, deren Datum wahr— ſcheinlich ein gleiches iſt. Die ſcheinbaren Ausnahmen, welche Skandinavien und die Britiſchen Inſeln bieten, laſſen ſich dadurch erklären, daß beide wahrſcheinlich während einer verhältnißmäßig kurzen Periode nach der Ablagerung der neueren Tertiärſchichten faſt ganz untergegangen waren. So viel ich verſtehe, gilt dieſelbe Beziehung zwiſchen einer reichen Flora und der Erhaltung von altem Lande auch für die entfernteren Theile der Erde; doch giebt es zwei ſehr merkwürdige ſcheinbare Ausnahmen, die Kanariſchen und die Sandwich -Inſeln. Man kann deren Eigenthümlichkeiten in den betreffenden Floren nur durch die Annahme einer Continental-Verbindung oder wenigſtens einer Annäherung in einer möglichſt fernen Periode erklären. Leider fehlt mir die Zeit, auf dieſen ſowol, als noch auf manche andre Gegenſtände hier näher einzugehen. Man wird mir nun vorwerfen, daß an vielen Stellen meine Belege unvoll— ſtändig ſeien und daher wenig beweiſen. — Darauf kann ich keine treffende Erwider— ung geben. Die große Schwierigkeit Löſung dieſer Gebirgs- Vegetations-Pro— bleme beſteht eben in der Unvollſtändigkeit der vorhandenen Beweisſtücke. Die Ten— denz, poſitive Schlüſſe aus negativen Be— weiſen zu ziehen, iſt eine beſtändige Gefahr für wiſſenſchaftliche Männer und obgleich ich derſelben ſo viel wie möglich auszu— zur | gefunden Ball, Ueber den Urſprung der Europäiſchen Alpenflora. 275 weichen ſuchte, ſo weiß ich doch nicht, ob mir dies immer gelungen iſt. So viel iſt ſicher, daß, ſo lange unſer Planet nicht vollkommener bekannt iſt, wir beſtändig dem Irrthum ausgeſetzt ſind, wenn wir annehmen, daß eine Sache nicht exiſtirt, weil ſie noch nicht beobachtet worden iſt. Fernere Erforſchung und Beobachtung iſt Aufgabe der jüngeren Generation, und meine Arbeit ſchätze ich nicht als fruchtlos für die Wiſſenſchaft, wenn ſie neue Mit— arbeiter auf dieſem Felde herbeiruft und unſren Wiſſensſchatz durch neue Thatſachen vermehrt, ſeien dieſe nun beſtätigend oder abſprechend für die hier entwickelten An— ſichten. Bevor ich ſchließe, will ich ein Beiſpiel davon geben, welchen praktiſchen Werth eine einzelne zufällige Beobachtung hat, die ſich jedem Reiſenden in Europa ſo häufig auf ſeinen Wanderungen bietet. In Nor— wegen und dem Norden Schottlands exiſtirt eine nicht ungewöhnliche kleine Blume, die Trientalis, merkwürdig dadurch, daß ſie die einzige europäiſche Pflanze iſt, die als Regel ſieben Staubfäden und einen ſiebenthei⸗— ligen Blumenkelch beſitzt. — Vor zwanzig Jahren kannte man dieſelbe in den Alpen nur an zwei Stellen in der Nordſchweiz, und der berühmte Naturforſcher Oswald Heer bemerkt, es müſſe dieſe Pflanze während der Eisperiode zu den Alpen ge— langt ſein, habe ſich aber in ihrem neuen Gebiete nicht ausbreiten können. Nicht lange nach dem Erſcheinen des Heer'ſchen Werkes fand ich beim Hinabklettern von ſteilen Felſen in einer der unbeſuchteſten Ecken der ſüdlichen Alpen, etwa fünf Stunden von den Oliven- und Gitronen- Hainen des Garda-Sees entfernt, zu meiner freudigen Ueberraſchung die ſieben— ſtrahlige Trientalis aus Granitfugen heraus— 276 wachſend. Zu gleicher Zeit wurde dieſelbe Art in einem Friauler Thale gefunden, einige 80 Meilen mehr nach Oſten, und man kennt ſie jetzt ſchon in einem der Central— thäler Tyrols und an einer andern weit ent— fernten Stelle in den Weſtalpen von Savoyen. Auf dieſe Weiſe haben wenige zufällige Beobachtungen vollſtändig unſre Ideen über den wahrſcheinlichen Urſprung dieſer Pflanze in den Alpen geändert; anſtatt ſie als modernen Eindringling zu betrachten, müſſen wir ihr jetzt das Recht einer jener alten Familien des Landes einräumen, die unter unvortheilhaften Verhältniſſen leiden und mit gänzlicher Vernichtung bedroht ſind. Vor Allem möchte ich die Aufmerkſam— keit der Touriſten und Reiſenden auf jene beſcheidenen Pflanzen lenken, welche in der höchſten Region luftiger Berge wohnen, aus Felsriſſen hervorlugen oder mit ſchönem Ball, Ueber den Urſprung der Europäiſchen Alpenflora. Farbenſpiel die Ränder der ewigen Schnee— felder zieren. Jede neue Entdeckung von ſolchen Pflanzen iſt ein direkter Beitrag zur alten Geſchichte der Erde und kann uns als Führer in der ſchwierigen Auf— gabe, die Geſchichte des organiſchen Lebens wieder aufzubauen, dienen. Es wird das Intereſſe ſocher Nach— forſchungen nicht vermindert werden, wenn der Sucher mit mir glaubt, daß dieſe Orga— nismen, die von den großen Umwälzungen in der alten Pflanzenwelt unberührt geblieben ſind, die früheſten Formen der höheren Typen im Pflanzenleben vertreten, und daß ſogar einige derſelben heute die Alpenhöhen ſchmückenden Arten während der unermeßlich langen Zeiträume geolo— giſcher Alter unverändert auf jene Revolu— tionen hinabblickten, welche die Lebensformen der Erde langſam zerſtörten und erneuerten. I. Tabelle der in der Alpenflora vertretenen Familien.“) Ranunculaceae Rhamneae Campanulaceae Plantagineae Coniferae Berberideae Sapindaceae Vaccinieae Chenopodiaceae Gnetaceae — — —— 2 — — Nymphaeaceae |Anacardiaceae Ericaceae Polygonaceae Orchideae Papaveraceae Leguminoseae . 8 Irideae DE 5 Monotropeae Thymeleae Amarvllid Cruciferae Rosaceae een Elae maxyindege i Plumbagineae . Dioscoreae Resedaceae Saxifrageae : 8 oe Cistineae Crassulaceae Primulaceae Urticaceae Alismaceae Violarieae Droseraceae Dieatene Cannabineae Juncagineeae Polygaleae Halorageae Asclepiadeae Ulmaceae Potameae Caryophylleae Lythrariae Gentianeae Betulaceae Typhaceae — — + I} — Portulaceae Önagrarieae Polemoniaceae |Salieineae Aroideae Tamariscineae Umbelliferae G0 |Euphorbiaceae Lemnaceae — — 7 0 e . ——— Malvaceae Araliaceae . Buxineae Liliaceae Fillaceae Corneae Solanaceae Empetreae Melanthaceae Hypericineae Caprifoliaceae Scrophularineae |Aristolochieae Smilaceae Linea Rubiaceae 5 Cupuliferae Asparageae 5 an entibularieae 5 Geraniaceae Valerianeae Se] ö Corylaceae Junceae Rutaceae 1 . Dee Cina — Compositae Labiatae pe eh Graminaceae Ilicineae Santalaceae Celastrineae — * 1 ) Die unterſtrichenen Familien ſind nur in den Voralpen und Alpenthälern vertreten. \ Ball, Ueber den Urſprung der Europäischen Alpenflora. 211 II. Zahlen = Tabelle | III. Zahlen - Tabelle der allgemeinen Alpenflora. der Hochalpen-Flora. Nat. Ordnung Genera Species a Nat. Ordnung Genera Species Se Compositae 62 250 60 Compositae 38 145 30 Leguminosae 20 134 24 Cruciferae 17 74 11 Gramineae 48 134 13 Leguminosae 15 72 6 Cruciferae 26 115 18 Caryophylleae 10 71 10 Cyperaceae & 108 5 Gramineae 16 66 6 Caryophylleae 17 101 18 Cyperaceae 5 63 4 Umbelliferae 37 94 14 Scrophularineae 16 53 8 Scrophularineae 16 83 10 Rosaceae 11 49 5 Rosaceae 16 82 18 Umbelliferae 18 45 7 Ranunculaceae 15 71 22 Ranunculaceae 9 41 7 Labiatae 26 67 7 Labiatae 16 39 4 Liliaceae 13 43 6 Saxifrageae 4 37 6 Saxifrageae 4 42 9 Campanulaceae 2 30 4 Campanulaceae 6 42 4 Primulaceae 6 29 6 Orchideae 22 40 6 Gentianeae 3 23 1 Primulaceae 8 36 8 Orchideae 11 19 2 Boragineae 15 31 4 Junceae 2 18 2 Rubiaceae 3 30 9 Liliaceae 8 17 0 Salicineae 2 29 3 Crassulaceae 2 16 5 Junceae 2 27 4 Rubiaceae 2 16 3 Gentianeae 6 26 6 Salieineae 1 16 0 Geraniaceae 4 24 0 Violarieae 1 12 3 Polygonaceae 3 24 2 Polygonaceae 3 11 0 Crassulaceae 3 22 10 Onagrarieae 2 10 3 Euphorbiaceae 2 20 2 Valerianeae 2 10 0 25 Ordnungen 385 1675 282 25 Ordnungen 220 982 133 71 übr. Ordnungen 138 335 53 35 übr. Ordnungen 59 135 17 IV. Verbreitungs-Tabelle der Arten von Saxifraga. Im Weſentlichen nach Engler's Forſchungen. | 5 Kauka⸗ 1 lar⸗ er Nord- | NRody- Genus- Europ. Kar- Pyre⸗ 15 ſus und Hima= gat; f | H gen⸗ ; aſiatiſch[ Moun- Anden Abtheilungen | Alpen | pathen näen den 1185 laya Berge tains . li Cymbalaria 1 — — 7 2 1 — — — Tridactylites 3 2 2 2 1 = 1 1 — Nephrophyll. 4 4 1 4 2 4 4 2 — Peltiphyllum — — — — — = — 1 — Isomeria — — -- 1 — — . — 3 — Miscopetalum 1 1 1 — 1 — — — — Hirculus 1 — — 1 1 11 1 1 — Boraphila A ze 2 6 — 3 9 9 — Dactyloides 8 5 10 1 1 — 2 1 5 Trachyphyll. 3 2 2 6 1 13 5 5 — Robertsonia 1 — 3 = — Zr — — — Euaizoonia 8 2 3 2 1 = — — — Kabschia 8 An Eger — 3 2 — — — Bergenia — * — — 3 2 — — Porphyron 4 2 3 2 1 1 1 — Endemiſche \ Arten in 14 3 6 2 3 28 6 7 5 jeder Region) | 1 * mm I 2 5 Das leuchtende Barometer, eine Epiſode aus der Atomiſtik und der Naturphiloſophie des achtzehnten Jahrhunderts. Von Prof. Dr. S. Bünther. gan weiß, daß Johann Bernoulli ſeine der Univerſität Gröningen weſentlich der Experimentalphyſik und ſpeciell dem Studium des Barometers zuwandte. Hier conſtruirte er das rechtwinkelige Barometer, hier ver— faßte er zwei Abhandlungen über das aller— dings von Picard erſtmalig wahrgenommene Leuchten des Queckſilbers in der Barometer— röhre.“) Dieſe letztere an ſich ziemlich irre— levante Beobachtung trug dem Entdecker mehr äußere Ehren ein, als ſo manche ſeiner un— ſterblichen Leiſtungen im Gebiete der höheren Analyſe. Wichtiger jedoch als die Thatſache an ſich wurden die mannichfachen Erklärungs— verſuche, welche ſich an das einmal wahrge— nommene Phänomen anknüpften. Wer mit der Phyſik des verwichenen Jahrhunderts nur einigermaßen vertraut iſt, der weiß zur Genüge, mit welchem Selbſtvertrauen, um 250 Merian, Die Mathematiker Bernoulli, Baſel 1860. S. 24. © wiſſen⸗ N ſchaftliche Thätigkeit während ſeines kurzen Aufenthaltes an nicht das vielleicht noch treffendere Wort Naivetät zu gebrauchen, man damals an beliebig verwickelte Naturerſcheinungen heran— trat; ein Nachklang jenes ſelbſtgenügſamen Philoſophirens über alles Mögliche, in dem wir die eigentliche Signatur der ſcholaſtiſchen Periode zu erblicken gewohnt ſind. Eine pragmatiſche Geſchichte der Phyſik wird nur dann möglich ſein, wenn man dieſer Ge— wohnheit des Zeitalters, gegen welche die moderne Abneigung, Hypotheſen anders als im äußerſten Nothfalle zuzulaſſen, vortheil— haft abſticht, recht ausgiebig Rechnung trägt. Einem Kenner jener Verhältniſſe wird es nun nicht ſchwer werden, das eine oder andere Kapitel der Naturlehre zu nennen, in welchem jene üble Angewohnheit in be— ſonders ſcharfer Weiſe hervortritt. Dem Verf. dieſes iſt immer die Lehre von der „Phos- phorefcenz des Merkur“ als eine ſolche vor— gekommen, die man beſonders gut als Beleg für ſeine oben aufgeſtellte Behauptung ver— werthen könnte; andererſeits aber dürfte dieſelbe wohl nicht allzuvielen bekannt ſein. Günther, Das leuchtende Barometer. Allerdings hat Poggendorff in dem aus ſeinen langjährigen Vorträgen erwachſenen Geſchichtswerk auch dieſe Epiſode ſo aus— führlich behandelt, als dies eben mit ſeinem Zwecke vereinbar ſchien, allein darüber dürfen wir uns nicht täuſchen, daß das mit ſtaunens— werther Quellenkenntniß gearbeitete Buch doch immer nur ein Skelet iſt, dem Fleiſch und Blut erſt noch durch zahlreiche Detail— unterſuchungen wird eingefügt werden müſſen. Gleichwohl werden wir — da uns ein faſt nie verſagendes literariſches Repertorium, das Gehler'ſche Wörterbuch, in dieſem Punkte etwas im Stiche läßt (Artikel „Baro— meter“, Schluß) —, um einige Orientirung über die fraglichen Controverſen zu gewinnen, uns an Poggendorf halten müſſen, welcher, nachdem er von Johann Bernoulli etwas ausführlicher geſprochen, folgender— maßen fortfährt (S. 504): „Zur Darſtellung leuchtender Barometer gab er drei verſchiedene Vorſchriften, die aber alle nicht das Rechte trafen, dagegen rief ſeine Abhandlung eine ganze Fluth von Schriften über das räthſelhafte Phänomen hervor. So ſchrieben darüber 1706 der berühmte hol— ländiſche Phyſiker Musſchenbroek und der franzöſiſche Arzt Dutal; 1708 der Engländer Hawksbee; 1710 der Hol— länder Hartſoeker, welcher Bernoulli heftig angriff und dafür von dieſem ebenſo derb zurechtgewieſen wurde; 1715 der Prof. der Mathematik J. F. W. Weidler zu Wittenberg; 1716 J. G. Liebknecht, Profeſſor der Mathematik zu Gießen, und Michael Heuſinger, ebendaſelbſt; 1717 der franzöſiſche Phyſiker Mairan.“ Erft 1723 erkannte Duf ay, daß das Leuchten nur bei ausgekochten Barometern gehörig hervortrete, doch blieb auch er bei dieſer nur das Thatſächliche, nicht jedoch die beſſere Erkenntniß des Experimentes fördernden 279 Eutdeckung ſtehen. Wer eigentlich für die cauſale Begreifung jenes maßgebend geweſen, ſagt uns Poggendorff nicht, doch weiß man, daß eben der erwähnte Hawksbee zuerſt die Mitwirkung der Elektricität ver— muthete, und daß Tremb ley dieſe Ver— muthung auf einen höheren Grad von Gewißheit erhob. Doch dies nur beiläufig. Wer aller— dings im Gebiete der realen Wiſſenſchaften hiſtoriſche Studien lediglich zu dem Zwecke betreibt, die erlangte Bildung auch nach dieſer Seite hin harmoniſch abzurunden, dem muß vor Allem daran gelegen fein, die poſitiven Fortſchritte in dem Sinne etwa, wie ſie von Poggendorff regiſtrirt werden, kennen zu lernen. Anders derjenige, der die Leiſtungen vergangener Zeiten um ihrer ſelbſt willen beachtenswerth erachtet; ihm, der das Ganze zugleich unter dem univerſelleren Ge— ſichtspunkt der Kulturgeſchichte betrachtet, bietet nicht ſelten ein Irrthum daſſelbe oder ein noch größeres Intereſſe, als eine auf dem normalen Wege ſich vollziehende Förder— ung unſerer Naturerkenntniß. Nicht ſelten | wohl ereignet es ſich auch, daß Anſchauungen, die bereits längſt der Vergeſſenheit anheim— gefallen ſchienen, von Neuem auftauchen und nun auch vollſtändig zur Herrſchaft gelangen; jetzt iſt es des Hiſtorikers Aufgabe, dem Spruch des weiſen Rabbi Akiba zu ſeiner Ehre zu verhelfen und die unſichtbaren Fäden bloszulegen, welche das Einſt mit dem Jetzt in Verbindung ſetzen. Man denke nur an die moderne Atomiſtik. Gründliche Sach— und Geſchichtskenner, wie Laß witz, haben nachgewieſen, daß die Umbildung der epi— kuräiſchen Lehre, welche Gaſſendi's Namen ſeiner Zeit zu einem hochberühmten machte, in der That auf ganz geſunden Grundlagen beruht, und daß wir mit der Poſtulirung endlicher, abſolut harter und ſphäriſcher Mo— Kosmos, III. Jahrg. Heft 10. 37 280 naden ganz wieder zu jener uralten Auf— faſſung des Atoms zurücklenken, über welche die complicirten Hypotheſen des folgenden Jahrhunderts irrthümlicherweiſe zur Tages— ordnung übergehen zu können vermeinten. Und ſonderbar — das Wirbelatom, dieſe freilich ſehr verſchieden geartete Schweſter des von der kinetiſchen Theorie geforderten Stoff⸗Atomes, es iſt, mag auch die feinſte Analyſe dieſe Verwandtſchaft für den erſten Augenſchein zurückdrängen, nichts anderes als eine dem Zeitbewußtſein angepaßte Wiederbelebung jenes unzerſtörbaren kos— miſchen Fluidums der carteſiſchen Schule, welches in ſeiner Wechſelwirkung mit dem ſparſam darin vertheilten gröberen Stoffe | von Barth, welche unſere Aufmerkſamkeit für alle mechaniſchen Vorgänge den Schlüſſel abgab. Gaſſendi und Descartes, dieſen alten Antagonismus ſehen wir in neuer Geſtaltung vor uns, wenn wir die Auseinanderſetzungen zwiſchen den Kinetikern einer- und den Anhängern der Thomſon— Maxwell 'ſchen Richtung andererſeits vor unſeren Augen vorüberziehen laſſen. Von ſolchen Gedanken geleitet, war uns ſtets die Controverſe betreffs des leuchtenden Barometers als ein lockendes geſchichtliches Problem erſchienen. Da jedoch die Be— ſchaffung der Quellen gerade in dieſem Falle mit beſonderen Schwierigkeiten verknüpft iſt, ſo hätte die Ausführung dieſes Planes wohl Günther, Das leuchtende Barometer. hoffen. Einen ſolchen nun beſitzt die mit älteren mathematiſchen und naturwiſſenſchaft— lichen Drucken beſonders gut ausgeſtattete Stadtbibliothek zu Lindau;“) derſelbe umfaßt im Ganzen zwanzig größere und kleinere Mo— nographien und darunter durchaus das Wich— tigſte, was über das Kapitel der leuchtenden Barometer im eigentlichen Deutſchland über— haupt geſchrieben worden iſt. Denn außer den von Poggendorff genannten Abhand— lungen Liebknecht's und Heuſinger's und außer einer weiteren Diſſertation, die, wenn nicht von Weidler ſelbſt, ſo doch aus ſeiner Ideenſphäre herrührt, iſt es eine ſehr ausführliche, in den uns zugänglich geweſenen Repertorien nicht citirte Schrift feſſelt. Die einzelnen Stücke der Samm— lung ſollen nunmehr in ihrer chronologiſchen Aufeinanderfolge zur Beſprechung gelangen. Das erſte iſt ein kurzes „Schediasma physicum quo novum consilium baro- metra phosphorescentia sive in vacuo suo ad agitationem noctu fulgurantia noch lange auf ſich warten laſſen, wenn nicht | ein günſtiger Zufall derſelben zu Hilfe ge | kommen wäre. Da nämlich die den Gegen— ſtand behandelnden Schriften, wie ſich nach ähnlichen Vorkommniſſen im Voraus er— warten ließ, nicht ſowohl der Memoiren— als vielmehr der ungleich ſchwieriger zugäng— lichen Diſſertationen-Literatur angehören, fo durfte man höchſtens in einem Sammelbande, wie ſie ab und zu in den Bibliotheken ſich finden, reichhaltigeres Material anzutreffen We; conficiendi primum in lucem editur ra- tionesque totius negotii verosimillimae praemittuntur,“ gedruckt zu Wittenberg 1715. Ein Verfaſſer iſt weder auf dem Titelblatte, noch auch im Texte ſelbſt genannt, da aber Poggendorff, wie wir oben ſahen, den bekannten Wittenberger Aſtronomen Weidler im gleichen Jahre über den gleichen Gegenſtand arbeiten läßt, ſo liegt es gewiß nicht ferne, eine Verbindung, wo nicht Identität zwiſchen den beiden Schrift— ſtellern anzunehmen. Ob auch innere Gründe ) Aller Wahrſcheinlichkeit nach gehörte derſelbe dereinſt dem Magiſter und Stadt— pfarrprediger Gaupp, einem durch zahlreiche gnomoniſche Arbeiten damals auch in weiteren Kreiſen bekannten Gelehrten, von dem die Bibliothek noch eine ganze Reihe aſtronomiſcher Tafeln im Manuſfkripte aufbewahrt. — hierfür ſprechen, getrauen wir, die wir mit Weidler's ſonſtigen phyſikaliſchen Arbeiten nicht genau genug bekannt ſind, uns nicht be— ſtimmt zu entſcheiden; für den Schreiber des Schediaſma iſt der in jener Zeit äußerſt auffällige Umſtand charakteriſtiſch, daß er ein entſchiedener Vertreter der Aetherhypotheſe iſt. Der Aether iſt“) nach ihm eine aus außer— Kugeln zuſammengeſetzte Subſtanz. Manche in dieſem Aether den Träger der Lichterſcheinungen erblicken wollten, muß dem Anonymus von Wittenberg bekannt geweſen ſein, und in der That war ja ſeit Huygens' erſten Verſuchen, die Emiſſionstheorie durch die Undulationstheorie zu erſetzen, ſchon einige Zeit verfloſſen, allein im Verſtändniß dieſer letzteren war derſelbe offenbar nicht weit vorgeſchritten, denn ihm galten die Aethertheilchen ſchon an und für ſich für leuch— tend, und zwar glaubt er dieſe Eigenſchaft als eine aus der Kugelgeſtalt derſelben fließende a priori erklären zu können. Bei dieſer Gelegenheit erhalten die Theologen, „et qui ambitioso Philosophorum Mo— saicorum titulo superbiunt,“ d. h. alſo wohl die Verfaſſer der bibliſchen Realwerke (Scheuchzer, Wiedeburg, Reyher) einen Seitenhieb, weil ſie behaupten, aber nicht beweiſen, daß das urſprünglich geſchaffene Licht nichts anderes als der bewegte Aether geweſen ſei. Er ſelbſt nun ſtützt ſeine weiteren Betrachtungen weſentlich auf die beſonders in England angeblich zur höchſten Vollkommenheit gebrachte „machina phos- phorescens“, von welcher ich nirgends genauere Beſchreibung habe auf— können. Man denke ſich kleine eine finden ) Offenbar ganz die nämliche Grund— anſchauung, von der ſämmtliche neuere Stoß— theorien ausgehen. (Vgl. Iſenkrahe, Das Räthſel der Schwerkraft, Braunſchweig, 1879). Günther, Das leuchtende Barometer. | 281 Glaskugeln, welche unter der Luftpumpe nach Möglichkeit evakuirt worden ſind, ſo daß mithin auch der in ihnen enthaltene Aether in einem ſehr rareficirten Zuſtande | ſich befindet. An ſich bietet der Anblick der ſo präparirten Kügelchen nichts beſonderes, ordentlich kleinen und außerordentlich feinen Daß allein ſo wie man ſie auf eine Rotations— maſchine ſetzt und in ſchnelle Bewegung bringt, beginnen ſie von hellem Lichte zu erglänzen, ja förmliche Blitze zu ſchleudern. Auf einer ähnlichen Grundlage ſoll ein weiterer Verſuch beruhen: Verbindet man zwei ſehr luftfreie Gefäße, deren eines Queck— ſilber enthält, und läßt dann letzteres aus dem oberen in das untere Gefäß abträufeln, ſo wird hierdurch der in letzterem befindliche Aether in Bewegung verſetzt, er leuchtet, und man hat das Schauſpiel eines „feurigen Regens“ vor ſich. Dieſe Thatſachen be— weiſen alſo, daß der Aether nicht von Haus aus leuchtet, daß ihn aber ſtets eine heftigere Bewegung zum Leuchten bringt. Daß aber letzteres geſchieht, daran iſt eben die Kugel— geſtalt der Aetheratome ſchuld. Nicht, als ob dieſelbe beſonders geeignet wären, auf— fallendes Licht zurückzuſtrahlen, ſo wie etwa die Schneepartikelchen das Licht der Geſtirne reflektiren und dadurch eine dunkle Nacht in eine helle verwandeln, denn dazu ſind dieſe abſolut unſichtbaren Atome viel zu klein. Der Satz vielmehr, in welchem der Autor den Kern ſeiner Lehre zuſammendrängt, iſt ſo geſchraubt verabfaßt, daß wir ihn am beſten in der Originalfaſſung wiedergeben und uns nur deſſen Interpretation vorbe— halten. Er lautet: „At ideo eo confugio, quia ad motum illi aptissimi disseminatos in interstitiis suis igniculos, et primum quasi, in flammulas visibiles coagmen- tare, et ad fulgorem elicere existimo.“ Der Sinn ſoll wohl folgender fein: In ihrer regelloſen Bewegung ſtoßen die Aethertheil— 7 282 chen auf die allenthalben im Raume ver— theilten Feuertheilchen, treiben dieſelben auf dieſe Weiſe gegeneinander und veranlaſſen ſo, indem mehrere der Feueratome ſich zu einem Ganzen vereinigen, die Bildung ſichtbarer Feuer-Partikeln. Mit der oben erwähnten Bemerkung, die Sphäricität der Aetheratome ſei das eigentlich Beſtimmende für das Zu ſtandekommen der Erſcheinung, ſoll demnach nur geſagt ſein, daß nur kugelförmige Körper im Stande ſeien, die geforderten ungeheuer zahlreichen Stöße wirklich hervor— zubringen. Raume iſt der ganze beſchriebene Vorgang unmöglich, denn die grobe Luftmaterie ſtellt ſich allenthalben hindernd in den Weg; um die Verdichtung der feurigen Theile unter dem Einfluſſe der an ſie anprallenden äthe— riſchen Theilchen zu Stande zu bringen, bedarf es einer nahezu gänzlichen Abweſen— heit der Luft, wie man ſie eben in der Torricelli'ſchen Leere vorausſetzen darf. Wir halten dafür, daß dieſe kurze Skizze einer für die Erklärung eines beſtimmten Experimentes ausgeſonnenen Theorie voll— Günther, Das leuchtende Barometer. In einem mit Luft erfüllten — die experimentelle Baſis, auf welcher ſich der Erklärungsverſuch aufbaute, eine viel zu ſchmale war, als daß ein beſſeres Ge— lingen zu erhoffen geweſen wäre. Offenbar nämlich ſteht nur der eine der beiden Fun— damentalverſuche, und zwar der zweite, mit dem zur Aufklärung eigentlich vorgelegten Faktum in einem cauſalen Zuſammenhang, denn beim Durchgang des Queckſilbers durch den engen Hals eines aus zwei Ballons beſtehenden Gefäßes kann allerdings durch Reibung ein elektriſches Leucht-Phänomen ſich ergeben, gerade ſo, wie es bei einem wohl ausgekochten Barometer in Folge der Reib— ung der Sperrflüſſigkeit an der Röhren— wandung geſchehen kann. Was dagegen den Verſuch mit der Centrifugalmaſchine anbe— langt, ſo gehört derſelbe in eine ganz ver— | kommen ausreicht, um das eingangs aus- geſprochene Urtheil über den Grundcharakter der phyſikaliſchen Spekulation im achtzehnten Jahrhundert zu motiviren. Die Annahme des Aethers und des Aetherſtoffes, welche für jene Zeit immerhin noch keine jo be rechtigte war, als ſie dies in unſern Tagen geworden iſt, ſtellt ſich als unzureichend heraus; zur Ergänzung wird noch eine eigene Feuermaterie zu Hilfe geholt, ſo daß wir uns weſentlich wieder im alten ariſtoteliſchen Kreiſe der vier Elemente bewegen. Wenn irgend etwas den „Verfall der kinetiſchen Atomiſtik“ ſchlagend darzuthun geeignet iſt, ſo iſt es dieſer Verſuch, die Lichterſchein— ungen im Vakuum atomiſtiſch zu deuten. Freilich müſſen wir einräumen, daß auch — ſchiedene Kategorie von Erſcheinungeu. Aus der unbeſtimmten Ausdrucksweiſe des Ver— faſſers dürfte folgen, daß er jene Beob— achtung nur von Hörenſagen kannte; der Nerv des Verſuches dürfte darin geſucht werden, daß nicht ein beliebiger Glaskörper in Drehung verſetzt wurde, ſondern ein Leuchtſtein. Möglicherweiſe lag es im Inter— eſſe des engliſchen Künſtlers, auf den ſich der deutſche Gelehrte bezieht, ſeine Kunſt— ſtücke möglichſt verborgen zu halten und Anderen deren Nachahmung zu erſchweren. Jedenfalls hatte unſere Kenntniß von der Phosphoreſcenz der Körper gerade in der fraglichen Epoche erheblich gegen früher zu— genommen. Für unſeren Verfaſſer waren die von ihm angeführten Verſuche und Ueberlegungen hinlänglich überzeugend, um ſo mehr, als er auf ſeine Theorie, daß in Abweſenheit der. Luft die Bewegung der Aether- und Feuer— Atome ungehindert vor ſich gehen müſſe, eine Anleitung zur Verfertigung leuchtender Barometer begründen zu können glaubte. Günther, Das leuchtende Barometer. Und wirklich lag es nahe, dieſen praktiſchen Erfolg als die Feuerprobe zu betrachten, nachdem, wie wir ſahen, das Gelingen des Experimentes noch keineswegs allgemein ver— bürgt war. Allein die Nachwelt wird kaum geneigt ſein, dem Selbſtverdikt beizupflichten. Die Beſchreibung des Verfahrens iſt detaillirt und unterſcheidet ſorgfältig die Hilfsmittel derjenigen, welche einen vollſtändigen chemi— ſchen Apparat zur Verfügung haben, und derjenigen, welche nicht in dieſer glücklichen Lage ſind; ſchließlich jedoch läuft alles auf den Umſtand hinaus, daß das Queckſilber, mit dem man operiren will, recht vollſtändig ausgekocht und erſt in dieſem, nach Thun— lichkeit luftfreien, Zuſtande in die Barometer— röhre eingefüllt werde. Das iſt denn freilch völlig zutreffend, und wir haben mit Rück- ſicht auf dieſe ziemlich unzweideutige Dar- | ſtellung (§S 14 ff.) allen Grund, nicht ſo— wohl für den von den Geſchichtsſchreibern genannten Dufay, als vielmehr für unſeren Landsmann die Ehre der Priorität der Erfindung brauchbarer Regeln für die Con— ſtruktion phosphoreſcirender Barometer in Anſpruch zu nehmen. Allein darüber wird kein Leſer im Zweifel ſein, daß die theo— retiſche Erklärung und die praktiſche Vor— bereitung des intereſſanten Verſuches einander ſie doch unter dem Präſidium ſeines Lehrers Liebknecht vertheidigt, und nach damaligen akademiſchen Gepflogenheiten wog nicht ſelten der Antheil des Vorſitzenden denjenigen des Diſputanten auf.“) Die im Jahre 1716 eben zu Gießen herausgegebene Univerſitäts— ſchrift führt den Titel: „Dissertatio de noctiluca mercuriali sive de luce quam argentum vivum in tenebris fundit.“ Die Einleitung der Schrift iſt von be— deutendem geſchichtlichen Intereſſe, denn ſie belehrt uns weit deutlicher als tauſend an— dere Belege darüber, mit welch' chimäriſchen Ideen ſich unſere Altvordern trugen. An— knüpfend an eine gelegentliche Bemerkung des großen, aber oft allzu phantaſiereichen Leibniz ſpricht nämlich der Verfaſſer von der Möglichkeit, mittelſt des Queckſilberlichtes zu einem ewig dauernden, nie erlöſchenden Leuchtmittel zu gelangen, alſo zu einem optiſchen Seitenſtück des Perpetuum mobile! Dagegen wird mit einigem Rechte zwiſchen „noctiluca“ und „phosphorus“ unter ſchieden; letztere leuchten nur, wenn ſie vor— her direkter Beſtrahlung ausgeſetzt waren, erſtere — wie hier wenigſtens angenommen wird — von freien Stücken. Auf die Ge— ſchichte des Thema's ſolle nicht näher einge— ganz unvermittelt gegenüberſtehen, daß letztere | ihren ganz ſelbſtſtändigen Ursprung in der Erfahrung hat, und daß erſtere erſt a pos— teriori um jeden Preis hinzuerfunden werden mußte. ſamen Arbeit das Meiſte beigetragen, wiſſen wir an ſich nicht, denn wenn auch Johann Michael Heuſinger die Diſſertation gangen werden, da Weidler's Programm alles Wichtige darüber enthalte. Was nun das Thatſächliche anbetrifft, ſo müſſe zuerſt die anſcheinend keinem Geſetze unterworfene Beobachtung hervorgehoben werden, daß nicht bei jedem Barometer der phosphore— An zweiter Stelle ſoll uns das Dioſkuren- paar Liebknecht-Heuſinger beſchäfti⸗ gen. Welcher von den beiden zu der gemein- ſcirende Schein wirklich wahrgenommen wird. So ſei z. B. dem Profeſſor Liebknecht ) Heuſinger betont auch jo oft als möglich, daß die Erperimente von ihm und Liebknecht gemeinſchaftlich angeſtellt worden der philoſophiſchen Fakultät von Gießen an erſter Stelle eingereicht hat, ſo hat er ſeien, wie ja auch heute der Aſſiſtent häufig von der größeren Technik ſeines Chefs, und wohl auch umgekehrt, Nutzen ziehen darf. 85 Günther, Das leuchtende Barometer. unter den vielen von ihm ſelbſt verfertig- Als bei einer ſpäteren Gelegenheit das Queck— ten Inſtrumenten erſt ein einziges unter ſilber an ſeiner urſprünglichen Reinheit ver— die Hand gekommen, welches die bewußten Eigenſchaften gezeigt habe; damals habe ſich auch gleich ein größeres Publikum über— zeugt, daß das Licht dem Queckſilber ſelbſt entſtrahle und nicht, wie man anfänglich muthmaßte, ein bloßer Reflex der an der Röhre befeſtigten metallenen Skale ſei. Frei— lich ſei das betreffende Barometer, ſoweit man conſtatiren konnte, abſolut luftfrei, was ſich durch die ungemeine Feinheit, mit der es auch die allergeringſten Schwankungen des Luftdruckes anzeigte, controliren ließ; es ergebe ſich alſo, daß die richtigſten Baro— meter, deren Herſtellung ſelbſt Autoritäten wie Boyle und Hamberger anzweifelten, zugleich die für die Lichtexperimente geeignet— ſten ſeien. Dieſe letztere Behauptung beruht, wie wir jetzt wiſſen, auf objektiver Richtig— keit. Ein zweites älteres Barometer, das eine neue Füllung erhalten hatte, gewann dadurch, obgleich nicht ſämmtliche Luftblaſen hatten entfernt werden können, eine vorher nicht vorhanden geweſene Leuchtkraft. Dieſe beiden Barometer, deren Geſchichte uns ſo— eben erzählt worden iſt, ſind es nun auch geweſen, deren Beobachtung Liebknecht reſp. Heuſinger das nöthige Material für ſeine Hypotheſe geliefert hat. Eine ziem— lich umfaſſende Verſuchsreihe ſcheint in der That zur Verfügung geſtanden zu haben. Das Licht ſelbſt ſtrahlte gleichmäßig und ſtark unmittelbar an der Oberfläche der Flüſſigkeit, diffus und fladernd in einiger Entfernung davon; erſteres wird als „lux homogenea“‘, letzteres als „lux hetero- genea“ bezeichnet. Sehr merkwürdig kam den Beobachtern die uns ſehr natürlich er ſcheinende Wahrnehmung vor, daß auch an anderen Stellen der Queckſilberſäule, als blos oben am Meniskus, ſich Licht zeigte. loren hatte, verſagte auch der ſonſt immer geglückte Verſuch. Wir übergehen eine Anzahl anderer An— gaben über Modifikationen des Grundver— ſuches, da dieſelben wohl für die Geſchichte der Experimentalphyſik, minder aber für die der phyſikaliſchen Hypotheſen von Belang zu ſein ſcheinen. Sein Beſtreben einer mög— lichſt allgemeinen Auffaſſung bekundet Heu- ſinger übrigens dadurch, daß er den Licht— erſcheinungen des Queckſilbers nicht allein im Barometer, ſondern überhaupt bei allen analogen Vorkommniſſen nachſpürt, und zwar unterſcheidet er zwei Klaſſen von mechani— ſchen Vorgängen, welche mit einer Lichtent— wickelung verbunden find: den „succussus““, d. h. die Erſchütterung des in irgend einem durchſichtigen Gefäße eingeſchloſſenen flüſſigen Metalles, und die „effusio“, deſſen Ueber— gang von einem Behälter in einen anderen. Wir erinnern uns, die Phänomene dieſer zweiten Klaſſe bereits von dem Wittenberger Anonymus mit denjenigen im Torricelli'- ſchen Vakuum in Parallele geſtellt geſehen zu haben. Die theoretiſche Arbeit, welcher ſich un— ſer Autor hingiebt, nachdem er den Leſer mit der ganzen Fülle ſeiner erfahrungs— mäßigen Daten bekannt gemacht, beginnt mit atomiſtiſchen Betrachtungen. Es unter— liege keinem Zweifel, daß, wie alle Materie, ſo auch das Queckſilber unendlich theilbar ſei; könne man doch ſchon mit bloßen Hän— den daſſelbe in eine Menge kaum mehr ſichtbarer Theilchen zerlegen. Naturphilo— ſophen der Jetztzeit, welche an der Hand der Kant'ſchen Lehren von der aprioriſti— ſchen Nothwendigkeit der Annahme ſtarrer Atome ſich überzeugt haben, werden lächeln über den nutzloſen Fleiß, mit welchem ihre Vorgänger dieſe Nothwendigkeit ſich ſelbſt und Anderen ad oculos zu demonſtriren ſuch— ten. Glaubt doch Heuſinger unter einem guten Leeuwenhoek'ſchen Vergrößerungs— glaſe die Theilung eines an ſich ſchon ſehr kleinen Queckſilbertropfens in 27697152 Theile () zu Wege gebracht zu haben, doch iſt er fo ehrlich, hinzuzuſetzen: „Quem com- putandi modum quanquam fallere posse nec ipse plane nego.““ Daß, auch wenn die Möglichkeit eines ſolchen Verkleinerungs— Verfahrens zugegeben würde, daſſelbe nie— mals das Atom, ſondern günſtigſten Falles das Molekül zur Grenze haben könnte, wird nicht bedacht. Kurz — die unendliche Theil— barkeit der Körper gilt als bewieſen. Nun mehr aber fragt es ſich, welche geometriſche Form wir dieſen letzten Conſtituenten des Queckſilbers zuzuſchreiben haben — eine für damals ſchwierige und unter dem ge | ſchichtlichen Geſichtspunkt auch für uns ſehr wichtige Frage, bei deren Beantwortung der Verfaſſer mehr Takt an den Tag legt, als viele ſeiner Zeitgenoſſen. Wir erfahren hier nämlich, daß Clerikus und Samuel Clarke die Queckſilber-Atome für cylin- derförmig erklärt haben, weil, wenn dieſel— ben mit Ecken oder Kanten behaftet wären, ſie ſich unter einander häufig verſchränken und ſo unmöglich das leicht bewegliche Flui— duum liefern würden, als welches man doch das Queckſilber kennt! Ein prägnantes jener Uebergangszeit, welche über Neben— dingen das ewig beſtehende Hauptproblem der Molekularmechanik vergaß und von Laßwitz im 153. Bande von Poggen— dorff's „Annalen mit folgenden treffenden Worten gekennzeichnet wird: „Man wußte, daß ſich die Körper bewegten, aber vor Galilei dachte Niemand daran, dieſe Be— wegung quantitativ zu unterſuchen und feft- Günther, Das leuchtende Barometer. 285 zuſtellen, ſondern wo es Erſcheinungen der Körperwelt zu erklären gab, ſuchte man dieſe Erklärung wieder in den Eigenſchaften der Körper. Auch jetzt fragte man nicht nach den Bahnen der Atome, nach ihrer Schnelligkeit, Richtung und lebendigen Kraft, ſondern man warf ſich darauf, ihre Geſtal— ten zu beſtimmen und ſie mit Werkzeugen, Höhlungen, Haken und Hebeln zu verſehen!“ Nun, unſere Vorlage wahrt ſich dieſen Aus— ſchreitungen gegenüber ihren ruhigen Blick und ſpricht fi mir Hinweiſung auf Lemery's Lehrbuch der Chemie dahin aus, es ſei kein Grund gegeben, in dieſem Falle von der traditionellen ſphäriſchen Geſtalt der Elemen— tartheile abzuweichen. Wie man ſich aber auch mit dieſer Frage abfinden möge, ſo viel ſtehe jeden— falls feſt, daß die Atome den Raum nicht vollſtändig ausfüllten, ſondern Zwiſchen— räume zwiſchen ſich ließen. Ganz unum— gänglich iſt dieſe Vorausſetzung wohl nicht, denn wer ſolche „interstitia“ vermeiden wollte, konnte ja auch die Queckſilber-Atome als Parallelepipeda von rechteckiger oder regelmäßig⸗-ſechseckiger Baſis ſich denken und hatte dann einen lückenloſen Zuſammen— hang hergeſtellt. Wir freilich werden mit den beiden Gießener Gelehrten darüber nicht rechten, wenn ſie zwiſchen den einzel— nen Theilchen der Moleküle leere Räume und dieſe mit einem unwägbaren Medium Beiſpiel für die naturphiloſophiſche Untugend gefüllt annehmen. Die logiſchen Gründe, aus welchen die Exiſtenz dieſes letzteren fol— gen ſoll, ſind allerdings nur für Den be— weiſend, der von vorn herein von der Un— möglichkeit leerer Räume durchdrungen iſt. Eine beſtimmte Vermuthung über die Na— tur dieſes Aethers wird nicht aufgeſtellt, möglicherweiſe iſt derſelbe identiſch mit jenem, welcher unſere Augen trifft und zum Sehen anregt — ein immerhin bemerkenswerthes — — ᷑ — ==> 286 Zeugniß für den Umſtand, daß ſelbſt in früher Zeit die Vibrationstheorie des Lichtes ihre Anhänger hatte. Eine andere von der Mitwirkung des Aethers abſehende Lehr— meinung, welcher zufolge es unſichtbare Lichtſtrahlen *) geben ſollte, die erſt durch ihre Zurückwerfung vom Queckſilber die Eigenſchaft der Sichtbarkeit erlangten, wird aus verſchiedenen Gründen verworfen. Die Anhänger derſelben ſtützen ſich nämlich be— ſonders auf die angebliche Beobachtungs— Thatſache, daß das Queckſilber während ſeiner Lichtentwickelung eine hohle Oberfläche beſitze und ſo gewiſſermaßen als Sammelſpiegel wirke, während in ſehr vielen Fällen von einer ſolchen Concavität gar nicht die Rede ſein kann. Es liege vielmehr gar kein Grund für die Annahme vor, der Leuchtproceß des geſchüttelten Queckſilbers unterſcheide ſich ſeiner inneren Urſache nach von demjenigen anderer ſelbſtleuchtender Körper. Nicht etwa an die organiſchen Stoffe, wie faules Holz, Leuchtkäferchen u. ſ. w., werde dabei gedacht, denn daß deren Leuchten bei gänzlicher Ent— ziehung der Luft ein Ende erreiche, habe Boyle nachgewieſen, *) wohl aber an die mineraliſchen Phosphore, deren mehrere mit Namen angeführt werden. All' dieſen Ma— terialien iſt das gemeinſam, daß ihre in— | tramolekularen Hohlräume mit einer äußerſt feinen Flüſſigkeit gefüllt find, welche „lònei— ) Es liegt hier nahe, an das ſogenannte unſichtbare oder latente Licht Moſer's zu denken, welches vom Schauplatz verſchwand, als es Waydele gelang, alle demſelben zu— geſchriebenen Wirkungen in einfachſter Weiſe anderweit zu erklären. **) Sonderbarer Weiſe wird die menſch— liche Haut nicht der erſten, ſondern der zweiten Klaſſe zugerechnet. „De humano autem cor- pore beato Sturmio fidem habere possumus, qui contubernialis cujusdam cutem saepe in tenebris lucidam fieri vidit“ (S. 34). Günther, Das leuchtende Barometer, fera“ iſt, d. h. wohl im Ruhezuſtande die Fähigkeit des Licht-Ausſtrahlens beſitzt, von derſelben aber erſt dann Gebrauch macht, wenn ſie durch Erſchütterung des ſie bis da— hin bergenden Körpers ausgetrieben wird und in ſelbſtſtändige Bewegung geräth. Daß dieſe Art der Erklärung eben doch wieder eine „qualitas oceulta“ einführt, ſcheint deren Urheber nicht gemerkt zu haben; jeden— | falls dachte er nicht daran, eine direkte Aequi— valenz der motoriſchen und ſchwingenden Aktion zu poftuliven, wie fie für feinen Standpunkt vielleicht nicht gar zu ferne ge— legen hätte. Wir dürfen ſonach wohl be— haupten, daß auch dieſer Verſuch, die frag- lichen Erſcheinungen aus atomiſtiſchen Grund— vorſtellungen heraus zu begreifen, vollſtän— dig geſcheitert iſt. Anſcheinend iſt es Heuſin— ger ſelbſt nicht ganz wohl bei demſelben gewe— ſen, denn er ſucht feine eigene mit der kurz zu- vor beſtimmt zurückgewieſenen Reflexions— Theorie zu einem Ganzen zu combiniren; die Leuchtkraft der ausgeſchiedenen Aethertheilchen ſei immerhin eine außerordentlich geringe, meint er, und werde erſt durch Zurückwerfung an den kleinen Queckſilberkugeln hinlänglich verſtärkt, um auf unſer Sehorgan zu wirken. Die Gegner würden natürlich fragen, warum denn das Experiment ſo ſelten gelinge, wenn doch für ſämmtliche mit Queckſilber gefüllten Röhren die Bedingungen die gleichen ſeien, doch da könnten ſehr mannigfache Einflüſſe mitſpielen. Entweder erfolgt der Austritt der Aekhermaterie aus den Fugen ihres | bisherigen Gefängniſſes nicht rechtzeitig C brompte“), oder es treten nur wenige Lichtpartikeln überhaupt aus, oder fie zer- | ſtreuen ſich ſofort nach allen Seiten hin. Ein weiteres Hinderniß ſind die dem Queck— ſilber häufig beigemiſchten Flüſſigkeiten, deren | Wirkungsweiſe ſich der Atomiſtiker in doppel- ter Weiſe klar machen kann. Entweder näm— — un z (ich find, wenn das Queckſilber nicht rein iſt, die mehrfach erwähnten Hohlräume zwiſchen den Stofftheilen nicht durch Aether, ſondern durch die jenen Flüſſigkeiten ent— ſtrömenden Dämpfe erfüllt, oder auch es lagern ſich dieſe Dünſte ſo feſt vor die Lücken, daß ſie der durch den Stoß in Bewegung geſetzten Leuchtmaterie den Ausgang ver— ſperren. Dies läßt ſich hören, und indem der Autor noch weiter hinzufügt, auch die ſchwer zu vertreibenden Luftblaſen behinder— ten den Leuchteffekt des flüſſigen Metalles, iſt er der von ſeinem Wittenberger Vor— gänger klar erkannten Erfahrungswahrheit ſehr nahe gekommen, daß nur gut ausgekochte Barometer den Verſuch gelingen laſſen. An— ſtatt jedoch dieſe Conſequenz zu ziehen, be— ſchäftigt er ſich damit, zu erklären, daß und warum auch die äußere Luft einen ungün— ſtigen Einfluß ausüben müßte. Sie ver— zögert nämlich die Bewegung des ausge— ſtrömten Aethers, bewirkt, daß derſelbe nicht ſofort in leuchtende Kügelchen“) („globulos coelestes“) zuſammenſchieße, und unterbricht Günther, Das leuchtende Barometer. alle Augenblicke deren Zuſammenhang. War man einmal ſoweit, ſo lag es nahe, den Ausfall des Experimentes von dem Zuſtande der Atmoſphäre abhängig zu machen, und Heuſinger hat denn auch dieſen letzten Schritt gethan; die günſtigſte Zeit im ganzen Jahre ſind nach ſeinen Erfahrungen die trockenen Januartage (S. 43). ſtruſe Idee, daß ein im abſolut luftleeren ) Dieſe Worte legen die aus der ur— ſprünglichen Beſchreibung des Vorgangs nicht nothwendig folgende Muthmaßung nahe, daß das an ſich ſehr ſchwache Licht der Aether— theilchen erſt dann ſtark genug werden ſollte, um den Sehnerven zu erregen, wenn mehrere Partikeln ſich vereinigten. Damit iſt aber denn doch gejagt, daß auch zwiſchen den „himmliſchen Kügelchen“ von Anfang an Zwiſchenräume beſtanden. Raume auftretendes Phänomen von der augenblicklichen Witterung mit bedingt werde, fand in Dufay einen entſchiedenen Gegner und ſcheint zu keiner beſonderen Popularität durchgedrungen zu ſein. Am Schluße ſeiner Diſſertation kommt der Diſputirende noch— mals auf feine oben erwähnte Chimäre von der ewig brennenden Queckſilber-Lampe zu— rück; er glaubt an die Möglichkeit ihrer Herſtellung und ſchmeichelt ſich, aus dieſer dann rückwärts einen Beweis für die Richtig— keit ſeiner eigenen atomiſtiſchen Hypotheſe herleiten zu können. Denn wenn die Materie, ſo folgert er, welche eben den unverzehrbaren Leuchtſtoff in einer ſolchen Lampe abgäbe, wirklich ein beſonderes, von den grobſinn— lichen Körpern verſchiedenes Element iſt, ſo kann ſie nicht mehr vergehen, ſondern muß ſtets vorhanden und ſtets in der gleichen Verfaſſung ſein; aus der Exiſtenz des continuirlichen Leuchtproceßes folgt alſo umgekehrt die Richtigkeit der Annahme, daß zwiſchen den Körper-Atomen Lücken und dieſe durch eine beſondere „essentia coelestis“ ausgefüllt ſind. Der Abhandlung iſt beigedruckt die kurze Anrede, in welcher nach Schluß des Dieſe ab— | Redekampfes der Praeſes, Profeſſor Lieb— knecht, ſeinem trefflichen Schüler die üblichen Glückwünſche ſpendet. Auf den wiſſenſchaft— lichen Inhalt der behandelten Streitfrage geht der Redner nur kurz ein; er lobt die redlichen Bemühungen Heuſinger's, enthält ſich jedoch einer direkten Zuſtimmung und hebt mit Nachdruck die ungeheuren Schwie— rigkeiten hervor, welche gerade dieſes Problem allen Naturforſchern biete. Ihm ſelbſt habe ſich bei ſeinen lange Zeit fortgeſetzten Be— mühungen, der Sache auf den Grund zu kommen, dieſelbe faſt mehr und mehr ver— ſchleiert. Man geht wohl nicht fehl, wenn man in dieſer etwas kühlen Haltung des * Kosmos, III. Jahrg. Heft 10. © O . 288 Lehrers ein Zeichen dafür erblickt, daß die Hypotheſen des jüngeren Gelehrten nicht ſeine volle Billigung fanden. Als ein charakteriſtiſches Beiſpiel der Ungenirt— heit aber, mit welcher die Atomenlehre des beginnenden achtzehnten Jahrhunderts zu Werke ging, glaubten wir Heuſinger's Abhandlung im Gedächtniß der Neuzeit wieder auffriſchen zu ſollen. Der dritte Beitrag zur Lehre vom Baro— meterlicht, mit welchem ſich dieſe unſere ge— ſchichtliche Studie zu beſchäftigen hat, iſt die ziemlich ausführliche Schrift des Regens— burgers Johann Matthaeus Barth: De luce barometrorum, ut et aliis con- nexis argumentis epistola, qua insimul peculiaria quaedam experimenta novae- que phaenomenon hoc producendi me- thodi traduntur, Lipsiae 1716. Dieſen Barth, eine in der Entwickelungsgeſchichte der exakten Wiſſenſchaft ſonſt kaum bekannte Perſönlichkeit, kennt Poggendorff nicht. Für uns aber iſt ſeine Arbeit um deswillen werthvoll, weil ſich eine große Beleſenheit in derſelben ausſpricht, ſo daß wir ihr für unſere Zwecke manche literariſche Notiz ent— nehmen konnten. Barth beginnt ſeine Ausführungen mit einer negativen Kritik des verbreiteten Lehr— ſatzes, Licht und Aether ſeien ein und daſſelbe. Sein Hauptargument ſucht er darin, daß eben der letztere, ſolange er ſich im Zuſtande völliger Ruhe befindet, nicht leuchtet. Die Diskuſſion dreht fi anfangs weſentlich um die mehr den Theologen angehende Frage nach der Beſchaffenheit der „lux primigenia“.“) N 1 wird auch die von dem nicht ) Von den ungezählten Hypotheſen, durch 1 ſich beſonders das Mittelalter die Exiſtenz eines von der (noch nicht erſchaffenen) Sonne Günther, Das leuchtende Barometer. unabhängigen Lichtes plauſibel zu machen ſuchte, giebt. Zöckler's „Geſchichte der Bezieh— genannten Gelehrten, an den das offene Send— ſchreiben adreſſirt iſt, vertheidigte Anſicht bekämpft, die Sonne ſei ſelbſt nichts anderes, als ein aus unzählichen kleinen Partikeln zuſammengeronnener Aether-Ball. Dieſe neue Theorie von der phyſiſchen Beſchaffen— heit des Sonnenkörpers finde in den Forſch— ungen Hawksbee's, auf welche ſich der Urheber derſelben berufen wolle, keine Stütze, ſondern eher eine Widerlegung. Wir erkennen aus der ganzen Diatribe, wie ſehr ſich das eigentlich phyſikaliſche Stadium damals noch von allgemeinen metaphyſiſchen Schrullen beherrſchen ließ; ſo tritt uns hier wiederum der „metus vacui“, anderwärts häufig als „horror vacui“ bezeichnet, als Schreck— geſpenſt entgegen und veranlaßt den Verfaſſer zu weitläufigen Erörterungen darüber, daß ganz ebenſo der Aether in die Poren der Körper eindringen müſſe, wie das Waſſer einen rings vom Meere umgebenen Fels über und über benetze. Ganz ſcholaſtiſch ver— fährt der Verfaſſer ferner, wenn er mit Carteſius ein erſtes, zweites und drittes Element annimmt, wogegen er in einer an— deren Hinſicht wieder der modernen Trans— mutationstheorie ſich nähert; ſeine Elemente ſind nämlich keine unveräußerlichen Quali— täten, ſondern können wechſelsweiſe in einander übergehen. Einen Beweis für das Zuſammen— beſtehen dieſer drei Elemente ſucht er u. a. in der Conſtitution des Feuers, deſſen Atome zum Theil eine äußerſt dünne, nadelförmige Geſtalt beſitzen ſollen, ſo daß lebende Weſen bei Berührung mit denſelben Schmerz em— pfänden! Dieſe Auffaſſung der Flamme möchte wohl das tiefſte Stadium des Nieder— ganges 1 in welchen die reine Lehre ungen zwischen Theologie und Naturwiſſen— ſchaft“ gute Nachricht; vgl. insbeſondere die Theorie des Hugo v. St. Viktor (J. Band, S. 401). Günther, Das leuchtende . Gaſſendi's durch ihr Beſtreben, alle Er- welche ſich auf ein ganz merkwürdiges Rai— ſcheinungen mit der geometriſchen Geſtalt der Atome in Zuſammenhang zu bringen, ge— rathen war. Zu ſeinem eigentlichen Thema übergehend, kehrt Barth ſeine Waffen an erſter Stelle gegen die Reflextheorie. Er hat gewiß Recht, wenn er meint, die kleine Kuppe des Baro— meters könne unmöglich ſo viele Strahlen zurückwerfen, daß lediglich dadurch der be— trächtliche Licht-Effekt erzielt werde. Auch müßte, wenn man wirklich an eine Zurück— werfung des einfallenden Lichtes denken dürfte, der ganze Mantel des Queckſilber-Cylinders dabei in Mitleidenſchaft gezogen ſein, während man längs deſſelben in Wirklichkeit nur einen ganz ſchwachen, intermittirenden Licht— ſchimmer entdecke. Schließlich ſei es auch ſehr gleichgültig, ob die Wölbung der Kuppe concad oder convex ſei; die Erſcheinung bleibe in beiden Fällen die nämliche, und an irgend eine Wirkung nach Art ſphäriſch gekrümmter Spiegel ſei nicht zu denken. Zwei ganz ſchlagende Gegenbeweiſe endlich ſeien erſtlich der, daß in einem recht dunklen Raume die Lichtentwickelung eine beſonders ſtarke ſei, und zweitens der, daß durch bloßes Berühren und leichtes Reiben der Glasröhre, ohne alle beſondere Erſchütterung, das Queck— ſilber zum Leuchten gebracht werden könne. Seine eigene Auffaſſung des Leuchtphä— nomens — ſo leitet Barth das dritte Kapitel ſeiner Schrift ein — beſtätige ſich durch die ihm gelungene Herſtellung reiner und luft— freier Queckſilber-Cylinder. Was dieſes techniſche Verfahren betreffe, ſo führe man daſſelbe ganz mit Unrecht auf des Agricola Buch „De re metallica“ zurück; eher dürften Boyle's und Hamberger's Verdienſte in dieſer Sache angeführt werden. Durch Erwärmung der Flüſſigkeit erreiche man nicht den Zweck, alle Unreinigkeiten aus jener zu entfernen, eine Behauptung, ſonnement ſtützt. Da es wirklich nicht leicht hält, den Sinn derſelben kurz wiederzugeben, ſo laſſen wir ihn in der Sprache des Ori— ginales hier folgen (S. 48): „Aer, si ex interstitiis hydrargyri per varios anfrac- tus, et nonnunquam ipsa contactus puncta, evocatur, ac ejieitur, intra aretam viam, quam ipse quidem dilatatus, motusque penetrat, non tamen attrahet secum sordes, sed potius plurimas sub exitum deponet, ipsisque, quia corpus est hir- sutum, plumosum, et ramosum, globulis mercurialibus, etiam circa puncta con- tactus, hine ille illinet, et sie magis mas- sam inficiet, ac separabit, quam polie— tiem eidem coneiliabit.“ Was dieſen Zwiſchenräumen und Kanälen, welche ſich zwiſchen den Atomen hindurchwanden, nicht Alles aufgebürdet wurde! Die von Barth angegebenen Mittel beſtehen in der Einführ— ung eines eiſernen Drahtes in das Queck— ſilber, ſowie im Reiben der Röhre, wodurch auch nichtleuchtende Barometer in leuchtende ſollen umgewandelt werden können. Rein theoretiſchen Inhaltes iſt ſchließlich das vierte Kapitel. Als Grundverſuch für die geſammte Lehre von denphosphoreſcirenden Körpern dient der bereits oben von uns geſchilderte und für ziemlich bedenklich er— klärte, daß gewiſſe luftleere Gläschen auf der Rotationsmaſchine in lebhaftes Leuchten und Strahlenwerfen gerathen. In dem Gefäße befindet ſich, abgeſehen von höchſt unbedeutenden Luft-Ueberbleibſeln, entweder nur noch eine einzige homogene Materie oder aber eine Anzahl ſolcher Stoffe. Dieſelben können weiterhin entweder ſämmtlich ſelbſt— leuchtend ſein, oder nur einer der Stoffe hat dieſe Eigenſchaft, und die andern Ingre— dientien befördern wenigſtens die Geltend— 290 machung der letzteren, indem ihre Einzelbe— ſtandtheile durchweg in Bewegung gerathen. Günther, Das leuchtende Barometer. | durch äußere Friktion zurückkommend, bemerkt Sämmtliche Atome der verſchiedenen gegenſeitig verſchränkten Beſtandtheile können keine eckige und auch keine veräftelte*) Oberfläche beſitzen, da ſonſt der Bewegung ſich innere Hinderniſſe entgegenſtellen würden; vielmehr müſſen ſämmtliche Atome kugelförmig und ungeheuer klein ſein. So werden die allſeitig getroffenen Lichtkügelchen in gerader Linie auf das Auge des Obſervators zugetrieben. Daß ange— ſichts der unzählig vielen Reflexionen und Stöße, welche die Lichtatome allerorts doch offenbar erleiden müſſen, die austretenden Individuen ein hinlänglich ſtarkes Parallel— ſtrahlenbündel bilden ſollen, um den Seh— nerven entſprechend zu afficiren, iſt eben nicht ſehr wahrſcheinlich. Was nun von dem evakuirten, d. h. nie vollſtändig von Luft zu befreienden“) Glasgefäß gilt, wird ſich, meint Barth, noch ungleich ſicherer von der Barometerleere behaupten laſſen, welche im weit ſtrengeren Sinne des Wortes luftleer iſt. Man erinnert ſich von früher her, daß jene materia prima des Descartes, um deren nähere Beſtimmung ſich unſer Verfaſſer früher ſo viele Mühe gegeben, eben mit der hier ihre Rolle ſpielenden Leuchtmaterie ein und daſſelbe iſt. Auf die von ihm entdeckte Erregung der Leuchtkraft ) Seitliche Auswüchſe der Atome ſollten insbeſondere bei der Erklärung der Capilla— ritätserſcheinungen Nutzen bringen; mit ihrer Hülfe ſtiegen die Flüſſigkeitstheilchen an den Wänden in die Höhe! ) Die Unmöglichkeit, mit Luftpumpen alle Luft zu entfernen, iſt bekanntlich einer— ſeits ſchon durch die Exiſtenz des ſogenannten ſchädlichen Raumes, andererſeits aber auch durch die bloße Struktur der Verdünnungs— A Y a n 5 Asse Forme ( ;) bedingt (a Recipient, a b Geſammtheit der Hohlräume, n Anzahl der Stöße). er, zur Erklärung dieſes Experimentes ſei keineswegs die von einigen Atomiſtikern be— liebte „incarceratio,“ „concentratio“ und „impotentia libere vitrum penetrandi“ erforderlich, welche Einzelne dem Aether zu— ſchrieben. Barth denkt ſich dagegen den Hergang ſo: Setzt man durch Reiben die Glasoberfläche in Schwingungen, ſo nimmt an dieſen auch die umgebende Luft und der in deren Zwiſchenräumen eingeſchloſſene Aether Theil; letzterer vermag durch die Poren des Glaſes in's Innere der Röhre einzudringen und regt ſo den in deren oberen Theilen be— findlichen Aether zum Mitſchwingen, bezieh— ungsweiſe Leuchten, an. Hingegen war ein— gewendet worden, der in einem abſolut luft— leeren Raum befindliche Aether ſei nicht mehr ſo unbedingt beweglich, ſondern balle ſich von ſelbſt zu einer dichteren Maſſe zuſammen, allein dann wäre, von anderen nicht zu reden, der bekannte, zuerſt von Hawksbee und Leupoldt angeſtellte Schulverſuch nicht zu begreifen, bei welchem eine Münze und eine Flaumfeder in einer evakuirten Röhre gleichſchnell zu Boden fallen. Da aber an— dererſeits die geringere Leuchtkraft der im Vakuum befindlichen leuchtenden Subſtanzen zugegeben werden müſſe, ſo dürfe man den Grund hierfür wohl in der weit freieren und raſcheren Bewegung der Aethertheile ſuchen,“) welche die Vereinigung mehrerer ) Der hier gebrauchte Ausdruck, „quod liberior ibi et multo celerior fuga igniculorum“ verdient um deßwillen beachtet zu werden, weil er an die Terminologie der modernen Krönig— Clauſius'ſchen Theorie erinnert. Wenn wir von einem „Hagel“ oder! „Schauer“ der wirr durch einander ſchwirrenden Gas- oder Aether— atome ſprechen, ſo meinen wir daſſelbe, was Barth durch ſein „Auseinanderſtieben der Feuertheilchen“ bezeichnen will. Aehnlich drücken ſich auch ſpätere Atomiſtiker, ſo zumal Leſage, aus. ſolcher zu einem eigentlichen Lichtkörperchen hemme. Mit dieſer Annahme kann ſich auch die allerdings einzeln daſtehende Beobachtung Poleni's vertragen, der einzelne Luftblaſen durch Neigung der Röhre in die Leere ge— langen ließ und ſo eine Vermehrung des Lichtes bewirkte. Was endlich das von Poleni und Homberg befürwortete Auskochen betrifft, ſo möge das wohl ganz gut ſein, um kleine Häutchen aus den Atom— Interſtitien zu entfernen und zu bewirken, daß die Queckſilbermaſſe ſich enge an die Röhrenwandung anſchmiege, allein die Haupt— ſache bleibe doch immer, daß ein freier Durch— gang der „erſten Materie“ durch die Glas— wand möglich ſei. Ä Es wird ſich verlohnen, einen kurzen Rück— blick auf die anſcheinend ſehr verſchiedenen und jedenfalls in ſehr verſchiedener Weiſe zum Ausdruck gebrachten Theorieen zu werfen, welche ſich die drei deutſchen Gelehrten von ein und derſelben Erſcheinung gebildet hatten. Atomiſtiker ſind ſie durchaus, und ebenſo iſt für Alle drei die Thatſache feſtſtehend, daß zwiſchen den Körperatomen ein unſäglich feiner Stoff ſich ausbreitet, deſſen Leuchtkraft ſozuſagen eine latente iſt und erſt unter gewiſſen Vorausſetzungen ſich manifeſtirt. Ueber das nähere Weſen dieſes Auslöſungsprozeſſes, — ſo werden wir uns wohl am Richtigſten ausdrücken — gehen die Meinungen weit auseinander, und hier öffnet ſich uns Epigonen ein weiter Blick auf den Tummelplatz von Hypotheſen, in deſſen Beſitze ſich die ſpekulative Phyſik des acht— zehnten Säkulums ſo wohl fühlte. Das Wort „unerklärlich“ gab es in dem Lexikon Günther, Das leuchtende Barometer.“ e eee e 291 dieſer Zeit ſo gut wie gar nicht; jede Er— ſcheinung, und wäre ſie an die verwickeltſten Vorbedingungen gebunden, fand unverzüglich ihre Erklärung. Man hatte noch nicht ge— lernt, mit den „verae causae“ Newton's zu rechnen und in der Verwendung von unbeweisbaren Annahmen das größtmögliche Maß von Sparſamkeit zu üben, ſondern betrachtete die Eigenſchaften der Atome und— die Einkapſelung verſchiedener Atom-Syſteme in einander als die Panacee der theoretiſchen Naturwiſſenſchaft. Und dieſe Verirrung, an der bis zu einem gewißen Grade ſelbſt Leute von anerkanntem mathematiſchen Genie betheiligt waren, tritt eben gerade in der Frage nach der Natur des Oueckſilber— Phoſphoreſcirens zu Tage. Viel Scharfſinn ward an dieſelbe nutzlos verſchwendet; be— greiflich erſcheint dieſer Mißerfolg allerdings, wenn man berückſichtigt, daß das Problem wirklich zu den ſchwierigſten Aufgaben auf dem Grenzgebiete der Optik und Elektrici— tätslehre gehört. Steht auch das Princip des Phänomens ſeit geraumer Zeit feſt genug, ſo wird die detaillirte Feſtſtellung aller begleitenden Umſtände doch auch künftig noch die Forſcher beſchäftigen. Wir gedenken nur der jüngſt von E. Wiedemann (im V. Bande der neuen Folge von Poggendorff's „Annalen“) bemerkten Wahrſcheinlichkeit, daß die beim Durchgange der Elektricität durch verdünnte Gaſe auftretenden Lichterſchein— ungen mit jenen der Fluoreſcenz in innigem Zuſammenhange ſtehen, ſowie des neuer— dings mehrfach ſtudirten Leuchtens der Waſſerhämmer. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Ueber Verwandtſchaft bou Algen werthe Fortſchritte auf dieſem Gebiete an— mit Phanerogamen. ährend der Stammbaum des Thier— reiches in feinen allgemeineren Um— 5 riſſen, von allen Lücken im Einzelnen abgeſehen, den Zoologen unſerer Zeit ziemlich klar vor Augen ſteht, ſind hinſicht— lich der Erforſchung des Stammbaumes der Pflanzen nur erſt wenige Anfänge gemacht worden. Ein Buch des Referenten) und eine ähnliche Arbeit des ſchwediſchen Natur— forſchers Agardh find die erſten und, wie mein hochverehrter Lehrer Prof. Alexander Braun ſich ſehr richtig ausdrückte, „ver— frühten“ Verſuche geweſen, die Darwin'ſche Theorie auf die Botanik anzuwenden; das Problem liegt eben hier viel ſchwieriger, als auf zoologiſchem Gebiete, weil die Be— dingungen, unter welchen Pflanzen variiren, viel gleichartiger und unſerem Verſtändniſſe fremder ſind, als die des beweglichen, lau— fenden, ſchwimmenden und fliegenden Thieres. Seitdem haben namentlich Dodel-Port**) und Hermann Müller* *) bemerkens— ) Ernſt Krauſe, Die botaniſche Syſte— matik in ihrer Beziehung zur Morphologie. Weimar, 1866. ) Die neuere Schöpfungsgeſchichte, 1875. r) Kosmos, Bd. I, S. 100 flgde. gebahnt, und ein neuer Verſuch von Dr. Otto Kuntze liegt uns als Separatabdruck aus der „Flora“ von 1879 vor, wovon wir Anfang und Ende — die Mitte ent— hält ſpeciellere Ausführungen — wörtlich wiedergeben wollen: „Haeckel publicirte kürzlich folgenden heuriſtiſchen Stammbaum des Pflanzenreichs in der Zeitſchrift „Kosmos“, 1878, II, S. 369: Protiſten Algen 1. Thallo⸗ | Flechten, Bilzef phyten 99 5 Prothal⸗ Gefäßkryptogamen q loten — Gymnoſpermen Angioſpermen Antho⸗ Monveotylen | phyten Dicotylen 5 Es giebt mir dies Veranlaſſung, auf eine wenig bekannte Familie aufmerkſam zu machen, welche bei phylogenetiſchen Erwäg— ungen bisher faſt unbeachtet blieb, aber gerade von hoher Bedeutung für die Geneſis der Pflanzen iſt, die Podoſtemaceen.“) ) Referent hat in feinem oben erwähn— ten Buche (S. 171) ganz im Sinne Kuntze's auch auf die Podoſtemaceen in einer Stelle hingewieſen, welche wie folgt lautet: „Es iſt mir durchaus wahrſcheinlich, daß gewiſſe kraut— Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Die Arten dieſer Familie vereinigen Eigen— ſchaften von Algen und Phanerogamen, und zeigen derart einen direkten Uebergang; ähn— lich wie die Cytinene und Balanophoreae nach Anſicht mancher Botaniker die Pilze mit den Phanerogamen in nähere Ver— wandtſchaft bringen. Während man nun vielfach für letztere chlorophyllloſen Pflanzen zur Annahme geneigt iſt, daß ſie durch Verkümmerung aus höheren Pflanzen ent— ſtanden ſeien, und man dieſe Anſchauung nicht geradezu von der Hand weiſen kann, Fig. 1. Neolacis fucoides Weddel. Eine Podoſtemacee mit algenartigem Thallus. denn Verkümmerungszuſtände ſind im Pflan— zenreiche nicht ſelten, namentlich iſt im tiefen Waldesſchatten oder unter Laub, wo jene Pflanzen meiſt wachſen, eine Entgrünung von Pflanzen nicht ohne Analogon, ſo iſt es für die Podoſtemeen, welche nur im nicht tiefen, beleuchteten, raſchfließenden Waſſer wachſen, eine Regreſſionshypotheſe ganz un— ſtatthaft. Wohl giebt es auch Waſſerpflanzen, die aus Landpflanzen entſtanden ſein können und vielleicht auch eine geringe Regreſſion artige, blühende Waſſergewächſe, die durch ihre höchſt einfache Blüthenbildung, ſowie auch den ganzen Habitus den höheren Kryptogamen ſehr nahe ſtehen, mit denſelben ebenfalls durch einige nacktſamige Gattungen (die vielleicht ausgeſtorben ſind) verknüpft geweſen ſein erfuhren, aber die Beiſpiele, welche man dafür auführen könnte, ſind ſelten und frag— lich, und ſind ſonſtige grüne, reducirte Pflanzen vorherrſchend nur im ungünſtigen kälteren oder dürren Klima zu finden, wäh— rend die Podoſtemeen, weil algenartig, eine fabelhafte Regreſſion erlitten haben müßten und in 23 Gattungen und 103 gut differenzirten Species faſt nur tropiſch— kosmopolitiſche Waſſerpflanzen ſind. Die Uebereinſtimmung der meiſt blatt— mögen. Ich gedenke hier zumal der kleinen Familien der Zoſtereen, Piſtiaceen (Lemnaceen) und Podoſtemeen, die ſich doch wohl nicht unmittelbar den höheren Algen, Waſſer— farnen, Selaginellen u. ſ. w. anreihen laſſen, obwohl der Habitus dazu ermuthigt.“ = er (ofen Podoſtemeen mit Tangen iſt jo auffallend und namentlich find fie in Be— zug auf Configuration ebenſo variabel wie letztere, daß man gar nicht anders folgern darf, als daß es Algen mit Phanerogamen— blüthen ſeien; ihre Blüthen ſind übrigens entweder apetal oder ſonſt unvollkommen und ſehr einfach organiſirt. Ich gebe, um ihre Algenähnlichkeit darzulegen, einen kurzen Auszug ihres Habitus aus der allgemeinen Beſchreibung ihres letzten Monographen H. A. Weddel (D. C. Prodromus XVIY: „Die Kräuter ſind oft ſehr klein und haften an überſchwemmten Felſenklippen raſchfließender Gewäſſer oder Flußmündun— gen in den Tropen Aſiens, Afrikas, Ame— rikas (einige find litoral); die niedrigen find gewiſſermaßen nur aus Parenchym zuſam— mengeſetzt, nur die größeren zeigen Gefäß— bündel; der Stengel fehlt faſt oder iſt äußerſt verſchieden: bald aufrecht dichotom, verzweigt und blatttragend, zuweilen ge— wiſſe Mooſe nachahmend, am Grunde öfters verbreitert oder mit polſterartigem Fuß an— haftend, bald rhizomartig kriechend oder laubartig; ganz gleich dem Thallus mancher Lebermooſe oder Flechten und wie dieſe den Steinen eng anſchließend (dies iſt auch bei den Ulven der Fall). Echte Wurzeln fehlen meiſt gänzlich. Die Blätter fehlen den thallusartigen Species meiſtens, bei den ſtengelartigen ſind ſie in hohem Grade ver— ſchieden und zuweilen von gewöhnlichen Blattformen in hohem Grade abweichend, ſelten richtig geſtielt, ganzrandig oder un— gleich zerſchlitzt, oft dichotom getheilt. Ner— ven (wenn ſie exiſtiren) dichotom, ſeltener parallel. Die Knospenlage und der junge Blüthenſtand ſind zuweilen ſchneckenartig eingerollt.) Die polſterartigen oder ſtelzenartigen Haftorgane finden ſich ſonſt nur bei den Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Algen, da man die Saugorgane der Schmarotzerpflanzen hiermit nicht verglei— chen darf; das Fehlen der Gefäße und Gefäßbündel iſt von grünen Pflanzen den Algen und Mooſen eigen; doch giebt es auch wenige Phanerogamen, z. B. Najas, Ceratophyllum und Lemna ohne der— gleichen. Da nun die niederen Najadeen, Ceratophylleen und Lemnaceen eben— falls keine Differenzirung von Stengel und Blatt zeigen, wenigſtens keine andere als die Algen, ſo gehören ſie nebſt den Po— doſtemaceen zu einer Gruppe, die den direkten Uebergang von Algen und Phane— rogamen repräſentiren und für welche der Name Anthophycae paſſend ſein dürfte.“) ) Anm. d. Ref. Ueber die Anpafjungs- Aehnlichkeit vieler Waſſerpflanzen unter einan— der, und zwar nach Habitus und anatomiſchem Bau, heißt es in dem oben erwähnten Buche: „Die botaniſche Syſtematik u. ſ. w.“ (S. 151 — 152): „Daß eine ſolche Habitus-Aehn⸗ lichkeit durch Anpaſſung Urſache werden kann zu irrthümlichen Claſſificationen, ſehen wir bei einer Reihe Waſſerpflanzen aus den ver— ſchiedenſten Familien. Dieſes Element wirkt auf alle Pflanzen in ähnlicher Weiſe ein, ſo— wohl auf die äußere Geſtalt, als auf den inneren Bau. . . . (Folgen eine Reihe Bei- ſpiele.) . . . Die Aehnlichkeit der äußeren Er- ſcheinung veranlaßte zuerſt Oeder alle dieſe Pflanzen (Characeen, Hippurideen, Lemna— ceen, Ceratophylleen, Potameen) zu ſeiner Familie der Inundatae zu vereinen. Juſſieu folgte ihm hierin und verband alle dieſe Waſſerfamilien nebſt den Saurureen und Callitrichineen zu ſeiner Familie der Niren- kräuter (Najades). Schultz endlich, vom in— nern Bau geleitet, machte eine beſondere Klaſſe für dieſe und ähnliche Gewächſe, in welche er die Characeen, Fluvialen, Cerato— phylleen, Podoſtemeen, Lemnaceen, Hydro— charideen, Hydropeltideen, Trapaceen und Po— tameen vereinigte. Und dennoch iſt es aus den Sexualorganen nicht ſchwer zu erweiſen, daß dieſe Familien nur als Waſſerpflanzen — — — — — Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Wer nun analog die Cytineen, die noch dazu keine Cotylen, und die Balanopho— reen, die nur einen äußerſt einfachen, un— getheilten Embryo zeigen, für aus Pilzen aufſteigende. Entwickelungsformen betrachten will, kann fie als Anthomycetae mit den Anthophycae zu den niederſten Phanero— gamen ſtellen und als Anthothalloidae vereinen. Algen und Pilze ſind ja ohne— hin nur ſchwierig ſyſtematiſch zu trennen. ig. 2. Terniola pedunculosa Tulasne. Eine Podoſtemacee mit ulvenartigem Thallus und laubmoosartigen Blättern. Man kann aber andererſeits — und den Anthophyeae, welche früher gewiß häufig exiſtirten, nur daß ſie wie die meiſten Waſſerpflanzen nicht petrefaktionsfähig wa— ren, als Schmarotzerpflanzen abzweigten, ähnlich wie die meiſten Pilze aus Algen entſtanden ſein dürften, da ſie eine Prä— exiſtenz organiſchen Lebens bedingen, alſo nicht primitiv ſein können.“) ſich ähnlich ſind, ſonſt aber in ſehr verſchiedene Abtheilungen des Gewächsreiches gehören. Man würde in der Zoologie mit demſelben Rechte die Delphine und Walfiſche als wirk— 295 Für viele Podoſtemeen iſt übrigens, wie Weddel bemerkt, die Natur des Em— bryo nicht genügend bekannt. Thalloide Piſtiaceen und die gymnoſperme dicotyle Welwitſchia dürften ſich den Anthophy- cue direkt anreihen. Alle dieſe Pflanzen haben ohnehin eine unſichere Stellung in den bisherigen Syſtemen. Den Podoſtomeen iſt vorherrſchend der Algentypus eigen, ſeltener der Moos— typus, letzterer zuweilen nur ſcheidenartig, und die ſchneckenartig eingerollten Jugend— zuſtände mancher Species erinnern an eine bei Farnen häufige Erſcheinung. Einige Species ähneln gefiederten Blättern der Umbelliferen, indeſſen auch dieſe Form läßt ſich auf ähnliche Tange zurückführen. Merkwürdig iſt das kohlartig krauſe Blatt von Moureira fluviatilis mit unregelmäßigen Contouren; es gleicht einer Ulve, die Ner— vatur erhielt und dadurch aufrecht wurde. Im Allgemeinen pflegt man die Pflanzen in Laubpflanzen, Thallophyta, bei denen Stamm, Blatt und Wurzel nicht differen— dieſe Anſicht würde ich bevorzugen — auch annehmen, daß die Anthomycetae ſich von liche Fiſche betrachten können und die Enten— | muſcheln als wirkliche Weichthiere anſehen müſſe n. ) Anm. d. Ref. Ueber die Anpaſſungs— ähnlichkeit der Schmarotzerpflanzen ebendort | | zirt fein ſoll, und in Cormophyta, bei denen ni erkennbar iſt, einzutheilen. (S. 150): „In der That iſt der Einfluß einer ſolchen Anpaſſung an dieſelben Lebensver— hältniſſe auf die Geſtalt unverkennbar, und ein völlig übereinſtimmender Habitus kann bei Gewächſen der verſchiedenſten Abſtamm— ung die Folge ſein. Dahin gehört z. B. die Ernährung, welche nicht unmittelbar aus dem Unorganiſchen, ſondern auf Koſten anderer Gewächſe geſchieht. Es giebt ſolche ſchma— rotzende Gattungen in allen Pflanzenfamilien und ſie bieten eine nicht unbedeutende Ueber— einſtimmung ihrer Erſcheinung dar. Da ſie bereits erzeugten Nahrungsſaft von anderen Pflanzen empfangen, bleibt ſofort die Ent— wickelung des ernährenden Gewebes und der vegetativen Organe zurück und das Gewächs ſcheint anatomiſch und morphologiſch unter ſeine Stufe zurückſinken. Die Blätter bleiben \ Kosmos, III. Jahrg. Heft 10. 296 Die mannigfaltigen Thalluserſcheinungen bei den Podoſtemeen veranlaſſen mich, dieſen Punkt etwas zu beleuchten. Die niedrigſten Cormophyten ſind die Prothallota, wie ſie auch Haeckel in obiger Tabelle bezeichnet, welche in Mooſe ohne Gefäßbündel und in Gefäßkryptogamen eingetheilt werden. Die Grenzen dieſer Gruppe ſind, wie innerhalb der Podoſte— meen, ziemlich verwiſcht, denn einerſeits ſind Riccieen, Marchantieen, Anthocero— teen und niedere Jungermannieen nur Thalluspflanzen, die höheren Mooſe haben gefäßbündelartige Zellenzüge und ſolche fin— den wir auch bei den Tangen öfters, einige Deleſſeria-Arten haben ſogar deutliche dicotylenartige Nervatur; andererſeits finden wir bei Algen oft genug Stamm und Blatt nach Art anderer Kryptogamen und der Phanerogamen, beſonders der waſſerlieben— den, differenzirt; ferner haben Algen und Pilze ſehr häufig heteromorphen Genera- tionswechſel, was dem Weſen der Prothal- lotha gleich iſt, und außerdem kann man bei den ſogenannten heteroſporen Gefäß— nur durch Schuppen angedeutet, mit dem Athmungsproceß verſchwindet das Chlorophyll und die Spaltöffnungen, ſowie die Gefäße, und es entſtehen beinahe ſtets fleiſchige, pilz— ähnliche Geſtalten von ſonderbarem, überein— ſtimmendem Charakter. Soll man ſie nun abgeleiteten Typus betrachten und alle in eine Gruppe vereinigen als cotylenloſe Zwiſchen- gruppe von Phanero- und Kryptogamen? Aber unterſucht man darauf die Blüthentheile näher, in denen ſtets am deutlichſten die Verwandt— ſchaft ſich ausprägt, ſo findet man, daß man Gewächſe vor ſich hat aus den zum Theil ſich ſehr fernſtehenden Familien der Pirolaceen, Orobancheen, Convolvulaceen, Laurineen, Cy— tineen, Balanophoreen, Orchideen, Bromelia— ceen, Equiſetaceen und Anderen .. .“ und höheren Pflanzen entwickeln, während kryptogamen, alſo Selaginelle en, Iſoé— 2 Continent verblieben, ſich kaum erhalten anderen Organismen, können alſo erſt ſpäter vielleicht darum als einen von den Pilzen ſpäter größtentheils durch das Salz ver— Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. taceen, Marſileaceen und Salvinia— ceen nur den ſyſtematiſchen Anſchauungen zu Liebe von einem Prothallium reden, denn von dimorphem ſexuellem Generations— wechſel haben ſie keine Spur. Eigentliche Wurzeln haben auch die Mooſe nicht und von Gefäßkryptogamen fehlen ſie bei Psi— lotum und Salvinia.“ J Nach Aufführung zahlreicher Beiſpiele von algenähnlichem Habitus bei phanero- gamen Pflanzen fährt der Verfaſſer fort: „Je einfacher wir mit Thatſachen über— einſtimmende Hypotheſen aufſtellen, um fo eher kommen wir der Wahrheit nahe. Ich ſtelle mir die Geneſis der Pflanzen derart vor: Alle Pflanzen entſtanden aus einfach- ſten Formen, wurzelloſen Protiſten, d. h. einzelligen oder geftaltlofen Algen und Pilzen, die ſich nur durch Theilung vermehren; dieſe mußten als wurzellos von humus— freien, nacktfelſigen, älteſten Continenten ſtets dem Meere zugeſchwemmt werden und konn— ten ſich dort, im feuchten Medium vor Austrocknen geſchützt, zu kräftigeren Algen etwa Protiſten, die auf dem nackten Yelfen- konnten; Flechten ſind ein Conſortium von Algen und Pilzen, bedingen alſo deren Präexiſtenz; Pilze aber bedingen als Schma— rotzer die Präexiſtenz vom Humus oder terreſtriſch geworden ſein. In den ſalzfreien, reſp. ſalzarmen älte— ren Oceanen exiſtirte eine reiche Vegetation; dies wird durch viele Thatſachen geſtützt. Dieſe marine Flora war grün und wurde färbt, ſo weit ſie nicht dadurch zerſtört wurde; was allerdings zum größten Theil geſchah, da ſie der lebensfeindlichen Ver— ſalzung der Meere nur in geringem Maße er, entweichen konnte. Eine Verbreitung nach Continentalgewäſſern konnte nur zufällig durch zu Ende und nach der Carbonperiode erſt entſtandene Amphibien ſtattfinden, weil niedere Waſſerpflanzen nur Waſſerverbreit— ungsmittel beſitzen; Waſſer läuft aber nicht ſtromauf. Es erhielten ſich gegenüber der Verfolgung der urſprünglich nur ſubmarinen Seethiere ſolche Pflanzen beſſer, die ſuper— marine Früchte oder Befruchtungseinrichtun— gen, Blüthen, und in weiterer Folge ſuper— marines Laub erhielten; Laub aber, das in der Luft wachſen ſoll, muß mehrere den Algen meiſt fehlende Eigenſchaften erhalten: 1) eine gegen Verdunſtung ſchützende, kork— haltige Cuticula; 2) ein Traggerüſte; dies erfolgt a) durch ein ſtrangartiges, härteres Zellenſyſtem, Gefäßbündel oder bp) durch Steifwerden aller Zellen durch Einlagerung von Holzſtoff, ſo bei Lepidodendren, Si— gillarien, Coniferen, die faft” keine eigentlichen Gefäßbündel haben; c) durch ein Röhrenſyſtem durch Einlagerung von Kieſelſäure bei Equiſeten, Calamiten. Durch dieſe neuen Eigenſchaften wurden die Pflanzen zuerſt petrefaktionsfähig und wir haben keine Hoffnung, frühere Mittel— formen petrefaktiſch zu finden, weil ſubmerſe Pflanzen, mit ſeltenen Ausnahmen — le— derige oder kalkige Tange, Früchte — ſchnell verweſen. Auch primitive Pflanzen, welche ſich über Waſſer erhoben, dürften lange Zeit wenig Schutzmittel gegen Verdunſtung gehabt haben und deshalb wenig fähig zur Petrefaktion geweſen ſein, denn das Klima war in früheren Perioden über dem Erd— ball gleichmäßig und infolge deſſen waren die Oceane ſowohl als die Luft darüber relativ wenig bewegt, dagegen gleichmäßiger feucht. Schließlich hatte ſich die Meeres— Vegetation zur carboniſchen Periode wald— Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. und wieſenartig entwickelt, wie ich früher?) ausführlich darlegte. Die Bäume der carboniſchen Meeres— flora waren vorherrſchend Selaginellen und Waſſerfarnen verwandt, namentlich durch Makroſporen und Mikroſporen. Bei Sela— ginellen darf man von Generationswechſel, reſp. Prothallium eigentlich nicht reden, weil die wenigen Zellen, die man als Prothallium auffaßt, ſich innerhalb oder z. Th. an der Oberfläche des weiblichen Organes, der Makroſpore, entwickeln; bei den Mikroſporen wird eine Zelle willkürlich als rudimentäres Prothallium gedeutet. Freie iſolirte Pro- thallien, die eine andere Pflanze repräſentiren und den dimorphen ſexuellen Generations— wechſel bedingen, ſind bei ihnen verloren gegangen oder aber ſie haben ihn, wie die Fucaceen, überhaupt nicht gehabt. Bei den Fucaceen vereinigen ſich die Sper— matozoiden mit dem Eichen außerhalb der Pflanze und es entwickelt ſich aus dem be— fruchteten Ei ohne Prothallium ſofort die gleiche Pflanze wieder; die Annahme alſo, daß Selaginellen ſich direkt aus gleich— geſtaltigen Meeresalgen entwickelten, iſt völlig gerechtfertigt und wird durch ſehr ähnliche Tange beſtätigt. Es ſcheint mir wenig gerechtfertigt, die Gefäßkryptogamen in iſoſpore und hetero— ſpore einzutheilen, denn die iſoſporen haben nur reife Sporenfrüchte auf einer ober— irdiſchen Luſtpflanze, während ſich die Au— theridien und Archegonien auf einer anders geſtaltigen Pflanze, dem Prothallium, be— finden. Die heteroſporen Gefäßkryptogamen haben dagegen nicht dimorphen Generations— wechſel; deren Mikroſpore iſt nicht ein Fruchtzuſtand, ſondern enthält, den Staub— beuteln äquivalent, männliche Organe, die direkt Spermatozoiden, dem Pollen gleich, ) Kosmos, Bd. III, S. 232. 298 nur mit freiwilliger Bewegung, entwickeln; die Makroſpore entſpricht im jungen Zu— ſtande der weiblichen Blüthe und wird alſo erſt nach Befruchtung durch die aus zoiden zur Frucht. Allerdings findet bei heteroſporen Gefäßkryptogamen die Befrucht— tung erſt außerhalb der Stammpflanze im Waſſermedium, ähnlich wie bei Fucaceen (exoteriſche Fruktification), ſtatt, wenn die Spermatozoiden die Makroſpore fanden. Ob dies für Selaginellen auch ſtets Antheridien der Selaginellen können, wenn die Befruchtung in der Luft ſchon durch rinnenden Thau oder Regentropfen ſtattfindet, innerhalb der Aehre den weiblichen Organen zugeführt werden, ein Zuſtand, den ich Aehren-Thaubefruchtung nannte, wo— mit auch harmonirt, daß bei Selaginellen und ihnen verwandten carboniſchen Bäumen die zahlreichen Mikroſporen oberhalb in der Aehre ſituirt ſind. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. ranthen nicht äquivalent dem Induſium des Sorus der Prothalloten angeſehen, ſondern muß als Perianth, als Blüthenhülle, auf— gefaßt werden, wonach dann Perianthen, der Mikroſpore freigewordenen Spermato- | welche Makro- und Mikroſporanthen zu gleicher Zeit enthalten, als Zwitterperianthen Ebenſowenig wie man die Pflanzen in Blüthen- und Fruchtpflanzen eintheilen darf, iſt eine Eintheilung der Gefäßkryptogamen in iſoſpore und heteroſpore erlaubt, und ich ſchlage vor, um künftighin im Namen bedingte Verwechſelungen zu vermeiden, Mikroſporanthen und Makroſpo— ranthen ſtatt der als Früchte betrachteten Sporangien der Mikroſporen und Makro— ſporen zu gebrauchen, und nur für die be— fruchtete Makroſpore den Ausdruck Frucht anzuwenden. Was man bei ſogenannten heteroſporen Gefäßkryptogamen bisher als Frucht oder Sporangium bezeichnete, enthält nur unreife Befruchtungselemente, iſt alſo einer Blüthe oder vielmehr einem geſchloſſenen Blüthenſtand äquivalent. Im Verfolg dieſer Anſchauung darf die Geſammthülle der Mikro- oder Makroſpo kryptogamen ſagen. (wie z. B. Iſoötaceen — hier find fie wie bei manchen Algen, Lebermooſen und Po— doſtemeen noch im Thallus eingebettet und Marſileaceen) und ſolche, die nur Mikro- oder Makroſporanthen ent— halten, als dicliniſche d. h. männliche oder zutrifft, möchte ich bezweifeln; die zoogamen weibliche Perianthen gelten, wie bei Sela— ginella und den carboniſchen Lepido— dendren und Sigillarien, ſowie bei Salviniaceen. Für iſoſpore Gefäßkryptogamen könnte man hetero- oder dimorphe Gefäß— Wenn man Pro- thallota als Gruppe der Kryptogamen be— laſſen wollte, müßte man außer dimorphen Gefäßkryptogamen und Laubmooſen auch viele Pilze und viele Algen dazu nehmen; manche Algen haben ſexuell größeren Ge— ſtaltenwechſel als die ſog. Prothallota, z. B. Batrachospermum, Lemaniaceen“); manche ſind ſogar trimorph. Man braucht deshalb nicht anzunehmen, wie ich es auch früher that, daß die Mooſe und Farne ſich aufſteigend aus ihren Prothallien ähn— lichen Algen entwickelten, ſondern kann den Generationswechſel, ſoweit er bei Mooſen und Farnen exiſtirt, als ererbt auffaſſen. Für ſog. heteroſpore Gefäßkryptogamen könnte man Progymnospermae jagen; dieſer Ausdruck wäre in mehrfacher Hinſicht zu— treffend, denn außer der ſehr ähnlichen Be— fruchtungsweiſe, auf die ich noch zurückkomme, und dem fehlenden dimorphen Generations— Vergl. auch Prings heim, Ueber den Generationswechſel der Thallophyten im Mo— natsbericht der Berliner Academie, Juli 1876. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. wechſel, zeigen deren gereifte Früchte bereits einen primitiven Embryo mit Cotylen, ferner ein Endoſperm. Während nun ſelbſt die aörophilen Selaginellen noch zoogame Spermato— zoiden haben, die alſo, mit Flimmerhaaren (Cilien) verſehen, im Waſſermedium das weibliche Organ freiwillig aufſuchen, und wir letzteres, die Makroſporanthe wohl ver— größert, aber nicht zu einem beſonders ge— ſtalteten Fruchtkörper verwandelt ſehen, finden wir dagegen bei den höchſtentwickelten Algen und Pilzen, den Carpoſporeen, zu— weilen die Zoogamie verloren gegangen (wodurch ſie den Phanerogamen gleichen, denn Spermatozoiden und Pollenkörner unterſcheiden ſich nur durch freiwillige Be— weglichkeit und deren Fehlen), und aus der Wechſelwirkung der beiden ungleichen Ge— ſchlechtsorgane das weibliche Organ zu einem mehr oder minder ausgebildeten Frucht— körper, dem Sporocarpium, entwickelt, in dem oder an dem erſt die Sporen erzeugt werden. Das iſt offenbar ein höherer Entwickelungszuſtand der Fruchtbildung. Die Stufenreihe der letzteren kann ſtreng— genommen für die Eintheilung der Krypto— gamen nur maßgebend ſein und ſollte eine ſolche Gruppirung unabhängig von Farbe, Gefäßbündel, Habitus, Generationswechſel, die erſt zu Unterabtheilungen benutzbar ſind, angeſtrebt werden; weder die An- oder Abweſenheit der Gefäßbündel, noch die Differenzirung in Stamm und Blatt, oder überhaupt der Habitus, noch das Vorhanden— ſein oder Fehlen des Generationswechſels, die An- und Abweſenheit des Chlorophylls, bieten genügende Merkmale zu einer durch— greifenden Gruppirung. Bei den carpoſporen Florideen er— folgt alſo die Befruchtung durch unbeweg— liche, paſſiv vom Waſſer dem weiblichen 299 Organe zugeführte Samenkörper, die auf ein den Narben gleichwerthiges Organ, die Trichogyne, gekommen, den geſammten Inhalt der weiblichen Zelle, des Carpogons, befruch— ten, wodurch die ſporenreiche Frucht entſteht. Hierin erkennen wir eine große Aehn— lichkeit, ja faſt völlige Uebereinſtimmung mit den Befruchtungsvorgängen bei den Angio— ſpermen. Dagegen wird bei Sela— ginella jedes Ei durch ein durch den offenen Hals des Archegoniums einge— drungenes Spermatozoid einzeln befruchtet und dies ähnelt der Befruchtungsweiſe der Gymnoſpermen, deren offene Mikropyle dem Archegoniumhals gleicht, und deren vom Wind zugetragenes Pollenkorn noch der Feuchtigkeit bedarf, eines Tropfens an der Mikropyle, um einzudringen. Die Sela— ginellen ſind ſtrenggenommen wie die Fucaceen nur Ooſporeen, entſprechen alſo einer niederen Stufe als die Carpo— ſporeen. Bei heteromorphen Gefäßkryptogamen iſt die Blattpflanze incl. Wurzel der Frucht— träger ohne Blüthen, das Sporogonium, während das anders geſtaltige und freie, unabhängige Prothallium der Blüthenpflanze entſpricht; bei den Progymnoſpermen iſt nur eine Pflanze vorhanden, welche die primi— tiven Blüthen und meiſt auch die Früchte trägt. Indem bei Lepidodendren- und Sigillarien⸗ artigen Pflanzen die zoo— game Aehren-Thaubefruchtung der Mikroſpo— ranthen ſich zu paſſiver Windbefruchtung modificirte, indem die Spermatozoiden in der Luft ihre freiwillige Bewegung verloren, entſtanden die Nadelholz-Gymnoſpermen. Die laubartigen und wenigen thalloiden Gymnoſpermen können ſich auch nur der— art aus ähnlichen algenartigen, boſporen Typen des carboniſchen Waſſerwaldes ent— wickelt haben. 300 Die carpoſporen Algen, alſo Florideen, ſtehen offenbar den angioſpermen Podo— ſtemeen mit zahlreichen winzigen Samen in einer Kapſel ebenſo nahe, als die Sela— ginellen den Gymnoſpermen, und viel— leicht ergiebt die nähere Unterſuchung der Früchte und Befruchtungsentwicklung bei den inſofern wenig unterſuchten Podo— ſtemeen noch Zwiſchenformen und wirft mehr Licht auf einen ſtufenweiſen Zuſammen— hang; beſonders ſind die ſitzenden ſubmerſen Blüthen, die ſich nach Fritz Müller an— ſcheinend kleiſtogam an manchen Pod o— den, zu prüfen. Auffallend iſt es, daß die habituell äußerſt niedrig organiſirten Podo— ſtemeen kein Eiweiß, kein Endoſperm be— ſitzen, wodurch ſie auch auf einen ganz anderen Entwicklungsgang als die Sela— ginellen — Gymnoſpermen-Reihe ſchließen laſſen. Zu den angioſpermenartigen Florideen, denen ſo viele Podoſtemeen, von welchen einige ſicher dicotyl ſind, habituell gleichen, gehört auch Delesseria mit ausgeprägter Dicotylen-Nervatur, andrerſeits Arten mit monocotylen-artigem Habitus; man darf daraus folgern, daß die Dicotylen nicht monophyletiſch aus den Monocotylen, ſondern beide polyphyletiſch aus Algen entſtanden und gleichalterig ſein dürften. Von den Antophycae giebt es ſowohl dicotyle (Po— doſtemeen), als monocotyle (3. B. Lemna, Najas) und iſt kein Grund erſichtlich, wes— halb Monocotylen älter, als Dicotylen oder gar die Stammformen der letzteren ſein ſollen. Können wir hiernach mindeſtens zwei von einander unabhängige Entwicklungsreihen von Algen zu Phanerogamen annehmen, ſo haben wir außerdem noch einige Anhalte— punkte, um zu vermuthen, daß noch mehrere andere Uebergänge ſtattgefunden haben: 1) Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Bei den niedrigſten ſubmerſen Phanerogamen iſt es eine häufige Erſcheinung, daß die Früchte einzeln, blattwinkelſtändig und ein— oder wenig-ſamig, caryopſen-, nuß- oder ſteinfruchtartig ſind; ich erinnere an Zanni— chellia, Najas, Hippuris, Ceratophyllum, Elodea, Elatine, Peplis, Callitriche, denen ſich von Algen etwa die Characeen an die Seite ſtellen laſſen, die zu den normalen Ooſporeen gerechnet werden. Vielleicht gehören die Stammpflanzen der einzelfrüch— tigen Carpolithen und Gyrolithen zu ähnlichen Geſtalten; als ſubmerſe Pflan— ſtemeen neben geſtielten Luft-Blüthen fin- zen waren allenfalls nur ihre Früchte petre— faktiſch erhaltungsfähig. 2) Iſt es anzu⸗ nehmen, daß die marinen carboniſchen Wälder mit feuchter Atmoſphäre ebenſo von Epi— phyten bevölkert waren, wie es heute die Tropenwälder namentlich mit Gefäßkrypto— gamen ſind; ſolche Pflanzen mußten darin ſogar wuchern, weil es anfänglich faſt keine ſupermarinen Thiere gab, ſie alſo keine Ver— folgung erlitten; ihre Sporen trug ſicher— lich gelegentlich auch der Wind nach dem Feſtland, wo ſie in Pfützen und ſtehenden Gewäſſern keimten, aber ſich mehr der in— folge mangelnder Vegetation meiſt trocknen Luft der Continente anpaſſen mußten; da— durch und infolge der ſpäter eintretenden continentalen Thierverfolgung, gegen die ſie wenig geſchützt waren, haben ſie ſich dann zu beſſer geſchützten Landpflanzen, d. h. höher differenzirten Angioſpermen mit Pfahlwurzeln weiter entwickelt; alle mußten indeß den Zuſtand der Anthophycae paſſiren. Zu den Epiphyten des carboniſchen Waſſerwaldes dürften auch die damals noch grünen Florideen gehört haben; es er— klärt ſich dann auch, daß fie die zoogame Befruchtung verloren, daß ihre Spermato— zoiden pollenartig wurden, indem fie in der Luft die freiwillige Bewegung einbüßten. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Zu den direkt aus dem Ocean, beziehent— lich aus Aeſtuarien, durch Thiere gelegent— lich verſchleppten oder, falls die Samen leicht find, durch Wind nach den Continenten eingeführten Pflanzen — ſtromaufwärts ſchwimmt keine Pflanze —, die im Anfang der Tertiärzeit bereits im Meere oder Aeſtua— rien phanerogam entwickelt waren, von denen aber die meiſten, beſonders die zarten Formen verſchwunden ſein dürften, weil ſich mit ſeltenen Ausnahmen nur ſolche continental erhalten konnten, welche Wurzeln bekamen, möchte ich die unter den 14 algenähnlichen Typen citirten Familien, die meiſt ohne Pfahlwurzeln ſind, vermuthungsweiſe rech— nen, weil ſie, oder mindeſtens ihre niedrig entwickelten Formen, zum größten Theil tropiſch kosmopolitiſche Waſſer-, Sumpf- oder Strandpflanzen ſind. Die Annahme, daß niedrigſtehende, tropiſch-kosmopolitiſche Waſſerpflanzen Verkümmerungsformen ſein ſollten, iſt höchſt unwahrſcheinlich und durch keine Thatſache geſtützt; und auch ihre circumtropiſche Verbreitung wäre bei einem ſtets ſalzig gedachten Ocean nicht erklärlich. Der monophhletiſche, ſchematiſch aller— dings einfache und ünd deshalb wohl meiſt beliebte Stammbaum: Continentale Algen — Mooſe — Farne — Gymnoſpermen — Monocotylen — Dicotylen, iſt in keiner Weiſe gerechtfertigt; für ihn haben wir nur einen einzigen Anhaltspunkt, indem manche Mooſe aus Conferven gemäß ihrem Vorkeim entſtanden ſein könnten; doch können Con— ferven früher im ſalzfreien Meer auch nicht gefehlt haben; zudem erinnern die Lebermooſe mehr an Meeresulven. Alle anderen Des— cendenzen der Pflanzen weiſen auf marine Algen hin. Vom monophyletiſchen Stamm- baum iſt nur noch das Glied Farne — Gymnoſpermen richtig; Mooſe ſowohl als Farne zeigen dagegen fo heteromorphe | 301 Gruppen, daß man ſolche nicht auseinander entſtanden, ſondern als polyphyletiſche Ra— mificationen betrachten muß. Ferner fehlen die Zwiſchenſtufen von Gymnoſpermen zu Monocotylen und von Monocotylen zu Dicotylen. Dieſe Separation der Gruppen iſt nur durch einen polyphyletiſchen Stammbaum erklärlich, für den wir, wie ich zu zeigen verſuchte, viele Anhaltepunkte beſitzen. Auch die Haeckel'ſche Vermuthung, daß aus Farnen ſich Angioſpermen entwickelten, hat keinerlei Stütze. Die noch vielfach aus— geſprochene unbegründete Vermuthung, daß aus Gymnoſpermen die Angio— ſpermen ſich entwickelt hätten, von der ſich indeß Haeckel neuerdings losgeſagt hat, iſt auch deshalb haltlos, weil ſtarkgeſchützte Pflanzen wenig ändern; ſie können wohl ſich anderem Klima anpaſſen, wie z. B. die Coniferen, oder unter Umſtänden ausſterben (wie z. B. die ſchwimmenden Lepidodendren und Sigillarien— Bäume, die dem ſalziger werdenden Meere nicht entfliehen konnten), aber ſich nicht total regreſſiv modificiren d. h. zu ungeſchützten Pflanzen werden. Monocotylen und Dico— tylen ſind aber im Allgemeinen viel weniger geſchützte Pflanzen als Gymnoſpermen; ſie können nur als aufſteigende, polyphy— letiſche, algogene Entwickelungsformen, die in früheren relativ ſalzfreien Meeren und Aeſtuarien wuchſen, erklärt werden, womit namentlich auch die circumtropiſche Verbreit— ung der niedrig entwickelten, ſüßwaſſerlieben— den cormophyten und thalloiden Ang io— ſpermen treffend harmonirt. Es kann nach alledem der Stammbaum des Pflanzenreiches bekannten Thatſachen und Geſetzmäßigkeiten zufolge im Allgemeinen kurz wie folgt dargeſtellt werden: N) 0 302 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Protistae Algae a) parasiticae b) simplices c) heteromorphae decolores virides | Mycetes Cryptogamae vasc, Musei 17 (symbiosa 523 e) heteromorphae frondosi d) Oosporeae monomorphae e) Carposporeae —— —— T—— —̃ ̃ — — — | Hepaticae Progymnospermae Anthothalloidae (Crypt. vaseul. angiospermae poor a oe RN e Dicotyledones, 0 Monocotyledones Exakte Beweiſe laſſen ſich ſelbſtverſtändlich nicht beibringen, da direkte Zwiſchenformen auf allen Linien mehr oder minder aus⸗ ſtarben; es muß uns genügen, daß wir faſt Schritt für Schritt erkennen läßt, be— für den polyphyletiſchen Stammbaum viele, für den monophyletiſchen faſt keine Anhalte— punkte beſitzen.“ Ein Käfer mit Schmetterlingsrüſſel. ſich ausſchließlich mit Blumennahrung be⸗ köſtigen, nicht nur als unbewußte Blumen— züchter, die bedeutendſte Rolle geſpielt;“) fie ſind auch ſelbſt durch ihre Anpaſſung an die Gewinnung dieſer Koſt in der durchgreifend— ſten Weiſe umgeſtaltet worden, beſonders in ihren der Nahrungsgewinnung am unmittel- barſten dienenden Organen, den Mundtheilen. Während aber die Bienenfamilie von dem urſprünglichen Grabweſpenmunde der Pro- ) Siehe Kosmos Bd. 3, Hft. 5 u. 6. | | Angiospermae cormophytae. sopis bis zu dem ausgeprägten Saugrüſſel der Hummel und Honigbiene die mannig— fachſten Abſtufungen darbietet, und ſo die ſtattgehabte Umwandlung uns noch heute ſteht dagegen zwiſchen dem Rüſſel der Schmetterlinge und dem Munde ihrer muth- | maßlichen Stammeltern, der Phryganiden, eine Kluft, die durch keine Zwiſchenſtufe überbrückt wird. Denn die ſehr unaus⸗ | gebildeten Rüſſel gewiſſer Falter find ge- Bienen und Schmetterlinge haben, als die umfaſſendſten Inſektenabtheilungen, die wiß nur als nachträgliche Verkümmerungen, nicht aber als Ererbungen von uralten Stammeltern her zu betrachten. Die Erklärung dieſes auffallenden Un— terſchieds liegt in der alltäglichen Erfahrung, daß für raſchere und erfolgreichere Leiſtungen auf irgend einem beſonderen Gebiete ein— ſeitige Beſchränkung auf daſſelbe eine der erſten Vorbedingungen iſt. In einſeitiger Beſchränkung auf Gewinnung tief gebor— genen Blumenhonigs wurden aber die Bienen von den Schmetterlingen von Anfang an in mehrfacher Hinſicht übertroffen. rüſſel. 3 Mundtheile derſelben. ihren muthmaßlichen Stammeltern, den Grab— weſpen, auf die Anfertigung und Sicher— ſtellung ihrer Bruthöhlen einen ſehr bedeu— tenden Theil ihrer Zeit und Kraft zu ver— wenden haben, liegt den Schmetterlingen, gleich ihren muthmaßlichen Stammeltern, den Phryganiden, keine andere Brutverſorg— ung ob, als das Ablegen der Eier an einen paſſenden Ort und allenfalls noch die ſchützende Ueberkleidung derſelben (3. B. mit After- wolle, beim Schwammſpinner, Liparis dis- par u. g.). Während daher bei den blumen— ſtet gewordenen Grabweſpen, den Bienen ꝛc. eine Anpaſſung der Mundtheile an die Ge— winnung tiefer geborgenen Blumenhonigs nur in ſofern möglich war, als die zur Herſtellung der Bruthöhlen hauptſächlich ge— brauchten Oberkiefer dadurch unbehindert Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Während nämlich die Bienen, gleich 303 1 Nemognatha vom Itajahy von oben geſehen. 2 Desgleichen von der Seite (2: 1), s Saug— 4 Mundtheile der Nemognatha chrysomelina aus Süd— frankreich (4: 1). a Oberlippe, b Oberkiefer, e Unterkiefer, d Unterlippe, e die beiden Kiefer— 5 laden im Querſchnitt, ſtärker vergrößert. blieben, konnten ſich die Mundtheile der nur nach Liebe und Blumenſüßigkeiten um— herflatternden Falter in einſeitigſter und un— gebundenſter Weiſe der Gewinnung tiefer geborgenen Honigs anpaſſen. Von durch— greifender Entſcheidung für den raſchen Er— folg dieſer Anpaſſung war dann weiter die einſeitige Beſchränkung derſelben auf ein Paar einzelne Stücke der Mundtheile, die Kieferladen. Denn dieſe konnten, indem ſie ſich verlängerten, rinnig aushöhlten und zu einer Röhre zuſammenlegten, durch Na— turausleſe gewiß ſehr bald zum tvpiſchen Schmetterlingsrüſſel ausgeprägt werden. Bei den Bienen dagegen wurde derſelbe An— paſſungsvorgang nicht nur durch den gleich— zeitigen Gebrauch der Oberkiefer für die Brutverſorgung, ſondern auch, und wahr— ſcheinlich noch weit wirkſamer, dadurch be— of ˙· I Kosmos, III. Jahrg. Heft 10, 40 304 deutend verlangſamt, daß eine größere Man— nigfaltigkeit von Theilen, nämlich Unter— kiefer, Unterlippe und Lippentaſter, zu einem complicirten Saugapparate ſich zuſammen— legten und nun ſämmtlich in gleichem Sinne zugleich geſteigert werden mußten. Während daher die Ausprägung des typiſchen Bienenrüſſels erſt im Verlaufe vielfacher Verzweigung der Bienenfamilie durch zahlreiche Schritte langſam und all— mählich zur Vollendung gediehen iſt, ſcheint dagegen die Vollendung des Schmetterlings— rüſſels ſchon bei dem urſprünglichen gemein- ſamen Stamme der Schmetterlingsfamilie, noch vor ſeiner Differenzirung in verſchie— dene Zweige, erfolgt zu ſein. So allein, ſo aber auch in einfachſter Weiſe, ſcheint mir die unüberbrückte Kluft zwiſchen Phry- ganidenmund und Falterrüſſel erklärbar. Für die Richtigkeit der einzigen viel— leicht etwas zu gewagt erſcheinenden Vor— ausſetzung dieſer Erklärung, daß nämlich die Umbildung zweier Kieferladen in einen Schmetterlingsrüſſel in verhältnißmäßig ſehr kurzer Zeit möglich geweſen ſein müſſe, tritt die Käfergattung Nemognatha als unan— taſtbarer Zeuge ein, indem ſie in ihren jetzt noch lebenden Arten dieſelbe Umbildung uns thatſächlich vor Augen ſtellt. Bei der in Südfrankreich einheimiſchen Nemognatha chrysomelina nämlich ſind die Kieferladen, wenn auch bereits ſtark verlängert, doch noch von ganz derſelben Bildung wie bei anderen Käfern auch. Bei einer ſchwärzlich blauglänzenden Nemo— gnatha Südbraſiliens dagegen, die mein Bruder Fritz Müller am Itajahy oft wiederholt an Winden ſaugend beobachtete, haben ſich die Kieferladen außerordentlich verlängert, rinnig ausgehöhlt und zu einem Saugrüſſel zuſammengelegt, der, abgeſehen von der ihm fehlenden Zuſammenrollbar- Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. keit, ganz wie ein Falterrüſſel gebraucht wird. Hier hat ſich alſo in der verhält— nißmäßig kurzen Zeit der Differenzirung einer Gattung in einzelne Arten daſſelbe er— eignet, was wir, um die unüberbrückte Kluft zwiſchen Schmetterlingsrüſſel und Phryga— nidenmund verſtehen zu können, für die Stammeltern der Schmetterlinge voraus— ſetzen mußten. Hermann Müller. Die Sitten der Ameiſen. Sir John Lubbock hat im ver— gangenen Jahre ſeine früheren Specialſtudien über die intellektuellen Fähigkeiten der Ameiſen“) durch einige allgemeine Betracht— ungen ergänzt, von welchen wir nach einem Referat der Revue Seientifique (19. Juillet 1879) folgenden Auszug mittheilen: „Wenn man ſich an den Körperbau hält, ſo iſt es augenſcheinlich, daß der Anthropoide ſich am meiſten dem Menſchen nähert. Betrachten wir im Gegentheil nur die Intelligenz, dann geben die Sitten der Ameiſen, ihre geſellſchaftliche Organiſation, ihre zahlreichen Gemeindebildungen, ihre Wohnungen und ihre Straßen, ihre Haus— thiere und ihre Sklaven dieſen intereſſanten Inſekten das Recht, ihren Platz ganz dicht an unſerer Seite zu verlangen. Man kann ſogar in den beträchtlichen Unterſchieden, welche die verſchiedenen Arten untereinander dar— bieten, die den Hauptphaſen der Entwickel— ung der Menſchheit entſprechenden Stufen wiederfinden. Wir ſprechen hier nicht von den Sklaven— machern, welche nur einen anormalen und vorübergehenden Zuſtand der Dinge dar— ſtellen; denn die Sklavenwirthſchaft ſcheint, bei ) Kosmos Bd. II. S. 59—63. Bd. IV. S. 309—312. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. den Ameiſen wie bei den Menſchen, Diejenigen zu degradiren, welche ſie annehmen, und vielleicht ſind dieſe Sklavenhalter beſtimmt, vor denjenigen Arten zu verſchwinden, die fähig ſind, ſich ſelbſt zu genügen, und einen höheren Grad von Civiliſation erreicht haben. Dieſe Ausnahme bei Seite laſſend, ſehen wir die verſchiedenen Lebenszuſtände der Ameiſen auf eine merkwürdige Weiſe den erſten Stufen der menſchlichen Civiliſation entſprechen. Einige Arten, wie die Formica fusca, leben hauptſächlich von der Jagd, und ob— wohl ſie ſich zum Theil von dem Nektar gewiſſer Blattläuſe nähren, haben ſie dieſe Inſekten noch nicht zu Hausthieren gemacht. Dieſe Ameiſen, welche ohne Zweifel die ur— ſprünglich der ganzen Familie gemeinſamen Sitten conſerviren, entſprechen den unterſten Menſchenraſſen, den Jagdvölkern. Wie dieſe beſuchen ſie die Gehölze und Einöden, leben in vergleichsweiſe wenig zahlreichen Horden und führen nicht leicht gemeinſame Opera- tionen aus. Sie jagen iſolirt und ihre Schlachten ſind nur Einzelkämpfe, wie die— jenigen der Helden Homer's. Andere Arten, wie Lasius flavus zum Beiſpiel, ſtellen offenbar einen höhern Typus der ge— ſellſchaftlichen Organiſation dar. Sie zeigen in ihrer Architektur mehr Kunſt; man kann buchſtäblich ſagen, daß ſie gewiſſe Arten von Blattläuſen domeſticirt haben, und den Hirtenvölkern verglichen werden können, welche vom Ertrage ihrer Heerden leben. Ihre Geſellſchaften find zahlreicher; fie han— deln mehr gemeinſam; ihre Schlachten ſind nicht mehr Einzelkämpfe, ſie wiſſen ſtrate— giſche Bewegungen zu combiniren. Vielleicht werden ſie ſchrittweiſe die einfach jagenden Arten austilgen, ſo wie man die Wilden nach und nach vor den höheren Raſſen ver— ſchwinden ſieht. Endlich können die ernten— den Ameiſen den Ackerbau treibenden Völ— 305 kern verglichen werden, und wir finden ſo drei Haupttypen, welche den drei großen Phaſen der menſchlichen Entwickelung entſprechen. Das Forſchungsgebiet, welches uns die Ameiſen darbieten, iſt nicht allein eines der anziehendſten, ſondern auch eins der weiteſten. In England kommen ungefähr dreißig Arten dieſer Inſekten vor; aber die Arten ſowohl, wie die Individuen werden in den heißen Ländern zahlreicher, und man kennt deren bereits mehr als ſiebenhundert, eine Ziffer, die ohne Zweifel von der Wirklichkeit noch ſehr entfernt iſt. Sir J. Lub bock hat beinahe die Hälfte der engliſchen Ameiſen in Gefangenſchaft ge— halten und mehr als dreißig Neſter, die zwanzig Arten, darunter einigen fremden, angehörten, beſeſſen. Es giebt nicht zwei Arten, deren Gewohnheiten identiſch wären, aber ihre Lebensweiſe iſt nicht immer leicht zu beobachten und das aus verſchiedenen Gründen. Einmal bringen ſie den größeren Theil ihrer Zeit unter der Erde zu und die geſammte Jugenderziehung geht da vor ſich. Außerdem ſind die Ameiſen in Heerden lebende Thiere, es iſt höchſt ſchwierig, einige einzelnen in Gefangenſchaft zu halten, und dann ſind ihre Gewohnheiten in dieſem Falle völlig verändert. Wenn man anderer- ſeits eine ganze Geſellſchaft unterhalten will, ſo bringt die große Zahl der Theilhaber eine neue Veranlaſſung zu Schwierigkeiten mit ſich. Dann giebt es noch andere: bei derſelben Art weichen die Individuen im Charakter von einander ab, und daſſelbe Individuum wird ſich unter verſchiedenen Umſtänden verſchieden benehmen. Obwohl bereits viele Naturforſcher ſich mit den Sitten dieſer Thiere beſchäftigt haben, ver— ſpricht der Gegenſtand noch viele Entdeck— ungen, dem Beobachter ſowohl als dem Experimentator. Die Larven der Ameiſen find, wie die— jenigen der Bienen und Wespen, kleine, | weiße, gegen den Kopf verjüngte Würmer, | was ihnen eine etwas koniſche Geſtalt giebt. Dieſe Larven werden mit vieler Sorgfalt durch die Arbeiterinnen genährt und ge— pflegt; ſie tragen ſie von Zimmer zu Zimmer, ohne Zweifel immer dorthin, wo ſich die Bedingungen von Wärme und Feuchtigkeit am beſten vereint finden. Sie werden ſehr oft nach ihrem Alter ſortirt, und nichts kann curioſer fein, als fie in Gruppen ab⸗ getheilt zu ſehen, welche an eine in mehrere Klaſſen eingetheilte Schule erinnern. Zu einer gewiſſen Altersſtufe gelangt, ver— wandeln ſich die Larven in bald nackte, bald mit einer ſeidenartigen Hülle umgebene Puppen, und bilden dann die ſogenannten „Ameiſeneier“. Nach einigen Tagen ſieht man das vollkommene Inſekt erſcheinen; aber ſehr oft würde es dabei zu Grunde gehen, ohne die verſchwenderiſche Sorgfalt ſeiner Pflegerinnen, welche eilen, ihm aus ſeinem Gefängniß zu helfen, ſeine Beine zu entfalten und ſeine Flügel zu lüften, alles mit einer wahrhaft weiblichen Zartheit und Zärtlichkeit. Ein Ameiſenneſt ſetzt ſich gewöhnlich wie ein Bienenſtock aus drei Arten von Indivi— duen zuſammen: aus den Arbeiterinnen oder unvollkommenen Weibchen, welche in großer Mehrzahl vorhanden ſind, den Männchen und den vollkommenen Weibchen. Es giebt ſehr häufig mehrere Königinnen in einem Ameiſenneſt, während man nie— mals mehr als eine in einem Bienenſtock findet. Die Ameiſenköniginnen haben Flügel, aber ſie reißen ſich dieſelben, nachdem ſie einen einzigen Ausflug gemacht haben, ſelbſt aus und verlaſſen das Neſt nicht mehr. Außer den gewöhnlichen Arbeiterinnen giebt | Pflanzenwurzeln lebt, es bei einigen Arten eine zweite oder viel- Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. mehr eine dritte Form der Weibchen, und in beinahe allen Neſtern weichen die Ar— beiterinnen mehr oder weniger im Wuchſe von einander ab. Dieſe Verſchiedenheit wechſelt mit der Art. So find die Ar— beiterinnen bei der kleinen braunen Garten— ameiſe beinahe gleichgeſtaltet; bei der kleinen gelben Wieſenameiſe giebt es ſolche, welche die doppelte Größe der andern erreichen; bei den im ſüdlichen Europa gemeinen Phei— dolen giebt es, außer den Arbeiterinnen von gewöhnlichem Wuchſe, andere mit enormen Köpfen, die mit großen Kiefern verſehen ſind und welche man als Soldaten be— trachtet, endlich giebt es bei einer mexika— niſchen Art unter den gewöhnlichen Arbei— terinnen ſolche, welche die Geſtalt der geſchlechtsloſen Ameiſen beſitzen, andere In— dividuen, deren Hinterleib zu einer unge— heuren, halbdurchſichtigen Kugel aufgebläht iſt, und welche vollkommen unthätig bleiben und nichts thun, als eine Art von Honig bereiten. Die Nahrung der Ameiſen beſteht in Inſekten, deren ſie eine beträchtliche Anzahl vertilgen, in Honig, Nektar und Früchten; ſie verſchmähen thatſächlich keine animaliſche oder zuckerhaltige Subſtanz. Einige Arten, wie die kleine braune Gartenameiſe, gehen auf die Jagd nach Blattläuſen, und careſſiren dieſelben ſanft mit ihren Antennen, bis fie einen Tropfen gezuckerter Flüſſigkeit ausſondern, welchen die Ameiſe ſofort trinkt. Manchmal ſogar bauen die Ameiſen bedeckte Wege, um zu ihren Blattläuſen zu gelangen, welche ſie außerdem gegen den Angriff anderer Inſekten vertheidigen. Noch mehr, die kleine gelbe Wieſenameiſe (Lasius flavus), welche hauptſächlich von dem Nektar gewiſſer, die ausſaugender Blattläuſe beherbergt dieſe Inſekten in ihrem Neſt, und wacht nicht allein über ſie, ſondern Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. auch über ihre Eier, was eine, gewiſſen Wilden unbekannte Vorausſicht einſchließt. Außer den Blattläuſen leben viele andere Inſekten in ihren Neſtern, und wenn man dieſelben als Hausthiere betrachten muß, ſo haben die Ameiſen mehr Hausthiere, wie wir. Die meiſten dieſer Gäſte gehören zu den Käfern. ſame Claviger, ſind gänzlich blind und finden ſich nur in den Ameiſenhaufen. Die Ameiſen tragen genau ſoviel Sorge für ſie, wie für ihre eigenen Kleinen, es iſt alſo ſehr klar, daß ſie ihnen in irgend einer Weiſe nützlich oder angenehm ſein müſſen, aber das Wie? iſt ſchwerer zu erfahren. Vielleicht ſondern ſie, wie die Blattläuſe, irgend eine Zuckerflüſſigkeit ab. Andere Thiere, welche, wie die kleine Beckia oder welche ſich der Befruchtung durch Ameiſen der Platiarthrus, die Neſter gewohnheits— mäßig frequentiren, haben vielleicht das Amt der Reinigung zu beſorgen. “) Die Ameiſen ſind im Allgemeinen ſehr begierig nach Nektar, aber während die Pflanzen ſich umgeſtaltet haben, um den Beſuch der ihnen nützlichen fliegenden In— ſekten zu erleichtern oder wirkſamer zu ma— chen, ſcheint Alles geſchehen zu ſein, um den Beſuch der kriechenden Inſekten wie der Ameiſen zu verhindern. Dieſe in der That, würden mehr zur (nach Darwin viel weniger wirkſamen) Kreuz-Befruchtung zweier Blumen derſelben Pflanze beitragen, als zur Kreuzung der Blumen zweier ver— ſchiedenen Pflanzen, welche die geflügelten Inſekten unendlich beſſer vollbringen. Es war mithin für die Pflanzen wich— tig, daß die Ameiſen nicht bis zu den Blumen gelangen könnten, welche ſie ihres Nektars beraubt haben würden, ohne dafür irgend einen Dienſt zu leiſten. Darum 5 Sollten nicht einige darunter Schlacht— thiere vorſtellen? K. Einige, wie der kleine, ſelt— | 307 ſehen wir ebenſoviel Mittel, die Ameiſen fernzuhalten, als die Bienen anzuziehen. Manchmal ſind die Blumen durch Flaus— haar, Stacheln oder feine, nach unten ge— richtete Borſtenhaare beſchützt, wie die Car— lina- und Lamium - Arten; einige werden durch Drüſen bewahrt, die eine ſchleimige, den Ameiſen ein unüberſteigliches Hinder— niß bietende Flüſſigkeit abſondern (3. B. Linnaea und Johannisbeere), bei andern iſt die Blumenröhre ſo eng oder durch Kämme und feine Haare ſo wohl verſchloſſen, daß ſie gerade nur einen Bienenrüſſel paſſiren läßt. Die hängenden Blumen ſchließlich, wie das Alpenveilchen und Schneeglöckchen, ſind ſo glatt und abſchüſſig, daß die Ameiſen herunterpurzeln, ohne hineingelangen zu können. Man kennt thatſächlich keine Pflanze, angepaßt hätte ). Nur einige unſerer europäiſchen Arten ſammeln Getreide ein. Aber eine Ameiſe aus Texas (Pogonomyrmex barbatus) iſt eine wahre Ernte-Ameiſe und bringt ) Es giebt jedoch, bemerkt der franzö— ſiſche Ueberſetzer, einige ſeltſame Schmarotzer— pflanzen, wie Myrmecodia armata und Hydo- phytum formicanum (Cinchonaceae), welche gleichſam gewiſſen Ameiſenarten afjoeiirt find und welche M. Moſeley während der Chal— lenger-Expedition auf Amboina beobachtet hat. Sobald dieſe Pflanzen ihren Trieb entwickeln, beißen die Ameiſen in die untern Theile deſſelben. Es bilden ſich ſeltſame Gallen, welche ſchließlich umfangreiche Maſſen bilden, in denen die Labyrinthe der Ameiſen ausge— höhlt werden, und von der Oberfläche dieſer eigenthümlichen Geſchwülſte gehen kleine Zweige aus, welche die Blumen und Früchte tragen. Es ſcheint, ſagt M. Moſeley, daß dieſe ſeltſamen Anſchwellungen zum normalen Zuſtande der Pflanze, welche ohne die Ameiſen nicht gedeihen würde, geworden ſind. Es würde intereſſant ſein, zu erforſchen, worin dieſe Inſekten der Pflanze nützlich ſind. — 308 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. ſpeziell die Körner von Aristida oligantha, welche man Ameiſen-Reis nennt, und von Buchla dactyloides in Magazine. Dieſe Ameiſen machen kreisförmige Aecker von zehn bis zwölf Fuß Durchmeſſer, in deren Mitte die Eingänge ihrer Wohnungen liegen, ur— bar, und laſſen daſelbſt nur die Aristida aufkommen. Dr. Lincecum, welcher dieſe Inſekten zuerſt beobachtete, behauptete ſo— gar, daß dieſes Gras abſichtlich durch die Ameiſen kultivirt werde. Mac Cook denkt, daß es ſich von ſelber ausſäe, be— ſtätigt aber vollkommen die Thatſache, daß die Pogonomyrmex nichts Anderes auf ihren Ackern wachſen laſſe und die Ernte ſorgſam einheimſe.“) Die Charakterzüge der Ameiſen-Arten differiren ſtark. verſchiedenen Die For- mica fusca, welche die Sklaven-Ameiſe par excellence iſt, zeigt ſich äußerſt furchtſam; ihre nächſte Verwandte, die F. einerea, iſt im Gegentheil ſehr kühn. oder Roß-Ameiſe iſt durch den Mangel an perſönlicher Initiative ſpeciell charakteriſirt und findet ſich nur in Horden. Die F. pratensis zerfleiſcht ihren getödteten Feind, während die F. sanguinea dies niemals thut. Die Sklavenmacherin Polyergus rufescens iſt vielleicht die Tapferſte von allen; ein einziges von Feinden umringtes Individuum ſucht niemals zu entfliehen, ſondern ſpringt von einem zum andern der es umringenden Individuen, bis es der Ueberzahl unterliegt. Die M. scabrinodis iſt prahleriſch und diebiſch; während der Kriege zwiſchen den großen Arten beſucht ſie die Schlachtfelder und verſchlingt die Opfer. Tetramorium iſt gefräßig, Myrmeeina ſehr phlegmatiſch. Die verſchiedenen Ameiſenarten bieten auch in ihrer Kampfweiſe abweichende Be ) Vergl. Kosmos Bd. III. S. 179. ſonderheiten dar. Die Einen ſind viel weniger kriegeriſch als die Andern. Die Myrmecina Latreilli zum Beiſpiel greift niemals an und vertheidigt ſich kaum. Ihre Haut iſt ſehr hart und ſie rollt ſich zur Kugel, ohne ſich zu vertheidigen, ſelbſt wenn ihr Neſt erſtürmt wird. Um dieſem Zu— fall gänzlich vorzubeugen, macht ſie die Ein— gänge ſehr klein, und an jeder Thür hält ſich eine Arbeiterin als Schildwache auf, bereit, mit ihrem Kopfe die Eingangsöffnung zu verſtopfen. Tetramorium coespitum hat die Gewohnheit, ſich todt zu ſtellen, ohne ſich jedoch dabei zuſammenzurollen. Die Formica ruſa oder Roß-Ameiſe greift in geſchloſſenen Maſſen und ſendet ſelten Detachements aus; die getrennten Indivi— duen greifen beinahe niemals an. Dieſe Krieger verfolgen nicht leicht den auf der Flucht befindlichen Feind, aber ſie geben kein Quartier und maſſakriren ſoviel Feinde Die F. rufa als möglich, indem ſie ſich ohne Zögern für das gemeinſame Wohl hinopfern. Die Formica sanguinea ſucht im Gegentheil auf ihren Sklaven-Jagden mehr zu ſchrecken als zu tödten, und wenn fie ein Neſt er— ſtürmen, greifen ſie die Flüchtlinge nicht an, ſo lange dieſe nicht ſuchen, die Puppen mit zunehmen. Die Formica exsecta iſt eine zarte, aber ſehr thätige Art. Dieſe Inſekten gehen auch in geſchloſſenen Maſſen vor, und wenn ſie mit Feinden kämpfen, welche größer als ſie ſelbſt ſind, haben ſie die Gewohnheit, auf ihren Rücken zu ſpringen und ſie beim Halſe oder bei einem Fühler zu packen. Manchmal halten drei oder vier gemein— ſchaftlich einen Gegner feſt, jeder auf ſeiner Seite zerrend, ſo daß er keine erreichen kann, und inzwiſchen ſpringt eine andre F. exseeta auf ſeinen Rücken und ſchneidet oder fügt ihm vielmehr ruhig ſeinen Kopf ab. 4 Die Lasius- Arten erſetzen durch die Zahl, was ihnen an Kraft abgeht, und ergreifen, wie die vorigen, zu mehreren In— dividuen einen und denſelben Gegner. Die berühmte Sklavenmacherin oder Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. | Amazonen-Ameiſe, Polyergus rufescens, | kämpft auf eine befondere Art; den Kopf ihres Angreifers zwiſchen ihren mächtigen, ſehr geſchärften Mandibeln ergreifend, durch— bohrt ſie ihm das Gehirn und tödtet ihn ſchnell. Auch greifen einige Polyergus ohne Furcht eine unendlich größere Zahl von Feinden an, und triumphiren ſchließ— lich oftmals über dieſelben. Es ſcheint, daß die mit Stacheln ver- ſehenen Arten einen großen Vortheil über diejenigen haben müſſen, welche derſelben ermangeln, und bisweilen iſt das Gift ſo ſtark, daß es hinreicht, den Feind unmittel— bar kampfunfähig zu machen. Die Stachel— Ameiſen haben einen viel beweglicheren Hinterleib. Nicht unter ihren Verwandten allein begegnen die Ameiſen wüthenden Feinden. Außer den Vögeln und anderen großen Thieren, erlegt eine kleine Mücke, eine Art von Phora viele Opfer, indem fie ihre Eier in den Körper der Ameiſen legt, wo ſich die Larven entwickeln. Man weiß wenig über die Lebensdauer der Ameiſen. Wohl nimmt man allgemein an, daß ſie nur eine Saiſon ausdauern, und mag dies auch der gewöhnliche Fall ſein, ſo hat Lubbock doch manche fünf Jahre in völliger Geſundheit ausdauern ſehen. Es iſt bemerkenswerth, daß man trotz der Arbeiten ſo vieler ausgezeichneter Beob— achter und trotz der Häufigkeit der Ameiſen noch nicht weiß, wie der Neſtbau begonnen wird. Man hat angenommen, daß die junge Königin nach vollbrachtem Hochzeitsfluge ent— weder kann: 1) ihr Neſt mit irgend einem 309 alten Neſt verbinden; oder 2) ſich mit einer gewiſſen Zahl von Arbeiterinnen ver— binden, um einen neuen Neſtbau zu beginnen; oder 3) das neue Neſt auf eigne Fauſt begründen. Der erſte Modus iſt wenig wahrſcheinlich, und nach den Lubbock'ſchen Erfahrungen wurde die in ein Neſt eingeführte Königin ſtets getödtet, aber gleichviel ob der erſte oder zweite Fall vorkommen möge, der dritte iſt ſicher möglich, wenigſtens bei einigen Arten, wie der Autor es bei Myrmica ruginodis feſtgeſtellt hat. Man darf ein Ameiſenneſt nicht mit einem Ameiſenhaufen im gewöhnlichen Sinne des Wortes verwechſeln. Sehr oft allerdings hat ein Neſt nur eine Wohnung, und bei der Mehrzahl der Arten ſelten mehr als drei oder vier; aber Forel hat ein Neſt von F. exseècta angetroffen, welches nicht weniger als zweihundert Colonien umfaßte und einen kreisförmigen Raum von beinahe zweihundert Yards Halbmeſſer (rayon) ein— nahm. In dieſem Umkreiſe hatten ſie alle andern Ameiſen ausgetilgt, mit Ausnahme von einigen Neſtern der Tapiroma errati- cum, welche in Folge der großen Schnelligkeit dieſer Art ausdauerten. Die Zahl ſo ver— geſellſchafteter Inſekten muß enorm ſein, denn jedes Neſt ſchließt nach Forel von fünf— tauſend bis zu einer halben Million Indi— viduen ein. Die Art, wie die Ameiſen ſich gegen— einander betragen, differirt ſtark, je nach dem ſie ſich allein oder in Heerden befinden; und eine, die im erſteren Falle fliehen würde, wird im zweiten tapfer kämpfen. Es iſt kaum nöthig zu ſagen, daß jede Art für ſich nach allgemeiner Regel lebt. Es giebt indeſſen intereſſante Ausnahmen hiervon. Die kleine Stenamma West- woodii findet ſich ausſchließlich in den Neſtern der F. rufa, welche viel größer iſt und in denen ihrer Verwandten (alliée), der F. pra- tensis. Wir wiſſen nicht, von welcher Natur die Beziehungen zwiſchen dieſen beiden Arten ſind. Die Stenamma folgen allemal den Formica, wenn dieſe ihr Neſt wechſeln, und laufen zwiſchen ihren Beinen, indem ſie dieſelben mit ihren Antennen auf eine ſelt— ſame Weiſe klopfen; mitunter ſteigen ſie ſogar auf ihren Rücken, während die großen Ameiſen nicht viel darauf zu achten ſcheinen. Die kleinen erſcheinen ganz wie die Hunde oder vielleicht die Katzen der großen. Eine andre kleine Art, Solenopsis fugax, welche ihre Galerien in den Mauern der Ameiſen— haufen aushöhlt, iſt dagegen der ſchlimmſte Feind ſeiner Wirthe. Die in ihren Galerien, — welche zu eng ſind, als daß die anderen Ameiſen eindringen könnten, — ganz ſichere Solenopsis macht Excurſionen in die Ameiſenkammern, um die Larven, welche ihr als Nahrung dienen, davonzuſchleppen. Es iſt, als wenn in den Mauern unſrer Häuſer kleine Zwerge von zwei Fuß Höhe niſten würden, um unſre Kinder zu rauben und in ihre Höhlen zu ſchleppen. Die meiſten Ameiſen ſtehlen, um die Wahrheit zu ſagen, die Larven und die Puppen der andern, ſobald ſie nur Gelegen— heit dazu finden, und das wirft einiges Licht auf die merkwürdige Erſcheinung der Skla— verei bei den Ameiſen. Die Roß-Ameiſe und die Sklaven— Ameiſe bilden zahlreiche Arten. Es geſchieht oft, daß die erſteren, durch den Hunger ge— trieben, die zweiten angreifen, um ihnen ihre Larven und Puppen zu rauben. Wenn letztere im Neſte ihrer Entführer auskriechen, kann man die Formica rufa mit den legitimen Inhabern des Neſtes gemiſcht antreffen. Dieſer Thatbeſtand iſt durchaus exceptionell bei der Roß-Ameiſe. Aber bei Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. einer naheſtehenden Art, der in ganz Europa gemeinen F. sanguinea, bildet er eine feſte Gewohnheit. Die F. sanguinea machen periodiſche Ausfälle, greifen die in der Nähe befind— lichen Neſter der F. kusca an und ſchleppen die Puppen davon. Wenn dieſe auskriechen, finden ſie ſich in einem Neſte, welches zum Theil von den F. sanguinea, zum Theil von den aus früheren Expeditionen herrührenden F. fusca bevölkert wird. Sie fügen ſich den Um— ſtänden, und da ſie keine Kleinen ihrer eignen Art abzuwarten haben, ſo wachen ſie über diejenigen der F. sanguinea. Obwohl von ihren Sklaven unterſtützt, haben dieſe nicht die Gewohnheit zu arbeiten aufgegeben, und können ſich noch ſelbſt genügen. Nicht daſſelbe gilt für Polyergus rufescens, eine fremde Art, welche heute bis zu dem Punkte degradirt iſt, gänzlich von ihren Sklaven abzuhängen. Der Bau ihres Körpers hat ſogar einen Wechſel durchgemacht, ihre Man— diblen haben ihre Zähne eingebüßt und ſind einfache Scheeren geworden, mörderiſche Waffen allerdings, aber ohne Brauchbarkeit, außer für den Krieg. Dieſe Ameiſen haben den größten Theil ihrer Inſtinkte verloren: ihre Kunſtfertigkeit, nämlich ihre Kunſt zu bauen; ihre häuslichen Gewohnheiten, denn ſie tragen keine Sorge mehr um ihre Jungen, da dieſe Arbeit von ihren Sklaven verrichtet wird; ihre Geſchäftigkeit, denn ſie kümmern ſich nicht mehr um ihre täglichen Bedürfniſſe. — Wenn die Kolonie ihren Platz wechſelt, ſo ſind es die Sklaven, welche ihre Herren in die neue Wohnung trans— portiren. Die Herren, und man kennt nur dieſes Beiſpiel hiervon in der Welt, ſind ſelbſt bis zu dem Verluſte der Gewohnheit zu eſſen herabgeſunken! Die Amazonen laſſen ſich im vollen Ueberfluß vor Hunger um— kommen, wenn ſie keine Sklaven haben, um TTT 3. — ſich füttern zu laſſen. Noch find bei Poly- ergus rufescens die Arbeiterinnen, — denn man nennt ſie bei alledem ſo, — zahlreich und energiſch; aber bei einer andern Sklaven— haltenden Art, bei Strongylognathus, find die viel weniger zahlreichen Arbeiterinnen ſo ſchwach, daß man ſich fragt, wie ſie es anfangen, Sklaven zu machen. Bei Aner- gates atragulus endlich fehlen die Arbeite rinnen; die Männchen und Weibchen leben mit den Arbeiterinnen einer andern Art (Tetramorium coespitum.) Die Tetra- ſorgen für diejenigen der Anergates und der Sklavenbeſitz artet in Paraſitismus aus. nehmen keinerlei Antheil an der Verthei— digung der Colonie oder an irgend einer äußeren Arbeit, bevor ihre natürlichen Waffen Zeit gehabt haben zu erhärten. Die Arbeit, welche dieſe Thiere verrichten können, iſt manchmal beträchtlich; ſie ſind den ganzen Tag beim Werke, und manchmal auch die Nacht, wenn das Wetter heiß iſt. Lubbock hat ſechs Uhr Morgens bis zehn Uhr Abends arbeitete.“ die Intelligenz der Ameiſen haben wir an den oben bezeichneten Stellen ausführlich gnügen, einige allgemeine Bemerkungen über die Sinne und einige neuere Reſultate hier nachzutragen. „Es iſt wahrſcheinlich, daß das Wieder— erkennen der Ameiſen vermittelſt des Ge— ruchsſinnes ſtattfindet. Bei den meiſten ſich überzeugen kann, wenn man die Thiere nach und nach in die Nähe deſſelben, anfangs geruchloſen, dann auf irgend eine Art par— —— —— morium, welche keine Kleinen bei ſich haben, Die ſehr jungen Ameiſen beginnen mit der Pflege der Larven und Puppen, und wiedergegeben, wir können uns daher be Arten iſt dieſer Sinn ſehr fein, wie man des Gehörſinnes ermangelten. iſt ohne Zweifel voll von einer unſern 38,000 Vibrationen per Sekunde iſt Schwei— eine beachtet, welche ohne Unterbrechung von Weſen. vorbringen, indem ſie die Ringe ihres Die Beobachtungen Lubbock's über hat nicht dazu gelangen können, ſich hierüber Hinterleib bewegen, als ob ſie Töne erzeugten, Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 311 fümirten Gegenſtandes bringt. Der Sitz dieſes Sinnes ſcheint gänzlich in den An— tennen zu ſein, was im Einklang ſein würde mit der Deutung, welche Leidig den eigen— thümlichen Sinnesorganen der Krebsfühler gegeben hat. Was den Gehörſinn betrifft, ſo iſt es ſchwierig, darüber etwas zu ſagen. Die Ergebniſſe der Verſuche Lubbock's ſind gleich Null geweſen, trotzdem er nacheinander die verſchiedenſten Inſtrumente angewendet hat, von der Violine bis zur Kindertrompete. (Man kann ſich nicht enthalten, ſagt der franzöſiſche Ueberſetzer, ſich das ſeltſame Schauſpiel auszumalen, welches der ingeniöſe Beobachter darbieten mußte, wenn er ſeinen Ameiſen eins auf der Trompete vorblies). Das will nicht beweiſen, daß dieſe Inſekten Die Welt Sinnen entſchlüpfenden Muſik. Die Grenzen, zwiſchen welchen die Töne, welche wir auf— fangen können, eingeſchloſſen ſind, ſind nach allem beſchränkt genug, und jenſeits von gen für uns, aber vielleicht nicht für alle Man weiß, daß Einige Töne her— Hinterleibes gegeneinander reiben.“) Vielleicht bringen auch die Ameiſen auf dieſe Weiſe irgend ein Geräuſch hervor. Indeſſen nützte es Herrn Lubbocknichts, die empfindlichen Flammen Tyndall's und die empfind- lichſten Mikrophone Bell's anzuwenden, er Gewißheit zu verſchaffen. Vielleicht, ſagt er, iſt der von ihnen erzeugte Ton jenſeits des Auffaſſungs-Vermögens unſeres Ohres gelegen, und man würde zu einem Reſultate ) Es giebt kleine Inſekten, die ihren ohne daß man das Mindeſte hört. K. — Kosmos, III. Jahrg, Heft 10. 41 ®& kommen, wenn man das Mittel finden könnte, die Zahl der erzeugten Schwing— ungen zu vermindern. Das Gehörsorgan, falls es exiſtirt, würde vielleicht durch die eigenthümlichen Anhänge der Fühler dar— geſtellt werden, welche, wie Prof. Tyndall ſich ausdrückte, mikroſkopiſchen Stethoſkopen gleichen. Die ſummariſche Beſchreibung, welche Lubbock von dieſen vermutheten Gehörsanhängen giebt, gleicht vielfach ſehr denjenigen der muthmaßlichen Geruchsan— hänge beim Krebſe, woſelbſt der Gehörs— apparat ſehr deutlich und verſchieden iſt. Was die Sehorgane betrifft, ſo ſind ſie bei den meiſten Ameiſen ſehr deutlich und zuſammengeſetzt. Es ſind im Allge— meinen drei im Dreieck angeordnete, kleine Augen auf dem Scheitel des Kopfes und an jeder Seite ein zuſammengeſetztes Auge vorhanden. Man hat die Funktion dieſer Augen, welche bei Ponera contracta eine von eins bis fünf variirende Facettenzahl, bei den Männchen von F. pratensis bis über tauſend Facetten darbieten, nicht völlig auf— gehellt. Dieſe begünſtigten Inſekten würden mithin jenen Wunſch des Dichters verwirk— lichen: „Du betrachteſt die Sterne, meine Liebe! warum bin ich nicht der geſtirnte Himmel, um dich mit tauſend Augen zu betrachten!“ Aber man bezweifelt ſehr ſtark, daß das Männchen der F. pratensis ſich des erſtaunlichen Vorzugs erfreue, tauſend Königinnen auf einmal zu betrachten, und die unter den Entomologen vorwaltende Meinung iſt, daß jede Facette nur einem Theile des Geſichtsfeldes entſpricht. Es iſt im Prinzip die Theorie Johannes Müller's vom muſiviſchen Sehen. Wie es auch da— rum ſtehen mag, das Geſicht der Ameiſen ſcheint nicht ſehr gut zu ſein, und die ver— ſchiedenen Beobachtungen Lubbock's be— Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. weiſen, daß dieſe Thiere ſich nicht durch dieſen Sinn leiten laſſen. Man würde nicht wohl daran zweifeln können, daß die Bienen fähig ſind, die Farben zu unterſcheiden. Es iſt viel ſchwie— riger, ſich deſſen bei den Ameiſen zu ver— gewiſſern, denn dieſe Inſekten werden haupt— ſächlich vom Geruche geleitet. Dennoch iſt Lubbock zu einigen intereſſanten Reſultaten gelangt, indem er die Averſion benützte, welche die Ameiſen für das Licht zeigen, wohlverſtanden, wenn ſie in ihrem Neſte ſind. Jedermann weiß, daß ſie draußen das Tageslicht nicht fliehen; aber wenn man ein Neſt aufdeckt, beeilen ſich alle Bewohner, ſich in den finſterſten Winkel zu verkriechen. Indem er nun verſchiedene Ecken des Neſtes mit verſchiedengefärbten Gläſern bedeckte, mußte man erwarten, daß die Ameiſen ſich unter das dunkelſte flüchten würden, wenn ſie nur das Licht fliehen wollten. Es war aber nicht der Fall. Die ziemlich hellen gelben und grünen Gläſer zogen ſtets eine ziemlich beträchtliche Anzahl an, weniger indeſſen als das rothe. Was das violette Glas anbetrifft, welches bei— nahe undurchſichtig war, ſo flohen es die Ameiſen mit der größten Halsſtarrigkeit, und ſämmtliche Verſuche beſtätigten dieſe tiefe Averſion gegen das Violett. Wie wir es ſchon bemerkt haben, laſſen ſich die Ameiſen vor allem durch den Ge— ruch leiten. Geiſtreich variirte Verſuche haben unſerem Beobachter erwieſen, daß die Ameiſen nur der Fährtenſpur folgen, gleich— giltig gegen die Beſchaffenheit des Terrains. Wenn dieſe Spur aufhört, bleiben ſie ganz in der Nähe des geſuchten Gegenſtandes völlig verwirrt, und erreichen ihn ſchließlich nur durch längeres Umhertappen. Noch eine ſehr ſonderbare Thatſache geht aus den Beobachtungen Lubbock's her— Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. vor. Wenn die Ameiſen nicht im Stande zu ſein ſcheinen, ſich lange Mittheilungen zu machen, wenn z. B. das Inſekt, welches Nahrungs- mittel entdeckt hat, genöthigt iſt, ſeine Kame— raden mit ſich zu nehmen, ſie aber nicht zurückſchicken kann, ohne ſelbſt umzukehren, ſo ſcheinen ſie doch einfachere Mittheilungen untereinander austauſchen zu können. Wenn ſie z. B. auf zwei genau gleiche Gefäße geſetzt wurden, von denen das eine nur eine kleine Zahl von Larven enthielt, welche in dem Maße wie ſie davongetragen wurden, wieder erſetzt wurden, während das andere eine große Zahl derſelben einſchloß, ſo wurde das erſte Gefäß ſtets und während eines ganzen Tages nur von einigen In— ſekten auf einmal beſucht, während ſie zu dem anderen in geſchloſſener Kolonne kamen, und dennoch konnten, wie Lubbock bemerkt, die Ameiſen des Neſtes nicht das relative Verhältniß der in den beiden Gefäßen eingeſchloſſenen Larven kennen, da ſie die— jenigen ihrer Kameraden, die von dem einen oder dem andern Gefäße zurückkehrten, ſtets gleicherweiſe bepackt ſahen. Es iſt in dieſem Falle wohl vorauszuſetzen, daß ſie ein uns noch entgehendes Mittel gehabt haben, um ſich von der Nothwendigkeit zu verſtändigen, nach dem einen Orte mehr Arbeiter als nach dem andern zu ſchicken. Ein letzter, ſehr intereſſanter Charakter— zug, welcher bei Polyergus und F. fusca beobachtet wurde, beſteht darin, daß im Winter, wenn die Colonie wenig thätig iſt, zwei oder drei Individuen das Amt haben, nach der Proviſion für das ganze Neſt aus- zugehen. Wenn man dieſe Fourageure an- hält, erſcheinen andere, aber niemals mehr ſo, daß die Raupenhaut zwiſchen abwechſelnden als zwei oder drei pro Neſt auf einmal, und dieſelben Individuen verrichten dieſen Dienſt manchmal wochenlang. Wir ſchließen mit Lubbock, daß das 313 Studium der Ameiſen noch viele merkwürdige Eutdeckungen verſpricht, und dürfen hoffen, daß dieſer erfindungsreiche und gelehrte Beobachter uns noch viele Geheimniſſe ihres innern Lebens enthüllen wird. Riley's Unterſuchungen über die Verpuppung gewiſſer Schmetterlinge.“ ) Die verhältnißmäßig plötzlichen Ueber— gänge bei den Inſekten aus einem Zuſtande in einen andern haben ſtets das lebhafteſte Intereſſe geweckt. Die Verwandlung der Raupe in die Puppe bei den Schmetter— lingen, deren als Stürzpuppen bekannte Chryſaliden mit dem Schwanzende ihres Körpers aufgehängt ſind, iſt vielleicht als die wunderbarſte betrachtet worden. Die einleitenden Einzelheiten in dem Vorgange find ſeit den Tagen Vallis neri's von verſchiedenen Autoren ziemlich ausreichend beobachtet und beſchrieben worden. Die Raupe hängt am After-Ende, indem ſie, mehr oder weniger vollſtändig gekrümmt, den vorderen Theil des Körpers aufwärts hält, und ſchließlich platzt (ſplißt) die Haut vom Kopfe nach der Vorderkante des Metathorax— ringes und wird als verſchrumpfte Maſſe zurück nach dem Anheftungspunkte gearbeitet. Jetzt kommt die entſcheidende Leiſtung, die den meiſten Forſchern ein Räthſel geblieben, nämlich die ſelbſtändige Befeſtigung der Puppe und die dadurch bedingte Befreiung aus der Raupenhaut ſowie die Entfernung der Letzteren. Ré au mur erklärte den Vorgang 1734 ) Auszug aus einer vor der „Amerika— niſchen Geſellſchaft für Förderung der Wiſſen— ſchaft“ von Prof. C. V. Riley geleſenen Arbeit. 314 Nähten der weichen Ringe der Puppe ge faßt würde, und feine glückliche und ums ſichtige Darſtellung, nach an Vanessa ur- ticae gemachten Beobachtungen, hat den Boden für ſpätere Darſtellungen geliefert; Niemand gewann tiefere Einſicht in das Weſen des Vorganges, bis vor etwa zwei Jahren Dr. J. A. Osborne, von Mil- ford in England, entdeckte, daß eine beſondere Haut dabei mitſpielt. Bei gelegentlichen Beobachtungen des Herganges war ich längſt zu der Ueber— zeugung gelangt, daß die landläufigen Er⸗ klärungen roh und ungenau ſeien, und hatte für ſpätere Unterſuchung einzelne in der Verwandlung begriffene Exemplare aufge— hoben: doch kann das Weſen dieſes Wechſels weder an in Weingeiſt bewahrten Exem— plaren allein, noch auch durch Unterſuchung einer einzigen Spezies genügend erkannt werden. Die Beobachtungen, welche der gegenwärtigen Arbeit zu Grunde liegen, ſind an Arten gemacht worden, die zu mehr als einem Dutzend Gattungen gehören; die v. J. der Philoſophiſchen Geſellſchaft in Waſhington mitgetheilt worden. Der Raupenkörper beſteht mit Ausſchluß des Kopfes aus zwölf Ringen oder Gliedern die Thatsache ein beſon deres Ine Mit Letzterem Roeſel, der bis jetzt von Niemand als Raupen- haben wir es hier zu thun, denn es trägt und einem Aftergliede, unterhalb des rectum die beiden letzten After— füße und oberhalb deſſelben die Afterplatte. Wenn wir die Afterplatten der Raupen der wahren Stürzpuppenſchmetterlinge genau unterſuchen, jo werden wir finden, daß fie bei aller Verſchiedenheit in der Form in einem Punkte übereinſtimmen, indem ſie nämlich auf dem Rücken und nach hinten mit zahl- f \ 1 ferner hervor, daß ſeine Abbildungen feiner reichen Stacheln und Spitzen verſehen ſind, die in der Regel rückwärts gerichtet, aber ſo geſtellt ſind, daß ſie der Raupe zum Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Aufhängen von Nutzen ſind. Dieſe hierzu eigens vorhandenen und unter der Macht der Muffeln ſtehenden Stacheln auf der Anus⸗-Platte finden ſich erſt nach der letzten Häutung der Raupe vollſtändig entwickelt, während ſie in den früheren Zuſtänden mehr oder weniger rudimentär ſind. Selbſt bei den Gürtelpuppen- Schmetterlingen (suceineti), bei denen die Afterplatte in der Regel nicht entwickelt iſt, finden ſich nichtsdeſto— weniger hie und da Stacheln, und namentlich an dem Rande. Alle von mir eingeſehenen Schriftſteller geben ihre Meinung dahin ab, daß das Hängen der Raupe durch die Verhäkelung der Haken der letzten beiden Afterfüße in der Seide ermöglicht würde, und ſchweigen von der Wichtigkeit der Afterplatte, für die jedoch eigens der Seidenhügel in beſtimmter Form geſponnen wird.“) Die normale Form des Seidenpolſters läßt ſich mit einem mit dem Sitze nach unten gekehrten Sofa mit einſeitiger Lehne, oder auch mit einem Schuh vergleichen, und eine der an— Ergebniſſe waren zum Theil ſchon im Juni ziehendſten Verrichtungen der Raupe zum Behufe der Aufhängung iſt, wie ſie das Afterende biegt und mit ihm arbeitet, um ) Im Zuſammenhange hiermit gewinnt zeichner übertroffen worden iſt, in ſeinen Ab— bildungen alle Nymphaliden an einem läng— lich kegelförmigen Seidenzapfen hängen läßt, der ſcheinbar aus dem After kommt, aus— nahmslos mit freien und in keinem Falle eingehakten Füßen. Aus ſeiner Beſchreibung geht jedoch hervor, daß er die Bedeutung der Afterplatte nicht erkannt hatte, und daraus, daß er ſagt, die Raupen hingen ſich an den hinteren Füßen oder Gliedmaßen auf, geht Beſchreibung nicht entſprechen, während das Freiſein der Füße natürlich ein Irrthum in ſeinen Abbildungen iſt. 8 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. die Rückſeite der Platte innen an die Lehne zu befeſtigen, während die Häkchen der Füße in den glätteren Theil oder Sitz gehakt ſind. In manchen Fällen, wie bei Danais, ift das Seidenpolſter länglich und die Dornen der geſtutzten Platte finden ſich meiſt um den unteren Rand und ſelbſt noch tiefer, ſo daß es ausſieht, als zöge die Raupe die Seide im rectum auf, wenn ſie dieſelben befeſtigt. ptoieta, hat die Platte außer den Dornen noch an dem Außenrande auf jeder Seite einen vorragenden Knauf, der recht dazu geeignet iſt, ſich in die Seide feſtzuſenken. Nach der Aufhängung, wenn die Flüſſig— keiten, der Schwere folgend, nach dem Kopf— ende zu gehen, wird das Polſter mehr kegel— förmig, da die Fäden locker geſponnen und nachgiebig ſind, und die Haken der Platte In andern Fällen, wie bei Eu— 315 Ligament, oder die abgeworfenen Tracheen des letzten oder neunten Athemlöcher-Paares, die durchgehends an der Puppe blind werden oder verkümmern; 2) das Ligament des reetum oder der abgeworfene Darm— kanal; 3) das ſogenannte haltende oder Osborne's Häutchen (membrana retinens), das nur ein Theil des häutigen corium iſt, das ſich um das rectum und an den letzten Paar Afterfüßen ſammelt. Unter der zweiten Klaſſe haben wir die Beſondernheiten in dem Baue der Puppe. ſowohl, als die der letzten beiden Afterfüße hängen loſer darin. Bei der ſchließlichen vollſtändigen Ab— ſtreifung des Raupenbalges und der Be feſtigung der Puppe ſpielen mit: 1) Gewiſſe der Raupe gehörige und mit ihrer Haut abgeworfene Theile. 2) Die der Puppe gehörigen Theile, und um den Hergang zu veranſchaulichen, muß man dieſe Theile näher kennzeichnen und feſtſtellen, als dies faſt genau wie manche unſerer Angelhaken bisher geſchehen. Unter den Erſteren wirken, außer der natürlichen Klebrigkeit des feuchten, ſchlei— migen und häutigen corium*), drei phyſio— logiſche Faktoren mit: 1) das tracheale ) Was hier corium genannt wird, iſt die häutige Schicht zwiſchen der Haut im Ab— ſtreifen und der ſich bildenden Puppe. Wenn, wie die neueſten Forſchungen zu zeigen ſcheinen, nur die Außenhälfte der Dermalſchicht der Haut bei der Häutung der Wirbelloſen abge— ſtreift wird und nicht die ganze Haut mit Dieſe find, erſtens der eigentliche eremaster oder das Hängeglied, das der Afterplatte der Raupe entſpricht, und deſſen Form in der beſagten Platte angedeutet iſt. Dieſes Hänge— glied nimmt eine große Menge mannigfacher Formen an, läßt ſich im Allgemeinen aber als ein ſpitz auslaufendes, auf der Bauchſeite mehr oder minder gebuchtetes Stück faſſen, mit verdickten oder gratartigen Bauch- und Rückenrändern, die man bezw. Cremaster— Bauch- und Rückengrate (Rückenkämme) nennen kann. Dieſer eremaster trägt an ſeinem äußerſten Ende und bisweilen längs des Bauchgraten eine Erhöhung, die man Cremaster-Hakenwulſt nennen könnte, indem fie dick beſetzt ift mit winzigen, aber ſtarken Häkchen, die mitunter mehrfach hakig oder mit Widerhaken verſehen und wundervoll für den Zweck geeignet ſind, für den ſie beſtimmt erſcheinen. Zweitens haben wir die Träger (Zus— tentores), zwei den Sohlen (plantae) des letzten Paares Afterfüße entſprechende Her— vorragungen, die verſchiedene Geſtalten annehmen, jedoch immer vorwärts gerichtet find, fo daß fie leicht das haltende Häut— ihren drei Schichten, dann entwickelt ſich dieſes Häutchen zwiſchen den ſpliſſenden Theilen be— agter Außenſchicht und iſt genau genommen P 2 ſag W ſt g 3 Colias, bei denen der Puppenkörper fo nicht das corium, chen faſſen können. Bei den gelben Schmetterlingen, wie Callidryas, Terias, N 316 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. ſehr nach hinten ragt, daß bloße hervor- maſter aus dem Raupenbalg gezogen. Dieſes ragende Knäufe nicht ausreichen würden, ſelbe Mittel hauptſächlich fest fie ferner finden wir ſie in wirkliche Haken umge- in den Stand, mit der Hakenwulſt des wandelt, während fie bei manchen Gürtel- Cremaſter die Seide zu erreichen. Doch puppenſchmetterlingen kaum mehr als eine ſpielt das Ligament des Rektum eine hüöchſt Verdickung des Vorderrandes des After- wichtige Rolle und nach meiner Schätzung gliedes find. Bei allen Schmetterlings- bei einigen Arten ſogar eine wichtigere, als puppen find dieſe Reſte des letzten After [das Häutchen ſelbſt. Die Tracheenliga— fußpaares mehr oder weniger angedeutet, mente, die ich nach Unterſuchung von in während fie bei manchen Motten (Ptero- Weingeiſt bewahrten Exemplaren mit un— phoridae), wo die Puppe theilweiſe hängt, gefähr halb abgeſtreiftem Balge als wichtige mit langen Haken, ähnlich denen an dem Hülfsmittel anzuſehen geneigt geweſen war, äußerſten Ende des Cremaſter bedeckt ſind, ſind, wie ich jetzt überzeugt bin, in den meiſten wie bei den Nymphalidae. Fällen von ſehr geringem, wenn von irgend Drittens haben wir Grate, die man | welchem Nutzen. Das Rektumligament iſt die Trägerkämme nennen könnte, da ſie ein conſtanter phyſiologiſcher Faktor, deſſen gewöhnlich mit den Trägern in Verbind- Wichtigkeit durch Verſuche, das Häutchen in ung ſtehen, indem ſie ſie außerhalb der dem entſcheidenden Augenblicke zu trennen, Cremaſter-Bauchgrate umgeben, um ſich nicht ermittelt werden kann, weil das Liga— dann rückwärts bis innerhalb der letztern ment bei derartigen Verſuchen mehr oder zu erſtrecken und manchmal, wie bei weniger mit Vergewaltigung der Macht, Paphia und Limenitis, deutlich eine tiefe welche die Sphinktermuskeln der Puppe Kerbe zu bilden, die ohne Zweifel den darüber haben, herausgezogen wird. Raupenbalg mit faſſen hilft, bei den zur Unmittelbar nach dem Aufhängen zer— Befeſtigung des Cremaſter nöthigen An- legt, pflegt man das Afterglied der Raupe, ſtrengungen (bei der mühſamen Befeſtigung namentlich zwiſchen den Füßen und um des Cremaſter). Dieſe Trägerkämme ent- das Rektum, in einer Fülle von durch— ſprechen dem Rande der Anus-Afterfüße, ſcheinendem, häutigen Stoffe zu finden. und die hervorragende Kante dem Rücken- Eine Stunde oder länger nach dem Auf— theile beſagten Randes. Sie wechſeln ſehr hängen beginnt das Ende der ſich bildenden in der Form und können mehr oder weniger Puppe ſich von dem Raupenbalge zu löſen, verkümmert ſein. mit Ausnahme des äußerſten Endes des Viertens liegt zwiſchen ihnen ein Fleck, Cremaſter. Allmählich ſtreckt ſich die Haut den man das Rektum-Stück nennen könnte der Füße und des ganzen Aftergliedes, und und das eine mehr oder minder deutlich bei dieſem Strecken verlängert ſich der ausgeprägte und hervorragende Stelle bildet, Cremaſter, das Rektumſtück weicht mehr vorzugsweiſe um das geſchloſſene Rektum. und mehr zurück von dem Rektum des Die durch das Einhaken der Träger Raupenbalges und die Trägerkämme ent— in das haltende Häutchen (das als beweg- fernen ſich immer mehr von dem Cremaſter liches fulerum wirkt) erreichte Hebelwirkung und nehmen auf den Trägern einen Theil iſt es hauptſächlich, welche die Puppe vor des weichen Häutchens mit. Wird in dieſem @ dem Fallen bewahrt, wenn fie den Cre- | Zuftande eine Raupe ſorgfältig zerlegt, fo Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 317 läßt ſich das ſich bildende Häutchen mit einer Nadelſpitze aufheben und dehnen, ſo daß ſich der Zuſammenhang deſſelben mit dem Ligament des Rektum zeigt, oder man kann es ganz von den Trägern heben, wo es ſich dann in Folge ſeiner Dehnbarkeit zuſammenzieht und mehr oder minder voll— ſtändig in dem Rektumligament aufgeht. In dieſem Zuſtande läßt ſich die Stärke des Letzteren ganz erproben, denn wenn man die Raupenhaut abſtreift, die Puppe dann von dem haltenden Häutchen los— macht und ſie in der Nähe des Rektum faßt, und fo die natürliche Widerſtandskraft der Sphinktermuskeln erſetzt, pflegt das Rektumligament, wie ich vielfältig erprobt, wenigſtens das zehn- bis zwölffache des Gewichtes der Puppe auszuhalten, während es, wenn man es am Raupenbalge hält, das mehrfache Gewicht der Puppe trägt, ohne ſich von letzterer loszulöſen. Kurz, das haltende Häutchen iſt derjenige Theil der Innenſeite des Raupenbalges, welcher die Anus-Afterfüße umgiebt und von den Trägern hinuntergezogen wird, der aber ſtets mit dem Rektumligament genau zu— ſammenhängt und nur eine Verzweigung desſelben bildet. Wird dieſes Häutchen, wie es geſchieht, wenn ſich die Puppe zur Seide hebt, aus ſeinen Verbindungen ge— reckt, ſo trocknet es und behält in dem abgeworfenen Raupenbalge mehr oder minder vollkommen die gereckte Form. Iſt das Corium der Raupe, wie bei Vanessa, dick und feſt, ſo pflegt das getrocknete Häutchen breit zu ſein, mit zwei Ein— biegungen da, wo es von den Trägern gehalten wurde; iſt das Corium zarter, wie bei Danais, Paphia oder Apatura, ſo iſt es mehr gabelig, in Folge der Dehn— barkeit und der Wirkung der Träger. In allen Fällen zeigt es jedoch unter dem Mikroſkop die kennzeichnenden Falten und Knittern der Dehnung und ſcheint, in ſo— fern es weniger benöthigt wird, in Vergleich mit dem eigentlichen Rektumligament an Bedeutung zu verlieren; denn die Gürtel— puppen pflegen in der Regel hängen zu bleiben, wenn es getrennt oder von den Trägern losgemacht wird, während es bei Apatura (wenigſtens ſo weit dieſes Genus durch Nordamerikaniſche Arten vertreten iſt), die die Eigenthümlichkeiten der Gürtel— puppen wie der Stürzpuppen vereinigt,“) nicht zur Entwickelung kommt, und die Puppe faſt ganz von dem Rektumligament, mit Beihülfe des theilweiſen Haltes der zarten Raupenhauttheile — nicht nur zwiſchen den Reſten von Trägern und dem Bauchhinter— rande des zwölften Ringes — ſondern auch zwiſchen den Bauchnähten des letzteren und des vorhergehenden Ringes getragen zu werden ſcheint. Und hier möchte ich zum Schluſſe bemerken, daß bei den meiſten von mir unterſuchten Puppen auf der Bauchſeite die Ränder der zwei oder drei Ringe vor dem Aftergliede ſo hart werden, daß das Raupencorium thatſächlich zwiſchen ihnen und den ſich bei der Zuſammenzieh— ung bildenden tiefen Nähten gefaßt wird. In einigen Fällen (beſonders bei manchen Arten von Papilio) verlängert ſich der hintere Rand des zwölften Ringes in einen Mittelquerkamm, der ganz ebenſo hervor— ragt, wie der von den Trägern gebildete, die ſich hier verflachen und ſich vereinigen, ) Die Raupe von Apatura hängt ſich wagerecht an, ſo daß ihr das erſte Paar der Bauchafterfüße ſtatt des Gürtels dienen muß; beim Abwerfen der Haut hört jedoch dieſe Befeſtigung auf, die ſich bildende Puppe nimmt die lothrechte Haltung ein und verfährt bei dem Herausziehen und Feſt— machen des Cremaſter wie die echten Stürz— puppen. [4 | | ni [on fo daß die Nähte einiger Endringe dem ihnen von Réaumur Zwecke dienen, wenn anderer Weiſe. (Nature No. 250 p. 594.) zugeſchriebenen auch in etwas Der Bau der Gehirn-Ganglien der Inſekten bildete den Gegenſtand einer der Pariſer Akademie der Wiſſenſchaften am 11. Auguſt 1879 Ganglien der Inſekten ſind nach einem den übrigen Ganglien ähnlichen Typus conſtru— irt, d. h. ſie enthalten Faſern im Centrum und Zellen in der Peripherie. Aber gegen das Centrum ſieht man drei etagenweiſe über einander geſtellte Gruppen kleiner Zellen, die durch zahlreiche Faſern in Verbindung ſtehen. Die vor den anderen belegene Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. eingereichten Arbeit Wagner's, über welche wir nach den Comptes Rendus folgende Einzelheiten mittheilen: Die Gehirn- im mittleren Theile aus kurzen, zu Reihen aneinander gefügten Cylindern zuſammen— geſetzt. Von dieſen Cylindern gehen Faſern aus, welche in die Baſis des Gehirns ein— dringen. Im äußeren Theile der Sehlappen kreuzen dieſe Faſern ſich und bieten die Form zweier abgeſtumpften und mit der Spitze einander zugekehrten Kegel dar. Dadurch erſcheinen die Faſern der linken Seite auf der rechten, und die unteren Faſern werden zu oberen. Jede ſo die Richtung wechſelnde Faſer tritt in die Zuſammenſetzung des Sehnerven ein, der ſich nach jedem Auge zieht und in die Zuſammenſetzung des facettirten Auges eingeht. Die Faſerkreuzung findet hier nicht, wie in dem Chiasma der Wirbel: thiere, zwiſchen den Faſern der beiden gegen- über ſtehenden Augen ſtatt, ſondern zwiſchen den Augenfaſern derſelben Kopfſeite. Eine derartige Organiſation vollendet ſehr wahr- ſcheinlich eine vollkommene Coincidenz unter allen, von jedem Auge iſolirt empfangenen Eindrücken. Gruppe kann als diejenige betrachtet wer⸗ den, welche in den intimſten Beziehungen mit den hufeiſenförmigen Windungen ſteht, vorzüglich bei den geſellig lebenden Haut— flüglern, den intelligenteſten Inſekten. Die Entwickelung dieſes Theiles des Nerven— ſyſtems entſpricht dem Grade der vorhan— denen Intelligenz. Dem entſprechend finden wir die bemerkenswertheſte Entwickelung bei den Arbeiterbienen, eine etwas mindere bei den Ameiſenweibchen und bei der Bienen— Königin. Bei den Männchen exiſtiren dieſe Theile ſtets nur im rudimentären Zuſtande. Von den Seiten der Ganglien gehen die den zuſammengeſetzten Augen angehörigen Loben aus. Bei den Drohnen, wo jedes Auge beinahe die eine Hälfte des Kopfes ein— nimmt, haben dieſe Loben eine enorme Ent- wickelung. Sie ſind von ovaler Form und Ueber einige Ueberreſte von Rieſen-Vögeln, wahrſcheinlich dem Aepyornis oder „Vogel Rock“ angehörend. Unter dieſem Titel veröffentlicht das Instituto delle Scienze der Bologner Uni— verſität, einen Aufſatz des Prof. G. Giuſ. Bianconi, worin derſelbe über Nach- forſchungen berichtet, welche er in Betreff des Vorkommens einiger gigantiſcher Vogel— krallen, die in Frankreich aufbewahrt wer— den ſollen, anſtellte. Der bekannte Anatomiker und franzö— ſiſche Architekt Perrault erzählte von einem enormen Geierfuße, der in der Ste. Chapelle in Paris bewahrt wurde, und deſſen Daumen- und Mittelzeh-Krallen nicht weniger ne als 5 Fuß von einander entfernt geweſen fein ſollen! Dieſe Ueberlieferung findet ſich bei Becano, Jonſon und beſonders bei de la Chenaye beſtätigt, wonach jene Klaue noch 1759 in Paris exiſtirte. Solche gigantiſchen Dimenſionen laſſen nur auf ein Thier wie der Aepyornis ſchließen, denn weder in der lebenden, noch foſſilen Vogelwelt iſt ein anderes Weſen, dem derartige Dimenſionen eigen ſind, bekannt, da die Dinornis keine Füße dieſer Art beſitzen. Trotz mannigfacher, auf dieſe Zeugniſſe hin gemachten Nachforſchungen iſt es noch nicht gelungen, eine Spur von der heu— tigen Exiſtenz jenes Objektes aufzufinden. Aus älteren Memoiren Material ſchöpfend, erinnert Prof. Bianconi daran, daß in Sagen vielfach von fürſtlichen Trink— gefäßen die Rede iſt, welche aus Krallen des Vogel Rock oder Greif hergeſtellt waren. Zwei dieſer Memoiren (von Doublet und einem andern Autor des Schatzinventars von St. Denis, aus den Jahren 1625 und 1655) erwähnen ein im alten Schatze von St. Denis vorkommendes Trinkgefäß aus Greif-Krallen, auf einen Metallfuß mon— tirt, welches von einem Perſerkönige 807 Karl dem Großen geſchenkt wurde. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 319 Der Chimpanſe des Berliner Aquariums. Seit länger als Jahresfriſt concentrirt ſich wieder das Intereſſe der Beſucher des Berliner Aquariums auf einen der liebens— würdigſten Anthropomorphen, den neuen Chimpanſen. Bis jetzt war es noch nicht gelungen, einen Vertreter dieſer Sippe länger als einige Monate in Gefangenſchaft zu halten; der „Troglodyt“ des Aquariums ſcheint aber von der Regel eine ſeltene Aus— nahme machen zu wollen, denn er erfreut ſich ſeit Juni 1878, ein kleines Schnupfen— fieber nicht gerechnet, der beſten Geſundheit, die ſich auch in der monatlichen Zunahme des Körpergewichtes um 1 Kilo deutlich docu— mentirt, während ſeine Größe ein Plus von 30 Centimeter zeigt. Es kann für den Naturfreund kaum etwas Anziehenderes geben, als die eingehende Beobachtung dieſes Affen, bei dem von einer Dreſſur nicht die Rede iſt. Nach Kinderart unterhält er ſich ſtundenlang mit den ihm gegebenen Spiel— ſachen, Holzkugeln und Wagen, bei denen er die genaueſten Forſchungen über Bauart . und Stoff anſtellt; einen „Schrubber“ ver— In einem neueren Werke Guilhermys wurde dieſer Gegenſtand als noch heute exiſtirend benannt; demzufolge iſt Bianconi nach angeſtellten Nachforſchungen im Stande ge— weſen, der Akademie in Bologna eine Photographie und Beſchreibung der Kralle vorzulegen, aus denen erhellt, daß Cha— raktere vorhanden ſind, welche wirklich auf eine gigantische Kralle, dem Aepyornis an— gehörend, ſchließen laſſen. Prüfung des Objektes wird nun zeigen, ob es ſich in der That um einen Ueberreſt jenes | Rieſen der Ornithologie handelt, der dem madagaſſiſchen Collegen ebenbürtig iſt. Die zootomiſche ſteht er in muſterhafter Weiſe zur Anwend— ung zu bringen und ſcheuert und putzt damit ſeinen Käfig nach Herzensluſt. Sein Ge— ſpiele iſt ein erprobter Hund, der auch ſeinem verſtorbenen Vorgänger zugeſellt war und der wegen der vortrefflichen Eigenſchaften von dem Wärterperſonal als durchaus „affen— fähig“ geprieſen wird. Der Chimpanſe bedient ſich übrigens, was früher beſtritten wurde, als Waffe eines Stockes, den er, aufrechtgehend, fechtend zu handhaben weiß. Beſuchern ſeines Glashauſes viſitirt er aus— nahmslos die Taſchen; die Erfolgloſigkeit jener Recherchen kündet er durch ein gellendes Geſchrei an, dem gewöhnlich ein unmuths— Kosmos, III. Jahrg. Heft 10. 320 voller Scheinangriff auf den Durchſuchten folgt. Das größte Vergnügen, welches dem Affen bereitet werden kann, iſt eine Waſchung, die er in hochkomiſcher Weiſe an ſich ſelbſt vollzieht. Bei ſeiner großen Intelligenz iſt es begreiflich, daß er ein vorzügliches Per— ſonengedächtniß beſitzt. Empfangene Wohl— thaten vergißt er ebenſowenig wie kleine Beleidigungen und Neckereien; letztere zahlt er nicht ſelten mit kräftigen Fauſtſchlägen heim. Trotz der vielen „Viſiten“, die der Chimpanſe erhält, hat er doch nur zwei Freunde, es iſt Dr. Hermes und der Kleinere Mittheilnngen und Journalſchau. Speiſe und Trank ſpendende Wärter, gegen welche er eine rührende Zärtlichkeit, gemiſcht mit ſchalkhaftem Humor, entwickelt. Die echte Kindesnatur kommt bei dem ſchwarzen Geſellen zum Durchbruch, wenn ihm ſein Spielzeug, Waſchgefäß, oder gar ein ſo eben empfangener Apfel fortgenommen wird. Schmollend und mit trübſeligen Blicken ſchleicht er in eine Ecke, legt ſich auf den Rücken, bedeckt das Geſicht mit den Händen und erhebt ein Geſchrei, das „Stein er— weichen, Menſchen raſend machen kann.“ Der vielgerühmte Nachahmungstrieb der Vierhänder erhält eine merkwürdige Beſtätig— ung in einem reizenden Verſuch. Dr. Hermes macht mit einem Bleiſtift einige große Striche auf ein Blatt Papier und übergiebt dem Chimpanſen, welcher der Operation Sofort breitet der gelehrige Schüler das Blatt auf die Erde, befeuchtet mit der Zunge das Blei und verübt damit wohlgefällig ein „Krikelkrakel“, wie es in der Leiſtungs— fähigkeit zwei- bis dreijähriger Kinder liegt. Nur ſchwer iſt ihm der vermeintliche Schatz wieder abzuringen, er entflieht damit in die höchſten Regionen ſeines Käfigs und frißt dort, falls ihm nicht Gewalt zuvorkommt, das künſtleriſche Produkt auf. Ein weiß gewordener Neger bildete vor Kurzem das Objekt zahlreicher Artikel amerikaniſcher Zeitungen. Der Fall, welcher nicht ohne Analogieen daſteht, ſoll ſich in Weſtminſter Md. zugetragen haben. Der Neger, Abraham Freyland, iſt 68 Jahr alt, ſtammt von Vollblut-Negern ab und war früher Sklave in Baltimore-County. Vor 22 Jahren bekam der früher eben— holzſchwarze Mann, der ſeit 40 Jahren ununterbrochen in Gerbereien gearbeitet hat, weiße Flecke auf ſeinem Geſichte und ſeinen aufmerkſam zuſah, das „Zeichenmaterial“.“ > ——— Händen, welche allmählich immer mehr an Umfang zunahmen. Jetzt iſt ſein ganzer Körper von dem kahlen Kopfe bis zu den Füßen vollſtändig weiß, bis auf einige dunkle, den Sommerſproſſen ähnelnde Flecken im Geſichte. Y Literatur und Kritik. Die Entdeckung der Seele, von Guſtav Jäger. Zweite Auflage. Enthaltend: A. Geſammelte Aufſätze. B. Neue Beweiſe und Aufſchlüſſe. Zu— gleich Lehrbuch der Allgemeinen Zoologie III. Abtheilung: Pſychologie. Leipzig, Ernſt Günther's Verlag, 1880. 387 Seiten in 8°, 8 8 mag wohl ſelten ein Buch erſchienen ſein, welches eine ſo große Anzahl oder wichtigſten biologiſchen Fragen von einem jo neuen und originellen Standpunkte aus behandelt, wie das vor— liegende. Bis zu den dunkelſten Myſterien des Lebens vordringend, und ſeine Blicke unentwegt in die geheimſten Falten der geſellſchaftlichen Beziehungen des Menſchen werfend, muß der Verfaſſer unbedingt als ein Bahnbrecher auf einem neuen Forſchungs— gebiete bezeichnet werden, den man nicht mit Naſenrümpfen und Achſelzucken, noch weniger mit äſthetiſcher oder ſittlicher Entrüſtung, oder gar mit Spott und Hohn mundtodt machen kann. Das allgemeine Verdamm— ungsurtheil, dem das Buch in gewiſſen Kreiſen begegnet iſt, wird ihm nur zur weiteren Verbreitung nützen und kann für den ernſten und aufrichtigen Kritiker in | keiner Weiſe beeinfluſſend fein. Wir ſetzen die Grundidee des Buches, weil durch einen eigenen Artikel des Verfaſſers in unſerer Zeitſchrift (Bd. IV. S. 171) dargelegt, bei unſeren Leſern als bekannt voraus, und wollen im Allgemeinen nur bemerken, daß der Verfaſſer allerdings die ſatiriſche Kritik durch einen Buchtitel und durch eine Deut- ung ſeiner Unterſuchungen herausgefordert hat, die der Sache ſchaden mußten. Er nennt ſie die „Entdeckung der Seele“, und da man nur etwas entdecken kann, was vorher nicht bekannt war, ſo hat er natür— lich nicht dasjenige entdecken können, was die Allgemeinheit unter Seele verſteht, ſon— dern eine Seele eigener Erfindung, die dar— um beſſer einen anderen Namen erhalten hätte. Die Allgemeinheit verſteht unter dem Seeliſchen eine Thätigkeit, einen Proceß, etwa die Zerſetzung einer beſonderen Eiweiß— art in verſchiedenen Richtungen, um die Anſicht der jetzt herrſchenden phyſiologiſchen Schule als Beiſpiel zu nehmen. Dieſe Schule ſucht die Specifität der einzelnen Lebensformen in einer Specifität des leben— den Eiweißes oder Protoplasmas, und in dieſem Sinne heißt es in einem vor mehre— ren Jahren erſchienenen Buche von dem Protoplasma: „An ſein Beſtehen iſt das Leben des Individuums, wie des ganzen Geſchlechtes geknüpft, und in ihm ruhen alle Geheimniſſe der Welt des Lebens. \ 322 Literatur Wenn ein Geſchlecht ausſtirbt, ſo können wir klagen, daß eine Protoplasmaſorte auf- gehört habe, ſich zu verjüngen.“ Dieſe Schule würde ſagen, weil das lebende Pro— toplasma ſpecifiſch und individuell in jedem Individuum verſchieden iſt, darum reagirt es verſchieden auf die Agentien der Außen— welt, erleidet ſpecifiſche Zerſetzungen, zerfällt in ſpecifiſche Spaltkörper, unter denen ſich |pe= cifiſche Duftſtoffe befinden. Die anderen Biologen ſehen das Seeliſche in der ſpeci— ſchen Zerſetzungsform, Jäger aber be— zeichnet das Produkt der Zerſetzung, den ausgeſchiedenen Zerſetzungsſtoff, als Seele. Es iſt daſſelbe Verhältniß, wie in dem von A. Herzen (Kosmos, Bd. V. S. 83) kritiſirten Ausſpruch Vogt's, daß die Gedanken ſich zum Gehirn verhalten ſollen, wie der Urin zu den Nieren. Das Denken iſt eine Thätigkeit und kein Abfallſtoff, und ſo iſt das Seeliſche Lebensproceß und kein Edukt. Indeſſen Prof. Jäger weiß Alles das ſehr wohl, er hat nur die Caprice, das Produkt Seele zu nennen, und ſollte ſich darum aber auch nicht wundern, wenn man ihm zu Leibe geht. Was ihn zu ſolcher Nomenklatur andererſeits wieder zu berech— tigen ſcheint, iſt der Umſtand, daß jene Seelen- oder Duftſtoffe allerdings als ſtarke Nervina wirken, und ich wundere mich, daß er nicht hier in erſter Reihe auch vom Mo— ſchus, Bibergeil, Zibeth und ähnlichen ſtark erregenden Arzneimitteln geſprochen hat; allein andererſeits giebt es freilich auch Ner- vina, die keine Duftſtoffe ſind. Man könnte ſich dieſe ausgeſprochen erregende und die ſeeliſche Thätigkeit beeinfluſſende Wirkung der Duftſtoffe indeſſen wohl wie eine Art — um mich grob auszudrücken — Fer⸗ mentwirkung auffaſſen, entſprechend jenen Contaktwirkungen der Chemie, wo ein be | ſtimmter Stoff beſtimmte Proceſſe einleitet, | und Kritik. ohne daß er ſich ſelbſt chemiſch zu verändern braucht. Denn ich bin vollkommen von der Richtigkeit der Jäger'ſchen Theorie, der Luſt⸗ und Unluſtſtoffe, Angſtſtoffe u. ſ. w. überzeugt und hätte auch gar nichts dage— gen, ſie als Seelenſtoffe zu bezeichnen, wenn ſie nur beſtimmt als Edukte oder den entſprechenden Proceß wieder anregende Stoffe bezeichnet würden. Abgeſehen von dieſen rein äußerlichen Benennungsfragen, muß Ref. geſtehen, daß er in der Sache ſelbſt einen bedeutenden Fortſchritt der biologiſchen Forſchung voll und herzlich anerkennt. Eine Menge der intereſſanteſten Fragen, namentlich auch die Myſterien des Geſchlechtslebens, werden erſt hierdurch dem Verſtändniß und der Forſch— ung zugänglich gemacht. Nach welcher Richt— ung man den Blick wirft: man wird in dem Jäger' ſchen Buche einen Lichtſtrahl dorthin fallen ſehen; man beginnt die Gegenſtände ringsum, wenn auch zunächſt in undeutlichen Formen, zu erkennen, wie wenn man mit einem Fackelträger in eine dunkle Grotte hinabſteigt, und das flackernde Licht bald hier und bald dort in einen verborgenen Winkel fällt. Nehmen wir die Lehre von dem Angſtſtoff, von dem Stoffe, der ent— bunden wird, wenn, durch quälende geiſtige Prozeſſe angeregt, eine beſtimmte Zerſetzung der Eiweißſtoffe des Körpers beginnt. Na— türlich iſt die Angſt ein geiſtiger Prozeß, und entſteht, ohne daß Angſtſtoffe zuvor vorhanden ſind; das Auftreten der Angſt— ſtoffe iſt eine Folge- oder ſagen wir Begleit— Erſcheinung, aber nicht die Urſache. Aller— dings iſt im thieriſchen Körper das Geiſtige und Körperliche ſo verknüpft, daß nicht nur die Augſt Herzklopfen, ſondern auch das Herzklopfen Angſt erzeugt, und dann als Urſache auftritt; allein dies iſt nur die Folge der Aſſocigtion von Gefühlen und Beweg— ungen im Körper, und wir würden den Kopf ſchütteln, wenn Jemand ſagen wollte, eine Gefahr unſeres Mitmenſchen, der wir | beiwohnen, erzeuge erſt Herzklopfen und Angſtſtoffe, und als Folge davon Angſt, während die Angſt doch der von außen direkt angeregte Prozeß iſt und die Abſcheidung des Angſtſtoffes die Folge. Die Exiſtenz des Literatur und Kritik. ſpecifiſchen Entdecker-Luſtſtoff, der die Thätig— letzteren iſt ſicher eine wohlbeglaubigte und von Jedermann wahrgenommene und wahr nehmbare Thatſache. Ich erinnere z. B. an den Bericht des Staatsrath Radde über die Verurtheilung eines Chewſuren wegen Ausübung der durch ruſſiſches Geſetz verbotenen Blutrache. einem vor Jäger's Auftreten erſchiene— nem Vortrage: „Noch einmal wiſchte ſich Es heißt dort, in I der Chewſure mit dem wollenen Aermel den Schweiß von der Stirn und verließ das Zimmer, und alle Andern verließen auch das Zimmer, und die Fenſter wurden alle aufgemacht, denn wo ein Chewſure vor Gericht geſtanden hat, da iſt nicht ſehr angenehme Luft.“ Keinem Leſer wird es nach dem Geſagten erſcheinen, als ob der Referent für Jäger's Unterſuchungen blind eingenommen wäre, deſto mehr Gewicht wird man vielleicht ſeiner Ueberzeugung beimeſſen, daß mit dem Jäger 'ſchen Werke eine neue Epoche der Seelenforſchung beginne, nämlich die Ent— deckung der „Chemie der Seele“. Auch die mit den Helmholtz'- und Fechner'- ſchen Arbeiten begonnene „Phyſik der Seele“ erhält einen bedeutenden Impuls durch die Jäger'ſchen Meſſungen des Einfluſſes der Duftſtoffe auf die Geſchwindigkeit der ſee— liſchen Funktionen. Daß auf dieſen neuen Gebieten viele irrige Auffaſſungen mit unter— keit des kritiſchen Centrums für einige Zeit lähmt, das weiß man aus tauſenden von Erfahrungen, die jeder Entdecker darbietet. Wenn wir an dem Buche einen einzigen wirklichen Tadel ausſprechen ſollen, ſo iſt es der, daß der Verfaſſer alle ſeine, oft höchſt geiſtreichen, Vermuthungen als poſitive That— ſachen hinſtellt, und das vorliegende Buch als dritten Band eines Lehrbuches der Zoologie bezeichnet. Ein Lehrbuch iſt das Buch nicht und kann es nicht ſein wollen, aber eine belehrende, häufig geradezu packende Lektüre für Jeden, der es mit der Erforſchung der Wahrheit ernſt nimmt, und ohne Zimper— lichkeit auch diejenigen Erſcheinungen des Lebens betrachten will, welche C. J. Weber, ohne ihre Diskuſſionsfähigkeit in Frage zu ſtellen, das „Kapitel Pfui!“ zu nennen pflegte. K. Encyklopädie der Naturwiſſen— ſchaften. Breslau, Trewendt u. Sohn. Erſte Abtheilung. Heft 2 — 7. Von dieſem ausgezeichneten Nachſchlage— werke, auf welches wir unſere Leſer gleich nach dem Erſcheinen der erſten Lieferungen aufmerkſam machten, ſind ſeitdem ſechs wei— tere Lieferungen erſchienen, welche unſere aus dem Plane und Mitarbeiter Verzeichniß geſchöpften günſtigen Erwartungen vollauf beſtätigen. Drei derſelben gehören dem in reometrie bereits begonnen worden. laufen, und daß ſich zahlreiche Aufſtellungen des Verfaſſers als verfrüht erweiſen werden, iſt ſelbſtverſtändlich. Es giebt offenbar einen ſyſtematiſcher Form gehaltenen Handbuch der Mathematik an, und iſt in demſelben die von Dr. F. Reidt behandelte Plani— metrie zu Ende geführt und mit der Ste— Die Darſtellung macht den Eindruck großer Klarheit und Umſicht, die ja hier vor Allem erwünſcht iſt. Von dem Handbuch der Botanik liegt eine zweite Lieferung vor, | 324 in welcher Prof. Dr. Sadebeck in Ham— burg die Gefäßkryptogamen einer ins De— tail gehenden entwickelungsgeſchichtlichen Be— handlung unterzieht. Wie es bei einem Specialforſcher auf dieſem Gebiete nicht an- ders zu erwarten war, iſt dieſe Arbeit von einer Gediegenheit, wie man ſie ſonſt nur ſelten in encyklopädiſchen Werken findet, ein treffliches Seitenſtück zu der Arbeit von Dr. Hermann Müller im erſten Heft. Sie iſt, nebenbei bemerkt, vom descendenz— theoretiſchen Standpunkte, der ſich bei den Botanikern langſam Bahn bricht, behandelt. Eine ganz verſchiedene Bearbeitung des Stoffes iſt in dem vom Prof. Dr. Guſtav Jäger redigirten Handwörterbuch der Zoo— logie und Anthropologie innegehalten, denn hier ſind die Artikel alphabetariſch geord— net. Der Herausgeber übernahm dabei außer einigen Specialfächern die allgemeine Zoologie, Phyſiologie und Anthropologie, wodurch das Werk, Dank der Selbſtſtän— digkeit ſeiner Anſichten, eine individuelle Phyſiognomie erhält. Die Specialfächer liegen in guten Händen, Wilhelm Hart— mann bearbeitet die Vögel, F. von Hell— wald die ſpecielle Anthropologie, Dr. Ernſt Hoffmann die Kerbthiere, Dr. C. B. Klunzinger die Coelenteraten und mit Prof. R. Koſsmann einen Theil der Fiſche, Letzterer außerdem Krebſe und Am— phibien, Prof. Dr. E. von Martens die Weichthiere und Stachelhäuter, Dr. E. von Mojſivovies die Säugethiere und Reptilien, Prof. H. Röckl die Hausthier— raſſen und die Hausthierzucht, Dr. D. F. Weinland die Würmer. Bei einer Ver— einigung ſo trefflicher Autoritäten muß wohl etwas Vorzügliches zu Stande kommen, und es ſcheint uns völlig überflüſſig, auf beſonders gelungene Einzelnheiten hinzu— weiſen. Literatur und Kritik. Die Erde und ihre Völker. Ein geographiſches Hausbuch von Fried— rich von Hellwald. Mit Illuſtra— tionen von G. Franz, F. Keller— Leuzinger, Th. Weber u. Andern. Stuttgart, W. Spemann. 2 Bde. von ca. 1300 Seiten gr. 8 0. Ein Buch, von dem noch vor ſeiner Vollendung ein Neudruck nöthig wurde, und welches ſeitdem in alle Kulturſprachen überſetzt wurde, bedarf im Grunde irgend welcher Empfehlung ſeitens der Kritik nicht mehr. Die Richtigkeit des Planes, das Bedürfniß eines ſolchen Buches, ſind durch den Erfolg beſſer nachgewieſen worden, als es die nachhinkende Beurtheilung thun könnte, und dieſe hat offenbar in unſerem Falle nichts zu thun, als ſich über die Gediegenheit der Ausführung zu freuen. Welche trockene Wiſſenſchaft war die Erdkunde noch bis vor wenigen Jahren, wenigſtens wie ſie in den Schulen gelehrt wurde, und zu welch' unter— haltender Lektüre iſt ſie dadurch geworden, daß Hellwald mit richtigem Blick die Ethnologie herbeigezogen hat, um das Ge— rippe von oro- und hydrographiſchen Details mit Fleiſch und Blut zu umkleiden, und noch mehr, ihm Leben einzuhauchen. Eine ganze Bibliothek von Reiſewerken, die Jeder gern läſe, aber Niemand beſchaffen kann, iſt hier von dem Herausgeber des „Auslandes“ zum allgemeinen Beſten ſtudirt und verarbeitet worden, und zwar eine Bibliothek, die zum Theil noch gar nicht geſchrieben, ich meine nicht monographiſch verdichtet, ſondern in Zeitſchriften, verloren für die Meiſten, zer— ſtreut lag. Aber nicht blos mit Bienen— fleiß, den am Ende auch mancher Andere entfaltet hätte, ſondern mit dem odyſſeiſchen Blicke, den ihm vielfache Reiſen in Amerika, Aſien und durch ganz Europa geſchärft haben, hat der Verfaſſer die tauſend Einzeln— Literatur und Kritik. heiten zu einem organiſchen Ganzen ver— bunden, wohlgeordnet zum Nachſchlagen, und feſſelnd genug, um in einem Zuge geleſen zu werden. So iſt der Name eines Hausbuches wohl begründet, und der Preis iſt ein derartiger, daß ſich viele Häuſer des Beſitzes erfreuen können. Daß das Buch von kleinen Irrthümern nicht frei ſein kann, davon ſind wir beſtens überzeugt, dafür ſorgt im äußerſten Nothfalle ſchon der Setzer. Indeſſen iſt auch die Reviſion und die typographiſche Ausſtattung eine muſterhafte, wie ſich das bei dem Spemann'— ſchen Verlage von ſelbſt verſteht. Ein reicher Bilderſchmuck gewährt dem Auge ſowohl das erforderliche Anſchauungsmate— rial, als von Zeit zu Zeit einen wohl— thuenden Ruhepunkt. Auch hier ſind die beſten Muſtervorlagen gewählt worden, und wir haben es nicht mit den ewig jungen Cliches gewiſſer in allen ihren Verlags— werken ſich wiederholenden Firmen, ſondern mit durchweg für das Werk neugezeichneten und geſchnittenen Bildern zu thun. Mit einem Worte, es iſt eine Schöpfung aus dem Ganzen, deren Genuß wir möglichſt Vielen gönnen. hältniß zu den Mythen aller Zeiten und Völker. Mit über tau— ſend eingeſchalteten Original-Sagen. Von Dr. Otto Henne-Am Rhyn. Zweite völlig umgearbeite Auflage. Wien, Peſt und Leipzig, 1879 A. Hartleben. XVI und 720 Seiten in 80. Der Grundſtock dieſes Buches beruht auf einer umfaſſenden Sammlung des euro— päiſchen Sagenſchatzes, welche der Dichter, Hiſtoriker und Publiciſt Dr. Anton Henne (1798 — 1870 veranftaltet und nach dem 3 re 325 richtigen Geſichtspunkte, daß die meiſten Sagen auf Naturdeutung und Naturperſoni— fikation hinauslaufen und uns die Natur— anſchauung der Naturvölker überliefern, ge— ordnet hatte. Der Sohn hat dieſe Samm— lung mit beſchränkter Heranziehung des orientaliſchen und außereuropäiſchen Sagen— ſchatzes erweitert und mit einem erläuternden Zwiſchentexte verſehen, welcher die allgemeinen Geſichtspunkte darlegt. Natürlich handelt es ſich hier um ein Gebiet, bei welchem der Willkür Thor und Thür offen ſtehen, und es gehört eine ſehr tiefe Kenntniß der Piy- chologie und außerordentliches Feingefühl für das Empfinden der Naturvölker dazu, hier nicht auf Schritt und Tritt zu ſtraucheln. Wir fürchten, daß dieſes Feingefühl dem Herausgeber nicht überall treu geweſen iſt, wie z. B. da, wo er (S. 23 — 24) den Kampf und das endliche Unterliegen der Sonnengottheiten (Oſiris, Dionyſos, Balder, Siegfried) als täglichen Sonnenuntergang auffaßt, während er ganz unzweifelhaft, und wie von allen Seiten anerkannt iſt, auf das Unterliegen der Winterſonne gedeutet werden muß. Aehnliche Mißgriffe finden ſich nicht wenige, gleichwohl darf zugegeben werden, daß die Sammlung im Allgemeinen ebenſo verdienſtlich als nützlich iſt. Die Anordnung Die deutſche Volksſage im Ver gliedert ſich in drei Hauptabtheilungen: 1) Naturmythe (Schöpfung, Geſtirne, Elemente, Pflanzenwelt, Thierwelt); 2) Dä— monenwelt (Waſſergeiſter, Vegetations- geiſter, Zwerge, Rieſen, Schickſalsmächte) und 3) Götter- und Heldenſage (Götter, Schatten der Götter, Götter als Helden, das Ende und die Wiedergeburt) Ein Anhang enthält eine Abhandlung über die Heidenfeuer, zwei Gedichte des Sagen— ſammlers und eine metriſche Ueberſetzung des berühmten aſſyriſchen Epos, die Höllen— fahrt der Iſtar. In leicht überſichtlicher * ® Anordnung und mit einem ausgiebigen Re— giſter verſehen, wird das Buch als beque- mes Nachſchlagewerk bei ſagwiſſenſchaftlichen Studien gute Dienſte leiſten und eine nützliche Ergänzung der vorhandenen einſchlägigen Literatur bilden. Die atomiſtiſche Theorie von Prof. A d. Wurtz zu Paris. Mit einer litho— graphirten Tafel. Leipzig, F. A. Brock— haus, 1879. (Bd. XXXVII der inter- nationalen wiſſenſchaftlichen Bibliothek.) 314 S. in 120. Dieſes Werk ſtellt im Weſentlichen eine ſehr klar geſchriebene Geſchichte der chemiſchen Theorien dar, während die philoſophiſche Begründung und Ausbildung der Atom— Theorie nur im letzten Kapitel: „Hypotheſen über die Conſtitution der Materie“, eine abrundende Berückſichtigung erfährt. Da der Verfaſſer, dem man einſt in Deutſch— land wegen ſeines Ausſpruchs: „Die Chemie iſt eine franzöſiſche Wiſſenſchaft“, mit Recht grollte, ſich in dieſem Buche der größten Unparteilichkeit befleißigt hat und unter andern den Verdienſten Nichter's volle Gerechtigkeit widerfahren läßt, überhaupt mit einer genauen Kenntniß auch der deut— ſchen Literatur zu Werke gegangen iſt, ſo wird man feinem Buche gewiß allerſeits diejenige Theilnahme zuwenden, die eine fo z 5 N Literatur und Kritik. | meifterhafte Arbeit im vollſten Maße ver- dient. . Die Farbenblindheit. Eine allge— mein verſtändliche Darſtellung ihrer Be— deutung, der Theorien, ihres Vorkom— mens und der Prüfungsmethoden. Von Dr. Kaliſcher, Berlin, Guſt. Hempel, (Bernſtein und Frank), 1879. 72 S. in 12°, Vorliegende kleine Schrift enthält eine treffliche Zuſammenſtellung der neueren und neueſten Erfahrungen und Theorien auf dieſem Gebiete, unter andern auch eine ein— gehende Analyſe und Kritik der unſern Leſern bekannten Theorie von Delboeuf und Spring. Als Herausgeber der natur— wiſſenſchaftlichen Schriften Goethe's, wel— cher in ſeiner Farbenlehre eine der erſten Erklärungen der Farbenblindheit verſucht hat, wurde der Verfaſſer, wie es ſcheint, zunächſt veranlaßt, ſich mit dieſen Erſchein— ungen näher zu befaſſen. Die Frucht ſeines Studiums der in neuerer Zeit beſonders lebhaft discutirten Frage finden wir nun— mehr überſichtlich dargeſtellt in dieſer kleinen Schrift. Sie kann mit beſtem Gewiſſen allen denen empfohlen werden, welche ſich ohne tiefere Studien auf dieſem verzwickten und vielfach ins praktiſche Leben eingreifen— den Gebiete orientiren wollen. — — — . —— — Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig. Eutſtehungsgelchichte der Vorſtellung „Leele“. Von Prof. Dr. Seit Schultze. 2. Charakkeriſtiſche Unterſchiede der urſprünglichen Seelenvorſtellung und der ſpäteren chriſtlichen. 45 Nachdem wir gezeigt haben, wie die Vorſtellung von der Seele \ Sl ee ae it, I ommt es jetzt darauf an, die S charakteriſtiſchen Merkmale her— vorzuheben, durch welche ſich dieſe primitive Seelenvorſtellung von der ſpäteren unter- ſcheidet, welche wir kurz als die chriſtliche bezeichnen können. Hier iſt zuerſt zu betonen, daß die Seele auf dieſer Entwickelungsſtufe noch keines⸗ wegs als immaterielles Weſen gilt, ſondern ihrer Natur nach als völlig ſtofflich be- trachtet wird. Selbſt wenn der Natur— menſch die Seele nach ihrer Trennung vom Körper als unſterblich fortexiſtiren läßt, weiß er von einer Unſtofflichkeit derſelben Dieſer Schatten, nichts. dieſer Hauch, I. dieſes Blut in aller feiner Materialität iſt ihm die Seele. Der rein negative Begriff des Immateriellen, der ja des poſitiven Anſchauungsinhaltes entbehrt, iſt für ihn ebenſo unfaßbar, wie für den ſubtilſten Metaphyſiker, der wohl den Begriff „im— materiell“ bilden, aber ein Anſchauliches darunter nicht vorftellen kann, da der menſch liche Geiſt an die Anſchauungsformen von Raum und Zeit nun doch einmal gebun- den iſt. Es kann deshalb nicht Wunder nehmen, daß Mifftonare, die ſich bemühten, ihren wilden Schülern die Unkörperlichkeit der Seele klar zu legen, die ungeheuerlich— ſten und vielfach komiſchſten Mißverſtänd⸗ niſſe hervorriefen. Es exiſtirt hier alſo noch nicht der Spiritualismus, aber ebenſo wenig ein wirklicher Materialismus, der in ſeiner Reinheit immer erſt als bewußter Gegenſatz zum Spiritualismus auftritt — wir haben es hier vielmehr noch mit der indifferenten Vorſtufe jener beiden Gegen⸗ ſätze, mit dem Hylozoismus, zu thun. Die platoniſch-chriſtliche Seele hat in Kosmos, III. Jahrg. Heft 11. 328 ihrer Immaterialität auch zugleich die Ga— rantie einer abſoluten Unſterblichkeit. Iſt die Seele aber noch wie hier im Anfang ihrer Laufbahn körperlich-ſtofflich, ſo unter— liegt ſie auch den Schickſalen des Körper— lichen: ſie iſt durchaus vergänglich, zerſtör— bar, vernichtbar, ſterblich. Die Neuſee— länder dienen blos als Beiſpiel für die allgemein verbreitete urſprüngliche Anſchau— ung, nach welcher ein Menſch, der getödtet und gegeſſen wird, der Seele wie dem Körper nach vernichtet iſt. Aber auch die, welche in gewöhnlicher Weiſe ſterben, ſind der Unſterblichkeit noch keineswegs ſicher, da die Seele noch auf ihrer Reiſe ins Jen— ſeits getödtet werden kann. Wenn z. B. bei den Fidſchianern eine Seele auf ihrer Wallfahrt ins Seelenland den Gott Ra— vuyalo nicht mit der Keule zu treffen weiß, ſo frißt der Gott ſie ohne weiteres auf, und es hat ein Ende mit ihr. Die Seelen der Unverheiratheten werden von der „großen Frau“ an einem Steine zerſchmettert. Daß man die Seelen tödten kann, zeigen die Negerinnenwittwen von Matamba, welche ſich ins Waſſer werfen, um die ſich an ſie hängenden und ſie quälenden Seelen ihrer verſtorbenen Ehemänner zu ertränken. Die urſprüngliche Vorſtellung iſt, daß der Menſch mehrere Seelen habe — die Annahme nur einer Seele iſt erſt ein ſpäteres Entwickelungsprodukt. Wenn Pulſe, Herz, Athem und Schatten Seelen ſind, ſo zeigt ja die rein ſinnliche Wahrnehmung unzweifelhaft die Mehrzahl der Seelen im Menſchen. So haben die Caraiben ſo viel Seelen, als ſie Pulſe fühlen; die Eskimos nehmen zwei Seelen an: den Athem und den Schatten. Zuerſt iſt es alſo die rein äußerliche Wahrnehmung, welche zur 1 mehrerer Seelen treibt; ſpäter durch geeignete Mittel Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Vorſtellung „Seele“. kommt als Motiv noch die pſychologi— ſche Beobachtung hinzu, daß jeder Menſch ſehr verſchiedene ſeeliſche Eigenſchaften beſitzt, die nun erklärt werden, indem man ſie auf verſchiedene Seelen im Menſchen zu— rückführt. Dieſe Seelen ſind es, welche, jede ihrem Weſen gemäß, den Menſchen antreiben, bald ſo, bald anders zu handeln, und darin findet denn die Mannigfaltigkeit des menſchlichen Thuns und Laſſens ihre leichte und ſichere Erklärung. So iſt denn auch die Seelendreiheit Platon's nichts anderes, als ein wenn auch verfeinertes Ueberlebſel der urſprünglichen Vorſtellung. Die beiden in der Bruſt und dem Bauch wohnenden Seelen, die des Muthes und die der Begierden, erklärt er im Timäus ausdrücklich für ſterblich, im Phädrus da- gegen ſcheint er auch ihnen, wie der im Haupte ſitzenden Seele, der Vernunft, Un— ſterblichkeit zuzuſchreiben. Wie groß man die Zahl der Seelen im Menſchen annimmt, hängt dann von den beſonderen pſychologi— ſchen, religiöſen und anderen Anſchauungen ab. Die Khond (oder Ku's) in Indien geben dem Menſchen vier Seelen. Die erſte iſt die der Seeligkeit fähige und geht nach dem Tode zu Gott; die zweite ge— hört dem beſonderen Stamme an, ſie bleibt auf der Erde, um im Stamme fortgeſetzt wiedergeboren zu werden; bei der Geburt eines Kindes hat der Prieſter zu erklären, welches früher verſtorbene Stammesmitglied in ihm wiedergeboren iſt. Die dritte hat die bei Lebzeiten des Menſchen von ihm begangenen Sünden im Prozeß der Seelenwanderung abzubüßen, und die vierte iſt die, welche mit der Auflöſung des Körpers ſelbſt zu Grunde geht. Wie ſchon dies Bei— ſpiel zeigt, ſo trifft die Seelen eines und deſſelben Menſchen doch nach dem Tode ein ſehr verſchiedenes Geſchick. Bei den Caraiben war die Herzpulsſeele die vor— nehmſte, ſie ging zu den Göttern; die an— deren Pulsſeelen gehen als böſe Geiſter entweder ans Geſtade und werfen Schiffe um, oder ſie machen als Maboyos die Wälder unſicher. Daß der Naturmenſch durchaus keinen Widerſpruch darin findet, den rein materiell gefaßten Seelen pſychiſche Funktionen zu übertragen, geht ſchon dar— aus hervor, daß er auch ſonſt rein körper— lichen Organen ſeeliſche Eigenſchaften zu— ſchreibt: fo ſetzten die Tonganen den Muth Tapferkeit und den Muth ihrer Hunde da— durch aneignen zu können, daß ſie deren Lebern roh und noch warm verzehrten. Die Tahitier hielten die Eingeweide für den Sitz nicht blos der Gemüthsbewegun— gen, ſondern auch der Erinnerung, und in Neu⸗Guinea rieb man ſich die Stirn mit dem auf Kalk geträufelten Gehirn eines klugen Mannes ein, um ſeiner Klugheit theilhaftig zu werden. Der Abſchluß dieſer Lehre von der Mehrzahl der Seelen im Menſchen, und der Uebergang zu der An— nahme einer einzigen Seele in ihm wird ſpät erſt durch die Ueberlegung herbeige— führt, daß in aller Mannigfaltigkeit des Thuns und Laſſens und der ſeeliſchen Zu— ſtände eines Menſchen immer doch ein und daſſelbe Subjekt der Träger derſelben ſei, und daß in dem „Selbſtbewußtſein“ ſich dieſe Einheit deutlich manifeſtire. Die Ein— heit und Einfachheit der Seele iſt alſo ſchon Entwickelungsſtufen. Bei der anthropopathiſchen Auffaſſung der Natur von Seiten des Wilden kann es uns nicht Wunder nehmen, wenn er nicht blos den Menſchen, ſondern auch den Thieren, Pflanzen, ja den leb— loſen Dingen Seelen zuſchreibt. 1 in die Leber; die Dacotah meinten ſich die. ein philoſophiſches Erzeugniß relativ hoher nach die Muahs oder die Handwerker, dar— Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Vorſtellung „Seele“. geber der Häuptlinge, endlich die Egi oder Nach 329 ni Crantz hielten die Grönländer ihre Seelen für nicht verſchieden von denen der Thiere, und animal zeigt ſeinen Zuſammenhang mit anima noch ganz deutlich. Nach der Meinung der Kamtſchadalen lebt ſelbſt die kleinſte Fliege nach dem Tode zu einem Leben unter der Erde wieder auf, und die Fidſchianer, welche ebenfalls allen Dingen Seelen zuſchrieben, glaubten, daß im Bolotu (Jenſeits) auch der umgehauene Baum, die zerbrochene Axt oder der zerbrochene Topf, ja die niedergeriſſene Hütte wieder aufleben würden, vorausgeſetzt, daß ihre Seelen alle die den Weg ins Jenſeits umlagernden Gefahren ſiegreich beſtanden haben. Auch die deutſche Volksanſchauung verſteht unter den als „Heimchen“ bezeichneten Seelen nicht blos die Seelen von Menſchen, ſon— dern auch die von Thieren und Pflanzen. Eine ganz beſonders raffinirte und zwar entſchieden vom Standesvorurtheil und Kaſtengeiſt ausgeheckte Anſchauung iſt aber die, daß nicht alle Menſchen gleich— mäßig mit Seelen begabt, vielmehr die Beſeeltheit nur die Auszeichnung einer be— ſtimmten Klaſſe, das Privilegium gewiſſer ſocialer Rangſtufen ſei. Natürlich ſteht die beſeelte Kaſte hoch über der ſeelenloſen und hat ſelbſtverſtändlich, und das iſt des Pudels Kern, ein gutes Recht, die unbeſeelte iu Dienſtbarkeit und Knechtſchaft zu erhalten. Nach Mariner theilten ſich die Tonga— Inſulaner in vier kaſtenartige Klaſſen. Den niedrigſten Stand bildeten die Tuahs, die gemeinen Arbeiter; dann folgten dem Range auf die Matabulen, die Begleiter und Rath— die Edlen. Nur dieſe letzteren haben Seelen, welche nach dem Tode ihrem Range gemäß fortleben, große, wenn auch nicht göttliche Macht beſitzen, den Ihrigen im Traume 500 erſcheinen und die Prieſter begeiſtern können. Die Seelen der Matabulen leben zwar auch nach dem Tode weiter, aber nur als Diener der Götter und ohne die Macht, Prieſter zu begeiſtern. Den Muahs werden zwar noch Seelen zugeſchrieben, aber es iſt zweifel— haft, was nach dem Tode aus ihnen wird, während die Tuahs überhaupt keine Seelen beſitzen, oder doch nur ſolche, die zugleich mit dem Körper vergehen. 3. Das commereium animae et corporis. Die Seele, ein Körperliches im Körper, iſt das eigentlich Belebende des Leibes. Alle Zuſtände des Leibes, Friſche oder Mattig— keit, Geſundheit oder Krankheit, ſind die Folgen des verſchiedenartigen Verhaltens der Seele. Körperliche Zuſtände werden alſo durch ſeeliſche erklärt. Der Körper erkrankt, weil die Seele nicht ihre volle Schuldigkeit thut, ſei es nun, daß ſie, bezaubert oder geſtohlen, ihre Pflicht gezwungenermaßen nicht erfüllen kann, oder ſei es, daß ſie aus eigenem böswilligen Antriebe ſie nicht erfüllen will. Auch dieſe Anſchauungen ſind urſprünglich ohne Zweifel aus Beob— achtungen über das Verhalten von Puls, Athem und Schatten hervorgegangen. Im Schlafe wie in vielen Krankheitszuſtänden gehen Puls und Athem matt und lang— ſam; in Zuſtänden der Erregung, ſei es in den Anſtrengungen des Kampfes oder in der Hitze des Fiebers, fliegen dagegen Puls und Athem in eilender Haſt. Pulſe und Athem ſind Seelen — ihre Zuſtände bewirken die körperlichen Begleiterſcheinun— gen. Mittags, wo der Schatten klein iſt, fühlt der Menſch Schläfrigkeit — Morgens und Nachmittags, wo der Schatten von ſtattlicher Größe iſt, fühlt ſich der Menſch Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Vorſtellung „Seele“. in tüchtiger Friſche — Nachts, wo der Schatten fehlt, tritt der Schlaf ein. Der Schlaf iſt belebende Seele; die Grönländer laſſen ihre Seelen abnehmen und wachſen. Je nach der ſchwächeren Beleuchtung zeigt ſich der Körperſchatten nicht immer als feſter Kernſchatten, ſondern nur als ſchwacher Um— riß. Die Schattenſeele iſt in dieſem Falle matt und kraftlos. Dem Menſchen ſteht alſo, da eine ſeiner Seelen ihn zu verlaſſen ſcheint, Unglück, Krankheit, ja Tod bevor. Eine Fülle von abergläubiſchen Anſchauun— gen, wie ſie u. a. Grimm und Roch— holz geſammelt haben, ſtützen ſich auf der— artige Beobachtungen der Intenſität des Schattens. Dieſen ſeltſamen Theorien des Naturmenſchen folgt ſeine Praxis nun ganz conſequent. Der grönländiſche Angekok oder Zauberprieſter unternimmt es, die beſchä— digte Seele auszubeſſern, er bringt die ver— lorene zurück oder vertauſcht eine kranke mit einer geſunden von einem Haſen, Seethier oder Vogel. Das Ein hau— chen eines friſchen Athems, das An— blaſen des Leidenden von Seiten eines Geſunden, gewiſſermaßen eine Seelentrans— fuſion, ſteht überall in der Materia medica der Naturvölker in hohem Anſehen. Be— ſonders umſtändlich ſind die Ceremonien, durch welche bei melancholiſchen Verrückungs— zuſtänden die entflohene Seele vielfach unter Schmeicheleien und Drohungen zu ihrer Pflicht zurückgerufen wird. Der Körper kann von der Seele aus beſchädigt werden — umgekehrt können Be— ſchädigungen des Körpers auch die Seele treffen. Eine Wunde wird geſchlagen, das Blut ſtrömt aus, der Athem wird matt, der Menſch ſinkt entkräftet zuſammen — offenbar iſt nicht blos der Körper, ſondern auch die Seele beſchädigt. So glauben manche Neger, daß durch Verſtümmelung TS — —— ——— — — — — ä —— des Körpers auch die Seele verſtümmelt werde, daß die Seelen z. B. von Geköpften ebenfalls ohne Köpfe ſind. Als die Neger— ſklaven eines weſtindiſchen Pflanzers anfingen ſich maſſenweiſe zu erhängen, konnte er die Ueberlebenden nur dadurch vom Selbſtmord abhalten, daß er den Leichen Köpfe und Hände abſchlagen ließ; die Lebenden mein— ten, daß dadurch auch die Seelen verſtüm— melt würden. Die Seele iſt alſo im Körper und durch den Körper vielfachen Gefahren aus— geſetzt. Man kann nicht behutſam genug mit ihr umgehen, und es werden deshalb unter beſonders drohenden Verhältniſſen klug erſonnene Vorſichtsmaßregeln zu ihrem Schutze angewendet. In einem tatariſchen Märchen verwahrt der Rieſe während des Kampfes ſeine Seele in einem Packet auf dem Sattel ſeines Pferdes. Bevor ſie nicht gefunden und zerquetſcht iſt, kann der Rieſe nicht getödtet werden. Seele von einem Einſiedler aufbewahren; erſt als Hanuman ſie geſtohlen hat, kann Rama jenen tödten. Die Seele wohnt im Körper. Wo hat ſie ihren Sitz? Auch heute noch ſpielt die Frage nach dem „Sitz der Seele“ in der Pſychologie eine Rolle. Die ur— ſprüngliche Anſchauung aber läßt ſie nicht gleich an einer beſtimmten Stelle, wie etwa nach Descartes in der Zirbeldrüſe, wohnen, ſondern, da ſie das Blut, der warme Athem iſt, im ganzen Körper hauſen, ſei es nun, daß ſie denſelben ein- für allemal durchdringt, oder ſei es, daß ſie durch den Körper wandert und abwechſelnd bald in dieſem, bald in jenem Gliede ihre Wohn— ung aufſchlägt. Letzteres iſt z. B. die An— ſchauung vieler Mongolen: Die Seele hält ſich je nach den verſchiedenen Tagen des Monats in verſchiedenen Organen des Kör— Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Vorſtellung „Seele“. 331 Ravana läßt ſeine pers auf. Trifft eine Beſchädigung das Glied, in welchem die Seele gerade weilt, ſo iſt der Tod unvermeidlich, wohl deshalb, weil durch die Verletzung dieſer Stelle der Seele ein unmittelbarer Ausweg eröffnet wird, durch den ſie entweichen kann. Die Seele kann im Körper wandern, ſie kann auch gänzlich oder vorübergehend aus ihm auswandern, denn auch ohne zu— fällige Verletzung des Leibes ſtehen ihr Ausgänge genug zu Gebote. „Daß in dem ungeſchloſſenen Käfig, dem neun— thorigen Körper, der Vogel Luft (Seele) verbleibt, iſt wunderbar; daß er ſich auf und davon macht, iſt jo natürlich, daß man darüber nicht zu reden braucht,“ ſagt ein indiſcher Spruch. Neun Thore alſo hat der Körper, und ſchon die Chippeway— Indianer meinen, daß die Seele durch eine dieſer Oeffnungen ihren Ausgang nehmen müſſe. Der naturgemäßeſte Weg wird hier, da der Athem die Seele iſt, Mund und Naſe ſein; dieſer Weg iſt auch der wür— digſte und reinſte. Arabiſche Legenden mel— den, daß Moſes' erhabene Seele durch die Naſe gen Himmel geflogen ſei, als er an einer Roſe roch; wegen ihrer Heiligkeit konnte ſie der Todesengel durch keinen der anderen Päſſe entführen. Durch die heftige Erſchütterung kann die Seele beim Nieſen leicht aus der Naſe herausfahren; daher das „Geſundheit wünſchen“ beim Nieſen, welches bei ſehr vielen Völkern auf der Erde zu den verſchiedenſten Zeiten beobachtet wor— den iſt, und welches eine jüdiſche Legende darauf zurückführt, daß in alten Zeiten die Menſchen nieſten und ſtarben. Bei Homer entflieht die Seele über „den Zaun der Zähne“. Nach indiſchen Philoſophemen dringt die Seele durch die große Fontanelle in den Schädel ein, und nach einigen Schil— derungen verläßt ſie den Körper wieder 8 —— 332 durch den aufſpringenden Schädel. Auf Ma— caſſar reibt der Prieſter den Mittelfinger des Sterbenden, um der Seele, welche durch den Finger hindurch aus dem Körper ent— weicht, den Ausgang zu erleichtern. Wahr— ſcheinlich findet dieſe Sitte und Anſchauung ihren Grund in den krampfhaften Beweg— ungen der Finger eines Sterbenden im letz— ten Todeskampfe, nachdem ſonſt ſchon völlige Bewegungsloſigkeit der übrigen Glieder ein— getreten iſt; es ſcheint dann, als lebe die Seele zuletzt noch in den Fingern, als ver— laſſe ſie den Körper durch dieſe. Der un— würdigſte Ausweg, den die Seele nehmen kann, iſt natürlich der durch den After. Daher erſcheint den Naſairiern das Ge— henktwerden als die entſetzlichſte Todesſtrafe; die Verwandten eines Verurtheilten zahlen den Türken hohe Summen, damit er lieber geſpießt werde und die Seele durch den Mund ausfahren könne und nicht durch den After, wie es beim Erdroſſeln geſchähe. Sowohl ihrem eigenen, ſelbſtſtändigen Weſen nach, als auch gemäß der Natur ihrer mit vielen Ausgängen verſehenen Wohnung hat die Seele die Möglichkeit, den Körper zu verlaſſen. Es iſt klar, daß ſie ihn im Tode verläßt; aber auch ſchon bei Lebzeiten des Leibes kann ſie ohne ihn für ſich umherſchweifen. Man hat dafür die ſicherſten Beweiſe: Zunächſt die Krank- heiten, wie ſchon oben gezeigt; dann der Schlaf, der eben dann eintritt, wenn die Seele nicht im Körper weilt. Daß ſie aber während des Schlafes nicht im Körper hauſt, ſondern für ſich umherſtreift, dafür giebt es einen unumſtößlichen Beweis: den Traum. Der Menſch ſchläft, ſeinem Körper nach iſt er die ganze Nacht in ſeiner Hütte geblieben, und doch hat er fremde Gegen— den geſehen, mit fernen Perſonen geſprochen, ja mit längſt Verſtorbenen verkehrt — und . Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Vorſtellung „Seele“. das Alles mit einer Lebendigkeit, die jeden Zweifel an der Wirklichkeit des Ereigniſſes ausſchließt. Mit ſeinem Körper war er nicht in jenen Gegenden, bei jenen Perſonen, alſo war es ſeine Seele oder eine derſelben. Sie muß dort geweilt, geſehen und gehört, alſo auch den Körper verlaſſen und ſich auf die Wanderſchaft begeben haben. Dieſe ur⸗ ſprüngliche Erklärung des Traumes und der ihm verwandten ekſtatiſchen Zuſtände bleibt auch dann noch beſtehen, wenn man auf höheren Entwickelungsſtufen ſchon dazu gekommen iſt, auf Grund abſtrakt-metaphy⸗ ſiſcher Gedankenbewegungen nur eine Seele im Menſchen anzunehmen und dieſelbe zu immaterialiſiren. Der Menſch träumt, heißt nichts anderes, als ſeine Seele wandert außerhalb des Leibes umher; was fie da- bei erfährt, iſt alſo pure Wirklichkeit. Die Träume ſagen alſo die Wahrheit; ſo ent— ſteht und befeſtigt ſich alſo ihr prophe— tiſcher Charakter. Um durch den Traum Wahrheit zu erfahren, iſt es alſo nöthig, durch künſtliche Mittel die Seele zum Aus— fahren zu bewegen. Daher faſtet und kaſteit ſich der junge Indianer, um in dem in Folge der nervöſen Erregung und Erſchlaff— ung entſtehenden Halbſchlaf und den ſich darin zeigenden Traumviſionen ſein Totem zu entdecken; der Fetiſchprieſter, um mit den Geiſtern zu verkehren, der Neuplato— niker, um in der Ekſtaſe Gott zu ſchauen, der Mönch, um die Entzückungen des Jen— ſeits zu genießen. Bei Allen liegt ihrem Gebahren ein und dieſelbe primitive Theorie des Traumes zu Grunde. Das Verlaſſen des Körpers und das Umherſchweifen iſt aber für die Seele und mittelbar alſo auch für den Körper mit großen Gefahren verbunden. Die Seele kann verhindert werden, wieder in ihren Leib einzufahren. So kann bei den Siameſen = — nn Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Vorſtellung „Seele“. während der Abweſenheit der Seele ein Ve— tala in den bewußtloſen Körper einſchlüpfen und von ihm Beſitz nehmen, ſo daß ſich die Seele in der Lage befindet wie die durch den Sperling aus ihrem Neſte ver— drängte Schwalbe. die Seele in Geſtalt einer Eidechſe aus dem Munde des Schlafenden hervor, überſchreitet den Bach auf dem darüber gelegten Schwert, kann aber nicht wieder zurück, als das Schwert weggenommen iſt. Aus dem Munde der ſchlafenden Hexen läuft die Seele als Katze oder rothe Maus heraus. Man kann die Seele am Wiedereinfahren hindern, alſo die Hexe tödten, wenn man durch Um— drehen des Körpers den Zugang zum Munde verlegt. So bei Deutſchen wie bei Serben. Die Seele kann ſich bei ihrer Streife ver— irren und den Weg zum Körper überhaupt nicht zurückfinden, ja ſie kann höchſt unan— genehme Abenteuer anderer Art erleben, z. B. geprügelt werden. Wenigſtens glau— ben die Odſchibbewaes, daß wer des Mor— gens mit zerſchlagenen Gliedern aufwacht, Nachts ſeiner Seele nach von einem andern Prügel gekriegt habe. Beſonders gefährlich aber iſt für die Seele während ihrer Wan— derung ein plötzlicher Schrecken. Wenn z. B. bei den Birmanen die Seele auf ihrer Traumreiſe einem Belu (Ungethüm) begeg— net, ſo faßt ſie ein ſolcher Schrecken, daß ſie entweder entflieht und gar nicht mehr zu ihrem Körper zurückkehrt, was natürlich den Tod des Menſchen zur Folge hat, oder daß ſie ſo ſchnell zurückgelaufen kommt, daß ſie durch Ueberanſtrengung ſich ſelbſt und damit ihrem Körper gefährliche Krankheiten zuzieht. Das iſt der Grund, warum man nach der Anſchauung vieler Völker auch einen Schlafenden nicht plötzlich und unge— ſtüm aufwecken darf. Die Seele würde gezwungen ſein, erſchreckt zu raſch zurückzu— In einer Sage geht 333 kommen und dadurch Schaden nehmen; ſchon die Verwirrung und der noch halb bewußt— loſe, ſchlaftrunkene Zuſtand eines jäh aus dem Schlafe Geriſſenen zeigen deutlich, in welch' zerzauſtem Zuſtande ſich die unſanft zurückgerufene Seele befindet. Daher haben ſowohl die Tagalen als auch die Indianer die größte Abneigung, Jemanden zu wecken, und thun es nur im Nothfalle und mit höchſter Behutſamkeit. Auch im Waltari- liede ſpricht Waltari zu ſeiner Braut Hilde— gunde: „Von dieſem Bergeskamme, Geliebte, blick' umher, Und ſteigen in der Ferne Staubwolken dicht und ſchwer, So rühre, leiſe weckend, mich nur Dein Finger an, Siehſt Du den größten Haufen, uns zu ver— folgen, auch nah'n. Entreiße mich nicht plötzlich der lang erſehnten Ruh.“ 4. Die Seele außerhalb des Körpers. Da die Seele als ſelbſtſtändiges Weſen den Körper verlaſſen und für ſich frei um— herſchweifen kann, ſo erhebt ſich naturgemäß die Frage: Wie ſieht die Seele aus? Welche Geſtalt hat ſie? Denn eine Geſtalt muß ſie im Sinne des naiven Naturmenſchen haben, da ſie körperlich und im Raume iſt. Die abſtrakte und nicht anſchauliche Vorſtellung einer immateriellen Seele liegt noch in weiter Ferne; aber auch ſolche Erklärungen, daß die Seele ein Qua— drat, wie Pythagoras, oder daß ſie ein Kreis oder eine Kugel ſei, wie Archytas ſie gegeben haben ſollen, oder daß ſie aus den feinſten Atomen beſtehe, wie Demo— krit und Epikur wollten, können als Er— gebniſſe philoſophiſcher Speculation hier noch = En 334 nicht erwartet werden. Der Wilde kann ſich die Seele nur in ganz anſchaulicher Form vorſtellen. Nun iſt ihm die Seele ein ſeltſames, geheimnißvolles Weſen. Ein anſchauliches Ding alſo, welches ihm einen wunderbaren und unheimlichen Eindruck macht, kann er unter gewiſſen begünſtigen— den Umſtänden auch für eine Seele anſehen. So hielten Südſee-Inſulaner das erſte europäiſche Schiff, welches ihnen zu Geſicht kam, für die Seele eines unlängſt verſtor— benen Genoſſen. Doch iſt das immerhin ein Ausnahmefall und nicht das Gewöhn— liche. Die Seele als Pulſe, Athem, Schat— ten iſt etwas Springendes, Hüpfendes, Leichtes, Bewegliches, Huſchendes, Flüchti— ges, Schwebendes, Fliegendes. Bei der relativ beſchränkten Zahl ſeiner ganz con— creten Vorſtellungen wird er alſo diejenigen ſeiner Anſchauungen, welche jene Charaktere der Leichtigkeit und Beweglichkeit an ſich tragen, unwillkürlich und unbefangen wäh— len, um ſich in ihrer Geſtalt die Seelen vorzuſtellen. Er kann ſeine Vorſtellungen nur aus der ihn umgebenden Natur ſchöpfen. Berge, Steine, Bäume ſind nicht leicht und beweglich, wohl aber das ſchwe— bende Wölkchen, der leichte Nebel, die flüch— tigen Vögel, die geheimnißvoll huſchenden Thiere, wie Schlangen und dergleichen. Daher haben ihm die Seelen die Geſtalt von, ja man kann ſogar ſagen, ſie ſind ihm: Wölkchen, Nebel, Vögel, Inſekten, Schlangen, Eidechſen u. ſ. f. Denn nicht als ob er meinte, die Seele habe nur zeit— weilig dieſe Geſtalt, die ihr nicht weſent— lich ſei, äußerlich angenommen, oder als ob er die Thiergeſtalt nur ſymboliſch ſetzte, ſowie man in ſpäteren Entwickelungs— Epochen z. B. Raupe und Schmetterling als Symbol der Auferſtehung auf die Grab— ſteine meißelt — nein, die Seele hat wirk— Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Vorſtellung „Seele“. lich die Geſtalt eines ſolchen Thieres, und dieſes ſo geſtaltete Thier iſt unter gewiſſen Umſtänden wirklich die Seele. Man muß ſich dabei nur der anthropopathiſchen Natur- auffaſſung des Wilden erinnern und ſich vergegenwärtigen, daß ihm die Thiere in ſeiner Anſchauung überhaupt näher und höher ſtehen, daß er von einer abſoluten dualiſtiſchen Kluft zwiſchen Menſchen und Thieren nichts weiß, um das völlig zu be— greifen. Aeußere Begebenheiten zufälliger Art treten endlich noch hinzu, um ſeinem Glauben ſcheinbar die empiriſche Beſtätig— ung zu verſchaffen; im Lichte ſeiner Vor— ſtellungswelt gelten fie ihm als unzweifel— hafte Erfahrungsbeweiſe. Der Häuptling iſt geſtorben; Abends um das Lagerfeuer im Walde verſammelt, erinnert man ſich ſeiner und ſpricht lebhaft von ihm; plötz— lich raſchelt es am Boden, eine Schlange huſcht vorüber und verſchwindet ſo plötzlich wie ſie erſchien, oder ein ſeltener Vogel fliegt in dem Augenblick kreiſchend auf und von dannen — er war es, ſeine Seele! Jemand ſtirbt; am ſonſt blauen Himmel ſieht man um dieſelbe Zeit ein vereinzeltes leichtes Wölkchen dahinſchweben — die Seele des eben Verſtorbenen! Gewiſſe Auſtralier begraben ihre Todten beim Sonnenunter— gang; beim erſten Stern, der ſichtbar wird, ruft der Prieſter: Seht, dort wandelt er mit ſeinem Feuerſtabe! Der Wilde ruft in den Wald, in die Berge hinein. Das Echo antwortet in derſelben Sprache, mit denſelben Lauten. Von Schallwellen weiß er nichts; einen lebenden Menſchen, der da zurückrief, findet er nicht, trotz ſeines Suchens. Wer war es alſo? Eine Seele. Es ver— ſteht ſich endlich, daß die Seele als Schatten in der Geſtalt des Menſchen ſelbſt gedacht wird; war der Schatten doch ſchon bei Leb— zeiten Seele, hat er doch, leicht und flüchtig Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Vorſtellung „Seele“. wie er iſt, alle jene oben aufgeſtellten Er— forderniſſe des Seelenweſens. Dieſe ganze Entwickelung ſtützt ſich in allen Einzelheiten auf ein reiches empiriſches Belegmaterial, von dem ich hier nur einige Hauptſachen mittheilen will. Die Seelen werden in der Geſtalt geflügelter Thiere vorgeſtellt: als Vögel, beſonders als Tauben; als Inſekten, als Käfer, Bienen, beſonders als Schmetterling (%, — Seele und Schmetterling). Sie werden als Reptilien gedacht: Schlangen und Eidechſen ſind hier beſonders beliebt. Unter den vierfüßigen Säugethieren ſind beſonders Maus, Wieſel und Katze die Seelenthiere. Unter den phy— ſikaliſchen Erſcheinungen ſind es die Licht— Phänomene, z. B. die Irrlichter, dazu Nebel, Wölkchen, Schatten, in deren Formen die Seelen auftreten. Endlich muß noch er— wähnt werden die Seele in der Form eines Menſchen en miniature, eines Homunculus, in welcher Geſtalt z. B. in indiſchen Sagen der Todesgott die Seele dem Sterbenden aus dem Munde zieht; auch die Form des geflügelten Herzens kommt, wie z. B. noch im orbis pietus, häufig vor. Wir haben die vom Leibe losgetrennten Seelen ihrer äußeren Geſtalt nach be— trachtet, wir müſſen jetzt noch ihr inneres Weſen, ihren ſittlichen Charakter kennen lernen. Werden die Seelen der Abgeſchie— denen als gut oder böſe gedacht? Hier läßt ſich ein ſehr einfaches Geſetz aufſtellen. Die Seele war das eigentlich Denkende, Wollende und Handelnde im Menſchen. So mithin, wie ſie ſich in dem Lebenden zeigte, wird ſie auch nach dem Tode ſein, da ſie ſich ja nicht verändert. Die Seelen oder Geiſter der Abgeſchiedenen entſprechen ihrem ſittlchen Weſen nach alſo genau dem ſitt— lichen Weſen der Lebenden. Diejenigen fittlichen Anſchauungen, Motive und dar- | | 335 aus entſpringenden Handlungen, welche in irgend einer Geſammtheit von Menſchen (einem Stamm, einem Volk) die herrſchen— den ſind, überträgt dieſe Gemeinſchaft auch auf die poſtexiſtirenden Seelen ihrer abge— ſchiedenen Angehörigen. Denſelben Ent— wickelungsgang alſo, welchen die ſittlichen Vorſtellungen der lebenden Menſchen durch— laufen und auf welchem ſich die Begriffe von Gut und Böſe allmählich immer ſchärfer und deutlicher ausbilden, werden auch die Meinungen von dem ſittlichen Verhalten der Geiſter durchmachen. Nun iſt der Menſch auf der niedrigſten Stufe ſeiner Entwickel— ung völlige Selbſtſucht und deshalb das, was wir von einem höheren Standpunkte aus böſe nennen. Homo homini lupus. So ſind denn auch die Geiſter bei den Wilden, ſogar die Geiſter der geſtorbenen Genoſſen deſſelben Stammes, zuerſt nur feindlicher, ſchädlicher, finſterer Natur, ſie ſind böſe Geſpenſter, um dieſen Aus— druck hier einzuführen, die kaum ein an— deres Intereſſe haben, als ihre Hinterblie— benen zu quälen, ſo wie ſie es bei Leb— zeiten thaten. Und wenn auch auf ſchon entwickelteren Stufen die Seelen der abge— ſchiedenen Stammesgenoſſen ſich den zurück⸗ bleibenden Ihrigen hülfreich und ſchützend erweiſen, ſo ſind es doch eben nur ihre eigenen Stammesangehörigen, die ſie in Schutz nehmen; gegen alle außerhalb des Stammes Stehenden denken und verfahren ſie auch als Geiſter ebenſo grauſam, wild und unmenſchlich, wie ſie es noch im Kampfe ums Leben gethan haben, ſo daß das all— gemeine Geſetz keine Ausnahme erleidet: Alle abgeſchiedenen Seelen werden in ur— ſprünglichen Zuſtänden als böſe Geiſter ge— fürchtet. So zerſchmetterte ein Buſchmann aus Furcht, ſeine Frau möchte ihn nach ihrem Tode beunruhigen, den Kopf ihres Kosmos, III. Jahrg, Heft 11, 44 1 336 Leichnams mit ſchweren Steinen; dann be— grub er ſie und zündete, um ganz ſicher zu gehen, noch ein großes Feuer über ihrem Grabe an. Hier liegt alſo zugleich der oben erörterte Gedanke zu Grunde, daß die Seele durch geeignete Mittel getödtet werden könne. Aehnlich verfuhren die oben bereits erwähnten Negerinnenwittwen von Mantamba. Bei den Samojeden muß nach der Beerdigung ein Zauberer den Geiſt des Verſtorbenen beſänftigen, damit er die Leben— den nicht beunruhige, ihnen die beſten Jagden entziehe oder anderes Unheil anſtifte. Die Auſtralier vermeiden es, ſelbſt am Tage zu den Gräbern zu gehen; wenn aber Jemand Nachts dort ſchläft, ſo ziehen ihm die Todten die Eingeweide aus dem Leibe heraus. Man ſchüttet auch Steinhaufen auf die Gräber, oder umzäunt ſie mit ſpitzen Pfählen, oder heftet den Leichnam mit eiſernen Klammern und hölzernen Riegeln an den Boden des Grabes oder ſchlägt ihm Nägel durch Fuß— ſohlen und Herz oder zerſchneidet ihn in Stücke, die man verbrennt, alles das aus Furcht vor der Bosheit des Geiſtes. Hier öffnet ſich uns nun zum Schluß eine ſehr intereſſante Perſpektive in die Ent— ſtehungsgeſchichte der geſammten Geiſterwelt und damit im Grunde auch des primitiven Götterglaubens. Mit jedem Menſchen, wel— cher ſtirbt, wird eine Seele frei, welche, wie wir ſpäter ſehen werden, urſprünglich nicht in ein fernes Seelenland von dannen zieht, unbekümmert um das Schickſal der Lebenden, ſondern in unmittelbarer Nähe der Lebendigen ihr Weſen weiter treibt. So entſteht nothwendig ein Volk von Seelen oder Geiſtern neben dem Volk der Leben- den. Aber Menſchenreich und Geiſterreich ſind noch nicht dualiſtiſch geſchieden, ſondern ſie exiſtiren mit und neben einander in dem— ſelben Raum; fortgeſetzt rekrutirt ſich die Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Vorſtellung „Seele“. Geiſterwelt aus der Menſchenwelt, und fort— geſetzt wirkt jene auf dieſe ein. So wähnt ſich der Naturmenſch überall von dieſen Seelen, Geſpenſtern, Geiſtern umgeben, alle Ereigniſſe der ſichtbaren Welt, deren Cau— ſalnexus ihm nicht handgreiflich klar vor Augen liegt, führt er unbedenklich und ohne Weiteres auf den mächtigen Einfluß jener Welt zurück; und die Furcht vor ihrem heimlich alles ſehenden Auge und unerwartet treffenden Arme regulirt unwillkürlich von nun an ſein Thun und Laſſen. Wir haben oben geſagt, der Tod habe die Seele in die Welt gebracht — wir können jetzt hin— zufügen: Der Tod hat auch die Entſteh— ung der Vorſtellung von einer Geiſterwelt veranlaßt, ein Glaube, der von nun an ſowohl in der intellektuellen Entwickelung des Menſchen, in feiner rein cauſal-ver— ſtandesmäßigen Auffaſſung und Erklärung der natürlichen Geſchehniſſe, als auch in ſeiner ſittlichen Entfaltung die allerſchwerſt wiegende Rolle ſpielt. Der Keim zur Entſtehung der Geiſter— welt iſt mit dem erſten Todesfall, der des Menſchen Nachdenken erregte, gelegt. Die treibenden Motive für die weitere Ausbild— ung und Differenzirung dieſes Vorſtellungs— Complexes wollen wir kurz noch ffizziven. In der engen Gemeinſchaft der urſprüng— lichen, kleinen, ſich iſolirt gegenüberſtehenden Stammesgenoſſenſchaften gilt der Grundſatz: was zum Stamme gehört, iſt Freund; was nicht dazu gehört, iſt Feind. Jeder hat nur den Seinigen zu helfen, meinten die Neger, und die Battaer drückten dies nur draſtiſcher aus, wenn ſie ſagten: wer nicht von den unſrigen iſt, wird gefreſſen. Da nun die Stammesglieder zu einander in relativ freundſchaftlichem Verhältniß ſtehen, ſo iſt es natürlich, daß auch ihre Seelen, wenn ſie den Leib verlaſſen haben, dieſe freundſchaftlichen Beziehungen (allerdings unter den oben ſchon erörterten Einſchränk— ungen) fortſetzen. Die Seelen treten alſo den Ihrigen gegenüber nicht mehr blos als finſtere Scheuſale auf, ſondern zeigen ſich, vorausgeſetzt, daß man ſie nicht vernach— läſſigt und ſie gebührender Weiſe verehrt, als freundlich geſinnte Beſchützer und Helfer. So entſteht nothwendig eine Unterſcheidung zwiſchen freundlichen und feindlichen Seelen; jene ſind die abgeſchiedenen Stam— mesglieder, dieſe die Stammesfeinde. Jene ſind hülfreich und genießen Verehrung, dieſe ſind ſchadenbringend und werden gefürchtet. So entſteht naturgemäß der Unterſchied zwiſchen Schutzgeiſtern und Unholden, guten Hausgeiſtern und böſen Spuken, Genien und Dämonen, Laren und Lemuren, Engeln und Teufeln, und was dergleichen Benennungen mehr ſind, in denen ſich dieſe Differenzirung darſtellt. Die Geiſter ſind urſprünglich alſo nichts anderes als abgeſchiedene Seelen; ſpäter kommen noch andere Motive zur weiteren Eutfaltung und Potenzirung der primitiven einfachen Vorſtellung hinzu; auf höheren Religionsſtufen ſchwillt die Zahl der Geiſter ins Ungemeſſene an, und die ſyſtematiſche Differenzirung ihrer Charaktere und Com— petenzen wird dann bald Aufgabe einer haarſpaltenden theologiſchen Scholaſtik. Man vergißt die urſprüngliche, natürliche Ent⸗ ſtehung der Geiſterwelt, nimmt ſie als eine gegebene Realität, läßt ſie ſich unter einan— der erzeugen und vermehren oder ſie über— haupt unentſtanden ſein. Aber ſelbſt wo ſchon die höchſten Stufen dieſes Entwickel— ungsganges betreten ſind, zeigt ſich die Ur— form immer noch als Rudiment, als Ueber— lebſel wieder, indem der urſprüngliche Verwandlungsproceß abgeſchiedener Menſchenſeelen in „Geiſter“ wenig— Fritz Schultze, Eutſtehungsgeſchichte der Vorſtellung „Seele“. 337 ſtens im Volksaberglauben — ich erinnere 9 an unſere Geſpenſter, ſpukende Seelen, weiße Frauen u. ſ. w. — fortgeſetzt noch voll— zogen und das Bewußtſein der rein menſch— lichen Herkunft und Abſtammung der Geiſter— welt noch aufrecht erhalten wird. Der Einblick in die natürliche, animi— ſtiſche Entſtehung auch des Polytheismus ergiebt ſich hier nun mit Leichtigkeit. Das erſte dabei in Betracht zu ziehende iſt die ſogen. Ahnenverehrung. Wenn auch alle Seelen der abgeſchiedenen Stammes— mitglieder verehrt werden, ſo verſteht es ſich doch von ſelbſt, daß beſonders dem, der den Stamm mächtig und kraftvoll gelenkt und in Gefahren bewahrt hat, deſſen Ge— dächtniß ſich am längſten in der Tradition erhält, dem großen Häuptling, ſeiner Seele, die höchſte Verehrung zu Theil wird. Wäh— rend die kleinen Geiſter, die nur von ihren hinterlaſſenen Familien noch angerufen ſind, bald in Vergeſſenheit gerathen, lebt ſein großer Geiſt in Aller Erinnerung fort. Die Phantaſie bemächtigt ſich ſeiner: ſeine Großthaten werden in der Ueberlieferung immer mehr vergrößert; ſowie er im Leben das Wunderbarſte leiſtete, ſo auch noch jetzt als Geiſt: noch jetzt giebt er alles Gute oder ſtraft im gerechten Zorn, er iſt es ſchließlich, der donnert und blitzt, und Regen und Sonnenſchein ſendet; wie er über die Menſchen ſeine Macht ausübt, ſo beſitzt er ſie auch über die Natur — kurz, der ver— ehrte, mächtige Geiſt des Ahnen wird zum Gott des Stammes, der des mäch— tigſten Stammes endlich zum Gott des ganzen Volkes — und es iſt keine Gefahr vorhanden, daß ſeine im Verhältniß zu ſeiner nunmehrigen göttlichen Rangſtufe nie— drige irdiſch-menſchliche Abſtammung ihm je von einem Zweifler vorgerückt werde; iſt doch dieſer genealogiſche Vorgang, der 338 Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtauſende zu— rückliegt, längſt vom Staube der Vergeſſen— heit bedeckt, aus dem erſt ſpät eine ver— gleichende Pſychologie den Stammbaum wie— der hervorholt, um ſeine lückenhaften und theilweiſe unleſerlichen Schriftzüge nach kri— tiſcher Vergleichungsmethode zu enträthſeln. Derſelbe Proceß wiederholt ſich in jedem Stamme, die Stämme ſchmelzen im Laufe der Geſchichte zuſammen zu einem Volk. Jeder Stamm bringt ſeinen Gott mit, keiner will auf ſeinen bewährten Helfer in der Noth verzichten. So bleibt nichts übrig, als ſie alle in einem Pantheon, auf einem Olymp zu vereinigen — die Vielgötterei Fritz Schultze, Eutſtehungsgeſchichte der Vorſtellung „Seele“. iſt da — und auch hier beginnt nun jener Differenzirungsprozeß des Glaubens, der jedem Gotte ſeinen Bezirk, ſeinen Reſſort, ſein Departement zuſchreibt, der die feſte hierarchiſche Ordnung beſtimmt, die uns in der Mythologie des Polytheismus ent— gegentritt und auf Grund deren nun die ſpecielle Göttergeſchichte eines Volkes ſich abſpielt. Es bleibt uns nun noch übrig, in einem dritten Aufſatze gewiſſermaßen die urſprüng— liche Eschatologie der Seele, d. h. die primitiven Lehren von ihrer letzten Be— ſtimmung und ihren abſchließenden Ge— ſchicken, zu entwickeln. Geſchichte und Methode der paläontologiſchen Entdeckungen. Ein Vortrag, gehalten vor der Amerikaniſchen geſellſchaft zur Peſörderung der Wiſſenſchaften zu Saratoga, N. ., am 28. Auguſt 1879 von dem Präſidenten Prof. O. C. Mlarfh. (fa, lenntniß ſtoßen wir immer wie— 65 e Leben? Eine Antwort giebt es AN Dr 5 noch nicht, aber tauſend ernfte For— ſcher nach Wahrheit ſcheinen ſich der Löſung dieſer Frage langſam zu nähern. Dieſelbe giebt jeder Abtheilung der Wiſſenſchaften, die in irgend einer Weiſe mit dem Weſen des tereſſe, und die Geſchichte des bildet deshalb ein höchſt anregendes Feld der Unterſuchung. bryologie, und auf ihm iſt der Fortſchritt höchſt ermuthigend. Ein anderer vielver— ſprechender Pfad führt rückwärts durch die Lebensgeſchichte des Erdballs, und in dieſer Richtung können wir ebenfalls als Belohn— ung geduldiger Arbeit mehr und mehr Licht zu erreichen hoffen. der auf die Frage: Was iſt das lehrten, und ſie ſind deshalb in jedem Zeit— der Erde, zurückgelaſſen, und dieſe entgehen Lebens zu ſchaffen hat, ein erhöhtes In- Lebens eine der jüngſten neuzeitlichen Wiſſenſchaften, Ein Weg der Durch- forſchung führt durch das Gebiet der Em- Die Pflanzen und Thiere, die gegen— wärtig auf der Erde leben, erregen das Intereſſe ſowohl des Wilden als des Ge— alter der Geſchichte ſorgfältig beobachtet worden. Das Leben der entfernten Ver— gangenheit dagegen hat ſeine Spuren nur in dürftigen Aufzeichnungen, begraben in leicht der Aufmerkſamkeit. Aus dieſem Grunde iſt das Studium ehemaligen Lebens und ſie gehört zu den ſchwierigſten. In Anbetracht der großen Fortſchritte, welche dieſe Abtheilung der menſchlichen Erkennt— niß innerhalb der letzten Dekade, und zwar beſonders in dieſem Lande, gemacht hat, habe ich es bei der gegenwärtigen Gelegen— heit für paſſend erachtet, in Kürze ihre Entwickelung zu überblicken, und habe deshalb als Thema für dieſen 9 340 Marſh, Geſchichte und Methode der paläontologiſchen Entd die „Geſchichte und Methode der paläon- tologiſchen Entdeckungen“ gewählt. In der kurzen Zeit, die mir zur Ver— fügung ſteht, kann ich nur verſuchen, eine flüchtige Skizze der hauptſächlichſten Schritte der Entwickelung dieſer Wiſſenſchaft zu geben. Die Literatur über den Gegenftand iſt, be- den des Meeres in weichem Zuſtande ſich ſonders in Hinſicht auf die Streitfragen, die ihn berühren, umfangreich, und die Hauptzüge der geſchichtlichen Entwickelung müſſen deshalb für meinen gegenwärtigen Zweck genügen. Ueberblicken wir die paläontologiſchen Denkmäler, ſo mögen wir die Geſchichte dieſer Wiſſenſchaft paſſender Weiſe in vier Chr.) glaubte, daß die vielen Gebeine Perioden eintheilen, die ſich ſcharf durch hervorragende Charakterzüge unterſcheiden, die aber, wie alle Stufen intellektueller Ent⸗ wickelung, keine ſcharfen Grenzen haben. Die erſte Periode geht in jene Zeit zurück, in welcher der Menſch zuerſt foſſile Ueberreſte in den Felſen bemerkte und über ihre Natur Vermuthungen aufſtellte. Sie iſt von beſonderem hiſtoriſchen Intereſſe. Der hervorragendſte Charakterzug dieſer Geologie herbeigezogen, wenn diefolgende Auf— Periode beſtand in einem langen und bit— teren Kampfe hinſichtlich der Natur der foſſilen Ueberbleibſel. Waren ſie bloße „Naturſpiele“, oder waren ſie einſtmals mit Leben begabt? Wie einfach uns dieſes Problem jetzt auch erſcheint, ſo vergingen | doch Jahrhunderte, ehe die Weiſen der Zeit über ihre Löſung zu einem übereinſtimmen— den Reſultate gelangten. Seemuſcheln im harten Fels auf den Bergſpitzen erregten frühzeitig die Aufmerk— ſamkeit der Alten, und ihre Gelehrten ſcheinen mitunter ihren wahren Charakter gewürdigt und vernünftige Erklärungen ihres der Erde ſind ſo langſam im Vergleich zu Daſeins gegeben zu haben. Der Philoſoph Zenophanes von Ko— lophon, der ungefähr 500 v. Chr. lebte, 1 eckungen. erwähnt der Ueberreſte von Fiſchen und anderen Thieren in den Steinbrüchen bei Syrakus, des Abdruckes einer Anchovis im Felſen von Paros und verſchiedener mari— ner Foſſilien an anderen Plätzen. Seine Folgerung aus dieſen Thatſachen war, daß die Oberfläche der Erde einſt auf dem Bo— befand und daß dieſe Gegenſtände ſo in ihr begraben wurden. Herodot ſpricht ein halbes Jahrhundert ſpäter von Meeres- muſcheln auf den Hügeln Egyptens und in der lybiſchen Wüſte, und er ſchloß daraus, daß die See einſt dieſe ganze Gegend bedeckt habe. Empedokles von Agrigent (450 v. des Flußpferdes, die man in Sicilien fand, die Ueberreſte menſchlicher Rieſen ſeien, in Vergleich mit denen die gegenwärtige Raſſe nur Kindergröße habe. Hier, ſo meinte er, wäre ein Schlachtfeld des Kampfes zwiſchen den Göttern und Titanen, und die Gebeine gehörten den Erſchlagenen an. Pythagoras (582 v. Chr.) hatte bereits eine Schlußfolgerung der modernen faſſung, die ihm Ovid zuſchreibt, ſeine eigene war (Metamorphoses, liber XV, 262): Vidi ego, quod fuerat solidissima tellus Esse fretum: Vidi factas ex aequore terras ; Et procul a pelago conchae jacuere marinae, Ariftoteles (384 — 332 v. Chr.) war nicht nur von der Exiſtenz der Foſſilien in den Felſen unterrichtet, er hat auch ſcharfſinnige Anſichten über die zu ihrer Er— klärung als nothwendig vorauszuſetzenden Wechſel in der Oberfläche der Erde ſchrift— lich niedergelegt. Im zweiten Buche ſeiner „Meteorologie“ ſagt er: „Die Veränderungen unſerer Lebensdauer, daß ſie überſehen werden; und die Wanderungen der Völker D Marſh, Geſchichte und Methode der paläontologiſchen Entdeckungen. 341 \ nach großen Kataſtrophen und ihre Ver— ſchiebung nach anderen Gegenden bewirken, daß ein ſolches Ereigniß vergeſſen wird.“ In demſelben Werke ſagt er wiederum: „Da die Zeit niemals mangelt, und das Weltall ewig iſt, ſo kann weder der Don, noch der Nil jederzeit gefloſſen haben. Die Plätze, aus denen ſie rinnen, waren einſt trocken; und es giebt für ihr thätiges Da— ſein eine Grenze, aber keine für die Zeit. Daſſelbe gilt von allen anderen Flüſſen, ſie entſtehen und ſie vergehen; und die See verläßt gleicher Weiſe gewiſſe Landſtriche, während ſie andere überfluthet. Dieſelben Regionen der Erde ſind deshalb nicht die einen immer See, die anderen immer Feſt— land, ſondern Alles wechſelt im Laufe der Zeit.“ Die Anſichten des Ariſtoteles über die Frage der Selbſterzeugung waren weniger geſund, dieſelben übten aber einen mächtigen Einfluß während der nächſten zwanzig Jahr— hunderte aus. Bei der langwierigen Dis— cuſſion über die Natur der foſſilen Ueber— bleibſel waren die Anſichten des Ariſto— teles herrſchend. Er glaubte, daß Thiere aus feuchter Erde und dem Schlamme der Flüſſe hervorgehen könnten, und dies ſchien den Leuten dieſer Periode eine viel einfachere Weiſe, um die Ueberreſte der Thiere in den Felſen zu erklären, als die wunderbaren Wechſel von See und Land, die zur Er- Theophraſt, klärung ihrer Gegenwart erforderlich geweſen ſein würden. Des Ariſtoteles Meinung ſtand eben im Einklang mit dem bibliſchen Berichte der Schöpfung des Menſchen aus dem Erdenſtaube und erhielt deshalb um ſo leichter Glaubwürdigkeit. Theophraſt, ein Zögling des Ari— ſtoteles, erwähnt foſſiler, bei Heraklea, in Pontus und in Paphlagonien gefunde— ner Fiſche und ſagt dazu: „Sie entwickel— ten ſich entweder aus Fiſchſamen, der in der Erde belaſſen war, oder ſie verirrten ſich aus Flüſſen oder Meeren in Erdhöhlen, in denen fie verſteinerten.“ Wo er von foſſilem Elfenbein und Knochen ſpricht, meint dieſer Schriftſteller, daß ſie durch eine gewiſſe, im Erdreich verborgene Bild— ungskraft hervorgebracht ſeien. Dieſer ſelben Urſache ſchreiben, wie wir ſehen werden, viele ſpätere Autoren den Urſprung aller foſſilen Ueberbleibſel zu. Vorher hatte Anaximander, der Phi— loſoph von Milet, der ungefähr 610 Jahre v. Chr. geboren war, weſentlich dieſelbe Anſicht ausgedrückt. Nach Plutarch ſo— wohl als nach Cenſorinus lehrte Anaxi— mander, daß Fiſche oder Thiere, die den Fiſchen ſehr ähnlich, aus erwärmtem Waſſer und Erde hervorgegangen ſeien, und daß das Menſchengeſchlecht von dieſen Thieren abſtamme. Dieſe Auffaſſung kann kaum als Vorahnung der modernen Entwickelungs— Ideen betrachtet werden, wie manche Autoren ſich eingebildet haben. Die Römer fügten den Kenntniſſen, die. die Griechen über Foſſilien beſaßen, nur wenig hinzu. Plinius (23 79 n. Chr.) ſcheint indeſſen ſolche Gegenſtände mit In— u. tereſſe beobachtet zu haben, und in feinem berühmten Werke über Naturgeſchichte legte er verſchiedenen ſolchen Geſtalten Namen bei. Unzweifelhaft entlehnte er ſtark von der ungefähr dreihundert Jahre früher geſchrieben hatte. Unter den Gegenſtänden, die Plinius benannte, waren: „Bucardia, einem Ochſenherzen gleich!“ „Brontia, die dem Kopfe einer Schildkröte gleicht und von der man glaubt, daß ſie in Gewitterſtürmen niederfalle;“ „Glossoptra, einer Menſchenzunge ähnlich, die nicht auf der Erde wächſt, ſondern vom Himmel fällt, wenn der Mond verfinſtert 7 342 iſt!“ „das Ammonshorn, welches nebſt goldener Farbe die Geſtalt eines Widder— horns beſitzt;“ Ceraunia und Ombria, für Donnerkeile gehalten; Ostracites, der Auſter— ſchale ähnlich; Spongites, von Schwamm— geſtalt; Phyeites, Seepflanzen oder Binſen ähnlich. Er erwähnt auch Steine, die den Zähnen des Flußpferdes gleichen, und | jagt, daß Theophraſt von foſſilem Elfen— bein, ſchwarzem ſowohl als weißem, von welche die Geſtalt von Knochen haben, ſpricht. Tertullian (160 n. Chr.) erwähnt Marſh, Geſchichte und Methode der paläontologiſchen Entdeckungen. Calabrien in einer beträchtlichen Entfernung von der See einen geſprenkelten, harten Marmor geſehen, in dem viele, nur wenig veränderte, Seemuſcheln zuſammengehäuft mit dem Marmor eine Maſſe bildeten. Mit dem Anfang des ſechzehnten Jahr— hunderts erhielt die Unterſuchung organiſcher Foſſilien einen ſtarken Impuls, beſonders in Italien, wo dieſes Studium in der That feinen Anfang nahm. Die Entdeckung foſ— erdgeborenen Knochen und von Steinen, Beiſpiele der Ueberbleibſel von Seethieren auf den Gebirgen weit von der See, aber er benutzt dieſe als einen Beweis der all— gemeinen Fluth, von der die Schrift erzählt. Während der folgenden dreizehn oder vierzehn Jahrhunderte ſcheinen die foſſilen Ueberreſte von Pflanzen und Thieren ſo wenig Aufmerkſamkeit erregt zu haben, daß ihrer von den Schriftſtellern dieſer Zeiten nur geringe Erwähnung gethan wird. Wäh— rend dieſer finſteren Zeitalter litten alle Zweige der Wiſſenſchaften gleicher Weiſe, und ſchwache Wiederkäuungen der Ideen der Alten ſcheinen ungefähr die einzigen Bei— träge dieſer Periode zu den Naturwiſſen— ſchaften geweſen zu ſein. Albert der Große (1205 — 1280), der gelehrteſte Mann ſeiner Zeit, erzählt, daß man einen Baumzweig gefunden habe, an dem noch ein Vogelneſt, Vögel enthal— tend, ſich befand, was alles verſteinert war. Er erklärte dieſe ſonderbare Erſcheinung durch die vis formativa des Ariftoteles, eine geheimen Kraft, die nach den vor— wiegenden Anſichten der Zeit im Stande war, die meiſten außerordentlichen, in der Erde entdeckten Gegenſtände zu bilden. Alexander ab Alexandro von Nea— pel giebt an, er habe in den Bergen von ſiler Muſcheln, die in dieſer Gegend in Menge vorkommen, erregte jetzt große Auf— merkſamkeit, und eine lebhafte Discuſſion erhob ſich bald hinſichtlich der Natur dieſer und anderer Ueberreſte. Die Ideen des Ariſtoteles über Selbſterzeugung und be— ſonders ſeine Anſicht von den geheimen Kräften der Erde, die, wie er behauptete, die Macht hätte, ſolche Ueberreſte hervorzu— bringen, wurde nun zum erſten Male ernft- lich in Frage geſtellt; doch währte es noch nahezu zwei Jahrhunderte, ehe dieſe Auf— faſſung ihren herrſchenden Einfluß verlor. Leonardo da Vinci, der berühmte Maler und Naturforſcher, der im Jahre 1542 geboren ward, widerſprach der ge— wöhnlich angenommenen Meinung hinſicht— lich des Urſprungs der organiſchen Foſſilien entſchieden. Er behauptete, daß die foſſilen Muſcheln das wären, was ſie zu ſein ſchienen, und daß ſie einſt auf dem Boden der See lebendig geweſen. „Ihr erzählt mir,“ ſo ſagt er, „daß die Natur und der Einfluß der Sterne dieſe Muſcheln in den Gebirgen gebildet haben; wohl, zeigt mir eine Stelle in den Gebirgen, wo die Sterne heute Muſchelgeſtalten verſchiedenen Alters und verſchiedener Art bilden.“ Wiederum ſagt er: „In welcher Weiſe kann eine ſolche Urſache über die Verſteinerungen verſchie— dener Blatt-, Seepflanzen- und Thierformen an derſelben Stelle Auskunft geben?“ Marſh, Geſchichte und Methode der paläontologiſchen Entdeckungen. 343 Im Jahre 1517 brachten Ausgrabungen ſchiedener foſſiler Ueberbleibſel und ſagt, in der Nachbarſchaft von Verona viele ſel- ſie wären hervorgebracht aus einer gewiſſen tene Verſteinerungen ans Licht, und dieſe führten zu mannigfachen Muthmaßungen über ihre Natur und ihren Urſprung. Unter den verſchiedenen Autoren, die über dieſen Gegenſtand ſchrieben, befand ſich Fraca— ſtoro. Er erklärte, daß dieſe Foſſilien gelebt und ſich vermehrt hätten, wo ſie gefunden wurden. Ueber die vorherrſchende Idee, daß die plaſtiſche Kraft der Alten Steine zu organiſchen Geſtalten zuſammen— ballen könne, machte er ſich luſtig. Einige Schriftſteller beanſpruchten, daß dieſe Mu— aber Fracaſtoro brachte eine Maſſe Be— weismittel bei, die jetzt beweiskräftig er— ſcheinen würden, die aber damals nur bit— tere Feindſchaft hervorriefen. „Dieſe Ueber— ſchwemmung“, ſagte er, „war zu vorüber— gehender Natur; ſie beſtand weſentlich aus friſchem Waſſer, und hätte ſie Seemuſcheln in große Entfernungen transportirt, ſo hätte ſie dieſelben über die Oberfläche zerſtreut und nicht im Innern der Berge verborgen.“ Conrad Gesner (1516 — 1565), deſſen Thiergeſchichte als Grundlage der modernen Zoologie betrachtet worden iſt, veröffentlichte in Zürich 1565 ein kleines, aber wichtiges Werk: „De omni rerum fossilium genere.“ Es enthält einen Ka— talog der Foſſilienſammlung, die Johann Kentmann angelegt hatte. Dies iſt der älteſte Katalog von Foſſilien, von dem ich Kenntniß habe. Georg Agricola (1494 — 1555) war, Cu vier zufolge, der erſte Mineraloge, der nach der Wiedergeburt gelehrter Wiſſen— ſchaften in Europa auftrat. In ſeinem großen Werke: „De re metallica“, ver- öffentlicht im Jahre 1546, erwähnt er ver— Kosmos, III. Jahrg. Heft 11. „materia pinguis“ oder fettigen Materie, die durch Hitze in Gährung verſetzt worden. Einige Jahre ſpäter veröffentlichte Bau— hin einen beſchreibenden Katalog der Foſſi— lien, die er in der Nachbarſchaft von Boll in Würtemberg geſammelt hatte.“) einſt lebenden Thieren gehört hätten, die Andreas Mattioli, ein berühmter Botaniker, nahm Agricola's Anſichten über den Urſprung organiſcher Foſſilien auf, aber er gab zu, daß Muſcheln und Knochen auch in Stein umgewandelt werden könnten, in— dem fie von einem „verſteinernden Safte“ durchtränkt würden. ſcheln von Noah's Fluth dort gelaſſen ſeien, Fallopio, der hervorragende Profeſſor der Anatomie zu Padua, glaubte, daß foſ— ſile Muſcheln durch Gährung an der Fund— ſtelle erzeugt worden ſeien, und daß die in der Nachbarſchaft Apuliens aufgegrabenen Elephantenſtoßzähne bloße erdene Gebilde wären. Mercati veröffentlichte im Jahre 1574 Abbildungen der foſſilen Muſchelſchalen, die im Muſeum des Vatikan aufbewahrt wur— den, drückt aber dabei die Meinung aus, daß ſie nur Steine wären, deren beſondere Geſtalt dem Einfluſſe der Himmelskörper zuzuſchreiben ſei. f Olivi von Verona beſchrieb alle Foſ— ſilien im Muſeum von Verona und be— trachtete ſie als „Spiele der Natur“. Paliſſy, ein franzöſiſcher Schrift— ſteller, widerſprach im Jahre 1580 dieſen Anſichten, und er ſoll der erſte geweſen ſein, der in Paris behauptete, daß foſſile Muſcheln und Fiſche einſt Thieren des Meeres zugehört hätten. Fabio Colonna ſcheint zuerſt darauf ) Historia novi et admirabilis Fontis Balneique Bollensis in Ducatu Wirtember- gico. Montbéliard 1598. 344 hingewieſen zu haben, daß einige der foſſilen Muſcheln, die in Italien gefunden wurden, der See, andere dem Lande angehörten. Eine andere ſonderbare, im ſechzehnten Jahrhundert umſtrittene Theorie verdient Erwähnung. Es war die Vegetations— theorie, die beſonders von Tournefort und Camerarius, beide als Botaniker hervorragend, vertheidigt wurde. Dieſe Schriftſteller glaubten, daß die Samen der Mineralien und Foſſilien durch Meer und Erdreich vertheilt ſeien, und daß ſie ſich zu ihren beſonderen Geſtalten durch das regelmäßige Zuwachſen ihrer kleinſten Theile entwickelten, ähnlich wie ſich Kryſtalle bilden. „Wie konnte das Ammonshorn“, ſo frug Tournefort, „das immer eine gewun— dene Schneckenform hat, ſich bilden, ohne ein Samenkorn, das dieſelbe Struktur in kleinerem Format hatte? Wer bildete es ſo künſtlich, und wo ſind die Gußformen?“ Die Stalaktiten, die ſich in verſchiedenen Theilen der Welt in Höhlen bildeten, wur— den ebenfalls als Beweiſe dieſes pflanz— lichen Wachsthums angeſehen. Noch eine andere Theorie wurde zu verſchiedenen Zeiten vorgetragen, und ſie iſt noch nicht ganz in Vergeſſenheit gerathen, nämlich: Der Schöpfer habe die foſſilen Thiere und Pflanzen, gerade wie ſie in den Felſen gefunden wurden, zur Durchführung eines über unſere Begriffe hinausgehenden Planes geſchaffen. Dieſe Theorie hat niemals unter denen gegolten, die mit wiſſenſchaft— lichen Thatſachen vertraut waren, und folglich bedarf fie hier keiner weiteren Er- wähnung. Ein Intereſſe an Foſſilien erwachte in England ſpäter, als auf dem Feſtlande; als fi ihnen aber die Aufmerkſamkeit zu— wandte, waren die erſten Anſichten hinſicht— lich ihres Urſprunges nicht weniger phan— Marſh, Geſchichte und Methode der paläontologiſchen Entdeckungen. taſtiſch und irrthümlich, als diejenigen, die wir bereits erwähnt haben. Dr. Plot in ſeiner „Naturgeſchichte von Oxfordſhire“, veröffentlicht im Jahre 1677, ſchrieb den Urſprung foſſiler Muſchel— ſchalen und Fiſche einer „plaſtiſchen, in der Erde verborgen liegenden Kraft“ zu, wie es Theophraſt ſchon lange vorher vorge— ſchlagen hatte. Lhwyd, in feiner „Lithophylacii Britanniei Ichnographia“, in Oxford im Jahre 1699 veröffentlicht, giebt einen Ka- talog engliſcher Foſſilien, die im Oſhmolean Muſeum enthalten waren. Er widerſprach der vis plastica-Theorie, und drückte die Meinung aus, daß der Same der Fiſche und anderer Seethiere mit den Dünſten der See in die Höhe geführt, von den Wolken in's Binnenland und durch Regen niedergeſchlagen worden, daß er ſo in das Innere der Erde gedrungen ſei und dort die foſſilen Ueberreſte, die wir im Geſtein finden, producirt habe. Um dieſelbe Zeit wurden in England mehrere wichtige Werke von Dr. Liſter veröffentlicht, die viel dazu beitrugen, eine wahre Kenntniß der foſſilen Ueberreſte zu verbreiten. Er gab Abbildungen neuerer Muſcheln an der Seite folder foſſiler Geſtalten, ſo daß ihre Aehnlichkeit auf der Stelle in die Augen ſprang. Die foſſilen Arten der Muſcheln nannte er „gewundene und zweiſchalige Steine“, und fügt hinzu: „dieſe waren entweder erdgeboren oder, wenn anders, ſind die Thiere, die fie jo genau nachbildeten, aus— geſtorben.“ Im Laufe des ſiebzehnten Jahrhunderts entwickelte ſich ein beträchtlicher Fortſchritt in dem Studium der foſſilen Reſte. Die Streitfrage in Betreff ihrer Natur und ihres Urſprungs hatte die Aufmerkſamkeit Marſh, Geſchichte und Methode der paläontologiſchen Entdeckungen. 345 auf fie gelenkt, und viele Sammlungen Periode). Er ging ernſtlich auf die Streit— wurden jetzt gemacht, beſonders in Italien und auch in Deutſchland, wo ein ſtarkes Intereſſe für dieſen Gegenſtand erweckt wor— den war. wurden nicht ſelten veröffentlicht; und einige Kataloge dieſer Sammlungen frage über den Urſprung der Foſſilien ein, und indem er einen Haifiſch des Mittel— derſelben waren mit fo genauen Abbildun- | gen illuſtrirt, daß viele der Arten auch jetzt noch leicht erkannt werden können. In dieſem Jahrhundert wurde auch ein wich— tiger Schritt vorwärts gemacht durch die Sammlung und Beſchreibung der Foſſilien beſonderer Oertlichkeiten und Gegenden, zum Unterſchiede von allgemeinen Curioſi— täten-Sammlungen. Casper Schwenkfeld veröffent— lichte 1600 einen Katalog der in Schleſien entdeckten Foſſilien; 1622 erſchien die detail- lirte Beſchreibung des berühmten Muſeums von Calceolarius zu Verona; und 1622 ein Katalog von Besler's Sammlung. Wormius' Katalog wurde 1652 ver— öffentlicht, Spener's 1663, und Sep— tala's 1666. Eine Beſchreibung des Muſeums des Königs von Dänemark wurde 1669 herausgegeben; Gottorp's Katalog 1674, und der des berühmten Kirſcher 1678. Dr. Grew gab 1687 einen Be— richt über die Exemplare im Muſeum von Gresham's Collegium in England; und 1695 publicirte Petiver von London einen Katalog ſeiner ſehr umfangreichen Sammlung. Ein Katalog über die Foſſi— lien von Hildesheim von Fried. Lauch— mund erſchien 1669, und die Foſſilien der Schweiz wurden von Johann Jacob Wagner 1689 beſchrieben. Aehnliche Werke waren die Diſſertationen Geier's zu Frankfurt und Albert's zu Leipzig. Steno, ein Däne, der Profeſſor der Anatomie zu Padua geweſen, veröffentlichte 1669 eines der wichtigſten Werke dieſer meeres zergliederte, bewies er, daß deſſen Zähne mit einem in Toskana gefundenen Foſſil identiſch ſeien. Er verglich ebenfalls die foſſilen, in Italien gefundenen Muſcheln mit fortbeſtehenden Arten, und zeigte deren Aehnlichkeit. In demſelben Werke gab Steno einige wichtige Betrachtungen hinſichtlich der verſchiedenen Arten der Schichtungen und deren Urſprung heraus und zum erſten Male verzeichnete er die wichtige Thatſache, daß die älteſten Felſen keine Foſſilien enthielten. Scilla, der ſiciliſche Maler veröffent— lichte 1670 ein gut illuſtrirtes Werk über die Foſſilien von Calabrien. Er iſt ſehr ſcharf gegen die, die den organiſchen Ur— ſprung der Foſſilien leugnen, neigt ſich aber ſelbſt dahin, ſie als Ueberbleibſel der moſaiſchen Sintfluth zu betrachten. Ein anderes Beiſpiel der Macht der lusus naturae-Theorie verdient noch am Ende des ſiebzehnten Jahrhunderts Erwähn— ung. Im Jahre 1696 wurde das Skelet eines foſſilen Elephanten zu Tonna bei Gotha in Deutſchland aufgegraben, und von Wilhelm Ernſt Tengel, einem Lehrer am Gothaer Gymnaſium, beſchrieben. Er erklärte die Gebeine als die eines Thieres, das lange vorher gelebt hätte. Aber die me— diciniſche Fakultät in Gotha zog den Gegen— ſtand in Erwägung und entſchied amtlich, daß dieſes Exemplar nur ein Spiel der Natur verkörpere. Abgeſehen von den Schriftſtellern, die ich erwähnt habe, gab es noch viele Andere, die vor Schluß des ſiebzehnten Jahrhunderts über Foſſilien ſchrieben und an der allge— 9 pe solido intra solidum naturaliter contento. . 346 meinen Erörterung hinſichtlich ihrer Natur und ihres Urſprunges theilnahmen. Wäh- rend des Verlaufs dieſer Erörterungen wurden die phantaſtiſchſten Theorien vorge— bracht und energiſch vertheidigt; und ob— wohl ſie von Zeit zu Zeit von einigen klar blickenden Männern widerlegt wurden, ſo tauchten ſie doch fortwährend von Neuem, in denſelben oder wenig veränderten Ge— ſtalten auf. Der Einfluß der Anſichten des Ariſtoteles über Selbſtzeugung, und beſon— ders die ſcholaſtiſche Tendenz der Dispu— tationen, wie ſie im Mittelalter ſo vor— wiegende Herrſchaft ausübte, trug gewaltig zur Hemmung des Fortſchritts bei. Den— noch wurde ein wirklicher Schritt nach vorwärts auf der Bahn der Wiſſenſchaft gemacht. Der lange Kampf über die Natur der Foſſilien war im Ganzen vorbei; denn die aufgeklärtere Meinung der Zeit an— erkannte nunmehr, daß dieſe Gegenſtände nicht bloße Naturſpiele, ſondern einſt mit Leben begabt geweſen ſeien. An dieſem Zeitpunkte mag deshalb die erſte Periode, die ich in der Geſchichte der Paläontologie ange— deutet habe, paſſenderweiſe ihr Ende erreichen. Es iſt wahr, daß noch ſpäter die alten zerſchmetterten Irrthümer von der plaſtiſchen Kraft und Gährung von Zeit zu Zeit wieder erſchienen, faſt bis zum gegenwär— tigen Tage; aber die Gelehrten mit wenigen Ausnahmen ſtellten nicht mehr ernſtlich in Frage, daß Foſſilien wirkliche Organismen geweſen, wie es die Alten einſt glaubten. Die vielen Sammlungen von Foſſilien, die zuſammengebracht, und die illuſtrirten Werke, die über dieſelben veröffentlicht wurden, waren ein Fundament für den weiteren Fortbau, und deshalb beginnt mit dem achtzehnten Jahrhundert die zweite Periode in der Geſchichte der Paläontologie. Der Hauptcharakterzug dieſer Periode Marſh, Geſchichte und Methode der paläontologiſchen Entdeckungen. war der allgemeine Glaube, daß die Foſ— ſilien von der moſaiſchen Fluth deponirt wor— den ſeien. Wir haben geſehen, daß dieſe Anſicht ſchon früher vorgebracht worden war, aber erſt im Anfange des achtzehnten Jahr— hunderts wurde ſie vorherrſchend. Dieſe Auffaſſung wurde von einigen muthigen Leuten ſcharf angegriffen, und der Streit über das Thema wurde bald bitterer, als der frühere über die Natur der Foſſilien. An der Erörterung dieſer Sündfluth— frage nahmen ſowohl die Theologen als die Laien Antheil. Während beinahe eines ganzen Jahrhunderts hatten die Erſteren gewonnen Spiel; denn das große Publi— kum glaubte ſowohl damals wie heute, was ihm gelehrt ward. Noah's Fluth wurde für allgemein gehalten, und ſie war die einzige allgemeine Kataſtrophe, von welcher die Leute jener Zeit Kenntniß oder Begriff hatten. Die Gelehrten unter ihnen waren na— türlich mit den Berichten vom Deukalion und ſeiner Arche in einer früheren Fluth ebenſo vertraut, wie wir heute mit ähnlichen Traditionen ſind, die von verſchiedenen Menſchenraſſen überliefert werden. Der feſte Glaube, daß die Erde und Alles, was ſie enthält, in ſechs Tagen erſchaffen war, daß alles Leben auf dem Erdball, mit der alleinigen Ausnahme deſſen, was Noah rettete, durch die Sündfluth vernichtet wurde, und daß die Erde und ihre Bewohner einſt durch Feuer zerſtört werden würden, war das Fundament, auf welchem alle Kenntniſſe über die Erde ſich aufbauten. Bei ſolchen feſten Anſichten war es natürlich, die foſ— ſilen Thiere und Pflanzen als Ueberreſte der in der heiligen Schrift beſchriebenen Fluth zu betrachten. Die Herrſchaft dieſes Glaubens ſieht man faſt in der geſammten Literatur über Foſſilien, die in dieſem Zeit Te / / Marſh, Geſchichte und Methode der paläontologiſchen Entdeckungen. raume veröffentlicht wurde, und einige der Werke, die damals erſchienen, ſind aus dieſem Grunde berühmt geworden. | Im Jahre 1710 veröffentlichte David Büttner ein Buch, betitelt: „Rudera Di— luvii Testes“. Er widerſprach energiſch der Erklärung Lhwyd's über den Ur— ſprung der Foſſilien und bezog dieſelben unmittelbar auf die Fluth. Das berühmteſte Werk dieſer Zeit wurde jedoch 1726 von Scheuchzer, einem Arzte, Naturforſcher und Profeſſor an der Univerſität von Altorf zu Zürich, veröffentlicht. Es hätte den Titel: „Homo Diluvii Testis“. Das Exemplar, auf welches dieſes Werk ſich gründete, war zu Oeningen gefunden worden, und man hielt es für das Skelet eines von der Fluth getödteten Kindes. Der Schriftſteller fand an dieſem merkwür— digen Foſſil nicht nur das Skelet, ſondern auch Theile der Muskeln, der Leber und des Gehirns. Derſelbe Schriftſteller war in der Folge glücklich genug, in der Nähe evon Altorf zwei foſſile Rückenwirbel zu ntdecken, und er bezog dieſe ſogleich auf die „verfluchte, von der Fluth vernichtete Raſſe“. Auch dieſe beſchrieb er ſorgfältig und bildete ſie ab in ſeiner „Physica sacra“, veröffentlicht zu Ulm 1731. Stiche von beiden wurden nachher in der „Kupfer— Bibel“ gegeben. Cuvier unterſuchte ſpäter dieſe intereſſanten Reliquien und erklärte das angebliche Kindesſkelet als Ueberbleibſel eines rieſigen Salamanders und die zwei Rückenwirbel als von einem Ichthyoſaurus herrührend. Ein anderes berühmtes Buch erſchien in Deutſchland in demſelben Jahre, in dem Scheuchzer's erſtes Werk veröffentlicht wurde. Der Verfaſſer war Johann Bartholomäus Adam Beringer, Pro— feſſor an der Univerſität von Würzburg, Bi. und fein großes Werk?) hatte mittelbar einen wichtigen Einfluß auf die Unterſuch— ung foſſiler Ueberreſte. Die Geſchichte des Werkes iſt lehrreich, beſonders als ein An— zeichen des Zuſtandes der Kenntniſſe jener Zeit. Profeſſor Beringer hatte in Ueber— einſtimmung mit der Auffaſſung ſeiner Zeit feinen Zöglingen gelehrt, daß foſſile Ueber- reſte oder „Figuren-Steine“, wie man ſie nannte, bloße Naturſpiele ſeien. Einige ſeiner Spaß liebenden Studenten kamen unter ſich auf den Gedanken: „Wenn die katur ſolche Steine zum Vergnügen bilden kann, warum ſollten wir es nicht können?“ So ſchnitten ſie denn aus dem weichen Kalk— ſtein der benachbarten Hügel Figuren wun— derbarer und phantaſtiſcher Geſtalt und ver— gruben dieſe an den Oertlichkeiten, an denen der gelehrte Profeſſor gewöhnt war, nach ſeinen foſſilen Schätzen zu graben. Seine Freude über die Entdeckung dieſer ſeltſamen Geſtalten ermuthigte die weitere Produktion und ſtrengte die Erfindungsgabe dieſer jugendlichen Nachahmer der geheimen Prozeſſe der Natur an. Schließlich hatte Ber in ger eine große und einzige Samm— lung von Geſtalten, die für ihn und die Wiſſenſchaft neu waren, und er entſchloß ſich, dieſelben der Welt bekannt zu geben. Nach langem und geduldigem Studium er— ſchien ſein Werk in lateiniſcher Sprache, dem herrſchenden Fürſten des Landes gewidmet, und auf zwanzig Folioblättern illuſtrirt. Bald nach der Veröffentlichung des Buches wurde die Täuſchung, die gegen den leicht— gläubigen Profeſſor ausgeübt war, bekannt, und an Stelle des Ruhmes, den er von *) Lithographia Wirceburgensis, ducen- tis lapidum figuratorum a potiori, insecti- formium, prodigiosis imaginibns exornata. Wirceburgi 1726. Edit. II. Francofurti et Lipsiae 1767. 348 Marſh, Geſchichte und Methode der paläontologiſchen Entdeckungen. feinem großen Unternehmen erwartete, wur- funden werden“ (1740) zeigte die Wirkun— den ihm nur Spott und Schande zu Theil. Er verſuchte ſogleich die ſchon verbreiteten Copien wieder zurückzukaufen und zu zer— ſtören, und es gelang ihm ſo weit, daß nur wenige Exemplare von der erſten Auf- lage übrig ſind. Sein kleines Vermögen, das ſchon ernſtlich durch die Herausgabe des großen Werkes angegriffen war, wurde aber bei dem Verſuche, das ſchon in die Oeffentlichkeit getretene Werk zurückzuziehen, erſchöpft, indem der Preis in dem Maße ſchnell ſtieg, je weniger Exemplare übrig blieben, und er ſtarb in Armuth und in Kummer über den Fehlſchlag ſeiner Lebens— arbeit. Es heißt, daß einige ſeiner Familien— mitglieder in ihrer Unzufriedenheit über das Unglück, die Entehrung und den Vermögens— verluſt, der ſo über ſie hereingebrochen war, eine übrig gebliebene Copie zur Herausgabe einer zweiten Auflage benutzten, die einen großen Gewinn erzielte, der genügte, um den vorherigen Verluſt zu erſetzen und das Familienvermögen wieder herzuſtellen. Die— ſes Werk Beringer's übte ſchließlich einen vortrefflichen Einfluß auf die dämmernde Wiſſenſchaft der foſſilen Welt aus. Die Beobachter wurden ſorgfältiger, ehe ſie ver— muthete Entdeckungen ankündigten, und ein ſorgſames Studium der natürlichen Objekte trat allmählich an die Stelle leerer Hypo— theſen. Uebrigens können die obigen Werke kaum als würdige Beiſpiele der Literatur über Foſſilien während dieſes Theiles des acht— zehnten Jahrhunderts angeſehen werden. Scheuchzer hatte vorher ſein wohlbekann— tes Buch: „Piscium querelae“ (Turin, 1708), d. h. „Klage und Rechtfertigung der Fiſche“, das mit guten Stichen illuſtrirt war, publicirt. Moro in ſeinem Werke über „Seegeſchöpfe, die in den Bergen ge— „ gen der vulkaniſchen Thätigkeit bei der Er— hebung der Schichten und bei der Hervor— bringung von Unregelmäßigkeiten. Val— lisneri hatte mit Sorgfalt die marinen Ablagerungen Italiens ſtudirt. Donati hatte 1750 das Adriatiſche Meer unter— ſucht und ſich vergewiſſert, daß Muſcheln und Korallen in den dortigen Ablagerun— gen gerade ſo eingebettet wurden, wie ſie in den Felſen gefunden werden. Johann Gesner's Diſſertation: „De Petrificatis“, zu Leyden 1758 veröffent— licht, war ein werthvoller, wiſſenſchaftlicher Beitrag. Er führte die verſchiedenen Arten der Foſſilien auf, ſowie die verſchiedenen Be— dingungen, unter denen ſie verſteinert ge— funden werden, und gab an, daß einige von ihnen, z. B. die von Oeningen, den Muſcheln, Fiſchen und Pflanzen der be— nachbarten Gegend glichen, während Andere, wie die Ammoniten und Belemniten, ent— weder unbekannte Arten ſeien oder nur in fernen Meeren gefunden würden. Er er— örtert den Bau der Erde weitläuftig und ergeht ſich in Muthmaßungen über die Ur— ſachen der Wechſel von See und Land. Er ſchätzt, daß bei dem beobachteten Maße des Zurückweichens des Oceans es unge— fähr 80000 Jahre erforderte, um den Apenninen, deren Gipfel mit Meeresmuſcheln bedeckt ſind, die Erreichung ihrer gegenwär— tigen Höhe zu geſtatten, und dieſe Zeit ſei „zehnmal ſo groß als das Alter des Uni— verſums“. Demgemäß bezieht er den Wechſel auf den unmittelbaren Befehl der Gottheit, wie er bei Moſes erzählt wird, daß „die Gewäſſer auf einer Stelle geſammelt wer— den und das trockene Land erſcheinen ſollte“. Voltaire (1694 — 1778) diskutirte geologiſche Fragen und die Natur der Foſ— ſilien in verſchiedenen ſeiner Werke, aber Marſh, Geſchichte und Methode der paläontologiſchen Entdeckungen. 349 feine veröffentlichten Anſichten find durch- aus nicht conſequent. Er macht mit Er— folg und gerechter Weiſe die Kosmogoniſten ſeiner Zeit lächerlich und zeigte ebenfalls, daß er die wahre Natur der organiſchen Ueberreſte erkannte. Als er jedoch fand, daß die Theologen dieſe Objekte benutzten, um die Sündflutherzählung der Schrift zu ſtützen, wechſelte er ſeine Meinung und er— klärte die foſſilen Muſcheln, die in den Alpen gefunden worden, dadurch, daß ſie orientaliſche Arten ſein möchten, welche die Pilger bei ihrer Rückkehr aus dem heiligen Lande verloren hätten! Buffon veröffentlicht 1749 ſein wich— tiges Werk über Naturgeſchichte. In ſeiner darin enthaltenen Theorie über die Erde beſprach er mit vielem Geſchick viele Punkte der Geologie. Bald nachdem das Buch veröffentlicht war, erhielt er einen amtlichen Brief von der Fakultät der Theologie in Paris, des Inhalts, daß vierzehn Behaupt— ungen ſeiner Werke tadelnswerth und dem Glauben der Kirche entgegengeſetzt ſeien. Die erſte Aufſtellung, die dieſer Einwand traf, war die folgende: „Die Gewäſſer der See haben die Gebirge und Thäler des Landes hervorgebracht, — die Gewäſſer des Himmels, die Alles auf ein Niveau reduciren, werden ſchließlich das ganze Land wieder der See überliefern, und die See, die dann wiederum das Land überdeckt, wird aufs Neue trockene Feſtländer ſchaffen, denen gleich, die wir bewohnen.“ Buffon wurde von der Fakultät höf— lichſt erſucht, zu widerrufen, und da er kein beſonderes Verlangen nach wiſſenſchaftlichem Märtyrerthum in ſich trug, unterbreitete er die folgende Erklärung, deren Veröffent— lichung in ſeinem nächſten Werke verlangt wurde: „Ich erkläre, daß ich keine Abſicht hatte, dem Text der Schrift zu widerſprechen; daß ich Alles, was in ihr über die Schöpf— ung erzählt wird, feſt glaube, ſowohl in Bezug auf die Zeitordnung als auf die thatſächlichen Angaben, und ich gebe Alles auf, was in meinem Buche über die Bild— ung der Erde geſagt iſt, und überhaupt Alles, was der Erzählung des Moſes wider— ſprechen mag.“ Dies einzige Beiſpiel mag genügen, ein großes Hinderniß für die Entwickelung der Wiſſenſchaft bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts anzudeuten. Ein anderes wichtiges Werk erſchien um dieſe Zeit in Frankreich: Bourguet's „Traité des Pétréfactions“, veröffentlicht 1758, das mit getreuen Stichen gut illu— ſtrirt iſt. In England wurde 1705 eine Abhandlung über Erdbeben von Dr. Ro— bert Hooke veröffentlicht. Der Verfaſſer war in einigen Anſichten ſeiner Zeit vor— ans und behauptete, daß Figurenſteine „in Wahrheit die verſchiedenen Körper ſeien, die ſie darſtellen, und nicht, wie Einige ſich ein— gebildet haben, ein Spiel der Natur, die ſich mit der unnöthigen Produktion unnützer Dinge amüſire.“ Er erwartet einen wich— tigen Aufſchluß von den Foſſilien, wenn er ſagt, daß: „obwohl es ſehr ſchwierig ſein müſſe, ſie zu leſen, eine Zeitrechnung aus ihnen zu conſtruiren und die Zwiſchen— räume anzugeben, wann dieſe oder jene Kata— ſtrophe und Veränderung eingetreten ſei, ſo ſei dies doch nicht unmöglich.“ Er meint auch, daß foſſile Schildkröten und große Ammoniten, wie ſie in Portland gefunden werden, die Geſchöpfe heißer Länder geweſen zu ſein ſcheinen, und daß es deshalb noth— wendiger Weiſe vorausgeſetzt werden müſſe, daß England einſt unter dem Meere in der heißen Zone lag. Er ſcheint ferner vermuthet zu haben, daß einige der Foſſilien Eng- lands ausgeſtorbenen Arten angehörten, aber 350 er glaubte, daß ſie möglicher Weiſe auf dem Boden ferner Meere noch lebend ge— funden werden möchten. Dr. Woodward's „Naturgeſchichte der engliſchen Foſſilien“ erſchien im Jahre 1729. Dieſes Werk gründete ſich auf eine ſyſte— matiſche Sammlung von Foſſilien, die jener zuſammengebracht hatte, und die er nach— träglich der Univerſität von Cambridge ver— machte, wo ſie in ſeiner ſorgfältig beibehaltenen Anordnung noch heute aufbewahrt wird. Der beſchreibende Theil dieſes Werkes iſt intereſſant; ſeine Schlüſſe dagegen fallen ſtreng mit der Schöpfungs- und Sintfluths— erzählung der Schrift zuſammen. Er hatte vorher in einem anderen Werke behauptet, daß er glaube, „der ganze Erdball ſei bei der Fluth in Stücke gegangen und aufgelöſt worden, und die Schichten hätten ſich aus dieſer zuſammengemiſchten Maſſe zu Boden geſetzt.“ Zur Unterſtützung ſeiner Anſicht ſagte er, daß „Meeres-Produkte in Marſh, Geſchichte und Methode der paläontologiſchen Entdeckungen. den Schichten ihrer Schwere gemäß vertheilt wären, die ſchwereren Muſcheln in Steinen, die leichteren in Kalk und jo weiter.“ “) Das wichtigſte zu dieſer Zeit in Deutſch— land veröffentlichte Werk über Foſſilien, | war das des Georg Wilhelm Knorr, das nach deſſen Tode von Walch fortgeſetzt wurde. Dieſes Werk beſtand aus vier Folio— bänden, mit vielen Tafeln, und wurde 1755 — 1773 zu Nürnberg gedruckt. Eine große Anzahl Foſſilien wurde genau beſchrieben und gezeichnet, und das Werk beſitzt dadurch einen bleibenden Werth.“ ) Eine fran— zöſiſche Ueberſetzung dieſes Werkes erſchien 1767-1778. ) Essay towards a Natural History of the Earth 1695. **) Lapides ex celeberr. virorum sententia diluvii universalis testes, quos in ordines ac | species distribuit suis coloribus expremit eto. 272 Tab. 1755—1773. Burton's „Oryetographie de Bru- xelles“ 1784 enthält Zeichnungen und Be— ſchreibungen von in Belgien gefundenen Foſſilien. Abraham Gottlieb Werner (1750 — 1817), Profeſſor der Mineralogie zu Freyberg, trug viel dazu bei, die Wiſſen— ſchaft der Geologie und mittelbar auch die der Foſſilien vorwärts zu bringen. Er zeigte zuerſt die Beziehungen der Haupt- formationen zu einander an, und ſeinem Zög— ling, Profeſſor Jameſon, zufolge machte er die höchſt wichtige Beobachtung, „daß ver— ſchiedene Formationen durch die Verſteiner— ungen, die ſie enthalten, unterſchieden werden können.“ Auch „daß die Verſteinerungen der älteſten Felſen von irgend welchen Arten der Gegenwart ſehr verſchieden ſind,“ und daß, „je neuer die Formation, deſto mehr die Ueber— reſte in ihrer Geſtalt den organiſchen Weſen der gegenwärtigen Schöpfung ſich näherten.“ Unglücklicherweiſe veröffentlichte Werner wenig, und ſeine Doktrin wurde weſentlich nur durch ſeine enthuſiaſtiſchen Zöglingen ver- breitet. Der große Kampf zwiſchen den Vul— kaniſten und den Neptuniſten begann um dieſe Zeit, hauptſächlich auf Werner's Veranlaſſung, deſſen Lehrmeinung die Streit— frage aufdrängte. Die vergleichsweiſen Antheile des Feuers und des Waſſers, als Kräfte bei der Bildung der Geſteine, wurden mit einer Hitze und Bitterkeit dis— kutirt, die den Gegenſtand und die Zeit charakteriſirt. Werner glaubte an die Waſſertheorie, während die Feuertheorie be- ſonders von Hutton von Edinburgh und ſeinem Zeichner, Playfair, vertheidigt wurde. Dieſer Streit rief einen Fortſchritt in der beſchreibenden Geologie hervor; aber das Studium der Foſſilien gewann durch ihn wenig. er Marſh, Geſchichte und Methode der paläontologiſchen Entdeckungen. Die „Protogaea“ des großen Mathe— matikers Leibniz, 1749, ungefähr 30 Jahre nach ſeinem Tode veröffentlicht, war ein Werk von großem Verdienſt. Der Verfaſſer ſetzte voraus, daß die Erde aus einem Zu— ſtande feuriger Flüſſigkeit allmählich abgekühlt und ſpäter mit Waſſer bedeckt worden ſei. Die Ablagerung des unteren Theiles der feſten Erdſchichten, der Niederſchlag der Sedimentſchichten durch Ueberſchwemmungen, und ihre Erhärtung ſowohl, wie andere Veränderungen folgten. Alles dies ſollte ſich ſeiner Meinung nach in einer Periode von ſechs natürlichen Tagen zugetragen haben. In demſelben Werke zeigt Leibniz, daß er Foſſilien mit beträchtlicher Auf- merkſamkeit unterſucht hat. Linné (1707— 1778), der berühmte ſchwediſche Botaniker und Begründer des modernen Syſtems der Namenbezeichnung in der Naturgeſchichte, beſchränkte ſeine Auf— merkſamkeit faſt ganz auf die lebendigen Formen. Obwohl er mit der Literatur der Foſſilien vertraut war, und ſolche ſelbſt ge— ſammelt hatte, ſchloß er ſie nicht in ſein Syſtem der Pflanzen und Thiere ein, ſon— dern hielt ſie mit den Mineralien von jenen geſondert; er that alſo wenig um dieſen Wiſſenszweig weiter zu bringen. Während des letzten Viertels des acht— zehnten Jahrhunderts brach der Glaube, daß die Foſſilien durch die Sündfluth ab— und die Dämmerung eines neuen Zeit— abſchnittes erſchien. Hier wollen wir einen Augenblick ſtehen bleiben, und überblicken, welcher wirkliche Fortſchritt gemacht und in in wieweit ein Grund zum Aufbau einer Wiſſenſchaft der foſſilen Ueberreſte gelegt worden war. Die wahre Natur dieſer Gegenſtände war nunmehr klar an's Licht geſtellt. Sie 351 waren Ueberbleibſel von Thieren und Pflanzen. Die meiſten von ihnen waren wenig— ſtens ſicher nicht Reliquien der moſaiſchen Fluth, ſondern ſchon lange vorher ab— gelagert worden, zum Theil in friſchem Waſſer, zum Theil im Meere. Einige wieſen auf ein mildes, andere auf ein tropiſches Klima hin. Daß irgend welche von ihnen erloſchne Arten waren, wurde bis dahin nur vermuthet. Große Samm— lungen von Foſſilien waren angelegt worden, und werthvolle Kataloge, gut illuſtrirt, ver— öffentlicht. Auch von der geologiſchen Lage der Foſſilien war ſchon etwas bekannt. Steno hatte lange vorher beobachtet, daß die unterſten Felſen ohne Leben waren. Lehmann hatte gezeigt, daß über und ge— folgt von dieſen primären Schichten die ſekundären ſich befanden, die von Denkmälern des Lebens voll waren. Ueber dieſen befanden ſich Anſchwemmungsniederſchläge, die er auf lokale Fluthen und die Fluth des Noah bezog. Rouelle, Fuchſel und Odoardi hatten neues Licht über dieſen Gegenſtand verbreitet. Werner hatte die Uebergangs— ſchichten zwiſchen den primären und ſekun— dären Geſteinen, die foſſile Reſte enthielten, unterſchieden, während er Alles über dem Kalk als „überfluthetes Land“ zuſammenfaßte. Geben wir ihm das Zutrauen, das ſeine Zög— linge für ihn beanſpruchen, ſo hatte Werner mehr als dies gethan; er hatte gefunden, gelagerte Ueberreſte ſeien, merkbar zufammen, | daß jede der Formationen, die er unterſuchte, ihre eignen beſonderen Foſſilien enthielt, und daß von den älteren zu den neueren eine all— mähliche Annäherung an neuzeitliche Formen ſtattfand. Daſſelbe hatte William Smith in England ausgearbeitet, und er ſollte gleicherweiſe an der Ehre dieſer wichtigen Entdeckung Theil haben. Der größte Fortſchritt beſtand bis zu dieſer Zeit jedoch darin, daß die Leute nun— Kosmos, III. Jahrg. Heft 11. 352 mehr vorzogen, zu beobachten, anſtatt zu glauben, und daß Thatſachen ſich höherer Achtung erfreuten, als leere Spekulationen. Mit dieſer Vorbereitung auf weiteren Fort— ſchritt mag die zweite Periode in der Ge— ſchichte der Paläontologie, wie ich ſie ein— getheilt habe, füglich als beendet betrachtet werden. Bis jetzt habe ich in Bezug auf einen Zweig meines Gegenſtandes, die Methode der paläontologiſchen Forſchung, nichts ge | ſagt; denn bis zu dieſer Zeit gab es kein Syſtem. Wir haben geſehen, daß diejenigen der Alten, die Seemuſcheln im feſten Felſen | beobachteten, fie auch fo benannten und daraus ſchloſſen, daß jene dort vom Meere zurück- gelaſſen worden ſeien. Die Entdeckung der Foſſilien führte unmittelbar zu Theorien darüber, wie die Erde ſich gebildet habe. Hier war der Fortſchritt langſam. Unterirdiſche Marſh, Geſchichte und Methode der paläontologiſchen Entdeckungen. das große Hinderniß, das ſich der richtigen Stellenanweiſung der Erde im Weltall, und der Forſchung ihres Alters in den Weg ſtellte. Der Kampf der Aſtronomie gegen die Autorität war lang und ſchwer, aber der Sieg verblieb am Ende der Wiſſen— ſchaft. Der Kampf der Geologie gegen die— ſſelbe Macht folgte darauf und währte faſt bis daſſelbe. Geiſter ſollten treulich die Geheimniſſe der Erde bewachen; während über der Erde die Autorität mit noch größerer Gewalt die Geheimniſſe überwachte, die die Menſchen, die ihrer Zeit voraus waren, kennen zu lernen ſuchten. | | | | | Die herrſchende Idee der erſten ſechzehn Jahrhunderte unſerer Zeit- rechnung war die, daß das Weltall für den | Menschen geſchaffen worden ſei. Dies war tauſend Jahre zu warten, war lange. (Schluß folgt.) auf unſeren Tag. Das Ergebniß iſt noch In den früheren Stadien dieſes Kampfes gab es keinen Streit, denn Die. Wiſſenſchaft war in der Umarmung des Aberglaubens und Glaubens betäubt, und wenig konnte gethan werden, bis dieſelbe abgeſchüttelt war. In einem Zeitalter des Aberglaubens, wo jedem Naturereigniß eine übernatürliche Urſache zugeſchrieben wird, kann die Wiſſenſchaft nicht exiſtiren; und ſo häufig auch das heilige Feuer durch muthige, in die Ferne ſchauende Seelen entzündet werden mochte, ebenſo häufig wurde es wieder ausge— löſcht durch die dichten Nebel der Unwiſſenheit ringsum. Kaum weniger unheilvoll für das Wachsthum der Wiſſenſchaft iſt das Zeitalter der Autorität, wie es die Ver— gangenheit nur zu ſehr beweiſt. Mit der Frei— heit des Gedankens kam beſtimmte Erkennt— niß und ſicherer Fortſchritt, — aber zwei— Ueber quaternäre Pferde. Von Dr. C. Forfyth Major.“) A * vor einigen Jahren in kurzem Abriß die Reſultate meiner Forſchungen pferde“), und unlängſt den erſten Theil einer ausführlichen Arbeit über denſelben Gegenſtand in den Memoiren der ſchweize— riſchen Paläontologiſchen Geſellſchaft. Noch bis vor Kurzem beſaß ich kein genügendes Material zu ähnlichen Studien über das quaternäre Pferd, obwohl daſſelbe in Italien nicht fehlt; ſo z. B. wurde es über die italienischen Pliozän- eit längerer Zeit mit dem Studium der foſſilen Pferde beſchäftigt, veröffentlichte ich in der Knochenbreccie von Montetignoſo bei Livorno ſogar häufig gefunden, wie auch im quaternären Sande in der Nähe von Arezzo. faſt ausſchließlich aus den Fragmenten von Kiefern und Zähnen, welche mir wenig ) Unter freundlicher Mitwirkung des Autors aus dem Archivio per l’Antropologia | Dieſe Ueberreſte beſtehen jedoch | Vol. IX (1879 C. 10) für den Kosmos über- | jegt von J. E. Zilliken in Florenz. ) Vergl. Kosmos Bd. II. S. 166. dienten, da ſich dieſelben kaum oder gar nicht von denen unſeres Hauspferdes unter— ſcheiden, während die Knochen der Extre— mitäten, und zwar ganz beſonders die der Hand- und Fußwurzel, von viel größerer Wichtigkeit ſind. Bekanntlich wurden in der paläolithiſchen Station Solutré bei Lyon unzählige Ueber— reſte von Pferdeſkeletten gefunden, die man annähernd auf hunderttauſend ſchätzte. Ich hatte nun Gelegenheit eine Anzahl dieſer mir vom Lyoner Muſeum geſchenkten So— lutré-Foſſilien mit jüngſt von Herrn U. Botti in der Höhle von Cardamone (Terra d’Otranto) ausgegrabenen Pferde— knochen zu vergleichen, welche letztere zu— ſammen mit Ueberreſten vom Elephas pri— migenius, einem Rhinoceros, Bos, (wahr- ſcheinlich Bos primigenius) vorgefunden wurden. Dieſe Vergleiche nun zwiſchen dem Solutré-, dem Otranto- und dem Pliozän— pferde einer-, und dem heutigen Caballus andererſeits führten mich zu ganz uner— warteten Reſultaten. Die Station Solutré diente de Mor— mn 2 354 tillet als Typus für feine Solutreé— Periode, den letzten Zeitabſchnitt der paläo— lithiſchen Epoche, welchen er folgendermaßen charakteriſirt: Die vorgefundenen Steinſpitzen beſitzen die Lorbeerblattform und ſind beider— ſeitig bearbeitet; das Klima iſt ein kaltes und trockenes; die Schädel der dermaligen Menſchenraſſen ſind brachicephal und meſo— cephal, und in dieſer Beziehung unſern heutigen Raſſen naheſtehend. Neuere Funde haben de Mortillet betreffs der von ihm der Solutré-Zeit beigemeſſenen, rela— tiven Epoche Recht gegeben, beſonders da, wo er behauptet, die Solutré-Induſtrie habe nicht als Uebergang vom Paläolithiſchen zum Neolithiſchen gedient, ſondern ſei von dieſem durch die Magdaleniſche Periode getrennt. Denn erſtens hat die Solutre-Fauna einen weit entſchiedeneren quaternären Charakter als die Magdaleniſche; in erſterer überwiegt das Mammuth, während es in letzterer ſelten iſt und verſchwindet. Zweitens ſind in den älteren Epochen alle Juſtrumente und Waffen von Stein; zur Magdaleniſchen Zeit ſind Geräthe und Waffen größtentheils von Knochen und Cerviden-Hörnern angefertigt. Während der Solutré-Periode kommt faſt ausſchließ— lich der Stein zur Verwendung, doch ſieht man an der Oberfläche der Ablagerungen, daß auch Knochen und Hirſchhorn benutzt wurden. 7 Drittens findet man in gewiſſen Mag— daleniſchen Stationen, wie bei Laugerie— Baſſe, zuweilen ſporadiſche Solutri-Ueber- | reſte; die Solutré-Induſtrie mußte alſo früher exiſtirt haben. Viertens ſchließlich zeigt, als klarer und unbeſtreitbarer Beweis, die Reihenfolge der Schichten, daß die Solutréaniſchen unter den Magdaleniſchen liegen. Dies conſtatirte Forſyth Major, Ueber quaternäre Pferde. das Magdaleniſche zwiſchen dem unterliegen— den Solutréaniſchen und dem überliegenden Robenhauſen'ſchen befindet, Auch die bei neuen Forſchungen gefun— denen Thierüberreſte beſtätigen die de Mor- tillet'ſche Annahme. In den letzten Jahren haben Arcelin und Ducroſt manche Aus— grabungen (sondages) in den Schuttkegeln veranſtaltet, derer oberer Theil die Station der Renthier-Epoche bildet. Auf dem Boden dieſer Schutthaufen ſtießen ſie auf das ſich allgemein durch das Vorkommen des Höhlenbärs und die Gegenwart des Rhinoceros ſich auszeichnende Muſterianiſche Zeitalter, welches bei Solutré unter andern Arten auch das Renthier und das Pferd enthält. Letztere ſind durch die ganze Dicke des detritiſchen Erdreichs in dieſer unteren Zone häufig. Die zweite Zone bilden jene eigenthüm— lichen Anhäufungen von Pferdeknochen, in welchen die Individuen nicht mehr nach vierzig- und hunderttauſend, wie die erſten Forſcher angaben, ſondern nach mehreren hunderttauſenden gezählt werden. Man gab dieſer Zone den Namen Magma de Cheval. Hier herrſcht das Pferd faſt ausſchließlich vor; ausnahmsweiſe findet man auch Ren— thier und Elephant. Die Knochen liegen im größten Durcheinander und ſind häufig verbrannt. Die dort gefundenen geſchnit— tenen Steine beſtehen aus ſehr ſchönen Splittern, welche als Meſſer gedient haben können. Die dritte Zone iſt faſt vollſtändig ſteril. Die vierte beginnt mit den Feuerherden der eigentlichen Renthier-Epoche, mit reich- lichen Küchen- und Wohnungsabfällen, in denen Pferd und Renthier vorherrſchen. Die Fauna beſteht, den genannten de Mortillet bei Laugerie-Haute, wo ſich Forſchern zufolge, aus dieſen Arten: Ele- FERN Br phas primigenius, Cervus tarandus, G. Elephas, C. canadensis, Bos primigenius, Equus Caballus, Ursus aretos, Canis lupus, C. vulpes, Lepus timidus und Vögeln. Alle dieſe Knochen ſind in größter Forſyth Major, Ueber quaternäre Pferde. 355 Unordnung durcheinander geworfen, meiſtens | zerbrochen und häufig verbrannt. In dieſer Schicht erſcheinen die ſchönen, unter dem Namen „types solutréens“ bekannten Lanzen und Pfeilſpitzen. Verfolgung der Pferde auf dem Felſen von Solutré. Die Solutre-Station iſt gewiſſermaßen | ſcheinen möchte, denn es liegt demſelben eine populär geworden durch eine der trefflichen | Illuſtrationen, welche das Buch Figuier's über den prähiſtoriſchen Menſchen zieren und das Hauptverdienſt der Figuier'ſchen Publikationen bilden. zeigt uns eine große Herde von Pferden, | Dieſer Holzſchnitt?) damaligen, welche, von Männern den engen Pfad eines über eine Ebene hervorragenden Felſens hinauf getrieben, ſich angſtgepeinigt und jedes Auswegs beraubt, in den Abgrund vor ihnen hinabſtürzen. Das Bild iſt vielleicht nicht ſo phantaſtiſch wie es zuerſt ) Wir reproduciren die Illuſtration nach einem Holzſchnitt in Hellwald, Der vor— geſchichtliche Menſch. Leipzig, O. Spamer. Hypotheſe zu Grunde, welche das Vor— handenſein einer ſo ungeheuerlich großen Anzahl von Thierüberreſten weniger uner— klärlich machen würde, da man ſich kaum eine andere Art erdenken könnte, in der die ſo unvollkommen bewaffneten Menſchen eine ſolche große Beute zu erjagen im Stande geweſen wären. Während der Verſammlung der Asso- ciation francaise pour l’avancement des sciences zu Lyon im Jahre 1873 machte die Anthropologiſche Sektion einen Ausflug nach Solutre, welcher zu einigen intereſſanten Discuſſionen Anlaß gab. Bei der Gelegenheit las Herr Touſſaint ein Memoire über 356 das Solutré-Pferd, „Le Cheval dans la station préhistorique de Solutre“, deſſen Hauptſchlüſſe folgende ſind: Erſtens ſei das Pferd von Solutré ge— zähmt geweſen, und zweitens komme im Skelet deſſelben eine ſpecielle Eigenthümlichkeit vor, und zwar in den Beziehungen der Rudi— mentär-Knochen des Metatarſus und des Metatarſus zu dem mittleren Metacarpus und Metatarſus. Beim heutigen Pferde verſchmelzen ſich, nach Touſſaint's An— gabe, die Seitenknochen mit dem mittleren im fiebenten oder achten Jahre; beim Solutreé— Pferde finde dieſe Vereinigung dagegen nie oder erſt in ſehr vorgerücktem Alter ſtatt, da er auch nicht einen ſolchen Fall con- ſtatiren konnte; zwar waren faſt alle In— terinäre Autorität Frankreichs, in dividuen, Touſſaint zufolge, 4 bis 8 Jahre alt, doch fanden ſich auch ſolche von 12 bis 13 Jahren darunter. Touſſaint ſchließt daraus nun Folgendes: „Je mehr in der Reihe der Weſen ein Thier ſich von der Fünfzehigkeit entfernt, um ſo mehr neigen die Metatarſus- und Metacarpus-Knochen zur Verſchmelzung. In Anbetracht der Beſtändigkeit der Synar— throſis von Metacarpus und Metatarſus könnte das Solutré-Pferd als ein Bindeglied zwiſchen dem heutigen Pferde und dem Hipparion hingeſtellt werden, jedoch dem erſten viel näher ſtehend als dem zweiten. Wir glauben daher, daß dieſe Trennung der metacarpalen und metatarſalen Knochen beſondere Beachtung verdient und zu Gunſten des Transformismus angerufen werden kann.“ Die erſte Folgerung Touſſaint's, das Solutré-Pferd ſei gezähmt geweſen, wurde faſt allgemein bekämpft. ſchon a priori unglaublich erſcheinen, daß es zur Solutré-Zeit Hausthiere gegeben hätte. Dieſe Frage halte ich als gegen Es mußte Touſſaint entſchieden (die darauf bezüg- Forſyth Major, Ueber quaternäre Pferde. lichen Discuſſionen ſind aus den Be— richten des Lyoner Congreſſes und den Bulletins der Pariſer Anthropologiſchen Geſellſchaft zu erſehen.) Die zweite höchſt wichtige Frage über gewiſſe oſteologiſche Eigenthümlichkeiten des Solutré Pferdes wurde in der darauf fol— genden Beſprechung kaum berührt; ich finde nur eine Bemerkung Broca's vor, dahin lautend, daß die Beſtändigkeit der Trennung von Metatarſal- und Metacarpal-Knochen ſowohl durch den Transformismus als durch das jugendliche Alter der Individuen erklärt werden könne. Im nächſten Jahre erwiderte jedoch Herr Sanſon, dermaliger Präſident der Anthropologiſchen Geſellſchaft und ve— einer Vorleſung ausführlich auf die Touſſaint'- Arbeit. Er bekämpft hauptſächlich die das abſolute Alter der Solutré-Pferde beſtim— menden Schlußfolgerungen Touſſaint's ſowie den von Touſſaint conſtatirten Unterſchied zwiſchen den Solutre- und den heutigen Pferden, welcher, Sanſon zu— folge, in Wirklichkeit nicht exiſtire. Die Altersbeſtimmung bei den Solutré-Pferden iſt auf der Annahme begründet, daß die Entwickelungsdauer des Zahnſyſtems zu jener Zeit ungefähr dieſelbe geweſen ſei, wie heutzutage, was Sanſon jedoch nicht zu— giebt, denn, ſagt er, die Entwickelungs— dauer iſt heute nicht einmal mehr dieſelbe wie vor 50 Jahren. Giebt man den Thieren während des Winters eine weniger karge Nahrung und füttert man die jungen Pferde, ſobald ſie zu arbeiten anfangen, mit Hafer, ſo wird die Verzögerung, welche die Zahnentwickelung früher während des Winters erlitt, auf geringere Proportionen zurückgeführt, ſo daß alſo der Ackerbau durch ſeinen Fortſchritt einen Einfluß in dem oben angedeuteten Sinne ausgeübt und in dieſer Weiſe progreſſiv die Ent- wickelungszeit des Zahnſyſtems bei den Pferden gekürzt haben muß. Zur Solutre- nicht gezähmt waren und deshalb, namentlich in Rückſicht auf die Strenge des damaligen frühzeitige Entwickelung durchaus nicht begün— ſtigten. Dies beweiſt alſo, daß die Thiere viel älter waren, als Touſſaint annahm, und das erkennt auch Piétrement in Uebereinſtimmung mit Sanſon; der größte Theil der Pferde beſtand aus wirklich er— wachſenen Individuen und die meiſten der— ſelben hatten ſeit mehr oder weniger beträcht— licher Zeit die Epoche der vollſtändigen Entwickelung hinter ſich. Was nun die weitere Frage des Ge— trenntbleibens der rudimentären Metacarpen und Metatarſen anbelangt, ſo hält ſie Sanſon für eng mit der vorhergehenden verknüpft. Man brauche nur, ſagt er, die nothwendige Correlation zwiſchen der Ent— wickelung des Zahnſyſtems und des Knochen— baues zu kennen, um zu begreifen, wie es kam, daß die Verſchmelzung der rudimen— türen Metacarpi bei den Solutre-Pferden auch gegen die Evolutionstheorie: „Il ne pou- vait manquer d'en étre de m&me pour les epiphyses. Et cela montre une fois de plus que dans l’etude des questions mieux partir de letat actuel de la science positive que des hypotheses en- fantées par limagination des philo- sophes naturalistes.“ Gehen wir alſo vom gegenwärtigen “ ſpäter als bei den unſrigen ſtattfand. Und hier wendet ſich dann Herr Sanſon paléontologiques il vaudrait peut- etre | Epoche ſollte die Praecocität der Pferde aus | vielen Gründen eine ſehr ſpäte geweſen ſein, u. A. weil die Pferde zu jener Zeit Forſyth Major, Ueber quaternäre Pferde. 357 Herr Sanſon ſie uns in ſeiner Abhand— lung „Sur la theorie du developpement précoce des animaux doméstiques“ lehrt. Er ſagt dort wörtlich: „Die frühzeitige Entwickelung und ſchnelle Ausbildung des Skelets haben als Corollar die ebenfalls beſchleunigte Entwickelung der definitiven Klimas, unter Verhältniſſen lebten, welche die Zähne, ſodaß das permanente Gebiß in demſelben Augenblick vollſtändig wird, in welchem die letzten Epiphyſen verſchmelzen, wie ſie es eben im Normalzuſtande ſind.“ Ueber die Verſchmelzung der Metacarpal— und Metatarſal-Knochen ſagt uns Herr Sanſon in dieſer Abhandlung nichts. Bei Stande der poſitiven Wiſſenſchaft aus, wie den pliozänen Pferden und bei den miozänen Hipparions ſind die mittleren Metakarpal— und Metatarſal-Knochen mie mit den feit- lichen verwachſen. Herr Sanſon wird nun doch wohl nicht behaupten wollen, es ſeien uns nur junge Individuen in allen Schichten aller Ablagerungen erhalten ge— blieben? Was Solutré anlangt, jo geht aus den Sanſon 'ſchen Schlüſſen ſelbſt hervor, daß die Pferde jener Station älter waren als Touſſaint annahm, was alſo ein weiterer Grund dafür iſt, daß ſich das Getrenntbleiben der Metacarpal- und Meta- tarſal-Knochen durch das jugendliche Alter nicht erklären läßt. Dann aber ſprechen klar und deutlich die einfachen Thatſachen, gegen welche keine Theorie von frühzeitiger Entwickelung Stand hält, und welche wahre, poſitive Wiſſenſchaft ſind: Soviel man nämlich auch geſucht hat, iſt es bisher nicht gelungen, in dem un— geheuren Knochenlager von Solutré auch nur einen einzigen Fall von Verſchmelzung der ſeitlichen mit den mittleren Metacarpal- Knochen zu conſtatiren. Daraus folgt un— widerlegbar, daß das Getrenntbleiben der ſeitlichen metacarpalen und metatarſalen Knochen eine charakteriſtiſche Eigenthümlich— 358 Forſyth Major, Ueber quaternäre Pferde. keit des Solutré-Pferdes iſt. Und dies ſind jedenfalls keine von der Einbildung der Naturphiloſophen erzeugten Hypotheſen. Die von mir ſelbſt gemachten Forſch— ungen beſtätigen meine Anſicht, daß dieſe Erſcheinung ſich nur durch die Evolutions— theorie erklären läßt. In der von Herrn U. Botti entdeckten quaternären Ablagerung haben wir daſſelbe anatomische Faktum wie zu Solutré. Herr Botti, der auf meine Veranlaſſung das vorhandene Material näher unterſuchte, fand unter allen Metacarpal- und Metatarſal- Knochen von wenigſtens 50 Individuen nur einen einzigen Fall, wo die ſeitlichen Knochen mit den mittleren verſchmolzen waren. Da die ſo wichtigen Carpus- und Tarſus⸗Knochen in den bisherigen Studien über das foſſile Solutré-Pferd faſt ganz unberückſichtigt geblieben waren, ſo hatte ich doppelten Grund, mir gerade dieſe Foſſilien vom Direktor des Lyoner Muſeums zu er— bitten. Bedenkt man, daß die Tarſus- und Carpus⸗-Knochen dazu dienen, das Gewicht des Körpers auf die darunterliegenden Metacarpi und Metatarſi zu übertragen, ſo müſſen natürlich die Gelenkflächen, welche die erſten mit den letzteren verbinden, ver— ſchieden ſein, je nachdem es ſich um einen Dreizeher oder einen Einhufer handelt, d. h. — mit andern Worten, — je uach der größeren oder geringeren Entwickelung der Metacarpi | und Metatarſi. Ich will dies hier für einen einzigen Knochen, das Würfelbein des Tarſus, das einer der wichtigſten iſt, näher ausführen: Beobachten wir zunächſt die Proximal— Flächen, ſo ſehen wir ſofort, daß die Ge— lenkfläche fürs Ferſenbein bei Equus Ste— nonis, dem Pliozänpferde, ſehr der des Hipparion, des oberen Miozänpferdes tatarſus) zu übertragen. ähnlich iſt; oder beſſer, daß ſie intermediär zwiſchen der Gelenkfläche des Miozänpferdes und der des Equus Caballus liegt. Die vordere Hälfte der Fläche iſt beim heutigen Pferde (von außen nach innen) viel größer. An der innern Seite befindet ſich die Ge— lenkfläche für das Sprungbein (astragalus), die bei unſerm Pferde klein iſt. Dieſes Gelenk dient dazu, einen Theil des Körper- gewichts auf die vierte Zehe (äußeren Me— In dem Maße, wie ſich nun dieſer äußere Metatarſus in den verſchiedenen Gattungen reduzirt, oder mit andern Worten, in dem Maße, wie wir vom dreizehigen Fuße zum Einhufer par excellence übergehen, reduzirt ſich auch die Gelenkfläche. Im Anchitherium dem älteren Miozänpferde — iſt dieſe Gelenkfläche ſchon bedeutend zurückgegangen, wenn man ſie mit der des eozäniſchen Palaeotherium crassum vergleicht, und außerdem befindet ſie ſich nicht mehr in derſelben Ebene mit dem Ferſenbein-Gelenke wie bei den Paläo— therien, ſondern fie iſt ſchräg und kann daher dem Sprungbein keine große Stütze mehr bieten. Beim Pliozänpferde iſt die a Gelenkfläche fürs Sprungbein ausgedehnter als beim E. Caballus; in einem Falle iſt dieſelbe faſt doppelt ſo breit als die eines größeren Würfelbeins vom E. Caballus. Das Verhältniß zwiſchen den beiden Flächen fürs Sprungbein und fürs Ferſenbein iſt um fo augenfälliger beim pliozänen E. Ste- nonis und dem heutigen E. Caballus, als beim erſten das Ferſenbeingelenk relativ und abſolut kleiner iſt. Uebereinſtimmend mit der Gelenkflächen— form des Processus anterior vom Ferſen— bein, iſt die Ferſenbeinfläche im Würfelbein in ihrem hinteren Theile ſchmal, ſchmaler beim heutigen Pferde als beim pliozänen. Gelenkfläche. Das Kahnbeingelenk am an— faſt immer beim Miozän-Hipparion fehlt, iſt ſtets weniger entwickelt beim Pliozän— pferde als beim heutigen, und erreicht nie ganz, wie beim letzteren, den vorderen inneren Rand. Außer den vier gewöhnlichen Gelenk— flächen der inneren Seite des Würfelbeins fand ſich in zwei Exemplaren vom Würfel— bein des Equus Stenonis eine fünfte am hintern äußern Theile; dieſelbe artikulirt mit dem mittleren Metatarſus an der hin— tern äußern Seite. Beim oberen Miozän— pferde iſt ſie unbekannt und meines Wiſſens auch niemals beim E. Caballus gefunden worden. Jedenfalls iſt es kein Zufall, wenn ſie unter drei Cuboiden des Pliozän— pferdes vorkam, und mag ſie auch zuweilen beim E. Caballus vorhanden ſein, ſo dürfen Pliozänpferde viel häufiger iſt. Anſicht nach können wir dieſelbe als provi— die ſpäter verſchwand, als die Gelenkflächen der beiden Knochen nach der vorderen Seite größere Ausdehnung gewonnen hatten. diſtale Theil des Würfelbeins beim Palaeo- Gelenkfläche für den äußeren Metatarſus enthält, ſehen wir im P. minus ſchon eine tarſus auftreten, welche dann beim Anchi— therium größer, dabei aber noch ſehr ſchräg iſt. Gleichzeitig mit dem Zurücktreten der ſeitlichen Metatarſen bei Hipparion und Equus, dehnt ſich dieſe Fläche für den mitt— leren Metatarſus weiter aus, wird faſt hori— tero-internen Rande der oberen Seite, das wir doch ſchon jetzt behaupten, daß ſie beim Meiner ſoriſche Stütze des Würfelbeins auf dem mittleren Metatarſus betrachten, eine Stütze, Diſtale Gelenkflächen: Während der therium crassum (Eozän) nur eine große ganz kleine Fläche für den mittleren Meta- 359 zontal und bietet in dieſer Weiſe dem mitt— leren Metatarſus eine genügende Stütze. (Rowalewsky). : Wie zu erwarten, find im Pliozänpferde die Dimenſionen der Gelenkflächen für den äußeren Metatarſus größer als beim heutigen Pferde; die vordere relativ, die hintere ab— ſolut. Beim Misozänpferde haben fie eine noch geringere Ausdehnung als beim Pliozän— pferde. Dies diene als Beiſpiel, denn was ich bezüglich des Würfelbeins geſagt habe, gilt für faſt alle anderen Knochen des Carpus und Tarſus. Obgleich alſo kaum eine Mittelſtufe zwiſchen dem pliozänen Pferde und dem heu— tigen nöthig wäre, ſo wird uns dennoch eine ſolche geboten imquaternären Pferd, und zwar ſowohl in dem von Solutreé, als in dem von Terra d' Otranto. Und hier handelt es ſich nicht um Phantaſiegebilde oder andere Geſichtspunkte; ſondern mit dem Zirkel in der Hand beweiſen wir faſt für jeden einzelnen Carpus und Tar— ſus-Knochen den unbemerkbaren, allmählichen Uebergang vom Drei— zeher zum Einhufer, und zwar vom Miozänpferde zum Pliozänpferde, von dieſem zum quaternären, und von letzterem ſchließlich zum heutigen Pferde. Bekanntlich enthalten die paläolithiſchen Verzeichniſſe der quaternären Säugethiere viele Namen von heute noch lebenden Arten. Wie mich nun meine eigene Erfahrung ge— lehrt hat, iſt die oft behauptete Identität der quaternären mit den heutigen Säuge— thieren nur in dem Sinne zu verſtehen, daß jene, in karger Auswahl vorhandenen und oft nur aus iſolirten Zähnen beſtehenden Foſſilien, auf welche ſich die Beſtimmung baſirt, nicht von den entſprechenden Theilen lebender Species zu unterſcheiden ſind. So Kosmos, III. Jahrg. Heft 11. 2 Forſyth Major, Ueber quaternäre Pferde. In einem Falle fehlte bei einem recenten Pferde jede Spur des hinteren Theiles dieſer | 5 — 360 b oft ſich mir aber vollſtändigere Ueberreſte darboten, ſtellten ſich Thatſachen heraus, welche die wirkliche Identität zwiſchen der quaternären Form und der gegenwärtigen aufheben. Ein lehrreiches Beiſpiel hat uns heute das Pferd geboten; ein Gleiches kann ich beim Steinbock und dem Cervus ela— phus nachweiſen. Somit fällt eine der hauptſächlichſten Betrachtungen, das Lieblingsthema unſerer Gegner: daß nämlich ſeit der quaternären Zeit die Säugethiere ganz und gar unver— ändert geblieben ſeien. Daß aber nicht einmal der Menſch un— verändert geblieben iſt, hat Prof. Man— tegazza jüngſt in ſeiner trefflichen Arbeit über den dritten Molarzahn bei den Men— ſchenraſſen bewieſen, aus einem Material, das nicht einmal bis zur poſtpliozänen Epoche zurückreicht.“) Was iſt nun aus jenen unzähligen Herden von Pferden geworden, welche zur Quaternärzeit Frankreich, Italien und wohl ganz Europa bevölkerten? Haben ſie ſich unter das Joch des Menſchen gebeugt, d. h. ſind ſie aus ihrer Naturfreiheit in die Reihe der Hausthiere getreten, wie man a priori vorausſetzen ſollte und wie Sanſon und Andere glauben? Und doch iſt dem vielleicht nicht ſo. In den ſchweizeriſchen Pfahlbauten der polirten Stein-Epoche, die man ſo gründ— lich in ihren Thierüberreſten ſtudirt hat, ſowie auch in anderen gleichzeitigen prähi— ſtoriſchen Stationen exiſtirt kaum die Spur des Pferdes. Es erſcheint erſt wieder, und zwar mit den Zeichen der Zähmung, in den Pfahl— | bauten der Bronzezeit und in andern Sta- tionen derſelben Periode. Man darf daher wohl annehmen, daß das quaternäre Pferd aus Europa verſchwand und daß ſein nächſter Verwandter von jenen Menſchenraſſen ein- *) Siehe Kosmos, Bd. IV. S. 484. Forſyth Major, Ueber quaternäre Pferde. geführt wurde, denen wir ſo viele Hausthiere verdanken.“) Dieſelbe Erſcheinung fand in Amerika ſtatt; zur Quaternärzeit war das Pferd in ungeheuren Heerden von der Behringsſtraße bis in die Pampas des Plata verbreitet. Dann verſchwand es vollſtändig, ohne andere Spuren zu hinterlaſſen, als ſeine Ueberreſte in den gleichalterigen Ablagerungen. Und doch hatten die Verhältniſſe der Prärien und Pam— pas nicht aufgehört, dem Pferdegeſchlecht gün— ſtig zu ſein. In der That hat das in Amerika von den Conquiſtadores eingeführte Pferd auf eigene Fauſt ſein altes Reich wiedererobert. Wie ſoll man dieſes analoge Phänomen in der alten und neuen Welt erklären? Warum wurde das quaternäre Pferd ſowohl in Europa als in Amerika vernichtet und nicht gezähmt? Wollte ſich das Thier nicht unter das Joch des Menſchen beugen oder war dieſer unfähig, das Thier zu zähmen? Oder wirkten beide Urſachen mit? Deuten die oſteologiſchen Charaktere unſeres quaternären Pferdes vielleicht den Grund des Phänomens an? Hatte das Pferd, indem es mit dem Menſchen in Berührung kam, ehe es noch jenen Entwickelungsgang vollendet hatte, welcher aus dem heutigen Equus Caballus den Prototypus des Ein— hufers macht, vielleicht noch nicht die nöthigen Eigenſchaften, Hausthier zu werden, während das hypothetiſch eingeführte Pferd, weil' in ihm jene Entwickelung ſchon vollendet, ſich mehr zur Domeſtikation eignete? Es ſteht uns nicht an, ſchon heute entſcheidend auf dieſe Fragen zu antworten. Daß jedoch der quaternäre Menſch Europas und Amerikas unfähig geweſen, das Pferd zu zähmen, dürfte um ſo wahrſcheinlicher ſein, als ihm auch die andern Hausthiere fehlten. „Vergleiche dagegen die Anſicht Ecker's Kosmos Bd. V. S. 301. . * S SIND AFP SS — „Vm vorigen Jahre habe ich vor der British Association und vor der engliſchen anthropolo— giſchen Geſellſchaft meine Auf- faſſung über den Urſprung und gelegt. Dieſe Studien haben mich natür— Zeiten und ebenſo diejenigen, welche gegen— wärtig von den auf niedrigſter Kulturſtufe den, zu verfolgen. In Wahrheit, wenn wir einen Blick auf die Raſſen werfen, welche noch nicht durch europäiſche Civiliſation be— einflußt ſind, ſo finden wir, daß Alle, viel— leicht mit Ausnahme von zweien oder dreien ſo tief als möglich auf der Stufenleiter der Menſchheit Stehenden, das Mittel gefunden haben, irgend einen erregenden oder be— iſt, ihre Kräfte zu ſtärken und ihren Muth *) Vgl. Journal of the Anthropol, Inst. die Fortentwickelung des Ackerbaues dar- licherweiſe darauf geführt, auch die Reizmittel und gegohrnen Getränke, welche in ſehr alten ſtehenden Völkern fabricirt und genoſſen wer rauſchenden Trank zu bereiten, der geeignet | Ueber den Gebrauch von Erregungsmitteln bei wilden Völkern und bei den Alten. Von A. M. Buck land.“) in den Augenblicken der Noth zu vermeh— ren. Die Aerzte des civilifirten Europas ſchulden den wildeſten Stämmen die Ent— deckung einer großen Zahl von Arznei— mitteln, deren Wichtigkeit nicht leicht über— ſchätzt werden kann. Die unſchätzbare China— rinde zum Beiſpiel iſt zu bekannt, um hier davon zu reden, aber die wilden Einge— borenen Auſtraliens haben uns kürzlich ein neues Erregungsmittel offenbart, welches nach den davon gemachten Berichten ſpäter mit der Chinarinde rivaliſiren zu können ſcheint. Ich ſpreche vom Pitbury (Duboi— sia), welche die Eingeborenen kauen, um ſich Kräfte und Muth zu verſchaffen, und welche ſie nach dem Kauen hinter die Ohren legen, um ihre Fähigkeit zu erhöhen.!) ) Der Baron Ferdinand Müller hat in einem medieiniſchen Journal Auſtra— liens die Ergebniſſe ſeiner Unterſuchung der Pitbury-Blätter veröffentlicht. Sie gelten für ein wunderbares Erregungsmittel und ſtam— men von einer Pflanze ab, die in den von den Darling- und Barcoo-Flüſſen bis zum of Great Brit. and Irel. 1879. Weſten Auſtraliens ſich ausbreitenden Wüſten 362 Buckland, Ueber den Gebrauch von Erregungsmitteln bei wilden Völkern ꝛc. Die Cocablätter, welche in Südamerika gekaut werden, um die Kräfte zu vermeh— ren und die Müdigkeit zu verſcheuchen, und die Guariablätter, die in derſelben Weiſe in Südafrika angewendet werden, müſſen eher als erregende Arzneiſtoffe, denn als einfache Reizmittel (Stimulantia) betrachtet werden, falls wir dieſe Benennung den ge— gohrenen Getränken, welche mehr oder we— niger giftige Eigenſchaften beſitzen, reſervi— ren. Indeſſen muß der Gebrauch dieſer erregenden Arzneiſtoffe als der erſte Ver— ſuch betrachtet werden, den die Wilden machen, um ſich neben ihren gewöhnlichen Nahrungsmitteln fremde Subſtanzen zu ver— ſchaffen, die ſich, wenn auch bei unange— nehmem Geſchmack, der Eigenheit erfreuen, eine angenehme Aufregung hervorzubringen, ſowie Kraft und Muth zu erhöhen. Die niederen Raſſen ſcheinen dieſes Ziel über— ſchritten zu haben, welches in Wirklichkeit dasjenige eines einfachen thieriſchen Inſtinkts iſt; denn viele Thiere ſuchen, wenn ſie krank oder verwundet ſind, beſondere Pflanzen, von denen ſie ſich für gewöhnlich nicht nähren. Sobald wir jedoch einen Stamm ſich den Mühen des Ackerbaues unterziehen ſehen, bemerken wir auch, daß er anfängt, von gegohrenen Getränken Gebrauch zu machen. Wo der Ackerbau auf jene unvoll— kommene und primitive Phaſe beſchränkt iſt, welche in der alleinigen Kultur von Früchten und Wurzeln beſteht, ſind die ge— wächſt. Er glaubt, daß dieſe Pflanze iden- tiſch mit der 1861 von ihm beſchriebenen Duboisia Hopwoodii iſt, deren Blätter von den Bewohnern Central-Auſtraliens gekaut wanderungen Kräfte zu verſchaffen. — „Die Schwarzen,“ ſagt er, „wenden die Duboisia an, um in den Kämpfen ihren Muth zu ver— | mehren; ftarfe Doſen machen fie raſend.“ gohrenen Getränke in der Regel ſehr ein— fach und aus Wurzeln und Kräutern durch ein beſonderes Verfahren hergeſtellt. So— bald aber Getreidearten kultivirt werden, finden wir allgemein eine Art Bier, welches mit Hilfe der wichtigſten Getreideart fabri— cirt wird und das Hauptgetränk des Volkes darſtellt, während die Fruchtweine den Luxus der Reichen ausmachen, und nicht gegohrene Kräuterabgüſſe nur noch als angenehme, erfriſchende oder mediciniſche Tränke dienen. Die entlegene Epoche, zu welcher die Kultur der Getreidearten hinaufreicht, muß uns nothwendig auch zu der Erkenntniß führen, daß die Fabrikation irgend einer Art von Bier zu einem gleich entfernten Zeitpunkt hinaufſteige. In der That fin- den wir, daß die alten Egypter, welche im Ackerbau das Höchſte leiſteten, ſich ebenſo berühmt durch die Fabrikation einer Art von Bier oder Gerſtenwein machten, welche die griechiſchen Poeten unter dem Namen Zythus verherrlicht haben. Wilkin— ſon ſagt uns, daß „Diodor, obwohl er nicht die Gewohnheit hatte, es zu trin— ken, und obwohl aus einem Weinlande ge bürtig, verſichert, daß dieſes Bier kaum dem Rebenſaft an Güte nachſtehe.“ Athe— näus ſagt, daß es ſehr ſtark war und eine ſo erheiternde Wirkung auf die Trinker äußerte, daß ſie tanzten und ſangen und ſich denſelben Exceſſen hingaben, wie die— jenigen, welche ſich in den ſtärkſten Weinen berauſchten. Die Bereitungsart dieſes Bieres Der „Sidney Herald“ berichtet ferner, daß ebendort unter dem Namen „Pitcherine“ aus dem Barcoo-Lande kommende trockene Blätter und Stengel ähnlich dem Tabak bei uns ver— werden, um ſich auf ihren langen Wüften- | und daß, während ihr Gebrauch in ſchwacher wendet werden, indem man ſie kaue und rauche, Doſis nur eine angenehme Heiterkeit hervor— bringe, ihre verlängerte Anwendung mit einer beträchtlichen Aufregung endige. — iſt uns unbekannt; aber nach dem Zeug— niß der griechiſchen Schriftſteller meint Booza-Bieres der heutigen Egypter, von dem er ſagt: „Das Geheimniß ſeiner Be— reitung mit Hilfe der Gerſte iſt aus den alten Zeiten überliefert worden; da aber durch Faulheit der Gebrauch abhanden kam, Booza ohne Unterſcheidung verwendet.“ 1) daß die bei der Bereitung des Zythus der alten Egypter verwendete Gerſte vorher ſache ins Auge faſſen, daß dieſelbe Proce— dur noch heute von afrikaniſchen Stämmen angewendet wird. ſicher, daß ſie den Hopfen nicht kannten nöthigt, zu anderen Pflanzen ihre Zuflucht zu nehmen, um dem Zythus einen ange— nehmen Geſchmack zu geben, und verwen— deten an ſeiner Stelle die Lupine und die Wurzel einer aſſyriſchen Pflanze.“ Die Erwähnung einer aſſyriſchen Pflanze veranlaßt uns zu denken, daß das egyptifche Bier in Aſſyrien bekannt war, während uns die Bekanntſchaft der ſchweizeriſchen Pfahlbautenbewohner mit dem Roggen und der egyptiſchen Gerſte die Ausbreitung der Bierbrauerei nach Europa und den Weg, durch welchen ſie bis in unſere Gegenden gelangt ſein mag, verräth. Indeſſen war das Bier in den Wein— ) Wilkinson, Ancient Egyptians. II. p. 171. Wilkinſon, daß fie ſehr bedeutend über- legen geweſen ſein müſſe derjenigen des andere Subſtanzen hinzuzufügen, ſo begnügt man ſich gegenwärtig mit der einfachen Gährung; das Getreide und die anderen | dazu gehörigen Subſtanzen werden von den modernen Egyptern bei der Fabrikation des irgend einem der Mälzung analogen Pro- ceß unterworfen wurde, wenn wir die That⸗ Andererſeits ſcheint es und Wilkinſon ſagt: „Sie waren ge- Buckland, Ueber den Gebrauch von Erregungsmitteln bei wilden Völkern ꝛc. Wir können vernünftiger Weiſe ſchließen, 363 ländern im Verhältniß zum Rebenſaft we— nig in Gunſt und wurde wahrſcheinlich, wie in manchen Gegenden noch heute, nur vom geringen Volke getrunken. Wilkin— ſon citirt eine Stelle des Aeſchylos: „Wir werden Männern begegnen, deren Blut niemals durch Gerſtenwein verdickt wurde,“ welche beweiſt, daß die Griechen das Bier verachteten, aber zugleich zeigt, daß es ihnen nicht unbekannt war und wahrſcheinlich das alltägliche Getränk der unteren Klaſſen bildete. Wenn wir unſere Blicke nach Oſten wenden, ſo finden wir in China das Bier ſeit den älteſten Zeiten in Gebrauch, und wir können feſtſtellen, daß die Chineſen neben dem Gerſtenbier noch eine zweite Sorte trinken, die aus einer beſonderen Varietät des Reiſes bereitet wird. Die N Erfindung dieſes Bieres wird der Negier- - ung des erſten Herrſchers der erſten Dy— naſtie zugeſchrieben, d. h. einer Periode, die bis zum Jahre 2217 vor unſere Zeitrechnung zurückreicht. Du Halde nennt auch den Namen des Erfinders (Y-tie) und fügt hinzu: „Der Kaiſer, als er davon gekoſtet hatte, ſagte: „Dieſe Flüſſigkeit wird große Unruhen im Reiche anſtiften.“ Er ver— bannte den Erfinder und verbot die Be— reitung, aber dieſe Vorſicht war unnütz; das Geheimniß der Fabrikation wurde be— wahrt, und dieſe Flüſſigkeit macht noch heute einen der Genüſſe der Chineſen aus.“!) Der Verfaſſer ſagt nichts über das bei der Bereitung dieſes Bieres befolgte Verfahren, aber wie bei dem Zythus der Egypter ließ man es unter Zuſatz gewiſſer Kräuter gäh— ren. Die Chineſen bereiten auch einen Trank aus Roggen oder Mohrenhirſe, die er in Waſſer eingeweicht werden, und aus dem— ) Du Halde, Histoire de la Chine, II. p. 283. 364 Buckland, Ueber den Gebrauch von Erregungsmitteln bei wilden Völkern ꝛe. ſelben Hirſe oder dem Mais bereiten auch die afrikaniſchen Stämme das Bier, welches das Hauptgetränk aller dieſen Continent bewohnenden Völker bildet. Man könnte annehmen, daß Amerika, das Heimathsland des Maiſes, welcher in Afrika ſo vielfach zur Fabrikation des Bieres benutzt wird, uns zahlreiche und verſchieden— artige aus dieſer wichtigen Getreideart be— reitete Getränke aufweiſen müßte; die That— ſachen ſcheinen indeſſen zu beweiſen, daß die nordamerikaniſchen Indianer vor der Ankunft der Europäer kein berauſchendes Getränk kannten, während die ſüdamerika— niſchen Indianer aus dem Mais einen Chica genannten Trank bereiteten, deſſen Herſtellung für die Ethnologen ſehr inter— eſſant iſt, weil die Gährung des Getreides mit Hilfe der Käuung durch die Frauen des Stammes eingeleitet wird. Beſonders bei den Coyas in Bolivien iſt dieſes ekel— hafte Verfahren heutzutage noch in Ge— brauch; man wird aber nicht länger daran zweifeln, daß dieſe Gewohnheit aus dem alten Peru ſtammt und daß ſie ehemals über den ganzen ſüdlichen Continent verbreitet war, wenn man die Bezieh— ungen in Betracht zieht, welche ehemals zwiſchen dieſem Continent und den Inſeln des ſtillen Oceans exiſtirten, woſelbſt auf mehreren Inſelgruppen das einzige gegohrene Getränk, die Awa oder Kawa, durch Zerkäuen der Wurzel vom Rauſchpfeffer bereitet wurde. Auf einigen dieſer Inſel— gruppen und auf Neuſeeland iſt das Kauen nicht mehr gebräuchlich, und man bereitet die Kawa, indem man Waſſer auf die Wurzeln gießt, während man die Strünke braten läßt und zerquetſcht, ohne ſie zu Man zerkauen, bevor man ſie einweicht. zerquetſcht auch die Blätter der Pflanze und übergießt ſie mit Waſſer, wie die Wurzeln.!) Daſſelbe Verfahren wendet man auf Otahaiti an, aber gerade ſo, wie in Südamerika die mittelſt Käuung bereitete Chica am geſchätzten iſt, ebenſo ziehen die Kenner auf den Inſeln des ſtillen Meeres bei weitem die durchgekaute Kawa der ein— fach durch Zerquetſchung und Aufguß be— reiteten vor.?) f Das ſonderbare Herſtellungsverfahren der Getränke durch Käuung iſt nicht auf die Südſee-Inſeln und Südamerika be— ſchränkt, wir beobachten es auch auf der Inſel Formoſa, wo der Reis den Mais bei der Bereitung der Kawa erſetzt. M. More— wood, welcher zahlreiche Beobachtungen über die gegohrenen Getränke eingeſammelt hat, ſagt uns, daß beſonders die Bewohner der Küſte dieſer Inſel einen Reiswein erzeugen und gewöhnlich mit Hilfe der in China angewendeten Verfahrungsarten deſtilliren, daß aber die weniger civiliſirten Bewohner des Innern ihr Getränk auf eine verſchie— dene Weiſe gewinnen. Wie ihre Nachbarn kultiviren ſie den Reis und bereiten ihre Nahrung daraus, aber da ſie weder Wein noch ein anderes ſtarkes Getränk beſitzen, bereiten ſie an deſſen Stelle ein Gebräu, welches nach Angabe des Miſſionärs Ge— orgius Candidius, der lange unter ihnen gelebt hat, weder weniger angenehm noch weniger kräftig iſt als jeder andere Wein. Dieſes Getränk wird durch die Frauen auf folgende Weiſe bereitet: ſie nehmen eine gewiſſe Menge Reis, laſſen ihn ſieden bis er weich wird und verwandeln ihn dann in Teig; ſie nehmen alsdann Reismehl, 1) M. Morewood, Inebriating Liquors. 1824. 2) Anm. d. Ueberſetzers. Auf einigen Südſee-Inſeln läßt man die Käuung, als Ueber— gang zu reinlicheren Zuſtänden, durch Knaben beſorgen. - Sun. Buckland, Ueber den Gebrauch von Erregungsmitteln bei wilden Völkern ꝛc. welches ſie kauen und ſammt ihrem Speichel in ein Gefäß werfen, bis daß eine gewiſſe Menge beiſammen iſt; ſie bedienen ſich dann derſelben wie einer Hefe, welche ſie mit dem Reisteig zuſammenkneten, wie es die Bäcker machen. Sie thun ſodann den Teig in ein großes Gefäß, gießen Waſſer darüber und überlaſſen ihn zwei Monate lang ſich ſelber. Die Flüſſigkeit gährt wie neuer Wein und wird um ſo beſſer, je länger ſie aufbewahrt wird. Sie bleibt während mehrerer Jahre gut und ſtellt ein angeneh— mes Getränk dar, welches an der Ober— fläche klar und rein wie Waſſer, auf dem Grunde des Gefäßes aber ſehr dick und ſchlammig iſt. Wenn man zu dieſem letz— teren Theile nicht, wie es in einigen Fällen geſchieht, Waſſer hinzuſetzt, ißt man ihn mit dem Löffel. Wenn die Eingeborenen in die Felder arbeiten gehen, führen ſie in einem Bambusgefäß ein wenig von dem dicken und ſchlammigen Theil mit ſich; ein anderes Gefäß enthält Waſſer, alsdann miſchen ſie beides, laſſen es einige Zeit ſtehen und trinken das Gemiſch, um ſich während der Hitze des Tages zu erfriſchen. “) Wir ſehen alſo, daß bei den Natur- völkern, die eine Zone bewohnen, welche das ſtille Meer von Formoſa im Oſten bis Peru und Bolivia im Weſten durch— ſchneidet, ein beſonderes Bereitungsverfahren der gegohrenen Getränke vorherrſcht, welches von den civiliſirten Nationen als ekelhaft betrachtet werden mag. Die Frauen ſind in allen Fällen die Hauptarbeiter dabei, während die angewandten Materialien an den verſchiedenen Localitäten mit dem Zu— ſtande des Ackerbaues wechſeln, aber das Verfahren bleibt im Weſentlichen daſſelbe, obwohl die Bewohner von Formoſa, die Nachbarn der civiliſirteren Chineſen, eine u 1) Morewood, a. a. O. S. 130. 365 vollkommnere Methode als dieſe angenom— men haben, indem ſie den Reis kochen und in Brei verwandeln. Die Japaner fabriziren ein ſehr ſtarkes, Sacki genanntes Bier. Die Bewohner von Java bereiten aus demſelben Gras zwei Arten gegohrener Getränke, das eine, Bodik, mit gekochtem Reis und einem Razi genannten Ferment hergeſtellt, wel— ches aus Zwiebeln, ſchwarzem Pfeffer und Piment befteht,!) das andere Brom, ge— nannt, mit Ketan oder Reisſchleim und Razi, welche während mehrerer Monate in verſchloſſenen Gefäßen in die Erde ge— graben werden. Dieſes Eingraben der Ge— fäße iſt auch bei der Chica-Bereitung in Südamerika gebräuchlich. Man vergräbt manchmal bei der Geburt eines Kindes einen großen Krug mit Chica, dem man eine große Quantität Büffelfleiſch hinzu— fügt, und verſpeiſt Alles an ſeinem Hoch— zeitstage. Dieſe Miſchung von Fleiſch mit einer gegohrenen Flüſſigkeit erinnert uns an ein berühmtes Getränk, Lambwine genannt, welches die Mandſchu-Tartaren aus in Teig verwandeltem Lammfleiſch bereiten, indem ſie es mit der Milch ihrer Hausthiere miſchen, oder zerſtampfen und mit Reis miſchen. Nach beendigter Gährung gießt man die Flüſſigkeit in große Krüge und verzehrt ſie an Ort und Stelle oder ver— ladet fie nach China oder Korea.?) Jedoch der gewöhnliche Trank aller tatariſchen oder mongoliſchen Stämme iſt ſeit dem höchſten Alterthum der Kumiß oder Kumiz, deſſen Bereitung in den Reiſen Marco Polo's, überſetzt von Henry Pule, wie folgt beſchrieben wird: „Man gießt friſche Stutenmilch in ein ganz trockenes, flaſchen⸗ 1) A. a. O. S. 69. 2) al. a. O. S. 130. 2 366 förmiges Gefäß aus Pferdehaut, fügt ein wenig Ku rut oder ſaure Kuhmilch hinzu und bewegt, wenn die Eſſiggährung be— gonnen hat, die Flüſſigkeit lebhaft mittelſt eines in dem Gefäß bleibenden Stockes; am Ende von drei bis vier Tagen iſt das Gebräu fertig. Der Kumiß hält ſich lange, er iſt ſehr ſtärkend und nährend, und ſteht im Rufe Lungenſchwindſüchtige zu heilen; die Stämme, welche ſich ſeiner bedienen, werden betrachtet. . . . Er beſitzt einen eigenthüm— lichen Geſchmack und Nachgeſchmack. Ru— bruquis)) ſagt uns, daß er die Zunge ſticht, während man ihn trinkt, aber daß er im Munde ein angenehmes, der Mandel— milch ähnliches Parfüm zurückläßt. . . . .. Die Griechen und die orientaliſchen Chriſten betrachten es als eine Art Abfall von ihrem Glauben, Kumiß zu trinken. Anderntheils ſcheinen die Mohamedaner der nomadiſchen Stämme vom Kumiß Gebrauch zu machen, ſelbſt wenn ſie ſich des Weines vollſtändig enthalten. . . . Die berauſchende Kraft des Kumiß iſt verſchieden, je nachdem er mehr oder weniger gerührt worden iſt. Je mehr die weinige Gährung vorgeſchritten iſt, um ſo weniger ſauer iſt ſein Geſchmack und deſto weniger perlt er. Seine Wirkung iſt indeſſen nur ſchwach und vorübergehend; er läßt keine unangenehme Empfindung zurück, ſondern befördert eine ausgeſprochene Neig— ung zum Erholung bringenden Schlummer. . . . Es exiſtirt davon eine beſondere Sorte, Kara Kumiz genannt, die ſowohl von Rubruquis, als auch in der Geſchichte von Waſſaf erwähnt wird. Sie ſcheint filtrirt und geklärt worden zu ſein. . . . Das aus der Stutenmilch von den nomadiſirenden ) Rubruquis war ein 1253 von Lud- wig dem Heiligen als Geſandter nach dem Orient geſchickter Mönch. als frei von dieſer Krankheit die Holzgefäße anbetrifft, wenigſtens be— | N Buckland, Ueber den Gebrauch von Erregungsmitteln bei wilden Völkern ac. Scythen bereitete Getränk wird von meh— reren alten Autoren erwähnt; Herodot (IV. 2) hat die Bereitung des Kumiß wie folgt geſchildert: „Die Stutenmilch wird in tiefe Holzgefäße geſchüttet, um welche man blinde Sklaven aufſtellt, welche die Aufgabe haben, die Milch zu rühren. Man ſammelt die Milch, welche an die Oberfläche ſteigt und die als die beſte betrachtet wird, der untere Theil iſt weniger geſchätzt.“ He— rodot täuſcht ſich vielleicht in dem, was zeichnen alle neueren Augenzeugen die Ge— fäße aus Thierhaut als die allein ange— | | Yule. wendeten. ung dienende Kurut wird nach Rubru— Der zur Einleitung der Gähr— quis aus der Milch bereitet, die beim Buttern übrig bleibt; man läßt ſie ſo viel als möglich ſauer werden, dann läßt man ſie kochen. Beim Kochen gerinnt ſie; man läßt ſie ſodann an der Sonne trocknen, und ſie wird dabei ſo hart wie Eiſen; man be— wahrt ſie in Körben während des Winters auf. Wenn während dieſer Jahreszeit die Milch mangelt, thut man das Geronnene, welches man Griut nennt, in ein Haut- gefäß, gießt heißes Waſſer darüber und rührt fleißig um, bis das Geronnene ſich mit dem Waſſer gemiſcht hat, dem es einen ſauren Geſchmack mittheilt, worauf man es an Stelle der Milch trinkt. Vor Allem vermeidet man reines Waſſer zu trinken.“) Man fabrizirt noch gegenwärtig den Griut auf dieſelbe Weiſe, aber man bedient ſich mitunter des Deſtillations-Rückſtandes der Arakmilch und mitunter auch der Schafmilch. Die Afghanen bereiten aus der Milch ein dem Kumiß ähnliches Getränk, und wir ) Marco Polo's Reiſen, überſetzt und herausgegeben von dem Colonel Henry Bd. I. Kapitel 53, Note 1 und Ka— pitel 54, Note 5. finden in unſerem eigenen Lande Spuren eines ähnlichen Gebräus, denn in den Transactions of the Devonshire Assoei- ation für 1877 kann man die Beſchreib— ung eines als White Ale bezeichneten Ge— | tränkes leſen, welches ein bis in eine jün— gere Epoche im Süden von Devon und in Cornwall ſehr gewöhnliches Genußmittel geweſen ſein ſoll. Dieſes wird auch unter dem Namen Saint-Barnaby's cow's thick milk als identiſch mit dem Grout Ale be— trachtet, von welchem der Biſchof Hermet ſpricht, weil das zu ſeiner Bereitung an- gewendete Ferment noch Grout!) genannt wird. Dieſes Getränk, obwohl nach Boorde (1511 - 1549) aus Malz und Waſſer fabrizirt, und fein beſonderes, Grout ge- nanntes Ferment, ſcheint uns nach dem ihm zukommenden Namen thiek milk, ſowie nach dem Namen ſeines Ferments, von dem Kumiß der Tataren hergeleitet werden zu müſſen. Der Gebrauch der mit ſaurer Milch bereiteten Getränke, welcher heute auf die ſcheint, findet ſich bei den Kafferſtämmen Südafrikas wieder, die ſie in einer ganz ähnlichen Weiſe bereiten und mit der größ— ten Sorgfalt in Thierhautgefäßen bewahren. Sie ſtehen unter der Aufſicht eines Dorf- bewohners, der über die Aufrechterhaltung des ſtrengen Verbotes zu wachen hat, daß kein Weib ſie berühren darf. Wir wiſſen nicht, auf welche Weiſe die Kaffern in den Beſitz des Geheimniſſes, den berühmten Trank der Scythen zu bereiten, gelangt find. Ihre Raſſe ſtammt augenſcheinlich aus nörd— licheren Gegenden als diejenigen, welche ſie heute bewohnen, aber es erſcheint ſchwierig, zwiſchen ihnen und den Seythen irgend ein Band nachzuweiſen. Wir conſtatiren jedoch 1) Der Ausdruck Grout dient gleichzeitig zur Bezeichnung von Suppenmehl und Hefe. Buckland, Ueber den Gebrauch von Erregungsmitteln bei wilden Völkern ce. 367 daß ſie noch einen anderen alten, berühmten nordiſchen Trank, das Honigbier (Hydro— mel oder Meth) zu bereiten wiſſen, der von den Bachapins Boialloa genannt wird.!) Der Hydromel wird auch von den Eingeborenen Madagaskars verwendet, und Poncet berichtet uns, daß er den Haupt— trank der Bewohner Aethiopiens darſtellt, aber in dem Hydromel der Aethiopier bildet der Honig nur einen Beſtandtheil dieſes Trankes, deſſen Bereitung folgendermaßen beſchrieben wird: „Man mälzt die Gerſte, welche dieſem Gebräu zur Baſis dient, bis zu einem gewiſſen Grade, dann röſtet man ſie wie den Kaffee, verwandelt ſie in feines Pulver und miſcht eine vorher zerquetſchte einheimiſche Wurzel hinzu, die Taddo ge— nannt wird. Dieſe Methſorte weicht ab von derjenigen der Kaffern, welche einzig aus gegohrenem Honig und Waſſer bereitet wird und alſo mehr dem Getränk der Skandinavier gleicht; die Völker des Nordens beſaßen nicht ſo viel Getreide, als ſie zur tatariſchen Stämme Aſiens beſchränkt er- Bereitung ihres Honigtrankes brauchten.“ In Rußland?) verwendet man gegen— wärtig den Meth. Es giebt davon eine rothe und eine weiße Sorte, von denen die erſtere mit dem Safte der Moosbeeren, Erdbeeren, Himbeeren oder Kirſchen gefärbt wird. Daſſelbe Gebräu bildete unſeres Wiſſens das Lieblingsgetränk in Großbri— tannien zur Zeit der Angelſachſen und war den Griechen und Römern unter dem Namen Hydromel bekannt. 1) Die Hottentotten fabriziren auch eine Art von Honigbier, bei welchem dem Honig nach Thunberg die Wurzel einer Umbelli— fere (genannt Moor-Wortel) hinzugeſetzt wird. 2) Der Quaſs, das gewöhnliche Ge— tränk der ruſſiſchen Bauern, wird aus Gerſte, Reismalz und Reismehl, die mit Waſſer ange— rührt werden, bereitet Morewood, a. a. O. S. 258). Kosmos, III. Jahrg. Heft 11. 48 368 Wulfſtan bemerkt auf ſeiner im achten Jahrhundert vollführten Reiſe in den Oſtſeeländern bis nach Preußen, daß die Bewohner dieſes Landes kein Ale tränken, | weil fie zu viel Honig hätten. Dieſelbe Beobachtung war bereits mehrere Jahr- hunderte früher von Pytheas gemacht worden; derſelbe ſagt, daß Meth das ge— | wöhnliche Getränk der Mehrzahl der Be- | wohner ausmache, während die Reichen Stutenmilch tränken, d. h. wohl aus dieſer | Milch bereitete geiftige Getränke.!) Dieſe beiden Getränke, welche ſich un- ſerer Unterſuchung als von den Völkern Nordeuropas und Aſiens verwendet ergeben, und die von den Kaffern Südafrikas noch Fingern. Buckland, Ueber den Gebrauch von Erregungsmitteln bei wilden Völkern 2c, | Speir jagt hierüber: „Indra fand dieſen Schatz, wie man erzählt, im Himmel, verſteckt wie das Neſt eines Vogels im Felſen, inmitten einer Aufthürmung un— geheurer, mit Geſträuch umgebener Klippen.“ Die Bereitung dieſes geheiligten Trankes wird auf die folgende Weiſe beſchrieben: „Man zerquetſcht die Stengel mit Steinen und ſammelt den Saft auf ein Filter von Ziegenhaar, dann preßt man ſie zwiſchen den beiden erſten, mit Goldringen gezierten Man miſcht ſodann den Saft mit Gerſte und geklärter Butter; nachdem er gegohren hat, giebt man davon einen Löffel für die Götter, einen Löffel für die Prieſter, und ſagt zu Indra: Je tiefer jetzt getrunken werden, ſcheinen den alten | dein Rauſch, um fo günftiger find deine Egyptern nicht bekannt geweſen zu fein. Obgleich in Wirklichkeit der Honig ſehr ge ſchätzt und zu den Opfern, die man den Göttern darbrachte, gehörte, war er dem Anſchein nach in Egypten ſelten, denn die Blumen fehlten in dem Maße, daß man | mitunter genöthigt war, die Bienen an den unteren Nil zu bringen, damit ſie dort Nahrung fänden (nach Wilkinſon). Da die Egypter mehr Ackerbauer als Hirten waren, ſo erſcheint es ganz natürlich, daß | fie Getreide zur Baſis ihrer geiftigen Ge— tränke nahmen. Es iſt auch möglich, daß irgend ein religiöſes Vorurtheil ſie gehindert hat, die Milch als gewöhnlichen Trank zu benutzen. In Indien, wo die Kuh als ein geheiligtes Thier betrachtet wird, findet man Spuren einer Epoche, in welchem die Bewohner von ihrem nördlichen Vaterlande | die Kenntniß des ſcythiſchen Kumiß herge— bracht hatten, allein es iſt das mit dem Safte der Mondpflanze (Asclepias acida) bereitetete Soma-Bier, das in den Ve— das ſo hoch geprieſen wird. ) Morewood, S. 435. Thaten.“ Das Soma Bier bildete das wichtigſte, den Göttern dargebrachte Opfer; man ſuchte die Pflanze mit großer Sorg— falt beim Schwinden des Mondes und brachte fie auf einem von Widdern gezoge— nen Wagen ins Haus. In einer der Hymnen der Rigveda wird Indra genannt: „Soma— Trinker, Schleuderer der Blitzpfeile, Geber der Fruchtbarkeit für die Kühe mit vor— ragendem Gebiß.“ 1) Von der dem Soma beigelegten Wich— tigkeit denkt Speir, daß wir auf die Be— ſchaffenheit des Landes zurückſchließen können, welches die Indier in der Epoche der Rig— veda bewohnten. „Die Soma,“ ſagt er, „At eine glatte, cylindriſche, kletternde Pflanze, welche ſich nicht auf gutem Boden findet, wie es Royle angiebt, ſondern welche auf den Bergen des weſtlichen Indiens, in der im Norden Delhis gelegenen Wüſte und in den Bergen des Bolan-Paſſes zu Hauſe iſt. Die Rigveda kann mithin nicht am Ganges verfaßt worden ſein.“ ) Aber es ) Speir, Life in Ancient India. p. 52 fl. 2) A. a. O. S. 55, giebt noch einige andere beachtenswerthe Punkte, die dieſen Gegenſtand angehen. Indra, der große indiſche Gott der Natur, iſt nach Speir mit dem Opfer des Pferdes zu Ehren der Sonne verknüpft, was als ein Zeichen des ſcythiſchen Urſprungs der Inder betrachtet wird, während die dem Indra ſo ſpeciell gewidmete Soma nicht allein dem Monde geheiligt iſt, ſondern ſpäter als Gottheit mit dem Monde ver— ſchmolzen wurde. Es könnte alſo ſcheinen, Buckland, Ueber den Gebrauch von Erregungsmitteln bei wilden Völkern ꝛc. 369 brauch iſt, wo die Morgenröthe der Civi— daß wir in ihm eine Miſchung des neuen Kultus der Eroberer mit den alten Riten der ſich vom Monde ableitenden Dynaſtie ſehen müſſen, während die Verſchiedenheit der Bereitung des geheiligten Soma-Bieres und der myſtiſchen Amrita unſerer Auf- merkſamkeit gleichfalls werth iſt. Das zur Bereitung des erſteren verwendete Verfahren iſt analog demjenigen, welches für die Her— ſtellung des Kawa auf den Inſeln in Ge— ) Anm. d. Ueberſetzers. Von dem Somakultus kann man ſich vielleicht die beſte Vorſtellung machen, wenn man damit die Bier-Religion der Chewſuren, eines kleinen chriſtlichen Völkchens öſtlich vom Kasbek, ver— gleicht, die uns Staatsrath Radde in Tiflis neuerdings ſo anſchaulich beſchrieben hat. Der Chewſure, nahe der Baumgrenze am Kaukaſus wohnend, hat nämlich uoch heilige Haine, in denen man die Gottheit durch Biertrinken verehrt und in denen Baumfrevel mit dem Tode beſtraft wird. In dieſen meiſt aus alten Bäumen beſtehenden Hainen wohnt der— „gute Geiſt“, der „gute Engel“, der das ge- ſammte Volk der Chewſuren ſchützt. Bisweilen hat er einen ruſſiſchen Namen, bald iſt es Georg, bald Michael, bisweilen nennt man ihn den „großen Gott“, bisweilen den „kleinen Gott“, bisweilen den Engel, der die Thüren und das Eigenthum bewacht, bisweilen kommt auch der Chriſtusgott vor, und ſie ſind ſtolz auf die chriſtliche Religion, in deren Mitte ſich nur eben ein Stück Heidenthum erhalten hat. Doch laſſen wir Radde in ſeiner leben— liſation die Käuung verdrängt hat; was die letztere anbetrifft, ſo erinnern uns die Quirl— ung des Oceans mit dem Berge Mandar, der die Rolle des Agitators im Butterfaß ſpielt, und das Obenſchwimmen des koſtbaren Ge— tränkes an der Oberfläche des Meeres noth— wendiger Weiſe an den Kumiß der Scythen, während der Zuſatz von Gerſte und geklär— ter Butter zu dem Soma-Getränk unſerem Geiſte die Idee aufdrängen, daß dieſe be— rühmte Flüſſigkeit im Anfange nur eine durch die Umſtände nöthige Modification des Bieres und nordiſchen Kumiß geweſen iſt. Die Soma wäre anfangs von den Eingeborenen nur, wie mehrere andere Pflan⸗ zen, als Ferment angewendet worden, wor— auf ſie nach der ariſchen Invaſion unter Zuſatz der Ingredienzien gebraucht wurde, welche die Eroberer in ihrer nordiſchen Hei— math gewöhnt waren anzuwenden.!) digen Weiſe ſelbſt erzählen: „Wo die alten Eſchen oder Linden ſtehen, unter deren Schutz— dach ſich die heiligen Opferaltäre befinden, da findet die Gemeinde ſich immer bereit, ein Stück Land hinzuzufügen, und dieſes Land gehört dem Engel, nicht der Gemeinde, und dann ſäet die Gemeinde auf dieſem Lande Gerſte, und die Ernte der Gerſte gehört dem Engel und nicht der Gemeinde; darauf braut ſie Bier daraus, und das gehört dem Engel — aber die Gemeinde trinkt es. Nun haben die Chewſuren in dieſen verſteckt gelegenen Gebäuden geheime Winkel, in denen die De— kanoſſe, ihre Prieſter, Silbergefäße verſteckt halten. Es hat früher bei den Pſhawen und Chewſuren ſolche Silbergefäße bis zu 2000 | Rubel Werth gegeben; dieſe ſind nicht mehr da, allein an dem Orte, wo ich das heilige Bier mit den Chewſuren trank, gab es noch ganz maſſiv gearbeitete, echt ſilberne Gefäße, ohne Inſchrift, glatt, aber hier und da ver— ziert mit taubenartigen Vogelgeſtalten, — vielleicht eine kleine Andeutung an die chriſt— liche Zeit und Religion. Bei der Feier geht F Somatrank war ein geheiligter Trank und die Geſetzbücher des Manu machen uns mit noch drei anderen berauſchenden Ge— tränken bekannt, die bei den Indern in Gebrauch waren, einem Gebräu aus dem die Schale mit dem dicken, geſunden, ſämigen Biere von Munde zu Munde, und der Jubel wird immer größer. Auch finden ſich dabei Improviſatoren, die den Engel preiſen. Es iſt das keine fromme Andacht, aber eine frohe Andacht. Aber kein Weib darf dieſes Terrain betreten. Da unten, wo das Terrain, was zum Opferaltar des Engels gehört, ein— gezäunt iſt, ſitzen die Weiber und Mädchen, denen ſchickt man Bier hin und Kuchen, die ſie gebacken haben.“ Auch die heilige Brauerei hat uns Radde in ſeinem intereſſanten, vor andert— halb Jahren zu Kaſſel gehaltenen Vortrage über die Chewſuren anſchaulich beſchrieben. Er ſagte darüber nach dem ſtenographiſchen Be— richt: „Es iſt ein dunkler Raum, in den ich trete. . .. Der Wächter fehlte und das gab mir Courage, denn ein ſolcher Opferaltar und eine ſolche Bierbrauerei werden bewacht, ſie dürfen nicht ſo ſtehen bleiben, dafür ſorgt die Geiſtlichkeit, und dieſe Geiſtlichkeit bildet bei den Chewſuren eine geſchloſſene Hierarchie von ungeheurer Macht in Bezug auf das Volk, dem ſie angehört. Ich ſah alſo Bottiche aus Holz, hohle Stämme mit eingeſetztem Boden, die ſorgfältig zugedeckt waren; ich lüftete ein wenig, und wenn es auch faulig roch, ſo wurde ich doch bald inne, daß es Schnaps ſei. Auch den Schnaps deſtilliren fie ſeldſt — Alles zur Ehre ihres Gottes. Ich ging weiter und ſah den großen Maiſch— bottich, und als ich dieſe dunklen, heidniſchen Altäre verlaſſen hatte, an deren Decke ſehr viel Turgeweih, Hirſchgeweih, Reh- und Gemſengehörn hing — denn das find Opfer objekte; wenn der Chewſure ein Thier ſchießt, bringt er das Gehörn hin, das gehört Gott, und das Fleiſch ißt er auf — als ich das weiter. Da qualmte es ſtark, es war die Brauerei in voller Thätigkeit, urſprünglich, ureigenthümlich und urgrob, aber doch im Buckland, Ueber den Gebrauch von Erregungsmitteln bei wilden Völkern ee. Abfall des Zuckers, einem anderen aus zer— quetſchtem Reis, und einem dritten mit Madhuca-Blumen, welcher noch von den als Urraſſe betrachteten Bheels fabrizirt wird.“) Stande, ein in der That ſehr gutes Malz zu verarbeiten. Es hing an einer Kette ein kreiſelförmiger, rieſiger Keſſel, in dem brodelte Etwas. Dieſe rieſigen Keſſel aus Kupfer machen die Armenier in Telaw und ein ſol— cher Keſſel wird in ſeinem Mittelwerth auf 2 — 300 Silberrubel berechnet. Zu ihm führte von außen eine kleine hölzerne Rinne, die der verdampfenden Maiſche ſoviel Waſſer als nöthig zuführte. Wenn nun das Gebräu, nachdem es mehrere Tage geſotten, reif ge— worden iſt und einen etwas unangenehmen, faden, ſüßlichen Geſchmack hat, — auch noch jenen trüben Anblick gewährt, der keineswegs das Auge ergötzt, ſo kommt es in große Säcke, die aus Wolle gemacht ſind, und dann träu— felt die ablaufende Flüſſigkeit in dieſe großen Bottiche und kommt in die Zuber. Sie wer— den mich fragen, wo bekommt der Chewſure ſeinen Hopfen her? und es wird Ihnen wahr— ſcheinlich noch nie ein Volk genannt worden ſein, welches des Hopfens wegen eine Emi— gration gemacht hätte, und doch iſt dies bei den Chewſuren der Fall. Die Chewſuren machen drei Emigrationen in jedem Jahre, um drei wichtige Objekte, die der Natur an— gehören und in ihrem hochgelegenen Lande nicht zu finden ſind, ſich zu ſuchen. Als erſtes Objekt ſammeln ſie wilden Krapp, um ihre rothe Farbe zu machen und ihre rothen Wollenſtoffe zu färben. Der Krapp kommt unten in Kachetien und im Gouvernement Tiflis als wilde Pflanze vor. Im Herbſt gehen ſie abermals thalwärts und ſammeln, wilden Hopfen, der dort auch häufig iſt und im Sommer ſind ſie im Nordoſten des großen Kaukaſus und ſammeln Kienſpähne, um im Winter Licht in ihren Burgen zu haben.“ Alles geſehen hatte, begab ich mich eine Strecke ) Die Afghanen bereiten mit Schafmilch ein Getränk. In Island bewahrt man dieſe Milch in Fäßchen, um ſie nach der Gährung zu trinken. Der Palmenwein oder Tari, welder die Urform des bekannten Toddy iſt, ſtellt das Lieblingsgetränk aller Länder dar, in denen Palmen wachſen. Herodot erzählt uns, daß zur Zeit des Kambyſes (529 v. Chr.) die Syrier einen Palmenwein deſtillirten, und Strabo ſagt, daß im glücklichen Arabien viele Pflanzer einen von den Bewohnern ſtark verwendeten Palm— wein bereiteten. Es ſcheint, daß man trotz des Verbotes des Propheten noch immer in Arabien berauſchende Getränke fabrizirt, denn Niebuhr ſagt, daß die Juden in mehreren Theilen Arabiens Wein machen und einen Branntwein deſtilliren, und daß man an anderen Orten eine dem Curmi der Egypter ziemlich ähnliche Bierſorte ge— des Krautes „Schebe“ einen angenehmen Geſchmack mittheile.!) Buckland, Ueber den Gebrauch von Erregungsmitteln bei wilden Völkern 2c. 371 in ſeinem Buche „The Indian in his Wigwam“: „Es iſt ſehr gewiß, daß die Azteken und andere Mexikaner und die Stämme des Südens ihren Pulque und andere berauſchende Getränke beſaßen, welche ſie aus Samen und Früchten ihres Landes bereiteten. Aber dieſe Kunſt war ebenſo wie die verwendeten Pflanzen auf dieſe Breiten beſchränkt, und es iſt kein Zeugniß vorhanden, welches beweiſt, daß dieſe Ge— tränke und ihre Bereitungsweiſe den nörd— lich und öſtlich vom mexikaniſchen Meerbuſen wohnenden Völkern bekannt geweſen wären.“ Die Bulgaren fabriziren aus der Tanne ein Getränk und trinken auch eine Art Meth. In den verſchiedenen Ländern ſind noch viele Früchte, Wurzeln und Gramineen ?) angewendet worden, um daraus berauſchende Getränke zu gewinnen; aber das einzige Getränk, dem wir hier noch eine ſpecielle Aufmerkſamkeit ſchuldig ſind, iſt die mexi— kaniſche Pulque, die aus der amerikani— | ſich am Genuſſe der gegohrenen Milch de— lektirte, deren Verwendung ſich über Nord— ſchen Albe (Agave americana) gewonnen wird. Wie der Somatrank der Inder war ſie ehemals ein heiliges Getränk; aber wie die Kawa der Südſee bildete fie gleichzeitig das gewöhnliche Getränk des Volkes. Wie wir ſchon oben erwähnt haben, beſitzen die Rothhaut-Indianer kein gegohre— nes Getränk; wenigſtens ſagt Schooleraft 2) Die Kamtſchadalen bereiten aus einem Stalkaia-Kawa genannten Graſe einen Brant- wein. \ 1) Morewood, a. a. O. S. 55 u. 256. Das Fehlen berauſchender Getränke bei den Rothhäuten würde gegen die Theorie ihres aſiatiſchen Urſprunges und ebenſo gegen die— jenige der Einheit der Raſſe des geſamm— winne, der man mittelſt eines Aufguſſes ten Continents ſtreiten, ebenſowohl wie die ausgeſprochene Neigung zu berauſchenden Getränken ſeit der Einführung derſelben durch die Weißen beweiſt, daß ſie fortge— fahren haben würden, die Getränke ihrer Vorfahren und ihrer Nachbarn zu bereiten und zu conſumiren, wenn ſie von denſelben Kenntniß gehabt hätten. Wenn ſie alſo mongoliſchen Urſprunges waren, ſo müßte man annehmen, daß ſie ſich von der Mutter— Raſſe getrennt hätten, bevor ſich dieſe in ein Hirtenvolk verwandelt hatten, welches aſien bis Island und Südafrika ausge— breitet hat und wahrſcheinlich ehemals den erſten Rang einnahm, bis es durch Ge— tränke aus gegohrenem Getreide und ähn— lichen Zubereitungen der ackerbauenden Völ— ker und ſchließlich durch den Rebenſaft der in der Civiliſation vorgeſchritteneren Völker erſetzt wurde. Der Traubenwein, welcher uns heute ſo vertraut iſt, datirt bekanntlich ſchon aus den Zeiten Noah's, aber ſein Genuß ſcheint 372 Buckland, Ueber den Gebrauch von Erregungsmitteln bei wilden Völkern ꝛc. in den alten Zeiten auf Weſtaſien, Egypten, Griechenland und Rom beſchränkt geweſen zu ſein. An den Orten ſelbſt, wo die Traube üppig gedeiht, iſt ſie nicht immer zur Weinbereitung verwendet worden. In China zum Beiſpiel, wo die Rebe ſeit den älteſten Zeiten wächſt, iſt der Wein, ſollte er überhaupt, was zweifelhaft iſt, jemals fabrizirt worden ſein, niemals populär ge— worden, und die Reben ſind, laut Decret verſchiedener Kaiſer, in verſchiedenen Epochen Buche des Marco Polo, daß der Grün— der der Dynaſtie Ming 1373 von Thaynau, welches durch ſeine Reben berühmt war, „Wein und Trauben als Gaben entgegen— nahm, aber verbot, ſie ihm nochmals zu bringen.“ Wir wiſſen auch, daß man, ob— gleich in verſchiedenen Theilen Aethiopiens ausgezeichnete Reben wachſen, dort keinen Wein fabrizirt, da dort Meth das Haupt- getränk ausmacht. Indeſſen war der Reben ſaft ohne Zweifel in den älteſten Zeiten bekannt und geſchätzt bei den Hebräern, Egyptern, Aſſyrern, Perſern und Römern. | Sir James Malcolm fagt in feiner Geſchichte Perſiens, daß „die Eingeborenen aus der Volkstradition wiſſen, daß der Wein durch ihren König Jemiſheed (Dſchem— ſchid) zufällig entdeckt wurde. Dieſer Mo- narch, welcher eine ſehr ausgeſprochene Vor— liebe für Trauben beſaß, hatte eine gewiſſe Maſſe derſelben für ſpäteren Genuß in ein großes Gefäß gethan. Einige Zeit dar— auf ſah man beim Oeffnen des Gefäßes, daß die Trauben gegohren ſeien und nahm an, daß ſie giftig geworden ſein würden. Eine Frau ſeines Harems, die durch eine ſehr grauſame Nervenkrankheit lebensüber— drüſſig geworden war, trank eine gewiſſe Menge dieſes muthmaßlichen Giftes, ſchlief ein, erwachte in gutem Zuſtande und fuhr fort, das Gift zu trinken. Der Monarch profitirte von dieſem Vorfall und vervoll— kommnete das Getränk für ſeinen eigenen Gebrauch.!) Es iſt nicht überflüſſig zu bemerken, daß der Wein im Orient, wie der Kumiß der Tataren, in Schläuchen von Thierhaut aufbewahrt wurde. Mit dieſer Aufbewahr— ungsweiſe wurde er in Griechenland und Rom eingeführt, und die Macht einer er— worbenen Gewohnheit iſt derartig, daß, nach— ausgerottet worden. Wir erfahren aus dem dem man den Gebrauch der irdenen Krüge einführte, wie in Egypten und China, man Sorge trug, ſie im Innern mit Harz und anderen Subſtanzen auszupichen, um dem Wein ſo viel als möglich den Geſchmack mitzutheilen, welchen er beſaß, als man ihn in Thierhäuten aufbewahrte.) Es: ſcheint, daß dieſe Gewohnheit ſich bei den Neugriechen erhalten hat, denn Redding ſagt: „Der moderne Reiſende vermag in Griechenland nur ſehr wenig Wein ohne Waſſer zu trinken, wegen der Kopfſchmerzen, die er hervorruft, und welche dem Harz, Theer und anderen Ingredienzien zuzuſchrei— ben ſind, die man darin ausziehen läßt, wie man es in den Zeiten des Auguſtus that.“ “) Plinius zählt 50 edle Weinſorten auf, 38 fremde Weine, 5 geſalzene, d. h. mit Meerwaſſer verſetzte Weine, 18 ſüße Weine, 3 Sorten zweiter Klaſſe und 60 ) Redding, Op moderne wines, p. 33. 2) Anm. d. Ueberſetzers. Die Wein- ſchläuche werden meiſtens innen ausgepicht. Im Kaukaſus wird zu dieſem Zweck einer Ziege über den etwas erweiterten Mund das Fell abgezogen, dann werden die Füße verbunden und am Munde vereinigt und das Ganze mit Pech ausgegoſſen; nur ein Fuß bekommt einen hölzernen Spund, welcher zugebunden werden kann. 2) Redding, a. a. O. S. 18. — — Arten künſtlicher Weine.!) Die von den Römern unter allen dieſen Weinen am meiſten geſchätzten waren die mit Myrrhe parfümirten. Die Kunſtweine wurden mit Moſt fabrizirt, dem man alle möglichen Gartenpflanzen zuſetzte, als z. B. Rettig, Spargel, Peterſilie, Wermuth u. ſ. w. Die Mehrzahl waren mediciniſche Weine und es iſt bemerkenswerth, daß der Wermuth (Abſynth), deſſen Geſchmack fo abſcheulich iſt, noch immer zur Bereitung eines von den Franzoſen ſehr geſuchten Getränkes dient. In Egypten fabrizirte man auch Kunſtweine mit Feigen, Granaten und an— deren Früchten und ſetzte nach Wilkin- ſon Kräuter hinzu, um ihnen einen beſon— deren Geſchmack oder arzneiliche Eigenſchaften mitzutheilen. . .. . . . Ich kann hier nicht näher eingehen auf das Detail der nicht gegohrenen Getränke, die in verſchiedenen Theilen der Welt in Gebrauch ſind, wie z. B. auf den Thee in China und Japan, die Mate in Süd⸗ amerika, die Guarana Braſiliens, die Cho— kolade Mexikos, den Kaffee Arabiens und Afrikas; aber indem wir überblicken, was die Reiſenden über dieſe Erregungsmittel geſammelt haben, müſſen wir, glaube ich, ſchließen, daß die unterſten Raſſen gemeinig- lich Wurzeln und Kräuter als Erregungs— mittel kauen und daß ſie keine berauſchenden Getränke beſitzen. So ſehen wir die Pit— bury bei den auſtraliſchen Wilden in Ge— brauch. Die Buſchmänner und Hotten— totten kauen das Kon oder die Wurzel von Mesembryanthemum emareidum, von dem Thunberg ſagt: „Die Hottentotten kommen von nah und fern dieſe Staude zu ſuchen, ſie ſammeln die Wurzel, die Blätter und andere Theile und reihen ſie an Schnüre, wie Tabak, dann laſſen ſie ſie ) Plinius, lib. XIV. Buckland, Ueber den Gebrauch von Erregungsmitteln bei wilden Völkern ꝛc. 373 \ in Haufen gähren und bewahren fie zum Kauen, namentlich wenn ſie Durſt haben. Wenn man die Pflanze unmittelbar nach der Gährung kaut, bewirkt ſie Vergiftung.“ Er fügt hinzu: „Die Hottentotten, welche die Wüſten oder Karoos durchſtreifen, wenden verſchiedene Mittel an, nicht nur um ihren Hunger zu beſänftigen, ſondern auch um ihren Durſt zu löſchen. Abgeſehen von der eben erwähnten Pflanze, Kon oder Gunna genannt, wenden ſie zwei andere an, die eine, welche Kameka oder Barup heißt und eine umfangreiche, wäſſerige Wurzel beſitzen ſoll, und die zweite, Ku, mit ähn— lich großer und ſaftiger Wurzel.!) Der Gebrauch der mit Kalk gemiſchten Areca oder Betelnuß iſt in Neu-Guinea und auf mehreren oſtindiſchen Inſeln ſehr bekannt. Eine analoge Gewohnheit exiſtirt in Süd— amerika, und Bollaert ſagt, von den Indianern von Tarapaca ſprechend: „Mit einer geringen Menge geröſteten Mais und Coca können ſie mehrere Tagereiſen in den ödeſten Gegenden zu Fuß machen. Sie kauen die Coca mit der Kipta, einer Art von Kalkaſche mit gekochten Bataten ge— mischt.“ 2) Wir müſſen darauf aufmerkſam machen, daß dieſer Gebrauch gewiſſer Blätter in den warmen Ländern, wo das Waſſer ſelten und ungeſund iſt, ſehr verbreitet iſt, und dieſem Umſtande muß man ohne Zweifel den ſo allgemeinen Gebrauch ge— wiſſer Erregungsmittel zuſchreiben. Als Moſes in die bitteren Waſſer von Meribah einen Zweig von einem gewiſſen Baum eintauchte, that er daſſelbe, was die Ein— geborenen Afrikas und anderer wüſten ) Thunberg, Account of the Cape of Good Hope. 2) W. Bollaert, Antiquities of South America, p. 250. — 374 Länder gezwungen ſind zu thun, um un— geſunde Wäſſer durch Theeaufgüſſe genieß— bar, wenn nicht wohlſchmeckend zu machen. Es iſt darin ſicherlich, daß man den Ur— ſprung der Gewohnheit, Thee verſchiedener Sorten zu trinken, in Aſien, Afrika und Amerika zu ſuchen hat. Einer davon hat als Trank die Gunſt der Europäer gewon— nen, aber auch der Kaffee und die Choko— lade, die wir von ihren Entdeckern und erſten Conſumenten erhalten haben, ſind hierher zu rechnen. Wir müſſen als die zweite Phaſe in der Geſchichte der Stimulantien diejenige betrachten, bei welcher gekaute Wurzeln und Blätter mit Waſſer übergoſſen und einer leichten Gährung übergeben werden, um damit einen mäßig berauſchenden Trank zu gewinnen, wie die Kawa der Südſee— Inſeln. Bei den ackerbauenden Völkern quetſcht und maiſcht man Cerealien ein, an Stelle der in den älteſten Zeiten angewandten Blätter und Wurzeln, die dann noch ge— braucht werden, um den ſo bereiteten ver— ſie leichter in Gährung zu bringen. Hopfen war den Alten unbekannt, aber ver— ſchiedene Pflanzen erſetzten ſeine würzende Kraft, und obgleich dieſe Pflanzen ſich nicht in demſelben Maße der Eigenſchaft erfreuen, die Getränke haltbar zu machen, ſo trugen ſie doch zur beſſeren Gährung bei. Man ſetzen: es iſt der Stengel einer Pflanze, welchen man trocknet und für dieſen Ge— brauch aufbewahrt;!) auch der chineſiſche ung einleitet. ) Wood, BE: p. 6. Natural History of Man ſchiedenen Bieren Würze zu verleihen und Der ſagt uns, daß die Kaffern keine Hefe haben, aber fie durch eine ſonderbare Subſtanz er- Hopfen iſt eine Art Hefe, welche die Gähr- Buckland, Ueber den Gebrauch von Erregungsmitteln bei wilden Völkern 2c. Bei den Hirtenſtämmen ſtellt die Milch der Heerden das natürlichſte Getränk dar; die Unmöglichkeit, ſie lange friſch zu er— halten, und die Schnelligkeit, mit der ſie in Gährung übergeht, haben dazu führen müſſen, ſie in die Form eines ſtarken Er— regungsmittels überzuführen, während auf einer vorgeſchritteneren Civiliſationsſtufe der Traubenſaft ſchrittweiſe die Getränke der primitiven Zeiten erſetzte. Aber man kann immer mit einiger Beſtimmtheit die ur— ſprünglichen Phaſen bezeichnen, durch welche jede dieſer Gewohnheiten hindurch gegangen iſt. So iſt die Gewohnheit der Wilden, verſchiedene Blätter und Samen zu kauen, ſei es um ihren Durſt zu löſchen oder ihre Kräfte zu vermehren, von den ackerbauen— den Völkern in der mediciniſchen Anwend— ung bewahrt, wobei der Käuung eine be— ſondere Wirkſamkeit beigemeſſen wird. Da— hin gehört, wenn man in Mittelafrika die Kawa-Wurzel kaut und ſogleich auf die Wunde legt, um den Wurm N'gwa zu bekämpfen. Die Gährung der Körner wurde vermuthlich im Anfang ſtets durch die Käuung eingeleitet, in derſelben Art, wie man noch jetzt die Kawa in der Süd— ſee zur Gährung bringt; aber dieſes Ver— fahren iſt jetzt beſchränkt auf die Chica Süd— amerikas und das Reisbier von Formoſa, wie wir das weiter oben erwähnt haben, während die erregenden Eigenſchaften ver— ſchiedener von den Wilden entdeckten Pflan— zen in allen Zeiten von mediciniſchen Ge— ſichtspunkten aus verwerthet wurden. Die Vergötterung verſchiedener Pflanzen, welche wir beim Urſprunge der Religionen finden, und ihre Widmung an verſchiedene Gott— heiten, erreicht ihren Culminationspunkt in dem allgemeinen Kultus des Bacchus im hochciviliſirten Griechenland und Rom. Die Eigenſchaft, Geſundheit zu verſchaffen, welche Re Buckland, Ueber den Gebrauch von Erregungsmitteln bei wilden Völkern ꝛc. man verſchiedenen oben erwähnten Tränken zuſchrieb, gab ihrem Genuſſe einen religiöſen Charakter in dem Maße, daß alle Trink— gelage, von den Kawa-Libationen der Süd— ſee-Inſeln bis zu den Feſten des gebildeten Griechenlands, mit den Göttern dargebrachten Libationen begannen. Ebenſo hatten ver— ſchiedene Ceremonien, welche bis auf unſere Tage gekommen ſind, unter anderen das Geſundheit-Trinken bei den Geburts- und anderen Feſten, zum Ausgangspunkt die Gebräuche bei den alten gegohrenen Ge— tränken, ebenſo gewiſſe an dieſen Gebrauch geknüpfte Verbote. Den Prieſtern von He— liopolis und anderen Orten war es ver— boten, Wein zu trinken; bei den Kaffern iſt es den Frauen unterſagt, die Milchgefäße zu berühren; in den erſten Zeiten der rö— miſchen Geſchichte war es den Frauen ver— boten, Wein zu trinken. Man ſcheint auch den zum Trinken be- ſtimmten Gefäßen eine gewiſſe Wichtigkeit beigemeſſen zu haben. Bei den älteſten Völkern hatten die Trinkgefäße eine ſolche Form, daß ſie auf einen Zug geleert wer— den mußten. In der Südſee trinkt man Bananenblatt geformt ſind, und die man mit einem Zuge leert und dann umſtülpt, bevor man ſie von Neuem füllen läßt. Das Blatt iſt vielleicht als der paſſendſte Behälter, die Produkte der Pflanze aufzu— nehmen, betrachtet worden, denn wir können bemerken, daß man ſelbſt in Zeiten, wo Topfgeſchirre ſchon im Ueberfluß vorhanden waren, immer noch Blätter zu Trinkge— ſchirren umformte. Plinius ſagt uns, daß die Egypter die Blätter der Colocaſia mit ſo viel Geſchicklichkeit zuſammenrollten, daß ſie ſich derſelben zum Trinken bedienen In mehreren Theilen Afrikas konnten. fabrizirt man noch aus Gräſern Gefäße, 375 die dazu beſtimmt ſind, Bier und Milch auf— zunehmen; man verfertigt Körbchen in ver— ſchiedenen Farben, die dicht genug ſind, um Waſſer zu halten.!) Man hat analoge Ge— fäße neben peruaniſchen Mumien gefunden, und wir können vielleicht die zarten Ge— flechte, welche die chineſiſchen Porzellanvaſen umgeben, wie ein Ueberbleibſel einer ähn— lichen Gewohnheit betrachten. Ich habe nichts von der Deſtillirkunſt geſagt, weil dieſelbe verhältnißmäßig neu iſt. Ihre Erfindung wird gewöhnlich den Arabern beigemeſſen; aber ſie war ohne allen Zweifel ſehr früh den Tataren be— kannt, welche aus ihrem Kumiß einen Alkohol zogen, den ſie Araka nannten, ein Name, der wegen ſeines hohen Alters mit einigem Grund als die wahre Quelle betrachtet werden kann, von welcher der Arak der Inder ſeinen Namen bekommen hat.) Man nimmt an, daß Plinius auf dieſe Kunſt anſpielt, wo er ſagt: „Oh wunderſame Erfindungsgabe des Laſters! ſie hat das Mittel, ſogar das Waſſer be— rauſchend zu machen, entdeckt.“) Zoſimus gilt als derjenige, welcher im vierten oder jetzt die Kawa aus Humpen, die aus einem fünften Jahrhundert zuerſt einen Deſtillir— helm in Gang brachte. Aber, welches auch das Alter dieſer Kunſt ſein mag, das Un— glück unſerer modernen Civiliſation mußte es ſein, dieſes verderbliche Feuerwaſſer bei den wilden Völkerſchaften einzuführen, wo es an vielen Orten die gegohrenen, mäßig wirkenden Erregungsmittel, an welche dieſe Völker gewöhnt waren, verdrängt hat und einer der Hauptfaktoren ihrer ſchleunigen Vernichtung geworden iſt. 1) Bollaert, America, p. 157. ) Morewood, a. a. O. S. 67. FPIInius, iy. AI Antiquities of South D Kosmos, III. Jahrg. Heft 11. 49 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Die erſten zweihundert Aſteroiden. = Novemberheft des Jahrgangs 1879 für Geographie und Statiſtik“ von Prof. Dr. Carl Arendts, auf welche wir durch Entnahme kürzerer und längerer Notizen wiederholt die Aufmerk— ſamkeit unſerer Leſer gelenkt haben, hat Dr. J. Holetſchek eine leſenswerthe Dar— ſtellung unſeres Wiſſens von den in der „Kosmogonie“ häufig zu einer verkehrten Rolle mißbrauchten „Kleinbürgern“ unſeres Sonnenſyſtems gegeben, aus welcher wir folgenden Auszug entnehmen: „Durch die von Peters am 27. Juli 1879 aufgefundene „Dynamene“ hat die Zahl der bekannten Körper aus dieſer Gruppe, die uns im Jahre 1845 bis auf vier und vor dem 19. Jahrhundert noch ſämmtlich fremd waren, auf zweihundert erhöht. Unter den letztverfloſſenen Jahren weiſt alſo jedes im Durchſchnitt ſechs neue Aſteroiden auf, und wenn ſich auch zeitweiſe in der Anzahl der Entdeckungen eine Ab- nahme bemerkbar machte, ſo trat doch ſehr bald eine raſche Steigerung ein. Der Reiz der Neuheit iſt lange vorüber und gegen— wärtig häufen ſich dieſe Planeten-Entdeck— ungen in einem ſolchen Maße, daß ſie von der trefflichen „Deutſchen Rundſchau manchen Aſtronomen gar nicht mehr beachtet werden. Die zuerſt aufgefundenen Körper aus dieſer Zone haben noch ziemlich anſehn— liches Volumen, ſie erſcheinen während der Oppoſition wie Sterne der ſiebenten oder achten Größe; jetzt aber muß man ſich ſchon mit Planeten der elften oder zwölften, mit- unter gar der dreizehnten oder vierzehnten Größenklaſſe begnügen. Da uns die ge— ſteigerte optiſche Kraft unſerer Fernrohre befähigt, noch lichtſchwächere Geſtirne als bisher zu erkennen, ſo iſt gegründete Aus⸗ ſicht vorhanden, daß die Entdeckungen auf dieſem Gebiete immer mehr zunehmen werden; weil aber ſchon unter den jetzt bekannten Aſteroiden einige ſo klein ſind, daß ſie auf ihrer Oberfläche gerade noch die Stadt London aufzunehmen vermögen, ſo dürften wir ſchließlich bei Körpern anlangen, die ſich von unſern Meteorſteinen nicht mehr durch die Größe, ſondern nur dadurch unter— ſcheiden, daß ſie ſich ſtreng in der Aſteroiden— gegend um die Sonne bewegen. Wie weit ſich die einzelnen Länder bis- her an dieſen Entdeckungen betheiligt haben, erſieht man aus folgenden Zahlen. Von den jetzt bekannten 200 kleinen Planeten wurden aufgefunden: in Italien 11, Deutſch— land 28, Oeſterreich 17, Frankreich 60, Großbritannien 15, Dänemark 1, Aſien 5 und endlich in den Vereinigten Staaten von Nordamerika 63. Unter den Aſtronomen ſelbſt war Prof. C. H. F. Peters zu Clinton (New-York) am meiſten vom Glück begünſtigt, da er bereits 36 Geſtirne als Planeten erkannt hat. Zu Anfang des Jahrhunderts hat der Umſtand, daß die Bahnen der Ceres und Pallas einander ziemlich nahe kommen, zu der Vermuthung geführt, dieſe Planeten könnten durch Zerſplitterung eines größeren Körpers entſtanden fein (Olbers); dieſe Hypotheſe glaubte man ſpäter auf alle kleinen Planeten ausdehnen zu müſſen, beſonders als die Entdeckungen ſeit 1847 in ungeahnter Schnelligkeit aufeinander folgten. Dieſe Meinung iſt noch jetzt in manchen neueren Schriften zu finden, obwohl ſie ſchon im Jahre 1860 durch die mathematiſchen Unter— ſuchungen von S. Newcomb widerlegt worden iſt. Da man aber durchaus einen gemeinſchaftlichen und gleichzeitigen Urſprung dieſer Planetengruppe beweiſen wollte, ſo verſuchte man in den Bahnelementen eine Geſetzmäßigkeit oder doch eine Aehnlichkeit zu finden, und wirklich zeigte ſich anfänglich zwiſchen den Excentricitäten und Neigungen ein gewiſſer Zuſammenhang (d' Ar reſt), der ſich aber bei ſpäteren Planeten wieder als illuſoriſch herausſtellte. Auch meinte man, daß in dem vielfach verſchlungenen Gewirre von Bahnen, die auf einem verhältnißmäßig engen Raum aneinandergedrängt ſind, zeit— weilig ein Zuſammenſtoß oder doch eine größere Annäherung zwiſchen zwei Aſteroiden ſtattfinden müſſe (Littrow); ausgedehnte Unterſuchungen ergaben jedoch, daß in dieſem Chaos nicht die geringſte derartige Störung eintritt. Die Aſteroiden ſpotten demnach vorläufig aller Combinationsverſuche und Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. jeder umkreiſt die Sonne als ſelbſtſtändiges Individuum. Nur eine Eigenthümlichkeit zeigt fih 5 Jahre 340. Tage; dieſe Umlaufszeit . . Jahren. 377 in dieſem Planetengürtel, die erſt jetzt deut— licher hervortritt, wo man ſchon eine be— trächtliche Anzahl von kleinen Planeten kennt. Wird die mittlere Entfernung der Erde von der Sonne als Einheit gewählt, fo liegen die halben großen Achſen ſämmtlicher 200 Aſteroiden zwiſchen zwei und vier, alſo, nach dem dritten Kepler'ſchen Geſetz, die Umlaufszeit zwiſchen drei und acht Obwohl nun innerhalb dieſer beiden Grenzen die mannichfaltigſten Ver— ſchiedenheiten vorkommen, ſo bemerkt man doch, wenn man die Planeten nach ihrer mittlern Entfernung von der Sonne an— ordnet, hie und da größere Lücken. An— fangs wurden dieſelben nicht beachtet, da man ſie einfach unſerer mangelhaften Kennt— niß des Aſteroidengürtels zuſchrieb. Als aber dieſe Lücken trotz der zahlreichen neueren Planeten-Entdeckungen nicht ausgefüllt wur— den, mußte man ſich der Anſicht zuneigen, daß ſie nicht zufällig, ſondern in der Natur begründet ſeien; in der That fand man ſehr bald, daß ſie durch die Anzieh— ungskraft des mächtigen Jupiter bewirkt werden. Sämmtliche Lücken treten nämlich dort auf, wo die Umlaufszeit eines Planeten zu der des Jupiter in einem ſehr einfachen Verhältniſſe ſtehen würde. Hier kann aber kein Planet dauernd bleiben, denn er müßte durch die in regelmäßiger Folge wieder— kehrenden Störungen aus ſeiner Bahn immer mehr herausgeriſſen werden, bis er eine Umlaufszeit erhält, die zu der des Jupiter nicht mehr commenſurabel iſt, wenn er nicht gar in irgend einer Weiſe feinem Unter- gange zueilt. Eine große Kluft iſt z. B. zwiſchen den Bahnen der Gerda und Sibylla. Nun bewegt ſich Jupiter in 11 Jahren 315 Tagen um die Sonne. Die Hälfte davon beträgt — . müßte alſo derjenige Planet beſitzen, der genau zwei Umläufe macht, während Jupiter nur einen vollzieht. Ein ſolcher Planet exiſtirt aber nicht, denn die Umlaufszeit der Gerda iſt um 54 Tage kleiner, die der Sibylla aber ſchon um 102 Tage größer als dieſer Zeitraum. Eine andere große Lücke befindet ſich zwiſchen Thetis und Heſtia, wo ein Aſteroid den dritten Theil der Um— laufszeit des Jupiter haben müßte. Nicht weit jenſeits der Hilda würde ein Planet dreimal um die Sonne wandern, während Jupiter zweimal herumgeht, und in der That iſt Hilda der äußerſte Aſteroid. In ähnlicher Weiſe müßte ein Planet, der ſich während eines Jupiter-Umlaufes genau vier- mal um die Sonne bewegt, ſchon innerhalb der Flora-Bahn ſein, aber auch hier hat man mit Sicherheit noch keinen gefunden. Wäre das Umlaufsverhältniß zwiſchen Jupiter und einem Aſteroiden 2/;, jo müßte dieſer zwiſchen Galatea und Terpſichore fallen; wäre es /, zwiſchen Camilla und Hilda, bei ½ zwiſchen Pſyche und Heſperia ꝛc.; thatſächlich zeigen ſich hier überall klaffende Lücken. Von dieſem Geſichtspunkte aus ſondern ſich alle kleinen Planeten in charakteriſtiſche Gruppen, und es kann ſchon im Voraus als erwieſen gelten, daß die Lücken auch durch ſehr zahlreiche Entdeckungen nicht aus— gefüllt werden, weil eben an dieſen Stellen keine Planeten exiſtiren können. Auch Sa— turn erzeugt Lücken im Aſteroidengürtel, die und geringern Maſſe viel kleiner und daher wenig auffallend ſind. Dieſe ſtrenge Vertheilung in gewiſſe Gruppen iſt die einzige wohlbegründete Er— ſcheinung, die man bei den Aſteroidenbahnen ein dieſe Planeten ſpeciell kennzeichnendes Ariadne und Feronia, bei ½ zwiſchen aber wegen ſeiner bedeutenden Entfernung 378 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Merkmal gelten, weil ſie von außen her, durch die Anziehung eines großen Planeten bewirkt wird und ſich eigentlich nur an den Grenzen einer Gruppe offenbart, während die innerhalb derſelben liegenden Bahnen davon ganz unberührt bleiben; man iſt daher wieder zu dem Reſultat gelangt, daß jeder Planet als eigenes Individuum beſteht. Die erſte Bahnbeſtimmung eines Aſte— roiden bietet im Vergleich mit einer Ko— metenbahn wenig Intereſſantes. Man kann ſchon im Voraus mit Gewißheit behaupten, daß die Umlaufszeit zwiſchen drei und acht Jahren liegt, daß die Neigung gegen die Ekliptik und der Excentricitätswinkel nur äußerſt ſelten größer als 20 Grade find ꝛc. Von einem neu entdeckten Kometen dagegen weiß man über die Lage und Dimenſionen ſeiner Bahn gar nichts; nur die eine Ver— muthung beſtätigt ſich gewöhnlich, daß der Komet zur Zeit der Auffindung nicht weit von ſeinem Perihel entfernt iſt. Es be— mächtigt ſich daher eines jeden Aſtronomen, ſo oft er die Bahnelemente eines neuen Kometen beſtimmt, während der Rechnung eine gewiſſe Spannung, beſonders dann, wenn ſich allmählich ergiebt, daß der neue Gaſt in der nächſten Zeit für das unbe— waffnete Auge ſichtbar wird; eine Planeten— bahn kann er aber in voller Ruhe durch— rechnen, denn er hat von derſelben nichts weſentlich Neues zu erwarten. Nur dann nimmt ſie ſein ganzes Intereſſe in Anſpruch, wenn er einen verloren gegangenen Planeten wieder zu Stande bringen ſoll. Die alljährlich wiederkehrende Voraus | berechnung der Ephemeriden für die große Zahl von 200 Planeten erfordert eben entdeckt hat; ſie kann aber doch nicht als Verhältniſſe in dieſem Zweige der Himmels— viele Arbeit, und die Aſtronomen werden dadurch ihren anderweitigen Forſchungen entzogen. Es iſt merkwürdig, wie ſich die JJ ER ER EEE Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. kunde geändert haben. Früher ſehnte man ſich immer nach der Entdeckung eines zwiſchen Mars und Jupiter ſchon lange vermutheten Planeten, und als man denſelben endlich in der Ceres gefunden zu haben glaubte, mußte man bald die Erfahrung machen, daß hier nicht blos ein Planet exiſtire, ſondern eine Unzahl, die uns jetzt nahezu erdrückt. Es geht uns wie dem Zauber— lehrling, nur mit dem Unterſchied, daß der Meiſter noch lange nicht kommen will. Aus dieſem Anlaß wurde den Aſtronomen in der letzten Zeit öfters der „menſchenfreund— liche“ Rath ertheilt, die neu entdeckten Pla— neten nicht weiter zu berechnen, ſondern ein— fach laufen zu laſſen! Wenn man nicht ohnehin ſchon durch das wiſſenſchaftliche Ehr— gefühl zu einem wackeren Ausharren ver— pflichtet wäre, ſo müßten ſich die nachtheiligen Folgen eines ſo feigen Rückzuges dennoch bald als ſehr unliebſame Erfahrungen offen— baren; man könnte nämlich gar nicht mehr feſtſtellen, ob ein Aſteroid, den man zufällig im Geſichtsfeld ſeines Fernrohres hat, ein neuer oder vielleicht ein ſchon lange be— kannter iſt. Denn das muß man ſich wohl vergegenwärtigen, daß ſich die kleinen Pla— neten mit ſeltenen Ausnahmen von einander gar nicht unterſcheiden; Danae ſieht z. B. gegenwärtig genau fo aus wie Leto oder Klio, ferner Kyrene wie Gerda ꝛc. Einen „älteren“ Planeten erkennt man nur aus ſeinem Ort | | am Himmel und aus der Größe und Kit ung ſeiner Bewegung; hie und da giebt auch noch die jeweilige Helligkeit einen An— haltspunkt. Dieſe Beſtimmungsſtücke müſſen aber durch die Rechnung ermittelt werden, und man iſt alſo nur dann in der Lage, ein ſolches Geſtirn mit Sicherheit als neu zu bezeichnen, wenn man die Bahnen der älteren Planeten bereits kennt. Es iſt daher ein großes Verdienſt der 379 Berliner Sternwarte, daß ſie ſich der Aſte— roiden mit allen Kräften angenommen hat. Sie bringt in ihrem aſtronomiſchen Jahr— buch die Vorausberechnungen für ſämmt— liche Planeten, während ſie überdies durch ihre monatlich zweimal erſcheinenden Circu— lare den jedesmaligen Stand der Beobacht— ungen und Rechnungen mittheilt, ſo daß jeder Aſtronom ſofort erſieht, was während der letzten Wochen in dieſem Wiſſenszweige geleiſtet wurde, um allenfalls bei einem noch mangelhaft beobachteten Planeten ſelbſt nach— zuhelfen. Auf dieſe Weiſe iſt das „königl. Inſtitut zur Herausgabe des Berliner aſtro— nomiſchen Jahrbuchs und zur wiſſenſchaft— lichen Ausbildung im Rechnen“ zum Cen— tralpunkt für die Aſteroidenkunde geworden. Die wohlthätigen Folgen dieſes Unternehmens haben ſich ſchon mehrfach gezeigt; es ſind nämlich in den letzten Jahren, obwohl die Planetenzahl bedeutend gewachſen iſt, dennoch verhältnißmäßig weniger Verluſte eingetreten als früher. Dieſe rege Thätigkeit wird auch durch auswärtige Aſtronomen beſtens unterſtützt; es werden in Deutſchland 117, Oeſterreich 15, Frankreich 9, England und Rußland je 4, Schweden 3 und in Nordamerika 48 Planetenbahnen gerechnet. Man wird unwillkürlich verſucht, aus dieſen immerhin überraſchenden Zahlen gewiſſe Schlüſſe zu ziehen; dabei möge man ſich noch vor Augen halten, daß ſolche Rechnungen blos geiſtige Befriedigung gewähren und keinen materiellen Vortheil bringen. Die Regierung der Vereinigten Staaten ſetzt in neueſter Zeit einen gewiſſen Stolz darein, die in Amerika entdeckten Planeten auch wieder daſelbſt berechnen zu laſſen, um gewiſſermaßen ihre Kinder nicht fremden Leuten zur Erhaltung und Pflege aufzu— bürden, und ſo iſt denn durch das Office EN. 2.22. er.) Te 0 380 of the American Ephemerids and Nauti- über. cal Almanac zu Waſhington ſchon eine große Zahl von Ephemeriden bearbeitet und Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Der äquatoriale Theil der Anden gehört mit zu jenen Gebirgen, in welchen zuerſt barometriſche Höhenmeſſungen in grö— dem Berliner Jahrbuch übermittelt worden. in der erſten Hälfte des vorigen Jahrhun— Gerechtes Staunen erregen vor allen andern die Leiſtungen des Dr. Maywald in Berlin, der z. B. für das Jahr 1879 die Ephemeriden von 71 Planeten, ſomit mehr als den dritten Theil berechnet hat. Wahr— lich, ſo lange die Aſtronomie über ſolche Kräfte verfügt, wird ſie auch die noch in Ausſicht ſtehenden Aſteroiden bemeiſtern können. Sinken die Anden? In der Sitzung vom 3. Januar 1880 der Berliner Geſellſchaft für Erdkunde hielt Dr. W. Reiß einen Vortrag über das an— gebliche Sinken der Anden, dem wir das Folgende entnehmen. Der Vortragende hat mit Dr. Stübel in Dresden, der gleich ihm Geologe von Fach iſt, während der Jahre 1868— 1876 eingehende Unterſuchungen der vulkaniſchen Gebirge Südamerika's unter- nommen, in Folge deren unſere geologische und geographiſche Kenntniß dieſes Theiles der Erde zum Theil eine neue Geſtaltung angenommen hat. Er wandte ſich nun in ſeinem Vortrage gegen jene, ſeit etwa ßerem Maßſtabe angeſtellt wurden. Schon derts ſtellten Bouguer und La Conda— mine während ihres langjährigen Aufent— haltes eine Reihe von Meſſungen an, zum Theil in Verbindung mit den Behufs der Gradmeſſung ausgeführten trigonometriſchen Arbeiten. In den Anfang unſeres Jahr— hunderts fällt die berühmte, auch an Höhen— meſſungen fo reiche Reife A. v. Humboldt's und in den dreißiger Jahren wurde aber- mals dieſelbe Gegend von einem ausgezeich- neten und fleißigen Beobachter durchwandert. Außerdem liegen noch vereinzelte, zu ver— ſchiedenen Zeiten ausgeführte Meſſungen von Caldas, Jameſon, Wiſſe und Frieſach vor, ſo daß ein reiches und über einen Zeitraum von faſt 1½ Jahrhundert glücklich vertheiltes Beobachtungsmaterial ſich den am Ende der ſechziger Jahre ausgeführten Meſſungen zur Vergleichung darbot. Aller- dings ergaben nun für eine Anzahl von Orten und Berggipfeln die in großen Inter— 10 Jahren in Folge Veröffentlichung der Reſultate der Reiſen des Profeſſor Orton in Newyork allgemein bekannt gewordene Anſicht, daß durch die wiſſenſchaftlichen Be- obachtungen ein allmähliches Sinken der Anden in Südamerika bewieſen ſei. Dieſe | erſtaunliche Neuigkeit hatte durch die eigenen Höhenmeſſungen des Vortragenden und ſeines | Collegen, wie es ſchien, eine Beſtätigung erhalten und ging ſeitdem nicht nur in die Tagespreſſe, ſondern auch in Lehrbücher ꝛc. vallen aufeinanderfolgenden Meſſungen ſtets geringere Werthe, ohne daß ſich indeſſen eine Geſetzmäßigkeit in der Höhenabnahme erkennen ließ. Dies führte zu dem allge— meinen Schluſſe, daß die ganze Cordillere an Höhe abnehme und daß die einzelnen Gipfel im Zuſammenſinken begriffen ſeien. Um nur ein Beiſpiel anzuführen, ſo betrug die Höhe von Quito nach La Condamine (1740) 2925 Meter; nach A. v. Humboldt (1803) 2917 Meter; nach Bouſſingault (1831) 2910 Meter; nach Orton (1867) 2902 Meter; und nach Reiß und Stübel (1870) 2850 Meter. Dies würde für Quito eine Senkung von 75 Meter in 130 Jahren ergeben. Es iſt nun eigentlich wunderbar, daß man dieſe, für eine ſo große abſolute Höhe verhältnißmäßig geringe Differenz nicht aus der Verſchiedenheit der angewandten Baro— meter und Methoden zu erklären verſucht hat. Erſt ganz neuerdings hat ſich dieſes Inſtrument, das noch zu Bouguer's und Condamine's Zeit von geradezu kindlicher Einfachheit war, in ein mit allen möglichen Vorſichtsmaßregeln hergeſtelltes Werkzeug verwandelt, mit dem wir viel leichter, ſchneller und genauer arbeiten, als unſere Vorgänger. Den Grund, warum man die gewagte An— nahme der Gebirgsſenkung vorgezogen hat, findet der Vortragende darin, daß die Leo— pold v. Buch'ſche Erhebungstheorie und das Pentagonalnetz Elie de Beaumont's in der wiſſenſchaftlichen Welt die Herrſchaft aus— übten, als Bouſſingault ſeine Reiſen in Südamerika ausführte. Dieſem geiſtreichen Forſcher konnte die Unhaltbarkeit der „glocken— förmig aufgetriebenen Trachyt-Dome“ nicht entgehen und er ſtellte deshalb folgende An— ſicht auf: Durch unterirdiſche Kräfte werden ſchon faſt völlig erſtarrte Geſteinsmaſſen in die Höhe gepreßt, zertrümmert und in einem wilden Chaos von Blöcken unter der dem Drucke nachgebenden Erdrinde aufgehäuft. So ſind die Anden aufgerichtet. Wo ſich bei der Hebung Spalten bilden, da wird die unterirdiſche Blockmaſſe an die Oberfläche geſchoben, ſo daß die hohen Trachytberge aus loſe übereinandergehäuften, ſcharfkantigen Geſteinsblöcken be— ſtehen. Die Erhebung der Anden gehört den jüngſten geologiſchen Epochen an, es iſt ſomit leicht verſtändlich, daß unter dem Drucke der aufliegenden Gebirgs-Maſſen und unter dem Einfluſſe der einſickernden Gewäſſer ein Zuſammenſetzen der loſe gehäuften Unterlage unter Erdbeben-Erſchein— ungen ſtattfinden muß. Dieſe Bouſſin— Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 381 gault'ſche Hypotheſe war wohl die Urſache, daß man ſpäterhin in voreiliger Weiſe weit— gehende Schlüſſe aus den in Südamerika gemachten barometriſchen Höhenmeſſungen zog. Der Vortragende ſchaltet hier die Be— merkung ein, daß es Geologen der neueren Schule, welchen es vergönnt iſt, die Anden Ecuador's zu unterſuchen, ganz unbegreiflich erſcheinen muß, wie es möglich war, hier Anhaltspunkte zur Be— gründung der vorerwähnten Hypotheſen über den Bau des Gebirges zu finden. Compakte Trachytdome, aus loſen Blöcken aufgehäuft, giebt es nicht. Die ſedimentären Schichten, die Gneiſſe, die Glimmer- und Hornblende-Schiefer, ja auch die Syenite und Grünſteine treten unter Verhältniſſen auf, welche den an europäiſchen Gebirgen beobachteten völlig entſprechen; alle dieſe vulkaniſchen Berge ſind einfach durch Auf— ſchüttung entſtanden. Der Vortragende ging nun über zur Unterſuchung der Frage, ob denn überhaupt das Barometer Höhenbeſtimmungen von ge— nügender Genauigkeit gewähre, um ſo ſchwie— rige Fragen, wie das Sinken einer Gebirgs— kette, zu löſen. „Allerdings kann man unter ſehr günſtigen Verhältniſſen, wenn lange Reihen correſpondirender Barometerbeobacht— ungen vorliegen, in der Höhenbeſtimmung auf dieſem Wege ein recht gutes Reſultat erlangen. Für die Andenkette liegt aber das Alles nicht vor; ja, wir beſitzen nicht einmal für die Nord- und Nordweſtküſte Südamerikas das Material, um zuver— läſſige Mittel für die verſchiedenen Jahres— zeiten oder gar für die einzelnen Monate feſtzuſtellen. Deshalb legen die einzelnen Reiſenden ziemlich willkürliche Annahmen über den Stand des Barometers im dortigen Meeresniveau zu Grunde. Jeder aufmerk— ſame Reiſende wird ſich leicht von der Un— 6500 ſicherheit einzelner Barometer-Beobachtungen überzeugen, wenn er ſich nur die Mühe giebt, die zu verſchiedenen Stunden deſſelben Tages mit demſelben Inſtrumente ausge— führten Beobachtungen zu berechnen und zu vergleichen. Er wird dann ſehen, daß mit der ſteigenden Tages-Temperatur auch feine Höhen zunehmen, um dann bei eintretender Abendkühle wieder zu ſinken. Berechnet man ſolche Reihen, ſo wird man Höhen— differenzen bis zu 50 und mehr Meter finden. So geben faſt alle Beſchreibungen des Amazonenſtromes Zeugniß für dieſe ſogenannte barometriſche Anomalie, faſt alle Reiſenden haben zu ihrem Erſtaunen bemerkt, daß ſie, flußabwärts fahrend, ſich Nach— mittags — nach dem Barometer berechnet — in größerer Höhe zu befinden ſchienen, als am Morgen deſſelben Tages Auch auf Dr. Reiß und Dr. Stübel dieſelbe Er— fahrung gemacht. Können ſolche Unſicher— heiten vorkommen, wenn ein- und derſelbe Beobachter mit demſelben Inſtrumente be— obachtet und mit derſelben Formel rechnet, wie kann man dann erwarten, zuverläſſige Reſultate aus der Vergleichung von Beob— achtungen zu erlangen, welche von verſchie— denen Beobachtern mit ganz ungleichartigen Inſtrumenten ausgeführt und nach den ver- ſchiedenartigſten Methoden berechnet worden ſind. Noch eine andere Thatſache iſt hier zu erwähuen. Es zeigt nämlich die baro— metriſche Tagescurve in großen Höhen eine andere Geſtalt, eine andere Lage, als am Meeresniveau. Die beiden Extreme nähern ſich, ſie rücken Beide gegen den Mittag vor, indem die Amplitude Beider ſich gleichartig verringert, ſo daß die Grenze nicht allzufern erſcheint, bei welcher die Oscillationen des Luftmeers ſich ausgleichen oder auf ein Mi— nimum reduciren. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. | zweifelhaft feſtſtehen, daß die Reſultate barometriſcher Höhenmeſſungen durchaus nicht geeignet ſind, ein Sinken der Anden zu conftatiren, die gefundenen Differenzen liegen innerhalb der der angewendeten Methode anhaftenden Fehlergrenzen. Es liegt nun nahe, als Erſatz an trigonometriſche Meſſungen zu denken; dieſe beruhen aber in den Hochgebirgen Süd— amerikas ſämmtlich auf Dreiecken, deren Baſen in barometriſch beſtimmten Höhen von 2— 4000 Meter gemeſſen werden. So werden wir feſte Daten in Südamerika überhaupt erſt mit Schaffung künſtlicher Verkehrswege, nach Anfertigung genauer, auf Triangulation beruhender topographiſcher Karten erreichen. Dieſe Zeit liegt noch fern und müſſen wir ſomit darauf verzichten, Ber- änderungen der Anden direkt nachzuweiſen. dem Magdalenenſtrom haben die Herren Eine Hebung oder Senkung des Gebirges iſt nicht denkbar, ohne daß die Baſis in Mitleidenſchaft gezogen würde, welches in dieſem Falle die Weſtküſte von Südamerika ſein würde. Nun laſſen ſich Niveauſchwank— ungen in der Meeresküſte verhältnißmäßig leicht conſtatiren: Recente Muſchelablager— ungen auf dem trockenen Lande, durch Sand— und Geröll-Ebenen ausgefüllte Buchten zeigen eine Erhebung an; Das Einbrechen des Meeres und ähnliche Erſcheinungen deuten dagegen bekanntlich auf Senkung. Man betrachtet dabei, wiewohl dies wiſſen— ſchaftlich nicht richtig iſt, das Meeresniveau ſelbſt ſtets als conftant. Streng genommen ändert ſich die Vertiefung, das Gefäß der Waſſermaſſen der Meere, fortwährend, an— dererſeits aber iſt wohl auch die flüſſige Waſſermaſſe der Erde in ſtetem Abnehmen begriffen, indem die Waſſer, die Gebirgs— ſchichten durchfeuchtend, in die Erdrinde ein— dringen und durch Hydratbildung ebenfalls So dürfte es alſo un- beträchtliche Mengen gebunden werden. Auf Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 383 eine Störung noch viel tieferer Art hat neuerdings Herr Hann in Wien aufmerk⸗ ſam gemacht. Es ſteigt nämlich in Folge der Anziehung der Landmaſſen, das Meer an den Küſten verhältnißmäßig höher, als in der Mitte, ſo daß die Meeresoberfläche ſich nicht derjenigen eines Rotationsellipſoids an— ſchließt. Die Rechnung zeigt, daß 3. B. an der Peruaniſchen Küſte das Meeresniveau bedeutend höher ſteht als in der Mitte des Großen Oceans. Müſſen wir nun auch für praftiihe Zwecke das Meeresniveau als Baſis annehmen, ſo dürfen wir dabei doch nie vergeſſen, daß die beobachteten Hebungen und Senkungen des Landes nur die Diffe⸗ renzen zwiſchen den Veränderungen des Feſten und Flüſſigen unſerer Erde darſtellen. Zum Schluſſe ſeines Vortrages beſprach Herr Dr. Reiß ſämmtliche, an den Küſten von Südamerika bisher beobachtete Niveau— ſchwankungen. Vom Iſthmus beginnend, der eine Hebung zu erleiden ſcheint, finden ſich an der Nordküſte des Continents, an der ganzen Küſte von Venezuela Zeichen der aufſteigenden Bewegung; dies ſcheint längs der britiſchen, holländiſchen und franzöſiſchen Beſitzungen Guyanas auch der Fall zu ſein. Am Amazonenſtrom und längs der Oſtküſte nahm Agaſſiz eine Senkung an, obgleich von anderen Geſichtspunkten auch theilweiſe eine andere Erklärung möglich iſt. Vom Cap S. Noque am öſtlichen Ufer Braſiliens bis zum La Plata finden ſich überall Zeichen der Hebung, beim La Plata finden wieder Verhältniſſe ähnlich denen beim Amazonas ſtatt, die ganze Oſtküſte der Südſpitze iſt neuerdings dem Meere entſtiegen, ebenſo auch die Küſten der Magelhanſtraße. Die Weſtküſte bietet zunächſt im Chonos-Archipel Zeichen einer Senkung, dagegen finden ſich | vom ſüdlichen Chile bis nach Lima in Peru hinauf Erhebungserſcheinungen. Nördlich von Callao liegen kaum Beobachtungen vor, doch ſcheinen die Verhältniſſe bei Guayaquil für Hebung zu ſprechen. Auch an der paci- fiſchen Küſte von Columbia vermuthet Hr. Hann eine Hebung. Da wir alſo an beiden Küſten des Continentes, bis auf wenige Punkte, eine Hebung finden, ſo ſind wir wohl berechtigt, bis Beweiſe für das Gegen⸗ theil geliefert ſind, auch die gleichartige Be— wegung für die zwiſchenliegenden Landes— theile anzunnehmen. Somit glaubt Hr. Dr. Reiß zum Schluſſe ſeiner Betrachtung ausſprechen zu dürfen, daß im Gegen— ſatze zu Prof. Orton und in Ueberein— ſtimmung mit einem Ausſpruche Darwin's wir Süd-Amerika als einen auf⸗ ſteigenden] Continent betrachten dürfen. Ueber den Urſprung der einhei— miſchen Föhren- Arten. In den Denkſchriften der Wiener Aka— demie der Wiſſenſchaften (Mathemat.-natur- wiſſenſchaftl. Kl. Bd. XVXVIII S. 56) veröffentlicht Profeſſor Conſtantin von Ettinghauſen die Reſultate eines Spe⸗ cialſtudiums über die durch paläontologiſche Beweisſtücke belegte Abſtammung unſerer Föhrenarten, deren Hauptergebniſſe wir mit ſeinen eigenen Worten wieder geben wollen, nachdem wir vorausgeſchickt haben, daß man die Gattung Pinus (Föhre oder Kiefer) je nachdem, ob aus der Blattſcheide zwei, drei, oder fünf Nadeln hervortreten, in mehrere Abtheilungen geſchieden hat. Zu der Gruppe der zweinadligen Föhren gehören die meiſten europäiſchen Arten, nämlich die ge⸗ meine Kiefer (P. sylvestris), die Krumm— holzföhre (P. Pumilio), die Schwarzkiefer Kosmos, III. Jahrg. Heft 11. 50 (P. Laricio), die Pinie (P. pinea) u. A. Zu den Föhren mit gewöhnlich drei Na- deln in jeder Scheide gehört die amerika— | niſche Weihrauchföhre (P. Taeda) und zu denen mit meiſt fünf zuſammenſtehenden Nadeln die Arve oder Zirbelkiefer (P. Cem bra) unſerer Gebirge und die nordameri- | kaniſche Weymouthskiefer (P. Strobus). Dar— nach kann man zwei bis drei Hauptreihen unterſcheiden, die ſich ſchon in der Vorwelt bemerkbar machen, worüber der Verfaſſer in der Einleitung ſeiner Arbeit Folgendes ſagt: Elemente, ſomit die Stammarten der jetzi— „Die Tertiär-Flora umfaßt die Floren- | „ f nur im unterſten Horizont der Leobner gen Floren. lebenden Arten dürfte wohl als die Hauptaufgabe der wiſſenſchaftlichen Phyto- Paläontologie zu | betrachten ſein. Die vorliegende Abhand- lung bringt den erſten Verſuch zur Löſung dieſer Aufgabe. Sie enthält Unterſuchungen | über den Ursprung der einheimischen Föhren— arten. Das Reſultat derſelben iſt der Nach— weis der Abſtammungsreihen Laricio und Cembra und die Vereinigung dieſer Reihen in einem gemeinſamen Grundgliede, der älteſten Föhre der Tertiärzeit. Aus der Pinus Palaeo-Strobus find zwei Reihen von Föhren hervorgegangen, die eine Reihe enthält die zweinadligen, die andere die drei- bis fünfnadligen Föhren. Die Reihe der zweinadligen Föhren beginnt mit der Pinus Palaeo-Laricio, deren Den genetiſchen Zuſammen— | hang dieſer Stammarten mit den jetzt durch Auffindung der Zwiſchen⸗- und Uebergangsformen, d. h. der Abſtammungsreihen, direkt nachzuweiſen, giebt ſich ihre genetiſche Reihenfolge durch Nadelblätter ſich von denen der P. Palaeo- | Strobus kaum unterſcheiden, deren Samen aber die Merkmale der letzteren mit denen der P. Larieio vereinigen. Mit dem nächſt— folgenden Gliede der P. hepios werden auch die Nadelblätter denen der P. Laricio Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. ähnlicher. Die Samen nähern ſich nur durch die umfaſſende Flügelbaſis denen der P. Laricio, weichen aber durch den rundlichen Kern und den krummen Flügel von der— ſelben ab. Aus der P. hepios ging unſere Schwarzföhre (P. Laricio) hervor, welche durch die P. prae-sylvestris einerſeits mit der Weißföhre, andrerſeits mit der Krumm— holzföhre in genetiſcher Verbindung ſteht. Die Reihe der fünfnadligen Föhren be— ginnt mit der P. Palaeo-Cembra, deren Nadelblätter in der Länge und Breite denen der P. Cembra nahe kommen. Aus dieſer Flora (Braunkohlenformation von Leoben in Steyermark) aufgefundenen Art ent— wickelte ſich eine langſcheidige dreinadlige Föhre (P. prae-taedaeformis), deren Na— deln in ihren Eigenſchaften ſich wieder mehr der Urföhre (P. Palaeo-Strobus) nähern, eine ataviſtiſche Bildung darſtellend. Nun werden die Nadeln, welche in der Drei— zahl bleiben, breiter und länger; die Länge der Scheide nimmt noch zu (P. taedae- formis). Bei dem folgenden Gliede (P. post-taedaeformis) nimmt die Breite der Nadelblätter noch zu, hingegen die Länge der Scheide ab. Bei dem unmittelbaren Vorgänger der Zirbelkiefer (P. Prae-Cem- bra) endlich ſind die Scheiden noch kürzer und die Nadelblätter ſind denen der P. Cembra ſehr ähnlich geworden. Konnte der Zuſammenhang aller dieſer Föhrenformen durch die vorliegenden Ueber— gänge zweifellos bewieſen werden, ſo er— das Alter der Schichten, in welchen die ein— zelnen Glieder entweder zuerſt erſcheinen, oder ihre größte Verbreitung erreichen, oder im Ausſterben begriffen ſind. Zu der älteſten der von mir unterſuchten Tertiär— ſchichten kommen nur die Reſte 8 Föhrenart, P. Palaeo-Strobus, vor. In einer jüngeren Schicht (Leoben Horizont J) erſcheinen die beiden erſten dem Grundgliede folgenden Glieder der Reihen Larieio und Cembra, während das Grundglied in der Abnahme begriffen iſt. In einer dieſer letztern unmittelbar aufliegenden Schicht (Leoben Horizont II) fand ich P. hepios, welche von da an raſch an Häufigkeit ab— nimmt. Im oberſten Horizont von Leoben und in den gleichzeitigen Schichten von Schönegg (Steiermark) tritt augenſcheinlich an die Stelle der P. hepios die P. La- Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. | ricio, ihre größte Verbreitungszahl auf- weiſend. In den letztgenannten Schichten zeigt die P. prae-sylvestris noch eine jehr | rikaniſchen Formen einige Bemerkungen an— geringe Verbreitung. Dieſe wächſt aber in der einem jüngern Horizonte angehörigen Flora von Parſchlug (Steiermak). In der letzteren erreicht auch die P. Prae-Pumilio das Maximum ihrer Verbreitung. Die größere Aehnlichkeit dieſer mit P. prae- sylvestris läßt ihre genetiſche Beziehung zu jener annehmbar erſcheinen. Das Auf— treten der P. Prae-Pumilio in der einer ältern Stufe angehörenden Flora von Frohnsdorf ſetzt demnach auch das Vor— kommen der P. prae- sylvestris daſelbſt voraus und dürfte das vorzeitige Auftreten ſpäterer Glieder hier in lokalen Verhält— niſſen (Gebirgsflora) ihren Grund haben. Wie für die Glieder der Reihe Lari— cio ließen ſich auch für die der Reihe Cembra aus geologiſchen Daten genügende Anhaltspunkte finden, um ihre genetiſche Anordnung feſtzuſtellen. P. Palaeo-Cembra kommt in Schichten, die jünger ſind, als der Horizont I von Leoben, nicht vor, und ihre unmittelbare Beziehung zu P. Palaeo- Strobus iſt nicht zu bezweifeln. P. prae- taedaeformis bezeichnet die Schichten von Schönegg in entſprechend geringerer Ver— 385 breitung als die Mutterpflanze. In Par- ſchlug kommt dieſe Form nur in einem der untern Horizonte vor, während P. post- taedaeformis dort nur in einem höheren Horizonte erſcheint. Mit dieſer letzteren muß die P. Prae-Cembra in unmittelbarem Zuſammenhange ſtehen, da beide Formen ſich ſtets beiſammen finden. Daß die P. post-taedaeformis die ältere Form iſt, läßt ſich aus der größeren Aehnlichkeit der Mutterpflanze (P. taedaeformis) mit dieſer, als mit P. Prae-Cembra, ſchließen. Es ſei mir noch geſtattet, über die thatſächliche Verwandtſchaft der europäiſchen Urföhre und einiger ihrer Nachkommen in den Reihen Laricio und Cembra mit ame⸗ zuſchließen. Die nahe Verwandtſchaft dieſer und vieler anderer Tertiärpflanzen mit Arten der heutigen Flora von Nordamerika hat ihren Grund in der Zuſammenſetzung der Tertiärflora überhaupt aus den Elementen aller Floren. Man braucht nicht zu Hypo— theſen wunderbarer Pflanzenwanderung auf . geſchaffenen Continental-Verbindungen Zu- flucht zu nehmen, um dieſen Miſchungs— charakter der Tertiärflora zu erklären. Die Bildung der Arten ging zu allen Zeiten, ſowie noch heutzutage, nach demſelben Ge— ſetze vor ſich. Die Verbreitung der ter— tiären Stammarten muß im Allgemeinen größer geweſen ſein, als die der heutigen Arten. Aus noch weiter verbreiteten ein— facheren Pflanzenformen haben die tertiären Pflanzen ihren Urſprung genommen. Die Grundlage des Pflanzenreichs haben nur wenige über die ganze Erde verbreitete, ein— fachſte Formen gebildet. Die Annahme, daß, von den erſten Zeiten der Artbildung an, jede Art ihr eigenes Vegetationscentrum gehabt habe, von dem allein ſie ausgegangen fer, ſtößt auf Widerſprüche und Unwahr— 386 ſcheinlichkeiten. Weder die P. Palaeo-Strobus, noch die Stammpflanze derſelben find aus Amerika eingewandert, ſondern beide ſind in Eüropa urſprünglich entſtanden. Ebenſo iſt es höchſt wahrſcheinlich, daß die jetzt lebende P. Strobus aus einer in Nord— | amerika einheimischen Stammart hervorging, die entweder identiſch oder nächſtverwandt iſt mit unſerer P. Palaeo-Strobus. Einer aufmerkſamen Vergleichung der Foſſilreſte mit den entſprechenden Theilen der analogen jegtlebenden Pflanzen gelingt es zuweilen, ataviſtiſche Bildungen an letzteren und damit wichtige Fingerzeige auf die genetiſche Beziehung zu ihren Stamm— arten zu entdecken. Ich habe bereits bei einer früheren Gelegenheit meine Wahr— nehmung mitgetheilt, daß ataviſtiſche Er— ſcheinungen häufiger an kultivirten Pflanzen, als in der freien Natur beobachtet werden können.“ Waſſerthiere in Baumwipfeln.“) Elpidium Bromeliarum. Es iſt nicht zu verwundern, daß die feuchten, ſchattigen, mit mancherlei Nahrung gefüllten Verſtecke zwiſchen den Blättern der Bromelien von allerlei Gethier benutzt werden, und daß manche dieſer Thiere ſie zu ihrem Lieblingsaufenthalt erkoren haben oder ausſchließlich ihnen ihre Eier anver— trauen. So werden, nach den faſt dreißig— jährigen Erfahrungen meines Freundes ſcheint für die zahlreichen Larven von Kerfen der verſchiedenſten Ordnungen und für die Kaulquappen baumbewohnender Fröſche zu gelten, welche hier ihre Verwandlung durch— machen. 19 S. Kosmos, Bd. IV. S. 390. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Höchſt überraſchend dagegen iſt es, daß unter dieſen Waſſerthieren in den Wipfeln des Waldes auch ein Krebschen lebt, deſſen Verwandte man im Meere zwiſchen Tangen zu treffen gewohnt iſt. Es iſt ein wenig über 1 Millimeter langes Muſchelkrebschen aus der Familie der Cytheriden. Von den beiden artenreichen und über die ganze Erde verbreiteten Gattungen Cypris und Cythere, in welche der un— ermüdete Erforſcher der ſüßen und ſalzigen Gewäſſer von Dänemark, Otto Friedrich Müller, die ihm bekannten Muſchelkrebs— chen vertheilte, lebt die Cypris faſt aus— ſchließlich in ſüßem, die Cythere in ſalzi— gem Waſſer; nur ganz vereinzelte Aus— nahmen von dieſer Regel ſind bis jetzt bekannt geworden. Auch hier kannte ich bisher Cythere nur aus dem Meere, aus ſüßem Waſſer nur Cypris. Und nimmer hätte ich erwartet, meine alten Bekannten aus der Oſtſee, die ich einſt mit Max Schultze barfuß im Greifswalder Bodden watend geſammelt, hier auf den Bäumen meines Waldes widerzuſehen. Auf den erſten Blick freilich erkannte ich die Cythere der Bromelien nicht als Verwandte ihrer im Meere lebenden Vettern, da ſie ſich in der Geſtalt ihrer zweiklappigen Schale weit entfernt von allen anderen Cy— theren, ja von allen mir bekannten Muſchel— krebschen. Ganz allgemein beſitzen dieſe letzte— ren ſeitlich zuſammengedrückte Schalen, die weit höher als breit ſind und in der Regel die Friedenreich, faſt alle Käfer der Bro- melien nur in ihnen gefunden und daſſelbe Geſtalt einer Bohne oder einer Miesmuſchel haben. Bei der Bewohnerin der Bromelien dagegen iſt die Breite der Schale viel größer als die Höhe; dazu iſt die Bauch- ſeite flach und von einer Längsfurche durch— zogen, ſo daß ſie an eine Kaffeebohne er— innert. Jene fallen daher außer Waſſer auf die Seite, dieſe kommt auf den Bauch Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. oder auch wohl auf den Rücken zu liegen. Das iſt wohl eine Anpaſſung an ihren Aufenthaltsort. Im Meere klettern die Cytheren an dünnen Tangzweigelchen; in den Bromelien müſſen ſie ſich auf den brei- ten, glatten Flächen Blätter bewegen. Ich ſagte, daß mir unter den lebenden Muſchelkrebschen keine ähnliche Schalenform bekannt ſei, wohl aber kommt merkwürdiger— weiſe unter den älteſten verſteinerten Cy— aneinanderliegender 387 theriden, die Barrande aus den ſiluriſchen Schichten Böhmens beſchrieben hat, eine Art vor, Elpe pinguis, von welcher unſer Bromelienkrebschen ein getreues Abbild in fünfmal verjüngtem Maßſtabe iſt. Letzteres habe ich daher Elpidium Bromeliarum ge— nannt; denn obwohl ohne hervorſtehende Eigenthümlichkeiten im Bau feiner Glied— maßen, paßt es doch in keine der Gat— tungen, in welche man neuerdings die alte Gattung Cythere aufgelöft hat. 50 N N Elpidium Bromeliarum Fr. Müller, ein Bäume bewohnender Muſchel-Krebs. 1 von oben, 2 von unten, 3 nach Entfernung der rechten Schale von der Seite geſehen. 4 Vorderer Fühler. 8 Marilla. 5, 6 Hinterer Fühler des Männchens und Weibchens. 9, 10, 11 Füße vom 1., 2. und 3. Paar. 7 Mandibel. 12 Leibesende des Weibchens von . unten. 13 und 14 Ei und Junges aus der Schale der Mutter. 15 Elpe pinguis Barr. 5 Die Vergrößerung iſt bei 1— 3 = 10: 1, bei 4— 12 = 72: 1 und bei 13 u. 14 = 36: 1. Soweit ich mich bis jetzt nach ihm habe umſehen können, vom Meere bis etwa 100 Kilometer landeinwärts, iſt hier Elpidium überall in den baumbewohnenden Brome— lien des Urwaldes häufig. Da es nicht, wie andere Thiere, die mit ihm in den Bromelien hauſen, von Baum zu Baum, ja nicht einmal von Bromelie zu Bromelie wandern kann, muß ſeine Verbreitung durch Käfer (Agabus, Laccophilus, Hister u. ſ. w.) oder andere Bewohner der Bro— melien bewirkt werden, denen die winzigen 388 Thierchen anhaften. (Wenn ſie die Schale der Mutter verlaſſen, ſind die jungen El— pidien nur 0,2 Millimeter lang.) Da alſo die Beſiedelung der Bromelien mit Elpidium ganz dem Zufall anheimgegeben ſcheint, muß es um ſo mehr überraſchen, daß man dieſe Krebschen faſt in jeder Bro— melie antrifft. Es kann kaum ausbleiben, daß ſie dann und wann auch in andere Gewäſſer ver— ſchleppt werden, wie man ja umgekehrt bis— weilen in den Bromelien einzelne einge— ſchleppte Oyelops trifft. Doch habe ich mich bis jetzt in unſeren von mannichfachen andern kleinen Krebschen (Cyelops, Can- thocamptus, Cypris, Chydorus, Alona, Reptilien gehört eine neu aufgeſtellte Art Camptocereus, Pasithea, Moina, Cerio— daphnia, Simocephalus u. ſ. w.) bewohn- ten Gewäſſern vergeblich nach Elpidium um— geſehen. melien nicht zu gedeihen. Itajahy, November 1879. Fritz Müller. Vene juraſſiſche Reptile und Säuger aus den Felſengebirgen. Im November- und December-Heft des American Journal of Science and Arts (Bd. XVIII beſchreibt Prof. O. C. Marſh wiederum eine Anzahl neuer Thierarten, Es ſcheint außerhalb der Bro⸗ Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. knöchert find. Sie bilden mit Laosaurus eine beſondere Abtheilung und erhielten nach dieſem Abtheilungs-Charakter den Gattungs- Namen Camptonotus. Die Vorderfüße von C. dispar ſind kaum halb ſo lang wie die Hinterfüße, aber fünfzehig, während die Hinterfüße vierzehig ſind. Das Becken iſt ſehr abweichend von allen bisher bekannten Dinoſaurier-Becken. Wie das Gebiß andeutet, handelt es ſich um ein känguruhartig ſprin— gendes, pflanzenfreſſendes Reptil von 8— 10 Fuß Höhe, doch fand ſich in denſelben At— lantoſaurus-Schichten des oberen Jura, aber etwas tiefer, eine zweite, dreimal jo große Art (Camptonotus amplus). Zu den größten bis jetzt gefundenen und Gattung (Brontosaurus excelsus), welche zu den Sauropoden!) gerechnet wer— den muß und ſich von der nächſtverwandten Gattung Morosaurus dadurch unterſcheidet, daß das Sacrum aus fünf durchaus ver— knöcherten Wirbeln beſteht. Es iſt auffallend leicht von Gewicht, in Folge der Dünnwan— digkeit und Größe der Wirbelhöhlungen. Das aus den Atlantoſaurus-Schichten von Wyoming ſtammende Thier war anſcheinend 70 — 80 Fuß lang. deren Reſte dem Muſeum des Pale-College in jüngſter Zeit einverleibt wurden. Dar— unter befinden ſich zwei Arten eines neuen, dem Laosaurus“) verwandten Dinoſaurier— geſchlechts, welches ſich von dieſem durch opiftho- cöle Wirbel und einige andere Kennzeichen un— terſcheidet, während beide darin übereinſtim— Sehr abweichende Dinoſaurier ſind auch die ſchon 1877 von Marſh aufgeſtellten Stegoſaurier, von denen kürzlich Ueber— reſte einer neuen Art (Stegosaurus ungu— latus) gefunden wurden. Ihr Körper war, worauf der Name anſpielt, mit Hautſchil⸗ dern bedeckt, unter denen ſich neben klei— neren Platten ſolche von 2 — 3 Fuß im Durchmeſſer befinden. Der Schädel iſt ſehr klein, mehr eidechſenartig als bei den typiſchen Dinoſauriern, und die Gehirnhöhle ſehr eng. Die Wirbel ſind alle ſolid, und men, daß die Kreuzbeinwirbel nicht ver— | die Vorderfüße kürzer als die Hinterfüße. 9) Kosmos, Bd. V, S. 139. e | *) Kosmos, Bd. V, S. 138. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Wahrſcheinlich ebenfalls zu den Dino— ſauriern gehörte ein ſehr kleines, mit Cam— ptonotus dispar an derſelben Lokalität ge- fundenes Reptil, welches in ſeiner Art ſo eigenthümlich iſt, daß Marſh es ebenfalls als beſondere Gattung hinſtellen mußte. Die Wirbel deſſelben haben nämlich in der Rücken- und Lenden-Region ſo ſtark aus— gehöhlte Centra, daß die Wandungen zu einer dünnen Schale reducirt ſind. Es gingen anſcheinend keine Querwände durch die Höhlung, und die innere Knochen-Ober— fläche iſt ganz glatt. Die vorderen Schwanz— wirbel haben weſentlich denſelben Charakter, die Stammwirbel ſind verlängert biconcav, mit hohen, dem Centrum durch Naht ver— bundenen Neuralbögen. Das nach jener Eigenthümlichkeit Coelurus fragilis ge— nannte Thier war anſcheinend ein Fleiſch— freſſer von der Größe eines Wolfes. Einige in dem oberen Jura von Wyo— ming neugefundene Juraſäuger zeigen, wie die früher beſchriebenen,?) eine ſolche Aehn— lichkeit mit den bekannten Typen der Purbeck— Schichten Englands, daß daraus irgend ein Zuſammenhang der beiden Faunen klar be- wieſen wird und künftigen Entdeckungen auf dieſem Gebiete mit deſto größerem Intereſſe entgegengeſehen werden muß. Die eine neue Gattung und Art (Ctenacodon serratus) unterſcheidet ſich von der europäiſchen Gatt— ung Plagiaulax hauptſächlich dadurch, daß ſie ſtatt dreier unteren falſchen Backenzähnen deren vier beſitzt, deren Krone theilweiſe deutlich geſägt iſt. ung mit Plagiaulax zu einer Familie der Plagiaulaciden vereinigen. Zu den an letzteitirter Stelle erwähn— ten Gattungen Dryolestes und Tinodon | geſellen ſich drei neue (D. armatus, T. ro- bustus und lepidus), lauter kleine Beutel— ) Kosmos, Bd. VI, S. 63. Man kann dieſe Gatt- | thiere, ungefähr von der Größe eines Wieſels, von denen meiſt nur Kinnladen erhalten ſind. Damit iſt die vor dritthalb Jahren noch völlig unbekannte Fauna juraſſiſcher Säugethiere bereits auf etwa ein Dutzend Arten geſtiegen. Ueber die vermeintlichen Klauen vom Greif oder Vogel „Rok“ ſchreibt uns Herr Dr. H. Hartogh Heys van Zouteveen in Groningen: „Oefters find früher Hörner von Rhinoceros ticho- rhinus aus Sibirien als gigantiſche Vogel— krallen beſchrieben worden. Würde dies nicht die Erklärung liefern zu dem im „Kosmos“, Januar 1880, S. 318 Ge— ſagten über eine Aepyornis-Kralle, die Bianconi photographirt und beſchrieben?“ Nicht unmöglich. Als wir die Notiz aufnahmen, war uns die Verarbeitung der foſſilen Rhinoceroshörner zu „Greifenklauen“ wohl bekannt, allein einem Forſcher wie Bianconi gegenüber, der bereits eine ganze Reihe von Abhandlungen über den madagaſſiſchen Rieſenvogel veröffentlicht hat und der nach der Photographie auf eine Aepyornis-Klaue ſchließen zu können glaubte, ſchien es uns beſſer, unſere Bedenken zurück— zuhalten. Auch wäre es ja nicht unmög— lich, daß von dem Vogel, deſſen koloſſales Ei in Paris bewahrt wird, auch eine Klaue auf die Nachwelt gekommen ſein könnte. Bekanntlich hat Marco Polo Leute ge— kannt, die den Vogel noch lebend geſehen haben wollen. Er ſagt darüber:“) „Die Einwohner der Inſel (Magaſſar⸗) erzäh— len, daß zu einer gewiſſen Jahreszeit ein wunderbarer Vogel, der Ruch (in 1001 9 Reiſen, überſetzt von Bürck, Leipzig 1855, S. 576. | 390 ungleich größer, denn er ift ſo groß und ſtark, daß er einen Elephanten mit ſeinen Krallen ergreift und mit ſich in die Luft ihn nieder und verzehrt ihn. Leute, die dieſen Vogel geſehen haben, verſichern, daß, wenn ſeine Flügel ausgebreitet ſind, ſie von einem Ende zum anderen ſechzehn Schritt meſſen, und ſeine Federn ſeien acht Schritt lang und im Verhältniß dick. Da Meſſer Marco Polo glaubte, daß dieſe Geſchöpfe Greifen ſein möchten, wie man ſie auf Bil— dern ſieht, halb Vogel, halb Löwe, ſo frug er die, welche ſagten, daß ſie dieſe Vögel geſehen hätten, ganz beſonders über dieſen Punkt; aber dieſe behaupteten, daß ihre Ge— ſtalt durchaus die von Vögeln ſei, oder wie man ſagen muß, die von Adlern. Als der Großkhan dieſe wunderbare Erzählung hörte, ſandte er Boten nach der Inſel, unter dem Vorwande, die Freilaſſung eines ſeiner Die— ner zu bewirken, welcher hier zurückgehalten wurde, aber eigentlich, um ſich nach den Verhältniſſen des Landes und der Wahr— heit der wundervollen Dinge, die davon erzählt wurden, zu erkundigen. Als ſie zu ſeiner Majeſtät zurückkehrten, brachten ſie, ſo habe ich gehört, eine Feder des Ruch mit ſich, die, wie beſtimmt verſichert wurde, neunzig Spannen maß, und der Kiel hatte zwei Palmen im Umfang; das war gar wunderbar zu ſehen und machte dem Groß— khan gar großes Vergnügen, weshalb er denen, die die Feder mitbrachten, reiche Ge— ſchenke reichen ließ.“ Wenn an dieſer Geſchichte ein wahrer Kern iſt, wie nach den auf Madagaskar gemachten Knochen- und Eierfunden kaum Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Nacht bekanntlich Rol) heißt, aus den ſüdlichen Gegenden hier erſcheint. An Ges ſtalt ſoll er dem Adler gleichen, aber er iſt führt, von wo er ihn auf die Erde fallen läßt, daß er ſtirbt; dann ſenkt er ſich auf u bezweifelt werden kann, jo wäre es nicht zu verwundern, wenn irgendwo in alten Sammlungen noch Federn oder Klauen des Vogel Rok auftauchten, allein freilich wird es ſich zunächſt darum handeln, zu ent— ſcheiden, ob man nicht Artefakte vor ſich habe. Die Zuſammenfügung von Rhi— noceros-Hörnern zu Krallen, welche den Fuß von Reliquiarien hielten, war im Mittelalter allgemein. M. von Olfers berichtete in einer am 13. Juni und 4. Juli 1839 vor der Berliner Akademie der Wiſſenſchaften geleſenen Abhandlung über die „Ueberreſte vorweltlicher Rieſen— thiere in Beziehung zu oſtaſiatiſchen Sagen und chineſiſchen Schriften“ Folgendes: In der Nähe von Kolima findet man außer Elephantenknochen auch Knochen von anderen Wirbelthieren, unter anderen auch vom Rhinoceros, welche die Eingeborenen einem gewiſſen Rieſenvogel zuſchreiben, der einſt ihr Land verwüſtet haben ſoll. . . .. Auch Hedenſtröm (v. Wrangel's Reiſe, I, S. 118) beſchreibt die Rhinoceroshörner als koloſſale Vogelklauen und erwähnt da— bei, daß die Jukagiren, die ſich dieſer horn— artigen Klauen zu Unterlagen unter ihren Bogen bedienen, um dieſen mehr Schnell— kraft zu geben, behaupten, die Köpfe und Klauen kämen von einem verſchwundenen Rieſenvogel her, von welchem ſie eine Menge Wundermärchen erzählen. . . . Auch in Ja- kutzk blieb man dabei, trotzdem was Herr Ermann vom Rhinoceros erzählte und was man auch dort ſchon von Anderen gehört hatte, dieſe Hörner Vogelnägel (ptitschie kogti) zu nennen. und ſah keinen Grund, fie umzutaufen. . . . Durch eine geiſtreiche Zuſammenſtellung der in jenen Gegenden noch jetzt gängigen Sagen mit einer ſehr paſſenden Erklärung der bekannten Ausſage des Ariſteas von Proconneſus über das Gold, Greifen hervorziehen, nachzuweiſen, daß in jener arktiſchen Sage von dem koloſſalen, früher mit dem Volke des Landes kämpfenden Vogel, deſſen Kopf, Klauen u. ſ. w. noch gefunden werden, das Vorbild der griechiſchen Sage vom Greife ſucht Ermann!) zu finden ſei.. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. welches die Arimaſpen unter den Wie allgemein und weit dieſe Sage von ungeheuren Greifen ver breitet war und geglaubt wurde, geht unter Berliner königl. Kunſtkammer, eine ähnliche anderem auch daraus hervor, daß ſich Hörner vom Rhinoceros und anderen Thieren als koſtbare Seltenheiten in Silber und Gold gefaßt, mit edlen Steinen geziert, unter dem Namen der Greifenklauen in den Sammlungen von ſogenannten Heiligthümern bei den Kirchen verzeichnet und abgebildet finden, wie z. B. die alten Reliquiarien von Wien, Wittenberg und Halle nach— weiſen 1) „In dieſem puechlein iſt verzeichent, das hochwirdig Heyligtumb jo man In der loblichen ſtat Wienn In Oeſterreich alle jar an Sontag nach den Oſtertag ze zaigen pfligt. m. Holzſch. gedruckt 1502 durch Johannem Winterburg 415.“ Blatt 9 heißt es hier: „In ainer Greiffenklae, darauf Sant Georgen pild (ein Stück) Vonn dem ſchlair Marie mit mer Heyltumb.“ Dito Blatt 11: „zwei greiffenklaen mit Silber beſchlagen u. ſ. w.“ 2) Dye zaigung des hochlobwirdigen Hailigthums der Stifftkirchen aller Haili— gen zu Wittenburg. gedr. Wittenberg 1509 4°. S. 21: „Eine greyffsclauen mit dem Bild Thomä“ (enthält 39 Partikel, u. a. ein Stück von der Trepp darunter St. La— zarus hat gelegen). S. 24: „ein Greiffs— clawen mit dem Bilt ſant Leupoldi.“ 3) Bertzeichnus und zceigung des hoch— ) A. Ermann's Reiſe um die Welt. Abth. I. Bd. I. S. 711. 391 lobwirdigen Heiligthums der Stifftskirchen der Heiligen Sanct Moritz und Marien Magdalenen zu Halle. gedr. Halle 1520. 40. S. 144: „Ein greiffsklaw in Silber gefaſſt und übergult.“ Eine ſolche ſogenannte Greifenklaue mit der Aufſchrift: „Caspar, Melchior, Baltha— ſar“ am Rande, und auf drei vergoldeten kleinen Klauen ruhend, findet ſich auf der im Corpus Chriſti-College zu Cambridge, abgebildet in Shaw u. Meyrick, Spe— eim. of ancient furniture. London 1836, 8 63. Die Entwickelungsgeſchichte der Seele (Pſychogeneſis) bildete das Thema eines inhaltreichen Vor— trags, den Prof. Dr. William Preyer aus Jena am dritten Januar im Berliner „Wiſſenſchaftlichen Verein“ hielt. Da der— ſelbe an ſeine früher im Kosmos (Bd. III. S. 22— 37 und 128-132) veröffentlichten Aufſätze über „Pſychologie der Neugebor— nen“ anknüpft, ſo wollen wir den Inhalt kurz wiedergeben: „Die Lehre von der Entwickelung der menſchlichen Seele, welche zu allen Zeiten hervorragende Geiſter be— ſchäftigt hat,“ ſo begann der Vortragende ungefähr, „kann ein Ausgehen, ein Ver— gleichen von und mit dem Seelenleben der Thiere nicht entbehren, und man muß an— erkennen, daß durch die empiriſchen Forſch— ungen und intereſſanten Beobachtungen mehr gewonnen wurde, als durch geiſtreiche Hypo— theſen, mit denen beiſpielsweiſe ſchon zu Anfang des vorigen Jahrhunderts der fran— zöſiſche Abbe Condillac ſich ein Syſtem der Seelenlehre ſchuf, das uns bei dem heutigen Stand der Wiſſenſchaft etwa an Kosmos, III. Jahrg. Heft 11. 51 er den eypriſchen König Pygmalion erinnert, darüber aufgeſtellt. Der große Kant ſprach der ſich zwar ſelbſt ſein Ideal weiblicher Schönheit zu formen vermochte, aber die Götter anflehen mußte, ſeinem Venusbilde das warme, beglückende Leben einzuhauchen. Solchen Hypotheſen iſt die Beobachtung der thieriſchen Entwickelung vorzuziehen. Wer aber das Seelenleben des Menſchen metho⸗ diſch unterſuchen will, muß bei der ſeeliſchen Entwickelung des Kindes beginnen, die für alle pſychologiſchen Forſchungen im Vorder— grunde ſteht. Es bleibt in dieſer Beziehung trotz Allem, was geſchehen, noch Vieles nach- Ueber Krankheiten, Sterblichkeit zuholen. und Wachsthum der Kinder ſind maſſenhaft ſtatiſtiſche Aufſtellungen erſchienen; um die Beobachtung des geiſtigen Lebens aber hat die Statiſtik ſich nicht bekümmert. Die Schwierigkeit dieſer Beobachtungen liegt freilich auf der Hand. Man muß über die Entwickelung der Kindesſeele von deren erſten Regungen an eine Art Tagebuch führen, damit gelangt man zu den beſten Kejul- taten, und er ſelbſt, erzählte der Vortragende, habe bei dieſen Beobachtungen keinen Tag gehabt, an dem er nicht irgend etwas pſycho⸗ genetiſch Merkwürdiges habe verzeichnen müſſen. Nur wenn der Menſch über ſeine Sinne verfügt, kann er ein Seelenleben äußern. Darauf alſo richtet ſich zunächſt die Forſchung. Nicht minder wichtig iſt die Beobachtung der Bewegungen. Denn jede derſelben muß eine Urſache haben, die auf eine Empfindung zurückzuführen ſein wird. Dann erſt kann man an die Prüfung der Verſtandesthätigkeit gehen, für welche ein An— halt gegeben iſt, wenn das Kind zu ſprechen beginnt. Die Fundamentalbedingungen des geiſtigen Lebens ſind: Wollen, Empfinden und Denken. Iſt nun das erſte Lebenszeichen, das ein neugeborenes Kind mit dem erſten Schrei erkennen läßt, ein Ausdruck ſeines Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Wollens? Man hat vielfache Hypotheſen von einem Schrei der Entrüſtung, mit welchem der Menſch die Welt betrete, ein Anderer meinte, daß ihm das Gefühl der Kälte den erſten Schrei auspreſſe, noch ein Anderer ſchloß auf irgend eine Ahnung völliger Hilfloſigkeit. Nach Analogie der Be— obachtung thieriſchen Lebens müßte man viel— leicht auf eine Erregung über die plötzliche und vollſtändige Veränderung der ganzen Lebensbedingung ſchließen, jedenfalls aber ſteht feft, daß der erſte Schrei kein Ausdruck des Willens ſein kann. Wie verhält es ſich dann mit den erſten Bewegungen der kleinen Glieder? Sie haben etwas von dem, wie ein Thier ſich reckt und dehnt, wenn es aus langem Winterſchlaf erwacht. Es iſt keine Bewegung nach Motiven, aber ſie iſt auch nicht inſtinktiv; man könnte ſie eher impulſiv nennen. Der erſte Ausdruck des Willens, der bei dem Kinde beobachtet werden kann, iſt der Verſuch, den Kopf gerade zu halten. Das Kind übt ſich ſchon früh und mit offen— barer Freude an dem wachſenden Erfolge, aber vor dem Beginne der ſechzehnten Woche iſt derſelbe ſelten erzielt. Dann folgt die Bemühung, den Oberkörper im Gleichgewicht zu halten, und das pflegt ihm im dritten Monat zu gelingen, ſo zu ſagen als erſter Sieg des Geiſtes über die Materie. Noch viel räthſelhafter ſind die Erſcheinungen, die dann beobachtet werden. Das Kind richtet ſich auf und verſucht zu ſtehen. Das iſt ſein eigenſter Impuls. Und wenn man es auf einen Teppich legte und ganz ohne Anleitung ließe, es würde doch nicht nur ſtehen, ſondern auch gehen lernen. Noch deutlicher aber tritt der beginnende Wille in den Greifbewegungen hervor. Anfangs greift das Kind in's Leere, nicht vor der ſiebenzehnten Woche iſt eine Abſicht erkenn— bar, daß es nach einem hingehaltenen Gegen- ſtande langt. Iſt der erſte Verſuch gelungen, | bei dem ſich im Geſicht des Kindes, deut— lich ein Ausdruck der Verwunderung ſpiegelt, dann macht dieſe Art der Willens— äußerung rapide Fortſchritte. Daran ſchließt ſich die Entwickelung der Sinneseindrücke des Kindes. Es iſt ein großer Irrthum, wenn man meint, dieſe Eindrücke aus der Seele ſelbſt hervorrufen zu können. Nicht auf Vorſchriften kommt es an, ſondern auf die Wahl der Vorbilder. Das Kind darf nichts wahrnehmen, was ſeinem Willen nicht zugleich als wünſchenswerthes Ziel geboten werden darf. Gerade die Entwickelung der Sinne muß von Anfang an auf das Ge— wiſſenhafteſte verfolgt werden. Die Händ— chen ſind die Fühlhörner der Kindesſeele, die Eclaireurs ihrer Armee von Begierden. In der erſten Woche nach der Geburt verharrt das Kind in einer gewiſſen Unempſindlich— keit, dann entwickelt ſich zunächſt der Geruchs— und Geſchmacksſinn. Das Kind ſchmeckt die Milch und lernt die Nahrung, die ihm geboten wird, unterſcheiden. Das iſt die erſte Aeußerung ſeines Geiſtes. Auch bei den Thieren iſt die erſte Aeußerung des Geſchmackſinns nachweisbar. Bezüglich des Geruchſinns ſind die Wahrnehmungen zweifel— hafter, doch hat Galen ſchon vor mehr als ſiebzehnhundert Jahren feſtgeſtellt, daß ein ganz junges Zicklein, dem Milch, Wein und andere Getränke in Schalen vorgeſetzt werden, unfehlbar die Milch wählt.“) Was ) Galenus, de locis cap. 6: „Als ich eine trächtige Ziege ſecirte, fand ich ein leb— haftes Junges. Nachdem ich daſſelbe von der Mutter getrennt hatte und es ſchnell weg— genommen, ehe es noch ſeine Mutter geſehen hatte, brachte ich es in ein eigenes Zimmer, wo viele Gefäße, einige voll Wein, andere voll Oel, noch andre voll Honig, andre mit Milch und noch andren Flüſſigkeiten hingeſtellt Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 393 das Gehör betrifft, ſo darf man es für ausgemacht halten, daß alle Neugeborenen taub ſind. Es mag dies davon herrühren, daß die Wandung des Gehörganges noch nicht gefeſtigt, und daß in Folge deſſen das Trommelfell ſchief ſteht, aber die Unempfind— lichkeit der Neugeborenen gegen die Eindrücke des Schalls iſt durch Experimente erwieſen. Das Gehör bildet ſich erſt nach ungefähr ſechs Stunden, aber es unterſcheidet dann ſehr ſchnell, namentlich die Stimmen der Mutter und der Angehörigen, lauſcht mit Vorliebe den Tönen der Muſik und iſt un— bedingt ein außerordentlich wichtiger Faktor für die geiſtige Entwickelung. Der Geſichts— ſinn des Kindes beſchränkt ſich zunächſt auf die Eindrücke, die das Licht hervorruft, auf die Empfindung des Hellen oder Dunklen; er unterſcheidet noch nicht in der Größe und Farbe der Gegenſtände, und vor der dritten Woche mag es ſelten oder nie geſchehen, daß man ein Kind mit den Augen das Licht ver— folgen ſieht. Der Blick iſt noch nicht feſt, das eine Auge ſieht nach rechts, das andere nach links, das eine nach oben, das andere | nach unten. Erſt allmählich erfolgt die volle Ausbildung der Fähigkeit, den Blick auf das Objekt zu fixiren und zu wirklichem Sehen und Unterſcheiden zu gelangen. In der Sprache endlich gewinnt der Beginn des Geiſteslebens ſeinen unzweideutigſten Aus— druck, aber noch ſteht die Frage dahin: wie haben wir ſprechen, oder denken gelernt? Man ſagt wohl, daß die Sprache von jedem waren, in noch anderen waren Getreide und Früchte. Zuerſt ſahen wir, daß das Junge ſich auf die Füße ſtellte und umher— ging, dann ſchüttelte es ſich und kratzte die eine Seite mit dem einen Fuße, dann ſahen wir, daß es an allen dieſen Dingen herum— roch, die in's Zimmer geſetzt waren, und nachdem es ſie alle berochen hatte, trank es die Milch.“ | 394 Einzelnen neu erworben werden müſſe, man fragt ſich auch, ob ſie nicht erblich ſei. Die Sprache an ſich iſt nicht angeboren, aber die | Anlage dazu. Man bildet ſich ferner ein, | daß das Kind feine eigene Kindesſprache habe, die es erſt wieder verlernen müſſe, bevor es die Wortſprache ſich aneignen könne, doch dieſe Kinderſprache iſt eine Einbildung der Erwachſenen, denn das Kind ſpricht nichts als die verſtümmelten oder ſchlecht nachgeahmten Worte, die es hört. Doch ſo unvollkommen dies ſein mag, die erſte deutliche Aeußerung einer Begriffsbildung hat trotzdem etwas Göttliches, Imponiren— des. Wochen, Monate, Jahre vergehen, ehe von dem erſten „Atta“, mit dem alle Kinder das Weggehen oder Verſchwinden bezeichnen, der Kindesgeiſt für Alles, was er begreift, den ſprachlichen Ausdruck findet, aber wir können für jetzt dieſe Entwickelung nicht weiter verfolgen und dürfen nur noch eine Schlußbemerkung hinzufügen: Wie viel man auch in täglichen Verſuchen die Erkenntniß der Pſychogeneſis fördern mag, man ſteht ſtaunend vor immer neuen Erſcheinungen im Seelenleben des Kindes und vermag das liebliche Geheimniß nicht voll zu erforſchen. Klar und unergründlich zugleich bleibt die Seele des Kindes, — je tiefer man in ſie hineinblickt, um ſo mehr Problem.“ Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Eine ſeltſame Eſelei auf den Galaͤpagos-Inſeln. In ſeinem anziehenden Vortrage „Ein Beſuch auf den Galäpagos-Inſeln“ (Heidel— berg, Carl Winter, 1879) erzählt der Staatsgeologe der Republik Ecuador in Guayaquil, Dr. Theodor Wolf, von einer eigenthümlichen Gewohnheit verwilder— ter Eſel, die auf Floreana, ſowie auf Cha⸗ tham, Indefatigable und Albemarle häufig ſind. „Sie halten ſich truppweiſe zu 10 bis 15 Stück beiſammen, des Nachts kom— men ſie an die Waſſerplätze und feiern da ihre Orgien unter furchtbarem Geſchrei, das mich oft aus dem Schlafe aufweckte. Die jetzigen Anſiedler halten ziemlich viele Eſel zu ihrem Dienſt. So wild und muthig dieſelben ſich auch beim Einfangen geberden, furchtbar um ſich ſchlagend und beißend, ſo ſind ſie doch ſchon nach acht Tagen die geduldigſten, genügſamſten Laſtthiere. Warum haben die Eſel auf dieſen Inſeln die ſonder— bare Gewohnheit angenommen, ſich wie ein Hund oder eine Katze auf die Hinterbeine zu ſetzen? Auch der ernſteſte Mann wird das Lachen nicht unterdrücken können, wenn er ſie in dieſer komiſchen Poſitur gravitä— tiſch auf den Pampas ſitzen ſieht.“ s RE DE Titeratur und Kritik, Die Gährungstheorie Mägeli's, die ausſchlaggebenden Momente im Kampfe ums Daſein und die Deſcendenz— frage der Sproß- und Spaltpilze. |) m die Erſcheinungen von Gährung 1 und Fäulniß zu erklären, wurden bis- Sher drei verſchiedene Theorien aufge— ſtellt und zwar: die Zerſetzungstheorie Liebig's, die Fermenttheorie der Gähr— ungschemiker und die Sauerſtoffentziehungs— theorie Paſteur's. Nägeli zeigt nun in ſeinem neueſten Werk: „Theorie der Gährung, ein Beitrag zur Molekular— phyſiologie, München 1879“ an der Hand ſchlagender Unterſuchungs-Reſultate, daß keine jener drei bisherigen Gährungstheorien haltbar ſei, weil keine mit allen Thatſachen der Gährungs- und Fäulnißproceſſe im Einklang ſteht, im Gegentheil jede derſelben durch klar zu Tage liegende Erſcheinungen widerlegt wird. In dieſem Buch wird ge— zeigt, daß der Lie big'ſchen Zerſetzungs— theorie jede andere als die rein theoretiſche Unterlage fehlt; ſie wurde daher von den neueren Gährungschemikern fallen gelaſſen und eine andere Erklärung geſucht. Aber auch dieſe neuere Theorie der Gährungs— chemiker, wonach den Sproß- und Spalt- pilzen (den Hefezellen) ganz beſondere Stoffe, ſogenannte ſpecifiſche Fermente zukommen, erweiſt ſich als unhaltbar. Nägeli macht in klarer Weiſe auf den Unterſchied zwiſchen Fermentwirkung (ausgehend von nicht— organiſirten Stoffen) und der Hefen— wirkung (letztere ausgehend von organi— ſirten Stoffen, nämlich von lebenden Sproß— und Spaltpilzen) aufmerkſam. Es iſt zwiſchen Hefe und Hefen-oder Gährwirkung einerſeits und Ferment und Ferment— wirkung andererſeits ſtreng zu unterſcheiden. Unter Hefe haben wir die lebendigen Pilz— zellen zu verſtehen, welche als Spaltpilze bei jedem Fäulnißproceß und als Sproßpilze bei der alkoholiſchen Gährung auftreten und wirkſam ſind, während wir unter Ferment jene unorganiſirten Stoffe, wie z. B. Diaſtaſe und Pepſin zu verſtehen haben, welche als Contaktſubſtanzen wirken und paſſend auch ſo genannt werden könnten. „Die Annahme,“ ſagt nun Nägeli, „daß bei den Gährungen Fermente thätig ſeien, wäre nur dann gerechtfertigt, wenn eine hinreichende Analogie in phyſiologiſcher und chemiſcher Hinſicht nachgewieſen werden könnte. Dies iſt nicht der Fall; eine genaue Vergleichung zeigt uns ſehr bemerkenswerthe Gegenſätze.“ — In chemiſcher Beziehung iſt namentlich der Unterſchied zwiſchen Gährung und Fermentwirkung auffällig, daß bei der Gährung (Fäulniß- wie Alkohol— 396 Gährung) überhaupt immer Kohlenſäure abgeſchieden, organiſche Subſtanzen geſpalten werden, während bei der Fermentwirkung nie Kohlenſäure frei wird und nicht eine Spaltung, ſondern eine Umwandlung ſtatt— findet. Die Fermente können durch andere Contaktſubſtanzen erſetzt werden, durch Säuren, Alkalien, ſelbſt durch Waſſer, während die Gährungen in den ausge— ſprochenſten Fällen nur durch Hefe (lebende Zellen) bewirkt werden. Endlich: Bei der Gährung wird Wärme frei, bei der Ferment— wirkung wird Wärme aufgenommen. Am ſinnreichſten von allen drei bisher dominirenden Gährungstheorien muß die— jenige von Paſteur erſcheinen; es iſt die ſogenannte Sauerſtoffentziehungs-Theorie. Paſteur ging von der Annahme aus, daß Nährſtoffe vorhanden, jo wirkt der Sauer— geſchloſſen, zu ihrem Leben Sauerſtoff be alle Pflanzen, die niederen Pilze mit ein— dürfen, wofür ſie eine entſprechende Menge Kohlenſäure abſcheiden. Nun zeigen aber nach Paſteur gewiſſe niedere Pilze ein eigenthümliches Verhalten, indem ſie bei Mangel von freiem Sauerſtoff unter ge— wiſſen Umſtänden aus leicht zerſetzbaren organiſchen Verbindungen Sauerſtoff zu gewinnen und dadurch zu vegetiren vermögen, indeß alle übrigen Pflanzen dagegen durchaus des freien Sauerſtoffes bedürfen. Aus dieſer Thatſache leitete Paſteur ſeine Gährungstheorie ab, wonach die Hefezellen bei Anweſenheit von freiem Sauerſtoff keine Gährung bewirken; nach Maßgabe des der jetzigen Molekular-Phyſik ſich befindet. Sauerſtoff- Mangels ſollen dagegen die Hefenpilze das Gährungsmaterial angreifen, und „indem ſie demſelben eine geringe Menge von Sauerſtoff entziehen, es molekularen Gleichgewicht ſtören und zur Zerſetzung veranlaßen. Nägeli kommt aber bezüglich dieſer in ſeinem namhafteſten und bedeutungsvollſten Reſul— tate gewann. Wir erinnern an ſeine Theorie Literatur und Kritik. I Paſteur'ſchen Theorie zu dem Schluß, daß die experimentelle Grundlage, welche die Theorie ſtützen ſollte, ſich bei ſtrenger Prüf— ung als unhaltbar erweiſe. Er findet, daß die Verſuche, wie ſie Paſteur anſtellte, wenig zur Entſcheidung der Frage geeignet ſeien, wie fi die Gährwirkung der Hefe mit oder ohne Sauerſtoff verhalte? Dagegen zeigt Nägeli an einer frappanten That- ſache, daß Hefezellen in dem Momente, wo ſie mit Sauerſtoff in Berührung ſind, auch Zucker vergähren können, alſo gerade das Gegentheil von Paſteur's Hauptſatz. Dieſe Thatſache iſt die Eſſigätherbildung. (S. 21—23.) Experimentell wird ſodann gezeigt, „daß Zutritt von Sauerſtoff der Gährung günſtig iſt, wenn keine Nährſtoffe zugegen ſind und in Folge deſſen die ganze Hefenmenge fich nicht oder nur unbedeutend vermehrt. Sind ſtoff noch viel günſtiger, weil dann unter ſeinem Einfluß auch die Vermehrung der Hefe lebhafter von Statten geht. „Die Paſteur'ſche Theorie, daß die Gährung durch Mangel an Sauerſtoff erfolge, indem die Hefen— zellen gezwungen ſeien, den Bedarf an Sauerſtoff dem Gährmaterial zu entnehmen, iſt durch alle That— ſachen, die auf dieſe Frage Bezug haben, widerlegt. (S. 26.) Nägeli verſucht nun, uns eine Vor— jtellung über den Gährungsproceß zu ge— winnen, die allen beobachteten Erſcheinungen Genüge leiſtet und in Uebereinſtimmung mit Der Verfaſſer bewegt ſich hierbei auf einem bereits bekannten Gebiet, wo er für die Wiſſenſchaft bereits mehr als einmal die der Molekular-Struktur organiſirter Körper (Stärkekörner, Zellmembran, Kryſtalloide), W ee Literatur und Kritik. — an die Theorie des Wachſens durch In— tusſuſception (Zwiſchenlagerung), die ge— radezu epochemachend auf die Phyſiologie beider Reiche einwirkte. nachgerade auch ein Hochgenuß, dem Ver— faſſer der „Theorie der Gährung“ von S. 26 ab auf das Feld der Molekular— Phyſik zu folgen. Nägeli geht zur Gewinnung feiner | Gährungstheorie von der Fermentwirkung, als einer Contaktwirkung aus. „Die Fer— mente (Diaſtaſe, Invertin ꝛc.) wirken wie verdünnte Säuren, alkaliſche Löſungen, Waſſer.“ Die Wirkung iſt hiebei diejenige einer Contaktſubſtanz, die blos durch ihre An— weſenheit wirkt, indem ſie dabei nicht chemiſch bethätigt iſt und ſelber keine Verbindung eingeht. Wenn man das Produkt einer ſolchen Contaktwirkung entfernt, ſo kann die nämliche Menge der Contaktſubſtanz, alſo die gleiche Menge Schwefelſäure oder heißes Waſſer oder Fermente, fortwährend Für uns iſt es neue Mengen Subſtanz umwandeln. Aehn- lich wie jene nicht organiſchen Fermente, die wir als Contaktſubſtanzen aufzufaſſen haben, wirkt nach Nägeli's Unterſuchungen das lebende Protoplasma in den Hefenzellen. Hierin ſtimmen alſo Ferment- und Gähr— wirkung überein. „Gährung iſt die Uebertragung von Bewegungszuſtänden der Mole- küle, Atomgruppen und Atome verſchiedener, das lebende Plasma zuſammenſetzenden Verbindungen (welche hierbei chemiſch unverändert bleiben) das Gleichgewicht in deſſen Mole— külen geſtört, und dieſelben zum Zerfallen gebracht werden.“ (S. 29.) So lautet die Nägeli'ſche Definition des Gährungsvorganges, die von allen bisher dominirenden Anſchauungen über dieſe Pro— zeſſe weſentlich abweicht. Der Verfaſſer präciſirt die Stellung ſeiner Theorie zu den bisherigen, durchaus unhaltbaren Gährungs— theorien folgendermaßen: Die molekular— phyſikaliſche Gährungstheorie, wie ich ſie ſoeben formulirt habe, hat Aehnlichkeit ſowohl mit der Liebig'ſchen Zerſetzungstheorie, als mit der Fermentheorie der Chemiker; ſie iſt aber von beiden grundſätzlich verſchieden. Sie läßt, was die Vergleichung mit der Zerſetzungstheorie betrifft, die Verbindungen des lebenden Plasmas ohne chemiſche Um— ſſetzung blos durch ihre molekularen Be— wegungen auf das Gährmaterial einwirken. Liebig ſpricht zwar im Verlauf der Dar— ſtellung zuweilen ebenfalls blos von Ueber— tragung der Bewegung, aber dieſe Bewegung wurde vorgängig ſtets als chemiſche Beweg— ung oder als Zerſetzung aufgefaßt. Der Gedanke, der bei allen Wandlungen der Theorie unwandelbar feſtgehalten wurde, war der, daß eine in chemiſcher Umſetzung begriffene Subſtanz ihre Umſetzung auf eine andere in der Nähe befindliche Subſtanz übertrage. Zuletzt (1870) war es das Eiweiß der lebenden Hefenzelle, welches durch feine Zerſetzung, wobei Zucker abgeſpalten werde, den Anſtoß der Alkoholgährung geben ſollte, — eine Theorie, die, abgeſehen von der mangelnden thatſächlichen Begründung, ſchon deswegen unannehmbar iſt, weil fie für die zahlreichen übrigen Gährungen keine Anwendung findet. Mehr innere Verwandt— ſchaft hat die molekular-phyſikaliſche Theorie mit der Fermenttheorie, indem in beiden auf das Gährmaterial, wodurch Fällen die Spaltung eines zuſammengeſetzten Moleküls auf ähnliche Weiſe zu Stande gebracht wird. Die Verſchiedenheit be— ſteht darin, daß die Fermenttheorie die ver— ſchiedenen Gährungen durch eben fo viele verſchiedene Verbindungen verurſacht werden läßt, daß ſie alſo für den beſonderen che— miſchen Proceß eine beſondere chemiſche Ur— ſache vorausſetzt, — während die molekular— phyſikaliſche Theorie die verſchiedenen Gähr— ungen durch das lebende Plasma erfolgen läßt, welches entſprechend ſeiner verſchiedener Organiſation und Miſchung, wie für die Ernährung, ſo auch für die Gährthätigkeit ungleiche chemiſche Wirkungen hervorbringt. Durch die molekular-phyſikaliſche Gähr— ungstheorie werden ſofort mehrere charakte— riſtiſche Eigenthümlichkeiten der Gährung erklärt. Wir begreifen einmal, daß der Gährproceß nur in den Zellen oder in un— Literatur und Kritik. führen: Die Gährungsurſache findet ſich mittelbarer Nähe der Hefenzellen ſtattfindet und daß er nicht wieder von denſelben ge- halb der Zelle ſich bilden.“ trennt werden kann. Wir begreifen ferner, daß, — während bei der Fermentwirk— ung eine gleichmäßige Spaltung eintritt, bei der Gährung dagegen verſchiedene Spalt— ungen mit einander combinirt ſind, — dieſe verſchiedenen Spaltungen kein conſtantes Verhältniß zeigen, ſondern je nach der in- dividuellen Verſchiedenheit der Hefenzellen Verhältniß verändern nnd daß jede ſpecifiſch organiſirte Pilzzelle beſondere Combinationen von Spaltungen ihr quantitatives hervorbringt, unter denen nur das Gemein- ſame beſteht, daß jedesmal Kohlenſäure frei wird. Wir begreifen endlich, daß die Gähr— wirkungen der Hefenzellen in ihrer großen Mehrzahl bis jetzt nicht auf künſtlichem Wege zu Stande gebracht werden konnten. die Gährung innerhalb oder außerhalb der Hefenzelle ſtatt? Eine genaue Prüfung der Verſuchsreſultate ergiebt, daß die diogmo- tiſchen Verhältniſſe uns keine Antwort auf die Frage geben, ob der Zucker innerhalb der Zellen oder außerhalb derſelben vers gähre. Dagegen führt Nägeli andere Er— ſcheinungen an, die zu folgendem Schluſſe . im lebenden Plasma, alſo innerhalb der Holzſtoffmembran der lebenden Hefenzelle, aber ſie wirkt ziemlich weit und zwar we— nigſtens auf ½ Millimeter über die Zelle hinaus. Die Zerſetzung des Zuckers er— folgt zum geringſten Theil innerhalb der Hefenzellen, zum größten Theil außerhalb derſelben. „Dieſe Theorie der theilweiſe extracellularen Vergährung gilt zunächſt nur für die Hauptprodukte der Zerſetzung, für Alkohol und Kohlenſäure. Es bleibt vor der Hand noch unentſchieden, wo die Neben— produkte, Glycerin und Bernſteinſäure, ent— ſtehen; ich möchte vermuthen, daß ſie inner— Von der Alkoholgährung ſchließt Nägeli auch auf die Gährungen, welche durch Spaltpilze vermittelt werden. Die Haupt- produkte der durch Schizomyceten veranlaßten Gährung: Milchſäure oder Butterſäure oder kohlenſaures Ammoniak (aus Harnſtoff), oder die Fäulnißſtoffe (aus dem Albuminaten reſp. Peptonen) entſtehen zum Theil außer— halb der die Zerſetzung bewirkenden Spalt— pilze, wodurch der ſchädliche Einfluß dieſer Zerſetzungsprodukte auf das Zellenleben vermindert wird. Nägeli beſpricht ſodann das Verhalten der Wärme bei der Gährung und Ferment— wirkung und kommt zu dem Schluß, daß wahrſcheinlich, wie bei Invertirung der Nägeli unterſucht im Anſchluß hieran einige weitere Fragen, ſo zunächſt: findet des Zuckers, auch bei der Umwandlung von Celluloſe, Stärke, Pflanzenſchleim, Gummi und Dextrin in gährungsfähigen Zucker, ebenſo wie bei der Umwandlung der Albu— minate in Peptone, Wärme verbraucht wird. Im Gegenſatz zu Liebig gelangt Nägeli zu dem Reſultat, daß bei der Gährung (Wirkung von Hefenzellen) Wärme frei wird und zwar, daß die bei der geiſtigen Gährung frei werdende nn — Literatur und Kritik. potentielle Energie entweder gänzlich oder bis auf eine verſchwindend kleine Menge aus dem ſich zerſetzenden Gährungsmaterial (nicht etwa aus den Hefenzellen ſelbſt) ſtammt. Im Anſchluß hieran theilt Verfaſſer anderweitige Reſultate aus ſeinen lang— jährigen Verſuchen mit, die wir hier zum Theil nur aufzählen können. Er fand: 1) Der freie Sauerſtoff, den ſonſt alle Pilze zu ihrem Leben bedürfen, kann bei vorhandener hinreichender Gährthätigkeit, entbehrt werden. 2) Die Oxpdation durch freien Sauerſtoff begünſtigt aber ihrerſeits die Gährthätigkeit. 3) Die Gährthätigkeit einer Zelle befördert unter allen Umſtänden ihr eigenes Wachsthum. 4) Die Gährthätigkeit eines Pilzes be— nachtheiligt die Ernährung und das Wachs— thum der übrigen Pilze, welche nicht für dieſe, ſondern für andere Gährungen or— ganiſirt ſind. Von hohem Intereſſe für den Anhänger der Deſcendenz- und Selektionstheorie ſind die experimentell erforſchten Beziehungen zwiſchen Gährthätigkeit und Concurrenz im Kampf ums Daſein, der Einfluß der In— dividuenzahl auf die Verdrängung der ver— ſchiedenen Pilzformen und namentlich die durchſichtige Auseinanderſetzung des me— chaniſchen drängung. Wenn wir nicht irren, fo erſcheinen hier zum erſten Male alle Vorganges der Ver- Verhältniſſe, welche im Kampf ums Daſeiu verſchiedener Arten ausſchlaggebend können, einer eingehenden Unterſuchung unter— einer mechaniſchen Erklärung ganz ſpecieller Concurrenz-Verhältniſſe experimentell durch— geführt. Es dürfte daher den Leſern des ſein 399 und höchſt intereſſanten Auseinanderſetzungen des bewährten Phyſiologen hier unverkürzt mitgetheilt zu ſehen. Das Nachſtehende mag gleichzeitig als Ergänzung deſſen dienen, was wir im III. Bande des „Kosmos“ S. 188 bis 196 bei Beſprechung des Nägeli'ſchen Buches über „Die niederen Pilze“ mitgetheilt haben. Nägeli erläutert den oben angeführten Satz 4 in folgender Weiſe: „Es iſt gewiß die merkwürdigſte unter den Beziehungen zwiſchen Gährung und phyſiologiſcher Funktion, daß die Thätigkeit einer Zelle nicht blos für ſie ſelber und ihresgleichen, ſondern hemmend für anders— artige Zellen ſich erweiſt, und daß dieſer ſchädliche Einfluß nicht etwa durch Ent— ziehung von Nährſtoffen oder durch Aus— ſcheidung von ſchädlichen Verbindungen, ſondern lediglich durch das Vorhandenſein der beſonderen Gährthätigkeit bewirkt wird. Dieſe Beziehung war aber, wegen der mannigfaltigen Complicationen, welche die Erſcheinungen darbieten, und wegen des Widerſpruches, in welchem ſie mit den all— gemeinen Geſetzen der Concurrenz ſteht, am ſchwierigſten zu ermitteln. Bei den zahlreichen Verſuchen mit Aus- ſaat von verſchiedenen Hefenpilzen in das nämliche Glas bekam ich in der Regel Reſultate, die den Erwartungen nicht ent— ſprachen. Anfänglich zwar vermehren ſich die verſchiedenen Keime, jeder nach Maß— gabe ſeiner Eigenthümlichkeit und der ihm mehr oder weniger zuſagenden äußern Um— worfen, und zum erſten Mal der Verſuch | ſtände. Dies geſchieht jo lange, als die Pilze noch wenig zahlreich und daher in der Flüſſigkeit derartig vertheilt ſind, daß fie einander nicht beeinträchtigen können. So— Kosmos, denen das Nägeli'ſche Buch wie ſie aber ſo zahlreich geworden, daß ſie ſelbſt für ein eingehenderes Studium nicht durch Concurrenz auf einander wirken, ſo vorliegt, angenehm ſein, die überaus klaren beobachtet man gewöhnlich, daß einer der— Kosmos, III. Jahrg. Heft 11. RE REED LT — jeff. 7 —— —— 400 Literatur und Kritik. ſelben ſich ſtark vermehrt und daß das Wachsthum der übrigen gänzlich ſtille ſteht. Dies tritt um ſo ſicherer ein, je gleichartiger die Nährflüſſigkeit in allen ihren Theilen beſchaffen iſt. Sind lokale Ungleichheiten vorhanden, — z. B. durch Beimengung I | hefenpilze, ſondern auch Milchſäurepilze zur Ausſaat benutzt. Dadurch wird bewieſen, daß die Spaltpilze in neutralen Flüſſig— keiten beſſer gedeihen, als die Sproßpilze, von feſten Stoffen und gehemmte Circulation oder durch ungehinderten Luftzutritt zu der Oberfläche, während die tieferen Flüffigfeits- ſchichten wenig oder keinen Sauerſtoff er— halten, — ſo können zwei verſchiedene Pilz— vegetationen, jede an ihrem Orte, die Ober- hand gewinnen und alle andern Pilze verdrängen. Dieſe Erſcheinung könnte nach den Geſetzen der Concurrenz nur dann erklärt werden, wenn der überhandnehmende Pilz durch Ausſcheidung eines ſchädlichen Stoffes die Ernährung der übrigen verhindern würde. Da dieſe Annahme, wie ich nachher zeigen werde, unmöglich war, ſo blieb mir die ſäure, welche aus dem gleichen Grunde bald Löſung des Räthſels lange Zeit zweifelhaft. Sie wurde erſt gefunden, als beſondere Verſuche angeſtellt wurden, um eine prak- tiſche Erfahrung der Bierbrauerei wiſſen— ſchaftlich zu begründen. Die Hefe der Bierbrauer iſt faſt rein von Spaltpilzen; ſie kann bei jahrelangem Betrieb, während welchem eine große Menge von neuen Zellen— generationen gebildet werden, dieſe Reinheit behalten. Dies iſt eine ſehr merkwürdige Erfahrung, da die Vermehrung in einer neutralen Nährlöſung erfolgt. Wenn man nämlich in eine neutrale zuckerhaltige Löſung (auch in Bierwürze) eine Spur von Bier— hefe ausſäet und die Spaltpilze, welche in dem Waſſer oder in der Hefe enthalten ſind oder aus der Luft hineinfallen, nicht voll— wobei ich bemerke, daß das entgegengeſetzte Reſultat erfolgt, wenn die zuckerhaltige Flüſſigkeit eine gewiſſe Menge von orga— niſchen oder unorganiſchen Säuren enthält, indem dann immer die Spaltpilze durch die Sproßpilze verdrängt werden. Da die chemiſche Beſchaffenheit der Bierwürze nicht die Urſache ſein kann, warum die Spaltpilze beim Brauereibetriebe ſich nicht vermehren, ſo lag die Vermuthung nahe, daß einer der begleitenden Umſtände entſcheidend ſei, vor allem die niedere Tem— peratur, bei welcher man die Bierwürze gähren läßt, oder ein gewiſſer Gehalt von Alkohol, welcher bald erreicht wird, da man die Gährung mit einer gewiſſen Menge von Hefe anſetzt, oder die Sättigung mit Kohlen— eintritt, oder die Zugabe von Hopfenbitter, oder eine Combination der genannten Faktoren. Dieſe Vermuthung beſtätigt ſich in keiner Weiſe. Wurden Sproß- und Spalt- pilze, beide in Spuren, zugleich in neutrale zuckerhaltige Flüſſigkeiten (auch in Bier— würze) ausgeſäet, jo gewannen die Spalt⸗ pilze nach einiger Zeit vollſtändig die Ober— hand, mochten die Umſtände ſo oder anders beſchaffen ſein, — bei jeder beliebigen Tem— peratur, auch bei OP, bei jedem beliebigen, die Vegetation nicht unterdrückenden Zuſatz von Alkohol und Hopfenbitter, bei voll— ſtändig ausſchließt, ſo erhält man zuletzt meiſtens eine überwuchernde Spaltpilzvege— tation. Dies tritt noch viel ſicherer ein, wenn man von Anfang an nicht nur Bier- geiſtige Gährung ordentlich in Gang ge— ſtändiger Sättigung mit Kohlenſäure, auch bei Vereinigung mehrerer oder aller dieſer Umſtände. Da ſich aber bei anderweitigen Ver— ſuchen gezeigt hatte, daß, wenn einmal die kommen iſt, dieſelbe andauert und die fie bewirkende Sproßhefe allein ſich vermehrt, ſo wurden Verſuche in der Art angeſtellt, daß zur Ausſaat eine größere Menge von Bierhefe und nur Spuren von Spaltpilzen dienten. Mag die zucker— haltige Nährflüßigkeit und die Temperatur wie immer beſchaffen ſein, ſo kann man durch Ausſaat einer hinreichenden Menge von Sproßhefe den gewünſchten Zweck erreichen, daß nur dieſe ſich vermehrt und die in geringer Menge vorhandenen Spaltpilze gar nicht wachſen. Bei der Concurrenz der Hefen— pilze tft alſo die verhältniß mäßige Zahl der Concurrenten von Bedeut— ung, und es muß die gegenſeitige Verdrängung durch andere Mittel erfolgen, als bei allen übrigen Ge— wächſen. Bei den letzteren iſt die Zahl, mit der jede Art in den Kampf ums Daſein eintritt, gleichgiltig für das endliche Reſul— tat, mag daſſelbe in einer partiellen gegen— ſeitigen Verdrängung und Herbeiführung eines Beharrungszuſtandes, in welchem jede Art mit einem beſtimmten durchſchnittlichen Procentſatz vertreten iſt, oder in der totalen Verdrängung einzelner Arten beſtehen. Iſt eine Art einmal in allzu großer, eine andere in allzu geringer Menge vorhanden, ſo iſt die Folge davon keine andere, als daß in der nächſten Zeit die erſtere eine Abnahme, die letztere eine Zunahme erfährt. Suchen wir nun nach einer Erklärung für den regelwidrigen Verlauf der Concur— renz bei den Hefenpilzen, ſo bietet ſich zu— nächſt die Annahme dar, daß die Aus— ſcheidungs- und Gährungsprodukte der einen dem Leben der anderen hinderlich ſeien. Wir würden dann ſogleich begreifen, daß eine große Zahl von Sproßpilzen, weil fie die Nährflüſſigkeit mit einer verhältniß— Literatur und Kritik. 401 mäßig großen Menge von ſolchen Produkten verunreinigt, die Spaltpilzvegetation ganz unmöglich macht. Eine ſolche Annahme iſt aber unſtatthaft. Die Sproßpilze ſcheiden keine Stoffe aus, die anderen Pilzen ſchäd— lich ſind, ſondern nur Stoffe, die eine vortreffliche Nahrung für dieſelben bilden. Das Hefenwaſſer, wenn daſſelbe die Aus— ſcheidungsprodukte der Bierhefe in hinrei— chender Menge enthält, gehört ſelbſt zu den beſten Nährflüſſigkeiten für Spaltpilzvege— tationen. Auch die Produkte der geiſtigen Gaährung verhindern die Spaltpilze nicht zu wachſen. Wenn man die Sproßhefe einer gährenden Flüſſigkeit in irgend einem Stadium durch Erhitzen tödtet und dann Spuren von Sproß- und Spaltpilzen darin ausſäet, ſo ſind die letzteren immer die ſtärkeren. Der Grund, warum die Ausſaat einer größeren Menge von Sproßhefe für ſie ſelber bei der Concurrenz mit den Spalt— pilzen von Nutzen iſt, liegt alſo nicht in irgend einer ſubſtantiellen Veränderung der Nährflüſſigkeit. Er beſteht nur in dem Vorhandenſein einer beſtimmten Gährungs— bewegung. Dies iſt auch deutlich aus den beobachteten Thatſachen nachzuweiſen. Wird in eine zuckerfreie neutrale Nährlöſung eine große Menge Bierhefenzellen und nur eine Spur von Spaltpilzen gegeben, ſo ver— mehren ſich die erſteren, welche keine Gährung erregen können (weil eben kein Zucker vor⸗ handen), langſam, die letzteren dagegen ſehr raſch, ſodaß ſie die erſteren bald überwu— chern. Das Nämliche iſt ferner der Fall, wenn in einer zuckerhaltigen neutralen Nährlöſung ſich zahlreiche Sproßhefenzellen, die aber ihrer Natur nach nicht Gährung zu bewirken vermögen, mit ſehr wenig Spaltpilzen befinden. Bringt man endlich zahlreiche Bierhefenzellen mit einer Spur Literatur 402 und Kritik. von Spaltpilzen in eine neutrale Flüſſigkeit, welche mehr oder weniger Zucker enthält, | ſo vermehren ſich die erfteren allein, jo lange die Gährung dauert; ſowie dieſelbe aber in Folge von Zuckermangel träge wird und aufhört, fangen die Spaltpilze an ſich ſtark zu vermehren, indeß das Wachs— thum der Spaltpilze ſtille ſteht. Die größere Zahl iſt alſo für die gährtüchtigen Sproßpilze bei der Concurrenz mit den Spaltpilzen nicht an und für ſich vortheilhaft, ſondern wenn zugleich ein dieſer Zahl entſprechender Grad von Gähr— ungs-Intenſität eintritt. Deswegen kommt es, wenn in einer zuckerhaltigen neutralen Nährlöſung die Sproßpilze allein ſich vermehren ſollen, nicht auf das nume— riſche Verhältniß der die Bierhefe verun— reinigenden Spaltpilze an, ſondern auf die Quantität der im Verhältniß zur Flüſſig— keitsmenge zugeſetzten Bierhefe. Um den angegebenen Zweck zu erreichen, muß die Gährflüſſigkeit mit ſo viel Hefe angeſetzt werden, daß ſie möglichſt bald in ordent— liche Gährung geräth. Nach Feſtſtellung der Thatſache iſt nun die Frage, wie dieſelbe erklärt werden könne. Wie iſt es denkbar, daß eine Zelle lediglich dadurch, daß fie molekulare «phyſikaliſche und chemiſche) Bewegungen veranlaßt, die Ernährung einer anderen Zelle beeinträch— tigt? Eine befriedigende Antwort läßt ſich wie ich glaube, nur mit Hilfe der Annahme erlangen, welche ich früher wahrſcheinlich zu machen ſuchte, daß die Gährungs— bewegung nicht blos innerhalb der Zelle, ſondern auch in einer dieſelbe umgebenden Flüſſigkeitsſphäre ſtatt- findet. Die Schwingungen im | Plasma der Sproßhefezellen werden auf molekularen die Zellflüſſigkeit und von dieſer durch Fort— pflanzung der Bewegung auf die außerhalb der Zellen befindliche Löſung übertragen. Liegt eine Hefenzelle iſolirt in der Flüſſigkeit, ſo werden die Gährungsſchwingungen in einer beſtimmten Entfernung unmerkbar gering. Wenn aber zahlreiche Hefenzellen durch eine Zuckerlöſung vertheilt ſind, ſo gerathen bald alle Zuckermoleküle in analoge Schwing— ungszuſtände, die jedoch nur in der nächſten Umgebung jeder Zelle ſtark genug ſind, um eine Spaltung zu bewirken. Die ungleichen molekularen Schwing— ungen im Plasma der verſchiedenen Hefen— arten bedingen ungleiche Schwingungszuſtände in den Zuckermolekülen, welche in eigen— artigen Störungen des Gleichgewichtes be— ſtehen und daher zu eigenartigen Spaltungen (Alkoholgährung, Milchſäuregährung, Man— nitgährung) führen. Wenn nun in einem gegebenen Moment zahlreiche Sproßpilze in einer Zuckerlöſung vertheilt find, fo wird dieſe in die eigenartigen Schwingungs— zuſtände der Alkoholgährung verſetzt. Die wenig zahlreichen und iſolirten Spaltpilze vermögen dagegen nicht aufzukommen, fie vermögen auch den nächſtliegenden Zucker— molekülen nicht die der Milchſäuregährung oder Mannitgährung entſprechenden Schwing— ungszuſtände mitzutheilen. Es müſſen im Gegentheil die durch die ganze Flüſſigkeit verbreiteten, der Alkoholgährung zukommen— den Bewegungen bis in die Spaltpilzzellen hinein ihre Wirkung äußern und hier die normalen Bewegungszuſtände im Plasma beeinträchtigen. Denn da die Schwingungen im Plasma ſolche in der Flüſſigkeit hervor- rufen, ſo müſſen auch Schwingungen in der Flüſſigkeit, die durch fremde Urſachen bedingt ſind, diejenigen im Plasma ver— ändern; und da jede Hefenart eigenthüm— liche Bewegungszuſtände auf die Flüſſigkeit überträgt, jo muß fie durch andersartige Bewegungszuſtände der Flüſſigkeit anormal, alſo krankhaft berührt werden. Wir be— greifen daher, daß eine reiche Ausſaat und Vegetation von Sproßhefe die ſpärlich vor— handenen Spaltpilze am Wachsthum und an der Vermehrung hindert und ſomit unterdrückt.“ — Nägeli verſucht nun auch die Größe der Wirkungskreiſe einer Sproßhefenzelle zu berechnen. Er gelangt — geſtützt auf die Unterſuchungsreſultate beim Verdrängen der Spaltpilze durch Sproßpilze zu dem Schluß, daß der Radius der Wirkungsſphäre einer Sproßhefenzelle wenigſtens auf 0,03 bis 0,04 mm, ſomit die Diſtanz von der Zellenoberfläche, wo die Wirkung noch be— merkbar iſt, auf 0,025 bis 0,035 mm zu veranſchlagen iſt. Zum nämlichen Reſultat gelangte Verf. auch bei der Betrachtung der Gährungs-Erſcheinungen im Frucht— fleiſch außerhalb der Hefenzellen. Wenn wir dem Phyſiologen Schritt für Schritt folgen und den Verlauf der ſo ſcharfſinnig angeſtellten Experimente mit der dem Verf. eigenen Objektivität über— wachen, wenn wir die Reſultate dieſer zahl— reichen Verſuche vergleichend gegen einander halten, ſo drängt uns die Fülle der zuver— läſſigen Thatſachen mit Nothwendigkeit zur Nägeli'ſchen Theorie, die in der That alle hierher gehörenden Erſcheinungen erklärt und mit keiner einzigen der bis jetzt bekannt ge— wordenen Gährungs-Erſcheinungen in Wi— derſpruch ſteht. An die Darſtellung der Concurrenz— Literatur und Kritik. ebe, d. deckung das Verdienſt Nägeli's iſt. Die Eiweiß-Ausſcheidung gährthätiger Zellen wird ebenfalls nur durch die Nägeli'ſchen Theorien von der Molekularſtruktur orga— niſirter Körper und von der Gährwirkung verſtändlich. Bei dieſem Anlaſſe giebt uns der Verf. ein durchſichtiges Reſüme feiner Molekular-Phyſik, das für alle Biologen hinreichend Intereſſe beſitzen dürfte, um hier in Kürze ſkizzirt zu werden. Es giebt zweierlei Gruppen von Stoffen, die in Löſungen ganz eigenthümliche Ver— halten zeigen. Die Differenz zwiſchen dieſen Stoffkategorien beruht auf der molekularen Conſtitution und mit Rückſicht auf die letztere haben wir zu unterſcheiden: a. Löſungen von Salzen, Zucker u. ſ. w., bei denen zwiſchen den Waſſertheilchen die vereinzelten Moleküle vertheilt ſind. b. Löſungen organiſirter Stoffe: Eiweiß, Stärke, Celluloſe, bei denen vereinzelte Mi— h. vereinzelte Molekülgruppen, zwiſchen den Waſſertheilchen verbreitet ſind. Die Stärkekörner, die Zellmembranen und alle anderen organiſirten Subſtanzen, mögen ſie aus eiweißartigen, leimgebenden, elaſtiſchen, hornartigen oder anderen Stoffen beſtehen, ſind nämlich nicht unmittelbar aus den Molekülen aufgebaut, ſodaß dieſe eine continuirliche Zuſammenordnung bilden würden, ſondern die nächſten Beſtandtheile ſind kryſtalliniſche Molekülgruppen, ſogenannte Micelle, die im imbibirten Zuſtande je durch eine Waſſerſchicht von einander getrennt ſind. Nägeli hat ſchon vor zwanzig Jahren nachgewieſen, daß dieſe und Verdrängungsverhältniſſe reihen ſich die Abſchnitte über die Wirkung der Gifte, die Wirkung der Erſchütterungen auf die Gährthätigkeit, über die Ausſcheidung von Eiweiß aus gährthätigen Zellen, eine durch— aus fremdartige Erſcheinung, deren Ent— Molekül-Gruppen (Micelle) der organiſirten Subſtanzen eine kryſtallähnliche Geſtalt be— ſitzen, was aus dem optiſchen Verhalten gegen das polariſirte Licht erhellt. Daß dieſe Micelle im imbibirten Zuſtande von einer Waſſerhülle umgeben ſind, daß alſo jedes 404 Micell von feinen Nachbarn durch eine dünnere oder dickere Waſſerſchicht getrennt iſt, geht aus dem Verhalten der organiſir— ten Subſtanzen beim Austrocknen und Wie— deraufquellen hervor, indem beim Austrock— nen die Waſſerhüllen der einzelnen Micelle verſchwinden, während beim Wiederauf— quellen in Waſſer die feſten Molekül-Grupen (od. Micelle) durch das zwiſchen ſie tretende Waſſer wieder von einander getrennt werden. Nun können ganz in analoger Weiſe, wie die Salz- und Zuckerkryſtalle ſich im Waſſer in die einzelnen Moleküle auflöſen, auch die organiſirten Körper in geeigneter Löſungsfähigkeit in die einzelnen Micelle zerfallen und ſich in der Flüſſigkeit ver— theilen, alſo eine Löſung bilden. Alle orga— niſirten Körper zerfallen zuerſt in die Micelle, wenn überhaupt eine Trennung in kleinſte Theile möglich iſt, und im Allgemeinen ſind von den organiſirten Verbindungen blos Micellar-Löſungen bekannt. — Beim Uebergang in den feſten Zuſtand legen ſich die kleinſten Theilchen der Löſungen orga— niſirter Verbindungen nicht zu Kryſtallen, ſondern zu kryſtallähnlichen Körpern zu— ſammen, die Nägeli „Kryſtalloide“ genannt hat. Letztere haben die größte Aehnlichkeit mit Kryſtallen, aber ſie imbibiren ſich mit Waſſer, verlieren daſſelbe wieder durch Ver— dunſten (Eintrocknen) und find unter dem Einfluß ſtärkerer Mittel, z. B. Säuren und Alkalien, einer weitergehenden Quell— ung fähig. „Die Micelle in den Kryſtall— oiden find alſo in benetztem Zuſtande durch Flüſſigkeitsſchichten getrennt. Sie erweiſen ſich mit Hilfe des polariſirten Lichtes als doppelt⸗lichtbrechende, winzige Kryſtällchen. Sie ſind ferner, was ihre Zuſammenſetzung betrifft, entweder, wie die Moleküle in den gewöhnlichen Kryſtallen, in parallele Ebenen angeordnet, die nach drei räumlichen Dimen— En Literatur und Kritik. ſionen verlaufend ſich kreuzen (in den Kry— ſtalloiden der Albuminate), oder in Kugel— ſchalen um einen gemeinſamen Mittelpunkt (in den Sphärokryſtallen von Inulin), oder in Cylindermänteln um eine gemeinſame Achſe gelagert (in den Cylinderkryſtallen oder Disko-Kryſtallen von Amylodextrin). Die Analogie mit den Kryſtallen beſteht darin, daß die Micelle in der nämlichen Schicht gleichartig gerichtet und und daß die gleichlaufenden Schichten in ihrer Orientir— ung mit einander übereinſtimmen. Aus Albuminaten beſtehende Kryſtalloide ſind im Pflanzenreich durch zahlreiche Beiſpiele bekannt geworden. Kryſtalloidbildungen von Kohlenhydraten ſind bis jetzt bei Inulin und Amylodextrin beobachtet worden. Nägeli vermuthet, daß von allen Subſtanzen, welche Micell-⸗Löſungen bilden, auch Kryſtalloid— Ausſcheidungen erhalten werden können. Die Micellar-Löſungen können ſich auch inſofern verändern, als die Micelle, die ja aus größeren Gruppen von Molekülen be— ſtehen, ſelbſt wieder in kleinere Molekül— gruppen (Micellchen) zerfallen; aber alle bisherigen Beobachtungen ſprechen daf är, daß die Micellarlöſungen organi— ſirter Subſtanzen nicht ohne che— miſche Umwandlung in eine Mole- kularlöſung übergehen können. Das erhellt aus den Unterſuchungen über die Stärkekörner und die verſchiedenen Stärke— modificationen. Das gelbe Dextrin iſt noch eine Micellarlöſung; die Spaltung in die einzelnen Moleküle iſt nur mit der chemi— ſchen Umſetzung in Zucker möglich. Ganz ähnlich verhält ſich Celluloſe, und die Al— buminate werden nur bei der Umwandlung in Peptone zu Molekularlöſungen: „Die molekulare Unlöslichkeit der organiſirten Verbindungen muß überhaupt als eine der 4a da Literatur und Kritik. tigſten Eigenſchaften für das Be ſtehen der Organismen betrachtet werden.“ So verdanken es z. B. die Albuminate f unſerer niedrigſten Pflanzen wohl die be— nur ihrer molekularen Unlöslichkeit, daß ſie nicht durch Diosmoſe aus den waſſerbe— wohnenden Organismen entweichen, ſondern als Micelle alle die verſchiedenen Aufgaben erfüllen können, die dem Plasma zukommen. Die Micelle find aus leicht erſichtlichen FR geneſis des Pilzreiches noch einige werthvolle Aeußerungen ab, denen wir des— halb eine hohe Bedeutung beilegen, weil Nägeli gerade in der Descendenz-Frage bühmteſte Autorität genannt werden muß. Ihm verdankt die Wiſſenſchaft ja bekannt— lich eine Monographie der einzelligen Algen, welche heute — dreißig Jahre nach ihrem Gründen in der Löſung viel weniger be weglich, als es die Moleküle in Löſungen ſind. Jene legen ſich, wie Nägeli zeigt, leicht an einander und bilden das, was er Mi— cellverbände nennt. Die Micellarlöſungen beſitzen die Eigen— thümlichkeit, ſich bei langſamem Ausfließen zu langen, dünnen Fäden auszuziehen und ſich nicht in Tropfenform zu trennen. Bei der langſamen Bewegung, wobei die Micelle in derſelben Richtung ſtrömen, legen ſie ſich in Ketten an einander und wirken ſo dem Beſtreben der beweglichen Waſſer-Moleküle zur Tropfenbildung entgegen. f Nägeli findet die Urſache, warum Micellarlöſungen nicht oder nur ſchwer durch Membranen diosmiren, eben in dem Um— ſtand, daß die Micelle in den Löſungen große Neigung zeigen, größere Verbände zu bilden. Dieſer Neigung kann durch Säuren oder Alkalien entgegengewirkt werden, wobei die Affinität der einzelnen Micelle zu einander vermindert und die molekulare Be— wegung in der Flüſſigkeit lebhafter gemacht wird. Waſſer zieht aus den Bierhefezellen kein Eiweiß aus, dagegen vermag dies eine alkaliſche Löſung. Dieſe Eiweiß-Diosmoſe beruht darauf, daß die Micellarverbände in die einzelnen Theile ſich trennen, oder viel- mehr, daß ſolche Verbände nicht zu Stande kommen. Zum Schluſſe fallen für die Phylo— muß. | | Erſcheinen — immer noch als die bedeutendſte Leiſtung auf dieſem Gebiet betrachtet werden Gleich ſicher auf dem Felde der Morphologie und Entwickelungsgeſchichte, wie auf dem Gebiet der experimentellen Phuyſiologie und der Descendenzlehre, wird uns Nägeli am eheſten Wegleitung zu geben im Stande ſein, wenn es ſich darum han— delt, die Abſtammungsfrage der niedrigſten Pflanzen zu erwägen. Nägeli weiſt darauf hin, daß Ferment— wirkungen wohl bei allen Organismen ohne Ausnahme vorkommen, daß aber die eigentlichen Gährwirkungen ſämmtlich ſpecifiſche Eigenſchaften ſind, inſofern ſie im normalen Zuſtand, d. h. bei geſunder, kräftiger Vegetation nur beſtimmten Pilz— formen zukommen, die Alkohol-Gährung nur einem Theil der Sproßpilze, die Milchſäure— Gährung nur gewiſſen Spaltpilzen, die Eſſig-Gährung nur dem Eſſigpilz (Eſſig— mutter und Eſſighäutchen) u. ſ. f. Indeß iſt nicht zu überſehen, daß das Vermögen, Zucker in Alkohol und Kohlenſäure zu ſpal— ten, auch dem Plasma einer Menge von anderen Pflanzenzellen im krankhaften Zu— ſtande, aber nur im geringen Maße, zukommt. „Wenn nun die nämliche Erſcheinung in einem Gebiet der organiſchen Reiche in voller Ausbildung auftritt und einen we— ſentlichen Theil des Ganzen ausmacht, in einem andern aber verkümmert und bedeut— 3 406 ungslos vorhanden ift, jo wird dies ge— wöhnlich und mit Recht ſo gedeutet, daß ſie dort, wo ſie den Nutzen gewährte, ſich ausgebildet habe, daß ſie dagegen in den jenem Gebiet abſtammenden Gebieten, wo ſie überflüſſig geworden, mehr oder weniger verkümmert fer und ſich nur noch in ver erbten Andeutungen erhalten habe. Eine ſolche Erklärung wäre aber für den vor— liegenden Fall offenbar unſtatthaft; denn es wird Niemand etwa behaupten wollen, daß alle übrigen Pflanzen, in welchen ab— normale Alkoholbildung vorkommt, als Ab— kömmlinge der Sproßhefenpilze zu betrach— ten ſeien. Es iſt aber auch die entgegengeſetzte Erklärung möglich; eine Erſcheinung iſt bei den Vorfahren unſcheinbar und ohne Be— deutung und bildet ſich bei den Nachkom⸗ men, denen ſie Nutzen gewährt, aus. Dies muß ſogar immer der Fall ſein, jede Eigen— ſchaft muß, da ſie nicht aus Nichts ent— ſtehen kann, bei den Vorfahren ſchon in irgend einer Weiſe als Anlage vorhanden geweſen ſein. Nur ſind dieſe Anlagen ſelten augenfällig und nachweisbar. Das Vermögen, Zucker in Alkohol und Kohlenſäure zu ſpalten, kommt dem Plasma einer Menge von Pflanzenzellen im krank— haften Zuſtande und in geringem, oft kaum bemerkbarem Maße zu. Es iſt, wie jo viele andere, eine aus den Molekularver— hältniſſen mit Nothwendigkeit hervorgehende Eigenſchaft, die aber noch keine phyſiologiſche Bedeutung hat. Dieſe Eigenſchaft kann im Laufe der Generationen zu- oder abnehmen; ſie wird aber nach phyſiologiſchen Geſetzen nur da ſich ſehr bedeutend ſteigern und normal werden, wo die Vergährung des Zuckers ſich als vortheilhaft erweiſt. Sol— ches iſt bei manchen Sproßpilzen geſchehen. a Literatur und Kritik. noch ein Räthſel. Es läßt ſich kaum eine Andeutung geben, warum die Sproßpilze | mehr als andere geeignet waren, durch gei— ſtige Gährung Kraft zu gewinnen und da— durch die Fähigkeit erlangen, in ſauerſtoff— loſen Flüſſigkeiten zu leben. Indeſſen ſpricht dieſer Mangel nicht etwa gegen die Auf— faſſung überhaupt, da er ja im Grunde noch allen phylogenetiſchen Erklärungen an— klebt. Daß es aber Pilze giebt, welche bald in nicht gährtüchtigen Schimmelformen, bald in gährtüchtigen Sproßpilzformen auf— treten (wie die Mucor-Arten), ſpricht eben- falls nicht gegen die phylogenetiſche Erklär— ung, ſondern beweiſt nur, wie leicht die beiden Zuſtände in einander übergehen, wenn einmal beide zu Eigenſchaften der gleichen Species geworden ſind. Die ſelbſtſtändigen Sproßpilze (Saccharomyces) find ohne Zweifel aus Schimmelpilzen entſtanden, und für ſie beſonders gilt die phylogenetiſche Ab- leitung der Gährtüchtigkeit. Der genetiſche Zuſammenhang der Spaltpilze mit an— deren niederen Pflanzen iſt noch dunkel; es iſt möglich, daß ſie von den morphologiſch verwandten Noſtochinen (im weiteren Sinne) abſtammen, wiewohl auch das Um— gekehrte nicht ausgeſchloſſen iſt. Inner— halb der Spaltpilzgruppe ſelber laſ— ſen ſich manche morphologiſche For— men durch die Kultur leicht in ein— ander umwandeln, und die ſpecifi— ſchen Gährtüchtigkeiten gehen eben- falls durch Kultur leicht verloren, oder werden in andere übergeführt. Hier verhalten ſich die verſchiedenen mor— phologiſchen und phyſiologiſchen Merkmale innerhalb der Species ähnlich wie die Schimmel- und Sproßformen bei Mucor, indem ſie unter geänderten äußeren Um— * Warum nur gerade bei dieſen, iſt vorerſt ſtänden bald durch raſchere, bald durch 1 € Literatur und Kritik. langſamere Anpaſſung ſich um- und aus— bilden.“ Nägeli unterließ es, in ſeinem Buch „Theorie der Gährung“ die ihm zur Ver— fügung ſtehenden Beiſpiele mitzutheilen, welche den morphologiſchen und phyſiologi— ſchen Polymorphismus von Cpaltpilzen ſchlagend illuſtriren. Ich verweiſe daher auf das Verhalten des Milzbrandpilzes (Bacterium Anthraeis), der bald als Stäb— chen, bald in langen fädigen Gebilden auftritt, bald eigene Bewegung beſitzt, bald paſſiv iſt und in ſeiner ganzen Entwickelungsge— ſchichte ſo vollkommen mit den ſogen. „Heu— Bacterien“ Nägeli's (Bacillus subtilis Cohn) übereinſtimmt, daß er mikroſkopiſch von dieſen gar nicht zu unterſcheiden iſt.“) Durch Culturverſuche iſt erwieſen, daß der Milzbrandpilz auch phyſiologiſch in andere Formen übergehen kann, in— dem er ſein Anſteckungsvermögen nach und nach verliert, ſo daß die Nägeli'ſche Annahme, der Milchbrandpilz ſei nur eine beſonders angepaßte Heubakte— rien⸗-Form und entſtehe gelegentlich immer wieder neu aus den Heubakterien, die größte Wahrſcheinlichkeit gewinnt. Es giebt alſo in der That Spaltpilzſpecies, die ſich ähnlich verhalten, wie die bald gährtüchtigen, bald nicht-gährtüchtigen Mucor-Arten. Zürich. Dr. Arnold Dodel-Port. Ueberzeugungstreue. Autoriſirte deutſche Bearbeitung des Eſſay „On Compro- mise“ von John Morley. Mit Einleitung und Anmerkungen von Fr. Ludwig Haller. Hannover, Carl Rümpler, 1879. LXXXVI. u. 185 S. ) Vergl. Dodel-Port, Anatomijch- phyſiologiſcher Atlas der Botanik, die ſoeben erſchienene Tafel mit „Bacterium Anthraeis“. Kosmos, III. Jahrg. Heft 11. 407 „Ein gutes Wort zur rechten Zeit,“ ſo wird man dieſes kleine Buch in unſerer Zeit der Compromiſſe auf politiſchen, reli— giöſen und naturwiſſenſchaftlichen Gebieten nennen müſſen. Jeder ſollte es leſen, denn Jeder kann daraus lernen, eine der ſchwie— rigſten Fragen unſerer Zeit zu würdigen und den Muth ſeiner Ueberzeugung zu ſtärken. Sehr wahr ſchildert der Verfaſſer S. 5 die Sachlage: „Einfache, nicht ver— klauſulirte Sätze werden den Leuten heut— zutage weniger plauſibel, oder man begegnet doch wenigſtens immer häufiger jener gei— ſtigen Schlaffheit, die zwei völlig entgegen— geſetzte Doktrinen ruhig nebeneinander gelten läßt. Unterdrückung der eigenen Meinung, wenn nicht gar direktes Vertreten einer als falſch erkannten Meinung, wird kaum noch als ein Unrecht angeſehen, ja paſſirt wohl gar als Tugend und weiſe Beſonnenheit. Man beſchwört uns, doch ja die heilig ge— haltenen Ueberzeugungen der Andern zu reſpektiren, aber man geſtattet uns nicht, den gleichen Reſpekt für unſere eigenen Ueberzeugungen in Anſpruch zu nehmen. Dieſe Furcht vor dem Prinzip möchte an— erkenneswerth ſein, wenn ſie etwa auf einer beſonders ängſtlichen Beſorgniß vor nicht genügend bewieſenen Behauptungen oder auf einem beſonders ausgeprägten Bewußt— ſein der Relativität und Bedingtheit alles deſſen, was wir Wahrheit nennen, beruhte. . .. Sieht man aber der Sache näher ins Geſicht, ſo erſcheint jene Furcht lediglich als das Ergebniß einer ſchwächlichen Vor— liebe für den status quo ....“ „Zu rückhaltung und Anbequemung werden aller- ſeits angeprieſen, weil ſie das Leben bequem machen. Bequemes Leben aber, und nichts als bequemes Leben iſt das Ziel aller Wünſche. Was wahr iſt, darnach fragt Niemand, ſondern nur darnach, was zweck— 53 — 408 dienlich und bürgerlich fein reſpektabel iſt.“ (S. 19.) Mit Recht warnt der Verfaſſer (S. 14) vor der mißbräuchlichen Anwendung der Darwin 'ſchen Theorie, ſofern man mit Weiterentwickelung der Zuſtände baut, ohne | ſelbſt die Hand dabei zu rühren. „Jede | Zeit“, ſagt er weiterhin „kann in gewiſſem | | Sinne eine Uebergangszeit genannt werden, ihrer Hilfe Alles gut heißen will, was hiſtoriſch geworden iſt, und auf die ruhige Literatur und Kritik. Wie auch das Wiſſen ſich erweitert, wie aber die unſrige verdient in Anſehung der bisherigen Grundlagen des Glaubens und Handelns dieſen Namen im Sinne. blaßt, die alten Schreckbilder flößen keine Furcht mehr ein, der weiland felſenfeſte Glaube iſt hinfällig geworden. Was auch mit der Religion künftig noch werden mag, ſoviel iſt ſicher, daß ſie in der Gegenwart keine organiſche Lebenskraft mehr hat und für die Menſchheit nicht mehr das iſt, was ſie ehemals war und künftig in anderer Form vielleicht wieder ſein wird. Dieſer Niedergang hat für furchtſame Gemüther um ſo mehr Schreckhaftes, und ſelbſt für ſtärkere Geiſter um ſo mehr Beängſtigendes, als er ſich auf ganz indirektem Wege, ganz ſtill, ganz unmerklich und gleichſam durch die Kraft unſichtbarer Hände vollzieht. Die in den Burgen des alten Glaubens wohnen, ſchauen verwundert und ängſtlich um ſich her und machen den unſtäten, aufgeregten Eindruck von Leuten, die tagtäglich eines Erdbebens gewärtig fein müſſen. . .. Und dieſes Uebel der Schwachmüthigkeit, des Sichherumdrückens um eine entſchiedene Mein— ung, aus Furcht vor den Folgen, dieſer Mangel an Treu und Glauben in den höchſten und wichtigſten Dingen, wird noch verſchlimmert und zur Lebensfrage geſteigert durch das Vorhandenſein einer Staatskirche. eminenten Die alten Hoffnungen find ver- heftig auch die Geiſter aufeinander platzen, ſie bleibt feſtgeankert an ihre alten Formel— bücher . . . . Wer ein Diener dieſer Kirche werden will, hat bereits an der Schwelle des Mannesalters alles weitere Forſchen feierlicht abzuſchwö'ren. Ehe er noch Zeit gehabt, ſelbſt zu denken, oder die Gedanken Anderer in ſich aufzunehmen, läßt man ihn eidlich geloben, daß bis zu ſeinem Todestage an ſeinem Glauben ſich niemals etwas ändern ſolle. Mit dieſem Eid begeht er gleichſam einen Akt geiſtiger Selbſtver— ſtümmelung. . . .. u Beſonders wichtig ift das zweite Kapitel, welches der landläufigen Anſicht begegnet, daß Irrthum heilſam ſein könne. Dieſe Anſicht iſt in der That der Krebsſchaden unſerer privaten Auffaſſungen. Die meiſten Gebildeten ſcheuen ſich in Glaubensſachen ihre wahre Meinung zu bekennen, weil ſie glauben, dem allgemeinen Beſten ſei der Irrthum heilſam, ſelbſt Geiſtliche fahren wider ihre beſſere Ueberzeugung fort, Dog— men zu predigen, an die ſie längſt nicht mehr glauben. Die Abſicht mag gut ſein, aber wie der Verfaſſer ſehr ſchön nach— weiſt, verfehlt ſie völlig ihren Zweck und erzieht ein allgemeines Heuchelſyſtem, was nimmermehr gut ſein kann, vielmehr grade zu einem endlichen gewaltſamen Zuſammenbruch führen muß, während allge— meine Offenheit einen allmählichen Uebergang zu anderen, feſteren Grundlagen der Geſell— ſchaft erleichtern würde. Allerdings räth der Verfaſſer durchaus zu keinem rückſichts— loſen Aufräumen mit den alten Irrthümern. Er hält es mit der Meinung Condorcet's über dieſe ſchwierige Frage. „Der Ueber— gang vom Irrthum zur Wahrheit,“ ſagt Condorcet,“ kann gewiſſe Uebel mit ſich bringen. Jede große Veränderung hat einige Literatur und Kritik. 409 ſolche Uebel im Gefolge, und wenn ſie auch Zweifeln weiter übte, mögen zu entſchuldigen ſammt und ſonders geringer ſind, als das ſein, ſoweit ſie Andere in der beſten Abſicht Uebel, gegen welches die Veränderung ge— richtet iſt, ſo ſollte doch immer das Mög— liche zu ihrer Herabminderung geſchehen. Man muß nicht allein das Gute thun, man muß es auch auf eine gute Art thun. Gewiß ſollen wir alle Irrthümer beſeitigen, aber da fie nicht alle in einem einzigen Augen- blick beſeitigt werden können, jo ſollten wir es machen, wie ein vernünftiger Baumeiſter bei Abbruch eines Gebäudes. Er weiß, wie die einzelnen Theile des Gebäudes in einander gefügt ſind und leitet den Abbruch ſo, daß ein gefährlicher Zuſammenſturz ver— mieden wird.“ | Im Jahre 1779 ſtellte die königlich Thema für die jährliche Preisbewerbung die Beantwortung der Frage: „S'il est utile au peuple d'étre trompé?“ Drei— unddreißig Preisſchriften liefen ein, von denen zwanzig die Frage verneinten, drei— zehn ſie bejahten. Die Akademie gab einen in der That ſeltenen Beweis von Unpartei— lichkeit, der in Paris und Berlin viele Heiterkeit erregte, indem ſie nämlich zwei Preiſe ertheilte, den einen für die beſte Begründung der erſteren, den anderen für die beſte Begründung der letzteren Meinung. Zu den Bekennern der letzteren Meinung gehört bekanntlich auch Renan, während Morley ſich entſchieden dagegen ausſpricht und mit Condorcet nachweiſt, wie das Aufrechthalten als ſolcher erkannter Irr— thümer nicht nur die intellektuellen Fähig— keiten beeinträchtigen, ſondern vor allem die moraliſche Erziehung der Klaſſen ſchädigen, mithin gerade das Gegentheil von dem er— reichen müſſe, was man beabſichtigt. Solche Perſonen wie der Rouſſeau'ſche Vicaire savoyard der ſein Amt unter fortwährenden — täuſchen, allein ſowie der Geiſtliche aus den Zweifeln zu einer beſtimmten Ueberzeugung hinſichtlich einzelner Punkte gekommen iſt, die er aus gewiſſen Rückſichten auf ſeine Vorgeſetzten oder auf ſich ſelber verleugnet, jo artet fein Amt bald zur ſyſtematiſchen — Heuchelei aus. Er täuſcht die ſeiner geiſtigen Pflege Befohlenen mit vollkommener Ab— ſichtlichkeit. Im vierten Kapitel geht der Verfaſſer näher auf die ſchlimmſten Aus— wüchſe dieſes Verheimlichungs- und Ver— leugnungs⸗Syſtems der Ueberzeugungen ein; er zeigt wie verhängnißvoll es iſt, wenn die Eltern ihre wahre Meinung den Kindern, ja die Männern ihren Frauen verbergen, preußiſche Akademie der Wiſſenſchaften als weil ſie glauben, die Frauen bedürften mehr religiöſen Halt als fie ſelber, der Irrthum ſei ihnen wie dem Volke nöthig und unent— behrlich. Wie doppelt ſchrecklich muß die Entdeckung einer Frau ſein, die ſchließlich doch dahinter kommt, daß ihr Gatte ſie täuſcht, und ihr damit den letzten Halt zum Vertrauen untergräbt. Der Verfaſſer iſt kein Radikaler. Er tadelt weder die Strenggläubigen, noch die Ungläubigen, er verlangt von Niemandem, daß er etwas annehmen ſoll, was ihm nicht gehörig begründet erſcheint, er hält es für vollkommen in der Ordnung, daß man in den höchſten Fragen der Religion ſein Ur— theil aufſchieben mag und in Zweifel bleiben kann, aber er verlangt, daß man ſeine wahre Meinung offen bekenne und vertrete und nicht einen Glauben heuchle, den man nicht hat. Selbſt ſeine Zweifel ſoll man nicht verleugnen, denn „auch der Zweifel hat,“ wie Dr. Newman geſagt, „ſeine Freuden, gleichwie das von Schlußfolgerung zu Schluß— folgerung fortſchreitende Denken und die durch Denken gewonnene Ueberzeugung ihre F Literatur 410 Freuden haben.“ (S. 92.) „Wer aber zweifelt und nicht forſcht, der iſt,“ ſagt Paskal (Pensées II. 2) „ein ſchwerer Sünder und ein unſeliger Mann. Für den endlich, der ſich bei ſeinen Zweifeln ruhig und zufrieden fühlt, die Zufriedenheit vielleicht gar zur Schau trägt und ſich etwas darauf zu Gute thut, — für einen ſolchen Wahnwitzigen habe ich keinen Namen.“ Dieſe Citate mögen genügen, um die hohe Bedeutung dieſes an das Gewiſſen der Nationen pochenden Werkes gerade für unſere Zeit der Compromiſſe und Halb— heiten darzuthun. Die Bearbeitung — denn um eine ſolche, nicht um eine Ueberſetzung handelt es ſich — iſt im hohen Grade ge— lungen. viel radikaler als der Verfaſſer, und bei— ſpielsweiſe ſeine Meinung über die Refor— mation, welche das Werk der Aufklärung verlangſamt ſtatt beſchleunigt habe, können wir nicht theilen, denn erſtens iſt an der Ueberzeugungstreue Luther's und der an— deren Reformatoren nicht zu zweifeln, und zweitens wiſſen wir nicht, wo wir ohne Reformation heute wären. Sie mag jetzt als eine Halbheit erſcheinen, indeſſen doch nur, weil man ihre Satzungen aufs Neue zu ſtarren Dogmen gemacht hat, ſtatt ihrem Geiſte weiter zu folgen. Indeſſen muß man ſeine ausführliche Begründung des Tadels in der Einleitung leſen. 7 Anleitung zur Durchmuſterung des Himmels. Aſtronomiſche Objekte für gewöhnliche Teleſkope. Ein Hand- und Hilfsbuch für alle Freunde der Himmels— kunde, beſonders für die Beſitzer von Fernrohren. Von Dr. Herrmann J. Klein. Mit 75 in den Text einge— druckten Holzſchnitten, fünf Tafeln zum Theil in Farbendruck, vier Der Bearbeiter iſt im Grunde und Kritik. und einem Titelbilde. Braunſchweig, Friedrich Vieweg, 1880. 592 in 89. | Wenn man dieſes Buch mit einem tref— | fenden Ausdruck kurz bezeichnen wollte, jo könnte man es einen „Bädeker für das Weltall“ nennen, denn es iſt in der That ein Führer auf den gewaltigen Reiſen um die Welt, zu dem man Zutrauen haben darf. Wenn man bedenkt, wie unzählige begeiſterte Freunde die Sternkunde in allen Schichten des Volkes hat, und wie leicht es heute ſelbſt dem Mäßigbegüterten iſt, ein gutes Fernrohr zu erlangen, ſo muß man ſich eigentlich wundern, daß wir ein Buch wie das vorliegende erſt jetzt erhalten. Wenn ich dabei J. E. Bode's Anleitung zur Kenntniß des geſtirnten Himmels, die in ſiebenter Auflage vom Jahre 1801 vor mir liegt, vergleiche, ſo iſt der Fort— ſchritt groß und erfreulich, und es drängt | ſich dabei die Frage auf: War denn um den Anfang des Jahrhunderts das Bedürfniß nach direkter Beſchäftigung mit dem Sternen— himmel größer als heute, wo man ſich mehr mit bloßen Schilderungen der „Wunder der Sternenwelt“ zu begnügen ſcheint? Die Engländer haben ſeit längerer Zeit ein kleines Buch von Webb, welches weiter— gehende Bedürfniſſe erfüllt als bei uns Dieſterweg, Littrow und die ähn— lichen Werke, aber ſeinerſeits wieder bei Weitem durch das vorliegende Buch über— troffen wird, in welchem auch die Aſtro— phyſik eine entſprechende Berückſichtigung gefunden hat. Ueberhaupt darf bemerkt werden, daß das Werk nicht allein für Himmels-Touriſten „ ſondern auch für gründlichere Studienreiſende beſtimmt iſt und ſehr weitgehenden Anſprüchen genügen | wird. Die Ausſtattung ift, den Gepflogen— heiten der Verlagshandlung entſprechend, eine ebenſo gediegene als prächtige. — — — Sternkarten Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig. Entfichungsaefdicte der Dorkellung „Aeele“. Von Prof. Dr. Fritz Schultze. 5. Das Seelenland. a die Seelen in der An— 5 ſchauung des Naturmenſchen börperlich, alſo raumerfüllende Weſen ſind, ſo müſſen ſie auch S nach ihrer Lostrennung vom OR einen Ort einnehmen. Wo liegt dieſer Seelenort? Es wäre ganz falſch zu meinen, die urſprüngliche Vorſtellung ſei die, daß die Seelen gleich einem fernen „Himmel“ oder einer „Hölle“ zueilten. Dieſe Vorſtellungen exiſtiren anfänglich noch nicht, ſondern ſind erſt das Erzeugniß einer ſpäteren Entwickelungsſtufe. Was kennt der Wilde von der Welt? Urſprünglich nichts als die geringe Scholle Landes, auf der er ſich bewegt, nicht zu viele Meilen im Um— fang. Vor der Gründung engliſcher Co— lonien hatten die an der See wohnenden Weſtauſtralier z. B. die dicht an der Küſte | liegenden Inſeln niemals beſucht. Die III. (Schluß.) Kenntniß des Menſchen von der Erde wächſt ſehr langſam und allmählich, und es leuchtet daher völlig ein, warum der Menſch zuerſt in ſeiner größten räumlichen wie geiſtigen Beſchränktheit ſich auch den Seelenort als in unmittelbarſter Nähe be— findlich denkt, wie er dann aber, weil er den Ort der Seelen in Wahrheit auf dem von ihm genauer unterſuchten Gebiet nie vorfindet, denſelben immer entfernter vorſtellt und ihn in dem Maße hinausſchiebt, als feine Ortskenntniß zunimmt; wie er ihn endlich zwar noch auf der Erde, doch ſchon in unerreichbarer Ferne denkt, endlich ihn unter die Erde verſetzt und ihn zuletzt gar auf die Sterne und, wie Platon, über das Himmelsgewölbe verlegt. Die Ferner— rückung des Seelenortes geht aljo parallel der allmählichen Erwei— terung der geographiſchen Kennt— niſſe der Menſchheit vor ſich. Wie alſo Menſchenwelt und Geiſterwelt urſprünglich noch zuſammenfallen, ſo iſt auch zuerſt Seelenort und Menſchenort noch Kosmos, III. Jahrg. Heft 12. 54 412 identiſch. Die abgeſchiedene Seele bleibt im Hauſe; wo ſie im Leben vorzugsweiſe weilte, da weilt ſie auch nach dem Tode; denn ſie hat ja noch dieſelben Intereſſen wie früher, ſie hängt an ihrem Beſitzthum, und zumal ſind es zurückgelaſſene, ihr am Herzen liegende Güter, wie vergrabene Schätze, die ſie gern umſpukt. Selbſt da, wo die Seele ſchon genöthigt iſt, in ein fernes Geiſterland zu wandern, bleibt ſie, wie bei den In— dianern, doch einige Tage nach dem Hin— ſcheiden noch in ihrem Wigwam in der Nähe ihres geliebten Körpers. Den Ueber— lebenden allerdings iſt es gewöhnlich unbe— quem, die mehr oder weniger gefürchtete Seele, die ihre Anweſenheit vielfach in allerlei Unfug, wie z. B. auf Ceylon in dem Zer— ſchlagen von Küchengeſchirr, zu erkennen giebt, im Hauſe zu wiſſen. Sie ſuchen deshalb durch die verſchiedenartigſten Vertreibungs— mittel die Seele zu verhindern, daß ſie ſich irgendwo im Hauſe einniſte, ſowie ſie die einmal glücklich vertriebene durch anderweitige Schreckmittel vom Hauſe fern zu halten ſuchen. Iſt die Seele aber zu ſtark und Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Vorſtellung „Seele“. war ihr Körper. Ihn liebte ſie vor allem, und ſie verläßt ſeine Nähe daher auch nicht eher, als bis ſie geſehen hat, daß er mit rückſichtsvoller Pietät von den Ueberlebenden ſeiner letzten Beſtimmung übergeben iſt. Daher bleibt ſie bei ihm, bis er begraben iſt; daher kann ſie z. B. bei den Griechen nicht eher Ruhe im Hades finden, bis wenigſtens drei Hände voll Erde ihn be— decken, ein Glaube, deſſen Stärke bei den Athenern die zehn Feldherrn nach der Schlacht bei den Arginuſen ſchmerzlich zu empfinden hatten. Weil die Seele den Körper liebt, ſo wird derſelbe nach ihrem Hinſcheiden mit größter Sorgfalt behandelt, man ſucht ihn zu conſerviren, zu mumificiren, und wenn man die Weichtheile noch nicht in dieſer Weiſe zu erhalten verſteht, bewahrt man wenigſtens die vom Fleiſch ſorglich geſäu— berten Knochen auf. Man nimmt dieſelben mit ſich auf die Wanderſchaft, um die dazu gewaltig, um ſich vertreiben zu laſſen, ſo tritt auch der umgekehrte Fall ein: die Lebenden werden von ihr vertrieben, wandern aus und ſiedeln ſich, wie viele Indianer in dieſem Falle, an einer neuen Heimſtätte an. auch nicht gern im Hauſe, ſo behält man ſie doch, zumal die von geliebten Angehörigen, gern in der Nähe. Man ſtellt ihnen draußen Töpfe, Keſſel, Körbe hin, und bittet ſie, darin Wohnung zu nehmen oder doch bis— weilen darin einen Beſuch zu machen. Bei den Papuas hängt man für die Seelen natürlich Verſtorbener) hölzerne Häuschen an die Bäume, damit ſie darin wohnen, wie Staare in Staarkäſten. Duldet man die Seelen | gehörige Seele, wenn dieſelbe freundlich und hülfreich iſt, dadurch fortgeſetzt in ſeine Nähe zu ziehen. Die Seele weilt bei ihrem früheren Eigenthum, namentlich bei ihrem Körper, alſo iſt die Ruheſtätte des Körpers auch ihr Aufenthaltsort. Daher herrſcht denn bei vielen Völkern, welche die Vorſtellung eines entfernten Seelenortes noch nicht ge— bildet haben, der Gedanke, daß die Seele im Grabe reſidire. Wo ihr bereits ein Seelenland in der Ferne winkt, hält ſie ſich nur kurze Zeit im Grabe auf und tritt dann ihre Reiſe an; wo eine Mehrzahl von Seelen im Leibe angenommen wird, bleibt manchmal eine Seele im Grabe wohnen, während die übrigen anderswo hingehen. Iſt die Seele eine ſehr bös— artige, ſo ſucht man durch die verſchiedenſten, ſchon früher erwähnten Mittel fie im Grabe Das unmittelbarſte Wohnhaus der Seele feſtzubannen; anderen Falls läßt man ein * nn en — J Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Vorſtellung „Seele“. Oeffnung in dem Grabhügel, um ihr einen bequemen Ein- und Ausgang zu ſichern. r 413 Thiere, in denen die Seelen verwandter Vor allen Dingen iſt es jetzt nothwendig, die der Seelenwanderung, bei der ein ſittlicher Läuterungszweck offenbar noch gar Seele genügend mit Speiſe und Trank zu verſehen; ließe man ſie Hunger und Durſt leiden, ſo würde ſie Nachts das Grab ver— laſſen und als böſer Vampyr vom Fleiſch und Blut des ſchlafenden Menſchen zehren. Ueberhaupt darf keine Art der Verehrung unterbleiben; jede Vernachläſſigung der Trauergebräuche bringt ſie in Zorn und macht ſie zum böſen Plagegeiſt. Daher muß auch die Grabeshöhle ſo hergeſtellt werden, daß es der Seele darin behagt; das Grab darf nicht zu ſtark mit Steinen oder Erde belaſtet ſein, damit die Seele ſich nicht beengt oder gedrückt fühle. Die Redensart: Möge ihm die Erde leicht ſein! iſt urſprünglich ganz wörtlich gemeint. Der Comfort, an welchen die Seele bei Leb— zeiten gewöhnt war, darf ihr auch jetzt nicht fehlen; die Grabkammer wird geſchmückt und mit dem nöthigen Hausrath verſehen. Vom Grabe aus wandert und fliegt nun die Seele umher, unſichtbar Theil nehmend an den Geſchicken der Lebenden, ja ſie kann ſogar ſelbſt wieder unter die Lebenden zurückkehren, wenn ſie in den Leib eines neugeborenen Kindes einfährt. Viele Indianer begraben daher frühverſtorbene Kinder an lebhaft begangenen Wegen, da— mit die Seelen, die das Leben noch nicht genoſſen und ſomit ein Anrecht auf eine Wiedergeburt beſitzen, eine leichte Gelegen— heit finden, in die Frucht vorübergehender ſchwangerer Weiber zu fahren; in Kindern die mit Zähnen geboren werden, weilt eine ſolche wiedergeborene Seele. Begreiflicher Weiſe kann auf dieſem niedrigen Stand— punkt der Entwickelung die Seele nach ihrem Belieben auch in Thierleiber einfahren, und bei manchen Völkern werden deshalb gewiſſe Menſchen wohnen, nicht getödtet. Wir haben hier die urſprüngliche Theorie nicht in Frage kommt. Erſt in höheren Entwickelungsphaſen wird die Metempſychoſe unter dem Geſichtspunkte eines Buß- und Läuterungsproceſſes der ſündigen Seele be— trachtet. Iſt es aber der Seele möglich, in einen neuen Leib einzufahren, warum ſollte man fie nicht durch geeignete Mittel zun Wander— ung von einem in den andern Körper zwingen, warum ſollte man nicht eine künſt— liche Seelenübertragung bewirken können? So fing man auf Madagascar die Seelen in dem Augenblick, wo ſie durch ein Loch im Dache gerade aus der Hütte des eben Geſtorbenen entſchlüpfen wollten, und impfte ſie dann anderen ſchwerkranken Perſonen wieder ein. So kann der Ueberlebende demnach doch auch ſeinerſeits einen Zwang auf die abgeſchiedene Seele ausüben, und ein wilder Stamm in der Nähe von Tübet verſtand ſogar, nach Marco Polo's Be— richt, durch die Ermordung gaſtfreundlich aufgenommener Fremdlinge, die durch Rang, Schönheit und Tapferkeit beſonders aus— gezeichnet waren, ſich deren Seelen dienſtbar zu machen. Wenn der Seelenort bereits als in weiterer Ferne gelegen gedacht wird, wohin die Seele abreiſen muß, ſo trennt ſie ſich doch nur ſchwer und allmählich von ihrem bisherigen Menſchenorte. „Ha, ein Schrei, dann entfleucht der Geiſt dem Munde, fliegt empor zum Baume, von Baum zu Baum, bis verbrannt der Todte,“ heißt es in flavi— ſchen Liedern. So raſten auch in Auſtralien die Seelen erſt auf den Wipfeln der Bäume, ehe ſie ins Seelenland fliegen. Bei den 414 Tahitiern war es ein auf einer Landzunge gelegener Stein, wo die Seelen ruhten, ehe ſie den unabänderlichen Flug zu dem fernen Ziel begannen. Wie der Seelenort je nach den vorhandenen geographiſchen Kenntniſſen zuerſt nahe bleibt, dann in immer weitere Ferne gerückt wird, iſt an dem von der Ethnographie geſammelten Material vor— trefflich zu erweiſen. Als nahegelegene Seelenorte, abgeſehen von Haus und Grab, finden wir das öde Flußufer, das Meeres— geſtade, den Wald. Schwer zugängliche Berge auf dem Feſtlande, ferne Inſeln im Meere, der Meeresgrund ſelbſt und der Grund unter der Erde bezeichnen gewiſſer— maßen die zweite Zone, während Mond, Sterne, Sonne und Himmel die ultima Thule in der Vorſtellung von der Lage des Seelenortes bilden. Sobald das Seelenland in weiter Ferne liegt, ſteht der Seele eine förmliche Reiſe dahin | bevor. Dazu muß fie ausgerüftet werden. Kleider und Schuhe, Nahrung und Waffen, | Schmuck und Schminke, Weiber und Diener, Roß und Schiff werden ihr mitgegeben; unter gewiſſen Umſtänden darf auch ein Zehrpfennig, damit fie unterwegs einkehren, und das Fährgeld, damit ſie überſetzen kann, nicht fehlen. Bei allen Naturvölkern gelten bekanntlich in größerem oder geringerem Umfang die Schiller'ſchen Verſe: „Legt ihm unters Haupt die Beile, Die er tapfer ſchwang; Auch des Bären fette Keule, Denn der Weg iſt lang. Auch das Meſſer ſcharfgeſchliffen, Das von Feindes Kopf Raſch, mit drei geſchickten Griffen, Schälte Haut und Schopf. Farben auch, den Leib zu malen, Steckt ihm in die Hand, Daß er röthlich möge ſtrahlen In der Seelen Land.“ Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Vorſtellung „Seele“. So ausgerüſtet, begiebt ſich die Seele auf den Seelenweg, der nun je nach den localen Verhältniſſen verſchiedenartig vorgeſtellt wird. Hier müſſen die Seelen über einen Fluß, dort über einen Berg. Dieſe müſſen über einen rauhen Felſen hinabrutſchen, jene an einem langen Riemen hinaufklettern. Zum Himmel gelangen die Seelen entweder auf den natürlichen Himmels— leitern der in das Himmelsgewölk hinein— ragenden hohen Berge oder an von oben herabgelaſſenen ſilbernen Fäden. Auch Regen— bogen und Milchſtraße ſtehen vielfach in dem Rufe, Wege zum Himmel für die abgeſchie— denen Seelen zu ſein. Die Länge des Weges und ihr entſprechend die Dauer der Seelenreiſe differiren natürlich ebenfalls; die Grönländer brauchen nur fünf Tage, nordamerikaniſche Indianer mehrere Monate, um ans Ziel zu gelangen. Einer jeden Seele iſt der Weg, den ſie noch nie zuvor ging, unbekannt. Wenn ſich nur ein Führer ihrer erbarmte! Der Gedanke an einen Seelenführer liegt zu nahe, als daß nicht die verſchiedenſten Völker ihn ſollten gebildet haben. Manchmal ſind es rein natürliche Verhältniſſe, wie ein beſtimmter Wind oder eine beſtimmte Meeresſtrömung, welche die Seelen dem Ziele zutreiben; zart und poeſievoll iſt es, wenn man zumal den Seelen, die im Pfadfinden ungeübt ſind, wie den Kinderſeelen, den treuen Freund und Gefährten des Menſchen, den Hund ins Grab mitgiebt, damit ſeine Seele die richtige Spur zum Jenſeits auswittere. Endlich wird das Seelenführen auch be— ſtimmten Gottheiten als wichtiges Amt übergeben: Hermes bringt die Seelen dem Charon in ſeinen Nachen; in der altdeutſchen Mythologie iſt der Tod der Götterbote, der die Seelen mit ſich hinwegführt; wie Hermes trägt er einen Reiſe- und Botenſtab; in Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Vorſtellung „Seele“. guter Ordnung hält er die wohlgeebnete Todtenſtraße; wie ein behilflicher Diener ſchmiert er dem Menſchen, den er abholt, zu der großen Reiſe vorher die Schuhe; oftmals ſprengt er auf einem Roſſe daher, auf das er auch die Todten ſetzt; manchmal reitet er auf einem Löwen; zu Zeiten auch hört man die Räder ſeines mit Seelen vollbeladenen Wagens durch die Lüfte knarren. Odin läßt die Seelen der ge— fallenen Helden durch ſeine Walküren ge— leiten; Engel und Teufel führen die Seelen ins Paradies und zur Hölle; gelegentlich kämpfen beide heftig um den Beſitz einer Seele. Da, wo es einen Seelenführer giebt, kommt die Seele ſicher und ohne Schaden zu nehmen ins Seelenland. Ebenſo noch in der Anſchauung der niedrigen Entwickel— ungsſtufen der Sittlichkeit, wo der Menſch gut und böſe im moraliſchen Sinne noch nicht unterſcheidet, wo es alſo weder Tugend noch Sünde, alſo auch weder Lohn noch Strafe im Jenſeits giebt. Hier iſt das Jenſeits noch jedermann gewiß. Wenn aber erſt der Gedanke auftritt, daß der Aufenthalt im Seelenlande nur zur Be— lohnung für die Tüchtigen diene, daß aber die Untüchtigen nicht werth ſeien, dahin zu gelangen, dann umlauern den Pfad zum Geiſterlande alle Schreckniſſe und Furcht— barkeiten, welche die Einbildungskraft nur erſinnen kann. Die Seele hat dann mannig— fache Abenteuer zu beſtehen, Kämpfe durch— zumachen, Mühſal und Gefahren zu erdulden, ehe ſie das Schlaraffenleben gewinnt, das ihr im Jenſeits winkt. Sie muß ſich daſſelbe erſt erobern, eine Aufgabe, der viele Seelen nicht gewachſen ſind, ſodaß ſie den Gefahren erliegen und unterwegs zu Grunde gehen. Immerhin hängt es hier aber doch noch von jeder einzelnen Seele ſelbſt ab, ob ſie 415 ins Jenſeits gelangt, und ſelbſt eine un— tüchtige Seele kann ſich möglicherweiſe durch Liſt und Schlauheit ins Seelenland hinein— ſtehlen. Hat ſich aber erſt der höhere ſittliche Gedanke einer gerechten und unbeſtechlichen Vergeltung nach dem Tode gebildet, ſo braucht zwar die Seele auf ihrem Wege nicht mehr zu kämpfen, es liegt aber auch gar nicht mehr in ihrer Hand, ob ſie des Paradieſes theilhaftig werde oder nicht, denn es erwartet ſie eine ſchreckende Prüfung, ſie muß erſcheinen vor einem furchtbar gerechten Gericht, das keine Ausreden annimmt, und das ihr je nach Verdienſt Seligkeit oder Verdammniß, ſei es zeitweilige, ſei es ewige, zuſpricht. Auf einem ſchlüpfrigen Baum— ſtamm müſſen die Crih-Indianer über einen reißenden Strom trüben und ſtinkenden Waſſers ſetzen, um ins Seelenland zu kommen; bei den Chibchas muß die Seele einen Kahn aus Spinnweben beſteigen. Bei den Grönländern lauert den Seelen ein aus— gehungerter Luftgeiſt auf und ſucht ſie zu verſchlingen. Zuſammenſchlagende Berge, Schlangen, Krokodile ſperren anderwärts den Pfad; den Korangläubigen führt der Weg ins Paradies über einen Steg feiner als ein Haar, dünner als die Schneide des Schwerts, unter welchem der flammende Abgrund der Hölle lodert. Hat der Todte alle Mühſeligkeiten und Gefahren glücklich überſtanden, ſo nimmt ihn endlich das ſelige Gefilde auf, „Wo kein Schnee mehr iſt, Wo von Mais die Felder prangen, Der von ſelber ſprießt; Wo mit Vögeln alle Sträuche, Wo der Wald mit Wild, Wo mit Fiſchen alle Teiche Luſtig ſind gefüllt.“ Die Vorſtellung, welche ſich die Menſchen vom Seelenlande machen, iſt je nach ihrer 416 Entwickelungsſtufe in vielen Stücken ſehr verſchieden, in einem Punkte aber immer dieſelbe. Der Menſch iſt im Leben Mühen und Qualen ausgeſetzt geweſen, tauſend Er— wartungen ſchlugen ihm fehl, ſchwere Ent⸗ behrungen verbitterten ihm das Daſein — Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Vorſtellung „Seele“. daſelbſt weſentlich verſchieden ſei von dem Stoffe der Welt der Menſchen. Da aber aber die Hoffnung verließ ihn nicht. Was er hier entbehren mußte, das hofft er im Jenſeits beſitzen zu dürfen. Allemal mithin (und das iſt das Uebereinſtimmende in der Vor— ſtellung vom Seelenlande bei allen Völkern) erſcheint das Seelenland als der Inbe— griff der ſchönſten Vorſtellungen, welche der Menſch ſich zu bilden im Stande iſt. Was der Menſch als ſeine ſchönſten Vorſtellungen betrachtet, richtet ſich ganz und gar nach ſeinem beſonderen Erfahrungskreis, den er aus ſeiner ihn um— gebenden Welt bildete. Anders alſo ſind die „ſchönſten Vorſtellungen“ des Eskimos im Eiſe, des Indianers auf der Prärie, des Brahmanen am Ganges. Dem ſpe— ciellen inneren Ausputz nach ſtellen alle dieſe ſich demnach ihr Jenſeits verſchieden vor. Der rohe, nur ſinnlich genießende Menſch denkt es ſich als den Inbegriff aller ſinnlichen Genüſſe, der geiftig genießende Menſch als den Gipfelpunkt aller geiſtigen Freuden. Immer aber iſt alſo das Jen ſeits nur ein idealiſirtes, von allen Mängeln befreites Diesſeits, ſo- daß von der Bildung der Jenſeitsvorſtellung daſſelbe gilt, was Xenophanes ſchon von der Bildung der Göttervorſtellung geſagt hat. Daher reizt auch nicht Alle das Jenſeits Aller. — Als Indianer vernah— men, daß man im Himmel der Chriſten weder eſſe noch trinke, verloren ſie alle Luſt, hinein— zugelangen. Nur ſelten tritt der Gedanke auf, daß der Stoff, woraus das Seelenland beſteht, und demgemäß die Nahrung der Seelen, | die Seele meiſtens luft- oder ſchatten— artig gedacht wird, ſo liegt es nahe, nun auchalle Gegenſtände des Seelenlandes, das ganze Seelenland luft- oder ſchatten— artig vorzuſtellen, und dies um ſo mehr, als ja auch Thiere, Pflanzen und ſonſtige Dinge Seelen haben, die ins Jenſeits ge— langen und dort natürlich in ihrer weſent— lichen Form und Geſtalt, wenn auch geiſterhaft, ſchattenartig abgewandelt, weiter exiſtiren. Es iſt ebenſo bemerkenswerth als er— klärlich, daß bei dem Naturmenſchen die Vorſtellung eines Strafortes oder einer Hölle ſich urſprünglich nicht findet. Was wir Sittlichkeit nennen, das kennt der Wilde noch nicht. In jeder Beziehung handelt er nach ſeiner Laune, der er nur dann nicht folgen kann, wenn die Laune eines Stärkeren es zu verhindern vermag. Es giebt alſo für ihn noch keine feſte Richt— ſchnur des Handelns, kein Sittengeſetz. Selbſt wenn er nach unſeren Begriffen die größten Scheußlichkeiten verübt, übertritt er ſeines Wiſſens kein Geſetz, fühlt keinen Gewiſſensbiß und lädt kein Schuldbewußtſein auf ſich. Wo aber kein Schuldbewußtſein, da giebt es auch keine Furcht vor Strafe. Alſo auch in einem Jenſeits fürchtet der Naturmenſch auf niedrigſter Stufe keinen Richter und keine Vergeltung. Das Seelen— land kann ihm alſo gar nichts anderes ſein, als die allerdings nur ſchöner gedachte Fort— ſetzung des Dieſſeits; für ihn kann hin— ſichtlich des Jenſeits nur erſt die Fort— ſetzungstheorie, noch nicht die Ver— geltungstheorie ihre Anwendung fin— den. Dieſe Fortſetzungstheorie beſteht in der einfachen Vorſtellung, daß, wie der Zu- ſtand des Menſchen hier geweſen ſei, ſo er Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Vorſtellung „Seele“. auch dort ſein werde. Dies bezieht ſich z. B. auf Körperkraft, die der ſelige Geiſt in dem Grade im Jenſeits beſitzen wird, als er ſie im Dieſſeits beſeſſen hat. Der Starke hier iſt ſtark dort, der Schwäch— ling hüben bleibt Schwächling drüben. Da— her es eine Reihe von Stämmen giebt, deren Mitglieder ſich den religiös geweihten Liebesdienſt erweiſen, einander im kräftigſten Alter zu tödten, um ſo in voller Blüthe im Seelenlande weiter zu leben. Dies be— zieht ſich ebenſo auf den dieſſeitigen Rang und die beſondere geſellſchaftliche Stellung, wie die ſchon früher angeführten Tonga-Inſulaner beweiſen. So wird der Sclave ſeinem geſtorbenen Herrn in den Tod nachgeſchickt, damit er ihm auch dort Sclavendienſte verrichte. Es bezieht ſich ferner auf die Feindſchaften, die auch dort weiterbeſtehen, deren Fehden weiter gefochten werden, dort aber ſicherlich, wie jede Partie glaubt, mit der ſchmachvollen Nieder— lage des hier unbeſiegten Gegners enden. Es dauert nicht allzu lange, ſo geht die Fortſetzungstheorie in die der Ver— geltung über, denn ein primitives Schuld— bewußtſein muß ſich in der Stammesgemein— ſchaft und auf Grund derſelben bald bilden. In der Stammesgemeinſchaft hat bald Jeder eine beſtimmte Pflicht und Aufgabe zu er— füllen, z. B. die, möglichſt viele Feinde zu erſchlagen. Wer dieſe Pflicht erfüllt, iſt ein Tüchtiger, der geachtet wird, wer es nicht thut, ein Untüchtiger, der ver— achtet wird. Die Tapfern dulden die Feigen nicht in ihrer Gemeinſchaft; ſo aber, wie die letzteren im Menſchenlande ausge— ſtoßen waren, ſo werden ſie es auch im Seelenlande ſein. Auch dort tritt die Scheid— ung von hier ein. Das Seelenland theilt ſich alſo, — wenn nicht die Untüchtigen ein für allemal vom Seelenlande ausgeſchloſſen wer— 417 den, ſei es, daß ſie den Gefahren des Weges dahin erliegen, ſei es, daß ſie auf andere Weiſe untergehen, worin ja ebenfalls ſchon eine Vergeltung ſich zeigt, — in einen Ort der Tüchtigen und einen Ort der Untüchtigen, und dieſe beiden Oerter ſind es, die mit der Höherentwickelung der ſittlichen Begriffe ſich endlich zu einem Ort der Guten und einem Ort der Böſen im ethiſchen Sinne ausbilden. So iſt es alſo die Fortſetzungstheorie, die unmerklich in die Vergeltungstheorie übergeht. Wie die Untüchtigen ſchon hier Strafe erleiden, ſo werden ſie es auch dort — in dieſem Satze fallen Fortſetzungs- und Vergeltungstheorie zuſammen. Urſprünglich alſo giebt es für Alle nur ein einziges Seelenland. Dies zerlegt ſich dann in z wei, in ihm enthaltene, aber getrennte Diſtrikte für die Tapfern und die Feigen, von denen das eine ge— wöhnlich als hell und licht und aller guten Dinge voll, das andre als dunkel, öde und als Stätte der Entbehrung geſchildert wird. Immerhin iſt aber hervorzuheben, daß auf dieſer Stufe eine eigentliche poſi— tive Strafe und Qual die Untüchtigen noch nicht trifft; ihr Unglück beſteht nur in der Entbehrung deſſen, was die Andern im Ueberfluß genießen. Ein weiterer Schritt in der Entwickelung wird dadurch gemacht, daß das Seelenland nicht blos in zwei, ſondern in drei getrennte Regionen zerlegt wird. Dieſe Zertheilung hängt mit folgender nahe liegenden und ſelbſtverſtänd⸗ lichen Unterſcheidung der Menſchen nad) fitt- lichen Geſichtspunkten zuſammen: Ueberall giebt es Menſchen, die aus der gewöhnlichen Menge hoch emporragen, ſei es als emi— nent gute Menſchen ſei es als eminent böſe. Zwiſchen beiden Extremen ſteht der 0 an große Haufen von gewöhnlichem Schlage in der Mitte, der weder genug Energie zur großen Tugend, noch zum großen Laſter be— ſitzt. Weder ſchickt es ſich, daß die großen Tugendhelden mit den großen Böſewichtern, noch daß beide mit dem großen Haufen vom Mittelſchlage über einen Kamm geſchoren werden. Wie dieſe drei Claſſen hier ge— trennte Pfade wandeln, ſo auch dort, und ſo ergiebt ſich nothwendig der weder mit poſitiven Qualen, noch mit poſitiven Ge— nüſſen ausgeſtattete, ſondern ewig eintönige wechſelloſe Hades für das Alltagsgut von Seelen, der ſchreckliche Tartaros für die großen Verbrecher, das freudenreiche Ely— ſium für die großen Wohlthäter der Menſch— heit. So bildet ſich alſo die Dreizahl der Seelenörter, wie ſie uns auch in der mexicaniſchen Unterſcheidung des Seelenorts auf der Sonne, des dunklen Strafortes Miktlan unter der Erde und der mittleren Region des Tlalok entgegentritt. Eine Veränderung in der Auffaſſung der drei Seelenörter tritt ein, wenn die Vergeltungstheorie auf die ſittlich und re— ligiös höhere Stufe der Erlöſungstheorie ſich erhebt. Die Qualen des griechiſchen Tartaros und die Eintönigkeit des Hades ſind Zuſtände von ewiger Dauer, die nie einen Ausblick auf eine Veränderung ge— währen. Wie aber wenn die Seele, wenn nicht aus eigner Kraft, ſo doch mit gött— licher Hülfe dazu kommen könnte, ihre Schuld zu büßen, ihre Vergehen dadurch wieder gut zu machen, ſich allmählich von aller Sünde zu läutern? Dann wäre der Zuſtand der Unglückſeligen im Hades und Tartaros doch nicht ein ewiglich fo hoffnungsloſer als er ſonſt war. Dann ſchiene auch ihnen noch das Licht der freudigen Hoffnung, nach vollendeter Büßung zum Sitz der Seligen zu gelangen. Offenbar kommt in einer Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Vorſtellung „Seele“. ſolchen Auffaſſung einer endlichen möglichen Erlöſung auch des ſchuldigen Sünders nicht blos der ſtarre Gerechtigskeitsſinn der Vergeltungstheorie zu ſeinem Rechte, ſondern es zeigt ſich darin diejenige Erhöhung des ſittlichen Standpunktes, der erſt in der vollendeten, ſelbſtſuchtloſen, ſich auf alle Weſen erſtreckenden Liebe ſeinem ethiſchen Gefühle Genüge geleiſtet hat. Jeder kann von der göttlichen Gnade zuletzt erlöſt werden, wenn er nur ſeinen böſen Willen nicht ab— ſichtlich im Zuſtande abſoluter Verſtockung erhält. Auch dieſer Stufe der Erlöſungs— theorie entſprechen drei Seelenörter, der Himmel als Ziel der Erlöſten, die Hölle als Ziel der ewig Verſtockten und daher Verdammten, und das. Fegefeuer als mittlerer Ort für den Läuterungsprozeß ſelbſt. An die Stelle des läuternden Purga— toriums tritt in manchen Religionen die Seelenwanderung. Die Leiber nie— derer oder höherer Weſen, welche die Seele im Läuterungsprozeß zu durchlaufen hat, ſind dann gewiſſermaßen der dritte Ort, an welchem die Seele ihre Buße zu er— leiden hat. Die Dreizahl der Seelenörter bildet das typiſche Fundament, auf welchem nun weitere Specificationen vollzogen werden können. Je feiner die ſittlichen Begriffe ſich entwickeln, nach um ſo mehr moraliſchen Kategorieen wird man die Menſchen und ihr Handeln abwägen, um ſo mehr Claſſen von Menſchen wird man in ſittlicher Be— ziehung unterſcheiden. Jedem wird nun ſein Recht genau nach dem Verdienſt der Claſſe, zu welcher er gehört, zuertheilt. So viele Claſſen guter Seelen, ſo viele verſchiedene Arten der jenſeitigen Belohnung, alſo auch ſo viele getrennte Oerter im Jenſeits; ſo viele Grade böſer Seelen, ſo viele Grad— unterſchiede auch der Strafen im Jenſeits, Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Vorſtellung „Seele“. alſo auch ſo viele getrennte jenſeitige Straf- wartet im Jenſeits die Strafe. Der Menſch orte. So wird alſo der „Himmel“ ein— getheilt werden müſſen in mehrere Abtheil— ungen, ſeien es ſieben, ſeien es noch mehr: die Hölle ebenſo in viele Stufen und nicht | minder das Fegefeuer. jene ausführliche Differenzirung des Jenſeits, Es entſteht alſo wie fie das Mittelalter uns in klaſſiſcher | Geſtalt von Dante's Dichterfantaſie hat zeichnen laſſen. 6. Der Werth der Jenſeitsvorſtellung. Daß die Vorſtellung eines Jenſeits in der Geſchichte der Menſchheit von jeher eine große Rolle geſpielt hat und noch ſpielt, iſt ſelbſtverſtändlich. Wir wollen genauer zergliedern, worin der Werth dieſer Vorſtell— ung beſteht. Wir finden, daß ſie einen dreifachen Werth beſitzt: einen päda— gogiſchen, einen kulturellen und einen, den wir, in Ermangelung eines bezeichnen— deren Namens, einen philoſophiſchen nennen wollen. Mit dem Geſtorbenſein tritt nicht das Todtſein ein. Der eigentliche Kern des Menſchen, ſeine Seele, lebt fort. Dem Dies— ſeits folgt das Jenſeits. Jedem ſteht der Tod bevor, jeder wandert dermaleinſt hin— über. Das eigentliche Ziel des Menſchen iſt daher nicht dieſe Welt, ſondern jene. Dieſes Leben iſt nur kurz, jenes dauert ewig; dieſes iſt alfo Nebenſache, jenes Haupt⸗ ſache. Wenn jenes Leben das eigentliche Ziel des Menſchen iſt, zielt in dieſem Leben Alles darauf hin. Das Jenſeits wird für den Menſchen der leitende Zweck, nach welchem er ſein diesſeitiges Leben geſtaltet. Er will der Seligkeit des Jenſeits theilhaftig werden. Aber nur die Guten werden ſie genießen: um des Jenſeits willen iſt es alſo nöthig, gut zu ſein. Die Böſen er— möchte der Hölle entfliehen: mithin darf er ſchon hier nicht böſe ſein. Auf der einen Seite lockt ihn der Himmel, gut zu ſein; auf der andern ſchreckt ihn die Hölle, nicht böſe zu ſein. So wird das Jenſeits, zum Motiv für ſein diesſeitiges Handeln; es wird der Sporn, der ihn antreibt, tüchtig zu werden. Und dieſer Sporn bleibt wirk— ſam für's ganze Leben. Ein ſchon erreichtes Ziel treibt nicht mehr an, alle Kräfte zu ſeiner Erreichung anzuſpannen. Ein Ziel, das ewig antreiben ſoll, darf nie erreicht werden und muß doch ewig die Hoffnung wach erhalten, daß es dereinſt erreicht werde. Nur dann weiß es ſtets die Hoff— | | nung wach zu erhalten, wenn es Erfüllung für alle Wünſche und Beſtrebungen des Menſchen verheißt, wenn es mit jedem noch ſo kleinen Willensakte des Menſchen in Beziehung geſetzt werden kann. Ein ſolches Ziel iſt aber das Jenſeits; es wird im Leben nie erreicht und treibt doch ewig an. Darin liegt der unſchätzbare päda— gogiſche Werth dieſer Vorſtellung für die Menſchheit, mit welchem auch der kultu— relle in enger Beziehung ſieht. Das Jenſeits in ſeiner lockenden Form als freudenvolles Seelenland, ſo niedrig es auch bei wenig entwickelten Völkern noch vorgeſtellt werden mag, iſt doch immer das Compoſitum der vorzüglichſten Vorſtellung, der idealſten Erſcheinungen der diesſeitigen Welt. Es ſteht alſo in der Fantaſie des Menſchen immer höher als die wirkliche Welt, in der er lebt. Nun ſtrebt der Menſch, nicht blos ſelbſt jenes Ideales würdig zu werden, ſondern er ſucht auch ſeine eigene Welt in ihren Einzelheiten, in dem Schmuck ſeiner Geräthe, ſeiner Häuſer, in dem Schmuck der Geräthe und Häuſer der Götter, in ſeinen Sitten und Gebräuchen u. ſ. w. nach Kos mos, III. Jahrg. Heft 12. 55 419 | 420 dem in feiner Fantaſie entſtandenen Vorbilde jenes Ideales zu geſtalten. So erhöht er ji ſelbſt und feine äußeren Verhältniſſe, ſo vervollkommnet er das, was wir ſeinen Culturzuſtand nennen. Jenes Ideal erſcheint aber in Wirklichkeit nie; ſo bleibt die menſch— Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Vorſtellung „Seele“. kraft ſeines natürlichen, ſelbſtſüchtigen Da- ſeinstriebes hält ſich ſelbſt im Grunde für den Mittelpunkt und die Hauptſache der liche Fantaſie unbehindert, es immer glän— | zender auszugeſtalten. Hat der Menſch in ſeiner Cultur den niedrigſten Grad des ganzen Welt. Allerdings contraſtiren mit den aus dieſem Triebe entſpringenden An— ſprüchen erbärmlich die Leiſtungen der Welt an das Individuum; mit dieſer Selbſtſucht, die da, wie ſie es nennt, für ſich Gerech— tigkeit, — womit ſie Glück und Belohnungen Ideals verwirklicht, ſodaß er tiefer ſtehenden ſpruch das, was der Weltlauf wirklich bringt. Auf Erden kommt die geforderte Gerechtig— Individuen erſcheinen mag, als führe er ein Leben „wie die Götter“, ſo ſteigert ſich doch in ſeiner Fantaſie ſogleich wieder das Ideal, denn das Erlangte iſt auch ſchnell ein Ueber— | wundenes; das neue Ideal iſt noch nicht erreicht; von neuem beginnt titanenhaft ſein nie befriedigtes Streben. Da aber dieſes Vorbild nie verwirklicht werden, da das Ziel auf jeder erreichten Stufe immer noch höher geſteckt werden kann, ſo wird auch das Streben unaufhörlich angefacht und dadurch der Menſch und ſeine Welt mehr und mehr der Vollkommenheit entgegengerückt. Zuerſt geſtaltet ſich das Jenſeits aus und nach dem Diesſeits; ſpäter bildet ſich um gekehrt das Diesſeits wieder nach dem Jen ſeits. Das Jenſeits, aus dem Diesſeits geboren, gebieret ein neues Diesſeits, das wieder ein höheres Jenſeits erzeugt, worauf dieſes wieder auf das Diesſeits erhöhend zurückwirkt. In dieſem wechſelſeitigen Er— höhungsprozeſſe beſteht alſo der kulturelle Werth der Jenſeitsvorſtellung. Endlich der philoſophiſche Werth. Der große Cauſalnexus des Alls kümmert ſich nicht um die Wünſche und Hoffnungen des Individuums; wie der indiſche Götter wagen rollt er zermalmend über die Men— ſchen dahin; Millionen Geſchöpfe zerreibt er ſtündlich zu Staub, einerlei, wen er trifft; auf gleiche Weiſe werden Gute und . zermahlen. Jedes Individuum aber meint, — fordert, ſteht im ſchroffſten Wider— keit nie zur Erſcheinung. Da hadert der Menſch mit dem Gang der Dinge, da nährt er in ſeiner Bruſt den Schmerz über dieſe Welt, in der Gute leiden, Böſe trium— phiren. Da blitzt ihm, der nahe daran war, einem troſtloſen Peſſimismus zum Raube zu werden, aus dieſer Nacht des Wehs plötzlich der helle Stern des Jen— ſeits entgegen, und löſt ihm ſcheinbar die Widerſprüche in dieſer ihm ſo disharmo— niſchen Welt: Dieſe Welt iſt ja nur das Vorſpiel, dort oben liegt die wahre Hei— math, dort werden ſich die zerriſſenen Miß— töne in reine Harmonie auflöſen. Was hier unbeendet bleibt, dort wird es zum gerechten Austrag gelangen, das Böſe be— ſtraft, das Gute belohnt werden. So kommt erſt durch das Jenſeits Folgerichtig— keit und Gerechtigkeit in das Weltweſen, und dieſer Gedanke, wie er theoretiſch die Räthſel zu löſen, die Zweifel zu beſeitigen ſcheint, ſo träufelt er auch praktiſch tröſt— lichen Balſam in manche ſchmerzliche Wunde. Die Theodicee iſt gegeben, die theoretiſchen wie die praktiſchen Bedürfniſſe find geſtillt. Mit Zufriedenheit und Behagen kann nun das Individuum ſelbſt unter den Stürmen dieſer Welt leben, die Verſöhnung iſt er— reicht für Verſtand und Herz und darin be— ſteht der große philoſophiſche Werth der Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Vorſtellung „Seele“. Jenſeitsvorſtellung, der freilich nur ſo lange vorhält, als Skepticismus und Kritik jenen verſöhnlichen Glauben nicht zerſtört haben. Daß eine ungeſunde, überſchwärmende dings auch eine abſolute Verachtung und Vernachläſſigung des Dieſſeits und damit Verwirrung und Verfall der menſchlichen Geſellſchaft und ihrer Kultur zur Folge haben kann, hat die Geſchichte oft genug Auffaſſung der Jenſeitsvorſtellung aller gezeigt. Sie überhebt uns daher der Auf- gabe, dieſen Punkt ausführlicher zu er— örtern. urſachen der Seelenvorſtellung. nach den verſchiedenſten Richtungen hin ent— wickeln und verzweigen, endlich ihrer letzten Beſtimmung entgegenreifen ſehen. Der ganze dargelegte, primitive Vorſtellungskreis, wie er ſich aus der urſprünglichen Seelenvor— ſtellung herausbildet und um dieſelbe als ſein Centrum herum gruppirt, hat für den Naturmenſchen die unumſtößliche Geltung einer geſicherten Dogmatik. in dem bisherigen die primären Ent— ſtehungsurſachen gegeben zu haben, müſſen nun aber noch eine Reihe von Miturſachen, zeichnen wollen. Urſachen nach unſerer Auffaſſung den eigent— lichen Entſtehungsvorgang der vorgeführten Erſcheinungen, ihr eigentliches Insleben— treten erklären, ſo erklären die ſecundären, warum jene Erſcheinungen, die rein logiſch und kritiſch-empiriſch betrachtet, ſogleich ihre 7. Die ſecundären Entwicklungs- Bere j dem Exiſtenztrieb, dem Drang nach Daſein ſelbſt. Wir haben in dieſen Unterſuchungen die Vorſtellung „Seele“ entſtehen, wachſen, ſich 421 in dem Glauben der Menſchen die feſten und unausreißbaren Wurzeln ſchlagen konn— ten, die ſie offenbar überall getrieben haben. Dieſe ſecundären Urſachen ſind alſo die— jenigen, welche, zwar nicht unmittelbar an der Bildung der geſchilderten Erſcheinungen betheiligt, doch, ſowie dieſelben gebildet ſind, ſich ihnen als Stützen zugeſellen, neue Be— weiſe für die Richtigkeit der einmal gefaßten Anſchauungen zu geben ſcheinen und alſo auf alle Fälle ſchwer ins Gewicht fallen. Die einmal gebildete primitive Seelen— vorſtellung wird erſtens gepflegt und ge— | nährt von dem tiefſten und urſprünglichſten Wir glauben, | Triebe, der dem Menſchen innewohnt, von Nichts liegt dem Menſchen mehr am Herzen als Selbſterhaltung, nichts iſt ihm ſchrecklicher als Auflöſung, Vernichtung, Tod. Eine Lehre, welche gerade das als letzte Beſtimmung des Menſchen hinſtellt, was er ſelbſt am meiſten wünſcht, ſchmeichelt ſich mit weicher Hand leicht bei ihm ein. Gerade weil die primitiven Seelenvorſtell— ungen am meiſten der menſchlichen Selbſt— ſucht entſprechen, finden ſie, einmal gedacht, die größte Zahl bereitwilliger Anhänger. Die primitiven Seelenvorſtellungen wer— den zweitens weitergebildet und befeſtigt durch ein weitverbreitetes Beweis ver— fahren, welches ich das dogmatiſche fördernden Bedingungen, ja conditiones | sine quibus non erörtern, welche wir ins- geſammt als ſecundäre Urſachen be⸗ Wenn jene primären Haltloſigkeit eingeſtehen müſſen, trotzdem ziehen fie als Beweiſe dafür an, welche in nennen will. Es iſt eine pſychologiſche That— ſache, daß die Menſchen, ſobald ſie einmal eine ihnen liebe Meinung gefaßt haben, in deren Lichte nun auch alles betrachten. Sie beurtheilen in Folge davon die Dinge nicht mehr objektiv, ſondern erblicken ſub— jektiv nur das an ihnen, was ihrer vor— gefaßten Meinung entſpricht. Sie ſetzen auf dieſe Weiſe Erſcheinungen mit ihrer Annahme in urſächliche Verknüpfung und | 422 Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Vorſtellung „Seele“. — Wahrheit gar keine Beziehung dazu haben. und Geiſtervorſtellungen gebildet hat, glaubt er nun im Sinne des geſchilderten dogma— tiſchen Beweisverfahrens eine Menge von ihm in ihren natürlichen Urſachen unbe— kannten Vorgängen vermittelſt jener ange— genommenen Seelen- und Geiſterpotenzen erklären zu können und zu müſſen, und ſieht alſo in dieſen Vorgängen umgekehrt ebenſo viele ſtützende Beweiſe für die Rich— tigkeit ſeiner Annahmen. Wir haben Bei— ſpiele dieſes dogmatiſchen Beweisverfahrens ſchon öfters gegeben; es gehören zu dieſen dogmatiſch herbeigezogenen Thatſachen, die den Beweis für die Richtigkeit des Seelen— und Geiſterglaubens erbringen ſollen, be— ſonders Krankheiten, Irrſinn, Halluci— nationen, Sinnesphantasmen, Illuſionen, vorzüglich im Dunkel der Mitternacht und in der Glühhitze der Mittagszeit (daher beide Zeiten „Geiſterſtunden“ ſind), ferner der Traum, wobei der ängſtigende Alp— traum Beweis für die böſen, der lüſterne 1 fer fliegt die Seele aus der Puppenhülle Sobald der Menſch die primitiven Seelen Traum Beweis für die lieblichen Elfen geiſter u. ſ. w. wird; und alle Traumzu— ſtände, wie Schlafwandeln, Viſionen, u. ſ. w.; endlich unerklärliche Naturerſcheinungen (Echo, Vulcane) und ſchließlich die perſönlichen Schick— ſalswendungen des Menſchen, wenn dieſelben irgendwie vom Gewohnten und Alltäglichen abweichen. im dogmatiſchen Verfahren bilden die Ana— logieſchlüſſe, die mit Sorgfalt aus— gebildet werden und dann im hohen An— | jehen ſtehen. Jedes Samenkorn, das in die Erde gelegt wird, entfaltet ſich zu neuer Blüthe — ſo blüht auch aus dem Tode dem Menſchen ein neues Leben auf. Die häßliche Raupe verwandelt ſich endlich in den prächtigen Schmetterling — wie die— er des abgeſtreiften Körpers hervor — das ſind bekannte Beiſpiele ſolcher Analogie— ſchlüſſe. Einen noch mehr hervorragenden Ehren— platz unter den dogmatiſchen Beweiſen nimmt der ontologiſche Beweis ein. Der Naturmenſch beſitzt zwar die primitiven Vor— ſtellungen von Seelen und Geiſtern; wie ſie aber entſtanden ſind und wie er zu ihnen ge— kommen iſt, das weiß er nicht. Gerade dieſe ſcheinbare Unerklärlichkeit, welche nur eine Folge der Unkenntniß einerſeits des pſycho— logiſchen Entwicklungsganges der Menſchheit, andrerſeits des zwar zerſtreuten, aber doch vorhandenen geſchichtlichen Materials iſt, wird zum Beweis gebraucht und imponirt ſelbſt höheren Bildungsſtufen immer noch gewaltig. Die Vorſtellung von Seelen und Geiſtern iſt da, ſagt man; aus einfach na— türlich pſychologiſchen Gründen vermag man ſie nicht zu erklären. Woher alſo? Sie können nur von den Seelen und Geiſtern ſelbſt den Menſchen eingegeben ſein, und die Vorſtellung „Seelen, Geiſter“ iſt alſo der Beweis für die Exiſtenz der Seelen, der Geiſter. Kant bereits hat uns der Mühe einer Kritik dieſes ontologiſchen Schluſſes überhoben. Die Erſcheinungen ferner des Ge— wiſſens, dieſer inneren Stimme, deren oftmals drohende, peinigende Gewalt der Eine beſonders beliebte Beweisgruppe Menſch auf etwas entwickelteren Stufen bald genug fühlt, und das ihm erſcheint wie ein ſelbſtſtändiges höheres Weſen in ihm, das er ſich auf natürliche Weiſe nicht zu erklären ver— mag — bilden eine weitere Reihe, welche das dogmatiſche Beweisverfahren mit der primi— tiven Seelenvorſtellung in Verbindung ſetzt. Ein dritter wichtiger ſecundärer Grund für die Befeſtigung der einmal gewonnenen Seelenvorſtellungen liegt in der Erziehung des Menschen, dem von Kindheit an alle dieſe Vorſtellungen überliefert werden, die er ohne Prüfung im Zutrauen auf die Au— torität der Aelteren in ſich aufgenommen hat, und die deshalb endlich mit ſeinem ganzen Weſen ſo feſt verwachſen ſind, daß er ſie gar nicht mehr herausreißen kann. Das Leben der Naturvölker iſt ſo durchtränkt mit aber— gläubiſchen Vorſtellungen und Gebräuchen, daß es kaum eine Handlung giebt, die nicht mit ſolchen in Verbindung ſtände. In dieſe Anſchauungen und Gewohnheiten wird nun das Kind hineingeboren, und weil ſeine Ein— bildungskraft ganz damit erfüllt wird, er— lebt es ſelbſt nun auch bald allerlei, was ihm den Beweis für die Richtigkeit ſeiner Anſchauungen liefert. Das Gehirn bildet ſich völlig nach der einmal eingeſchlagenen Richtung des Vorſtellens, und durch die Ver— erbung wird der Hang zum Myſticismus in der Reihe der Geſchlechter immer mehr verſtärkt und befeſtigt. Nicht zu gering iſt als vierter ſecun— därer Grund auch der Einfluß anzuſchlagen, welchen auf die Ausbildung und Befeſtig— ung der primitiven Seelenvorſtellungen das Intereſſe der Prieſter von jeher gehabt hat. Munda-Kolhs nach ihren Beweggründen zum Opfern fragte, gaben ſie ihm die cy— niſche Antwort: „Damit wir Fleiſch zu eſſen bekommen.“ ) Auch das Intereſſe der Mäch— tigen, das Volk zu bändigen, geht bei den Naturvölkern mit dem Intereſſe der Prieſter vielfach Hand in Hand: zu den Machtmitteln beider gehört aber bekanntlich die Magie der Geiſterwelt. ) Zeitſchrift für Ethnologie III. 334. Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Vorſtellung „Seele“. 423 8. Der Werth der primitiven Seelenvorſtellungen. Primäre und ſecundäre Gründe haben es nicht verhindern können, daß die Urvor— ſtellungen über das Seeliſche geläuterten An— ſchauungen, wenigſtens in der Wiſſenſchaft und bei wiſſenſchaftlich Gebildeten, haben Platz machen müſſen. Trotz alledem darf man nicht verkennen, daß dieſe Vorſtellungen ſowohl für die Verſtandes-, als auch für die ſittliche Entwickelung der Menſchheit einen großen erzieheriſchen Werth gehabt haben, ja bei Menſchen, die den höheren Entwickelungs— ſtufen fern ſtehen, noch jetzt haben. Den erzieheriſchen Werth ſür die intel— lektuelle Vervollkommnung des Menſchen nennen wir den Denkbildungswerth der primitiven Seelenvorſtellung; er beſteht in Folgendem: Der Menſch intereſſirt ſich am meiſten für ſich ſelbſt. Gerade die Vor— ſtellung „Seele“, ſobald ſie ſich gebildet hat, muß ihn um ſo mehr beſchäftigen, als dieſe Seele ſein koſtbarſter Beſitz iſt, als gerade ſie den Brennpunkt aller ſeiner Begehrungen und Beſtrebungen für Gegenwart und Zu— kunft bildet. Die Seele iſt aber ein höchſt Als Jellinghaus einige Prieſter der geheimnißvolles Weſen; ſie iſt nicht wie andere ſinnliche Gegenſtände, ſie hält der Beobachtung nicht Stand wie ein Baum, und kann nicht erlegt werden wie ein Thier. Der Menſch lernt ſie niemals völlig kennen, weil er ſie niemals klar erſchaut. Hingen nicht des Naturmenſchen tiefſte Intereſſen mit dieſem blaſſen Gedankenweſen auf das engſte zuſammen, er würde ſich ſo wenig um daſſelbe kümmern, wie um irgend eine unſerer wiſſenſchaftlichen Abſtraktionen. Aber ſein eigenſtes Intereſſe zwingt ihn, ſich mit dieſer Vorſtellung, die fein Ich ſelbſt iſt, zu beſchäftigen. Er will ſeines Weſens Kern erforſchen, ſeine Zukunft kennen lernen und - ö 424 wiſſen, wie er in's Leben trat, wie er darin lebt, und was mit ihm am Ende des Lebens ſein wird. Seine Einbildungskraft wird alſo in Anſpruch genommen, ſein Gehirn mehr und mehr durch, wenn auch nur phan— taſievolle, Vorſtellungsarbeit entwickelt und geübt, und dieſer Prozeß hört nicht auf, weil dieſe Vorſtellung nicht aufhört, ihn zu reizen, da ſie ſtets ſein Intereſſe auregt und doch nie zu voller Klarheit gebracht wird, alſo zu fortgeſetztem Weitergrübeln veranlaßt. Darin liegt eben das, was ich den Denk— bildungswerth -der primitiven Seelenvorſtell— ung nenne, und im Einklang mit dieſen Aus— einanderſetzungen finden wir deshalb auch bei allen Völkern als ihr erſtes Phantaſie- erzeugniß — d. h. Denkerzeugniß, intellektuelle Leiſtung — ihre mythologiſchen Vorſtellungen von Seelen und Geiſtern nebſt dem ganzen Fritz Schultze, Entſtehungsgeſchichte der Vorſtellung „Seele“. in ſittlich-erziehender Hinſicht eben das gilt, was wir in dieſer Beziehung bereits oben von der Jenſeitsvorſtellung gejagt haben. Der Naturmenſch glaubt ſich überall von Seelen und Geiſtern umgeben. Dieſe ſind feindlicher oder freundlicher Natur. Gegen erſtere fühlt er Furcht, gegen letztere Ehrfurcht. Aus Furcht vor der Rache des feindlichen Geiſtes wird er vor mancher ſchlimmen Handlung zurückſchrecken, aus Hoffnung auf den Schutz oder die Belohnung von Seiten des guten Geiſtes zu mancher guten That ſich antreiben laſſen. Da aber das Ergebniß aus einer Summe von guten Handlungen erfahrungsmäßig am Ende ſtets vortheilhafter und förderlicher iſt, als das Endreſultat aus einer Summe von böſen Thaten, ſo wird er ſich mehr und mehr von dem Einfluſſe der guten Geiſter leiten daraus entwickelten Schatz ihrer religiöſen Phantaſiedichtungen. Die Beſchäftigung mit dieſen ſubjektiven, „frei ſchwebenden“ Vor- ſtellungen hat überall die Vorſchule zum rein wiſſenſchaftlichen, objektiven Denken gebildet. Die primitiven Seelenvorſtellungen haben nicht blos einen Bildungswerth für die in— tellektuelle, ſondern auch für die moraliſche Seite der menſchlichen Natur. dieſes Faktors können wir kurz ſein, da im weſentlichen von der Seelenvorftellung laſſen d. h. er wird mehr und mehr in die Richtung zum Guten hingewieſen werden, dieſes wird ihm mehr und mehr zur anderen Natur werden, und ſo das Gute ſich end— lich zur Haupturtheilsmaxime für ſein Ge— wiſſen geſtalten. Geſchichte und individuelle Hinſichtlich Erfahrungen zeigen zur Genüge, daß ſelbſt den primitiven Seelenvorſtellungen eine ſolche zur Sittlichkeit erziehende Kraft inne ge— wohnt habe. — nn Gelchichte und Methode der palüontologiſchen Entdeckungen. Ein Vortrag, gehalten vor der Amerikaniſchen geſellſchaft zur Peförderung der Wiſſenſchaften zu Saratoga, N. Y., am 28. Auguſt 1879 von dem Präſidenten Prof. O. C. Marfh. II. e tigen Jahrhunderts begann eine N > S 5 , neue Aera der Paläontologie, die wir hier als die dritte Pe— riode ihrer Zweig der Erkenntniß wurde nun zur Wiſſen— ſchaft. Syſtem trat an die Stelle von Un— (Schluß.) it dem Anfang des gegenwär- | Klange: Cuvier, Lamarck und Wil— liam Smith. Dieſen Perſonen verdankt die Wiſſenſchaft der Paläontologie ihr Daſein. Geſchichte charakteriſiren. Diefer | ordnung, und methodiſches Studium erſetzte die zufällige Beobachtung. Im Laufe des nächſten Halbjahrhunderts war der Fortſchritt ein ſchneller und ununterbrochener. Ein Cha- rakterzug dieſer Periode war die genaue Bes ſtimmung der Foſſilien durch Vergleich mit lebenden Formen. Dieſer trennt dieſelbe von den beiden vorhergehenden Zeitepochen. Ein anderer Charakterzug derſelben war der all— gemeine Glaube, daß jede Species, ob neu, ob ausgeſtorben, eine beſondere Schöpfung geweſen ſei. Unmittelbar am Beginn dieſer Epoche be— gegnen wir drei Namen von anerkanntem . Cuvier und Lamarck in Frankreich hatten die ganze Macht, die großes Talent, Erziehung und Stellung geben konnte; William Smith, ein engliſcher Feldmeſſer, war ohne Bildung und Einfluß. Die letzten Jahre des achtzehnten Jahrhunderts waren von Jedem dieſer Männer in der Vorbereitung für ſein erwähltes Werk verbracht worden, und die Ergebniſſe wurden nun der Welt übergeben. Cuvier legte das Fundament der Paläon— tologie der Wirbelthiere, Lamarck der Wir— belloſen, und Smith ſtellte die Grundlagen der Schichtungs-Paläontologie feſt. Der Foſſi— lienforſcher heutiger Zeit braucht nur ſelten frühere Schriftſteller in dieſem Wiſſenszweige zu Rathe zu ziehen. Georg Cuvier (1769 — 1832), der berühmteſte Naturforſcher ſeiner Zeit, wurde 426 zum Studium der ausgeſtorbenen Thiere geleitet, als er ſich vergewiſſerte, daß die Ueberbleibſel der foſſilen Elephanten, die er unterſuchte, ausgeſtorbene Arten darſtellten. „Dieſe Idee,“ ſo ſagt er ſpäter, „welche ich dem Inſtitute im Monat Januar 1796 bekannt machte, eröffnete mir ganze neue An— ſichten in Bezug auf die Theorie der Erde, und beſtimmte mich, mich den langen Unter- ſuchungen und den ſtetigen Arbeiten zu wid— men, die mich nun fünfundzwanzig Jahre hindurch beſchäftigt haben.““) Hier iſt die Bemerkung von Intereſſe, daß Cuvier bei dieſer erſten Unterſuchung der foſſilen Wirbelthiere ſich derſelben Unter— ſuchungsweiſe bediente, die ihm bei ſeinen tate lieferte. Ueberreſte von Elephanten hatte man in Europa ſeit Jahrhunderten gekannt, und viele Schriftſteller, von Pli— nius an bis zu den Zeitgenoſſen Cuviers, hatten über ſie geſchrieben. Einige hatten ſie während diejenigen, die ſie als das, was ſie waren, erkannten, ſie doch als Ueberreſte der Elephanten betrachteten, die Hannibal aber verglich die Foſſilien unmittelbar mit den Gebeinen der exiſtirenden Elephanten, ausgeſtorbenen Arten angehörten, war von großer Wichtigkeit. In dem Falle foſſiler Muſcheln war es ſchwierig, ſich darüber aus— zuſprechen, ob irgend eine entſprechende Form nicht in einem fernen Oceane lebe; aber die beiden Arten des exiſtirenden Elephanten, ) Ossemens fossiles, Bd. I. S. 178. Zweite Auflage Marſh, Geſchichte und Methode der paläontologiſchen Entdeckungen. ſpäteren Forſchungen ſolche wichtigen Reſul— | als Knochen menſchlicher Niefen angeſehen, oder die Römer importirt hatten. Cu vier und bewies, daß fie deutlich unterſchieden ſeien. Die Thatſache, daß dieſe Ueberreſte der Indiſche und der Afrikaniſche, waren wohlbekannt, und es gab kaum eine Mög- lichkeit, daß ein anderer lebender gefunden | werden würde. Es iſt nicht zu überſehen, daß Cuviers Vorbereitung für das Studium der Ueber— reſte von Thieren derjenigen ſeiner Vorgänger weit überlegen war. Er hatte ſich jahrelang mit ſorgfältigen Zergliederungen im Bereiche der verſchiedenen Klaſſen des Thierreichs beſchäftigt, und war in der That der Be— gründer der vergleichenden Anatomie, wie wir ſie jetzt auffaſſen. Cuvier unterſuchte die verſchiedenen Gruppen des ganzen Thier— reichs ſorgfältig, und ſchlug eine neue, auf die Anlage des Knochengerüſtes baſirte Ein— theilung vor, die in ihren Hauptzügen die heute gebräuchliche iſt. Der erſte Band ſeiner vergleichenden Anatomie erſchien 1800, und das Werk wurde, in fünf Bänden, im Jahre 1805 vollendet. 1 Vor Cuvier war der einzige allgemeine Katalog der Thiere der in Linne's „Sy- stema Naturae“ befindliche. In dieſem Werke wurden, wie wir geſehen haben, die foſſilen Ueberreſte mit den Mineralien zu- ſammengeſtellt, nicht an ihrem gehörigen Orte unter den Thieren und Pflanzen. Cuvier bereicherte das Thierreich durch die Einführung foſſiler Formen unter die leben— den, und brachte ſie in ein allumfaſſendes Syſtem. Sein großes Werk „Le Regne animal“ erſchien in vier Bänden 1817, und mit ſeinen zwei folgenden Ausgaben bleibt es das Fundament der modernen Zoo— logie. Cuvier's klaſſiſche Arbeit über foſſile Wirbelthiere Recherches sur les Ossemens fossiles“, erſchien in vier Bänden 1812 bis 1813. Von dieſem Werke kann man gerechter Weiſe ſagen, daß es nur von einem Manne von Genie geſchrieben werden konnte, der tiefe Kenntniß und den größten Fleiß mit den günſtigſten Gelegenheiten vereinte. Die Einleitung zu dieſem Werke war Marſh, Geſchichte und Methode der paläontologiſchen Entdeckungen. der berühmte „Diskurs über die Revolu— tionen der Oberfläche des Erdballs“, der vielleicht ſo viel geleſen worden iſt, als je irgend ein wiſſenſchaftlicher Aufſatz. Die Entdeckung foſſiler Gebeine in den Gyps— ſteinbrüchen von Paris, die von den Arbeitern als Ueberreſte von Menſchen angeſehen wur— den; das ſorgfältige Studium dieſer Ueber— reſte ſeitens Cuvier, und ſeine damit ver— bundne Wiederherſtellung ſeltſamer Thier— formen, die lange vorher gelebt hatten, iſt eine Geſchichte, mit welcher jetzt Jedermann vertraut iſt. Cuvier war der Erſte, der bewies, daß die Erde von einer Aufeinander⸗ folge verſchiedener Thierreihen bewohnt ge— weſen, und er glaubte, daß eine jede dem Zeitalter, in dem ſie lebte, eigenthümlich geweſen. Ueberblicken wir ſein Werk nach Verlauf faſt eines Jahrhunderts, ſo können wir jetzt ſehen, daß Cuvier in manchen wichtigen Beziehungen Unrecht hatte, und daß er leider die Richtung, welcher die Wiſſen— ſchaft ſich drängend zugewandt, nicht erkannte. Mit ſeiner ganzen Kenntniß der Erde war er nicht im Stande, ſich vom Joche der Ueberlieferung zu befreien, und glaubte an die Allgemeinheit und Gewalt der moſaiſchen Fluth. Auch weigerte er ſich, die Beweiſe, die von ſeinen ausgezeichneten Collegen gegen die Beſtändigkeit der Arten vorgebracht wur— den, anzuerkennen, und benutzte ſeinen ganzen großen Einfluß, die damals zuerſt auftauchende Entwickelungslehre niederzuſchmettern. Cu— vier's Definition einer Species, die während eines halben Jahrhunderts die herrſchende Inbegriff aller der Individuen, die von abſtammen, ſowie derjenigen, die ebenſo ähnlich ſind, als ſie ſelbſt unter ſich es ſind.“ Das Geſetz der Wechſelbeziehungen des N blieb, war folgende: Eine Species ift der einander oder von gemeinſamen Voreltern dieſer = 427 Knochenbaues, wie es von Cuvier dar— gelegt wurde, iſt in weiterer Ausdehnung angenommen worden, als faſt irgend etwas Anderes, das ſeinen Namen trägt, und doch, obwohl es ſich auf Wahrheit gründet und innerhalb gewiſſer Grenzen nützlich iſt, würde es ſicherlich in der vorgeſchlagenen Weiſe und in ſeiner ausgedehnten Anwend— ung zu ernſtlichen Irrthümern führen. In ſeinem Diskurs ſtellt er jenes Ge— ſetz wie folgt zuſammen: „Eine Klaue, ein Schulterblatt, ein Condylus, ein Bein- oder Arm- oder irgend ein anderer Knochen, für ſich betrachtet, ſetzt uns in den Stand, die beſonderen Zähne, die ihm zugehören, feſtzuſtellen; und fo können wir auch be— ziehungsweiſe die Geſtalt der anderen Kno— chen aus den Zähnen klarlegen. Eine Per— ſon, die hinreichend die Geſetze des orga— niſchen Körperbaus beherrſcht, kann alſo, wenn ſie ihre Unterſuchung mit einer ſorgfältigen Aufnahme irgend eines Knochens für ſich beginnt, auf Grund deſſen, ſo zu ſagen, das ganze Thier, dem jener Knochen ange— hörte, wieder aufbauen.“ Wir wiſſen heute, daß unbekannte aus— geſtorbene Thiere nicht mittelſt eines einzigen Zahnes oder einer Klaue rekonſtruirt wer— den können, wenn ſie nicht bekannten For— men ſehr ähnlich ſind. Hätte Cu vier ſelbſt dieſe ſeine Methode bei vielen Formen der früheren Tertiär- oder älterer Perioden in Anwendung gebracht, ſo würde er dies ge— fühlt haben. Hätte er zum Beiſpiel die unzu— ſammenhängenden Bruchſtücke eines Tillo— donten aus dem Eocän vor ſich gehabt, ſo würde er unzweifelhaft einen Backenzahn einem ſeiner Dickhäuter, einen Schneidezahn einem Nagethiere, und einen Knochen der Klaue einem Fleiſchfreſſer zugeſchrieben ha— ben. Der Zahn eines Hesperornis würde ihm über die anderen Theile des Skeletts — Kosmos, III. Jahrg. Heft 12. tn Fr, Sn ³ d D 428 keinen richtigen, und deſſen Schwimmfüße über das ſtraußartige Bruſtbein oder den Schädel nicht den geringſten Aufſchluß ge— geben haben. Und doch führte der ernſte Glaube an feine eigene Methode Cu— vier auf den Weg einiger ſeiner wichtigſten Entdeckungen. Jean Lamarck (1744-1829), der Philoſoph, ein College Cu vier's, war ein gelehrter Botaniker, ehe er ein Zoologe wurde. Seine Unterſuchungen über die wirbelloſen Foſſilien des Pariſer Beckens waren, ob— wohl weniger in die Augen fallend, doch nicht weniger wichtig, als jene Cuvier's über die Wirbelthiere; die Folgerungen da— gegen, die er aus ihnen zog, bilden die Baſis der modernen Biologie. Lamarck's Methode der Unterſuchung war weſentlich dieſelbe, wie die von Cuvier angewandte, nämlich: ein unmittelbarer Vergleich der Foſſilien mit den lebenden Formen. dieſe Weiſe fand er bald heraus, daß die foſſilen Muſcheln, die ſich in den Schichten unterhalb Paris eingebettet finden, zum großen Theil ausgeftorbene Species find, und daß die der verſchiedenen Schichten von einander Sein erſtes Werk über dieſen abwichen. Gegenſtand erſchien 1802), und in Ver— bindung mit ſeinen ſpäteren Arbeiten rief das— ſelbe eine Umwälzung im Gebiete der Conchy— liologie hervor. Sein „Syſtem der wirbelloſen Thiere“ erſchien im Jahre vorher, und ſeine | Auf berühmte „Philosophie zoologique* 1809. Im erſten Bande ſeiner Naturgeſchichte der wirbelloſen Thiere?“ ) legte er feine Theorie im Einzelnen klar; und heute kann man nur mit Erſtaunen ſeine weitreichende Anticipationen *) Memoires sur les fossiles des environs de Paris 1802 - 1806. *) Histoire naturelle des animaux sans vertebres. 7. Bde. Paris 1815 1822. 2. Aufl. que des environs de Paris. 11 Bde. 1835 —1845. Marſh, Geſchichte und Methode der paläontologiſchen Entdeckungen. der modernen Wiſſenſchaft leſen. Dieſe An— ſichten wurden von Geoffroy St. Hi— laire mächtig unterſtützt, aber von Cuvier bitter bekämpft; der große Streit über dieſen Gegenſtand iſt allbekannt. Blicken wir vom gegenwärtigen Stand- punkte aus zurück, ſo iſt die philoſophiſche Weitſichtigkeit der Schlüſſe Lamarck's im Vergleich zu denen Cuvier's klar und offenbar. Die Wirbelloſen, die Lamarck bearbeitete, gaben weniger ſchlagende Beweiſe des Wechſels an die Hand, als die verſchiede— nen von Cuvier unterſuchten Thiere; nichts— deſtoweniger führten ſie Lamarck direkt bis zur Entwickelungslehre, während Cu— vier von dem, was in dieſer Beziehung ihm vorlag, nichts wiſſen, und den Beweis, der von anderen beigebracht wurde, nicht gelten laſſen wollte. Beide befolgten die— ſelbe Methode, und hatten einen Ueberfluß von Materialien zu ihren Arbeiten; aber die beobachteten Thatſachen führten Cuvier da— hin, an Cataſtrophen, und Lamarck, an den gleichmäßigen Lauf der Natur zu glauben. Cuvier erklärte die Species als feſtſtehend und dauernd; Lamarck als von anderen abſtammend. Beide Männer ſtehen in der erſten Reihe der Wiſſenſchaft; aber Lamarck war das prophetiſche Genie, das ſeiner Zeit um ein halbes Jahrhundert voraus war. Während das Pariſer Becken für die Paläontologie ſolche glänzende Reſultate lie- ferte, wurde ſeine geologiſche Struktur mit großer Sorgfalt erforſcht. Die Ergebniſſe erſchienen in einem Bande von Cuvier und Alex. Brongniart, der 1808 ver⸗ öffentlicht und in der Hauptſache das Werk des Letzteren war.“) Dieſes war die erſte ſyſtematiſche Durchforſchung der tertiären Schichten. Drei Jahre ſpäter wurde das g *) Essai sur la geographie mineralogi- 1808. Marſh, Geſchichte und Methode der paläontologiſchen Entdeckungen. Werk in ausgedehnterer Geſtalt herausge— geben. Die verſchiedenen Bildungen waren dabei ſorgfältig durch ihre Foſſilien unter— ſchieden, deren wahre Wichtigkeit für dieſen Zweck mit Beſtimmtheit erkannt worden war. Dieſer Fortſchritt ging nicht ohne Wider— ſtand vor ſich, und es iſt eine intereſſante Thatſache, daß Ja meſon, der die hier in Anwendung gebrachte Theorie für Werner in Anſpruch nahm, ihre Anwendung ver— warf, und ſich folgendermaßen darüber aus— ließ: „Wir ſchulden Cuvier und Bron— gniart viel werthvolle Belehrung in ihrer Beſchreibung der Umgegend von Paris, aber wir müſſen gegen den Gebrauch proteſtiren, den ſie von den foſſilen organiſchen Ueber— reſten in ihren geognoſtiſchen Beſchreibungen und Unterſuchungen gemacht haben.“ *) William Smith (1769-1839), der „Vater der engliſchen Geologie“, hatte vor— her eine „Tabular View of the British Strata“ veröffentlicht. Er ſcheint unabhängig zu weſentlich denſelben Anſichten wie Wer— ner hinſichtlich der bezüglichen Lage geſchich— teter Geſteine gekommen zu ſein. Er hatte beſtimmt, daß die Ordnung der Aufein— anderfolge eine beſtändige ſei, und daß die verſchiedenen Formationen an entfernten Punkten mittelſt der Foſſilien, die fie ent— hielten, identificirt werden könnten. In ſeinen ſpäteren Werken: „Strata identified by organized Fossils“ (1816-1820), und „Stratigraphical System of organized Fossils“ (1817) übergab er der Welt Reſul⸗ tate vieler Jahre ſorgfältiger Unterſuchungen der Sekundärſchichten Englands. In letzterem Werkeſpricht er von dem Erfolg ſeiner Methode bei der Beſtimmung der Schichten wie folgt: „Meine originelle Methode, die Schichten mittelſt der in ihnen eingebetteten Foſſilien 429 zu verfolgen, wird auf dieſe Weiſe zu einer nicht ſchwierig zu erlernenden Wiſſenſchaft ge— | macht. Seitdem der erſte geſchriebene Be— richt über dieſe Entdeckung im Jahre 1799 verbreitet wurde, iſt dieſelbe von meinen wiſſenſchaftlichen Bekannten in der Umgegend von Bath genau auf die Probe geſtellt wor— den. Einige von ihnen durchſuchen die Stein— brüche in den verſchiedenen Schichten jenes Diſtriktes nach den charakteriſtiſchen Foſſilien der bezüglichen Felsarten mit ebenſoviel Zu— verſicht, als hätten ſie dieſelben in den Fächern ihrer Schränke.“ Das ſyſtematiſche Studium der Foſſilien erweckte nun Aufmerkſamkeit auch in England, und wurde mit beträchtlichen, obwohl weniger wichtigen Reſultaten als in Frankreich betrie— ben. Ein ausgedehntes Werk über dieſen Ge— genſtand von James Parkinſon, betitelt: „Organic Remains of a Former World“, war im Jahre 1804 angefangen, und 1811 in drei Bänden vollendet worden. Eine zweite Auflage erſchien 1833. Dieſes Werk war früheren Veröffentlichungen in England weit überlegen, und da es gut illuſtrirt war, ſo trug es viel dazu bei, die Sammlung und das Studium von Foſſilien populär zu machen. Der Glaube an die geologiſchen Wirkungen der Fluth hatte ſeine Gewalt noch nicht ver— loren; denn Parkinſon ſchrieb Folgendes in ſeiner ſpäteren Ausgabe: „Weshalb die Erde zuerſt ſo geſchaffen war, daß die Sündfluth nothwendig wurde? — weß— halb die Erde nicht gleich von Anfang mit allen den Subſtanzen und mit allen den Eigenſchaften ausgeſtattet war, die aus der Sündfluth hervorgegangen ſcheinen? — wes— halb fo viele Weſen nur, wie es ſich her— ausſtellte, um zerſtört zu werden geſchaffen wurden? Das find Fragen, die zu beant- worten ich mir nicht herausnehme.“ William Buckland (1784-1856) 430 veröffentlichte 1823 feine berühmten: „Re— liquiae Diluvianae“, in denen er die Ergeb— niſſe ſeiner eigenen Beobachtungen in Bezug auf die thieriſchen Reſte, die in den Höhlen, Spaltenriſſen und alluvialen Sandſchichten Englands gefunden wurden, widerlegt. — Die gegebenen Thatſachen ſind von großem Werthe, und das Werk war lange ein Muſter für ähnliche Forſchungen. Buckland's Folgerungen waren, daß keine der menſch— lichen Ueberreſte, die in den Höhlen ſich fanden, ſo alt ſeien, als die mit ihnen ge— fundenen ausgeſtorbenen Thiere, und daß die Sintfluth allgemein war. Wo er von den auf dem Himalaya-Gebirge gefundenen foſſilen Knochen ſpricht, ſagt er: „Das Vor— kommen dieſer Knochen in einer ſolchen enor— men Höhe in der Region des ewigen Schnees, und folglich an einer Stelle, die jetzt nicht von ſolchen Thieren, wie das Pferd oder der Hirſch beſucht wird, kann, glaube ich, nur durch die Vorausſetzung erklärt werden, daß ſie vorſündfluthlichen Urſprungs, und daß die Leichen der Thiere durch die Wirk— ung der Fluthgewäſſer an ihren gegenwärtigen Platz geſchwemmt und im Sande begraben wurden.“ Die Gründung der „Geologiſchen Ge— ſellſchaft zu London“, im Jahre 1807, be— zeichnet einen wichtigen Abſchnitt in der Geſchichte der Paläontologie. Die Materialien für künftige Zuſammenſtellungen ſorgfältig zu ſammeln, war ihr Zweck; und dieſe Organiſation wurde allmählich in Groß— britannien der Mittelpunkt für Alle, die bei geologiſchen Studien intereſſirt waren. Die Geſellſchaft erhielt 1826 Corporationsrechte, und iſt ſeither die leitende Geſellſchaft Enropas für die Förderung der Wiſſenſchaft innerhalb ihres Kreiſes geweſen. Die Geo— logiſche Geſellſchaft von Frankreich, in Paris 1832 und die deutſche geologische P Marſh, Geſchichte und Methode der paläontologiſchen Entdeckungen. | Geſellſchaft, 1848 in Berlin gegründet, haben gleicherweiſe in großem Maße zu den geologiſchen Forſchungen in dieſen Ländern und in gewiſſer Ausdehnung auch in andern Welttheilen beigetragen. In den Publikationen dieſer drei Geſellſchaften wird der Paläonto— loge eine Menge werthvollen Materials für ſein Studium finden. Das ſyſtematiſche Studium foſſiler Pflanzen mag von der Veröffentlichung von Adolphe Brongniart's „Prodrome“ her datirt werden.“) Dieſem folgte bald ſein größeres Werk: „Histoire des végétaux fossiles,“ das von 1828 bis 1848 heraus— gegeben wurde. Brongniart verfolgte dieſelbe Methode wie Cuvier und Lamarck, nämlich die Vergleichung der foſſilen mit den lebenden Formen, und ſeine Reſultate waren von großer Wichtigkeit. In ſeinem „Tableau des genres vegetaux fossiles*: etc., Paris 1849, giebt er die Claſſification und die Vertheilung der Gattungen der foſſilen Pflanzen, und weiſt den hiſtoriſchen Fortſchritt des vegetabiliſchen Lebens auf dem Erdball nach, wie er es in großer Ausdehnung ſchon in ſeinen früheren Werken gethan hatte. Er zeigt, daß in den Primärſchichten die krypto— gamiſchen Formen vorwiegen, in den Se— kundärſchichten die Coniferen und Cykadeen; in den Tertiärſchichten die höheren Formen, während vier Fünftel der lebenden Pflanzen Dicotyle ſind. In England veröffentlichten Lind ley und Hutton 1821—1837 ein werthvolles Werk in drei Bänden, das „Foſſile Flora von Großbritannien“ betitelt war. Dieſes Werk war mit vielen genauen Zeichnungen illuſtrirt, in denen beſonders die Pflanzen der Kohlenformation dargeſtellt waren. Henry Witham publicirte ebenfalls zwei *) Prodrome d'une histoire des végétaux fossiles. 8. Paris 1828. ee __[_—_n_n mn Marſh, Geſchichte und Methode der paläontologiſchen Entdeckungen. | Werke in den Jahren 1831 und 1833, in denen er ſich beſonders über die innere Struktur foſſiler Pflanzen erging. Die „Vor— ſintfluthliche Phytologie“ von Artis wurde in London 1838 veröffentlicht. Bower— bank's „Geſchichte der foſſilen Früchte und Samen des London-Thons“ erſchien 1843. Hooker's Schrift „Ueber die Vegetation der Kohlenperiode im Vergleich mit der der Gegenwart“, 1848, war ein wichtiger Bei— trag zur Wiſſenſchaft. Bunbury, Wil— liamſon und andere veröffentlichten ver— ſchiedene Aufſätze über foſſile Pflanzen. Dieſer Zweig der Paläontologie erregte jedoch viel weniger Aufmerkſamkeit in Eng— land, als auf dem Continent. In Deutſchland datirt das Studium foſſiler Pflanzen zurück bis zum Anfang | Von Schlotheim, veröffentlichte des Jahrhunderts. ein Zögling Werner's, 1804 einen illuſtrirten Band über dieſen geht, nachzuahmen verſuchte. Gegenſtand. Ein wichtigeres Werk war das des Grafen Sternberg, 1820—1838 herausgegeben und mit ausgezeichneten Stichen illuſtrirt. Cotta veröffentlichte 1832 ein Buch unter dem Titel „Die Den— drolithen“, in dem er die Reſultate feiner Unterſuchungen über den innern Bau foſſiler Pflanzen niederlegte. zeichnete von Gutbier und 1844— 1853 Germar die Pflanzen zweier wichtiger Fundorte in Deutſchland. Corda's „Bei— träge zur Flora der Vorwelt“, Prag 1845, war weſentlich eine Fortſetzung des Stern— berg'ſchen Werkes. Unger's „Chloris protogaea“ 1841 1845, „Genera et species plantarum fossilium“ 1850, und ſein größeres 1852 veröffentlichtes Werf find | Quellenwerke bleibenden Werthes. In dem letzteren wird die Theorie der Abſtammung auf die Pflanzenwelt angewendet. Schimper | 1835 beſchrieb und foſſilen Pflanzen der Vogeſen“, 1845, war gut illuſtrirt und enthielt bemerkenswerthe Angaben. Göppert publicirte 1836 ein werth— volles Werk, betitelt: „Systema Fili- cum Fossilium“, in welchem er die Reſul— tate ſeiner Studien foſſiler Farnkräuter bekannt machte. In demſelben Jahre begann dieſer Botaniker eine Reihe von Experi— menten, mit denen er den Prozeß der Foſſilien— bildung, wie er in der Natur von Statten Er tauchte verſchiedene thieriſche und pflanzliche Sub— ſtanzen in Waſſer, das, je nachdem, kalk— artige, kieſelartige und andere metalliſche Stoffe in Löſung hielt. Nach einer lang— ſamen Sättigung wurden dieſe Subſtanzen getrocknet und der Hitze ausgeſetzt, bis die organiſche Subſtanz verbrannt war. Auf dieſe Weiſe ahmte Göppert erfolgreich verſchiedene Proceſſe der Verſteinerung nach, und erklärte manche Dinge bezüglich der Foſſilien, die früher fraglich geweſen. Seine Entdeckung der Ueberreſte von Pflanzen im Innern der Steinkohlen trug viel dazu bei, die Zweifel über die Bildungsweiſe dieſes Materials aufzuklären. 1841 ver- öffentlichte Göppert ein wichtiges Werk, in welchem er die Gattungen der foſſilen Pflanzen mit denen der lebenden verglich. 1852 er— ſchien ein anderes umfaſſendes Werk von demſelben Schriftſteller, betitelt: „Foſſile Flora des Uebergangs-Gebirges“. Auch Andrae, Braun, Duncker, Et— tinghauſen, Geinitz und Goldenberg lieferten erwähnenswerthe Beiträge zur Bo— tanik der Foſſilien in Deutſchland während der Periode, die wir ſoeben betrachten. Das ſyſtematiſche Studium der wirbel— loſen Foſſilien, das in fo bewunderswer— *) Description des coquilles fossiles des und Mougeot's „Monographie über die | environs de Paris. 3 Bde. Paris 1824—1837, — 432 ther Weiſe von Lamarck begonnen war, wurde in Frankreich fleißig fortgeſetzt. Die Tertiär- muſcheln des Seinethales wurden weiter von Defrance und beſonders von Deshayes unterſucht, deſſen großes Werk über dieſen Gegenſtand 1824 angefangen ward.“) Des Moulins' Aufſatz über „Sphärulithen“ (1826), Blainville's Memoire über „Belemniten“ (1827), Féruſſac's ver- ſchiedene Denkſchriften über foſſile Land— und Süßwaſſermuſcheln waren werthvolle Bereicherungen deſſelben Gegenſtandes. Ein ſpäteres Werk von großer Wichtigkeit war d'Orbigny's „Paléontologie Française“ 1840 .— 1844, das die Mollusken und Sternthiere den Schichtungen nach im Detail aufzählte. Die anderen Publikationen dieſes Verfaſſers ſind ſo zahlreich als werthvoll. Brongniart's und Desmareſt's „His- toire naturelle des Crustacés Fossiles“ 1822, iſt eine wahre Pionierarbeit zu nennen. Michelin's Arbeit über die foſſilen Korallen Frankreichs, 1841 — 1846, war ein anderer wichtiger Beitrag zur Palä- brauchbar. ontologie. Die Werke von Agaſſiz über foſſile Echinodermen und Mollusken ſind werthvolle Beiträge der Wiſſenſchaft. Die Werke von d'Archiac, Coquand, Cot— teau, Deſor, Edwards, Haime und de Verneuil ſind ebenfalls von dauerndem Werthe. In Italien trugen Bellardi, Merian, Michellotti, Phillipi, Zigno u. A. Wichtiges zu den Reſultaten der Paläon— tologie bei. In den Niederlanden haben Bosquet, Nyſt, Koninck, Ryckholt, van Be— neden u. A. weſentlich zum Fortſchritt der Wiſſenſchaft beigetragen. In England wurden die wirbelloſen Foſſilien auch ſorgfältig ſtudirt und beftän- dige Fortſchritte gemacht. Sowerby's Marſh, Geſchicht und Methode der paläontologiſchen Entdeckungen. „Mineral Conchologie of Great Bri— tain“ in ſechs Bänden, ein ſyſtematiſches Werk von großem Werth, wurde 1812 — 1830 veröffentlicht. Bald nachher wurde es ins Franzöſiſche und Deutſche über— ſetzt. Seine Abbildungen foſſiler Muſcheln ſind ausgezeichnet, und es iſt noch heute ein maßgebendes Werk. Miller's „Natur⸗ geſchichte der Crinoiden“, 1821 zu Briſtol publicirt, und Auſtin's ſpätere Mono⸗ graphie ſind zum Nachſchlagen werthvoll. Brown's „Foſſile Conchyliologie Groß— britanniens und Irlands“ erſchien 1839, und Brodie's „Geſchichte der foſſilen In— ſekten Englands“ 1845. Philipps' Illu⸗ ſtration der Geologie Jorkſhires (1829— 1836) und ſein Werk über die „Paläo— zoiſchen Foſſilien von Cornwall, Devonſhire und Weſt⸗Somerſet“, 1843, enthielten eine große Menge originellen Materials in Bezug auf foſſile Ueberreſte. Morris' „Katalog britiſcher Foſſilien“, 1843 heraus— gegeben, eine ſpätere Ausgabe von 1854, iſt für den arbeitenden Paläontologen höchſt Die Arbeiten von Davidſon über die Brachiopoden, von Edwards, Forbes, Morris, Lycett, Sharpe und Wood über andere Mollusken, von Wright über die Echinodermen, von Salter über die Cruſtaceen, von Busk über die Poly- zoen, von Jones über die Entomoſtraceen, und von Duncan und Lonsdale über die Corallen ſind von beſonderem Werthe. King's Werk über permiſche Foſſilien, Mantell's verſchiedene Abhandlungen, Dixon's Werk über die Foſſilien von Suſſex 1850, und Me Coy's Werke über paläo— zoiſche Foſſilien verdienen ſämmtlich ehrenvolle Erwähnung. Sedgwick, Murchiſon und Lyell brachten, obwohl ſie ihre größten Dienſte der Wiſſenſchaft in der ſyſtematiſchen Geologie leiſteten, ein Jeder wichtige Ergeb— Marſh, Geſchichte und Methode der paläontologiſchen Entdeckungen. niſſe zur verwandten Wiſſenſchaft der Palä— ontologie während dieſer Periode bei. 433 Berendt, Dunker, Geinitz, Heer, Hörnes, Klipſtein, von Münſter, In Deutſchland trug v. Schlotheim's Abhandlung „Die Petrefaktenkunde“, 1820 in Gotha veröffentlicht, viel dazu bei, ein allgemeines Intereſſe an Foſſilien zu er— wecken. Bei weitem das wichtigſte Werk über dieſen Gegenſtand waren die „Petrefacta Germanica“ von Goldfuß, das 1826— 1844 in drei Folio-Bänden herausgegeben wurde und wenig von ſeinem Werthe ver— loren hat. Bronn's „Geſchichte der Natur“ 1841 1846 war ein mit großer Mühe zuſammengeſtelltes Werk und eines der der Wiſſenſchaft vorwärts Reuß, Roemer, Sandberger, Sueß, von Hagenow, von Hauer, Zeiten und viele Andere halfen Alle dieſen Zweig zu bringen. Angelin, Hiſinger und Nilsſon in Skandinavien, Abich, von Waldheim, brauchbarſten aus der Literatur dieſer Zeit. Der Verfaſſer giebt eine Aufſtellung aller bekannten foſſilen Arten, mit vollſtändiger Quellenangabe und ihrer Verbreitung. Dies gab genaue Daten, auf welche man Ver— allgemeinerungen, die bisher vergleichsweiſe geringen Werth hatten, baſiren konnte. Unter anderen frühen Werken von In— tereſſe auf dieſem Felde mag Dalman's Abhandlung über die Trilobiten (1828) und diejenige Burmeiſters über denſelben Gegenſtand (1843) erwähnt werden. Gie bel's wohlbekannte „Fauna der Vorwelt“ (1847-1856) gab Verzeichniſſe aller Foſ— ſilien, die bis zu dieſer Zeit beſchrieben waren, und iſt deshalb ein ſehr brauchbares Werk. Die „Lethaea Geognostica““ von Bronn und Roemer, 1846-1856, iſt eine allgemeine umfaſſende Arbeit über Palä— ontologie und das werthvollſte bis jetzt ver— öffentlichte Werk dieſer Art. Die Unterſuchungen Ehrenberg's rück— ſichtlich der niederſten Formen der Thiere und Pflanzen warfen viel Licht auf ver- ſchiedene Punkte der Paläontologie, und wieſen den Urſprung vieler Ablagerungen nach, deren Natur vorher zweifelhaft geweſen. Von Buch, Barrande, Beyrich, Eichwald, Keyſerling, Kutorga, Nordmann, Pander, Roullier und, Volborth in Rußland und Puſch in Polen publicirten wichtige Bemerkungen über foſſile wirbelloſe Thiere. Der Anſtoß, den Cuvier dem Studium der foſſilen Wirbelthiere gegeben hatte, dehnte ſich über Europa aus, und große An— ſtrengungen wurden gemacht, um die Entdeck— ungen in der Richtung, auf die er in ſo be— wundernswerther Weiſe hingewieſen, weiter zu führen. Louis Agaſſiz (1807-1873), ein Zögling Cuvier's, erwarb eine hervor— ragende Stellung ſowohl bei dem Studium der ehemaligen, als der jetzigen Lebewelt. Sein großes Werk über foſſile Fiſche n) verdient neben Cuvier's „Ossemens fossiles“ ein⸗ gereiht zu werden. Das letztere enthielt haupt— ſächlich foſſile Wirbelthiere und Reptilien, während die Fiſche ohne einen Geſchichts— ſchreiber blieben, bis Agaſſiz ſeine Unter— ſuchungen begann. Seine Studien hatten ihn in bewundernswerther Weiſe für dieſe Aufgabe vorbereitet, und ſein Fleiß brachte eine ungeheure Reihe von Thatſachen zu— ſammen, die ſich auf jeden Gegenſtand be— zogen. Der Werth dieſes großen Werkes beſteht nicht nur in feinen getreuen Be⸗ ſchreibungen und Stichen, ſondern auch in den tieferen Reſultaten, die es lieferte. Agaſſiz wies zuerſt nach, daß zwiſchen *) Recherches sur les poissons fossiles 1833—1845. | 5 434 der Aufeinanderfolge der Fiſche in den Felſen und ihrer Embryonal-Entwickelung eine ent— ſprechende Beziehung beſtände. Man glaubt jetzt, daß dies einer der ſtärkſten Beweiſe zu Gunſten der Evolutionstheorie ſei, obwohl ihr Entdecker die Thatſachen nach der ent— gegengeſetzten Richtung auslegte. Pander's Abhandlungen über die foſſilen Fiſche Rußlands bilden eine würdige Ergänzung des klaſſiſchen Werkes von Agaſſiz. Brandt's Publikationen ſind ebenfalls von großem Werthe; und jene von Lund, in Schweden, haben ein beſonderes Intereſſe für Amerikaner, in Folge ſeiner Unterſuchungen der Höhlen Braſiliens. Croizet's und Jobert's „Recher- ches sur les ossemens fossiles du de- partement du Puy de Dome“, 1828, ent- hielt werthvolle Angaben im Bezug auf foſſile Säugethiere, Geoffroy St. Hi— laire's Forſchungen über foſſile Replilien, 1831, waren ein wichtiger Fortſchritt. De Serres und de Chriſtol's Forſchungen in den Höhlen Südfrankreichs, zwiſchen 1829 und 1839 veröffentlicht, ſind von großem Werthe. Schmerling's Durchforſch— ungen der Höhlen Belgiens, 1833 — 1836, waren beſonders deshalb wichtig, weil menſch— liche Ueberreſte dort mit denen ausgeſtor— bener Thiere zuſammengemiſcht gefunden wurden. Deslongchamp's Arbeiten über foſſile Reptilien, 1835, ſind noch heute von großem Intereſſe. Pictet's allgemeine Abhandlung über Paläontologie war eine werthvolle Bereicherung der Literatur und trug viel zur Ermuthigung des Studiums der Foſſilien bei.“) De Blainville in feinem großen, 1839 — 1856 herausgege— benen Werke „Oſteographie“ brachte die *) Traité élémentaire de paléontologie etc. Geneve. 4 Bde. 1844 — 1846, Zweite Auflage. Paris, 1853—55. Marſh, Geſchichte und Methode der paläontologiſchen Entdeckungen. Ueberreſte lebender und ausgeſtorbener Wirbelthiere zuſammen, die eine Reihe von größtem Werthe für das Studium bilden. Aymard's und Pomel's Beiträge zur Paläontologie der Wirbelthiere ſind beide von Werth. Gervais und Lartet bereicherten unſerer Kenntniß über dieſen Gegenſtand und Bravard's und Hé— bert's Abhandlungen ſind wohlbekannt. Die glänzenden Entdeckungen Cuvier's im Pariſer Becken erregten in England großes Intereſſe, und als man fand, daß dieſelben Tertiärſchichten im Süden Eng— lands exiſtirten, wurde eine ſorgfältige Durch— ſuchung nach foſſilen Wirbelthieren ins Werk geſetzt. Ueberbleibſel einiger von Cuvier beſchriebenen Gattungen wurden bald entdeckt, und andere ausgeſtorbene Thiere, der Wiſſenſchaft noch neu, wurden in verſchiedenen Theilen des Königreiches gefunden. König, dem wir den Namen Ichthyosaurus, und Conybeare, dem wir die Gattungsbezeichnungen Plesiosaurus und auch Mosasaurus verdanken, gehören zu den erſten engliſchen Schriſtſtellern über foſſile Reptilien. Die Entdeckung dieſer drei ausgeſtorbenen Typen, und die Dis— kuſſion über deren Natur, bildet ein höchſt intereſſantes Kapitel in den Annalen der Paläontologie. Die Entdeckung des Igua- nodon, von Mantell und des Mega— losaurus von Buckland erweckte noch größeres Intereſſe. Dieſe großen Reptilien unterſchieden ſich viel mehr von lebenden Formen, als die von Cuvier entdeckten Säugethiere, und die Periode, in welcher ſie gelebt hatten, wurde bald unter dem Namen des „Zeitalters der Reptilien“ be— kannt. Die nachfolgenden Unterſuchungen dieſer Schriftſteller fügten der beſtehenden Kenntniß verſchiedener ausgeſtorbener For— men vieles Neue hinzu, und ihre Schriften 7 Marſh, Geſchichte und Methode der paläontologiſchen Entdeckungen. trugen weſentlich dazu bei, das öffentliche Intereſſe auf dieſen Gegenſtand zu lenken. Richard Owen, ein Zögling Cuvier's, folgte ihnen, und brachte für das Studium des Gegenſtandes eine umfaſſende Kenntniß der vergleichenden Anatomie und eine ausge— dehnte Bekanntſchaft mit beſtehenden Lebens— formen in Anwendung. Seine Beiträge haben beinahe jede Abtheilung der Paläontologie bereichert, und nach Cuvier war er für die ausgeſtorbenen Wirbelthiere der Haupt— geſchichtsſchreiber. Die foſſilen Reptilien Englands ſowohl, als die Südafrikas hat er ſyſtematiſch beſchrieben, die ausgeſtor— benen ſtraußartigen Vögel Neuſeelands zur Kenntniß der Wiſſenſchaft gebracht und in umfaſſenden Abhandlungen genau beſchrieben. Seine Forſchungen über die foſſilen Säugethiere Großbritanniens, die ausgeſtorbenen Edentaten Südafrikas und die alten Beutelthiere Auſtraliens bilden je ein wichtiges Kapitel in der Geſchichte unſerer Wiſſenſchaft. Die perſönlichen Unterſuchungen Fal— coners und Cautley's in den Sewalik— Hügeln Indiens brachten eine merkwürdige Wirbelthierfauna des Pliocänalters zu Tage, Die dort in Sicherheit gebrachten Ueberreſte wurden in ihrem großen Werke „Fauna Antiqua Sivalensis“, 1845 in London veröffentlicht. Die wichtigen Beiträge Eger— ton's zu unſerer Kenntniß foſſiler Fiſche, und Jardin e's wohlbekanntes Werk „Ich— nologie von Annandale“ gehören auch zu dieſer Periode. Das Studium foſſiler Wirbelthiere in Deutſchland wurde in der vorliegenden Periode mit vielem Erfolg durchgeführt. Blum enbach, der Ethnologe, verzeichnete in verſchiedenen Publikationen zwiſchen den Jahren 1803 und 1814 werthvolle Beob- achtungen über denſelben Gegenſtand. Söm— 435 mering gab 1812 eine ausgezeichnete Abbildung eines Pterodaktylus, den er be— nannte und beſchrieb. Goldfuß' Forſch— ungen über die foſſilen Wirbelthiere aus den deutſchen Höhlen, 1820 — 1823 machte die wichtigeren Thatſachen in Bezug auf dieſe intereſſante Fauna bekannt. Seine ſpäteren Publikationen über ausgeſtorbene Amphibien und Reptilien waren ebenſo be— merkenswerth. Jäger's Unterſuchungen über die ausgeſtorbene Wirbelthierfauna von Württemberg, veröffentlicht zwiſchen 1824 und 1839, waren ein wichtiger Fort— ſchritt. Plieninger's Forſchungen in derſelben Gegend, 1834 — 1844, ſchulden wir die Entdeckung des erſten Säugethieres der Triasſchichten (Microlestes), ebenſo wie wichtige Belehrungen hinſichtlich der Laby— rinthodonten. Kaup's Unterſuchungen über foſſile Säugethiere, 1832 — 1841, brachten viele intereſſante Formen ans Licht; wir verdanken ihm den Gattungsnamen Dino- therium, und ausgezeichnete Beſchreibungen der damals bekannten Ueberreſte. Graf Münſter's „Beiträge zur Petre— faktenkunde“, 1840— 1846, enthielten ver- ſchiedene werthvolle Abhandlungen über foſ— ſile Wirbelthiere; und die nicht geſam— melten Abhandlungen deſſelben Verfaſſers ſind ebenfalls von Intereſſe. Andreas Wagner ſchrieb 1837 über Pteroſaurier und gab ſpäter die erſte Beſchreibung der foſſilen Säugethiere des tertiären Griechen— lands, (1837-1840) heraus. Johannes Müller veröffentlichte 1849 ein wichtiges illuſtrirtes Werk über die Zeuglodonten, und verſchiedene erwähnenswerthe Abhand— lungen, Quenſtedt intereſſante Beſchreib— ungen foſſiler Reptilien ſowie auch andere werthvolle Aufſätze. Rütimeyer's an— regende Aufſätze find weit bekannt. Hermann v. Mayer's Beiträge zur Kosmos, III. Jahrg. Heft 12. 436 Paläontologie der Wirbelthiere ſind bei weitem die wichtigſten, die in Deutſchland während der nun folgenden Periode ver— öffentlicht wurden. Von 1830 an dauerten ſeine Forſchungen über dieſen Gegenſtand durch vierzig Jahren ununterbrochen, und alle ſeine verſchiedenen Publikationen ſind werthvoll. Seine „Beiträge zur Petrefakten⸗ kunde“, 1831-1833, enthalten eine Reihe werthvoller Aufſätze. Seine „Palaeologica“ von 1832 enthält eine Synopſis der damals bekannten foſſilen Wirbelthiere und vieles originelle Material. Sein großes Werk „Zur Fauna der Vorwelt“, 18451860, enthält eine Reihe von Monographien, die für das Studium der Paläontologie der Wirbelthiere unſchätzbar ſind. Dieſes Werk ſowohl, als ſeine anderen größeren Publika— tionen waren mit bewundernswerthen Stichen nach ſeinen eigenen Zeichnungen ausgeſtattet. Andere Aufſätze dieſes Verfaſſers kann man in der „Palaeographica“ finden, von wel— cher er einer der Herausgeber war. den vielen Bänden dieſes Unternehmens, das 1851 begann und noch fortgeführt wird, findet ſich Vieles, was für den Forſcher eines jeden Zweiges der Paläontologie von Inter— eſſe iſt. Die Paläontologiſche Geſellſchaft von Lon— don, 1847 errichtet, hat ebenfalls eine Reihe von Bänden herausgegeben, die werthvolle Aufſätze aus den Zweigen der Paläontologie enthalten. Dieſe beiden Veröffentlichungen zuſammen bilden einen werthvollen Schatz der Wiſſenſchaft in Bezug auf die ausge— ſtorbenen Formen des thieriſchen und pflanz— lichen Lebens. Es mag intereſſant ſein, hier in Kürze den Gebrauch allgemeiner Ausdrücke In Marſh, Geſchichte und Methode der paläontologiſchen Entdeckungen. Weiſe angewandt, weniger häufig „Sünd— in der Paläontologie anzuführen, da der ſchrittweiſe Fortſchritt der Wiſſenſchaft bis zu einem gewiſſen Grade auch in der Termi- Belemniten, gang und gäbe waren. Ihr vor— nologie zum Ausdruck gelangt. Zuerſt und während einer langen Zeit wurde der Name „Foſſil“ paſſenderweiſe auf Gegenſtände ange— wendet, die aus der Erde gegraben waren, und zwar ſowohl auf mineraliſche wie organiſche. Der Ausdruck „Oryetology“, der im Weſentlichen denſelben Sinn hat, wurde für dieſen Zweig des Studiums ebenfalls ein⸗ geführt. Auch wurde während einer langen Zeit die Endung ites (Ju og, Stein) den Foſſilien beigelegt, um fie von den entſpre⸗ chenden lebenden Formen zu unterſcheiden; jo z. B. wird „Ostracites“ von Plinius gebraucht. Zu einer ſpäteren Zeit wurde der allgemeine Name „Bild- oder Figuren— ſteine“ (lapides figurati) in ausgedehnter fluthſteine“ (lapides diluviani). Der Aus⸗ druck „organiſche Foſſilien“ wurde ge— braucht, um Foſſilien von Mineralien zu unterſcheiden, ſobald der wirkliche Unterſchied erkannt wurde, obwohl man ſich auch des Namens „Reliquiae“ gelegentlich bediente. Der Ausdruck „Petrefakten“ (Petrificata) wurde von Johann Gesner in ſeinem Werke über Foſſilien 1758 ſeiner Bedeut⸗ ung nach begrenzt und nachher in ausge— dehnter Weiſe angewandt. Paläontologie iſt vergleichsweiſe ein moderner Ausdruck, da er erſt innerhalb des letzten halben Jahr- hunderts in Gebrauch gekommen iſt. Er wurde ums Jahr 1830 eingeführt, und in Frankreich und England bald allgemein angenommen, in Deutſchland fand er aber weniger Gunſt, obwohl er auch dort bis zu einem gewiſſen Grade gebraucht wird. Es würde auch intereſſant ſein, die ver— ſchiedenen Anſichten und abergläubigen Meinungen zu überblicken, die zu verſchie— denen Zeiten in Bezug auf einige der gewöhn— lichen Foſſilien, z. B. der Ammoniten oder der ausgeſetzter himmliſcher Urſprung, ihr Ge— brauch als Arzneimittel bei den Alten und noch heutigen Tages im Orient, ihre wunderbare Kraft als Beſchwörungsmittel bei den Römern und noch jetzt unter den Indianern gehören hierher. Es würde auch lehrreich ſein, die verſchiedenen Meinungen zu vergleichen, welche die Männer der Wiſſenſchaft in Be zug auf einige der ausgeſtorbenen ſeltſamen Formen aufgeſtellt haben, wie z. B. betr. der Nummuliten unter den Protozoen, der Ru- diſten unter den Mollusken, oder des Mosa- | saurus unter den Reptilien. So unähnlich dieſe Anſichten unter ſich auch waren, fo deuten ſie doch in vielen Fällen ein Tappen nach der Wahrheit an — eine Vorbereitung zum Fortſchritt in der Wiſſenſchaft. Die dritte Periode der Geſchichte der Paläontologie, die, wie ich geſagt habe, mit Cuvier und Lamarck im Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts begann, bildet einen natürlichen, ſich durch ſechs Jahrzehnte erſtreckenden Zeitabſchnitt. Die beſtimmten obenerwähnten Charakterzüge dieſer Periode waren während der ganzen Zeit die herr— ſchenden, und der Fortſchritt in der Palä— ontologie hielt gleichen Schritt mit dem der Intelligenz und Kultur. Während der erſten Hälfte dieſer Periode erregten die wunderbaren Entdeckungen im Pariſer Becken Verwunderung und nahmen die Aufmerkſamkeit in Anſpruch, aber die wirkliche Bedeutung und der Werth der That— ſachen, die von Cuvier, Lamarck und William Smith zur Kenntniß der Welt gebracht waren, wurde nicht gewürdigt. Es beſtand noch eine ſtarke Neigung, die Foſſilien blos als intereſſante Gegenſtände der Natur⸗ geſchichte anzuſehen, gleichwie in der früheren Periode, und nicht als Schlüſſel zu tieferen Problemen der Erdgeſchichte. Viele her— vorragende Geologen verſuchten noch die Marſh, Geſchichte und Methode der paläontologiſchen Entdeckungen. Schichtenbildungen in verſchiedenen Ländern lieber an ihren mineraliſchen Charakterzügen zu erkennen, als an den in ihnen einge— betteten Foſſilien. Solche Namen wie „alter rother Sandſtein“ und „neuer rother Sand— ſtein“ wurden in Einklang mit dieſer Auf- faſſung in Schwung gebracht. Humboldt z. B. verſuchte die Ablagerungen von Süd— amerika und Europa an ihren mineraliſchen Zügen zu erkennen und bezweifelte den dies— bezüglichen Werth der Foſſilien. Er ſchrieb 1823 wie folgt: „Sind wir berechtigt, zu ſchließen, daß alle Schichten durch beſondere Species charakteriſirt ſind? daß die foſſilen Muſcheln der Kreide, des Muſchelkalkes, des Jurakalkes und der Alpenkalke alle ver- ſchieden ſind? Ich denke, das hieße die Schlußfolgerungen zu weit treiben.“) Ja⸗ meſon glaubte noch, daß das Mineraliſche für die Charakteriſirung der Foſſilien wich— tiger ſei, als die Foſſilien, während Bake— well noch ſpäter die Paläontologie als die „Foſſile Zoologie und foſſile Botanik“ um- faſſend definirt, „deren Kenntniß dem Ge— lehrten als nur in geringem Zuſammenhange mit der Geologie zu ſtehen ſcheinen mag.“ Während der letzteren Hälfte der dritten Periode, wurde ein größerer Fortſchritt ge— macht, und vor ihrem Ende war die Geo— logie durchaus als Wiſſenſchaft feſtgeſtellt. Wir wollen nun einen Augenblick auf die Betrachtung verwenden, was wirklich bis zu dieſer Zeit vollbracht worden war. Es war unfraglich feſtgeſtellt worden, daß zum wenigſten gewiſſe Theile der Erdober— fläche viele Male, in Abwechſelung mit ſüßem Waſſer und Feſtlandbildung, vom Meere be— deckt geweſen waren; daß die ſo gebildeten Schichten nach und nach abgelagert und daß die unterſten in der Reihe die älteſten waren; 5) Essai géognostique sur le gisement des Roches p. 41. 438 Marſh, Geſchichte und Methode der paläontologiſchen Entdeckungen. daß eine beſtimmte Aufeinanderfolge von Thieren und Pflanzen die Erde während der verſchiedenen geologiſchen Perioden be— völkert habe und daß die Reihenfolge in einem Theile der Erde im Weſentlichen für alle Theile gelte. Mehr als 30000 neue Species ausgeſtorbener Thiere und Pflanzen waren nunmehr beſchrieben worden. Man hatte aufgefunden, daß von den älteſten Bildungen bis zu den neueren ein Fort— ſchritt im Range der Lebeweſen, ſowohl der thieriſchen als pflanzlichen, beſtand, indem die älteſten Formen zu den einfachſten ge— hörten, während die höheren Formen nach und nach zum Vorſchein kamen. Es war nunmehr auch klar erwieſen, daß die Foſſilien aus den älteren Schichten ſämmtlich ausgeſtorbenen Species angehörten und daß blos in den jüngſten Ablagerungen ſich Ueberreſte von noch lebenden Formen vor— fanden. Ebenſo hatte ſich die wichtige That— ſache herausgeſtellt, daß in verſchiedenen Gruppen des Thier- und Pflanzenreiches die ausgeſtorbenen Formen viel zahlreicher waren als die lebenden, ſowie daß mehrere Ordnungen foſſiler Thiere in den neueren Zeiten keine Repräſentanten mehr aufzu— weiſen hatten. Menſchliche Reſte waren mit denen ausgeſtorbener Thiere gemiſcht gefunden worden; aber die Gemeinſchaft wurde von den Autoritäten der Wiſſen— ſchaft als eine zufällige behandelt und die ſehr neue Erſcheinung des Menſchen auf der Erde nicht ernſtlich in Frage geſtellt. Eine andere wichtige Schlußfolgerung, die hauptſächlich durch die Arbeiten Lyell's erzielt wurde, war die, daß die Erde in der Vergangenheit keinen plötzlichen und hef— tigen Revolutionen ausgeſetzt geweſen, daß die großen Veränderungen, die vor ſich gegangen, ſchrittweiſe entſtanden ſeien und in keiner weſentlichen Beziehung ſich von den noch vor ſich gehenden unterſcheiden: Seltſamer Weiſe bildete das Seitenſtück dieſer Vorausſetzung, daß auch das Leben auf der Erde ununterbrochen geweſen ſein müſſe, zu dieſer Zeit keinen Theil des all— gemeinen Schatzes der Wiſſenſchaft. In der phyſiſchen Welt war das große Geſetz der „Erhaltung der Kraft“ verkündet und in weiter Ausdehnung angenommen worden, aber in der organiſchen Welt be— hielt das Dogma der wunderbaren Erſchaff— ung jeder beſonderen Art noch beinahe ebenſo vollkommen die Herrſchaft, als an dem Tage, an dem Linné erklärte: „Es giebt fo viele verſchiedene Species, als verſchiedene Formen im Anfang von dem unendlichen Weſen er— ſchaffen worden ſind.“ Aber die Morgen— röthe einer neuen Aera brach ſchon an und die dritte Periode der Paläontologie kann nun als beendigt betrachtet werden. Genau vor zwanzig Jahren hatte die Wiſſenſchaft einen Punkt erreicht, wo der Glaube an „beſondere Schöpfungen“ durch wohl begründete und allmählich zu— ſammengetragene Thatſachen untergraben wurde. Die Zeit war reif. Viele Natur- forſcher arbeiteten an dem Problem, in der Ueberzeugung, daß Entwickelung der Schlüſſel der Gegenwart und der Vergangen— heit ſei. Aber wie hatte die Natur dieſe Veränderungen herbeigeführt? Während Andere grübelten, ſprach Darwin das Zauberwort: „Natürliche Ausleſe“; aus, und damit begann eine neue Epoche in der Wiſſenſchaft. Die vierte Periode in der Geſchichte der Paläantologie hebt von dieſer Zeit an, und ſie iſt die Periode des heutigen Tages. Einer der Hauptcharakterzüge dieſer Epoche iſt der Glaube, daß alles Leben, das gegenwärtige ſowohl, als das aus— geftorbene, aus einfachen Formen Marſh, Geſchichte und Methode der paläontologiſchen Entdeckungen. hervorgegangen iſt. Ein anderer her— vorſtechender Zug iſt das als Thatſache an— genommene hohe Alter des Menſchenge— ſchlechtes. Dieſelben ſind vollkommen genü— gend, dieſe Periode ſcharf von denen, die ihr vorangingen, zu unterſcheiden. Die Veröffentlichung von Charles Dar— win's Werk über den „Urſprung der Arten“ im November 1859 erweckte alsbald die Aufmerkſamkeit und gab zu einer Umwälzung Anlaß, welche in dem kurzen Zeitraume zweier Jahrzehnte bereits die ganze wiſſen— ſchaftliche Ideeurichtung verändert hat. Die Theorie der „Natürlichen Ausleſe“ oder, wie Spencer ſie glücklich benannt hat, des „Ueberlebens des Paſſendſten“, war von Wallace unabhängig ausgearbeitet worden, und er theilt gerechterweiſe die Ehre der Ent— deckung. Wir haben geſehen, daß die The— orie der Entwickelung von Lamarck vor— geſchlagen und vertreten worden war, aber er war ſeiner Zeit voraus. Der anonyme Verfaſſer der „Spuren der Schöpfung“ („Vestiges of Creation“), die 1844 er⸗ ſchienen, vertrat eine ähnliche Theorie, die viel Aufmerkſamkeit erregte, aber der Glaube, daß die Arten unveränderlich ſeien, wurde nicht merklich affizirt, bis Darwin's Werk erſchien. Dieſe Umwälzung hat die Paläontologie in ebenſo weiter Ausdehnung betroffen, als irgend eine andere Abtheilung der Wiſſen— ſchaft, und das iſt der Grund, warum wir von einer neuen Periode ſprechen. In der letzt- vergangenen Epoche wurden die Species durch Parallellinien unabhängig von einander dar— geſtellt; in der gegenwärtigen Periode werden ſie durch von einander abhängige, abzweigende Linien verbunden. Die frühere war die ana- lytiſche, die letztere iſt die ſynthetiſche Periode. Heute glaubt man, daß die Thiere und Pflanzen, die jetzt leben, ihrer Abſtammung 439 \ nach mit denen der entfernten Vergangenheit verwandt find; und der Paläontologe hält nicht länger die Art für das wichtigſte, ſondern ſucht nach Verwandtſchaften und Abſtamm— ungen, die die Vergangenheit mit der Gegen— wart verbinden. In dieſem Geiſte und auf eine ſolche Weiſe arbeitend, iſt der Fortſchritt während der letzten Dekade groß geweſen, doch iſt er nur eine Vorahnung von dem, was noch bevorſteht. Der Fortſchritt der Paläontologie in Großbritanien iſt bedeutend während der gegenwärtigen Periode und das all— gemeine Intereſſe an der Wiſſenſchaft iſt ſehr verbreitet worden. Die Anſichten Darwin's fanden hier bald Aufnahme. Nächſt ſeiner Entdeckung der „Natürlichen Ausleſe“ hatte Darwin das Glück, einen ſo fähigen und kühnen Erläuterer ſeiner Anfihten, wie Huxley es iſt, zu haben, der als Einer der Erſten ſeine Theorie annahm und ihr eine kräftige Unterſtützung lieh. Huxley's meiſterhafte Forſchungen ſind für alle Fächer der Biologie von großem Werthe geweſen, und ſeine Beiträge zur Paläontologie ſind unſchätzbar. Unter den letzteren ſind ſeine Originalforſchungen über die Beziehungen der Vögel und Reptilien beſonders bemerkenswerth. Seine verſchie— denen Aufſätze über ausgeſtorbene Reptilien, Amphibien und Fiſche gehören der dauernden Literatur über dieſen Gegenſtand an. Die wichtigen Forſchungen Owens über die foſ— ſilen Wirbelthiere ſind bis zum gegenwär— tigen Augenblicke fortgeſetzt worden. Er hat ſeinen früheren Publikationen über die britiſchen foſſilen Reptilien, Vögel und Säugethiere, die ausgeſtorbenen Reptilien Südafrika's und die nachtertiären Vögel Neu— ſeelands viel hinzugefügt. Seine Beſchreib— ung des Archaeopteryx am Beginn dieſer Periode war ein ſehr willkommener Beitrag. FFF 440 Die Forſchungen Egertons über foſ— ſile Fiſche wurden ebenfalls mit großem Erfolg fortgeſetzt. Busk, Dawkins, Flower und Sanford haben zur Geſchichte der foſſilen Säugethiere wichtige Beiträge geliefert. Bell, Günther, Hulke, Lankeſter, Powrie, Miall und Seely haben unſere Kenntniß der Reptilien, Am— phibien und Fiſche beträchtlich erweitert. Unter den Wirbelloſen ſind es beſonders die Cruſtaceen, die von Jones, Salter und Woodward ſtudirt worden ſind. Davidſon, Etheridge, Lyeett, Morris, Philipps, Wood und Wright haben ihre Forſchungen über die Mollusken weiter geführt; Duncan, Nicholſon und Andere haben die aus— geſtorbenen Korallen unterſucht, und Bin— ney, Carruthers und Williamſon die foſſilen Pflanzen. Zahlreiche andere wichtige Beiträge zu dieſer Wiſſenſchaft ſind in Großbritannien während der gegenwärtigen Periode gemacht worden. Auf dem Feſtlande iſt der Fortſchritt in der Paläontologie während der beiden letzten Jahrzehnte in gleicher Weiſe bedeutend geweſen. In Frankreich führte Gervais ſeine Arbeiten über die ausgeſtorbenen Wirbelthiere faſt bis auf den heutigen Tag fort, während Gaudry verſchiedene Bände über denſelben Gegenſtand publizirte, die allen Forſchern zum Muſter dienen. Sein Werk über die foſſilen Thiere Griechenlands iſt eine Monographie, vollkommen in ihrer Art, und ſeine ſpäteren Veröffentlichungen ſind alle wichtig. Lartet's verſchiedene Werke haben dauernden Werth; und ſeine Anwendung der Paläontologie für die Archä— ologie lieferte erwähnenswerthe Ergebniſſe. Der Band von Alphonſe Milne-Ed— wards über foſſile Cruſtaceen war eine paſſende Ergänzung zu Brongniart's Marſh, Geſchichte und Methode der paläontologiſchen Entdeckungen. und Desmareſt's wohlbekanntem Werke, während ſeine große Arbeit über foſſile Vögel es verdient, neben die klaſſiſchen Bände Cuvier's geſtellt zu werden. Duvernoy, Filhol, Hebert, Sauvage und Andere haben ebenfalls intereſſante Reſultate über foſſile Wirbelthiere ausgearbeitet. Van Beneden's Forſchungen über die foſſilen Wirbelthiere Belgiens haben Er— gebniſſe von hohem Werth geliefert. Pictet, Rütimeyer und Wedersheim in der Schweiz, Bianconi, Forſyth-Major, Sismonda in Italien und Nod ot in Spanien haben ebenfalls wichtige Aufſätze veröffentlicht. Die ausgeſtorbenen Wirbel— thiere ſind in Deutſchland von v. Meyer, Carus, Fraas, Giebel, Haeckel, Haaſe, Henſel, Kayſer, Kner, Ludwig, Peters, Portis, Maack, Salenka, Zittel und vielen Andern, in Holland von Winkler, in Dänemark von Reinhardt, und in Rußland von Brandt und Kowalewsskuy ſtudirt worden. Die foſſilen Wirbelloſen wurden ſorg— fältig unterſucht von d' Archiac, d'Or— bigny, Bayle, Fromentel, Oustalet, und Anderen in Frankreich; von Deſor, Loriol und Roux in der Schweiz; von Cappellini, Maſſalongo, Michel— lotti, Meneghini, und Sismonda in Italien; Barrande, Benecke, Bey— rich, Dames, Dorn, Ehlers, Gei— nitz, Giebel, Güm bel, Feiſtmantel, Hagen, v. Hauer, v. Hengde Fritſch, Laube, Oppel, Quenſtedt, Roemer, Schlüter, Sueß, Speyer und Zittel in Deutſchland. Die foſſilen Pflanzen wurden in dieſen Ländern ſtudirt von Maſſalongo, Sa— porta, Zigno, Fiedler, Goldenberg, Gehler, Heer, Goeppert, Ludwig, S chimper, Schenk, und vielen Anderen. Unter den neuen paläontologiſchen Forſchungen in anderen Gegenden ſind zu nennen die von Blanford, Feiſt— mantel, Lydecker und Stolizka in Indien, Haaſt und Hektor in Neuſee— land, Krefft und Me. Coy in Auftra- lien, die ſämmtlich werthvolle Reſultate er— arbeitet haben. Vom Fortſchritte der Paläontologie in Amerika habe ich bisher Nichts geſagt, und ich brauche jetzt nur wenig zu ſagen, da wir ja unzweifelhaft mit ihren Hauptzügen vertraut ſind. Während der erſten und zweiten Periode in der Geſchichte der Paläontologie, wie ich ſie begrenzt habe, ſpielte Amerika aus den triftigſten Gründen keine Rolle. Im gegenwärtigen Jahrhun— dert, während der dritten Periode, erſcheinen die Namen von Bigsby, Green, Mor— ton, Mitchell, Rafinesque, Say und Trooſt, die Alle Erwähnung verdienen. In noch neuerer Zeit haben die Forſchungen von Conrad, Dana, Deane, De Kay, Emmons, Gibbes, Hitſchcock, Holmes, Lea, Me. Chesney, Owen, Redfield, Rogers, Shumard, Swallow und vielen Anderen unſere Kenntniß der Foſſilien dieſes Landes er— weitert. Die Beiträge von James Hall zur Paläontologie der Wirbelloſen dieſes Landes bilden das Fundament unſerer gegenwärtigen Kenntniß des Gegenſtandes. Die umfaſſen— den Arbeiten von Meek, in demſelben Fache, verdienen gleichfalls große Beachtung und werden ein wichtiges Kapitel in der Geſchichte der Wiſſenſchaft füllen. Die Auf- füge von Billings, Gabb, Scudder, White und Whitfield ſind zahlreich und wichtig, und die Publikationen von Derbi, Hartt, James, Miller, Shaler, Rathburn, und Winchell, Marſyh, Geſchichte und Methode der paläontologiſchen Entdeckungen. en e 441 find von hohem Werth. Dawſon, Les— quereux und Newberry ſchulden wir hauptſächlich unſere gegenwärtige Kenntniß der foſſilen Pflanzen dieſes Landes. Das Fundament der Paläontologie der Wirbelthiere wurde von Leidy gelegt, deſſen Beiträge faſt jede Abtheilung des Gegen— ſtandes bereichert haben. Cope's zahlreiche Arbeiten ſind wohlbekannt. Agaſſiz, Allen, Baird, Dawſon, Deane, De— kay, Emmons, Gibbes, Harlan, Hitchcock, Jefferſon, Lea, Le Conte, Newberry, Redfield, St. John, Warren, Whitney, Worthen, Wy— man und Andere haben Alle zu unſerer Kenntniß der amerikaniſchen foſſilen Wirbel— thiere weſentlich beigetragen. Die großen Re— ſultate in dieſer Abtheilung unſeres Gegen— ſtandes habe ich ſchon bei einer früheren Gelegenheit vorgelegt, und ich brauche mich alſo hier nicht mit ihnen aufzuhalten. In dieſer flüchtigen Skizze der Geſchichte der Paläontologie habe ich es für das Beſte gehalten, von den früheren Perioden aus— führlicher zu ſprechen, weil ſie weniger all— gemein bekannt ſind, und außerdem, weil ſie einen Begriff vom Wachsthum der Wiſſen— ſchaft und von den Hinderniſſen geben, die ſie zu bewältigen hatte. Mit dem, was gegen— wärtig in der Paläontologie geleiſtet wird, ſind Sie überhaupt Alle mehr oder weniger vertraut, da die Ergebniſſe jetzt ein Theil der Tagesliteratur ſind. Jede wichtige Ent— deckung auf ihren Entdecker zu beziehen, würde mich weit über meinen gegenwärtigen Plan hinaus geführt haben. Ich habe nur verſucht, das Wachsthum der Wiſſenſchaft zu verfolgen, indem ich die hervorragenderen Leiſtungen aufführte, die ihren Fortſchritt bezeichnen, oder die vorwiegenden Anſichten und den Stand der Wiſſenſchaft zur Zeit, als ſie geſchrieben wurden, kennzeichnen. > "$ 442 Werfen wir einen Blick auf das, was direkt oder indirekt vollbracht worden iſt, ſo können wir ſagen, daß es ohne die Pa— läontologie keine Wiſſenſchaft der Geologie gegeben hätte. Die letztere Wiſſenſchaft ent— ſprang aus dem Studium der Foſſilien und nicht, wie man gewöhnlich glaubt, umgekehrt. Deshalb iſt die Paläontologie nicht nur ein Zweig der Geologie, ſondern das Fundament, auf welches dieſe Wiſſenſchaft hauptſächlich gegründet iſt. Dieſe Thatſache iſt eine genü— gende, um die Anführung der früheren An— ſichten in Bezug auf die früheren Veräu— derungen der Erdoberfläche zu entſchuldigen, da dieſe Veränderungen zuerſt nur ſtudirt wurden, um die Lage der Foſſilien zu erklären. Die Unterſuchung der letzteren führte zuerſt zu Theorien über die Bildung der Erde, und auf dieſe Weiſe zur Geologie. Als Spe— kulation an die Stelle der Beobachtung trat, wurden die Foſſilien bei Seite geſchoben, und eine Zeit lang hielt man die minera— liſchen Charaktere der Schichten für den Schlüſſel ihrer Lage und ihres Alters. Einige Zeit nachher entſchuldigten ſich, wie wir geſehen haben, die Geologen daß ſie ſich der Foſſilien bedienten, um Schichten— bildungen zu beſtimmen, aber während des letzten halben Jahrhunderts iſt ihr Werth für dieſen Zweck vollſtändig anerkannt worden. Die Dienſte, die die Paläontologie der Botanik und der Zoologie geleiſtet hat, zu würdigen, iſt weniger leicht; ſie ſind aber ſehr umfangreich. Die Claſſification dieſer Wiſſenſchaften iſt durch die Einſchaltung vieler Zwiſchenformen eine weit vollſtändi— gere geworden. Der wahrſcheinliche Ur— ſprung der verſchiedenen lebenden Arten wird durch die Genealogien nachgewieſen, die durch die ausgeſtorbenen Typen nahe gelegt werden, während unſere Kenntniß der geo— graphiſchen Verbreitung der Thiere und Pflanzen gegenwärtig ſehr gefördert wird durch die Thatſachen, die hinſichtlich der früheren Vertheilung des Lebens auf dem Erdball zum Vorſchein gekommen ſind. Unter den vielen neuen Arten, die hin- zugetreten ſind, befinden ſich die Repräſen— tanten einer Anzahl neuer Ordnungen, die unter den lebenden Formen ganz unbe— kannt ſind. Die Vertheilung dieſer aus— geſtorbenen Formen in die verſchiedenen Klaſſen iſt ſehr intereſſant, da ſie ſich hauptſächlich auf die höheren Gruppen be— ſchränken. Unter den foſſilen Pflanzen ſind noch keine neuen Ordnungen gefunden wor— den. Auch unter den Protozoen oder den Mollusken find keine bekannt. Die Stern⸗ thiere ſind durch die ausgeſtorbenen Ordnun— gen der Blaſtoiden, Cyſtiden und Edrioaſteri— den bereichert worden, und die Cruſtaceen durch die Eurypteriden und Trilobiten. Unter den Wirbelthieren iſt noch keine aus— geſtorbene Ordnung foſſiler Fiſche gefunden worden; aber die Amphibien wurden durch die wichtige Ordnung der Labyrinthodonten ver— mehrt. Die größte Vermehrung hat unter den Reptilien ſtattgefunden, von denen die meiſten Ordnungen ausgeſtorben ſind. Hier haben wir im gegenwärtigen Augenblicke die Ichthyoſaurier, Sauranodonten, Pleſioſaurier und Moſaſaurier unter den marinen For— men; die Pteroſaurier mit Einſchluß der Pte— ranodonten, die die fliegenden Formen ent— halten; die Dinoſaurier mit Einſchluß der Sauropoden — der Rieſen unter den Reptilien; ebenſo die Dicynodontier und wahrſcheinlich die Theriodonten unter den Landformen. Obwohl man nur wenige foſſile Vögel tiefer als in Tertiärſchichten gefunden hat, ſo haben wir doch unter den meſozoiſchen Formen drei neue Ordnungen: die Saururae, repräſentirt durch Archae- opteryx; die Odontotormae, deren Typus Marſh, Geſchichte und Methode der paläontologiſchen Entdeckungen. — Marſh, Geſchichte und Methode der paläontologiſchen Entdeckungen. Iehthyornis iſt; und die Odontolcae, die ſich auf Hesperornis aufbauen; alle dieſe Ordnungen find in der Unterklaſſe Odon- thornithes oder gezahnte Vögel einbegriffen. Unter den Säugethieren ſind die neuen Gruppen, die als Ordnungen betrachtet werden, die Tooxodontia und die Dinoce- rata unter den Hufthieren; und die Tillo- dontia mit Einſchluß ſonderbarer Eocen— Säugethiere, deren genauere Verwandtſchaften erſt noch feſtgeſtellt werden müſſen. Unter den wichtigen Ergebniſſen der Paläontologie der Wirbelthiere zeichnen ſich die Genealogien aus, die mit großer Wahr— ſcheinlichkeit für verſchiedene noch beſtehende Thiere hergeſtellt worden ſind. Viele der größeren Säugethiere ſind durch zuſammen— hängende Formen in enger Aufeinanderfolge bis in die frühen Tertiärzeiten zurückverfolgt worden. Die Entwickelung des Pferdes z. B. iſt heute durch die bekannten Exem— plare nachgewieſen. Der Beweis in einem Falle gilt für alle. Das Beweismaterial zu Gunſten der Genealogie des Pferdes beruht jetzt auf demſelben Fundament, wie der Beweis, daß irgend ein foſſiler Knochen einſt einen Theil des Skelets eines leben— den Thieres bildete. Eine beſondere Schöpf— ung eines einzelnen Knochens iſt ebenſo wahrſcheinlich als die beſondere Schöpfung einer einzelnen Art. Die Unterſuchungs— Methode des Paläontologen iſt dieſelbe. Die einzige Wahl liegt zwiſchen der natür— lichen Abſtammung und der übernatürlichen Schöpfung. Aus ſolchen Gründen wird es jetzt unter den thätigen Mitarbeitern der Wiſſenſchaft als eine Zeitverſchwendung betrachtet, die Wahrheit der Entwickelung zu diskutiren. Die Schlacht in Bezug auf dieſen Punkt iſt geſchlagen und gewonnen. Die geographiſche Vertheilung der Thiere 443 und Pflanzen ſowohl als deren Wander— ungen haben von der Paläontologie viel neues Licht erhalten. Die Foſſilien in einem Theile der Erde ſind ſo eng mit den jetzt dort lebenden Formen verwandt, daß der Zu— ſammenhang in der Abſtammung derſelben kaum bezweifelt werden kann. Die ausge— ſtorbenen Marſupialien von Auſtralien und die Edentaten von Südamerika ſind wohl— bekannte Beiſpiele. Die pliocänen Flußpferde Afrikas und des ſüdlichen Europas weiſen unmittelbar auf Einwanderungen von Aſien hin. Andere ähnliche Beiſpiele ſind zahlreich. Die foſſilen Pflanzen der arktiſchen Gegend beweiſen für dort die Exiſtenz eines Klimas, das viel milder als das gegenwärtige war, und neuere Forſchungen machen die vor langer Zeit von Buffon in ſeinen „Epochen der Natur“ gemachte Vorausſetzung, daß das Leben in den Polargegenden begann und daß die Feſtlande nach und nach durch Auswanderung von dort bevölkert wurden, wenigſtens wahrſcheinlich. Die großen Dienſte, welche die ver— gleichende Anatomie der Paläontologie durch Cuvier, Agaſſiz, Owen und Andere leiſtete, ſind in hohem Maße wieder zurückgezahlt worden. Die Löſung einiger der ſchwierigſten Probleme der Ana— tomie hat von den ausgeſtorbenen Formen, die entdeckt wurden, kaum weniger Unter— ſtützung erhalten, als von der Embryologie; und dieſe beiden Zweige der Forſchung er— gänzen einander. Unſere gegenwärtige Kennt— niß des Schädels der Wirbelthiere, des Gerüſtes und der Glieder iſt durch die Forſchungen der Paläontologie ſehr er— weitert worden. Andererſeits werden die neueren Arbeiten von Gegen baur, Hux— ley, Parker, Balfour und Thacher viele dunkle Punkte der Vorzeit aufklären. Eins der wichtigſten Ergebniſſe der Kosmos, III. Jahrg. Heft 12. 58 — 152 neueren paläontologiſchen Forſchung iſt das Säugethieren und bei einigen anderen Wirbel— thieren beſtanden hat. Nach dieſem Geſetze hatten, wie ich es an einer anderen Stelle kurz aus einander geſetzt habe, alle Tertiär— Säugethiere kleine Gehirne. ſchrittweiſe Zunahme in der Größe des Ge— hirns während dieſer Periode. Dieſer Zuwachs fiel hauptſächlich den Cerebral-Hemiſphären oder den höheren Theilen des Gehirnes zu. Bei einigen Gruppen ſind die Windungen des Gehirns allmählich complicirter, bei an— deren ſind das Cerebellum und die Ge— Forſchungen machen es wahrſcheinlich, daß ſind, hatten Gehirne, die im Verhältniß nur ungefähr ein Drittel ſo groß waren, als den Arten. Die Dinoſaurier aus unſeren weſtlichen Juraſchichten unterliegen demſelben exiſtirenden Reptilien. alle ausgeſtorbenen Wirbelthiere Bezug hat. Die Paläontologie hat der neueren Wiſſenſchaft der Archäologie große Dienſte geleiſtet. Im Anfang der gegenwärtigen Periode fand eine neuerliche Unterſuchung der Beweismittel hinſichtlich des Alterthums des Menſchengeſchlechtes ſtatt, und wichtige Er— gebniſſe wurden bald erreicht. Der Beweis zu Gunſten der Gegenwart des Menſchen auf der Erde zu einer viel früheren Periode, Geſetz des Gehirnwachsthums, das, wie man gefunden, unter den ausgeſtorbenen Zeit zu Zeit von den höchſten Autoritäten Es gab eine ruchslappen ſogar kleiner geworden. Neuere daſſelbe allgemeine Geſetz des Gehirnwachs- thums auch für Vögel und Reptilien, von | den meſozoiſchen Zeiten bis zur Gegenwart, jeine Geltung behält. Die Vögel der Kreide ſchichten, die daraufhin unterſucht worden die ihrer nächſten Verwandten unter leben- Geſetz; ſie hatten Gehirnhöhlen, die bei weitem kleiner waren, als die irgend welcher | Viele andere That ſachen weiſen auf dieſelbe Richtung hin und zeigen an, daß das allgemeine Geſetz auf erforſchten G audry, Hébert und Des— Marſh, Geſchichte und Methode der paläontologiſchen Entdeckungen. als die angenommene Chronologie von ſechs— tauſend Jahren geſtatten würde, hat ſich ſchrittweiſe angehäuft; aber er wurde von verworfen. 1823 weigerten ſich Cuvier, Brongniart und Buckland, noch ſpäter Lyell, zuzugeben, daß menſchliche Ueberreſte und die mit ihnen gefundenen Gebeine ausgeſtorbener Thiere daſſelbe geo— logiſche Alter hätten, obwohl erfahrene Geo— logen, Boué und Andere, die fie gefunden hatten, dadurch überzeugt worden waren. Chriſtol, Serres und Tournal in Frankreich und Schmerling in Belgien hatten menſchliche Ueberreſte in Höhlen ge— funden, in denen ſie mit den Knochen ver— ſchiedener ausgeſtorbenen Säugethiere eng vergeſellſchaftet waren. Andere ähnliche Thatſachen waren verzeichnet worden. Boucher de Perthes begann 1841 Steingeräthe in den Kieſen des Sommethales zu ſammeln, und 1847 veröffentlichte er den erſten Band ſeiner „Antiquités Celtiques“. In dieſem Werke beſchrieb er die Exemplare, die er gefunden hatte, und behauptete deren hohes Alterthum. Jedoch wurden die That— ſachen, wie dargelegt, nicht allgemein ange— nommen. Zwölf Jahre ſpäter unterſuchten Falconer, Evans und Preſtwich dieſelben Oertlichkeiten ſorgfältig, wurden überzeugt, und die Reſultate wurden 1859 und 1860 veröffentlicht. Um dieſelbe Zeit noyers ebenfalls daſſelbe Thal, und ver— kündeten, daß die Steingeräthe daſelbſt fo alt ſeien wie das mit ihnen gefundene Mammuth und Rhinozeros. Erforſchungen in den Schweizer Seen und in den däniſchen Muſchelhaufen fügten neue Zeugniſſe hin— zu, die auf daſſelbe hinausliefen. 1863 er— | ſchien Lyell's Werk über die „Geologiſchen Beweiſe des Alters des Menſchengeſchlechts“ « Marſh, Geſchichte und Methode der paläontologiſchen Entdeckungen. worin Thatſachen von verſchiedenen Thei— len der Welt zuſammengebracht wurden, die das große Alter des Menſchengeſchlechts außer Frage ſtellten. Der ſeither ans Tageslicht gebrachte weitere Beweis iſt umfangreich und wächſt noch mit Schnelligkeit an. Verſuche ſind neuerdings gemacht worden, die Zeit der erſtmaligen | Erſcheinung des Menſchen auf der Erde in Jahren annähernd zu ſchätzen. Eine hohe Autorität hat das Alter des Menſchen, blos bis zur letztvergangenen Eiszeit Europa's, auf 250000 Jahre abgeſchätzt, und die am beſten des Urtheils fähig ſind, werden, glaube ich, dies als eine billige Schätzung anſehen. Wichtiges Beweismaterial über die Exi— ſtenz des Menſchen in der Tertiärzeit iſt ſo— wohl in Europa, als auch in Amerika gleicherweiſe beigebracht worden. Alles ſpricht heute zu Gunſten der Gegenwart des Menſchen im Pliozän dieſes Landes. Der | in dieſer Hinſicht von Profeſſor G. D. Whitney in feinem neuen Werk?) beige brachte Nachweis iſt ſo ſtark, und ſeine ſorg— fältige, gewiſſenhafte Forſchungsmethode jo | wohlbekannt, daß feine Schlüſſe unwider— ſtehlich ſind. Ob die Pliozänſchichte, die er ſo vollſtändig an der Küſte des Stillen Meeres durchforſcht hat, genau mit den Ab- lagerungen, die dieſen Namen in Europa tragen, übereinſtimmen, mag eine Frage ſein, die weitere Erwägung verdient. Gegenwärtig weiſen die bekannten Thatſachen darauf hin, daß die amerikaniſchen Schichten, welche menſch— liche Ueberreſte und Werke von Menſchenhand enthalten, ebenſo alt ſind wie das Pliozän von Europa. Die Exiſtenz des Menſchen in der Tertiärperiode ſcheint nunmehr wirk— lich feſtgeſtellt. ) „Auriferous Gravels of the Sierra Nevada of California“ 1879. 445 Blicken wir über die Geſchichte der Palä— ontologie zurück, ſo ſcheint ſchon viel vollbracht worden zu ſein, und doch hat die Arbeit eben erſt angefangen. Nur ein kleiner Bruch— theil der Erdoberfläche iſt erforſcht worden, und zwei große Continente harren noch der Durchſuchung. Die „Unvollkommenheit des geologiſchen Eintragebuches“, die fo oft von Freunden und Feinden erwähnt wird, be— ſteht noch, obwohl daſſelbe viel vollkommener geworden iſt; aber die Zukunft ſtrotzt von Verſprechungen. Beim Ausfüllen dieſes Ein— tragebuches wird Amerika, ſo glaube ich, ſeinen vollen Theil der Arbeit thun, und wird ſo bei der Löſung der großen Probleme, die jetzt vor uns liegen, Hilfe leiſten. Ich habe in Vorſtehendem verſucht, die verſchiedenen Perioden in der Geſchichte der Paläontologie klarum- und abzugrenzen. Darf ich zum Schluſſe es wagen, die gegenwärtige Periode in allen Fächern der Wiſſenſchaft zu charakteriſiren, ſo würde als ihr Hauptzug ein Glaube an allgemeine Geſetze gelten. Die Herrſchaft des Geſetzes, die zu— erſt in der phyſiſchen Welt erkannt wurde, iſt nun auch auf das Leben ſelbſt ausge— dehnt worden. Als Erwiderung hat das Leben der unbelebten Natur den Schlüſſel zu ihren tieferen Myſterien geliefert: Die das ganze Weltall umfaſſende Entwickelung! Was wird der Hauptcharakterzug der nächſten Periode ſein? Niemand kann es jetzt ſagen. Wenn es uns aber erlaubt iſt, in der Idee die raſch ſich nähernden Linien der heutigen Forſchung zu verlängern, ſo ſcheinen ſie ſich an dem Punkte zu begegnen, an welchem die organiſche und die anorga— niſche Natur ein Einziges wird. Daß dieſer Punkt noch erreicht werden wird, kann ich nicht bezweifeln. Die Talterblumen des Alpenfrühlings und ihre Liebes boten. Von Dr. Hermann Müller. greifen, um die großartige Natur der Alpen und die lieblichen Eindrücke ihrer Blumenwelt auf | | on den vielen Tauſenden, die gegenüber geäußerte Anſicht, daß Schmetter— alljährlich den Wanderſtab er- linge auch ſchon im Juni, überhaupt vom erſten Beginn des Alpenfrühlings an, als Kreuzungsvermittler der Alpenblumen eine hervorragende Rolle ſpielen müßten, mit un- ſich einwirken zu laſſen, haben gewiß nur | gläubigem Lächeln beantwortet. So unglaub- ſehr Wenige ihre Lieblingslandſchaften im Frühlingsblumenſchmuck geſehen; und wäh rend über die Kreuzungsvermittler der Alpen— blumen überhaupt ein noch ziemlich voll— ſtändiges Dunkel herrſcht, in welches einzelne Mittheilungen Ricca's, Kerner's und geworfen haben, ſind über die Kreuzungs— vermittler der Frühlings-Alpenblumen gerade bei Denen, die noch am erſten ein eigenes Urtheil über dieſelben haben könnten, ſogar ler haben mir übereinſtimmend verſichert, daß vor Anfang bis Mitte Juli irgend welche lohnende Schmetterlingsausbeute in den Alpen nicht zu finden ſei, und meine ihnen lich erſchien ihnen dieſe Anſicht, daß fie wohl eher die ganze heutige Blumentheorie für ein unhaltbares Phantaſiegebilde erklärt, als des Verfaſſers kaum die erſten Lichtſtrahlen die allerirrthümlichſten Anſichten verbreitet. Verſchiedene höchſt erfahrene und in den Alpen wohl bewanderte Schmetterlingsſamm⸗ die thatſächliche Richtigkeit einer ſolchen Con— ſequenz derſelben zugegeben haben würden. Direkte Beobachtungen ſtanden mir aber zur Zerſtreuung ihrer Zweifel damals und ſelbſt bis zum letzten Frühjahr noch durchaus nicht zu Gebote. Zwar war ich fünf Jahre nach einan— der (1874 — 78) während meiner 4—5 0 Wochen dauernden Sommerferien auf den Alpen umhergeſtiegen und hatte mich mit der großen Mehrzahl der verbreiteteren Alpenblumen und ihrer hauptſächlichſten Kreuzungsvermittler ſo weit als möglich vertraut zu machen geſucht. Aber in ihrem Frühlingsſchmuck hatte ich die Blumenwelt der Alpen doch noch nicht zu ſehen bekommen; denn meine Sommerferien und mit ihnen meine Alpenausflüge hatten immer nur die Zeit vom Anfang Juli bis Anfang Sep— tember umfaßt. Um meine Unterſuchungen zu einem befriedigenden Abſchluſſe zu brin- Kreuzungsvermittelung derſelben in ein helles gen und jene ſeitens der Lepidopterologen erhobenen, ernſt gemeinten Zweifel zu be— ſeitigen, mußte ich alſo durchaus auch ein- mal den Monat Juni in den Alpen ver— leben und die Liebesboten des Alpenfrühlings auf friſcher That zu ertappen ſuchen. Mein Entſchluß war gefaßt, der nachgeſuchte außerordentliche Urlaub wurde mir bewil— Müller, Die Falterblumen des Alpenfrühlings. ligt, und ſchon am 31. Mai v. J. trat ich von Chur aus mit geſpannten Erwart⸗ ungen in die im letzten September von mir verlaſſenen Graubündener Alpen wieder ein. Wahrlich, dies Jahr früh genug, um ſelbſt tief unten in der ſubalpinen Region den erſten Frühling begrüßen zu können. Denn bis zum 30. Mai hatte es hier (bei Chur— walden und Parpan) noch faſt täglich ge— ſchneit, und ich vermochte manche der meine Ausſicht umgrenzenden Bergesrieſen, noch faſt bis zum Fuße herab in den weißen Wintermantel gehüllt, kaum als alte Be— 447 Tagen an mir vorüberzogen, will ich nun hier vor Allem diejenigen in den weſent— lichſten Umriſſen wiederzugeben ſuchen, welche den bedeutenden Antheil der Falterblumen am Frühlingsſchmucke der Alpen und die thatſächliche Betheiligung der Falter an der Licht zu ſetzen im Stande ſind. Noch hatte ich Chur auf ſteil anſteigen— dem Wege kaum eine halbe Stunde hinter mir, als ich ſchon durch eine mir völlig neue Falterblume überraſcht wurde. Es war Asperula taurina, die hier an ge— büſchfreien Stellen, dicht neben der Straße, mit ihren breit beblätterten, ſchlanken Sten— geln kleine Dickichte bildete. Durch ihre 9 —11 mm langen, kaum ½ mm weiten Blumenröhren kennzeichnen ſich ihre am Ende der Zweige zu dichten doldigen Gruppen zuſammengedrängten Blüthen ſofort mit Beſtimmtheit als Falterblumen, und zwar läßt ihre ſchneeweiße Blumenfarbe und ihr die Griffelbaſis umſchließendes, in der Mit— tagsſonne keinen Honig abſonderndes Nekta— kannte wieder zu erkennen. Nun aber ſtrahlte die Sonne heiß vom Himmel hernieder, und was ich fo ſehnlich gewünſcht hatte, ward mir reichlich zu Theil. Denn einen vollen Monat hindurch war es mir vergönnt, bei großentheils wolkenloſem Himmel, dem Früh— ling auf den Ferſen folgend, an den ſonni— gen Berglehnen höher und höher emporzu— klimmen und immer von Neuem, und in immer höheren Regionen, die ſo eben ſchnee— frei werdenden Abhänge ſich mit dem erſten Frühlingsflor bekleiden, mit den erſten Früh— lingsinſekten beleben zu ſehen. Von den mannigfachen Bildern des Blumen- und Inſektenlebens, welche in dieſen ſonnigen rium kaum einen Zweifel, daß Nachtfalter ihre Kreuzungsvermittler ſein müſſen. Eine indirekte Beſtätigung dieſer aus der Betracht— ung des Blüthenbaues geſchöpften Anſicht fand ich darin, daß ein Weißling (Pieris) und ein Aurorafalter (Anthocharis carda- mines) gemächlich über Tauſende dieſer Blu— men hinwegflatterten, ohne ſich ein einziges Mal an dieſelben zu ſetzen. Eine direkte Beobachtung beſuchender Nachtfalter aber machte ich mir ſelbſt leider dadurch unmög— lich, daß ich in der, wie ſich ſpäter heraus— ſtellte, vergeblichen Hoffnung, dieſer hier ſo häufigen Blume auch weiterhin zu be— gegnen, ſogleich in der Mittagsſonne weiter wanderte. Tags darauf wurde ich beiderſeits der noch mit Schnee bedeckten Paßhöhe von 448 Parpan (1551 m)) durch das maſſen⸗ hafte Auftreten einer zweiten Falterblume, des Frühlingsſafrans, Crocus vernus, in Erſtaunen verſetzt. Derſelbe war mir bis- violetten Längsſtreifen auf der Mittellinie 22— 2400 m) begegnet, wo ich im Monat her nur im Heuthal am Bernina (bei etwa Auguſt das Ufer des tief in den Felsgrund eingegrabenen und zum Theil noch mit Schnee überdeckten Baches an einer einzigen kleinen Stelle mit ſeinen weißen und blaß roſafarbenen Blumen ſpärlich beſetzt gefun— den hatte.“) Nun ſah ich denſelben Früh— lingsſafran in zahlloſen Exemplaren und in vollſter Blüthenpracht die ſoeben erſt ſchnee— frei werdenden Raſenabhänge bis auf viele Kilometer weite Entfernung hin bedecken. Wo irgend an denſelben eine muldenförmige Ein— ſenkung noch mit Schnee gefüllt lag, tauchten ſofort hart am Rande des Schnees, als könnten ſie die Zeit nicht erwarten, auch ſchon die Blüthen des Crocus vernus her— vor, an vielen Stellen mit den am Rande zierlich zerſchlitzten, herabhängenden, bläu— lichen Glöckchen der Soldanella alpina un— termiſcht. Selbſt die der Straße gegenüber liegenden Bergabhänge hinter Parpan (am Fuße des Stätzer Horn) ſchimmerten zwiſchen zahlreichen größeren und kleineren Schnee— flecken, welche die Juniſonne erſt noch weg— ſchmelzen ſollte, wie ein einziges rieſiges Blumenbeet, von zahlloſen Crocusblüthen weiß. Denn in der That weiß, nur mit violetter Baſis der Außenſeite der Perigon- blätter, fand ich über ¼ö10 ſeiner Blüthen, Aber wenigſtens vom Diſtelfalter habe ich mit Beſtimmtheit feſtgeſtellt, daß er eben— oberen Innthale und ihren Nebenthälern, nicht blos hier, ſondern ebenſo an zahl— reichen anderen Stellen, im Albula- und wo ich ihn im Verlaufe des Monats noch violetten Blumen ging! ) Die hinter den Ortsnamen eingeklam— merten Zahlen bezeichnen die Meereshöhe in Metern. *) Siehe Kosmos, Bd. III, S. 423. Müller, Die Falterblumen des Alpenfrühlings. oft in gleicher Blüthenfülle zu beobachten Gelegenheit hatte. Nur ein geringer Bruch— theil der Exemplare hatte violette Blumen, ein noch weit kleinerer weiße, mit einem der Perigonblätter. Meine erſte Vermuthung, daß dieſen zweierlei Blumenfarben auch zweierlei Kreiſe von Kreuzungsvermittlern und Blumen— züchtern“) entſprechen möchten — der violetten Tagfalter, der weißen Nachtfalter — ſchien inſofern durch direkte Beobachtung be— ſtätigt zu werden, als ich wirklich ſowohl Tag⸗- als Nachtfalter an Blüthen des Cro- cus vernus ſaugen ſah: bei ſchönem Sonnen— ſchein nämlich, freilich nur höchſt ſelten, den Diſtelfalter, Vanessa cardui, der in dieſem Frühjahr überall in den Alpen in außer— ordentlicher Häufigkeit verbreitet war und den ich trotzdem an Crocus vernus nur ein einziges Mal unmittelbar hinter einan— der auf mehr als zwanzig verſchiedene Stöcke verfolgen konnte; bei bewölktem Himmel, viel— mal häufiger und gar nicht ſelten andauernd ſaugend, die Gamma-Eule, Plusia gamma, die ebenfalls außerordentlich häufig flog, ob— ſchon ſie dem Diſtelfalter an Zahl nicht gleichkam. Auch das Zahlenverhältniß, in welchem beiderlei Beſucher ſich an Cro— cus einfanden, hätte alſo dem Maſſenver— hältniß ſeiner beiden Blumenfarben recht gut entſprochen, wenn nur der Diſtelfalter ſich an die violetten, die Gamma-Eule ſich an die weißen Blumen hätte halten wollen. ſowohl an die weißen, als an die Ein ſicherer Beweis, wie mir ſcheint, daß wenigſtens ) Vergl. meine Aufſätze über „Die In— ſekten als unbewußte Blumenzüchter“, Kos⸗ mos, Bd. III, Heft 4, 5, 6. Müller, Die Falterblumen des Alpenfrühlings. dieſer Tagfalter nicht durch ſeine Farben— auswahl an der Züchtung der violetten Farbe der Crocusblüthen betheiligt geweſen ſein kann. Andere Tagfalter aber habe ich überhaupt nicht an Crocus ſaugend beobachtet. Dagegen konnte ich wiederholt bei klarem Himmel und herrlichem Sonnenſchein viele Tauſende ſeiner Blüthen andauernd durch- muſtern, ohne einen einzigen Beſucher zu entdecken. Ich wurde dadurch lebhaft an die Bemerkung von Dr. E. Kraufe*) erinnert, daß in der Dämmerungsſtunde, wenn bei Abweſenheit der Sonne das Himmelsgewölbe noch eine Fülle blauen Lichtes herniederſtrahlt, die blauen und violetten Blumen in einem deutlichen Vortheile vor allen anders ge— färbten Blumen erſcheinen, und glaube, hier— auf fußend, die Ergebniſſe meiner direk— ten Beobachtung der Kreuzungsvermittler am einfachſten durch die Annahme erklären zu können, daß ſowohl die violette, als die weiße Farbe der Crocusblumen von Nok— tuiden gezüchtet worden iſt, daß alſo dieſe beiden Blumenfarben nicht verſchiedenen Be— ſucherkreiſen, ſondern verſchiedenen abend— lichen Beleuchtungszuſtänden der Blume entſprechen. Neben Crocus vernus verdient vor Allen Erica carnea als eine Falterblume des erſten Alpenfrühlings Erwähnung. Im September 1878 hatte ich ſie bereits mit ſo weit entwickelten Knospen gefunden, daß ich überzeugt war, ſie müſſe ſofort nach dem Schmelzen des Schnees zur Blüthe gelangen. Jetzt prangte ſie in der That an den Kalkgeröll-Abhängen, die ſoeben ſchneefrei geworden waren, auf ſtundenweiten Strecken in prächtig karminrothem Blumen— ſchmuck. Schon dieſe Lieblingsfarbe unſerer *) Siehe Kosmos, Bd. III, S. 48. ) Ebendaſelbſt S. 417. Tagfalter,**) vor Allem aber die eigen— | \ 449 thümliche Form der Blüthen hätte mich darauf aufmerkſam machen ſollen, daß die— ſelben nicht wie die unſerer norddeutſchen Erica tetralix von Bienen, ſondern nur von Tagfaltern gezüchtet ſein können. Denn ihre Blumenglöckchen verengen ſich nach dem Eingange hin ſo, daß die aus ihnen her— vorragenden Staubgefäße denſelben faſt gänz— lich ausfüllen und nur noch dünnen Falter— rüſſeln einen bequemen Eingang geſtatten. Aber meine aus zahlreichen Erfahrungen geſchöpfte Anſicht, daß alle Blüthen mit herabhängenden Blumenglocken der Befrucht— ung durch höhlengrabende Hymenopteren an— gepaßt ſeien, war ſo feſt gewurzelt, daß ich Erica carnea erſt dann als Ausnahme dieſer Regel erkannte, als ich den Diſtel— falter als ihren Kreuzungsvermittler in größter Häufigkeit in Thätigkeit ſah.“) Im Sonnenſchein auf den farbenprächtigen Blü— thenmaſſen ſitzend, klappte er ſeine ausge breiteten, ſelbſt farbenprächtigen Flügel ab— wechſelnd etwas zuſammen und wieder aus einander, rückte dabei bedächtig an dem Blüthenſtande vor, bis er ſeinen Leib ſchräg oder ſenkrecht nach unten gerichtet hatte oder gar von unten an den Blüthen ſaß, und fädelte dann ſeinen Rüſſel in die engen Ein— gänge der ſchräg oder ſenkrecht herabhängen— den Blumenglöckchen ein, um den im Grunde derſelben geborgenen Honig zu ſaugen. Die Blüthen der Erica carnea befin- den ſich alſo keineswegs in einer für Tag— falter beſonders bequemen Stellung, wie es der Fall ſein müßte, wenn letztere ſich die— ſelben von Anfang an aus offenen, nach oben gekehrten, Blüthen “) durch jedesmalige Auswahl der ihnen am beſten zuſagenden Abänderungen gezüchtet hätten. Und ſo— wohl dieſer Umſtand, als auch die That— ) Kosmos, Bd. V, S. 300. ) Ebend. Bd. III, S. 490. 450 ſache, daß alle anderen uns bekannten Vac— cinieen und Ericaceen mit herabhängenden Glöckchen in der That Bienenblumen ſind, drängen uns faſt unabweisbar zu der An— nahme, daß auch die Stammeltern von Erica carnea urſprünglich von Bienen be— fruchtet wurden und deren züchtender Ein— wirkung ihre herabhängenden Blumenglocken verdankten, daß aber nachträglich in dem Maße, als ſie in falterreichere alpine Ge— genden vorrückten, an die Stelle ihrer ur— ſprünglichen Kreuzungs-Vermittler Falter | traten, die nun durch ihre Blumenauswahl die Verengung des Blütheneinganges und die Steigerung der bereits vorhandenen röthlichen Farbe zum lebhaften Carminroth züchteten. Schon an dem erſten Frühlingsſchmucke der Alpen ſind in ganz hervorragender Weiſe außer Crocus vernus und Erica carnea auch noch mehrere andere Falter— blumen betheiligt, die deshalb in Bezug auf Maſſenhaftigkeit ihres Vorkommens und thatſächlich ſtattfindende natürliche Befrucht— ung hier zunächſt in Betracht gezogen zu werden verdienen; es gilt dies namentlich von Gentiana verna, Primula farinosa, integrifolia, villosa und den drei bekann— ten Globularia- Arten. Gentiana verna glänzt mit ihren tief- blauen Blüthen, wo ſie in einiger Menge beiſammen wächſt, dem Alpenbeſteiger ſchon von weitem als prächtig laſurblauer Flecken entgegen. An zahlloſen Stellen der Alpen, von der Nadelholzregion bis weit über die Grenzen des Baumwuchſes hinauf, wo auf die Schneedecke des Winters die Blüthen— ſchneedecke des Frühlingsſafrans gefolgt iſt, kommen unmittelbar nach dieſem die großen tiefblauen Becher der Gentiana verna und acaulis, die lila bis lebhaft carminrothen zierlichen Blüthendolden der Primula fari- Müller, Die Falterblumen des Alpenfrühlings. nosa, die ſchwefelgelben, ſtrahlig gelappten Blumenflächen der Anemone alpina, die orangegelben „Sonnenröschen“ des Helian- themum alpestre, die niedlichen, weißen, vergißmeinnichtähnlichen Blümchen der An— drosace Chamaejasme in überſchwenglichen Maſſen zum Vorſchein (dazwiſchen natürlich noch mancherlei andere verſchiedenfarbige Blumen in geringerer Menge) und verwan— deln in der Licht- und Wärmefülle, die in den langen Junitagen durch die dünne, klare Luftſchicht hindurch auf ſie herniederſtrahlt, mit zauberhafter Schnelle die noch von ſchmelzendem Schnee triefenden Raſenab— hänge in die reizendſten Blumengärten. Da wir Gentiana verna als eine Tagſchwärmerblume und den Tauben— ſchwanz (Macroglossa stellatarum) als ihren einzigen, dafür aber erſtaunlich ſchnellen und darum nur verhältnißmäßig ſelten unſerer Beobachtung ſich darbietenden Liebesboten bereits näher kennen gelernt haben,“) fo genügt hier wohl die Bemerkung, daß dieſer Falter auch ſchon von Anfang Juni an in den Alpen häufig fliegt und Blumen beſucht, um jeden Zweifel zu beſeitigen, als ob der ſo weit verbreiteten und ſo maſſen— haft auftretenden Alpenfrühlingsblume Gen— tiana verna in ſo früher Jahreszeit die kreuzungsvermittelnden Falter fehlen könn— ten, — wenn auch die direkte Beobachtung ihrer Kreuzung mir diesmal nicht wieder zu Theil geworden iſt. n Um ſo häufiger konnte ich die zierliche Tagfalterblume Primula farinosa ſchon vom erſten Juni an von bei Tage fliegen— den Faltern beſucht ſehen; am häufigſten und regelmäßigſten wieder vom Diſtelfalter, der, wo ſie auch immer ihre lieblich roth gefürbten Blüthenhüllen im Sonnenſchein entfaltet hatte, in Mehrzahl eifrig und an— ) Siehe Kosmos, Bd. III, S. 425, 426. dauernd ſaugend an ihr zu finden war. Daneben ſtellten ſich auch, zum Theil nicht minder eifrig und andauernd, zahlreiche und mannigfache andere Schmetterlinge ein!) — einmal ſogar der Taubenſchwanz, der etwa einen Zoll hoch über den Blüthen ſchwebend ſeinen Rüſſel in dieſelben hinab— ſenkte, zur Entleerung jeder Blüthe nur eine bis zwei Secunden gebrauchte und mir trotzdem über fünf Minuten lang geſtattete, ihn aus großer Nähe in dieſer Thätigkeit zu beobachten. Primula farinosa ſteigt von der ſub— alpinen Region mit wenig verminderter Häufigkeit bis weit über die Grenzen des Baumwuchſes hinauf und bis zum Fuße der Alpen abwärts;**) Primula integri- folia und villosa dagegen find faſt aus— ſchließlich in der alpinen Region zu Hauſe und entfalten dort ebenfalls kurz nach dem Weggange des Schnees, oft von der Con— currenz andrer Inſektenblüthler noch faſt voll— ſtändig befreit, ihre prachtvollen Blumen. Es war eine der angenehmſten Ueber— ) Im Ganzen beobachtete ich ſchon in der erſten Hälfte des Juni folgende Falter— Arten als Beſucher der Primula farinosa: a) Tagfalter: Vanessa cardui, V. urticae, vae, Hesperia (spec.? — entwiſcht), b) Schwärmer: Macroglossa stellatarum, c) Eulen: Plusia gamma, d) Zünſler: Her- cyna phrygialis, H. Schrankiana, Botys porphyralis, die meiſten derſelben ſehr wie— derholt und an verſchiedenen Lokalitäten. In der zweiten Hälfte des Monats kamen nur noch Colias Hyale und Pieris napi var. bryo- niae neu hinzu. ) Ich ſah am 31. Mai vom Eiſen— bahnwagen aus im Rheinthale zwiſchen dem Bodenſee und Chur die Wieſen neben der Bahn in ſtundenweiter Erſtreckung und zum Theil ſehr dicht mit lilafarbenen Flecken von Primula farinosa überſät (3. B. bei den Sta- tionen Saletz-Sennwald, Haag-Gams u. a.) Müller, Die Falterblumen des Alpenfrühlings. 451 raſchungen, die mir auf den Hochalpen zu Theil wurde, als ich am 22. Juni v. J. bei brennendem Sonnenſchein über den noch ſtundenweit mit Schnee bedeckten Fluelapaß (2403 m) wandernd, mitten zwiſchen den ausgedehnten Schneefeldern aus den kaum ſchneefrei gewordenen Klüften inſelartig her— vorragender Felsklippen ſchon von weitem rothe Blumenmaſſen hervorleuchten ſah, die ſich mir, als ich durch den tiefen Schnee watend näher hinzutrat, als dichte Gruppen auffallend großer, hellpurpurrother Blüthen von Primula villosa zu erkennen gaben. Eine ſo hoch geſteigerte Augenfälligkeit mochte in der That nöthig ſein, um den Diſtelfalter, den ich auch hier als leichtbeſchwingten Lie— besboten in Thätigkeit fand, über die weiten Schneeflächen hinweg zu dieſen Blumeninſeln heranzulocken. Dafür erfreute ſich aber auch nun Pr. villosa der faſt ungetheilten Auf— merkſamkeit der herbeigelockten Falter, ſowie dieſe des faſt concurrenzfreien Genuſſes ihres Honigs. Denn Empetrum nigrum, welches in unmittelbarer Nähe ſchneefrei gewordene flache Hügelrücken mit dichten, roſenfarbenen Blu— menteppichen überkleidete, die kaum weniger auffällig aus der Schneedecke hervorſchim— Pieris napi, Erebia Evias, Syrichthus mal- merten, war der einzige Concurrent unſerer Primel, und von den zahlreichen von Em— petrum herbeigelockten Inſekten“), die feine *) Ich conſtatirte hier als Beſucher des Empetrum: I Schmetterlinge a) Tag- falter: 1) Vanessa cardui in Mehrzahl, 2) Hesperia (spec? — entwijcht), 3) Pararge Hiera & b) Zünfler, 4 Hercyna phrygialis, 5) H. Schrankiana II Aderflügler a) Bie⸗ nen: 6) Bombus alticola ꝙ, in Mehrzahl 7) B. lapponicus ꝙ, 8) B. terrestris ę, b) Ameiſen, 9) Formica fusca &, ſämmtlich ſehr eifrig Honig ſaugend. III Zweiflügler verſchiedene noch nicht beſtimmte Arten. Ein großer Theil dieſer Inſekten mochte Kosmos, III. Jahrg. Heft 12. 59 452 Müller, Die Falterblumen des Alpenfrühlings. honigreichen Blüthen ſaugten, hätten einzig und allein Pararge Hiera und eine Hes- peria ſich mit dem Diſtelfalter in den Ge— nuß des Primelhonigs theilen können. Noch concurrenzfreier traf ich in der erſten Hälfte des Juni unmittelbar über Weißenſtein im Albulathale (2000 bis 2100 m) Primula integrifolia. Denn hier trugen die flach geneigten, von früheren Glet— ſchern bloßgeſchundenen und geglätteten Fels— abhänge an den ſpärlichen, bereits ſchneefrei gewordenen Stellen einzig und allein den roſen- bis carminrothen Farbenſchmuck dieſer Falterblume zur Schau, während ſonſt bis Weißenſtein herab die ganze Landſchaft noch unter einer faſt ununterbrochenen Schneedecke begraben lag”). Die im Vergleich zu Primula farinosa ſo hoch geſteigerte Blumengröße dieſer beiden hochalpinen Primula-Arten erklärt ſich offen— bar ſehr einfach aus ihrer äußerſten Vor— poſtenſtellung. Denn natürlich vermochten nur diejenigen Blumenabänderungen eine ſolche zu behaupten, die augenfällig genug waren, um über weite Schneeflächen hinweg ihre Kreuzungsvermittler an ſich zu locken. Dagegen würde es unmöglich ſein, in dieſem Falle, wie es allgemein verſucht worden iſt“ “), die geſteigerte Blumengröße aus einem auf— fallenden Inſektenmangel der Alpen über— haupt und dadurch geſteigerter Concurrenz der Alpenblumen in Anlockung der Inſekten zu erklären. Denn dann müßte die von Anfang an der ſtärkſten Concurrenz ausge— ſein. Die Tagfalter waren ohne Zweifel von weither herbeigeflogen. ) Pr. integrifolia hatte ich diesmal ſehr wenig Gelegenheit bei günſtigem Himmel zu überwachen. Ich fand ſie daher auch nur einmal, bei trübem Himmel, von Plusia gam- ma beſucht. ) Siehe Kosmos Bd. I. S. 396 u. 541. ſetzte Pr. farinosa die großblumigſte unſerer drei Arten ſein, während ſie thatſächlich die kleinblumigſte iſt. Ueberdies iſt an den hier als Kreuzungsvermittler in Betracht kom— menden Faltern in den Alpen kein Mangel, ſondern im Gegentheil großer Ueberfluß. Auch die drei Globularia- Arten, von denen zuerſt nudicaulis, etwas ſpäter vul- garis, zuletzt cordifolia zur Entwickelung kommt, bilden, indem ſie mit ihren blauen Blumenköpfchen ganze Abhänge bedecken, ſchon von der erſten Hälfte des Juni an, an vielen Stellen eine bemerkenswerthe Zierde des erſten Alpenfrühlings. Auch ſie ſind Tagfalterblumen, wie ich erſt jetzt aus der Engröhrigkeit der zu kugeligen Köpfchen zu— ſammengedrängten Blüthen und aus dem meiner Beobachtung ſich reichlich darbieten— den Inſektenbeſuch“) erkannte. Und da ſie als Tagfalterblumen blau gefärbt ſind, ſo bilden gerade ſie eine weſent— liche Erweiterung unſerer bisherigen Blumen— kenntniß. Denn bisher kannten wir in der deutſchen und ſchweizer Flora als von den Faltern von unten herauf gezüchtete und nicht erſt nachträglich aus bereits ausgeprägten Bienen- oder Hummelblumen in ihre jetzige Form umgeprägte Tagfalterblumen nur ſolche von ſanfter oder lebhaft rother Farbe!). Wir mußten deshalb bei allen Schmetter- lingen, die als Züchter unſerer Tagfalter— blumen einen entſcheidenden Einfluß gehabt haben, eine entſchiedene Vorliebe für rothe ) Ich fand Globularia nudicaulis jehr häufig von Vanessa cardui, daneben von V. urticae, Colias Edusa und Plusia gamma, Gl. vulgaris von Hesperia (Nisoniades) Tages, Gl. cordifolia ungemein häufig von Vanessa cardui, Colias Hyale, Erebia Evias, Nisonia- des Tages u. Plusia gamma beſucht, die ſämmt— lich eifrig und andauernd den Honig dieſer Blume ſaugten. *) Kosmos Bd. III. ©. 417. 418. Farben vorausſetzen; und da ſich nament— lich bei den zahlreichen und in Maſſe auf— tretenden Argynnis-, Melitaea-, Polyom- matus- und Vanessa-Arten in ihrem eige— nen, durch geſchlechtliche Ausleſe gezüchteten Putzkleide eine ſolche Vorliebe unverkennbar ausſpricht, ſo mußten uns dieſe als die hauptſächlichſten Züchter aller unſerer Tag— falterblumen erſcheinen. Die drei Globu- | laria-Arten legen uns nun auf Grund der- zunächſt bei etwa 1000 m Meereshöhe, ſelben Schlußfolgerung die Vermuthung nahe, daß ſie das Züchtungsprodukt der in deu Alpen ebenfalls in zahlreichen Arten maſſen— haft auftretenden Bläulinge (Lycaena) ſein könnten. Die geringere Röhrenlänge ihrer Blumen würde dann der im Ganzen ge— ringeren Rüſſellänge ihrer Züchter recht gut entſprechen “). Wir kommen nun zu denjenigen Falter— blumen, die, obwohl ebenfalls noch ſehr häu— fig, doch an dem erſten Frühlingsſchmucke der Alpen nicht in ſo hervorragender Weiſe betheiligt zu ſein ſcheinen, als die bisher betrachteten, ſei es, daß ſie überhaupt nicht ſo ſtark in die Augen fallen (Orchis ustu— lata, Peristylus viridis) oder weniger all— gemein verbreitet auftreten (Platanthera chlorantha, Paradisia Liliastrum), ſei es daß ſie erſt von Mitte Juni an ihre volle Pracht entfalten (Lychnis rubra, Saponaria ) Bei den Lycaenen beträgt die Rüſſel— länge 5 — 10 mm; die Blumenröhren der 3 Globularien find zwar nur 3 — 5 mm lang, erfordern aber, um durch das Gedränge von Corolla-Zipfeln und Staubgefäßen hindurch bequem ausgeſaugt zu werden, ebenfalls gerade 5—10 mm Rüſſellänge. Ebenſo entſprechen, wie aus meinem jetzt in Ausarbeitung befind— lichen Werke über Alpenblumen im Einzelnen zu erſehen ſein wird, die Röhrenlängen der rothgefärbten Tagfalterblumen den zwiſchen 5 und 18 mm ſchwankenden Rüſſellängen der obengenannten Falter. Müller, Die Falterblumen des Alpenfrühlings. 453 | ocymoides, Viola calcarata, Silene acau- lis, Daphne striata, Gymnadenia conop- sea, Nigritella angustifolia). Von dieſen gehört Orchis ustulata mit ihrem lieblichen Duft und mit der purpurn punktirten, weiß— lichen Farbe ihrer Blüthenähren, von der ſich das ſchwärzliche Purpur des Gipfels derſelben prächtig abhebt, einzeln betrachtet, zu den reizendſten Falterblumen; auch be— gegnete ſie mir ſchon vom 31. Mai an, dann weiter und weiter aufſteigend, ziemlich häufig in Blüthe, aber nirgends in ſolcher Menge, daß ſie beſonders augenfällig ge— weſen wäre, und noch niemals glückte es mir, ihre Falterbeſuche direkt zu beobachten. Nicht minder häufig, ſchon von Anfang Juni an, iſt eine andere — nach dem engen Eingange ihres kurzen, weiten, honigreichen Spornes zu ſchließen — ebenfalls falterblumige Orchidee, Peristylus viridis, deren Kreuzungsvermitt— ler auf friſcher That abzufaſſen mir gleich— falls noch niemals zu Theil wurde. Auch an der langſpornigen Platanthera chloran- tha, die nach Ch. Darwin's meiſterhaften Beobachtungen?) langrüſſeligen Noktuiden ihre Staubkölbchen mittelſt nackter Klebſcheib— chen gerade auf die Augen kittet, konnte ich, da ſie mir erſt am letzten Vormittage meines Aufenhaltes in den Alpen, am Abhange des Stätzerhornes, begegnete, die nächtlichen Lie— besboten nicht in ihrer Thätigkeit belauſchen. Wohl aber gelang mir dies an einer anderen Nachtfalterblume, die ich wenige Tage vorher, ebenfalls nur bei vollſter Tageshelle, ins Auge faſſen konnte, bei der ſtattlichen Paradisia Liliastrum. In früheren Jahren waren mir von derſelben, Ende Juli und Anfang Auguſt, nur vereinzelte Nachzügler ) Ch. Darwin, Orchids II. edit. p. 69 — 73. Deutſche Ueberſetzung von J. Victor Carus. S. 58—62. | 454 begegnet, deren Blüthen keine Spur von Honig zeigten und mir daher in ihrer trichterförmigen Geſtalt und annähernd wagerechten oder ſchräg abwärts geneigten Stellung, mit ihren gerade ſo wie bei aus— geprägten Schwärmer- und Nachtfalterblumen (3. B. Lonicera Perielymenum und Lilium Martagon) geſtellten Staubgefäßen und Griffeln, durchaus räthſelhaft blieben. Jetzt fand ich, am 24. Juni, eine lange Wieſe dicht unterhalb des Bergüner Steines im Albulathale mit Tauſenden dieſer großen, ſchneeweißen Lilienblumen bedeckt und den Grund der Blüthen ſo reichlich mit Honig verſehen, daß derſelbe den Zwiſchenraum zwiſchen der Baſis des Fruchtknotens und der Blumenblätter ganz ausfüllte. Die Bedeutung ihrer ganzen Einrichtung wurde mir dadurch mit einem Male klar, und ihre ſchneeweiße Farbe, als die einer Nacht— falterblume, verſtändlich. Eulen, welche durch dieſelbe angelockt, in den weit geöffne- ten Blumentrichter kriechen, und Schwärmer, welche ſchwebend und nur im Blütheneingange mit den Beinen einen leichten Halt ſuchend ihren langen Rüſſel in den Blüthengrund ſtecken, um den reichlich dargebotenen Honig zu genießen, müſſen unvermeidlich erſt die am weiteſten hervorragende Narbe berühren | und mit mitgebrachtem fremden Pollen be- legen, dann, unmittelbar darauf, die Staub— gefäße ſtreifen und ſich mit neuem Pollen behaften. Kaum gedacht, wurde mir dieſe Befruchtungsweiſe, trotz des brennenden Mittagsſonnenſcheines, von einem der nächt— lichen Gäſte, der die Gewohnheit hat, auch zutreiben, von der Gamma-Eule, thatſächlich in nächſter Nähe vor Augen geführt. Wiederholt konnte ich Exemplare derſelben auf 10 bis 20 verſchiedene Stöcke verfolgen, und immer ſah ich ſie, wenn ſie einmal an Müller, Die Falterblumen des Alpenfrühlings. Paradisia waren, über die zahlreichen andern Blumen derſelben Wieſe hinwegfliegen und wieder Paradisia aufſuchen. Sie benahmen ſich in der Regel ganz in der von mir vorausgeſetzten Weiſe. Wie die eben beſprochene Nachtfalter— blume, ſo gelangen auch zwei ausgeprägte Tagfalterblumen, Lychnis (Melandryum) rubra und Saponaria ocymoides, erſt in der zweiten Hälfte des Juni zur vollen Entfaltung ihrer Blumenpracht, obſchon ſie ſchon von Anfang des Monats an in Blüthe zu ſinden ſind. Im Gegenſatz aber zu Paradisia, die nur an einzelnen Stellen einen hervorragenden Schmuck des Früh— lingskleides der Alpen bildet, gehören dieſe beiden zu ihren verbreitetſten Blumen. Der Lychnis rubra habe ich, da ſie auch in der Ebene vorkommt, im Alpen— gebiete nur flüchtigere Beachtung geſchenkt und im Juni nur Diſtelfalter und Gamma⸗ Eulen als häufige Beſucher derſelben bemerkt. An Saponaria ocymoides dagegen, die eine charakteriſtiſche Zierde der Alpen bildet und von Mitte Juni an die nackten Schutt abhänge längs der Straßen an zahlloſen Stellen mit einer weithin leuchtenden Decke ihrer lebhaft nelken- bis carminrothen Blüthen überkleidet, habe ich wiederholt im Sonnen— ſchein die von Blüthe zu Blüthe flatternden Falter näher ins Auge gefaßt und ſchon im Monat Juni viele derſelben?) eingefangen. ) Nämlich: Plusia gamma, Hesperia Syl- vanus, Argynnis Euphrosyne, Vanessa cardui, Papilio Machaon und Podalirius, Aporia cra- | taegi, Anthocharis cardamines, Colias Hyale, bei Tage weidlich auf Blumen ſich umber- Erebia Evias und Medusa, Macroglossa bom- byliformis. Auf einem einzigen Blumenteppich der Saponaria ocymoides ſah ich am 21. Juni bei Brail im Engadin (15-1600 M.) ſieben Diſtelfalter, eine Gamma-Eule und eine Erebia Medusa gleichzeitig ſaugen und von Blüthe zu Blüthe flattern! Müller, Die Falterblumen des Alpenfrühlings. 455 Wie Paradisia ſo bildet auch Viola | Ende des Monats konnte ich außerdem nur calearata ſchon im Juni, aber nur an einzelnen Stellen der ſubalpinen Region, einen hervorragenden Schmuck der Alpen— wieſen. So fand ich z. B. bei Preda im Albulathale (1800 m) ſchon am 7. Juni eine große Strecke des Raſenabhanges ganz mit ihren Blüthen bedeckt. Während aber Paradisia in der ſubalpinen Region ihre hauptſächlichſte Verbreitung und im Juni ihre eigentliche Blüthezeit hat, in den beiden folgenden Monaten aber bis gegen die Grenzen des Baumwuchſes hinauf und noch weit über dieſelben hinaus wohl ſtets nur in ſpärlicher Menge gefunden wird, hat dagegen Viola calcarata gerade auf den karg begraſten Kämmen und Abhängen der Hochalpen ihre eigentliche Heimath und über— kleidet dieſelben erſt im Juli und Auguſt mit einer ſchönen blauen Decke ihrer großen, langſpornigen Blumen. Wir haben ſie bereits als aus einer Bienenblume nach— träglich zur Tagfalterblume umgeprägt*) und den Taubenſchwanz (Macroglossa stel- latarum) als ihren wirkſamſten Kreuzungs— vermittler“*) kennen gelernt und brauchen deshalb jetzt nicht weiter bei ihr zu verweilen. Aehnlich wie bei Viola calcarata ver- hält es ſich in Bezug auf Blüthezeit und Verbreitung mit zwei anderen hochalpinen Falterblumen, mit Silene acaulis, die aus— ſchließlich bei Tage fliegende, und mit Daphne striata, die ebenſowohl bei Nacht wie bei Tage fliegende Falter erfolgreich anlockt. Silene acaulis traf ich zuerſt am 12. Juni bei Preda im Albulathale (1750 — 1800 m) in Blüthe, und ihre lebhaft rothen Blumenteppiche vom Diſtelfalter ſo eifrig beſucht, daß ich bisweilen ſechs Exem— plare deſſelben zugleich in Sicht hatte. Bis zu Kosmos Bd. III. S. 419. *) Ebendaſelbſt S. 425. noch zwei Falterarten ) als eifrige Beſucher und Kreuzungsvermittler dieſer Tagfalter— | blume feſtſtellen. Im Juli und Auguſt aber überkleiden ſich über der Baumgrenze immer weiter aufwärts an zahlloſen Stellen der öden Alpenkämme die dichten, niedrigen Raſen mit dem feurigen Nelkenroth ihrer Blumen und werden, wie ich in den vor— hergehenden Jahren feſtgeſtellt habe, von mehr als 30 verſchiedenen Falterarten eifrig beſucht. Nach Payer, dem berühmten Ortlerbeſteiger und Nordpolfahrer, geht ſie am Ortler von allen Phanerogamen mit am höchſten; ich ſelbſt fand ſie am Gipfel des Piz Umbrail noch bis über 3000 Meter. Wenn auch weniger hoch aufſteigend, ſo erreicht doch auch Daphne striata erſt im Juli und Auguſt an hochalpinen Stand— orten den Gipfel ihrer Blüthenpracht und ihres Falterbeſuchs. In der ſubalpinen Region fand ich ſie zuerſt am 5. Juni im Tuorsthale (1400 — 1600 m), dann am 16. Juni bei Madulein (17 — 1800 m), einige Tage ſpäter bei Pontreſina (1800 — 2000 m) im Oberengadin in Blüthe, und mehrere Falterarten“ ) eifrig mit der Aus— beutung ihrer ungemein gewürzhaft duften— den Blumen beſchäftigt. Noch etwas ſpäter, ebenfalls noch im Juni, kommen endlich in der ſubalpinen Region zwei nicht minder gewürzreich duf— tende und reich beſuchte Falterblumen, Gym— nadenia conopsea und Nigritella angusti- folia, zur Entwickelung. Beide traf ich am 21. Juni bei Brail im Engadin (15— 1600 m) erſt im Beginn ihres Aufblühens und von Nigritella ſogleich die erſten blühenden Köpfchen von einem Tagfalter, Erebia Me— ) Erebia lappona und Hercyna phrygialis. ) Vanessa cardui, Plusia gamma, Colias Edusa. 0 ” 456 dusa, eifrig und andauernd beſucht. An Gymnadenia conopsea ſah ich einige Tage ſpäter den Diſtelfalter und die Gamma- Eule ſaugen. Beide Falterblumen entwickeln ſich erſt in den beiden folgenden Monaten an höher gelegenen Standorten zur vollen Macht ihrer Reize und werden dann von ſo zahlreichen Faltern begierig aufgeſucht, daß ich an Gymnadenia nicht weniger als 27, an Nigritella ſogar 48 verſchiedene Arten derſelben beobachten konnte. Das ſind, in den weſentlichſten Umriſſen angedeutet, die Eindrücke, welche in den Alpen ſchon im Monate Juni mir von Seiten der Falterblumen und ihrer Kreu- zungsvermittler zu Theil wurden. Um jedoch die Häufigkeit und Mannigfaltigkeit der letzteren richtig zu würdigen, müſſen wir auch auf ihr ſonſtiges Auftreten noch einen Blick werfen. Außer den 22 als Beſucher von Falter— blumen bereits genannten habe ich im Monat Juni noch 16 andere Schmetterlings— arten Blumen beſuchend angetroffen.“) Die Geſammtzahl der im Monat Juni überhaupt auf den Alpen von mir auf Blumen bes | obachteten Falterarten beläuft ſich hiernach auf 38; davon kommen auf die erſte Hälfte des Juni 29. Gewiß eine ſehr unbedeu— tende Zahl im Vergleich zu den 218 Falterarten, die mir überhaupt auf den Alpen Blumenhonig ſaugend begegnet ſind. Und die Schmetterlingsſammler werden um ſo mehr Recht haben zu behaupten, daß ſie *) Nämlich: a) Tagfalter: Anthocharis cardamines, Chionobas Aello, Leucophasia sinapis, Lycaena Aegon, L. Alsus, L. Cylla- rus, Melitaea Dictynna, Pararge Hiera, Pieris brassicae, Thecla rubi, Vanessa Atalanta; b) Schwärmer: Macroglossa fuciformis, Zygaena minos; e) Eulen: Euclidia glyphica; d) Zünſler: Botys nigrata; e) Motten: Pancalia Lewenhoekella. 2 Müller, Die Falterblumen des Alpenfrühlings. von Anfang bis Mitte Juli irgend welche lohnende Ausbeute auf den Alpen nicht finden, als die bis Ende Juni von mir beobachteten Falterarten in der weit über— wiegenden Mehrzahl ſehr gemein und weit verbreitet, durchaus nicht dem Alpengebiete, noch viel weniger den Hochalpen eigenthüm— lich ſind. Für die Dienſte, die ſie den Alpen-Frühlingsblumen als Kreuzungsver⸗ mittler leiſten, iſt dies aber offenbar ganz gleichgültig. Und dieſe Dienſte beſchränken ſich durchaus nicht etwa blos auf die aus— geprägten Falterblumen, ſondern auf zahl— reiche Blumen, die einem gemiſchten Beſucher— kreiſe zugänglich ſind, wie z. B. Cruciferen, Alſineen, Roſifloren und beſonders Com— poſiten, ja ſelbſt Bienen- und Hummel blumen, wie z. B. Papilionaceen, Labiaten, glockenblumige Ericaceen, ſieht man in den Alpen ſchon von den erſten Frühlingstagen an ungemein häufig von Faltern beſucht, und in vielen Fällen wirken dieſelben, wie die Behaftung ihres Rüſſels mit Pollen zeigt, ſelbſt bei der letztgenannten Kreuzung vermittelnd. Ich glaube, im Hinblick auf dieſen über- ſchwenglichen Falterreichthum, die hier in den allgemeinſten Zügen mitgetheilten Be— obachtungen in den beiden Sätzen zuſammen— faſſen zu können: 1) An dem Frühlingsblumenſchmucke der Alpen nehmen, von dem erſten Schwinden des Schnees tief unten in der Waldregion an, die Falterblumen einen ſehr hervor— ragenden Antheil, gegen welchen ihre Rolle in der Ebene und niedern Berggegend gänz— lich zurücktritt. | 2) Mit dem erſten Aufblühen der Falterblumen des Alpenfrühlings ſind auch ihre leichtbeſchwingten Liebesboten in hin— reichender Menge zur Leiſtung ihrer Liebes— | dienfte bereit. Ueber den Eulturzuftend der Steben bei ihrem Eintritt in die Gelchichte. Von Dr. C. 1 man 88 Sueben des Arioviſt in die ferner berückſichtigt, daß Mar— bod, Heerführer der Markomanen, im An— die Vorſtöße der tigung. zwei gewaltige römiſche Heere vom Rheinlandſchaften betrachtet und ſo muß der Grad der militäriſchen Aus— bildung, die Qualität der Waffen, das fang unſerer Zeitrechnung eine Herrſcher gewalt conſtituiren und ein Heer organiſiren konnte, welches den Römern Schrecken ein— flößte, ſo tritt die Frage nahe heran: Auf welcher Kulturhöhe ſtand das Volk der Sueben, vor dem ein Cäſar erzitterte und primitiven Lebens- und Kulturzuſtände in ein Auguſtus erbebte? Wenn wir bei Cäſar, de bello gallico, von den taktiſchen Manövern des Suebenkönigs Arioviſt leſen, der unter den ungünſtigſten Ver— hältniſſen gegenüber geſchulten Truppen mit entſchiedenen Widerſpruch. Cäſar traf be— ſeinen ſchwer beweglichen Angriffslinien dem erſten Feldherrn ſeiner Zeit den Sieg lange ſtreitig machte;t) wenn wir ferner von der Heeresorganiſation des Marbod wiſſen, daß er 74000 Mann faſt nach römiſcher Art — Ueber Taktik und Strategie des Ario— viſt vgl. Peucker, das deutſche Kriegsweſen der Urzeiten. III. Th. S. 89 — 96. Mꝛelilis. disciplinirt hatte, und daß zu ſeiner Bewäl— Süden und Weſten heranziehen mußten,“) Talent der Waffenkönige, die Disciplin der Soldaten eine ſehr hohe geweſen ſein, um dem ausgebildeten Organismus der römi— ſchen Legionsmacht ſo lange und mit ſolchem Erfolge widerſtehen zu können. Wenn wir auf der anderen Seite die einfachen, ja Betracht ziehen, wie ſie von den Sueben die beiden Augenzeugen Cäſar und Ta— citus in ihren Schriften berichten, ſo ſtoßen wir ohne Zweifel hier auf einen kanntlich mehrere Male mit den Waffen mit ihnen zuſammen, er ging zweimal, ſie hy ueber Marbod's Kriegsmacht vgl. den Soldaten Vellejus Paterculus. II. 109 — 110; timendus ſagt er von ihm; außerdem Dun— cker, Origines germanicae. p. 126 — 128; Uſinger, Anfänge der deutſchen Geſchichte. S. 100 - 104, 166 — 167. 5 458 Mehlis, Ueber den Kulturzuſtand der Sueben. im eigenen Lande zu ſchrecken, über den Rhein; er kannte ſie alſo in ihrer Friedens— und in ihrer Kriegsthätigkeit. Wie ſchil— dert der große Stratege und ſchlaue Diplomat dieſelben? Mag man bei ihm!) auch einzelne Irrthümer zugeben, im Gan— zen hatte der Römer keine Urſache, die Eigenſchaften des ſeinen Landsleuten noch unbekannten Volkes anders zu ſkizziren, als ſie ihm wirklich erſchienen waren. Uebrigens ſind wir ja in der Lage ſeine Angaben durch die anderen Autoren, ſowie durch ſonſtige Vergleichungsmomente controliren zu können. Nach Cäſar alſo ſind die Sueben das bedeutendſte und kriegeriſchſte Volk der Ger— manen, zu denen er ſie IV. I beſtimmt rechnet und denen er ſie bei ſeiner Parallele mit den Galliern im VI. Buche ſubſum— mirt. Krieg und Viehzucht mit Ackerbau ſind abwechſelnd derart ihr Gewerbe, daß die eine Hälfte der ſtreitbaren Mannſchaft ein Jahr das Land verläßt, um Dienſte zu thun und Beute zu machen, während die andere Hälfte zu Hauſe bleibt und fried— liche Beſchäftigung treibt. Ihr Haupt⸗ gewerbe beſteht in Viehzucht und Jagd. Ackerbau treiben ſie nur nebenher, ſo weit nothwendig. Abgeſchloſſenes Privatgrund— eigenthum kennen ſie nicht; ſie wechſeln den Ackergrund alle Jahre nach beſtimmten Vor— ſchriften. Der Handel beſteht in Tauſch und wird nur zugelaſſen, um die Kriegs— beute wegzuſchaffen. In der Jugend wer— den ſie durch Flußbäder, Jagd und mili— täriſche Uebungen abgehärtet. Frau Venus verehren ſie vor dem 20. Jahre nicht. Ihre Religion beſteht in einem Geſtirn— dienſt, doch haben ſie keine Prieſterkaſte und keine Vorliebe für Opfer. Eingetheilt wird ) Vgl. de bello gallico IV. 1— 4, VI. 1 das Land in Gaue (pagi), in denen die Edelinge Recht ſprechen. Bei gemeinſamer Kriegsgefahr wird für den Heerbann ein gemeinſames Commando ernannt; ſonſt lieben ſie das Gefolgsweſen, wobei die Edelinge die Führerrolle zu übernehmen pflegen. Alles läuft auf Einfachheit der Sitten und ſtaat— lichen Einrichtungen, auf Pflege kriegeriſchen Sinnes, auf Liebe zu Krieg und Beute hinaus; ein unſteter Sinn, ein Hang zur Wanderung iſt das Erbtheil der Sueben. Zur Unterſtützung dieſes Volkstypus dient die Schilderung des Strabo, der aller Wahrſcheinlichkeit nach noch vor Chriſtus am Rhein feine Specialſtudien zu der Geo- graphica machte. Er ſagt C. 196 von den Germanen, d. h. den Sueben, daß ſie alle Krieger ſeien und zwar beſſere Reiter als Fußgänger. Wegen der kalten Lage ihres Landes ſeien ſie ſehr geneigt zu Aus— wanderungen. C. 291 erwähnt er bei den Sueben ihre Leichtigkeit auszuwandern, und zwar wegen ihrer einfachen Lebensweiſe, wegen ihres Mangels an Ackerbau und ihrer Ab- neigung gegen Schätzeſammeln. Sie wohnten in Hütten, die ſie täglich wechſeln könnten. Ihre Hauptnahrung bildeten die Heerden; ähnlich wie bei Nomaden laden ſie ihren Hausrath auf Wagen und ziehen mit dem Vieh wohin ſie wollen. Noch ärmlicher verhält ſich die Lage der weſtgermaniſchen Stämme, der Cherusker und der Chatten, der Gambrivier und der Chattuarier nach des Strabo Worten. Mit dem Unterſchiede, den hier Strabo zwiſchen den Sueben und den Weſtgermanen in der Lebensweiſe und der Ausrüſtung macht, würde auch die Be— ſchreibung ſtimmen, die Germanieus in ſeiner Lagerrede vor der Schlacht auf dem | Idiſtaviſofelde von der Waffenart der Weit- habe 1 germanen macht. Kaum die erſte Reihe ordentliche Lanzen, die übrigen hätten an— gebrannte Schafte oder kurze Eiſen. Baum— ſtämme und Binſenrohr nennt er an anderer Stelle die Waffen ſeiner Gegner.!) Dürfen wir dagegen von dem geſchloſſenen Wider— ſtande ausgehen, den des Arioviſtus Lanzen— männer den Schwertern der Legionen ent— gegenſetzten,?) ſowie von dem Ausdruck des Vellejus von den Truppen des Mar- bod: paene ad Romanae disciplinae for- mam, jo wird man in die Verſuchung ges führt, der Bewaffnung der Sueben unter dieſen Heerführern eine beſſere Qualität zu— zuſchreiben. Anzuziehen iſt allerdings das Stillſchweigen Cäſar's über dieſen Punkt, der ſicher keinen Anſtand genommen hätte, der Armirung ſeiner Gegner, wenn ſie der der Legionen ebenbürtig geweſen, Erwähnung zu thun. Aber wenn Polybius und Plu tarch von den ſchlechtgeſtählten Schwertern der oberitaliſchen Gallier und ihrer Hülfs— truppen, der Gäſaten, ſprechen, ) wenn ande rerſeits das noriſche Eiſen, ensis Noricus, ſeit Alters hohen Ruf bei den eiſenbedürf— tigen Römern und den alpinen Völkern be— ſaß, wenn wir ferner aus den Pfahlbauten der Schweiz bei Marin eiſerne Schwerter zu Dutzenden an den Tag gehoben ſehen mit der einſchneidigen Schärfe, der man— gelnden Spitze und der eigenthümlichen Or— namentik, welche dieſen Waffen den Namen la Tene⸗Typus verlieh, jo dürfen wir nicht — A vierzehn alten deutſchen Todtenhügel 2c.. be— zweifeln, daß Eiſen, Schwert und Lanze den Nachbarn der Sueben, den Helvetiern, wohl bekannt waren. Waffen derſelben Art hat man bekanntlich in Maſſe in den Lauf— gräben von Aleſia aufgefunden. ) Vgl. Tacitus, Annales. II. C. 14. 2) Vgl. Cäſar, de bell. gall. I. 5, Oroſius, VI. 7; Florus, Epitome III. 10. 3) Vgl. Polybius, II. 23; III. 114; Plutarch, Camillus 41. Mehlis, Ueber den Kulturzuſtand der Sueben. Die 459 Hügelgräber von Ramſen, !) welche nach den verſchiedenſten Anhaltspunkten der vorrömi— ſchen Periode angehören, bergen eiſerne Schwerter von derſelben Länge und Form, und auch die Gräber von Sinsheim mögen nach den Urnen und der Fibelform (auch meiſt la Toͤne-Typus) ebenfalls in die vor— römiſche Periode fallen, nicht, wie Linden— ſchmit meint, der alemanniſchen Zeit an— gehören.?) Auch hier finden wir ziemlich zahlreich das Eiſenſchwert und verſchiedene Formen der kramea, der eiſernen Lanze. Manches Beweisſtück für den bekannten Ge— brauch der Eiſenwaffen mögen noch die Grabhügel Schwabens und Frankens bieten, wo ja zum Theil die ſuebiſchen Markoma— nen und Tribocchen, die Seduſier und Haru— den begraben ſein mögen. Allein noch iſt die Disjungirung dieſer Hunderte von Tumuli mit großen Schwierigkeiten verbunden, und es fehlt an feſten Anhaltspunkten in dieſen Gauen, die einzelnen Hügelgräber der vor— römiſchen, der römiſchen und der nachrömi— ſchen Periode zuzutheilen. Sicher iſt aber, daß die vorhiſtoriſche Anſiedelung zu Stillfried in Niederöſterreich das Eiſenſchwert birgt, ja eine Eiſenſchmiedewerkſtätte legte dort Much blos. Dabei iſt nicht zu leugnen, daß eine eiſerne Ausrüſtung nicht der 9 Vgl. Mehlis, Studien. III. Abth. S. 28. 2) Vgl. Wilhelmi, Beſchreibung der ſonders S. 161 — 163 u. S. 174; der Verf. ſetzt dieſe Tumuli mit Eiſenwaffen in die erſte Hälfte des erſten Jahrhunderts unſerer Zeitrechnung. Wir möchten ſie noch etwas früher ſetzen. Vgl. außerdem Wilhelmi, vergleichende Darſtellung der Reſultate ꝛc. 1. Abth. S. 62 — 72, Keine einzige Münze oder ſonſt ein archäologiſches Anzeichen giebt Lindenſchmit das Recht, ihre Zeit ſo tief herabzuſetzen; vgl. ſeine hohenzolleriſchen Alterthümer, S. 127 Anm. Kosmos, III. Jahrg. Heft 12. 460 ganzen ſtreitbaren Mannſchaft zugewieſen werden kann, ſondern daß die Eiſenwaffen immer noch verhältnißmäßig ſelten bei den weſtlichen Sueben vertheilt ſein mochten. Mehlis, Ueber den Kulturzuſtand der Sueben. Kommen doch in den Grabhügeln von Sins- heim noch Steinwerkzeuge vor, und liefern die Schichtungen auf der Saalburg doch den Beweis, daß ſelbſt zur Zeit des höchſten Einfluſſes der römiſchen Kultur ſich die einfallenden Chatten noch des altteutoniſchen Steinhammers als Waffe bedienten.!) Daß es überhaupt im Einzelkampfe weniger auf die Güte der Waffen ankommt, als auf den Gebrauch, den der Kämpfer davon machen kann, das beweiſen im Alterthume die Holzkeulen der Gothen, mit denen dieſe Helden dem Pilum der Legionen gegenüber treten,?) das beweiſen die primitiven Waffen der Maoris gegen die Hinterlader der Eng— länder, wie die Schärfe der Aſſagais, welche die Zulu gegen die Briten mit Erfolg ge— brauchten. Die Kriegsgewandtheit der Sueben bezeugt ihre Taktik gegen Cäſar und Druſus, ihr Kampf gegen die Helvetier, ihr Sieg bei Magetobriga gegen die verein— ten Gallier, und die ſchnelle Disciplinirung der Markomanen durch Marbod— Einen zweiten durchgehenden Zug in dem Kulturſtand der Sueben bildet die kriegeriſche Erziehung, welche auf ſpartaniſcher Ein— ) Vgl. des Verf. Studien, II. Abth. S. 36 Anm. 1. Auch aus der älteren deut- . 5 5 ſchen Literatur, dem Hildebrandsliede, jowie 111! Fun aus manchen ſprachlichen Ausdrücken geht hervor, daß der Stein als Werkzeugsmaterial ſich noch lange in die hiſtoriſche Zeit hinein erhielt; vgl. M. Much, Mittheilungen der anthropol. Geſellſchaft zu Wien, VII. B. 1. u. 2. H.; staimborta im Hildebrandslied. 2) Ueber die germaniſche Keule, die ca— teja, teutona und cletsia vgl. Peucker, fachheit der Sitten, ſowie auf einer dem Volke eigenen Bedürfnißloſigkeit beruht, als deren Folge hinwiederum der Hang nach individueller Freiheit aufgefaßt werden kann. Es iſt ein rauhes, unſtetes Kriegervolk, das an den Pforten der Kultur zu Anfang un— ſerer Zeitrechnung pocht, mit vortrefflichen Anlagen für den Krieg im großen und kleinen Maßſtabe, mit einem natürlichen Sinn für Recht und Gerechtigkeit, mit einem Mangel an Bedürfniſſen der Kulturmenſchen, der ſie den importirten Wein ablehnen und die unanſehnlichen, aber gelenken Pferdchen beibehalten ließ.“) Allein das ausgebildete Gefolgweſen, welches ſich ganz ähnlich bei den Galliern und als Clientel auch bei den Römern findet, veranlaßte manch' ſtarke Gefolgſchaft, welche als „Gaesatae“ frem- den Völkern die Hülfe ihres Speeres brachten und ſich bei ihren Soldherren häuslich nieder— ließen, nachdem ſie die Annehmlichkeiten eines reichen Bodens kennen gelernt hatten. So kommen die Gallier und Halbgermanen an die Rhone, nach Oberitalien, ſo die Galater nach Kleinaſien als Retter des Nicomedes, ſo endlich kam Arioviſt mit ſeinen Germanen den Arvernern und Sequa— nern zu Hülfe. Um Lohn gedungen, lern— ten dieſe Sueben des Arioviſt bald den Reichthum der Ländereien in Burgund, den Luxus und die Hülfsmittel der Gallier kennen und lieben, und bald erſchienen die— Solddiener, ſondern als Landesherren.) ) Vgl. Cäſar, de bell. gall. IV, 2; auch Tacitus hebt Germania C. 6 die un⸗ anſehnliche Geſtalt der germaniſchen Pferde— Raſſe hervor. 2) Vgl. Cäſar, de bell. gall. I. 31; darnach und nach I. 44 erſcheint Arioviſt als Gefolgsherr, als princeps comitatus; auch das deutſche Kriegsweſen der Urzeiten, 2. Th. Holtzmann iſt dieſer Anſicht in den „ger— S. 127 — 128. maniſchen Alterthümern“, S. 194. Mehlis, Ueber den Kulturzuſtand der Sueben. 461 Während fo der Grundſtock der ſuebiſchen | beuterſchaaren ganz Süddeutſchland bis nach Bevölkerung bei ſeinen alten einfachen Sitten blieb, mochten die Außenglieder in Berühr— ung mit der Kultur höherſtehender Völker im Weſten und Oſten die Annehmlichkeiten derſelben allmählich kennen und ſchätzen lernen. Ein Volk, raſch wandernd und kriegsluſtig wie dieſe Halbnomaden, war eher in der Lage eine gewiſſe Halbkultur anzunehmen, als die Stämme im Innern Deutſchlands, die, wie Frieſen und Chauken, Cherusker und Chamaven, faſt unveränder— lich in ihren Sitzen, das Neue der Kultur weder ſahen noch liebten. Das war der in den Wohnſitzen und in alter Sitte ge— gebene Unterſchied zwiſchen den Weſtgerma— nen, die, wie Tacitus ſagt: sine eupi- ditate, sine impotentia, quieti secretique nulla provocant bella, nullis raptibus aut latroeiniis populantur, und den kriege— riſchen Sueben, von denen Cäſar meldet: Helvetien ſiegreich durchſchwärmt hatten, während ſie vorher ihre Beute vom Strande der Moſel und der Rhone, vom Ufer der March und der Donau unangefochten nach Haufe geſchleppt hatten, war jetzt, ſeit Be- ginn unſerer Zeitrechnung, ein gewaltiges Heer römiſcher Kerntruppen am Rhein und an der Donau hinter Wall und Graben aufgeſtellt, und kühne Feldherren, wie Dru— ſus und Germanicus, waren ihnen ſelbſt im eigenen Lande auf den Leib gerückt. Die Markomanen mußten ſich vor des Druſus eiſernem Arme in das Innere Böhmens zu— rückziehen. Dieſer ſelbſt und Tiberius dringen in das Herz Suebiens bis an die Grenzen der Langobarden und Semnonen vor; in den Wellen der Elbe, die das Land der Her— munduren und der Semnonen, ſcheidet, ſpiegelten ſich ſtolz die Legionsadler, und vita omnis in venationibus atque in studlis rei militaris consistit. Allein mit den Siegen des Cäſar und Druſus, des Tiberius und des Germanicus, nach der Auswanderung der Markomanen aus Südweſtdeutſchland und ihrem Umzuge nach Boiohemum, nach der Errichtung der Grenzwehr, die Druſus am Rhein begon— nen, die Domitian, Trajan und Hadrian am Rhein und an der Donau fortgeſetzt und vollendet hatten, trat auch in den Kulturverhältniſſen der Sueben eine tief— eingreifende Veränderung ein.!) Während vorher die ſuebiſchen Frei— 1) Den von Drufus angelegten Verthei- | digungslinien wurde ohne Zweifel durch die Errichtung des limes transrhenanus eine zweite Linie vorgeſchoben, welche die agri decumates einſchloß und die Donau mit dem Rhein in die kürzeſte Verbindung ſetzte; vgl. des Verf. 400 Meilenſteine rechnet Vellejus vom Rhein bis zur Elbe. Und ſpäter ſperrte auf zwei Jahrhunderte der Grenzwall mit Thürmen und Kaſtellen, mit Lagern und Stationen die Zugänge zum mittleren Wein— land, zum Neckar und zum Rheine ab; ge— rade die wichtigſten Bergdefileen, die ſtra— tegiſch wichtigſten Päſſe, welche den Reiter— ſcharen der Sueben früher den Weg an die Altmühl, an Kocher und Jaxt, an Tauber und Kinzig, an Nidda und Lahn geöffnet hatten, verſperrte das Vallatum, welches die Kohorten von Rhätien und Britannien, aus Gallien und Spanien hatten errichten müſſen. Die Sueben hatten nicht nur durch die Kriegskunſt der Römer ganz Süddeutſchland verloren, ſie wurden auch durch ihre wachſende Volkszahl, durch den Mangel an Ausfallthoren und Aus— Schrift: Der Rhein zur Kelten- und Römer— | denken. Beſchränkt auf das Land zwiſchen zeit, S. 29—31. wanderungsgelegenheit genöthigt, an die Ver— theilung des Platzes im eigenen Lande zu Weichſel und Fichtelgebirge, in der Mitte zwiſchen den Weſtgermanen, die gleichfalls nicht weichen konnten, und im Oſten ein— geengt von den Sarmaten, mußten die Sueben zum Theil ihr bisheriges Wirth— ſchaftsſyſtem aufgeben und einen intenſiveren Betrieb der Landwirthſchaft einführen.!) Während bisher Jeder ſchweifen konnte, wohin er wollte, brachte es jetzt die Noth— wendigkeit zu Wege, daß das Nomadenthum aufgegeben, die bloße Viehwirthſchaft zu Gunſten des Ackerbaues eingeſchränkt war d, und daß die Kantonsangehörigen, die pagi, ſich auf einen beſtimmten Rayon in der Be— ſiedelung beſchränkten. Zugleich mit dieſem nothgedrungenen Uebergange vom über— wiegenden Nomadenthum zur größeren Seßhaftigkeit trat eine raſche Zunahme der Bevölkerung ein, wie Felix Dahn richtig hervorhebt.?) Die Fruchtbarkeit der ger— maniſchen Frauen war bekannt, und die ſolidere Anſiedelung bewirkte auch eine beſſere Pflege der Kinder, die ja ſo wie ſo nach den klaſſiſchen Autoren mit dem Hemde der Natur bekleidet waren.?) Mit der Auf— theilung des Ackergrundes, mit der wachſen— den Bevölkerung, mit dem ſteigenden Ver— kehr im Innern und mit den geſtiegenen Geſammtintereſſen nach Außen trat auch im politiſchen Leben der Sueben eine Verän— derung ein. Die einzelnen Kantone, einan— der näher gerückt im Frieden und Krieg, ſchloſſen ſich zu Stammesſtaaten, eivitates, an einander. Schneller ging dieſe Ver— änderung bei den kriegeriſchen, durch die Natur des ebenen Landes auf die Einig— ) Vgl. im Allgemeinen über den Ein— fluß des Grenzwalles des Verf. Schrift: Der Rhein in der Kelten- und Römerzeit, S. 31 ff. 2) Dahn, Bauſteine: Ueber die Germa— nen vor der ſogenannten Völkerwanderung. ) Vgl. Pomp., Mela III. 3, 25 u. Germ. 25. Mehlis, Ueber den Kulturzuſtand der Sueben. ung angewieſenen ſuebiſchen Stämmen, als bei der Kantönlis Politik der Weſtger— manen vor ſich. Armin der Cherusker fiel als Opfer des Verſuches, die verſchiedenen prineipes und pagi unter einen Hut zu bringen, während es dem ſchlauen und that— kräftigen Marbod bald gelang, nicht nur die Markomanen zu einen, ſondern die Völker der Quaden, Silinger, Lygier und Semnonen zu einem großen Suebenreiche zu vereinen, das wenigſtens erhalten blieb, ſo lange er als Markomanenkönig aner— kannt war. In der Periode des Tacitus ſehen wir bei den Sueben das Eintreten dieſer po- litiſchen Umwälzung, während auch im Vergleiche zu Cäſar Andeutungen von dem allgemeinen kulturellen Prozeß vorhanden ſind. Tacitus kennt Stammeskönige bei den Markomanen und Quaden, bei den Gotonen, den Rugiern und Lemoviern, ferner bei den Lygiern und den Suionen in Skandinavien, ebenſo kennen wir Könige bei den Semnonen und Hermunduren. !) Mit der Völkerwanderung entwickelte ſich das Königthum immer mehr. Arnold macht die Bemerkung, daß die ſtraffere Handhabung der Gewalt von Seiten der gothiſchen Könige — Tacitus ſagt paulo adduetius — dem Einfluſſe ſarmatiſcher Stämme zuzuſchreiben ſei. Nicht unwahr— ſcheinlich war daran ſowohl ein permanenter Kriegszuſtand ſchuld, ſowie die Miſchung der Bevölkerung mit allophylen ſlaviſchen Ele— menten. Die Unterſuchungen von Koper— nicki wenigſtens beweiſen das Nebeneinan— der hoher Geſtalten mit Langſchädeln und eines Volksſtammes von kleinerer Statur ) Vgl. Tacitus Germania, außerdem F. Dahn, Die Könige der Germanen, 1. Th. S. 102 —. 119, Arnold, Deutſche Urzeit, S. 334. mit brachycephalen Schädeln. Auch die Natur der ſarmatiſchen Ebene bedingt die leichte Vermiſchung verſchiedener Volksſtämme.!) Was den Ackerbau der Sueben in der Periode des Tacitus betrifft, fo find | die bekannten Worte in der Germania, C. 26: agri pro numero cultorum ab univer- sis invices occupantur. ... arva per an- nos mutant et superest ager der ver— ſchiedenſten Deutung Zuſammengehalten mit den Worten des Cäſar über denſelben Gegenſtand (IV. 1 und VI. 22) ſcheinen ſie ungefähr denſelben Juhalt wiedergeben zu ſollen. Mag man im Einzelnen die Stelle interpretiren, wie man will, und die Anſichten gehen darüber weit auseinander, aus der Darſtellung der beiden Schriftſteller iſt im Allgemeinen zu entneh- men, daß Genoſſenſchaft und Geſammtbeſitz, die Feldgemeinſchaft, das Urſprüng— liche, Auftheilung und Sondereigenthum das Abgeleitete ſind, wie auch aus der ver— gleichenden Ackerbaugeſchichte bei anderen ariſchen Völkern und aus der Beobachtung der Gepflogenheit wilder Stämme hervor- Aus den Worten des Tacitus, verglichen mit den Bemerkungen Cäſar's den Stand des Ackerbaues bei den geht.?) über Germanen, geht andererſeits der Unterſchied hervor, daß damals, ca. 150 Jahre nach den Wahrnehmungen des Juliers, ſtatt einer zwar gemeinſchaftlichen, aber vielfach wech— ſelnden Gemarkung, eine ſtändige Flur von den ſuebiſchen (germaniſchen) Anſiedlern bezogen ward. Wozu die Weſtgermanen ) Vgl. Kohn und Mehlis, Materia— lien, II. Bd. S. 87 — 170. 2) Eingehend über die Frage der Ur— bewirthſchaftung hat Laveleye gehandelt: Das Ureigenthum. In dieſem Werke ſind auch die Parallelen mit anderen Völkern zu finden, die Darlegung des Weſens des ruſſi— ſchen Mir und anderer Dorfgemeinſchaften. Mehlis, Ueber den Kulturzuſtand der Sueben. gewürdigt worden. 105 | auf beſchräuktem Terrain bereits vor meh— reren Menſchenaltern gelangt waren, zur | Vertheilung einer im Allgemeinen beſtimmten Gemarkung an die Gemeindegenoſſen, das trat erſt jetzt bei den bisher halbnomadiſchen Sueben ein. Die Gemeinde vertheilte secundum dignationem, „nach Verdienſt und Würdigkeit“, das Ackerland unter die Markgenoſſen. Am Boden zum Ver— theilen fehlte es nicht, und fehlte es daran, wie in der Zeit vor der Völkerwanderung, ſo ſchritt man zum Auszuge. Und zwar iſt ſo viel Ackerland vorhanden, daß man das Pflugland wechſelte, ohue das brauchbare | Ackerfeld dadurch aufzutheilen. Es war nach Hanßen ein Acker— bau, der auf einer extenſiven und wilden Feldgraswirthſchaft beruhte, wobei auf eine Ackerbaukultur von einem Jahre oder eini— gen Jahren eine vieljährige Grasnutzung folgte. Noch heute iſt dieſe Methode in Nordweſtdeutſchland gebräuchlich; man nennt ſie Wechſelwirthſchaft, und das ſo behan— delte Land Wechſelland. Noch eine andere wichtige Frage ſpielt in das Gebiet hinein: die Hochäckerfrage.!) Bekanntlich wurden zuerſt in Ober bayern bei München die Spuren von ſonderbaren alten Ackerbeeten gefunden, die 20 — 30 Schritt breit und von enormer Länge, mit flacher Wölbung regelmäßig angelegt ſind. Ihre Herkunft und ihre früheren Erbauer weiß nicht einmal die Sage zu vermelden. Die gewölbte Oberfläche, das Miſchungs— verhältniß der Erdſchichten, die langen, ge— raden Linien, die rechtwinklige Folge der Beete ſprechen dafür, daß wir in dieſen Anlagen kein Spiel des Zufalls, ſondern ) Vgl. dazu A. Hartmann, Zur Hoch— äckerfrage, München 1876, und M. Much, Ueber den Ackerbau der Germanen, Wien 1878, beſonders S. 62 — 68. 464 Hefte einer uralten Bodenkultur vor uns haben. Dieſelbe benützte den ſterilen, hu— musarmen Boden, indem man das wenige Erdreich zu einem Beete zuſammen häufte. In Bayern zeigen ſich die ſchon Ende des vorigen Jahrhunderts bekannten Hochbeete unzählige Male in der Ebene, wie auf der Anhöhe, im Sumpflande, wie auf der Haide. Aber ſtets iſt es daſſelbe Princip: eine extenſive Bodenbenutzung ohne Anwend— ung von thieriſchem Dünger. Der Spüreifer der Prähiſtoriker ent- deckte ſolche alte Kulturanlagen bald auch in Würtemberg und Franken, in Sachſen und in Pommern, in Hannover und Olden— burg, in Schleswig-Holſtein und Mecklen— burg, in Dänemark und England. Much hat fie neueſtens in Spuren auch in Ober und Niederöſterreich nachgewieſen, und dem Verfaſſer iſt es geglückt, ſolche Hochbeete auch im Hartgebirge, ohnweit der gewal- tigen Dürkheimer Ringmauer aufzufinden.) Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß in Gegenden mit reicher Ackerkrume, wie in Schleſien und im Rheinlande, dieſer ausmergelnde Bodenbetrieb entweder nicht nöthig war, oder durch den intenſiv betriebenen Ackerbau des letzten Jahrtauſends ſich die Spuren davon verloren haben. An manchen Stellen mag man darnach noch nicht geforſcht haben. Während nun die älteren Forſcher die Bebauung dieſer Rieſenbeete, die ſich oft in einer Länge von zwei Kilometer erſtrecken, den Kelten oder den Römern zuſchreiben, iſt Aug. Hartmann, der bisherige Haupt— entdecker derſelben, geneigt, den Betrieb ) Auch fand der Verf. neben denſelben drei Trichtergruben, wahrſcheinlich ein Bei— ſpiel der unterirdiſchen Vorrathskammern, welche Tacitus, Germania 16, beſchreibt. Auch Much fand auf dem Marchfelde eine | ſolche Trichtergrube neben einem Wall, Mehlis, Ueber den Kulturzuſtand der Sueben. dieſer Fluren den Germanen zuzuſchreiben. Much, der öſterreichiſche Germaniſt, ſpricht | ſich entſchieden für dieſe Deutung aus und will in einer Stelle des Plinius,) wo von der Düngungsart der Übier, dem Mer— geln, die Rede iſt, ſogar eine direkte Hin— deutung auf den Hochäckerbau gefunden haben. Wenn dieſe Methode, mit ausgegrabenem Grunde anſtatt mit Dünger das Land zu melioriren (laetificare jagt Plinius), fortgeſetzt wurde, mußte ſowohl neben dem Beete ein Graben entſtehen, als auch das Feld immer höher werden. Dieſe Boden— ausnutzung hatte aber bald ihre Grenze, und Plinius giebt von dem fruchtbaren Gelände der Ubier am Niederrhein an, daß dieſe Mergelung nur 10 Jahre den Dünger erſetze. Um wie viel ſchneller muß die Ausnutzung des Bodens in anderen Gegen— den vor ſich gegangen ſein, wo kein Grund, den man daneben ausgrub, den Viehdünger oder eine Humusſchicht erſetzen konnte? Wenn Much ferner in jedem Hoch— beete den Antheil jedes einzelnen germaniſchen Bauern am ager als das ihm zugewieſene arvum erblickt, den der Graben rechts und links markirte, ſo wollen wir dieſen Satz vor der Hand dahin geſtellt ſein laſſen. Mit Recht zieht aber A. Hartmann die von Hanßen vertretene Anſicht von wilder Feldgraswirthſchaft bei den Ger— manen zur Erklärung dieſer auf germani— ſchem und beſonders altſuebiſchem Boden auffallenden Thatſache an; laſſen ja doch die jetzigen Gemeinweiden nach ihm die Form der alten Ackerbeete noch erkennen. Darnach wird man wohl kaum irre gehen, wenn man beides, die nach Tacitus und aus der vergleichenden Ackerbaugeſchichte her— vorgegangene Präſumption der rohen Feld— graswirthſchaft, mit den Reſten eines Acker— ) m. h. XVII. 8. ed. Jan. | S. 25 — 28. FFT Mehlis, Ueber den Kulturzuſtand der Sueben. baues ohne Spur thieriſchen und mineraliſchen Düngers zu einem Gefammtbilde verbindet. Bei dem Uebergange von der vorherrſchenden | Viehzucht zum rohen Ackerbau wurde feine ausſchließliche Weide geſchieden, ſondern das Vieh weidete vielleicht das ganze Jahr frei auf der Gemarkung, wie heute noch bei den Baſchkiren. Ein Theil der Gemarkung wurde ausge— ſchieden zum Bepflügen, und bei dem Ueber— fluß an Land begnügte man ſich damit, durch Zuſammenraffen der mageren Humus decke ein ertragbares Ackerfeld zu gewinnen. Ward das gebrauchte Feld nicht mehr er— tragbar, überließ man es der Weide und ſäete anderes Feld als Acker an. Erſt zu Karl des Großen Zeit rief der Mangel an Fruchtboden die Dreifelderwirth— ſchaft, d. h. die regelmäßige Abwechſel— ung zwiſchen Ackerbau und Brache, ſowie den Flurzwang hervor. Natürlich hatte dieſer Raubbau ohne geregelte Düngung, die am Ende bei dieſer Methode auch nicht nöthig war, eine baldige Erſchöpfung des Bodens zur Folge, und Much mag Recht haben, hierin einen zu berückſichtigenden Faktor für die Auswanderung mancher deutſchen Völkerſchaft zu ſehen. Dieſe Anſiedelungsweiſe, die wir be— ſonders den Oſtgermanen oder Sueben zu— ſchreiben müſſen, macht ganz den Eindruck einer Miliärcolonie mit beſtändiger Waffen— bereitſchaft;!) und ähnlich dürfen wir uns die Agrarverhältniſſe vorſtellen etwa bei den Koſakenniederlaſſungen am Don und in der Ukraine. Was die von F. Dahn und Arnold?) gemachte Annahme betrifft, der Aufenthalt ) Vgl. Germ. Alterthümer, S. 224. 2) Vgl. Dahn, Bauſteine, S. 286 291, 402; Arnold, Deutſche Urzeit, S. 112 und 465 in Deutſchland wäre nur ein temporär be— abſichtigter von Seiten der germaniſchen Stämme geweſen, ein Zeitpunkt der großen Wanderung vom fernen Oſten nach geſeg— neteren Ländern, ſo ſpricht in erſter Linie dagegen die conſtante, anthropologiſche Com— plexion der Germanen: helle Haut, blaue Augen, blonde Haare, ſowie das Ertragen von Kälte und Näſſe. Nur ein Volk wie die Germanen, deſſen Körper durch Jahrhunderte lange Akkomodation an ſolche Naturerſchein— ungen gewöhnt iſt, vermag dieſen zu trotzen. Die Conſtantheit der körperlichen Eigen— ſchaften ſpricht auch in höherem Grade für die Erwerbung derſelben im kalten, als im ſüdlichen Klima, und ſomit für die Wahr- ſcheinlichkeit, daß die germaniſchen Stämme durch Jahrhunderte lange Vertrautheit mit einem naßkalten Klima, wie es Deutſchland vor zwei Jahrtauſenden hatte, ihre körper- lichen Eigenſchaften damit in Ueberein— ſtimmung gebracht hatten.“) Iſt mit den angeführten Bemerkungen über die allgemeinen Zuſtände der Sueben, ihren Betrieb von Viehzucht und rohem Ackerbau, ihren Hang zum Kriegshand— werk ꝛc. ihr kultureller Zuſtand der Haupt⸗ ſache nach ſkizzirt, jo ergiebt ſich noch als. Fingerzeig deſſelben ihr Wohnen in Ge— höften oder in Dörfern. Förmliche ſtädtiſche Emporien kannten die Sueben nicht; dies ergiebt ſich erſt als Produkt einer vorge— ſchrittenen Arbeitstheilung der menſchlichen Geſchäfte. Aus Cäſar und Tacitus wiſſen wir aber, daß die Handelsthätigkeit der Mittelmeervölker auch zu den Sueben 9 Vgl. die Reſultate der Zählung der ſomatiſchen Eigenſchaften der deutſchen Schul— jugend, die für das Herz Deutſchlands immer _ noch ein ſtarkes Plus an hellen Complexionen aufweiſt. Pöſche, Die Arier, beſonders S. 12— 38, will dieſen Typus der ganzen ari— ſchen Familie oktroyiren; wohl mit Unrecht! mi) 466 Zugang fand,!) und als von Claudius bis auf Mark Aurel, über ein Menſchenalter hindurch, an den Reichsgrenzen vom limes her und an der Donau ein friedlicher Verkehr mit den ſeßhaften und bedürfnißvoller ge— wordenen Sueben, den Nariſten und Mar- komanen, den Quaden und Hermunduren, den Langobarden und Lygiern betrieben ward, da mehrte ſich auch der Kultureinfluß | römiſcher und griechiſcher Kaufleute. Von Reginum und Carnuntum aus, von Co- lonia Agrippinae und von Olbia brachten die Kaufleute ihre glänzenden Metallwaaren zu den germaniſchen und ſuebiſchen Stäm— men. ſtände im Urnenlager von Darzau beweiſt, beſtand zwiſchen dem erſten und dritten licher Tauſchverkehr zwiſchen der Elbnieder— ung und dem imperium romanum. Wie weit die metalliſche Lokalinduſtrie der Eingeborenen in dieſer an Anregung Wie die Lagerung der Metallgegen- | in Eiſen. Und meldet doch die deutſche Sage in der Edda von dem Schmied Wie— land, der gleich einem Zauberer bei Göttern und Menſchen in halbgottähnlichem Anſehen ſteht! Nach der deutſchen Sage iſt es der Zwerg, der ſchmiedet; Wieland ſelbſt, der Schmiedemeiſter, iſt Alfen- oder Elfenfürſt. Dieſer Zug der Sage iſt jedenfalls ein Be— weis dafür, daß das Schmiedehandwerk als eine halbdämoniſche Kunſt galt. Noch jetzt iſt der Schmiedemeiſter der Hexenmeiſter im Dorfe! Die grobe Reparationsarbeit an den Fibeln aus den Grabfeldern Oſtpreußens in jener Periode beweiſt auf der anderen Seite, daß die einheimiſchen Arbeiter keine | beſonderen Künſtler waren, und die rohen Baugen,!) das Ringgold der Germanen, Jahrh. n. Chr. ein fortwährender fried- | reichen Periode ging, iſt zur Zeit noch ſchwer zu entſcheiden. Wie eine Reihe von Grab— funden mit eiſernen Gegenſtänden in Nord— deutſchland, wie ferner die Funde in den Ringwällen an der Donau und am Rhein, wie ferner die Entdeckung einzelner Schmiede- werkſtätten in dieſen Gegenden beweiſen, war die Kunſt der Eiſengewinnung und der rohen Verwendung deſſelben zu techniſchen Gegenſtänden den Germanen und beſonders den Sueben, die am Abhange der Sudeten wohnten, nicht unbekannt. Erwähnt doch Tacitus der eiſengrabenden Cotiner, die den Sarmaten Tribut bezahlen, natürlich 9 Als Zeugniß hierfür betrachte man die Reiſe des römiſchen Ritters unter Nero in das Bernſteinland, um dort alte Handels— verbindungen wieder anzuknüpfen; vgl. Sa— dowski, Die Handelsſtraßen der Griechen und Römer, S. XXXVII. 2. 182, und Plinius, n. h. iſt Zeuge davon, daß die Kunſt Geldwerth herzuſtellen, noch in den Windeln lag. Für einen Forſchritt in der Metallurgie in dieſer Periode, etwa Bronze herzuſtellen, ſpricht unſeres Wiſſens im Innern Deutſchlands, keine einzige Gußform, wenngleich vom Rhein und von der Donan, Gußformen, die min— deſtens aus dieſer Periode herrühren, bekannt ſind. Für die geringe und nur lokale Me— tallthätigkeit ſpricht auch der Umſtand, daß die Germanen keine eigenen Münzen ge— brauchten; alle Münzen mit beſtimmtem Gepräge und republikaniſche Denare hatten einen beſtimmten Cours, ?) beſonders in den Grenzlanden, wo der Tauſchverkehr mit den Wälſchen ein ziemlich intenſiver ſein mochte. Im Innern galt Vieh, faihu, fihu, fihu, fia, fe als Tauſchmittel, und in ſolchem N Ueber dieſe Materie vgl. Much, Bau— gen und Ringe, und den Aufſatz von Soet— beer in den „Forichungen zur deutſchen Geſchichte“, I. Bd. S. 228 — 239. 2) Vgl. Germania C. 5, und Holtzmann, Germ. Alterthümer, S. 128; außerdem über das Geldweſen der Germanen den Auſſatz von Soetbeer a. a. O. S. 208 — 262. Mi Mehlis, Ueber den Kulturzuſtand der Sueben. | J Mehlis, Ueber den Kulturzuſtand der Sueben. ward auch das Wehrgeld bezahlt. Im All— gemeinen mag der ſtärkere Verkehr mit den Römern an der langen Grenze von den biſchen Stämme in höherem Grade mit Kulturmitteln verſorgt haben, als die ferner gelegenen einfachen Weſtgermanen. Spricht doch Tacitus von den Unterſtützungs— geldern an die Könige der Markomanen und Quaden, waren doch in der Reſidenz des Marbod zu Marboduum große Schätze an Edelmetall, der alte ſuebiſche Königsſchatz, Jahre 51 n. Chr. von den nach ſeinen Schätzen lüſternen Hermunduren und Lygiern aus ſeinen Kaſtellen vertrieben. Der Betrieb der Handwerke, beſonders der Töpferei und Gerberei, des Schmiede— handwerkes und der Zimmermannskunſt lag ohne Zweifel in den Händen der bei den Sueben durch die Kriegsgefangenſchaft beſonders zahlreichen Klaſſe der Hörigen und Leibeigenen. Wahrſcheinlich wird hierin zwiſchen den Weſtgermanen und den Sueben nur die Menge und die Kunſtfertigkeit der unfreien Arbeiter, kaum die Stellung der ſelben, einen Unterſchied bilden. Als gemeinſames Kennzeichen der Sue— ben führt Tacitus die Haartracht!) an, welche in einem Hinaufſtreichen der Haare vom Scheitel aus und im Zuſammenbinden zu einem aufwärts ſtehenden Schopfe beſteht. Auch von den Chatten kennen wir eine durch das Langwachſenlaſſen des Haupt- und Barthaares auffallende Haartracht. Bei Apollinaris Sidonius werden die Sachſen geſchildert als ſich auszeichnend durch ) Vgl. Germania, C. 25 u. 38; dort wird auch den freien Sueben die eigenthümliche Haartracht als Unterſcheidungszeichen von den Nichtfreien zugeſchrieben. Alle Kriegervölker pflegen den Kaſtengeiſt! 467 einen geſchorenen Vorderkopf und die Sigam— brer durch einen glatten Hinterkopf. Aus Homer ſind die zapmxouowvres Ayaloı Karpathen bis an den Mittelmain die ſue- bekannt, aus den Vedahymnen die Rechts— gelockten, die Dreilockigen u. ſ. w. Eine Reihe wilder Stämme, beſonders Neger— völker, die Papuas, die Abyſſinier zeichnen ſich durch ihre Haartracht vor anderen Stäm— men aus. Die Haartracht dient noch bei den Merovingern zum Unterſchied zwiſchen Freien und Sklaven; das lange Haupthaar und langer Bart galt noch damals als aufgehäuft, und wird doch Vannius im Zeichen der adeligen Abſtammung.!“) Ein einigendes Band für ſämmtliche Sueben bildete ferner, was ſchon Taci— tus an mehreren Stellen hervorhebt, die Sprache derſelben. Die Marſigner und Buren rechnet er nach Sprache und Tracht zu den Sueben, bei den Oſern führt er Sprache, Einrichtungen und Sitten nach germaniſcher Art an, den Aeſtiern ſchreibt er ſuebiſche Sitten und Tracht, aber eine andere Sprache zu. Aus dieſen und an— deren Gründen, welche in der Wanderung der Sueben als Markomanen, Alemanen, Juthungen, Langobarden nach Süddeutſch— land und weiterhin beruhen, ſowie in der darauf eingetretenen deutſchen Lautverſchieb— ung wurzeln, hat Grimm zuerſt die ſuebiſche Sprache als den Grundſtock der hochdeutſchen erklärt, während die Weſtgermanen das Nieder- und Plattdeutſch entwickelten. Ihm folgten in dieſer An— nahme Arnold, Uſinger, Pfiſter und Andere.?) Dieſe ſuebiſche Sprache ſcheint ) Vgl. Holtzmann, a. a. O., S. 247. 2) Vgl. J. Grimm, Geſchichte der deut— ſchen Sprache, S. 482 — 511, Arnold, An- ſiedelungen u. Wanderungen deutſcher Stämme, S. 224 — 231 (für Alemannen und Bayern), Uſinger, Anfänge der deutſchen Geſchichte, S. 251 — 258, Pfiſter, Zur Vorgeſchichte der hochdeutſchen oder ſueviſchen Stämme, Kosmos, III. Jahrg. Heft 12, 61 468 dem Sprachforſcher J. Grimm der Grund— lage des Lateiniſchen näher geſtanden zu haben als dem Griechiſchen, wofür der Mangel des Dualis im Latein und Hoch— deutſchen ſpräche. Doch dürfte dieſe Spur, für prähiſtoriſche Zuſtände benützt, doch zu ſchwach und trügeriſch erſcheinen. Mehr Licht dürfte ein anderes gemein- ſames Band ergeben, welches die Sueben außer dem Haarſchopfe zuſammenknüpfte: Das einer gemeinſamen Gottes verehrung und eines gemeinſamen alljährlichen Gottes- dienſtes. Im Semnonenlande, dem Gebiete der angeſehenſten Völkerſchaft, welche die Su— eben ſelbſt religionis fide als die älteſte be— zeichnen, kommen in einem heiligen Haine die Abgeſandten aller Stämme zuſammen zu gemeinſamem Opfer und Gottesdienſt. Links und rechts der Elbe haben Archäologen ſchon den heiligen Hain der Semnonen zu erſpähen geſucht. Am rechten Elbufer, rechts der ſchwarzen Elſter, bei Schlieben und Finfter- | Mehlis, Ueber die Kulturzuſtände der Sueben. walde, ſowie links dieſes Fluſſes, der ohne Zweifel das alte Semnonengebiet durchſchnei⸗ det, bei Uebigau, hat F. A. Wagner ſchon in den dreißiger Jahren eine Reihe von künſtlichen Pyramiden und Hügeln un— terſucht, in denen er die alten Opferplätze der Semnonen erblickte. Die gefundenen Reſte, Handmühlen, Haferbrod, rohe Urnen u. ſ. w. weiſen zwar auf ein hohes Alter hin, doch iſt der Charakter von Opferplätzen vor der Hand noch nicht feſtgeſtellt.!) Ptolemäus S. 12 u. 13 und durch die ganze Schrift. Die jetzige Grenzlinie zwiſchen Platt- und Hochdeutſch entſpricht jo ziemlich der Scheid- ung zwiſchen Weſtgermanen und Sueben; vgl. Sprachenkarte im Atlas von André— Peſchel, Nr. 10. Miſchungen giebt es natür- lich auch hier. ) Vgl. Dr. F. A. Wagner, Tempel und Pyramiden der Urbewohner des rechten Slbeufers. Auch Voß von Berlin hat dieſe ſetzt ihre Ausbreitung vom Mittellauf der Elbe bis an den Fluß Suebus,!) der ohne Zweifel daſſelbe bedeutet wie Viadrus (Oder). Allein da ihnen von Tacitus hundert Gaue zugeſchrieben werden, wäre ihre da— malige Ausdehnung auch links der Elbe bis an den Rand des Thüringerwaldes ſehr wohl denkbar. Der Name des Fluſſes „Elſter“ links und rechts der Elbe, die Größe des Volkes und ſchließlich des Pto— lemäus ?) silva Semana, UH (oder Ynwevovs) vAn, welche Grimm mit der silva Semnonum identificirt, und die nichts anderes ſein dürfte, als der Nordweſtabhang des Franken- und Thüringerwaldes, ſcheinen dafür zu ſprechen. Nach J. Grimm?) hätten Semnones oder Semni und Semana dieſelbe Wurzel samo, alſo Samen-Männer, erinnernd an das Tacitiſche Wort initia gentis im Cap. 39 der Germania. Zeuß ſtellt Semnönes zum Verbum samanon, samnon d. i. verſammeln, alſo die Verſamm⸗ ler; Haupt deutet das Wort als Feßler, weil ihren Hain nemo nisi vinculo ligatur betreten dürfte. Die Etymologie iſt jedenfalls dunkel, ebenſo die des Wortes Suebi, das von Strabo und Ptolemäus %., Tov Por geſchrieben wird. Die gewöhnliche Erklärung, die auch Zeuß für ſich hat- iſt die vom ahd. suipan, suepen d. i. ſchweben, alſo „die ſchweifenden“; das würde ſtimmen mit ihrer Lebensweiſe, aber Spuren jüngſt unterſucht und in den Ver— handlungen der Berliner Geſellſchaft für Anthropologie darüber berichtet. ) Vgl. Ptolemäus, II. 10 (11) Vellejus, II. 106 mit den Worten: Albim’ qui Semnonum Hermundurorumque fines prae- terfluit iſt unbeſtimmt und oratoriſch zu nehmen. 2) Vgl. Ptolemäus, II. 10 (11). 3) Vgl. Geſchichte der deutſchen Sprache S. 493 — 494. Mehlis, Ueber den Kulturzuſtand der Sueben. 469 nicht mit der nöthigen Differenzirung der deutſche Stammwort eva, é, Eva, welches Namen; ſchweifend waren damals alle Völker des Nordens, und die Sarmaten, ihre Oſt— nachbarn, hatten dieſen Hang noch in ver— ſtärktem Maße. dem Laute nach ginge und am Ende als Schimpfwort (wie Wälſche ꝛc.) zu erklären wäre, das ihnen die Nachbarn beilegten, — wiewohl es mit der Selbſtbenennung und dem Typus des Volkes nicht paßt, — hat Holtzmann's!) Etymologie von vaipjan goth. binden, und einem ſupponirten vaips- nodus, ſowie einem angenommenen su, gr. sö, ſkr. su, wohl (z. B. in SU. 1601) alſo „Männer mit ſchönen Haar— knoten“, wohl die Charakteriſirung der Sueben mit der Haartracht bei Tacitus für ſich. Allein der Sprache und der Hypotheſe wird damit zu viel zugemuthet. Holtzmann ſelbſt erinnert, daß zu einem alten Svaips, o/ s, Suebus, das ſpätere Suäb nicht paſſe. Eine eigenthümliche Ab— leitung giebt J. Grimm?) dem Worte, als deſſen Wurzel er 8 0 ab betrachtet, indem er es mit dem ſlaviſchen Worte suoba, Frei— heit, svobod', frei, identificirt; ebenſo in manchen ſlaviſchen Sprachen auch sloboda, Freiheit. Suebi und Slavi ſei danach in der Bedeutung identiſch und bedeute „Freie“. „Der Name wurde den deutſchen Nachbarn von den Sarmaten im Oſten beigelegt, wie im Weſten von Belgen oder Galliern der Name Germanen.“ Wenn man damit übereinſtimmt, daß den Namen ein Fremder gebe, ſo wird wohl dieſe Erklärung Grim m's die plauſibelſte ſein. W. Scherer?) denkt an das althoch— ) Vgl. Holtzmann, a. a. O., S. 246. 2) J. Grimm, a. a. O., S. 321 — 324. 3) Vgl. Archiv für Geſchichte und Alter— thumskunde von Oberfranken, XII. 2. S. 31. Während die Ableitung von suepjan ſchlafen, alſo „Schläfer“, wohl | Geſetz, Bund, heiliges Recht bedeutet, und erklärt das Wort Soabus oder Suebus da— mit und in Verbindung mit dem Präfix so oder s (auch su, ſskr. su) d. i. wohl als „Wohlverbündete“ oder „Eidgenoſſen“. Die Erklärung Scherer's ſchließt ſich an die von Holtzmann, nur mit einer Mo— dification der zweiten Wurzelſilbe, an. Der Verfaſſer ſelbſt glaubt in der erſten Silbe So oder Su den Namen des Kriegsgottes Tio zu finden, beſonders deshalb, weil die Nachkommen der alten Semnonen, die Suä- ben, Schwaben, ſpäter Zjuavari, ) Ziu- wehren, „die Männer des Zio oder Ziu“ genannt werden. Ihre Hauptſtadt Augs— burg heißt Ziesburg, Burg des Zio, der Dienſtag Ziestag oder Zistag. Der Zio, der Kriegsgott der Germanen, der dritte mit Wodan und Donar im ſpäteren Sy— ſtem, heißt im Norden Tyr, bei den Bay— ern Eru oder Er, bei den Sachſen Heru. Wie es von dem Sachſengotte heißt in den Scholien zu den Corveier Annalen: domi- nator dominantium, ſo auch vom höchſten Suebengotte bei Tacitus: regnator om- nium. In der Wurzel deckt ſich Zio mit Tiu, Tyr (Gen. Ty-s), dem griechiſchen Zeus, dem römiſchen Djus-pater (Ju- piter), dem nordiſchen djaus. Es iſt der Name für den hellen, ſonnenerleuchteten Himmel, der bei den Sueben die modifi- cirte Bedeutung des Kriegsgottes, ähnlich dem griechiſchen Ares, annahm, und deſſen Symbol, wie bei den Skythen, das Schwert war. Sueben wären danach „die Männer des Ziobundes“, daſſelbe, was ſpäter Zju- wari, die „Schwertverbündeten“. 2) 1) Vgl. Simrock, Deutſche Mythologie, S. 271 — 277, und Mehlis, Götterglaube und Nibelungenring, S. 16. ö 2) Die Ableitung wurde zuerſt aufgeſtellt 470 Aus unſerer Deduktion geht jedenfalls das hervor, daß den Sueben, wie ſie bis Beginn des 2. Jahrhunderts n. Chr. er— ſcheinen, das halbnomadiſche Leben, das Schwanken zwiſchen Viehzucht, Jagd, Acker- bau, ferner die kriegeriſchen Gewohnheiten, der Unterſchied zwiſchen Freien und Knechten, die Neigung zur Königsherrſchaft, ein ge— meinſamer Gottesdienſt und ein gemeinſamer Sagen- und Mythenkreis zu eigen war. Mag im Einzelnen ihre kulturelle Stellung noch unſicher ſein, mag man ſtreiten über das Plus und Minus der Handwerkskunſt, über die Art der Leichenbeiſetzung, über die Ableitung ihres Namens: Im Ganzen er— ſcheinen ſie als Repräſentanten einer Kultur von dem Verf. in der oben angegebenen Schrift S. 15 — 18. Bis jetzt hat ſich Niemand da— gegen geſtellt. Es ſpricht für den Ziodienſt im Suebenlande der Fund der eigenthüm— Mehlis, Ueber den Kulturzuſtand der Sueben. von primitivem, aber nicht rohem Zuſtande. Es iſt ein gut angelegtes, muskelgewaltiges Naturvolk, das ſich uns in dieſen Sueben repräſentirt, welche nach drei Jahrhunderten die Römerwelt in Stücke ſchlugen. Wenn wir ſchließlich in ihrem unausgeprägten Kultur- zuſtand, ihrer Waffenmacht, ihrer Kaſten— neigung, ihrem Lichtdienſt, ihrem Ausſehen ꝛc. die Eigenſchaften der Urarier, die Art der Indogermanen, am Ent ſchiedenſten ausgeprägt ſehen, wenn wir darin das Grundelement erblicken, von dem aus ſich Griechen und Römer, Kelten und Slaven entwickelten, ſo werden wir im Ganzen kaum gegen die Sätze der ver— gleichenden Völkerwiſſenſchaft verſtoßen. lichen Bronzeobjekte in Oſtdeutſchland, welche man auf den Ziodienſt bezieht; vgl. Zeit— ſchrift für Ethnologie, IX. B. S. (35) (39) und S. (473) — (476). IRRE — Neue Beobachtungen an den Sonnenflecken. ie abnorme Witterung des letzten Jah— Sres, welche man mit dem gleichzeitig ſtattfindenden Sonnenflecken-Mini— mum in Verbindung gebracht hatte, veran— laßte in allen Kulturſtaaten eine ungemein vermehrte Theilnahme für dieſe mit den, chemiſchen Prozeſſen auf der Sonnenoberfläche zuſammenhängende Erſcheinung; engliſche Journale vermutheten ſchon, die Thätigkeit der Sonnenoberfläche habe abgenommen und man gehe einer neuen Eiszeit entgegen. Da— zu kam die vor wenigen Jahren veröffent— lichte Unterſuchung des Direktors vom in— diſchen ſtatiſtiſchen Amte, Hunter, nach welcher Mißwachs und Hungersnoth gewöhn— lich mit den Jahren der Fleckenminima zu— ſammenfallen ſollten, was eine lebhafte Dis— cuſſion und eine Reviſion der Akten über Zuſammenfallen einer Periodicität der Hitze, Dürre, Regenmengen, Stürme, Hagel, Gewitter, Erdbeben, Heuſchreckenſchwärme u. ſ. w. mit dem Minimum hervorrief. Dieſe Berechnungen ſind ſehr vager Natur, da die Sonnenfleckenperiode zwar zu elf Jahren angenommen wird, in Wirklichkeit aber zwi— ſchen ſieben bis fünfzehn Jahren ſchwankt, Kleinere Mittheilungen und Journallchau. und da Dürre und Feuchtigkeit jo relativ ſind, daß ſchon im kleinen Europa in dieſem Punkte der letzte Sommer die größten Ver— ſchiedenheiten dargeboten hat, im Süden die größte Hitze und Dürre, im Norden eine empfindliche Kühle und Feuchtigkeit. Gleichwohl fiel Vielen ein Stein vom Herzen, als Prof. Piazzi-Smyth das Erſcheinen der erſten größern Sonnenflecken vor einem halben Jahre telegraphiſch meldete, und bald auch Prof. Tacchini aus Pa— lermo eine entſchiedene Zunahme der Sonnen— thätigkeit ſignaliſirte. Da man die Sonnen— flecken-Periode vielfach mit der elfjährigen Umlaufszeit des Jupiter in Verbindung ge— bracht hat, jo iſt die Thatſache von großem Intereſſe, daß mit dem Beginn der Sonnen— thätigkeit im Juni vorigen Jahres auf dem Jupiter ein lebhaft rother elliptiſcher Fleck erſchien, der unter Anderen von Lohſe in Berlin und Bredichin in Moskau beob— achtet wurde und, von weißen, ſehr glänzen— den Fackeln umſäumt, mehrere Monate hin— durch den Umläufen folgend, deutlich ſicht— bar blieb, und eine ſtarke Reaktion auf dieſem Planeten anzuzeigen ſchien, die ſich allmählich verringerte. Weitere wichtige Beobachtungen über die relative Lage der Sonnenflecken in den Maxi— mum⸗- und Minimum-Perioden find in jüng— ſter Zeit von Spörer in Potsdam an— Er en Be ee ent BY 472 Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. geſtellt worden. „Bekanntlich“, ſagt Spörer (Aſtronomiſche Nachrichten Nr. 2282), „hat zuerſt Carrington darauf aufmerkſam gemacht, daß vor dem Minimum 1855/56 auf beiden Halbkugeln ſich die Flecken dem Aequator genähert hatten, dann aber die neuen Fleckenſchaaren in hohen Breiten be— gannen. Nach meinen Beobachtungen konnte ich dann (ſeit 1861) verfolgen, wie dieſe Fleckenſchaaren dem Aequator näherrückten, und wie nach dem Minimum des Jahres 1867 ein gleiches Verhalten eintrat. Es ſind aber zur Zeit eines Minimums die alten Fleckenſchaaren zu trennen von den neuen Fleckenſchaaren. Für jede der beiden Fleckenſchaaren habe ich die Curve der mitt— leren heliographiſchen Breite berechnet, gel— tend für die vereinigten Halbkugeln, und das folgende Reſultat erhalten. . . . Beide Curven liefern übereinſtimmend das Breiten-Mini— mum — 8,72“ und 17° als mittlere helio— graphiſche Breite zur Zeit des Flecken-Maxi— mums, das heißt, zu dieſer Zeit wäre eine aus höhern Breiten kommende Bewegung auf beiden Halbkugeln ſo weit fortgeſchritten, daß ihr mittlerer Parallelkreis in 170 Breite läge. Indem dann die Bewegung weiter fortſchreitet und jene mittleren Parallelkreiſe der Halbkugeln einander näherrücken, ent— ſtände in irgend welcher Weiſe eine gegen— ſeitige Einwirkung, wodurch verhindert wird, daß die mittlere Parallele der Bewegung auf beiden Halbkugeln das gefundene Brei— ten⸗Minimum = 8, 70 überſchreitet; viel- mehr träte dann eine Art Rückſtauung ein, mit welcher die Bewegung ihr Ende erreicht. Soviel wäre vorläufig aus den Formeln zu entnehmen. Die genauere Erforſchung dieſer überaus wichtigen Beziehungen wird erſt nach langer Zeit möglich ſein. Man könnte wohl zweifelhaft fein, ob die Verhältniſſe, welche in dem Gange der mittleren helio— graphiſchen Breiten ihren Ausdruck fänden, nur zufällig dieſe beide Male ſtattgefunden haben, oder ob darin ein beſtimmtes Geſetz ent— halten iſt. Indeſſen iſt wohl ſchon dadurch jeder Zweifel gehoben, daß die obigen beiden Breitenformeln eine Uebereinſtimmung des Coöfficienten zeigen, .. . . die kaum denk— bar iſt, ohne ſichere geſetzmäßige Grundlage.“ Aehnliche Geſetzmäßigkeiten glaubt Prof. Tacchini auch in der chemiſchen Beſchaffen— heit der die Flecken erzeugenden Protube— ranzen in ſeinen von 1871 bis jetzt fort— geſetzten ſpektroſkopiſchen Beobachtungen er— kannt zu haben. Hiernach traten nämlich die metalliſchen Eruptionen zur Zeit der größten Sonnenthätigkeit ſehr häufig am Aequator auf, und erſtreckten ſich außer— dem bis in die Nähe des Nordpols, während ſie in den Südpolargegenden gänzlich fehlten; zur Zeit des Minimums befolgten ſie ein anderes Geſetz als die Protuberanzen, in— 855 ſie ſich auf ganz wenige Objekte in der Nähe des Sonnen-Aequators beſchränkten. Die Spektrallinie b (Magneſium) und die Kirchhoff'ſche Linie 1474 (welche dem Eiſen angehört) werden zur Zeit des Mapi— mums auf dem ganzen Sonnenrand ſehr oft und zwar mit großer Intenſität umge— kehrt, während beim Minimum die Um— kehrung ſelten ſtattfindet, und nur die Linie 1474 manchmal am ganzen Rande ſichtbar iſt. Der Urſprung der Feuerſteine. In der Verſammlung der Londoner Geologiſchen Geſellſchaft vom 19. December 1879 las Dr. Wallich einen Beitrag zur Löſung jener berühmten Frage, den Urſprung und die Bildungsart der Feuerſteine be— treffend, aus denen der vorhiſtoriſche Menſch ſeine Waffen, und unſere Vorfahren ihre Feuerzeuge und Flintenſchlöſſer fertigten. Sie kommen bekanntlich am maſſenhafteſten in gewiſſen Theilen der Kreideformation vor, und in den pittoresken Kreidefelſen an den Küſten der Inſel Rügen ſieht man ſie, beiſpielsweiſe bei Stubbenkammer, an der Bruſt der Felſen geſtreckte ſchwarze Streifen und Neſter bilden, in denſelben wagerechten Parallellinien, welche die urſprüngliche wech— ſelweiſe Ablagerung mit Kreideſchutt wie auf einem geologiſchen Querſchnitt zeigen. Wie dies freilich längſt auch von anderer Seite geſchehen, ſieht auch Wallich Kieſel— ſchwämme der Tiefſee, die ſich auf dem Kalkboden anſiedeln, als die Kieſelſäure— Gallerte ausſcheidenden Organismen an, welche die Feuerſteine erzeugten, und ſtellt darüber folgende Sätze auf: 1) Die Kieſel— ſäure der Feuerſteine ſtammt hauptſächlich von den Schwamm-Betten und Feldern, welche in ungeheurer Maſſe auf dem von Globi— gerinen-Schlamm bedeckten Meeresboden aus- gebreitet ſind. 2) Die mit protoplasmatiſcher Materie umgebenen Tiefſeeſchwämme ſtellen bei Weitem den wichtigſten und weſentlichſten Faktor bei der Bildung und Schichtung der Feuerſteine dar. Doch mögen auch kieſelſäure— ſchalige Protozoen (die an der Meeresober— fläche leben) dazu beiſteuern, indem ihre Skelette nach dem Abſterben niederſinken. 3) Nahezu die Geſammtheit des kohlen— ſauren Kalkes ſtammt theils von Foramini— feren und andern Organismen her, die in dem Becken gelebt haben und geſtorben ſind, theils von ſolchen, die erſt nach ihrem Tode hineingeſchwemmt wurden und die Kalk— ſchicht aufbauen halfen, welche die Kieſel— maſſen nach und nach einhüllte. 4) die Feuer⸗ ſteine ſind alſo ebenſowohl eine organiſche Bildung, wie der Kalk ſelbſt. 5) Die Schicht— ung und Streifenbildung der Feuerſteine iſt die unmittelbare Folge des auf die je— Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 473 weilige Oberfläche der Schlammabſätze be— ſchränkten niederſten Lebens. 6) Die Sub- ſtanz, welche den Namen Bathybius erhielt und für ein unabhängig lebendes Moner angeſehen wurde, iſt in Wirklichkeit Schwamm -Protoplasma (2 Red.). 7) Zwi- ſchen der Kreide und dem Kalkſchlamm der atlantiſchen Tiefſee exiſtirt kein durchgreifen— der lithologiſcher Unterſchied, und dieſer Kalk— ſchlamm iſt aller Wahrſcheinlichkeit nach eine Fortſetzung der Kreideformation. Tabak und Hummeln. Die Gattung Nicotiana (Tabak) wird von Aſa Gray in zwei Untergattungen eingetheilt: Tabacum und Nicotia, von denen beſonders die letztere ſehr reich an Arten und Formen iſt. Nach den Blumen laſſen ſich unter den Nicotien zwei Gruppen unter— ſcheiden; nämlich erſtens Chlorotabacum mit ſchmalem Kronenſaum und grünen Blumen, zweitens Petuniopsis mit breitem, weißem Kronenſaum. Alle Nicotien ſind Nacht— blüthler; bei Chlorotabacum wird offenbar gar kein Werth auf die Blüthenfarbe gelegt, bei Petuniopsis find die Blüthen bei hellem Tageslicht geſchloſſen, während ſie ſich gegen Abend öffnen und in der Dämmerung, ſo— wie bei Mondſchein, durch ihre weiße Färb— ung ſehr auffallen. Dieſem Verhalten ent— ſprechend, habe ich an den Blüthen meiner kultivirten Nicotianen häufig Abendfalter, aber bis zum Jahre 1879 niemals größere, während des Tages fliegende Inſekten be— merkt. Thrips und ähnliche kleine Inſekten werden in ziemlicher Menge von den dicht mit klebrigen Drüſenhaaren bedeckten Stengeln und Kelchen mancher Nicotianen gefangen vielleicht könnte man die betreffenden Arten mit Recht zu den inſektivoren zählen. En 2 er ey 474 Im Sommer 1879 erzog ich mir eine größere Anzahl von Baſtarden aus N. ru stica und N. paniculata. Ich pflanzte ſie an verſchiedene Stellen meines Gartens in Bremen und meines elterlichen Gartens zu Oslebshauſen, der 7— 8 Kilometer entfernt liegt. Eines Tages bemerkte ich zu Oslebs— hauſen eine Anzahl Hummeln — ſie wurden mir als Bombus lapidarius beſtimmt — an den Blüthen einer iſolirten Pflanzung des Baſtardtabaks. Sie waren eifrig be— ſchäftigt, Honig durch Einbruch zu gewinnen. Die daneben wachſende N. xustica beſuchten ſie nicht. Ich ging ſofort zu den übrigen Pflanzungen meines Baſtards, die in einem andern Theile des Gartens einige hundert Schritt entfernt und durch ein Gehölz ge— trennt lagen. Ich fand die Blumen un— verſehrt. Drei bis vier Wochen lang wurde nur die eine Pflanzung von den Hummeln beſucht; viele hundert, ja tauſende von Blüthen zeigten faſt ausnahmslos ein Loch am Grunde der Röhre. Obgleich die näm— liche Hummelart in dem andern Theile des Gartens häufig andere Blumen beſuchte, ließ ſie die Tabakpflanzen dort unbeachtet. Erſt nach Monatsfriſt fingen die Hummeln an, auch dieſe auszunutzen. Es fanden ſich in dieſem Theile des Gartens zwei größere Pflanzungen des Baſtardtabaks, etwa 80 Schritt von einander entfernt; die eine von dieſen Pflanzungen wurde von den Hummeln etwa acht Tage eher entdeckt als die andere. Von dem Augenblicke an, wo ich an einer Pflanzung eine ſammelnde Hummel oder eine angebiſſene Blüthe antraf, fand eine regelrechte Ausnutzung der ganzen Pflanzung ſtatt; von den ſehr zahlreichen Blüthen werden kaum einzelne unverſehrt geblieben ſein. — Die Baſtardtabake in meinem Garten in der Stadt Bremen blieben von den Hummeln verſchont. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Die Stammarten des hybriden Tabaks gehören beide zu den grünblüthigen Arten (Chlorotabaeum). Die N. rustica hat eine kurze, weite Kronröhre, welche, wie ich glaube, einer Hummel ſehr wohl das Eindringen von oben her geſtatten würde. Ich habe aber nie geſehen, daß ein derartiges Inſekt ſich mit dieſen Blumen beſchäftigt hätte. Die andere Stammart, N. pani- culata, hat eiue viel engere und längere Kronröhre, welche offenbar nur für Schmet— terlinge zugänglich iſt. Hummeln würden von dieſer Art nur durch Einbruch Honig gewinnen können. Ich habe nicht geſehen, daß ſie es gethan haben, doch habe ich die N. paniculata im Jahre 1879 nur in wenigen Exemplaren cultivirt. Der Baftard- tabak ſcheint honigreicher zu ſein als beide Stammarten, da er auch von den Abend— faltern viel mehr beſucht wird. Der Baſtardtabak war für die Hum- meln eine völlig neue Pflanze, die ſie an einer beſtimmten Stelle für ihre Zwecke verwerthen lernten. Es iſt wohl wahr— ſcheinlich, daß eine Hummel, welche die Pflanze bereits an dem erſten Orte kennen gelernt hatte, die zweite Stelle aufgefunden hat. Die Hummeln meines Stadtgartens haben die Entdeckung, daß ſich aus dem Baſtardtabak durch Einbruch Honig ge— winnen läßt, noch nicht gemacht. Bremen. W. O. Focke. Die Entwickelung der Aufler. Der allgemein angenommenen Meinung gemäß werden die Eier der Auſtern inner— halb der Schale der Mutter befruchtet und die Jungen in der Mantelhöhle ſo lange behütet, bis ſie mit eigenen Schalen ver— ſehen ſind. Sie verlaſſen angeblich die Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. Mutter erſt in einem mäßig fortgeſchrittenen Entwickelungsſtadium, und die Periode ihres freien Umherſchwimmens währe ſehr kurz. W. K. Brooks hat nun feſtſtellen können, daß bei den amerikaniſchen Auſtern die Dinge ſehr verſchieden hiervon vor ſich gehen. Da es ſich ergab, das keine jungen Auſtern in den Mantelhöhlen der Eltern, zu finden waren, verſuchte er eine künſtliche Befruchtung der den Ovarien entnommenen Eier und hatte einen vollkommenen Erfolg, indem er Mil— lionen junger Auſtern erzielte und ſie durch ſämmtliche Entwickelungsſtadien bis zu dem Zeitpunkte erziehen konnte, in welchem ſie alle charakteriſtiſche Eigenthümlichkeiten zeigten, welche Salensky, Lacaze-Duthiers, Möbius und Andre an der jungen euro— päiſchen Auſter von dem Zeitpunkte be— ſchrieben haben, in welchem ſie die Mutter verlaſſen. Andrerſeits fand er niemals junge Auſtern in der Mantelhöhle einer Erwach— ſenen, obgleich nach dem Zuſtande der Ovarien bei den unterſuchten Individuen dieſelben offenbar im Laichen begriffen waren. Als die allgemeinen Ergebniſſe ſeiner Unterſuch— ung ſtellt Brooks vorläuſig folgende Sätze hin: 1) Die Auſter iſt praktiſch*) einge— ſchlechtlich, denn zur Brutzeit enthält jedes Individuum ausſchließlich entweder Eier, oder Samenfäden. 2) Die Eifurchung geht ſehr ſchnell vor ſich. 3) Die Eifurchung iſt nach ungefähr zwei Stunden beendet, und läßt eine Gaſtrula mit Hautblatt, Magenblatt, Verdauungs- ) Theoretiſch ift das Thier hermaphro— ditiſch, aber in der Regel erzeugen nur die männlichen oder die weiblichen Drüſenſäckchen Keimzellen, ein Wink, wie man ſich den Vorgang der Geſchlechtertrennung in der Natur vorzuſtellen hat! 475 höhle und Urmund, ſowie mit einem Wim— perkreiſe oder Segel hervorgehen. In dieſem Entwickelungsſtadium drängen ſich die Em— bryonen nach der Oberfläche des Waſſers und bilden daſelbſt eine etwas weniger als einen viertel Zoll dicke Schicht. 4) Der Urmund ſchließt ſich, das Magen— blatt ſondert ſich völlig vom Hautblatt, und die beiden Schalen werden, von einander ge— trennt, an den Seiten der durch Schließung des Urmundes entſtandenen Furche angelegt. 5) Die Verdauungshöhle erweitert ſich und bekommt Wimpern und der Nachmund ſenkt ſich als eine Faltung des Hautblattes an einem Punkte ein, welcher direkt der Lage des Urmundes entgegengeſetzt iſt. Der After beginnt ſich dicht neben dem Munde anzudeuten. 6) Die Embryonen zerſtreuen ſich in verſchiedene Tiefen und ſchwimmen durch die Thätigkeit der Wimpern oder des ſo— genannten Segels umher. Die Schalen wachſen über Verdauungsorgane und Segel herunter und der Embryo nimmt eine ver— ſchiedenen marinen Blattkiemer-Embryonen, die man an der Meeresoberfläche mit dem Schöpfnetze fängt, ſo ähnliche Geſtalt an, daß es nicht möglich wäre, ſie als junge Auſtern zu beſtimmen, ohne ſie aus Eiern gezogen zu haben. Die älteſten unter denen, die es ihm gelang, im Aquarium zu erziehen, waren genau den Embryonen von Cardium gleich, wie ſie Loven abgebildet hat. 7) Die Ovarien von Auſtern, welche weniger als anderthalb Zoll lang und wahr— ſcheinlich nicht älter als ein Jahr waren, lieferten, mit Samenflüſſigkeit von Männchen derſelben Größe befruchtet, eine normale Brutentwickelung. Ein illuſtrirter Bericht über dieſe höchſt intereſſanten Unterſuchungen wird in dem Report of the Maryland Fish Commis- Kosmos, III. Jahrg. Heft 12. 62 476 sion for 1879 erſcheinen. (American Journal of Science and Arts, Decem- ber 1879). Die Mofafaurier. Von dieſen ſchlankgebauten und mitunter ſchlangenartig verlängerten, bis achtzig Fuß langen Waſſerſauriern der Sekundärzeit, die nach dem im Petersberg bei Maſtricht ge— fundenen Maasſaurier (Mosasaurus) be⸗ nannt worden ſind, war bisher nur wenig Zuverläſſiges in Bezug auf ihre allgemeine Organiſation und Stellung unter den Sau— riern bekannt. Man glaubte, ſie hätten nur ganz kurze ruderförmige Vorderfüße, aber keine Hinterfüße gehabt, und auch der zu— geſpitzte Schädel habe Schlangencharaktere dargeboten, indem der Schlund in Folge einer beſondern beweglichen Einlenkungsart der Kiefer) gleich dem Schlunde der Rie— ſenſchlangen ungeheuer große Beuteſtücke habe hinunterwürgen können, wie denn auch der Gaumen ähnlich wie bei vielen Schlangen mit innern Zähnen beſetzt geweſen iſt. In⸗ zwiſchen iſt unſere Kenntniß dieſer Thiere ſehr erweitert worden durch eine von Prof. Marſh im Januarheft des American Journal of Science (Vol. XIX S. 83. und von verlängerter Geſtalt, nahezu oder 1880) enthaltene Abhandlung, aus der wir das Folgende entnehmen. Die Moſaſaurier ſind in Europa ſo ſelten, daß das von Cuvier beſchriebene typiſche Exemplar (Mosasaurus) noch immer das vollſtändigſte bisher daſelbſt entdeckte und das einzige, von welchem wichtige Charaktere haben feſtgeſtellt werden können, geblieben iſt. In Nordamerika hingegen erreichte dieſe Thiergruppe eine wunderbare Entwickelung ung Edestosaurus an. Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. zahlreiche Gattungen und Arten vertreten. Die Maſſenhaftigkeit der Ueberreſte wird vielleicht am beſten durch die Thatſache illu— ſtrirt, daß das Muſeum des Yale College Ueberreſte von nicht weniger als vierzehn— hundert verſchiedenen Individuen enthält. Bei nicht wenigen derſelben iſt das Skelet nahezu, wenn nicht völlig, vollſtändig, ſo daß jeder Theil feines Aufbaues mit faſt abſo— luter Sicherheit beſtimmt werden kann. Von dieſem Material-Vorrath hat Prof. Marſh nach und nach verſchiedene Charaktere dieſer Reptilien feſtgeſtellt“), und in der vorliegenden Mittheilung werden mehrere andere erörtert, welche der Aufmerkſamkeit früherer Beob— achter entſchlüpft ſind. Der Gegenſtand iſt noch in keiner Weiſe erſchöpft. Von Cope wurde das Fehlen eines Bruſtbeins als einer der wichtigſten Cha- raktere der Moſaſaurier hingeftellt **), und dieſe Angabe iſt von mehreren Autoren an- genommen worden. Verſchiedene Exemplare des Yale-Muſeums beweiſen das Gegentheil und zeigen das Vorhandenſein eines Bruft- beins in der ganzen Gruppe an. Die voll— ſtändigſten Exemplare von erhaltenen Bruft- beinen der Moſaſaurier gehören der Gatt— (Siehe Fig. 1.) Das Bruftbein iſt bei dieſer Gattung ſchmal gänzlich ſymmetriſch. Es iſt dünn, nach oben leicht concav und nach unten convex. Seine Vorderſeitenränder ſind kurz und abgerundet und haben deutliche Gruben für die Raben— und war durch verſchiedene Familien und | ) Kosmos, Bd. II. S, 332 ff. beine. Die Rippenränder ſind viel länger und convergiren nach hinten. Jedes hat Facetten für fünf Bruſtbeinrippen und hinter denſelben wurden falſche Rippen durch einen *) American Journal of Seience Vol. 1. S. 447 (1871) Vol. III. S. 448 (1872). ) Cope, Vertebrata of the Cretaceous S. 114 (1878). A. theilweiſe verknöcherten Stiel geſtützt, welcher dem Ende des Bruſtbeins verbunden war. Die Verknöcherung des Bruſtbeins geſchah durch Endostoſis. Bei den andern Moſa— ſaurier-Gattungen iſt das Bruſtbein bisher nicht ſo wohl erhalten gefunden worden, wie Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. 477 bei Edestosaurus; es kann vernunftgemäß kein Zweifel an ſeinem Vorhandenſein auf— tauchen. Bei Holosaurus ſcheint ein theil— weis verknöchertes Meſoſternum vorhanden geweſen zu ſein. ö Die Vorderglieder von Edesto— saurus waren bisher nur theilweiſe bekannt. Die allgemeine Bildung dieſer Glieder gleicht dem Typus der Cetaceen. bein iſt ſehr kurz und das Speichenbein iſt größer als das Ellenbein. Ferner ſind ſieben ausgeſpreizte Finger von mäßiger Länge vor— handen. In Fig. 1 find die ähnlichen Vor— abgebildet (das fehlende Bruſtbein iſt nach BR. Das Oberarm— | deutliche Handwurzelknochen und fünf ſtark derfüße nebſt Bruſtgürtel von Lestosaurus Fig. 1. Schultergürtel und Vorderglieder von Lestosaurus simus Marsh von unten geſehen; ein Sechzehntel der natürlichen Größe. se Schulterblatt, e Rabenbein (st Bruſtbein von Edestosaurus zur Ergänzung), h Ober— armbein, r Speichenbein, u Ellenbein, me Mittelhandknochen, I u. V erfter und fünfter Finger. Fig. 2. Beckengürtel und Hinterglieder von Lestosaurus simus Marsh von unten gejehen ; ein Zwölftel der natürlichen Größe. il Darmbein, pb Schambein, is Sitzbein, k Oberſchenkelbein, t Schienbein, k Wadenbein, - mt Mittelfußknochen. ' Edestosaurus im Umriß ergänzt). Bei | diefer Gattung find nur vier Handwurzel— knochen (gegen ſieben bei Edestosaurus vorhandenen) gefunden worden. Es ſind fünf Zehen ausgebildet, länger, aber weniger auseinander gebreitet als bei Edestosaurus. Bei Tylosaurus iſt das Oberarmbein, der Vorderarm und die ganze Ruderpfote viel länger als bei den ebengenannten Gatt— ungen, und die Zehen waren weniger aus— gebreitet. Die Zahl der Phalangen war 478 viel größer, beſonders in der vierten und fünften. Seit Prof. Marſh die hintern Glied— maßen bei verſchiedenen Moſaſaurier-Gatt⸗ ungen entdeckt und ſammt dem Beckengürtel abgebildet hat, iſt wenig in dieſer Richtung zu unſrer Kenntniß hinzugefügt worden. In Fig. 2 iſt der vollſtändige Beckengürtel mit den Hinterſchaufeln von Lestosaurus dar- geſtellt, die letzteren beinahe in der Lage, in welcher ſie gefunden wurden. g Sie ſind beträchlich kleiner als die Bor- derſchaufeln, aber ſehr ähnlich in der all— gemeinen Form und in den Verhältniſſen. Der Oberſchenkelknochen iſt ſchlanker als das Oberarmbein und es ſind nur drei Fuß— wurzelknochen, alle an der äußern oder Wa— | denbeinſeite, vorhanden. Die fünf Zehen find wohl entwickelt. — Bei Tylosaurus find ebenfalls die Hinterbeine kleiner als die vor— dern, aber in ihrem Baue ſonſt ſehr ähnlich. Alle Gattungen der Moſaſaurier -Gruppe beſitzen einen wohl entwickelten Beckengürtel und funktionirende Hinterglieder. Zungenbeinknochen ſind bisher nicht bei Moſaſauriern beobachtet worden, allein ſie wurden bei Tylosaurus und Lestosaurus von Marſh gefunden und abgebildet. Bei den Gattungen Lestosaurus und Tylosaurus war die Augenhöhle durch einen Ring von Knochenplatten beſchützt, der in manchen Stücken demjenigen des Ichthyo- saurus und einiger weniger lebenden Vögel glich. Dieſer Ring war aus einer einzigen Reihe von Knochenplatten, welche übereinander weggriffen (overlapped each other), ge- bildet. Dieſe Platten ſind nahezu rechteckig von Geſtalt, etwas gebogen, die äußeren Ränder verdickt, die inneren dünn und ſcharf. Man muß dieſe Augenring-Platten wohl unterſcheiden von den Hautſchildern, F — m ————ͤ Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. welche dieſe Saurier am Kopfe und am Leibe trugen; letztere waren viel kleiner, von Form mehr rhombiſch, aber im Uebrigen bei den einzelnen Arten verſchieden. Der Theil im Reptilienſchädel, welchen Cuvier den Querknochen und Owen das Ectopterygoid genannt hat, iſt bisher nicht bei den Moſaſauriern beobachtet worden, aber bei Tylosaurus, Lestosaurus und Edentosaurus vorhanden. Bei der erſten dieſer Gattungen iſt es ein L-fürmiger Knochen, dünn und etwas gedreht (twisted). Der eine Zweig vereinigt ſich durch eine Nath mit dem entſprechenden Fortſatz der Pterygoid-Knochen und der andere erſtreckt ſich im nahezu rechten Winkel vorwärts, um ſich mit dem hinteren Ende des Kinnbacken— knochens zu verbinden. In Bezug auf die Pterygoid-Knochen fand bisher einige Ungewißheit ſtatt. Verſchiedene Stücke des Yale-Muſeums zeigen indeſſen endgültig, daß die zahntragenden Knochen des Gaumens verſchiedener Moſaſaurier— Arten nach hinten mit den Quadratbeinen durch Ligamente verbunden waren, ebenfo mit den unteren Pterygoid-Fortſätzen, und den wahren Gaumenbeinen durch Schuppen— nath. Cope hat dieſe zahntragenden Knochen Gaumenbeine genannt und geſagt, daß ſie von den Quadratbeinen durch Zwiſchen— knochen getrennt ſeien, aber er befand ſich nach beiden Richtungen hin im Irrthum. Die wahren Gaumenbeine ſind kleine, zahn— loſe Knochen gegenüber und außerhalb der Flügelbeine. Sie trennen die letzteren von den ſchlanken, deutlichen Pflugſcharbeinen. Bei keiner dieſer Arten waren die Flügel— beine durch Nath in der Mittellinie ver— einigt, ſondern mehr oder weniger weit von einander getrennt. Die neuen, eben dar— gelegten Charaktere ſind ſämmtlich viel mehr Eidechſen- als Schlangen-Charaktere, und Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. die Moſaſaurier ſind daher als eine Unter— abtheilung der Eidechſen aufzufaſſen. (Cope hatte wegen der Länge des Körpers dieſer ſchlanken Waſſerſaurier, der Kürze der Ruderfüße und wegen mancher Eigenthümlichkeiten des Schädelbaues ge— glaubt, daß dieſe Thiere, für die er den Namen Rieſenſchlinger [Pythonomorphen] 479 vielleicht deren Ahnen geweſen wären, und er hatte die eine Art, deren Schädel wir hier abbilden, demnach Clidastes propython genannt. Dieſe muthmaßliche Verwandtſchaft, über die der Leſer im zweiten Bande des Kosmos S. 332 Näheres findet, wäre mithin nach den neueren Unterſuchungen von Marſh ſehr problematiſch.) vorſchlug, den Schlangen nahe ſtünden, ja Fig. 3. Schädel von Clidastes propython aus der Kreide von Alabama. Marſh beſchreibt in demſelben Aufſatz noch eine neue, Lestosaurus naheſtehende Art und Gattung (Holosaurus abruptus), welche ihren Beinamen davon erhielt, daß | ! daß das Einathmen ſehr geringer Mengen des bekanntlich aus dem Kartoffelfuſelöle gewonnenen Amylnitrits das Antlitz alsbald in Purpurgluth taucht und die Anzahl der der Kopf nicht wie bei den meiſten Familien- verwandten zugeſpitzt, ſondern ſammt dem | Schwanz ſtumpf abgeftugt erſcheinen. Dieſe nur ungefähr 20 Fuß lange Art wurde von S. W. Whilliſton in der gelben Kreide von Kanſas gefunden und dem Hale Muſeum übergeben. Die Analogie der Amylnitrit- Wirkung mit den Vorgängen des f n die künſtlich herbeigeführte Röthe nur ſelten Beſchämtſeins. Im Jahre 1859 hatte ein Selbſtbeob— achter (Guthrie) die Wahrnehmung gemacht, Herzſchläge bei Thieren und Menſchen ſchon nach einem dreißig Sekunden fortgeſetzten Riechen an dieſer Flüſſigkeit verdoppelt. Darwin wies ſodann in ſeinem Buche über den Ausdruck der Gemüthsbewegungen (1872) auf den merkwürdigen Umſtand hin, daß dieſe künſtlichen Blutwallungen mancher— | lei tiefere Aehnlichkeiten mit der durch gei— ſtige Vorgänge hervorgerufenen Scham bieten, daß ſich unter andern Uebereinſtimmungen über den bei der natürlichen Scham er— röthenden oberen Theil der Büſte ausbreitet, und daß auch die das Verſchämtſein be— [ Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. gleitende geiſtige Verwirrung nicht fehlt. Verſtändniß dafür zu erleichtern, wie ſich Nachdem ſich mehrere andere Beobachter mit dieſer intereſſanten Unterſuchung beſchäftigt hatten, wies namentlich der Profeſſor Dr. Wilhelm Filehne in Erlangen nach, daß die Analogie der Wirkung ſich bis auf die geringſten Einzelnheiten erſtreckt und daß ſich namentlich auch das Herzklopfen und die beſchleunigte Athmung, die der natürlichen Scham eigen find, beim Einathmen dieſer Aetherart einſtellen. beſchleunigte Herzthätigkeit durch die Auf— hebung des regulirenden Einfluſſes der Er fand, daß dieſe bei den Menſchen im Verlaufe ihrer Ver— edelung jener eigenthümliche Verräther ihrer inneren Empfindung mit all feinen Begleit- erſcheinungen hat herausbilden können.“ In neueſter Zeit hat Prof. Filehne dieſe Beobachtungsreihe wieder aufgenom— men und zwar namentlich zu dem Zwecke, um den organiſchen Zuſammenhang der einzelnen Symptome, aus denen ſich die künſtliche und natürliche Scham zuſammen⸗ ſetzen, zu ermitteln. Am Schluſſe der aus- führlichen Darſtellung feiner Verſuche im Vagus⸗Nerven auf die Gefäße bewirkt wird, die ſich nämlich, von dem beengenden und verengernden Zwange befreit, ſtärker mit Blut füllen, und daß dieſe Aufhebung von den Central-Apparaten im Hirne ausgeht, wodurch der gegenſeitige Einfluß pſychiſcher und vaſomotoriſcher Erregungen noch ver- ſtändlicher wurde. Dr. Filehne knüpfte ſchon damals intereſſante entwickelungsgeſchichtliche Perſpektiven über die Entſtehung der Scham— gefühle an ſeine Unterſuchungen und ſagte am Schluſſe feiner Arbeit“): „Die heran- gezogene Analogie zwiſchen den Wirkungen des Amylnitrits und derjenigen des Be— ſchämtſeins beſeitigt die Vorſtellung, als ob die Fähigkeit, unter Herzklopfen und be— ſchleunigter Athmung zu erröthen, ein Privi— legium des Menſchen wäre; ſie zeigt uns, daß die anderen Säugethiere für gewöhnlich blos deshalb nicht erröthen, weil von ihrer minder entwickelten Pſyche kein Antrieb zur Abſpielung jenes intereſſanten Vorganges gegeben wird; ſchafft man den Antrieb durch Darreichung von Amylnitrit, ſo zeigt es ſich, daß bei den Säugethieren derſelbe nervöſe Mechanismus vorhanden iſt, wie bei uns. Dieſe Betrachtungsweiſe ſcheint mir das ) Pflüger's Archiv für Phyſiologie Bd. IX (1874) S. 470. Archiv für Anatomie und Phyſiologie, (Phyſiologiſche Abtheilung, Heft 5—6 1879) macht er folgenden Verſuch einer einheit- lichen Zuſammenfaſſung, aus der ſich eine einfache und darum überzeugende Theorie der Amylnitrit-Wirkung ergiebt. „Das Amylnitrit hat erſtens“, ſagt er, „eine lähmende Wirkung auf Apparate des Centralnervenſyſtems, und zwar iſt beſonders empfindlich der centrale Vaſomotionsapparat, bei ſtärkerer und längerer Einwirkung wird ſpäter das geſammte Centralnervenſyſtem und das Herz gelähmt; und zweitens hat das Amylnitrit eine eigenthümliche Wirkung auf den Blutfarbſtoff, wobei ein Theil deſ— ſelben vorübergehend für den Blutgaswechſel unbrauchbar gemacht wird; hieraus reſul— tirt eine dyspnoiſche Beſchaffenheit des Blutes. Aus der lähmenden Einwirkung auf die vaſomotoriſchen Centren linsbeſondre auf das ar’ &Eoynv ſogenannte Centrum) erklärt ſich direkt: Erröthen und Blutdruck— ſenkung. In Folge der Druckſenkung tritt auf: Nachlaß des Tonus im Vaguscentrum und dadurch bedingte Zunahme der Puls- frequenz. Aus der dyspnoiſchen Beſchaffenheit des Blutes (welches hierin von der Blut— druckſenkung und der durch dieſe geſetzte Kleinere Mittheilungen und Journ Cirkulationsſtörung unterſtützt wird) erklärt ſich das Auftreten von Beſchleunigung und Vertiefung der Athmung und von (Erſtick— ungs-) Krämpfen. Nachdem im Vorſtehenden das Herz— klopfen, welches das Amylnitrit-Erröthen begleitet (oder ſtreng genommen: etwas ſpäter auftritt als letzteres), nicht als per zifiſche Wirkung des Amylnitrits auf das Folge des Mittels und als direkte Folge der Blutdruckſenkung erwieſen worden iſt, wird es ganz ungezwungen erſcheinen, das Herzklopfen, welches gewiſſe mit Blut- druckſenkung bez. mit Erröthen verbundene alſchau. 481 bisher erſcheinen laſſen, wenn ich, meinen frühern Standpunkt feſthaltend, die am Cirkulationsapparate zu beobachtenden Vor— gänge des Beſchämtſeins für identiſch halte mit denen der Amylnitrit-Wirkung. Da ferner jede ſchnelle Blutdruckſenkung eine Vermehrung der Athmungsarbeit ver- anlaßt und da ein Theil der bei Amyl— nitrit⸗Wirkung zu beobachtenden Athmungs— Vagus⸗Centrum, ſondern als eine indirekte und ſteigerung, wie wir nachgewieſen haben, von der Druckſenkung herrührt, ſo wird die Analogie zwiſchen der Amylnitrit-Wirkung den Vorgängen bei dem Beſchämt— ſein auch für die Athmung aufrecht er— pſychiſche Vorgänge begleitet, ebenfalls da- rauf zurückzuführen, daß in Folge der Blut⸗ druckſenkung die Erregung des Vagus centrums aufhört oder nachläßt. In einer die Vorgänge des Amylnitrits mit denen des Beſchämtſeins in eine ausgeführtere Analogie zu ſetzen, als dies von Ch. Dar— win geſchehen war und ich äußerte mich bei dieſer Gelegenheit folgendermaßen: „Es ſcheint ferner im Hirn eine ganz beſonders enge Verknüpfung zwiſchen dem Vagus— centrum und demjenigen Abſchnitte des va— ſomotoriſchen Centralapparats zu beſtehen, welcher die Gefäße des Kopfes beherrſcht, ſo daß die gleiche Urſache, welche den To— nus des erſteren aufhebt, auch mit Leichtig— keit die Thätigkeit des letzteren ſperrt.“ So ſchwierig der Beweis und die nähere Erforſchung einer derartigen Verknüpfung der beiden Centren von vornherein hätte erſcheinen können, ſo überraſchend einfach und leicht hat ſich der Zuſammenhang der beiden Erſcheinungen — Erröthen und Herzklopfen — ermitteln laſſen. Und die Durchſichtigkeit dieſes Zuſammenhangs halten werden können.“ Die Kulturpflanzen e bee ich birds perl, der alten Trojaner und Peruaner. Der Cuſtos des Berliner landwirth— ſchaftlichen Muſeum's, Dr. L. Wittmack, hat ſich in neuerer Zeit mit der Unter— ſuchung der von Virchow und Schlie— mann im vergangenen Jahre bei ihren Ausgrabungen gefundenen, theilweiſe ver— kohlten, Sämereien beſchäftigt. Es fanden ſich darunter die Erve (Ervum Ervilia L.), Saubohnen und Erbſen, letztere inſofern intereſſant, als nach mehreren Autoren die Erbſen den alten Griechen unbekannt ge— weſen ſein ſollen. Sehr merkwürdig iſt ein daſelbſt gefundener, äußerſt kleinkörniger, | ſehr ſpitzer, ſtark ſeitlich zuſammengedrückter, an der Furchenſeite außerordentlich flacher Hartweizen. Seine Länge beträgt nur 4½— 5 mm., ſelten mehr, die Dicke (von vorn nach hinten) 1½ —1 / mm., die Breite 2½ ſelten nur 2 mm. Die Kör⸗ ner ſind demnach abweichend von den bis— her bekannten und ganz beſonders von den wird es jetzt Manchem weniger gewagt als viel dickbauchigeren der ägyptiſchen Mumien— [ 482 gräber oder der Pfahlbauten. bezeichnet dieſe für das hohe Alter der Schicht ſprechende kleinſte Art von Hartweizen als Triticum durum var. trojanum.“) In den peruaniſchen Gräbern von Wittmack Ancon haben Dr. Reiß und Stüben Bohnen gefunden, welche von Wittmack als Samen von Phaseolus vulgaris L. und Ph. Die beſtehenden Zweifel über die Heimath der Gartenbohne werden dadurch nicht ge— löſt; das Alter der erwähnten Gräber ſcheint nicht ſehr hoch zu ſein. Die Kopfbildung der Brettſchneider. In der Sitzung der Pariſer Anthro— pologiſchen Geſellſchaft vom 22. Januar 1880 legte Prof. Broca im Namen von W. Poncey zwei Zeichnungen vor, welche die Schädel-Deformation der Brettſchneider Kleinere Mittheilungen und Journalſchau. darſtellen, ein Seitenſtück zu der kürzlich ) Als Beiſpiel für die Variationstendenz des Weizens kann eine von dem Afrika— Reiſenden Hildebrandt von ſeiner erſten Reiſe mitgebrachte, wahrſcheinlich in der Nähe des rothen Meeres geſammelte Probe von purpurviolettem Weizen dienen. In— tereſſant iſt dabei, daß der lösliche purpurne Farbſtoff nicht in der Farbſtoffſchicht ſeinen im Kosmos (Bd. VI, S. 143) erwähnten und zur Erklärung des Kamelhöckers ver— wendeten Deformation der Laſtträger. Die Gewohnheit, mit ihrem Kopfe Bohlen von einem oft ſehr beträchtlichen Gewichte zu ſtützen, führt als erſte Wirkung eine Kahl— heit auf dem Scheitel herbei. Später reizen dieſe Laſten die Knochenhaut und erzeugen lunatus L. beſtimmt wurden. eine aus dem Schädel herausragende Knochen— geſchwulſt, eine Art Ueberbein. „ Profeſſor Broca hat einen Brettſchneider, der ſich gerade in ſeinem Dienſt befindet, unterſucht und gefragt, ob dieſe Verletzung innerhalb ſeiner Profeſſion bekannt wäre. Der Be- treffende hat bejahend geantwortet und hin— zugefügt, daß ſie ſich im Alter von vierzig Jahren zu entwickeln pflege. Weitere Un— terſuchungen haben noch nicht daran geknüpft werden können, da die Brettſchneider in Paris ſelten zu werden beginnen. (Revue internationale des Sciences biologiques, Février 1880, p. 181.) Sitz hat, ſondern außerhalb derſelben in den Quer- oder Gürtelzellen der Fruchtſchale, ein bisher noch nie beobachteter Fall. Die Farb— ſchicht iſt gelb, wie gewöhnlich. Leider er— wies ſich dieſe Triticum vulgare var. Hilde- branti getaufte eigenthümliche Weizenart als nicht mehr keimfähig. Titeratur und Kritik. Geſammelte Kleinere Schriften na— turwiſſenſchaftlichen Inhalts von Charles Martins. Autoriſirte Ueber— ſetzung von Stephan Born. Band J. Baſel. Schweighauſer'ſche Verlags-Buch— handlung (Hugo Richter) 1880. 291 S. in 86. 2 s iſt ſelbſtverſtändlich, daß wir einer Sammlung der naturwiſſenſchaft— lichen Schriften des berühmten Bota— > nikers von Montpellier die wärmſten Sympathieen entgegen bringen. War er doch einer der erſten unter den wenigen Gelehr— ten Frankreichs, welche der neueren Ent— wickelungslehre eine günſtige Aufnahme be— reiteten, hat er doch für dieſelbe uner— müdlich durch eigene Arbeiten, Vorträge und Aufſätze in der Revue des deux Mondes, der angeſehenſten Monatsſchrift ſeines Vaterlandes, gewirkt. Während die meiſten franzöſiſchen Biologen ſich durchaus vornehm abſchloſſen und kühl ablehnend verhielten gegen die Lehre, welche auch die Erſcheinungen des pflanzlichen, thieriſchen und menſchlichen Lebens in den Kreis des gro— ßen Ganzen aufnahm, ſah der im Nor— den bis nach Spitzbergen, im Süden zur Sahara und im Oſten bis nach Syrien und Aegypten vorgedrungene Reiſende, mit dem ſo weſentlich erweiterten Horizonte, als— bald die Wahrheit der Abſtammungslehre ein, und ſpürte ihren Conſequenzen in der Thier- und Pflanzen-Geographie der von ihm bereiſten Länder nach. Er erneuerte das Gedächtniß Lamarck's durch Herausgabe ſeiner Werke und durch biographiſche Details, und führte ſeinen Landsleuten (bisher noch ziemlich erfolglos) zu Gemüthe, daß die Descendenz⸗Theorie eigentlich eine nationale Wiſſenſchaft ſei, die von einem franzöſiſchen Forſcher einen der lebhafteſten Impulſe er— halten habe. Alles dies jedoch nicht von einem einſeitig partikulariſtiſchen Standpunkte. Wie nur wenige franzöſiſche Gelehrte zeigt er ſich mit der Literatur des Auslandes, mit der engliſchen, italieniſchen und be— ſonders der deutſchen genau vertraut, und mehr als einmal hat er ſeine Stimme für den internationalen Charakter der Wiſſen— ſchaften erhoben und das friedliche Ringen der Völker um die Palme, in der Unter— ſtützung wiſſenſchaftlicher Geſellſchaften, Tief— ſeeforſchungs-Expeditionen, Nordpolreiſen u. ſ. w. betont. Der vorliegende erſte Band bringt einige unſere Tendenzen auf das Nächſte berüh— rende Abhandlungen. Gleich die erſte der- ſelben: „Werth und Uebereinſtimmung der Beweiſe, auf welchen die Evolu— tionstheorie beruht,“ zeigt ſeine Dar— Kosmos, III. Jahrg. Heft 12. 63 484 ſtellungskraft im glänzendſten Lichte. Ich glaube nicht, daß irgendwem der Verſuch beſſer gelungen iſt, die Convergenz aller Thatſachen zum Beweiſe der Descendenz— Theorie auf einem ſo kleinen Raume ſo überzeugend darzuthun. Die Continuität des Lebens, die paläontologiſchen Beweiſe, die Geographie des Lebens, die Ueber— gangsformen, der ſchwankende Charakter des Artbegriffs, Atavismus, rudimentäre | Organe und Embryologie werden als eben- ſoviele Bundesgenoſſen herbeigezogen, um zu beweiſen, daß heute nicht mehr alle Wege nach Rom, wohl aber alle nach Down führen. Die zweite Abhandlung: „Lamarck, ſein Leben und ſeine Werke“, geht nach einer kurzen Biographie zu einer in— tereſſanten Revue der gleichmäßigen Ver— änderungen über, welche das Waſſer, die Literatur und Kritik. Luft, Licht und Wärme bei Thieren und Pflanzen hervorbringen, wobei viele eigene Beobachtungen des Verfaſſers verwerthet werden. Die merkwürdigſten darunter ſind | die von ihm an der Jussiea repens be obachteten, einer Waſſerpflanze, welche lange Zweige oder Sproſſen hervorbringt, die auf er, „erſchienen ſie den ältern Naturforſchern der Oberfläche von cylindriſchen, ſchwamm— artigen, roſigweißen Körpern gehalten werden, welche die Rolle jener luftgefüllten Blafen reichs gewaltet. Sie ſagten, ſo wie ein auf übernehmen, „die man den Kindern, welche noch nicht ſchwimmen können, unter die Achſelhöhlen bindet. Dieſe Sproſſen ſchmücken ſich mit Blumen, die über dem Waſſer ſich entfalten. Die Körper, welche dieſe blühenden Theile ſtützen, ſind durch die Wirkung des Waſſers umgebildete Wurzeln. Und wirk— lich ſind die auf der trocknen Erde kriechenden Sproſſen mit gewöhnlichen, nachtreibenden in Luftbehälter. Ich habe auf dieſe Weiſe an einem einzigen Schößling Theile er— langt, die abwechſelnd mit dieſen Schein— blaſen verſehen waren oder nicht. Der Stiel ſogar wird manchmal ſchwammig und füllt ſich mit Luft. Im Waſſer ſind die Blätter derſelben Pflanze glatt, verkehrt— eiförmig und erreichen eine Länge von zehn und eine Breite von zwei Centimetern, während ſie auf trocknem, dürrem Boden ſchmal, ſpitz, höchſtens einen Centimeter lang und behaart werden. Dieſe beiden Formen einer und derſelben Pflanze ſind als zwei verſchiedene Pflanzen angeſehen worden. So drängt das Waſſer dem Pflanzen- organismus weitgehende Modificationen auf, die nicht blos in den äußern Formen, ſon— dern in der anatomischen Struktur zur Er- ſcheinung kommen.“ Was uns an dieſen Darſtellungen be- ſonders anzieht, iſt auch die gefällige, für den Franzoſen charakteriſtiſche Art, in welcher er auch die trockneren Gegenſtände abhandelt. Als Beiſpiel hiervon mag die Art dienen, wie er die ältere Auffaſſung der rudimen— tären Organe (S. 81) wiedergiebt. „Wegen Mangel an Gebrauch verkümmert“, ſagt als ebenſoviele Beweiſe der Einheit des Plans, welcher bei Schöpfung des Thier— Harmonie der Formen bedachter Baumeiſter blinde Fenſter anbringe, die ſich zu den wirklichen Fenſtern ſymmetriſch verhalten, oder an den Flügeln des Gebäudes die Motive der Hauptfacade wiederhole, fo offenbare uns der Schöpfer, indem er jene Organe beſtehen laſſe, die Einheit des von ihm befolgten Planes.“ Wurzeln verſehen; wenn aber der Sproß wiederum mit dem Waſſer in Berührung und Atavismus zu beziehen, iſt ſeit jeher kommt, ſo verwandeln ſich dieſe Wurzeln Die Conſtanz feſtgewurzelter menſchlicher Anſchauungen und Sitten auf Erblichkeit ein Lieblingsgedanke franzöſiſcher Natur- forſcher geweſen. „Mehrere an Menſchen und an Thieren gemachte Beobachtungen“, ſagt Laplace (Theorie des probabilités p. 233 ff.), „die man der Wiſſenſchaft zu nahme, daß die Modifikationen des Senſo— riums, denen die Gewohnheit eine lange Dauer gegeben, ſich von den Eltern auf die Kinder wie manche organiſche Anlagen auf dem Wege der Fortpflanzung ver— handlungen begleiten, erklärt auf die einfachſte Weiſe die Herrſchaft, welche Jahrhunderte lang eingewurzelte Gewohnheiten über ein ganzes Volk ausüben, und zugleich die Leich— tigkeit, mit der dieſe auf die Kinder ſich vererben, ſo vernunftwidrig ſie auch ſein, ſo ſehr ſie auch den unverjährbaren Rechten der Menſchennatur widerſprechen mögen.“ Atavismus bezeichneten) erblichen Gewohn— heiten und Neigungen äußert ſich nach La— place in den Sitten der Völker und unterhält den Kampf der getrennten Parteien. „Was „Wunder“, ſetzt Martins hinzu, wenn überzeugt iſt, daß intelligente, redliche und aufrichtige Menſchen aus guter Familie und mit guten Anlagen von ihr nicht ſo weit ſich befreien können, um eine neue, von der Nothwendigkeit gebotene und von der Vernunft gebilligte Ordnung anzunehmen? So haben ſich z. B. in Frankreich ſeit einer Reihe von Generationen die monarchiſchen Ge— wohnheiten und Ideen im Gehirn einer großen Anzahl von Menſchen ſo ſehr feſt— geſetzt, daß ſie mit ihrer Natur verwachſen, ein eingewurzelter und unwiderſtehlicher Inſtinkt geworden ſind, den ich mich nicht ſcheue, mit dem Namen monarchiſcher — —— Literatur und Kritik. Liebe fortſetzen ſollte, drängen zu der An- erben. Eine urſprüngliche Anlage zu allen äußern Bewegungen, welche die Gewohnheits⸗ Der Einfluß dieſer (jetzt mit dem Namen man von der Macht der Gewohnheiten 485 Atavismus zu belegen. Das kritiche, kalte und unparteiiſche Studium der poli— tiſchen und ſocialen Thatſachen kann allein dieſe Plagegeiſter des Atavismus todt machen.“ | Dieſer, wie man ſieht, von Laplace herſtammende und von Lamarck in ähn— lichem Sinne gebrauchte Satz, iſt ſeitdem, nebenbei bemerkt, zu einem Stichwort der republikaniſchen Partei Frankreichs geworden. Vidal, Broca, Quinet haben ihn mit andern Worten wiedergegeben und beſonders treffend Balzac in feinem Buche über die Landleute, wo er jagt: „Historiquement, les paysans sont encore au lendemain de la Jacquerie, leur defaite est restée inserite dans leur cervelle. Ils ne se souviennent plus du fait, il est passe à état d'idée instinctive.“ Martins iſt kein Rufer im Streit, wohl aber ein Sieger auf dem Gebiete der überzeugenden Darſtellung und der Ver— ſöhnung der Parteien. Ein wundervolles Beiſpiel hiervon iſt, wie er (S. 97) die gegen Lamarck gerichtete Beſchuldigung des Materialismus abweiſt. „Materialis— mus, Spiritualismus“, ſagt er, „ſind ſinn— loſe Worte, die es Zeit wäre, aus der ſtrengen Sprache der Wiſſenſchaft zu ver— bannen. Was iſt die Materie? Es iſt unmöglich, ſie zu definiren. Was iſt der Geiſt? Ein andres unlösbares Räthſel. Dieſe Wörter, welche als Ausgangspunkte entgegengeſetzter Doktrinen gelten, erzeugen müßige Diskuſſionen, die zu keinem Ziele führen können. Beobachten, forſchen, ver— gleichen wir: allmählich wird Licht werden, zuerſt über den Erſcheinungen der unor— ganiſchen, dann über denen der lebenden Welt; endlich, doch in einer entfernten Zu— kunft, werden auch die Erſcheinungen der intellektuellen Welt ihre Erklärung finden.“ 486 Der dritte Aufſatz über „die Pflanzen— bevölkerungen“ enthält ſo viele für die Anhänger der Entwickelungstheorie bedeut— ſame Details, daß ſie daraus mehr lernen können, als wenn ſie die vortreffliche, aber von einem entgegengeſetzten Standpunkt ge— ſchriebene Pflanzengeographie Griſebach's trotz ihres zwanzigmal größern Umfangs ſtudieren wollten. Die drei folgenden Auf- ſätze über „die britiſche Geſellſchaft zur Förderung der Wiſſenſchaften,“ über „die Challenger-Expedition“ und „über die Möglichkeit der Erreich— ung des Nordpols“ find ebenfalls von einem fo allgemeinen Intereſſe, daß Jeder— mann die Lektüre derſelben mit Genuß vollen— den wird. Wir empfehlen das Werk unſern Leſern angelegentlichſt. Der Mechanismus der Gebirgs— bildung von Dr. Friedrich Pfaff, Prof. an der Univerſität Erlangen, Hei— delberg, Carl Winter's Univerſitätsbuch⸗ handlung, 1880. 143. S. in 80. Der Verfaſſer dieſes kleinen Buches gehört nicht zu den Geiſtern, die ihre Be— friedigung nur im Aufbau einer Theorie oder Wiſſenſchaft finden, ſondern zu denen, welchen die negirende Thätigkeit, die Kritik fremder Arbeiten, viel mehr zuſagt. Wir wollen bei Leibe nicht behaupten, daß der Cultus der zehnten Muſe, wie Voltaire die heilige Kritik genannt hat, nicht eine ſehr nützliche und verdienſtliche Thätigkeit wäre, nur muß ſie ſich frei halten von aller Vorein— genommenheit und aller Luſt an Nörgeleien, wie wir ſie erſt kürzlich (Kosmos VI. S. 245) dem Verfaſſer dieſes Buches vor— | werfen mußten. In feinem neueſten kri— tiſchen Gange wendet ſich der Verfaſſer gegen die neueren Theorien der Gebirgsbildung dieſe Literatur und Kritik. durch Schrumpfung des erkaltenden flüſſigen Erdinhalts, wie ſie durch Dana, Mallet, Süß und Heim zur Erklärung der eigen— thümlichen Faltungsverhältniſſe aufgeſtellt wurden. So ziemlich leugnet er alles, was modernen Erdgeſchichtsforſcher be— hauptet haben, und zwar größtentheils auf Grund von Verſuchen, die zum Theil in einem ſehr groben Mißverhältniß zu den von ihnen abgeleiteten Schlüſſen ſtehen. Vor allem leugnet er die von Heim vorausge— ſetzte „Plaſtizität“ der Erdrinde unter ſtarkem Druck und zwar namentlich, weil ein Stempel, den er mehrere Wochen unter einem Drucke von 22000 Atmoſphären auf eine Platte von Solenhofer Kalkſtein wirken ließ, keinen Eindruck in denſelben erzeugt habe. Dieſes Experiment wird auf den vorſichtigen Leſer auch gar keinen Eindruck machen, denn offen— bar iſt das tief in der Erde liegende, mit Feuchtigkeit durchdrungene, einer höhern Tem— peratur ausgeſetzte Geſtein ein himmelweit verſchiedenes Ding von ſeinem trocknen Stein, und ein wochenlang fortgeſetzter, ruhiger Druck ein ganz verſchiedenes Agens von dem Jahrtauſende und ruckweiſe wirkenden Seitendrucke der Erdrinde, der hier voraus— geſetzt wird. Auch die übrige Beweis— führung läßt Vieles zu wünſchen übrig; ſo erfahren wir beiſpielsweiſe S. 21, daß feſte Körper durch Druck nicht plaſtiſcher werden können, während der Verfaſſer doch auf der Seite vorher auseinandergeſetzt hat, daß Eis durch Druck plaſtiſch wird. Für ganz verfehlt halten wir ferner die Ueber— treibungen, daß, wenn das Erdinnere plaſtiſch wäre, erſt recht keine Faltungen entſtehen könnten, und daß die Gebirge dann viel— mehr einſinken müßten; daß wir an der Erdoberfläche dann eine tägliche Ebbe und Fluth bemerkten müßten (S. 129) und was ) Kosmos Bd. V. S. 322. =» Literatur und Kritik. dieſer Scherze mehr ſind. Pfaff an eine Plaſticität der Erde, die an eine Syrupsconſiſtenz ihres Innern erinnert, während Heim nur an die Möglichkeit eines Nachgebens, einer langſamen Biegung, dem unwiderſtehlich fortwirkenden Tangential— drucke gegenüber, denkt. Befugniß, hier eine eingehende Kritik ſeiner Kritik geben zu wollen, wir möchten den unbefangenen Leſer nur warnen, dem Ver— faſſer aufs Wort zu glauben. Es wäre ja möglich, daß er in manchen Punkten nicht Unrecht hätte, und daß die Schrumpfungs— theorie auch ihre ſchwachen Seiten hat; ſchlimm iſt nur, daß er uns gar keinen Erſatz dafür bieten kann, denn daß durch Waſſerauslaugung im Erdinnern Gebirgs— erhebungen entſtehen ſollen (S. 124 125), hat er gewiß nicht experimentell nachweiſen können. Hoffentlich werden die Angegriffenen ſelbſt die Haltloſigkeit der Pfaff'ſchen Einwände bald im Specielleren nachweiſen. Drei neue Werke über Inſektenkunde. 1. Prof. Dr. Vitus Graber. Die Inſekten. II. Theil. 2 Hälften. Vergleichende Lebens- und Entwickelungs— geſchichte der Inſekten. Band XXII der Volksbibliothek „Naturkräfte“. München, R. Oldenbourg, 1879. 2. Prof. Dr. E. L. Taſchenberg. Ein⸗ führung in die Inſektenkunde. Bremen, W. Heinſius, 1879. Prof. Dr. E. L. Taſchenberg. Die Käfer und Hautflügler. Eben— daſelbſt 1879. Mit Nr. 1 iſt die ebenſo originelle als werthvolle Arbeit Graber's über Bau und Leben der Inſekten, auf die wir os Offenbar denkt Es iſt nicht unſere 487 ſchon früher empfehlend hingewieſen haben, nunmehr beendet worden. Die zweite Hälfte enthält noch zwei Kapitel zur vergleichenden Lebensgeſchichte der Inſekten, nämlich über Gattungsleben und Zeugung, und eine Be— trachtung über die Inſekten als Naturmacht. Darauf folgt der zweite Abſchnitt, welcher ſich mit der vergleichenden Entwickelungs— geſchichte beſchäftigt und die Entwickelung im Ei, wie nach dem Verlaſſen deſſelben, die hochintereſſante Metamorphoſe, in licht— vollſter Weiſe an zahlreichen, vielfach neuen und eigenen Beobachtungsobjekten ſchildert. In unſerer populären Literatur beſitzen wir nichts Aehnliches, und ich fürchte, in unſerer gelehrten auch nicht, wenn wir nämlich von entwicklungsgeſchichtlichen Monographien ab— ſehen. Das Buch iſt ganz im Sinne der Entwickelungstheorie geſchrieben, und in einigen Schlußkapiteln wird der immenſe Fortſchritt der neueren Naturauffaſſung an Beiſpielen der Inſekten-Metamorphoſe fo greifbar demonſtrirt, daß man die Augen mit Gewalt ſchließen müßte, um ihrer Ueber— zeugungskraft zu widerſtehen. f Der Schritt von Nr. 1 zu Nr. 2 iſt ein gewaltiger, er führt uns aus der Neu— zeit in die erſten Jahrzehnte unſeres Jahr— hunderts zurück, in welchem eine gute Unter— ſcheidungs-Methode, eine treffende Beſchreib— ung für das Endziel und den Gipfel aller Naturforſchung galt. Dabei ſoll nicht in Abrede geſtellt werden, daß Taſchenberg's „Einführung in die Inſektenkunde“ ein in ſeiner Art treffliches Werk ſei, deſſen Studium Jedem anzurathen iſt, der ſich mit der In— ſektenkunde praktiſch beſchäftigen muß, ſei es auch nur aus Nothwehr, wie der Forſt— mann, Landwirth, Gärtner und Gartenlieb— haber. Wer ſeine Feinde bekämpfen will, muß ſie zunächſt kennen lernen, und die Grundlagen der Unterſcheidungskunſt findet er hier in überſichtlicher, klarer und metho— diſcher Anordnung dargelegt. Die „Ein— führung“, obwohl auch als ſelbſtſtändiges Buch daſtehend, bildet zugleich die Einleit— ung und den erſten Theil eines größeren Inſektenwerkes, von welchem Nr. 3 den zweiten, die Käfer und Hautflügler behan— delnden Band bildet. Auch hier machen Art-Unterſcheidung, Nutzen und Schaden und die Vertilgungsmittel die geſammte Materie aus; von den ſo höchſt intereſſanten Beziehungen zwiſchen Inſekten und Blumen, von den geiſtigen Fähigkeiten der Ameiſen, Bienen u. ſ. w. kein Wort. ſammte Werk eine „praktiſche Inſekten— kunde“ werden ſoll, ſo iſt dieſe Ausſchließ— ung eine im Uebrigen wohlmotivirte, aber derjenige, welcher die Inſekten wirklich und ihre wichtige Rolle im Naturhaushalt kennen lernen will, wird doch genöthigt ſein, neben dem fünfbändigen Taſchenberg'ſchen In— ſektenwerke noch die Werke von Graber, H. Müller, Kerner u. A. anzuſchaffen. Ref. ſollte meinen, in einem fünfbändigen Werke wäre wohl ſo viel Raum übrig ge— weſen, um auch das Wichtigſte über Phy— ſiologie und Geſellſchaftsleben, geiſtige Fähig— keiten und Wechſelbeziehungen mit den Pflanzen aufzunehmen, ſei es auch nur um die überaus trockene ſyſtematiſche und öko— nomiſche Darſtellung wirkſam zu beleben. Es iſt das ein Tadel, den wir dem an ſich werthvollen Werke nicht erſparen können, wenn er auch nur Forſchungsreſultate be— trifft, die der Verfaſſer abſichtlich aus— ſchloß. Unſeres Erachtens iſt der Mangel darum ein vitaler, weil alle Wiſſensgebiete heute im Zuſammenhange mit dem großen Ganzen behandelt werden ſollten, und wer dies auf irgend einem Gebiete vernachläſſigt, wird ihm nicht diejenige Zahl von Freunden gewinnen, die er finden und ermuntern gänzt. Von größeren Zuſammenſtellungen . TER Da das ge | Literatur und Kritik. * könnte. Aber freilich erſcheint es manchen Forſchern faſt wie eine Sünde, durch leben— dige, anziehende, philoſophiſche Behandlungs⸗ weiſe der Naturwiſſenſchaft neue Freunde zuzuführen. über deutſches Alterthum. 1) Deutſche Geſchichte von L. Stacke. Leipzig, Velhagen und Klaſing. 1880. 2) Deutſche Alterthumskunde von L. Lindenſchmit. Braunſchweig, Vie— weg und Sohn, im Laufe von 1880. Es iſt ein merkwürdiges Drängen und Treiben auf dem Büchermarkte deutſcher Ge— ſchichte und Alterthumsforſchung. Es ſcheint gewiſſermaßen die Zeit eines Maskow und Hanßelmann, eines Rhode und Cohau— ſen aus dem 18. Jahrhundert wieder erſtehen zu wollen, wo man ebenfalls, von der Politik des Tages abgewandt, ſeine Blicke zur Ver— gangenheit hinlenkte. In wenigen Monaten eine Reihe von urgeſchichtlichen Werken, die ſich auf Germanien und ſeine Vorgeſchichte beziehen! Da haben wir Arnold's „Deutſche Urzeit“ ſchon in zweiter Auflage, trotz der vielen Fehler und groben Verſehen in archäo— logiſcher Hinſicht; die „Bauſteine“ von Fe— lix Dahn, Bauſteine zur Völkerwanderung. Hinwiederum von kleineren Abhandlungen L. Ehrhardt's Eſſays über „älteſte germa- niſche Staatenbildung“, eine gute Kritik der Anſichten von Waitz und Baumſtark, Sybel und Dahn über die Cente und Gaue, prineipes und reges, und Adolf Bachmann's treffliche Arbeit über „die Einwanderung der Baiern“, welche die Forſch— ungen von Zeuß und Rietzler, Quitz— mann und Büdinger kritiſirt und er— Literatur und Kritik. liegt noch eine „Deutſche Geſchichte bis auf Karl den Großen“ 1. Bd. (Die Germanen der Urzeit) von Georg Kaufmann vor, reller Hinſicht bildet und im Style ſich den mianus nähert. Das neueſte Erzeugniß dieſer Ueber- und Rohproduktion iſt die „Deutſche Geſchichte“ von dem bekannten Jugendſchriftſteller L. iſt einfach und klar gehalten und giebt die Geſchichte von den Cimbern und Teutonen und von den Sueben und ihren Heerführern, und geht dann die deutſche Heroenzeit germaniſchen Stämme innerhalb des impe— rium romanum, die Gründung des Franken— reiches, die Merowinger und Karolinger und den erſten Sachſenkönig. Dabei eine Fülle von Abbildungen nach der Antoninsſäule, nach römiſchen Inſchriften aus Italien und den Rheinlanden, nach Statuen und Denkmälern im Römerreiche. Ferner getreue architekto— niſche Aufnahmen, ſo Theodorichs Palaſt zu Ravenna, Athaulfs Sarkophag zu Mailand; dann ſplendid, ja luxurös ausgeſtattete Ton— druckbilder, jo die „eiferne Krone“ von Monza, ein Moſaikbild aus dem Lateran, reizende Facſi— miles von deutſchen Kaiſerurkunden, ein Sta— tuenbild von Karl dem Großen, ein Fragment von den Straßburger Eidſchwüren, eine Seite aus dem Original von Widukind's ſächſiſchen Geſchichten und andere ſtaunenswerthe Leiſt— ungen der Nachbildung und der Bücherin— duſtrie — ein wahrer embarras de richesse. Doch wenn die Abbildungen in dieſem, gleich R. König's „deutſcher Literaturgeſchichte“ hindurch, bis auf die Neubildungen der 489 für das gebildete deutſche Volk beſtimmten der ein Pendant von Arnold in cultu- Moſaikbildern des Tacitus und Am- Schmuckkäſtchen künſtleriſcher Leiſtungen einen beſonders hohen Werth für die Beſitzer haben ſollen, und das Buch gleich dem ge— nannten ohne Zweifel in den großen Kreiſen der gebildeten, deutſchen Welt ſeinen ſieg— reichen Einzug halten wird, ſo hätte man Stade Im Pompe farbenprächtiger Illu ſtrationen, reicher Holzſchnitte, guter Karten erſcheint dieſe neueſte Leiſtung des deutſchen Buchhandels, beſtimmt, das Auge und das Ohr zu feſſeln. Der Styl der 1. Lieferung andrerſeits wohl erwarten können, daß ge— rade bei ſolchen Gelegenheit den Reſultaten deutſcher Alterthumsforſchung in Bild und Rede beſſere Rechnung hätte getragen werden können. Außer mehreren allerdings recht beachtenswerthen Darſtellungen ger— maniſcher Waffen und Geräthe — wir ſprechen hier vorzugsweiſe von der älteſten Periode — nach römiſchen Siegesſäulen, Triumphbogen und andern wälſchen Denk— mälern, und außer einigen, mehr falſchen, als richtigen Combinationen, die ſich auf germaniſche Kulturzuſtände beziehen, bemerkt das Auge des deutſchen Archäologen nichts von Bedeutung benutzt, was in unſeren 200 Alterthumsſammlungen doch einem jo gewandten Zeichner, wie dem Illuſtrator H. Knackfuß zur Verfügung geſtanden hätte. Aber abgeſehen von dieſen reichen, wenn ſchon etwas weitſchichtigen Samm— lungen, jo bot das römiſch-germaniſche Centralmuſeum zu Mainz die leichteſte Gelegenheit, ſich zu informiren über Aus— ſehen der germaniſchen Steinäxte und der fränkiſcher Schmuckhaften, der uralten Ring— wälle und der benutzten Mühlſteine. Hier war bei Direktor L. Lindenſchmit, dem gewiegten Kenner germaniſch-römiſcher Ver— hältniſſe genaue Auskunft zu erhalten über etruriſchen Bronzeſchmuck und puniſche Ge— fäße, über ſüdliche Stoßlanzen und italiſche Eiſenwaaren, die vormals nach Germaniens Wäldern eingeführt wurden. Wir finden von den Tauſenden von Originalen und Abgüſſen nur eine Nummer in Stacke's . 9 — — 7 490 Werk abgebildet, das Denkmal des Reiters Annauſo von der zweiten flaviſchen Cohorte. Kein Originalbild germaniſcher Streitbeile oder Kampflanzen, kein Hinweis auf die Fortdauer der römiſchen Induſtrie am Rhein und an der Donau, die ſpät in die Karo⸗ linger Zeit hinein den Franken und Ba- juvaren Geſchmeide und Gewaffen lieferte. Daß ſolche ſtiefmütterliche Behandlung der Reſultate deutſcher Alterthumsforſchung ſeine Rückwirkung auch auf die Textgeſtaltung üben mußte, iſt leicht erklärlich, wenn wir auch nicht behaupten können, eine ſtrenge Relation zwiſchen den Abbildungen und den Worten bis jetzt gefunden zu haben. Man kann zur Entſchuldigung ſolcher Mißſtände bei Arnold und Stacke anführen, es habe bis jetzt an einem brauchbaren Hand— buche der deutſchen Alterthumskunde ge— mangelt. Allerdings auf dem Präſentir— teller wurden deren Reſultate bisher dem Juriſten und dem Volksſchriftſteller nicht angeboten; es durften aber ſolche Fremd— linge in der Archäologie nicht auf Klemm's veraltetes „Handbuch der deutſchen Alter— thumskunde“ (Dresden 1836) zurückgehen, ſondern auf die Epoche machenden Arbeiten von L. Lindenſchmit und Virchow, von Hoſtmann md Ranke. Dem Archäologen, der in „Kulturgeſchichte machen“ will, ergeht es ja ebenſo; auch er hat, will er ſich einen richtigen Blick gewinnen, der Schriften von Sybel und Solms, Wittmann und Roſenſtein, Eich— horn und Waitz zu ſtudiren den Beruf. Ein Glück, daß zur Zeit ein Werk im Erſcheinen begriffen iſt, das den Alterthums— ſtudien auf deutſchem Boden einen giebel— ſicheren Abſchluß verleiht, das der Frage nach einem neuen, wiſſenſchaftlichen Hand— buche deutſcher Alterthumskunde die ſichere Literatur und Kritik. thümern ausmweichenden Forſchern auf alt- deutſchem Gebiete ein kategoriſches „Halt!“ entgegenrufen wird, wenn ſie alten Kohl nach einem vortrefflichen Menu geben. So lobenswerth demnach die Intentionen und - z. Th. die Ausführungen der Stacke'ſchen Schrift zu nennen ſind, ſo wäre es doch für die Sicherſtellung der germanischen Kulturzuſtände am beſten geweſen, das Er— ſcheinen des Lindenſchmit'ſchen Werkes, das in dieſem Jahre noch mit dem erſten Bande fertig geſtellt werden ſoll, abzuwarten. Das Gleiche müſſen wir auch jenen Gelehrten gegenüber ausdrücken, die, ohne Fachkenntniſſe zu beſitzen, in der Archäologie mit ihren glatten Kulturbildern über die Schwierig— keiten der Erforſchung germaniſcher Zuſtände hinüberzugleiten ſich Uebung verſchafft haben und dieſe Federübungen noch fortzuſetzen die Abſicht haben. Dürkheim a. H. Dr. C. Mehlis. Prof. Dr. J. Hoppe. Die Scheinbe— wegungen. Buchhandlung, 1879. 212 S. in 80. Von den ſcheinbaren Bewegungen des Ufers vor den Augen des Schiffers aus— gehend, behandelt das Buch einen großen Theil der Bewegungs- Augentäuſchungen, in- dem es den Antheil gewiſſer Muskelbeweg— ungen der Augen nachweiſt, in denen ſich der Körper geradezu thätig erweiſt, um eine Täuſchung hervorzubringen. Ein Hin- weis auf dieſe intereſſanten Unterſuchungen wird an dieſer Stelle nicht ganz unmotivirt erſcheinen, wenn man bedenkt, daß von einer den hier behandelten analogen Bewegungs- täuſchung der Grundirrthum ſich herleitet, der ſo lange die Erkenntniß der Wahrheit erſchwert hat, daß nämlich der Wohnort des Menſchen der von allen Geſtirnen umkreiſte Mittelpunkt, des Alls ſei. Antwort giebt, das aber auch den Alter⸗ * Druck von Hüthel & Herrmann in Leipzig. + } 0 2 * 9 ( Würzburg, A. Stuber's En Ei 1 & 2 le) S 00 2 D O — O 2 00 O1 O I SINUS NOILNLILSNI NVINOSHLINS eee